Dialektik in der mittelalterlichen Philosophie 9783050047072, 9783050042084

In diesem Buch liefert Hans-Ulrich Wöhler einen repräsentativen geschichtlichen Überblick zum dialektischen Denken in de

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German Pages 242 [244] Year 2005

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Dialektik in der mittelalterlichen Philosophie
 9783050047072, 9783050042084

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Hans-Ulrich Wöhler Dialektik in der mittelalterlichen Philosophie

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung

Sonderband

13

Hans-Ulrich Wöhler

Dialektik in der mittelalterlichen Philosophie

Akademie Verlag

ISBN 3-05-004208-7 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2006 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Satz: Veit Friemert, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

I. Kapitel: Antike Paradigmen des dialektischen Denkens . . . . . .

12

Platons Dialektik-Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Dialektik-Verständnis im Neuplatonismus . . . . . . . . . . . . . Die Dialektik und das dialektische Denken in der Philosophie des Aristoteles . Das Dialektik-Konzept des Boëthius und anderer spätantiker Denker . . . . .

12 16 22 28

II. Kapitel: Die Anfänge eines dialektischen Denkens in der mittelalterlichen Philosophie . . . . . . . . . .

33

Die dialektische Theologie des Johannes Scottus (Eriugena) . . . . . . Ibn Sinas dialektische Modalmetaphysik . . . . . . . . . . . . . Ibn Gabirols „Lebensquelle“ als dialektische Welterklärung . . . . . . Das dialektische Denken im Übergangsfeld von Philosophie und Theologie in der Frühscholastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dialektik als Heuristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anfänge einer naturphilosophischen Dialektik in der Scholastik . . . Elemente des dialektischen Denkens in der Geschichtsphilosophie Ottos von Freising . . . . . . . . . .

. . . . . .

35 42 47

. . . . . .

53 67 71

. .

75

III. Kapitel: Formen, Inhalte und Tendenzen des dialektischen Denkens im Hochmittelalter . . . . .

79

Dialektische Ansätze im Denken des Ibn Ruschd (Averroës) . . . . Die Rezeption dialektischer Denkansätze im Werk des Albertus Magnus Die Reflexionsdialektik im Werk des Thomas von Aquino . . . . . Ein dialektischer Ansatz in der Naturphilosophie des Ramon Lull . . .

. . . .

. . . .

. . . .

81 88 98 107

INHALTSVERZEICHNIS

6

Dietrichs von Freiberg dialektische Erkenntnistheorie . . Die transzendentalphilosophische Dialektik des Möglichen bei Johannes Duns Scotus . . . . . . . . . . . . . Das Dialektik-Konzept des Boëthius von Dacien . . . . Die Dialektik als Disputationsmethode . . . . . . . .

. . . . . . . .

112

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

116 120 126

IV. Kapitel: Traditionen und Neuerungen im dialektischen Denken des Spätmittelalters

. . . . . 130

Elemente eines dialektischen Philosophierens im Werk von Meister Eckhart . Der Beitrag des Walter Burley zu einer dialektischen Naturbetrachtung . . . Die naturphilosophische Dialektik bei Nicole Oresme und Blasius von Parma Eine dialektische Fassung des Materie-Begriffs durch Albert von Sachsen . Ein dialektisches Determinismuskonzept bei Wilhelm von Ockham . . . . Die angewandte Dialektik bei Levi ben Gerson (Gersonides) . . . . . . Das dialektische Determinismuskonzept des Nikolaus von Autrecourt . . . John Wyclifs Ansatz eines dialektischen Determinismus . . . . . . . . Dialektik als Logik der Wahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . Die phänomenologische Reflexionsdialektik von Petrus Aureoli . . . . . Dialektische Elemente in der praktischen Philosophie . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

132 138 143 151 154 158 162 165 169 180 187

V. Kapitel: Protagonisten einer erneuerten Dialektik im Zeichen des Neuplatonismus und des Renaissancehumanismus

. . 193

Die Konzeption der Dialektik als Heuristik bei den Renaissance-Humanisten Die Dialektik im Werk des Nikolaus von Kues . . . . . . . . . . . Die dialektische Philosophie des Giovanni Pico della Mirandola . . . . Die Dialektik im Werk des Francesco Patrizi . . . . . . . . . . . Das dialektische Denken Giordano Brunos . . . . . . . . . . . . Die Dialektik als spekulative Weltanschauung im Werk Jakob Böhmes . .

. . . . . .

. . . . . .

194 199 207 212 217 222

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227 237 239

Einleitung

Die vorliegende Studie stellt sich zur Aufgabe, einen repräsentativen geschichtlichen Überblick zum dialektischen Denken in der mittelalterlichen Philosophie zu geben. Diesem Anliegen entsprechend, sollen ausgewählte Texte von Autoren unterschiedlicher sprachlicher, religiöser und philosophischer Provenienz aus dem Zeitraum zwischen dem 6. und dem 17. Jahrhundert untersucht werden. Die leitende Frage lautet: Inwiefern dachten sie in ihrer Philosophie „dialektisch“? Ein solches Attribut konnte und kann polemisch oder sachlich-neutral, in spezifischem oder in einem unspezifischen Sinn verliehen werden, es kann theoretische Gehalte, Ausdrucksformen oder Methoden des Philosophierens, Denkstile und -haltungen bestimmter Personen, Perspektiven des denkenden Verstehens von Welt kennzeichnen. Alle diese Charakteristika treffen – pauschal gesagt – auch auf mittelalterliches Philosophieren zu. Es soll aber nicht um pauschale Verallgemeinerungen (weder in polemischer noch in sachlicher Absicht), sondern um möglichst präzise Antworten auf die gestellte Frage gehen. In der Frage nach dem „Dialektischen“ aber sind die erwähnten unterschiedlichen Konnotationen des Terminus zu berücksichtigen, um entsprechende klare Antworten zu erhalten. Die historische Genese und Metamorphose des Wortes „Dialektik“ und stammverwandter bzw. sinnverwandter Ausdrücke soll nur am Rande der Betrachtungen und Untersuchungen berücksichtigt werden. Im Zentrum der Studie steht die Beschreibung und Rekonstruktion von konkreten Äußerungs- und Anwendungsformen und vor allem von Inhalten eines dialektischen Denkens unabhängig von ihrer jeweiligen Selbstkennzeichnung durch ihre Urheber. Denn diese Kennzeichnungen konnten im Mittelalter durchaus variabel und nicht immer konsistent sein. Entscheidend für die Beantwortung der Leitfrage ist es, ob und in welcher Weise in den untersuchten Texten ein Verständnis für die Kompatibilität, die Relativität, die Vermittelbarkeit oder auch die Einheit von Gegensätzen artikuliert wird. Dies bildet den Fokus der Untersuchung. Eine solche Fokussierung der Bedeutung des „Dialektischen“ läßt sich sowohl anhand der klassischen antiken, als auch der mittelalterlichen und nicht zuletzt der neuzeitlichen Repräsentationen dieser Denkart nachvollziehen. Es geht um ein begrifflich diskursives Denken, das sich in der Reflexion auf echte oder scheinbare Gegensätze oder Widersprüche, auf alterna-

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EINLEITUNG

tive Seins- und Denkkonstellationen, auf Vorgänge des Wandels und der Veränderungen mit den Problemen des In-Beziehung-Tretens von solchen Gegenteilen befaßt, welche in der Wahrnehmung bzw. der verstandesmäßigen Abstraktion zunächst als unvereinbare erscheinen. Es geht auch um ein Denken, das durch ein Problematisieren von fixen Verstandes- und Argumentationsformen die daraus resultierenden scheinbaren oder echten Gewißheiten einer methodischen Prüfung unterzieht. Von zweitrangiger Bedeutung für die Beurteilung entsprechender Zeugnisse von dialektischem Denken erscheint es dabei zunächst, ob ein solches Denken in stilisierter oder nicht-stilisierter Form, ob als eine abgeschlossene Theorie oder als eine Applikation einer solchen, ob „nur“ als Option bei der Lösung bestimmter konkreter Einzelfragen neben anderen Optionen oder ausschließlich als ein Methode in Erscheinung tritt. Die Grade der Verallgemeinerbarkeit bzw. der Verbindlichkeit dialektischer Denkansätze, ihre Art der Anlage und Ausformung durch bestimmte Denker unterscheiden sich und werden, entsprechend dieser Differenziertheit, auch im Verlauf der Studie gewürdigt werden. Immer geht es um ein Denken in Bewegung und von Veränderungen bzw. Veränderlichkeit, das seiner Intention nach wesentlich kritisch veranlagt ist. Der für die Studie gewählte zeitliche Rahmen integriert nicht nur einige klassische Vertreter der Philosophie im lateinischen, islamischen und jüdischen Mittelalter. Er bezieht auch die Perioden der Rezeption und Aneignung des maßgeblichen antiken Erbes am Anfang und des kritischen Rekurses auf dieses mit der Absicht der Korrektur etablierter Denkformen am Ende der Epoche ein. Insofern soll auch ein Stück von der Entstehungs- und der Wirkungsgeschichte des dialektischen Denkens im Mittelalter berücksichtigt werden. Nur so läßt sich seine Spezifik in einem historischen Sinn genügend klar herausstellen. Aus dem Grunde werden sowohl die bedeutendsten Vorleistungen des antiken philosophischen Denkens auf dem Feld der Dialektik, insofern sie für das mittelalterliche Philosophieren relevant wurden, als auch einige über die mittelalterlichen Paradigmen hinausführenden Korrekturen und Neuansätze der Renaissance beleuchtet. Paradigmatisch steht am Anfang des mittelalterlichen dialektischen Philosophierens das Dialektik-Konzept von Boëthius, welches eng mit der antiken TopikTradition verbunden ist. An seinem Ausgang ragt unter anderem das neue Weltbild des Giordano Bruno heraus, welches das dialektische Koinzidenzprinzip anwendet. Bei beiden Denkern tritt das dialektische Philosophieren akzentuiert entweder als eine Methode oder als ein theoretischer Weltentwurf auf. Damit ist die Spannbreite des Begriffs von „Dialektik“ angedeutet, der dieser Untersuchung zugrunde liegt. Die Studie versucht, im einzelnen die Motive, Zielstellungen und Denkhorizonte der historischen Denkerpersönlichkeiten im genannten Zeitraum aufzuhellen, um die Spezifik ihres dialektischen Denkens zu erschließen. Unter anderem kann eine gewisse Parallelität zwischen der Diversifikation der Inhalte und Gegenstandsbereiche des Philosophierens im Mittelalter und der Diversifikation der Inhalte und Gegenstandsbereiche des dialektischen Denkens eingeräumt werden. Dementsprechend wird im Verlauf der Untersuchung und der Darstellung sowohl auf logisch-methodologische, gnoseologische, natur-

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philosophische, kosmologische, gesellschaftstheoretische und ontologische Reflexionen eingegangen, in denen sich ein dialektisches Denken mit einem je spezifischen Gehalt nachweisen läßt. Von prägender Bedeutung für den gesamten Zeitabschnitt erweist sich ferner auch das dialektische Denken im Rahmen der Theologie, wie es insbesondere in der sogenannten „negativen Theologie“ zum Ausdruck kommt. So bietet der Versuch, sich den Protagonisten dialektischer Denkanstrengungen im Mittelalter anzunähern, eine gute Gelegenheit, auch die Lebendigkeit und Komplexität der Philosophie dieser Zeit aufzuzeigen. Daß es in der mittelalterlichen Scholastik auch dialektisch zuging, ist keine neue Erkenntnis. Teils anerkennend, teils aber auch distanziert abwertend haben sich dazu z.B. bereits Friedrich Schlegel und G. W. F. Hegel geäußert1. In der philosophischen Mediävistik des 20. Jahrhunderts läßt sich eine gestiegene Aufmerksamkeit für dieses Phänomen feststellen. Wie die Auswahlbibliographie der entsprechenden Publikationen im Anhang der Studie zeigt, handelt es sich um Monographien, Sammelbände oder Zeitschriftenaufsätze mit einer jeweils klar eingegrenzten Themenstellung. Deren Untersuchungen beziehen sich auf ausgewählte Zeitabschnitte, Autoren oder spezielle Aspekte des dialektischen Denkens im Mittelalter, ohne eine repräsentative Gesamtdarstellung anzustreben. Im Vordergrund steht regelmäßig die Untersuchung und Darstellung des dialektischen Denkens als Argumentations- und Disputationsmethode. Den Einsatz des dialektischen Denkens in theoretischer Absicht mit ontologischen, theologischen und kosmologischen Implikationen hat vor allem W. Beierwaltes in seinen zahlreichen Schriften über die neuplatonische Philosophie im Mittelalter untersucht2. Auf die Pluralität der theoretischen Inhalte und der Reflexionsebenen des mittelalterlichen dialektischen Denkens hat in den 60er Jahren bereits R. Franchini aufmerksam gemacht, wenn er im einzelnen die Methodologie, die Metaphysik und die Logik des Diskurses als solche maßgeblichen Komponenten erwähnt und in Nikolaus von Kues einen Denker sieht, der auf eine Synthese dieser Komponenten hingearbeitet habe3. Diesen Reflexionsebenen fügt die vorliegende Studie sowohl die Naturphilosophie, die Gesellschaftstheorie, die Gnoseologie, die Kosmologie als auch die Theologie hinzu. Solche modernen Bezeichnungen sind als konkrete Anwendungsbereiche von dialektischem Denken zu verstehen, nicht jedoch als Sparten oder selbständige Disziplinen der Philosophie. In der mittelalterlichen Philosophie gab es einen fließenden Spezialisierungsprozeß ohne feste Disziplingrenzen. Ohne der detaillierten Untersuchung vorausgreifen zu wollen, können auch einige der allgemeinen Koordinaten, Bedingungen und Schwerpunkte 1

2 3

Vgl. F. Schlegel, Zur Philosophie. 1797 (Fragmente), S. 430: „Daß die Dialektik bei den Scholastikern als der wichtigste Theil der Philosophie angesehen ward, schon ein tiefliegender Beweiß von Bildung und ein Anfang von progreßiver Philosophie“; vgl. die Bemerkungen über die „endliche formelle Dialektik“ in der Scholastik bei G. W. F. Hegel (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 4: Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit, S. 43). Vgl. die Auswahlbibliographie im Anhang. Vgl. R. Franchini, Le origini della dialettica, S. 132.

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EINLEITUNG

genannt werden, welche jenseits der genannten Spezialisierungen wesentlich die Orientierung der mittelalterlichen Dialektiker bestimmten. Auch dadurch läßt sich eine gewisse Spezifik des dialektischen Denkens in dieser Zeit ausmachen. Die folgenden Koordinaten lassen sich herausheben: 1. Die prägende Rolle des antiken philosophischen Erbes, wie es in den rezipierten Schriften von Platon, Aristoteles und von den Neuplatonikern vorlag. 2. Die Trennung der Dialektik von der Rhetorik, von der Analytik und der Sophistik als jeweils eigenständigen Weisen des Argumentierens. 3. Das ambivalente Verhältnis der mittelalterlichen Dialektiker zur Metaphysik (im Sinne der Ontologie und einer allgemeinen Prinzipienlehre): neben Positionen, die eine klare Abgrenzung von Dialektik und Metaphysik propagierten, gab es solche, welche eine Öffnung des dialektischen Diskurses auch für Probleme der Ontologie und der Prinzipienforschung befürworteten. Einer dialektischen Relativierung von Entgegensetzungen und fixierten Ordnungen steht andererseits in der Regel ein fester metaphysischer Theorierahmen mit entsprechenden absoluten Einheiten und Ordnungsbeziehungen gegenüber. Eine Dialektik als Antimetaphysik läßt sich in der mittelalterlichen Philosophie nicht nachweisen. 4. Zu den regelmäßig wiederkehrenden Themen in den dialektischen Diskursen gehören folgende Probleme: das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz Gottes gegenüber der Welt; der Wechselbezug zwischen Meinung und Wissen; die gegenseitige Vermittlung der konträren Gegensätze in der Natur; die Simultanpotentialität alternativer Möglichkeiten (die Kontingenz); der dialektische Wechselbezug von Subjekt und Objekt des Erkenntnisprozesses; die kritische Selbstreflexivität der Vernunft; die Bedingungen und Möglichkeiten einer Koinzidenz von Gegensätzen. Die Darstellung folgt einer chronologischen Anlage, um die geschichtliche Einordnung und Bedingtheit der vorgestellten Beispiele dialektischen Denkens in den Vordergrund der Aufmerksamkeit des Lesers zu stellen. Gewiß kann kein lückenloses geschichtliches Panoptikum geboten werden. Dem steht sowohl die höchst unterschiedliche Dichte der Textüberlieferung, die unterschiedliche Intensität der wissenschaftlichen Auswertung, als auch der Charakter dieser Studie als einer Untersuchung repräsentativer Fallbeispiele entgegen. Gleichwohl können uns zahlreiche Philosophen der Spätantike, des Mittelalters und der Renaissance mit ihren Ideen, Methoden und Perspektiven einen Eindruck von der epochalen Geltung des dialektischen Denkens im Zeitraum zwischen dem 6. und dem 17. Jahrhundert geben. Daß es im Falle des dialektischen Denkens um eine Grundströmung im Philosophieren des Mittelalters ging und nicht um ein regionales Phänomen, lassen auch einige bedeutende Vertreter eines dialektischen Philosophierens aus der arabischen und der jüdischen Philosophie erkennen, denen sich die Studie widmet (Ibn Sina, Ibn Ruschd, Ibn Gabirol, Levi ben Gerson). Die Darstellung will anhand der vorliegenden Textzeugnisse informieren und rekonstruieren, was sich beispielhaft an Formen und Gehalten dialektischen Denkens erschließen läßt. Deshalb wird in der

EINLEITUNG

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Studie bei der Analyse und Darstellung bewußt eine Textnähe angestrebt bzw. auf bereits vorliegende Untersuchungen und Interpretationen relevanter Textbestände Bezug genommen. Trotz der notwendigerweise beschränkten Auswahl von Texten kann für diese Studie eine gewisse Repräsentativität in Anspruch genommen werden. Sie betrifft vor allem die zuvor erwähnte inhaltliche Breite des dialektischen Denkens im Mittelalter, nicht so sehr das Gesamtwerk der ausgewählten Autoren. Von Kommentaren zu bereits vorliegenden Büchern, Artikeln oder Studien über das dialektische Denken im Mittelalter möchte ich so weit wie möglich absehen. Wesentliche und wichtige Forschungserträge werden im Verlauf der Studie selbstverständlich berücksichtigt. Die Neugier des philosophiehistorischen Forschers und Lehrers für die Thematik dieser Studie verdankt sich nicht einer metatheoretischen oder polemischen Absicht. Sie ist in erster Linie dem Eindruck geschuldet, daß unser Wissen über die Entwicklungen des dialektischen Denkens zwischen der späten Antike und der europäischen Renaissance sehr lückenhaft ist. Und das gilt trotz der lange überwundenen Ignoranz und Geringschätzung gegenüber der mittelalterlichen Philosophie, wie wir sie noch bei Hegel fanden. Einer enthistorisierenden Überschätzung bzw. Isolierung des Ertrags mittelalterlicher dialektischer Philosophie soll mit dieser Studie natürlich ebensowenig das Wort geredet werden wie jener Marginalisierung. Gerade deshalb steht am Anfang als eine Art Hinführung ein kurzer Abriß der relevanten antiken Vorleistungen. Und die sich spätestens mit den kritischen Reflexionen von L. Valla und Nikolaus von Kues abzeichnenden Neuorientierungen in der mittelalterlichen Dialektiktradition seit dem 15. Jahrhundert lassen in der Schlußphase des untersuchten historischen Zeitraums sowohl die Begrenztheit als auch die Anschlußfähigkeit der mittelalterlichen dialektischen Philosophie erkennen. So stellt sich der betrachtete Zeitraum dem Betrachter als Intervall mit fließenden Übergängen an seinen Enden, mit charakteristischen Phasenwechseln und Parallelentwicklungen in seiner Gesamtheit dar.

I. Kapitel: Antike Paradigmen des dialektischen Denkens

Platons Dialektik-Verständnis Die Anfänge des dialektischen philosophischen Denkens liegen weit zurück4. Die griechische antike Philosophie ließ bereits bei Heraklit von Ephesos und Zenon von Elea dazu bemerkenswerte Ansätze erkennen, auf die spätere Philosophen immer wieder verwiesen, ohne sie aber kritiklos zu übernehmen. In der Sophistik und der Sokratik des 5. Jahrhunderts v.u.Z. kamen neue Methoden und Inhalte der Dialektik hinzu. Auf diesen Voraussetzungen baute auch Platon (ca. 428–ca. 349 v.u.Z.) auf, mit dessen Werk die antike Dialektik nach Form, Inhalt und Methode des Philosophierens eine erste umfangreiche klassische Ausprägung erfuhr. Er profilierte sein eigenes philosophisches Denken durch einen Rekurs auf die damals aktuellen und geschichtlich vorausliegenden Methoden von Dialektik, vor allem aber die Gesprächsführungskunst seines Lehrers Sokrates, und machte auch kritische Anmerkungen zu ihnen, vor allem zur Denk- und Argumentationsweise der „Sophisten“. Durch weiterführende Reflexionen entwickelte er ganz eigene originelle Ansätze zur Dialektik. Wenn die geschichtlichen Voraussetzungen des dialektischen Philosophierens im Mittelalter bestimmt werden sollen, so muß das Werk bzw. müssen einige spezielle überlieferte Schriften dieses antiken Meisterdenkers ganz oben auf der Agenda stehen. Denn das Platonische DialektikVerständnis gehörte – wenn auch durch viele Vermittlungsschritte rezipiert, positiv oder negativ konnotiert – zu den ideellen Impulsgebern in der Antike und dem Mittelalter. Die literarische Form des Dialogs nutzte Platon, um das Wesen von philosophischer Gesprächsführung, speziell des „Sokratischen Dialogs“, und damit das Sich-Miteinander-Unterreden mit dem Ziel sachlicher Problemanalyse und -lösung als Kernbestand der Dialektik im Sinn einer Methode zu demonstrieren. Ein Dialektiker ist derjenige, welcher zu fragen und zu antworten versteht, heißt es in seinem Dialog „Kratylos“ (390c). Als Befähigung dazu entsteht eine so verstandene „Dialektik“ für Platon aus einer längeren und wiederholten Übung. Ganz entscheidend und prägend für sein Dia4

Vgl. dazu L. Sichirollo, Dialegestai – Dialektik.

PLATONS DIALEKTIK-VERSTÄNDNIS

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lektik-Verständnis und dasjenige der mittelalterlichen Dialektiker ist in diesem Zusammenhang die strikte Abgrenzung der Dialektik von einem bloßen Streit um Worte bzw. von einer Kunst zur Erzeugung von Widersprüchen, der Eristik bzw. „Widerspruchskunst“5. Stattdessen war für ihn die Dialektik wesentlich der Wahrheitsfindung durch begriffliches Denken verpflichtet. Eine wichtige Bedingung und Voraussetzung dafür sah er in der Bereitschaft und Fähigkeit der Diskutanten, über für Wahr oder für Falsch Gehaltenes mittels der Form des „Elenchos“ oder der „Maieutik“ die eigenen Annahmen zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren6. Das Sokratische Motto „Ich weiß, daß ich nichts weiß“, das sich auch im Mittelalter bis zum „wissenden NichtWissen“ („docta ignorantia“) des Nikolaus von Kues wiederfand, war in diesem Zusammenhang Ausdruck des methodischen Zweifels an scheinbar fest gefügten Meinungen, die einer Überprüfung unterzogen werden sollten und konnten. Dafür waren der Gedankenaustausch mit anderen und die eigene Denkanstrengung als kritische Reflexionsleistung unverzichtbar. Die Dialektik ist also für Platon ihrer ursprünglichen Bedeutung nach ein bestimmtes Vermögen, das zunächst an eine bestimmte Methode der Dialogführung und des kritischen Denkens und Bedenkens gebunden ist. Weder im gesprochenen Monolog, noch im Austausch von unversöhnlichen Streitreden konnte aber das angestrebte Ziel eines intersubjektiv gesicherten Wissens durch die fortlaufende Prüfung von Argumenten erreicht werden, war sich Platon sicher. Platon blieb nicht bei der Fixierung der Dialektik auf ein Frage-Antwort-Verfahren stehen. Vielmehr präzisierte er in seiner mittleren und späteren Schaffensperiode sein Verständnis von Dialektik durch die Erschließung ihres spezifischen philosophischen Gehalts. Dies führte de facto zu einer Gleichsetzung des philosophischen Denkens mit dem Inhalt und der Methode von Dialektik als einem vernünftigen Denken, das an die Ursprünge und Anfänge alles Seienden und aller Erkenntnisbemühungen heranführt. Diesen Schritt begründet Platon damit, daß die Dialektik das vielfach verstreute zu einer „Gestalt“ („idea“) zusammensehen und das zur Einheit Zusammengefaßte nach den inneren Bestandteilen zerlegen kann. Darin sieht er einen „göttlichen“ und „emporführenden“ Zug der Dialektik als einer „Kunst“ („techne“) bzw. „Wissenschaft“ („episteme“) oder „Methode“ („methodos“)7. Die Kombination von reduktiv-emporsteigendem und dihairetisch-herabsteigendem Denken in Begriffen verfolgt einen kathartischen Zweck, den Platon als „die Umkehrung der Seele aus einer Art nächtlichen Tages zum wahren Tag, das heißt zu jenem Aufstieg, der zum Sein führt und den wir für die wahre Philosophie erklären werden“ bezeichnet8. Und dieser Zweck ist auf die Korrektur der gewohnten Denk- und Verhaltensweisen der Menschen gerichtet, beinhaltet also sowohl erkenntnistheoretische als auch ethische Gesichtspunkte einer kritischen Analyse des 5 6 7 8

Vgl. Platon, Euthydemos 272b; Menon 75c–d; Politeia 454a, 499a. Vgl. Platon, Theaitetos 150b–151a. Vgl. Platon, Phaidros 265d–266c; Politeia 511b–511c, 531d–534e, 537c. Vgl. Platon, Politeia, 521c.

ANTIKE PARADIGMEN DES DIALEKTISCHEN DENKENS

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status quo von Wahrnehmungs-, Denkweise, Bildung, Kultur und politischer Wirklichkeit. Intellektuell macht der Philosoph für die erfolgreiche „Umwendung“ bzw. den „Aufstieg“ der Seele in einem bewußt dialektischen Vorgehen ein entscheidendes Kriterium aus: dieses besteht darin, das Sein und das Wesen eines jeden erklären zu können und sich und anderen darüber Rechenschaft ablegen zu können9. Das Konzept der „Umwendung“ („periagoge“) ist also auf eine tatsächliche Veränderung von Gegenständen, Perspektiven und Verhaltensweisen im Denken und Handeln der Menschen mittels eines reflektierenden vernünftigen Denkens gerichtet. Der prozessuale Charakter der „dialektischen Methode“ wird so klar zum Ausdruck gebracht. In dem berühmten „Ideen“-Konzept, das dabei zur Geltung kommt, bestimmt Platon die metaphysischen und weltanschaulichen Fix- und Zielpunkte dieses Prozesses. Sie liegen eindeutig jenseits der Welt des „Werdens“ und des sichtbaren „Scheins“, die es gerade zu verlassen gilt. Diese Pointierung des Dialektik-Verständnisses in Verbindung mit einem kritischen Verständnis des Sinns und der Aufgaben der Philosophie in einem System der Bildung und Kultur gibt der Dialektik einen exponierten Rang. Letztlich wird von Platon daraus auch der Gedanke eines Anspruchs der Philosophie auf eine kulturelle und politische Hegemonie abgeleitet. Neben dem Verständnis von Dialektik als einer Methode des Fragens und Antwortens und ihrem Verständnis als Wissenschaft von der „Umkehr“ und dem „Aufstieg“ zu den höchsten Seins- und Erkenntnisformen ist in den Spätschriften Platons eine weitere Akzentsetzung in der Diskussion um die „Dialektik“ zu konstatieren. Diese kann man als die „Dialektik der Ideen“ oder als „Dialektik der Negativität“ bezeichnen. Hatte er noch in der „Politeia“ den „Ideen“ als den urtypischen Musterformen jeglichen Kontakt mit dem Nicht-Seienden bzw. dem „Werden“ abgesprochen und sie – mit Ausnahme der „Idee des Guten“ – vielmehr dezidiert dem reinen „Sein“ zugewiesen, so ändert sich diese Auffassung in den großen Spätdialogen, d.h. dem „Theaitetos“, dem „Sophistes“, dem „Parmenides“ und dem „Timaios“. Gerade in der dort vollzogenen Kritik und den Veränderungen an der eigenen metaphysischen Theorie vom reinen Sein der „Ideen“ als verabsolutierter Einheiten lieferte Platon gewissermaßen sein dialektisches Meisterstück ab. Darin steckt auch ein Stück Kritik und Korrektur an von ihm selbst zuvor vertretenen Meinungen. Platon versucht dabei, das Ideenkonzept von einer Lehre über ideale und unvermittelt nebeneinander stehende Einheiten zu einer Lehre über Aspekte eines Gesamtzusammenhangs, welche sich wechselseitig bedingen und ausschließen, fortzuentwickeln. Dadurch kann er auch die Einseitigkeiten der Philosophien von Parmenides und Heraklit nachweisen bzw. deren einseitige Interpretation kritisieren. So heißt es im „Sophistes“ beispielsweise: „Der Philosoph aber, der gerade dies am höchsten schätzt [d.h. Wissen, Einsicht und Vernunft – H.-U. W.], darf auf keinen Fall weder denen zustimmen, die von dem All, sei es nun eines oder bestehe es aus vielen Ideen, behaupten, daß es verharrt, noch denen überhaupt zuhören, die das Seiende vollständig in Be9

Ibid., 534b.

PLATONS DIALEKTIK-VERSTÄNDNIS

15

wegung sehen wollen. Er muß vielmehr wie ein kleines Kind beides wollen: das Seiende und das All soll beides tun, verharren und sich bewegen.“10 Die Ruhe bzw. das Verharren und die Bewegung werden damit als zwei gegensätzliche Seiten des Seins in der Welt bestimmt. Weder ein isoliert und an und für sich genommenes „Werden“, noch ein regungsloses reines „Sein“ können also jede für sich als kategorische Letztbestimmungen der Philosophie akzeptiert werden, ohne das Anliegen der Dialektik als einer Wissenschaft bzw. der Philosophie zu verletzen, „die Ideen entsprechend zu trennen und weder dieselbe Idee für eine andere, noch eine andere für dieselbe zu halten“.11 Die Entgegensetzung von „Ruhe“ und „Bewegung“ aber ist auf ihre dialektische Vermittelbarkeit bei Aufrechterhaltung ihrer Gegensätzlichkeit hin zu prüfen. Im Lehrstück von den „größten Gattungen“, d.h. „Seiendes“, „Verharren“, „Bewegung“, „Identität“ und „Anderssein“, welche „mit ihrer Natur aneinander Gemeinschaft haben“, präsentiert Platon die theoretische Umsetzung dieses Gedankens, indem er an jeder „Idee“ sowohl das „Seiende“ als auch das „Nicht-Seiende“ im Sinne eines „Andersseins“ partizipieren läßt12. Von fundamentaler Bedeutung ist vor allem Platons Erkenntnis, daß auch das „Nicht-Seiende“ als universelles Gattungsprinzip anerkannt und in den Kreis der „größten Gattungen“ aufzunehmen ist. Es heißt im „Sophistes“ ganz klar: „Es ist also notwendigerweise so, daß das Nichtseiende an der Bewegung und auch an allen übrigen Ideen ist. Denn für alle Ideen gilt, daß die Natur des Anderen eine jede zu einer anderen des Seins und damit zu einer nichtseienden macht. In diesem Sinne können wir von allen ‹Ideen› mit Recht sagen, daß sie nichtseiende sind; weil sie aber auch am Sein teilhaben, sind sie zugleich auch seiende.“13 Präzisierend hält er fest: „Wenn wir vom Nichtseienden sprechen, dann meinen wir damit doch nicht irgendein Gegenteil des Seienden, sondern nur anderes.“14 Das Sein des Nicht-Seienden bezieht sich also auf das Anderssein eines bestimmten Seins im Vergleich zu einem anderen Seienden, meint nicht das absolute abstrakte „Nichts“. Das wechselseitige Aufeinander-bezogen-Sein, die Relationalität konstituiert die „größten Gattungen“ und damit auch das Denken, Sein und Sprechen. Die späteren neuplatonischen Philosophien der Spätantike und auch die mittelalterlichen Reflexionen über die Dialektik von Einheit und Vielheit, von Identität und Andersheit gehen letztlich auf den späten Platon zurück15. Platon hatte den direkten Zusammenhang seines gewandelten Ideenkonzepts mit dem dialektischen Philosophieren im „Sophistes“ auch selbst klar herausgestellt, indem er es als „das Geschäft der Dialektik“ bezeichnete, „die Arten zu kennen, wie die einzelnen Ideen in Gemeinschaft sein können und wie nicht“.16 Die Dialektik wird damit zu einer Methode und Theorie 10 11 12 13 14 15 16

Platon, Sophistes 249c–d. Ibid., 253d. Ibid., 254d–257c. Ibid., 256d–e. Ibid., 257b. Vgl. dazu W. Beierwaltes, Identität und Differenz, S. 49–203. Vgl. Platon, Sophistes, 253e.

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ANTIKE PARADIGMEN DES DIALEKTISCHEN DENKENS

des denkend erschlossenen, d.h. durch Reflexion auf die relationalen Verflechtungen der unterschiedlichen und gegensätzlichen Aspekte herauszuarbeitenden Gesamtzusammenhangs. Platon hat die Dialektik in diesem Sinne direkt in seinem großen kosmologischen Spätwerk, dem „Timaios“, und hier speziell in der Lehre von der „Weltseele“ paradigmatisch angewendet17. Insofern kommt ihr auch eine weltanschauliche Funktion zu. Die Übersetzungen und Kommentierungen dieses Werks gehörten sowohl im arabischen als auch im lateinischen Mittelalter zu den wichtigsten Bezugstexten der damaligen Philosophie18. Und auch die tragenden dialektischen Gedanken von einer Vermittlung der Gegensätze in einem Gesamtzusammenhang bzw. der Einheit von Identität und Andersheit in allem Seienden sind durch die Vermittlungen neuplatonischer Philosophen in vielen philosophischen Überlegungen bis in die Zeit der Renaissance hinein reproduziert worden. Platon hat die Dialektik bzw. das „Sich-Unterreden“ im Frage-Antwort-Modus, das „dialegesthai“, als Kern des Philosophierens in unterschiedlichen Hinsichten gekannt und selbst praktiziert, als eine Methode, als eine Theorie, als einen kritischen Denkstil und in Ansätzen auch als eine Weltanschauung im Sinne der Kosmologie. Durch dieses differenzierte Verständnis von ihr, ihre Abgrenzung von der sophistischen Eristik und ihre Gleichsetzung mit dem Wesen des Philosophierens hat er bleibende Maßstäbe für das Dialektik-Verständnis späterer Zeiten gesetzt. Nicht zuletzt bezieht sich das auch auf die Eingliederung des dialektischen Denkens in einen metaphysischen Kontext im Sinne von Ontologie und universeller Prinzipienforschung.

Das Dialektik-Verständnis im Neuplatonismus Zu den bedeutendsten Philosophen mit einem eigenen Verständnis von Dialektik, das auf die Philosophie und Theologie des Mittelalters von prägendem Einfluß wurde, gehören auch einflußreiche Vertreter des Neuplatonismus, wie Plotin (204–270), Proklos (412–485) und Pseudo-Dionysius Areopagita (2. Hälfte des 5. Jh. s). Symptomatisch für das Verständnis und die Anwendung von Dialektik in ihren Schriften ist die Leitvorstellung von der gedanklichen „Hinaufführung“ bzw. des „Aufstiegs“ (grch. „anagoge“, „anhodos“) des Intellekts zum göttlichen Ur-Eins. Diesem Vorgehen und diesem Ziel sind die Reflexionen über die Dialektik bzw. deren Applikationen im Vollzug des eigenen philosophischen und theologischen Denkens untergeordnet. Letztlich geht ein solcher Ansatz auf einen bedeutenden Teil des Dialektik-Verständnisses von Platon zurück, wie es z.B. in seinen Dialogen „Phaidros“ und „Politeia“ mit den Diskursen über den Aufsteig zum „Guten“ zum Ausdruck kam. Darüber hinaus und in Verbindung damit werden im Neuplatonismus weitere, sowohl traditionelle, als auch neue Aspekte für das Verständnis von „Dialektik“ berücksichtigt. 17 18

Vgl. Platon, Timaios, 35a–b. Vgl. S. Gersh, M.J.F.M. Hoenen (Hrsg.), The platonic tradition in the Middle Ages.

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Plotin hat eine eigene Abhandlung mit dem Titel „Dialektik“ verfaßt („Enneade“ I. 3). Gleich zu Beginn nennt er die entscheidende Funktion, durch deren Ausfüllung die „Dialektik“ ihren bestimmten Platz in der Anstrengung des Denkens erhält: die „Hinaufführung“ zum „Guten“ und zum „ersten Urgrund“19. Dieser Aufgabe soll die gesuchte Kunst „Dialektik“ vor allem bei drei Menschengruppen dienen: den „Musikern“, den „Erotikern“ und den „Philosophen“. Dies wird damit begründet, daß alle diese Menschentypen in irgendeiner Weise nach etwas Höherem streben: der „Musiker“ nach den gedanklich bestimmbaren Harmonien in den wahrnehmbaren Tönen und Figuren; der „Erotiker“ nach dem „Schönen“ als gedanklich verallgemeinerbarer und abstrahierbarer Wesenscharakteristik von künstlerischen, wissenschaftlichen und moralischen Betätigungen der Menschen; der „Philosoph“ nach absoluter höchster Vollendung der Tugenden in völliger Abwendung von der Sinnenwelt20. Die „Dialektik“ dient nach diesen Präzisierungen im Prinzip einem doppelten Zweck: der Herausführung aus einer unreflektierten Existenz im Hier und Jetzt und der Heranführung an bestimmte erreichbare Stufen begrifflicher Erkenntnis je nach bestimmten Erfahrungs- und Interessenlagen der Menschen. Plotin bestimmt die „Dialektik“ im Anschluß an diese funktionalen Einordnungen präzisierend als „die Fähigkeit (hexis), von jedem Ding begrifflich auszusagen, was es jeweils ist, worin es sich von anderen unterscheidet und was es mit ihnen gemeinsam hat. Dazu gehört ferner, wo jedes Ding seinen Ort hat, ob es ist, das es ist; was zum Seienden zu rechnen ist, was hingegen zum Nichtseienden, vom Sein Verschiedenen; sie erörtert auch das Gute und das Nichtgute, und was unter das Gute fällt, was unter das Gegenteil, und was ewig ist und was nicht, alles natürlich auf Grund von Wissenschaft (episteme), nicht bloßer Meinung (doxa).“21 Die „Dialektik“ ist also zwar wesentlich eine Operation mit Begriffen, doch sie endet nicht dort, sondern richtet sich nach Plotin auf die Seinssphäre und letztlich auf den Urgrund alles Seienden. Dafür soll sie sich der Platonischen Kunst der Differenzierung und Verknüpfung der „Ideen“ bedienen, wie Plotin ausdrücklich erklärt. In ihrem Anspruch auf „wissenschaftliche“ Wesens- und Wahrheitserkenntnis trennt er sie von bloßen Reflexionen auf der Ebene sprachlich artikulierter Mutmaßungen, also von der Sphäre des „Meinens“ im Sinne des subjektiven Für-wahr-Haltens. Er trennt sie aber auch von einer bloßen Fertigkeit bzw. Lehre logisch korrekten Schließens, indem er eine solche Fertigkeit oder Lehre als eine notwendige Vorstufe der Dialektik versteht22. Damit unterstreicht er sowohl die Differenzierung zwischen „Dialektik“ und „Logik“, als auch die Zugehörigkeit der Dialektik als Kunst und Wissenschaft zur Philosophie. Er erklärt die Dialektik direkt zum „wertvollsten Teil der Philosophie“. Dies bedeutet zugleich, daß sie nicht auf ein methodisches Hilfsmittel der Philosophie zu reduzieren ist. Ihr „Stoff“ sind nicht Sätze und 19 20 21 22

Vgl. Plotin, Enneade I.3.1, in: Plotins Schriften, hrsg. u. übers. v. R. Harder, Bd. Ia, S. 350/351. Vgl. ibid., I.3.1–3, S. 350–355. Ibid., I.3.4, S. 354/355. Vgl. ibid., I.3.4, S. 354/355.

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Regeln, sondern das „Seiende“ („ta onta“), hebt Plotin hervor23. Als ein geistiges Vermögen („nous“) soll sie sich sogar noch über das Seiende hinaus erheben, um sich der Prinzipien zu vergewissern24. Damit werden die Ontologie und die philosophische Prinzipienforschung direkt in den Aufgabenbereich der Dialektik im Verständnis von Plotin eingeschlossen. Letztlich dient die Prozedur des „Hinaufführens“ zum „Guten“ bzw. dem „Ur-Eins“ im Neuplatonismus also einem transzendenten Ziel, das sowohl jenseits des Bereichs sinnlicher Gewißheiten als auch des Bereichs der verstandesmäßigen Fixierungen liegt. Die Dialektik ist der denkende Vollzug des Durch- und Überschreitens dieser begrenzten Sphären und sie weiß sich als diesen Vollzug, indem sie „die Denkbewegungen der Seele“ erfaßt25. Insofern ist die Dialektik im Neuplatonismus auch eine Gnoseologie weisheitlich-vernünftigen Durchschreitens und Überschreitens mit dem Ziel, an den Ursprung und den Anfang des Seins und des Denkens, also an das „Eine“, zu gelangen. Sie dient also auch wesentlich der kritischen Selbstreflexion, angefangen bei der Verarbeitung sinnlicher Wahrnehmungen und endend bei den Betrachtungen über das Wesen des „Guten“ bzw. des „Eins“. Das Ziel der direkten intellektuellen Anschauung des Endziels kann die Seele „anrühren“, indem sie sich bewußt von allen fixen Gedankeninhalten trennt. Dieses „auflösende“ und „abtrennende“ Vorgehen ist eine wesentliche Bedingung des gelingenden Aufstiegs. Plotin charakterisiert diese Perspektive gleichnishaft folgendermaßen: „Und das ist das wahrhafte Endziel der Seele: Jenes Licht anzurühren und es kraft dieses Lichtes zu erschauen, nicht in einem fremden Licht, sondern in eben dem, durch welches sie überhaupt sieht. Denn das, wodurch sie erleuchtet wurde, ist eben das Licht, das es zu erschauen gilt (man sieht ja auch die Sonne nicht in einem fremden Licht). – Und wie kann dies Ziel Wirklichkeit werden? – Tu alle Dinge fort.“26 Auf diese Weise wird die Dialektik als Forschung nach dem obersten Prinzip, dem „Eins“, wesentlich zu einer negativen Dialektik bzw. negativen Theologie als eine Hinführung auf ein „Eins“, das „alles ist und doch keines, denn der Ursprung von allem ist nicht alles, sondern alles ist aus ihm“.27. In diesem transzendenten Nichts, das zugleich alles ist, begegnen sich die anagogische negative Dialektik bzw. Theologie und die Einheitsmetaphysik der Neuplatoniker. Hier endet die dialektische Denkbemühung bei etwas, das es nur noch zu „schauen“ bzw. zu „berühren“ gilt. Hier ist die Sphäre der Differenz und Andersheit bzw. der Gegensätze, in welcher sich die Dialektik wesentlich bewegt, in die absolute eigenschaftslose Identität mit sich selbst zurückgelassen worden, welche das „Eins“ darstellt. Die Einheitsmetaphysik ist der Ausgangs- und der Zielpunkt der neuplatonischen Dialektik. Der Klassiker dieser „negativen Dialektik“ bzw. „negativen Theologie“ im Neuplatonismus war Proklos, der in zahlreichen Schriften den dargestellten Gedankengang explizierte. Ein herausragen23 24 25 26 27

Vgl. ibid., I.3.5, S. 356/357. Vgl. ibid., I.3.5, S. 356/357. Vgl. ibid., I.3.5, S. 356/357. Plotin, Enneade V.3.17, in: Plotins Schriften, Bd. Va, S. 171. Plotin, Enneade V.2.1, in: Plotins Schriften, Bd. Ia, S. 238/239.

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des Zeugnis dafür ist u.a. sein Kommentar zu Platons „Parmenides“, der auch in der mittelalterlichen Philosophie Beachtung fand28. Zur neuplatonischen Philosophie von Plotin, Proklos und anderen gehört die Dialektik des „Hinaufführens“ im Sinne einer Begriffs-, Seins-, Prinzipien- und Erkenntnislehre. Ihr Komplement ist die Lehre vom Entstehen des kosmischen Zusammenhangs und die Lehre von der Zurückwendung alles Bestehenden auf den Ursprung. Deren zentrale Kategorien sind das „Hervorgehen“ („prohodos“), das „Verharren“ („mone“) und die „Rückwendung“ („epistrophe“). Mit dieser Trias, die eine differenzierte dynamische Einheit der Hauptmomente in der Konstitution alles Seins durch das „Ausfließen“ aus dem Ur-Einen und das „Zurückwenden“ zu ihm bei gleichzeitigem „Verharren“ in einem Seinsbestand beschreibt, indem kausale Abhängigkeiten, Ähnlichkeiten, Differenzierungen und übergreifende Zusammenhänge zwischen göttlichem Ursprung und der Welt aufgezeigt werden, haben Plotin und Proklos, die beiden bedeutendsten Vertreter des antiken Neuplatonismus, ein zentrales dialektisches Lehrstück entwickelt, das in der mittelalterlichen Philosophie und Theologie ein wichtige Rolle spielt. Mit dieser Begriffstrias wird die „ontologische Grundgesetzlichkeit des Seienden insgesamt“, d.h. die „Struktur der Vermittlung vom Einen her und zu diesem hin“, im Sinne einer „dialektischen Bewegtheit oder als eine dynamische Identität“ faßbar gemacht29. Vor allem wird damit die Dialektik von Einheit und Vielheit, von Identität und Andersheit, von Transzendenz und Immanenz des „Einen“ und die Dialektik der Vermittlung zwischen den Unterschieden und Gegensätzen in den Stufen des Seienden expliziert. Gerade hier kommt der theoretische und zum Teil auch weltanschauliche Gehalt der neuplatonischen Dialektik und Metaphysik im Kontext der Theologie und Kosmologie voll zum Austrag. In der Postulierung immer neuer Vermittlungsstufen zur Schließung des Abstands zwischen transzendentem Ursprung und in Erscheinung tretender Welt überboten sich die Neuplatoniker gegenseitig. Proklos hat die genannten Elemente einer theoretischen Dialektik in verschiedenen Schriften näher ausgeführt und angewendet. Einen herausragenden Platz hat dabei das Thesenwerk „Grundlegung der Theologie“ („Stoicheiosis theologike“), das im übrigen einem im Mittelalter berühmt gewordenen anderen Thesenwerk, dem „Liber de causis“, zugrundelag bzw. direkt Vorlage für Übersetzungen oder Kommentierungen durch mittelalterliche Philosophen war. In den Thesen Nr. 25–44 erläutert der Autor die Dialektik von „Hervorgehen“, „Verharren“ und „Rückwendung“30. So heißt es z.B. in der These 31: „Alles dasjenige, was aus etwas hervorgeht, wendet sich gemäß seinem wesenhaften Dasein auf dasjenige zurück, aus dem es hervorgeht.“31 In der These 35 heißt es: „Jedes Verursachte verharrt in der Ursa28

29

30 31

Vgl. zum Dialektik-Verständnis Proklos’ vor allem W. Beierwaltes, Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, S. 240–385. Vgl. W. Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, S. 156–157. Vgl. Proclus, The Elements of theology, ed. and transl. by E. R. Dodds, prop. 25–44, S. 28–46. Vgl. ibid., prop. 31, S. 34.

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che, geht aus dieser hervor und wendet sich zu ihr zurück.“32 Die Thesen 1 bis 6 erläutern die Dialektik von Einheit und Vielheit33. Eine besondere Stellung in diesem dialektisch-metaphysischen System nehmen die „Intellekte“ bzw. „Intelligenzen“ ein. Sie tragen die dynamische Bewegtheit und die Vermittlungen zwischen den verschiedenen Bereichen der durchgeistigten und beseelten Wirklichkeit. Dies erklärt sich aus der ihnen eigenen konstitutiven ewigen Einheit aus wesenhaftem Seinsbestand („ousia“), Wirkungsvermögen („dynamis“) und tatsächlichem effektivem Wirken („energeia“). So heißt es in der These 169 dazu: „Ein jeder Intellekt (nous) besitzt auf ewig ein wesenhaftes Dasein, ein Wirkungsvermögen und ein Wirken.“34. Dieser Gedanke trägt in der mittelalterlichen Kosmologie und auch bei einigen Naturphilosophen zu einer wesentlichen Dynamisierung ihres Bildes von der Welt bei. Aber auch der für die Erkenntnistheorie und die Subjekt-Objekt-Dialektik wichtige Gedanke der Selbstreflexivität als konstitutiver Grundbedingung des vernunfthaft Geistigen klingt bei Proklos an35. Diese objektiv-idealistische Dialektik „fängt“ also gleichsam sowohl die dynamische Struktur des extramentalen Daseins als auch der Vernunfttätigkeit „ein“. Und nicht zuletzt artikuliert Proklos in seiner „Grundlegung der Theologie“ auch einen der zentralen Sätze der „negativen Theologie“, daß nämlich alles Göttliche auf Grund seiner „überseienden Einheitlichkeit“ unaussprechbar und unbegreifbar sei36. Zu den direkten Fortsetzern und Klassikern eines dialektisch orientierten Philosophierens im Neuplatonismus gehört auch der bedeutendste Vertreter der griechischen Patristik, Pseudo-Dionysius Areopagita. Er hat als christlicher Theologe direkt an das Gedankensystem von Proklos angeknüpft. Daraus ist eine Reihe von Schriften entstanden, die vom beginnenden 6. Jahrhundert an bis in das späte Mittelalter hinein zum Muster einer dialektischen bzw. „negativen Theologie“ wurden. Hierzu gehört auch die Schrift „Die göttlichen Namen“, in welcher beispielhaft das Problem einer adäquaten intellektuellen Wesenscharakteristik Gottes angesichts dessen absoluter Transzendenz diskutiert wurde. Diese Schrift kennzeichnet Gott in neuplatonischer Weise als „alles Seiende und nichts von dem Seienden“, um damit sowohl die Transzendenz als auch die Immanenz Gottes gegenüber der Welt zu kennzeichnen37. Der göttliche Ursprung wird aber in erster Linie als „jenseits alles Seienden“ und „jenseits aller Erkennbarkeit“ beschrieben38. Mit ihm werden nur in negativer Weise die Attribute „Bewegung“, „Leben“, „Vorstellungskraft“, „Sein“ usw. in Verbindung gebracht39. Um in passenderer 32 33 34 35 36

37 38 39

Vgl. ibid., prop. 35, S. 38. Vgl. ibid., prop. 1–6, S. 4–7. Vgl. ibid., prop. 169, S. 146. Vgl. ibid., prop. 168–169, S. 146–148. Ibid., prop. 123, S. 108: „Alles Göttliche ist wegen seiner überseienden Einheitlichkeit in sich selbst unaussprechbar und unerkennbar für alles zweitrangige Seiende.“ Vgl. Pseudo-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, ed. B. R. Suchla, cap. I. 6, p. 119. Vgl. ibid., cap. I. 4, p. 115. Vgl. ibid., cap. I. 5, p. 117.

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Weise Aussagen von Gott zu machen, verweist der Autor auf das Verfahren der transzendierenden Negationen mittels des Präfix „über-“ („hyper-“), so daß von ihm als einem „Über-Guten“, „Über-Göttlichen“, „Über-Seienden“, „Über-Lebendigen“ oder „Über-Weisen“ gesprochen werden kann40. Eine ähnliche vertikale Relationierung des Gottes-Begriffs erfolgt durch privative Kennzeichnungen des Verhältnisses von Gott und Welt mit jeweils eingeschlossener positiver Bedeutung: in dem „Guten“ ist das „Gestaltlose“, welches Gestalt verleiht; das „Wesenlose“, weil es die Wesenheit übersteigt; das „Leblose“, weil es alles Leben übertrifft; das „Vernunftlose“, weil es eine alles übersteigende Weisheit beinhaltet. Das „Gute“ als Synonym für das Göttliche sei „gemäß der Negation von allem wahrhaft überwesentlich“41. Aber auch die positiven begrifflichen Umschreibungen „überseiendes Eins“ oder die Ausdrücke „Eines über dem Einen, ein Eines für das Seiende und ungeteilte Menge, nicht zu füllende Überfülle, jedes Eine und jede Menge erschaffend, vollendend und zusammenhaltend“ werden benutzt42. Sichtbar geht es um den Versuch, die Transzendenz und die Immanenz Gottes dialektisch zu vereinigen. Allerdings erweist sich eine eindeutige Namenskennzeichnung und Zuordnung im Rahmen kategorialen Denkens und Sprechens in bezug auf Gott als undurchführbar. Prädikativ also ist Gott unerkennbar und unsagbar. Daran schließt sich in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie das häufige Diktum von der Transkategorialität göttlichen Wesens und Seins an. Auch die häufig durch Paradoxien ausgedrückte Sonderstellung Gottes soll nicht seine innere Widersprüchlichkeit ausdrücken. Vielmehr gelten die Grundsätze, daß aus Gott „die Gemeinschaften der Gegensätze“ („koinoniai ton enantion“) bzw. die Übereinstimmungen der Teile mit dem Ganzen entspringen, Gott aber selbst über allen kategorial ausdrückbaren Oppositionen steht43. Die Relativität bzw. „Einheit“ der Gegensätze im weltlichen Sein bedarf also eines Dritten, das zugleich „übergegensätzlich“ ist. Insofern schwingt in der negativen Dialektik des Pseudo-Areopagiten auch ein Stück positiver Dialektik mit, das die vermittelnde Funktion Gottes zwischen Gegenteilen in der Welt an die Stelle ihrer unvermittelten Verselbständigung setzt. Er schließt seine Überlegungen zu den „Namen Gottes“ mit einem doppelten Hinweis: er billigt die Verwendung positiver Attribute zur Kennzeichnung Gottes entsprechend den biblischen Vorgaben, fordert aber zugleich die Erkenntnis von deren Unzulänglichkeit gegenüber einem höchsten Wahrheitsanspruch, um daraus auf die unverzichtbare Funktion des „Aufstiegs durch die Negationen“ („anhodos dia ton apophaseon“) zu verweisen, welcher eine kritische Reflexion auf unsere Wahrnehmungen von Gott und eine maximale Annäherung an ihn ermöglichen44. So erweist sich das dialektische Denken im Rahmen des Neuplatonismus auch bei Pseudo-Dionysius Areopagita als anagogisch durch Negationen vorgehendes Verfahren, 40 41 42 43 44

Vgl. ibid., cap. II. 3, p. 125. Vgl. ibid., cap. IV.3, p. 146. Vgl. ibid., cap. II. 11, p. 136. Vgl. ibid., cap. IV. 7, p. 152; cap. V. 10, p. 189. Vgl. ibid., cap. XIII. 3, p. 230.

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das in kritisch-konstruktiver Weise das affirmative Denken aus der Alltagswahrnehmung, die Sprache der Bibel und die Prinzipien der Metaphysik integriert. Die anregende Wirkung dieses spätantiken Paradigmas setzte sehr früh im Mittelalter ein und war nachhaltig bis an sein Ende45.

Die Dialektik und das dialektische Denken in der Philosophie des Aristoteles Die „Dialektik“ war für Aristoteles (384–322 v.u.Z.) in zahlreichen seiner Schriften ein Thema, insofern ihr spezifischer Platz im System der Wissenschaften und der Philosophie zu bestimmen war. Zugleich enthält sein umfangreiches Schrifttum auch bestimmte theoretische Ansätze und Prinzipien, welche uns von ihrem Inhalt her berechtigen, von spezifisch aristotelischen Methoden und Theorien angewandter Dialektik zu sprechen. Die maßgeblichen Schriften hierzu sind die „Topik“, die „Metaphysik“ und einige naturphilosophische Lehrschriften. Deren Kommentierung und Interpretation durch zahlreiche mittelalterliche Philosophen führte zu einer besonders weiten Verbreitung der aristotelischen Konzepte zur „Dialektik“ in der Hochzeit des arabischen und des lateinischen Aristotelismus (12.–15. Jahrhundert). Gleichzeitig setzten die mittelalterlichen Interpreten jeweils eigene Akzente, die über die Andeutungen oder präzisen Vorgaben des Stagiriten hinweggingen bzw. in einigen Aspekten von ihnen abwichen. Und nicht zuletzt boten das Dialektik-Verständnis des Aristoteles und seiner mittelalterlichen Interpreten im ausgehenden Mittelalter und in der Renaissance manchen Anlaß zu grundsätzlichen Überprüfungen und Korrekturen. Aristoteles verstand unter „Dialektik“ zunächst eine bestimmte Fähigkeit und Methode zum Argumentieren. Deren Spezifik sollte darin bestehen, daß sie aus bestimmten „einleuchtenden Annahmen“ (grch. „endoxa“) Schlüsse ziehen konnte, welche alle beliebigen vorgelegten Problemfragen betrafen, ohne sich dabei in Widersprüche zu verwickeln46. Der Terminus „einleuchtende Annahme“ (bzw. „Wahrscheinlichkeitsannahme“) wiederum wird von ihm als „Annahme“ definiert, „die allen oder den meisten oder den Klugen so erscheint, und bei diesen (letzteren) wieder entweder allen oder den meisten oder den angesehensten und namhaftesten“.47 Der sogenannte „dialektische Syllogismus“ wird von Aristoteles in diesem Zusammenhang zu einem spezifischen methodischen Verfahren erklärt, aus „Wahrscheinlichkeitsannahmen“ in der zuvor beschriebenen Bedeutung bestimmte logische Schlüsse ziehen zu können. Zu den wesentlichen Anwendungsmöglichkeiten einer so verstandenen „Dialektik“ und damit als Ausweis ihrer Nützlichkeit zählt Aristoteles das Üben von Problemlösungen, die Unterredungen über unterschiedliche Meinungen zu einer bestimmten Frage, die Anwendung 45 46 47

Vgl. dazu u.a. W. Beierwaltes Identität und Differenz, S. 49–203. Vgl. Aristoteles, Topik, I.1, 100a 18–21. Ibid., I.1, 100b 21–23.

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des methodischen Zweifels durch die Diskussion alternativer Lösungsmöglichkeiten auf dem Gebiet der Philosophie und schließlich bei der Ermittlung der Prinzipien, von denen die einzelnen Wissensgebiete ausgehen48. Wenn es um eine nähere Kennzeichnung der in einer Untersuchung mit „dialektischem“ Charakter zu betrachtenden Fragen geht, so antwortet Aristoteles zunächst indirekt durch einen Ausschluß von zwei Extremen: weder sollen Fragen erörtert werden, welche nach allgemeiner Übereinstimmung unbeantwortbar sind („was keinem so erscheint“), noch auch solche, deren Antwort allen oder den meisten sofort klar ist. Positiv fügt er hinzu, daß es um einleuchtende Fragestellungen für die „Klugen“ und die große Masse geht, aber auch um Fragen, welche dazu vergleichbar sind; nicht zuletzt soll alles erörtert werden können, was in das Gebiet der „Meinungen“ in den „Künsten“ und den „Wissenschaften“ zählt49. Hinsichtlich des Gegenstandsbereichs soll offenbar alles, was die Philosophie untersucht, auch in einer Unterredung dialektischer Art untersucht werden. Denn Aristoteles nennt ausdrücklich die Fragen und Problemstellungen über die Natur, das sittliche Verhalten und die Logik als spezifische Gegenstandsbereiche der Dialektik50. Mit allen diesen Feststellungen unterstreicht Aristoteles den Allgemeinheitscharakter der dialektischen Methode, ihren sachlichen Problembezug und eben auch ihre Bindung an eine bestimmte Logik des Argumentierens. Der enge Bezug zum Medium Sprache51 und die Einbettung der Dialektik in die Logik als eines Instrumentariums verständigen Schließens in der Form des Syllogismus gehört zu den Eigenarten des Aristotelischen Dialektik-Verständnisses. Er stellt die Dialektik direkt neben die Rhetorik, indem er beide als Fähigkeiten definiert, Worte zu finden52. Auffällig ist auch die Öffnung ihres Anwendungs- und Kompetenzbereichs weit über die Philosophie hinaus auf andere Gebiete des Fragen und Antwortens. Eine völlige oder partielle Gleichsetzung von Philosophie und Dialektik, wie sie in der platonischen Tradition üblich war, ist bei Aristoteles nicht mehr zu finden! Dabei sieht er die Differenz von Dialektik und Philosophie offenbar aber nicht in der Verschiedenheit ihrer Gegenstände begründet, sondern in der jeweiligen Intention bei der Diskussion von Problemfragen. Denn der Philosophie gehe es bei der Erörterung der von ihr aufgeworfenen und behandelten Fragen um die Ermittlung der Wahrheit, für eine dialektische Erörterung genüge schon die Meinung, stellt er klar53. Diese Differenz kennzeichnet allerdings keine ausschließende Alternative, denn Aristoteles stellt ausdrücklich fest, daß die Zielstellung einiger dialektischer Problemerörterungen auch „Wahrheit“ (grch. „aletheia“) und „Wissen“ (grch. „eidenai“) sind54. Und in seiner „Rhetorik“ heißt es zum Grad an Überzeugung, 48 49 50 51 52 53 54

Ibid., I.2, 101a 25–101b4. Ibid., I.10, 104a 3–15. Ibid., I.14, 105b 19–21. Vgl. dazu R. Rehn, Sprache und Dialektik in der Aristotelischen Philosophie. Vgl. Aristoteles, Rhetorik, I.2, 1356a33–34. Vgl. Aristoteles, Topik, I.14, 105b 30–31. Vgl. ibid., I.11, 104b 1–8.

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welchen die Rhetorik und die Dialektik vermitteln können, „das Wahrscheinliche zu treffen bedeutet in der Mehrheit der Fälle gleichviel wie die Wahrheit zu treffen“.55 Insofern ist der Unterschied zwischen Philosophie und Dialektik epistemologisch nicht eindeutig bestimmt. Es müssen also weitere Gesichtspunkte herangezogen werden, um das Verhältnis zwischen beiden Denkweisen genauer zu fassen. Im 8. Buch der „Topik“ gibt uns Aristoteles dazu weitere Auskunft. Dort erörtert er die spezifischen Funktionen von Dialektik in einer dialogischen Gesprächssituation, welche der Prüfung von Aussagen und Argumentationen durch abwechselndes Fragen und Antworten dient. Diese spezifische Funktion von Dialektik, welche aus der Sokratisch-Platonischen Tradition stammt, ist auch innerhalb der aristotelischen Tradition erhalten geblieben, einschließlich der des Mittelalters. In der Platonischen, vor allem der neuplatonischen Traditionslinie trat sie demgegenüber immer mehr in den Hintergrund. Gleich eingangs des 8. Buches stellt Aristoteles fest, daß bis zur Ermittlung der „Topoi“, welche die allgemeinen Voraussetzungen und Geltungsgründe von Argumenten in einem Untersuchungsfeld darstellen, die Betrachtungen des Dialektikers und des Philosophen übereinstimmen; erst mit Beginn des Frage-Antwort-Verfahrens, auf das ein nach Weisheit Suchender auch verzichten kann, beginne die Trennung von Philosoph und Dialektiker56. Dementsprechend wird ein Dialektiker in der Funktion eines Gesprächsführenden nun folgendermaßen genauer bestimmt: „Um es einfach zu sagen, ist doch derjenige ein guter Dialektiker, welcher sowohl Behauptungen aufzustellen als auch Einwände zu machen in der Lage ist. ‚Behauptungen aufstellen‘ heißt aus einer Vielzahl ein Eines machen, denn das in Rede Stehende muß doch insgesamt zu einer Einheit zusammengefaßt werden. Und ‚Einwände machen‘ bedeutet aus einem Eins eine Vielzahl zu machen, indem man Differenzierungen einführt oder das Gesagte aufhebt, der einen Behauptung zustimmt, der anderen aber nicht.“57 Neben dem „Wahrscheinlichkeitsschluß“ wird damit das von bestimmten „Topoi“ ausgehende dialogische Prüfungsverfahren, in das auch Elemente des Meinungsstreits integriert sind, zum spezifischen Merkmal der Dialektik im Verständnis von Aristoteles, insoweit die Dialektik als eine verallgemeinerte Methode aufgefaßt wird. Aristoteles stellt außerdem klar, daß ein dialektisches Argumentieren weder mit einer auf Belehrung reflektierenden strengen deduktiven Beweisführung im Sinne der Mathematik und der „Analytik“ zu vergleichen ist, noch mit der Argumentationsweise der Sophistik auf einer Stufe steht, welche von nur scheinbar Einleuchtendem ausgeht und Scheinschlüsse ziehe, während ein Dialektiker aus „einleuchtenden Annahmen“ im oben genannten Sinn auf die eine oder andere Seite eines logischen Widerspruchs schlußfolgere58. Auch in der Abgrenzung von der Sophistik treffen sich das Aristoteli55 56 57 58

Aristoteles, Rhetorik, I.1, 1355a 17–18. Vgl. Aristoteles, Topik, VIII.1, 155b 7–11. Ibid., VIII.14, 164b 3–7. Vgl. Aristoteles, Sophistische Widerlegungen, Kap. 2, 165a38–165b11.

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sche und das Platonische Dialektik-Verständnis. Durch die doppelte Abgrenzung der Dialektik von einem streng deduktiven Beweisverfahren und von einem Scheinwissen erhält sie de facto eine Stellung als propädeutische Methode zugewiesen. Ihre universelle Geltung in den Wissenschaften resultiert aus ihrer Funktion, Probleme analysieren zu helfen und deren Lösungen vorzubereiten59. Innerhalb der Philosophie kann sie auch der Prinzipienforschung dienen. So befassen sich die Dialektiker, wie Aristoteles in der „Metaphysik“ feststellt, mit den Begriffspaaren „Identisches“ und „Verschiedenes“, „Ähnliches“ und „Unähnliches“, mit „Übereinstimmung“ und der „Kontrarietät“, mit dem „Früheren“ und dem „Späteren“, indem sie von entsprechenden einleuchtenden Annahmen ausgehen60. Die Dialektik wird aber nicht zu einer Metaphysik im Sinne einer Ontologie. Dazu heißt es bei Aristoteles: „… so hat auch das Seiende, insofern es ist, gewisse Eigentümlichkeiten, und über diese Eigentümlichkeiten Wahres zutage zu fördern, das ist die Sache des Philosophen. Hierfür spricht, daß sich die Dialektiker und die Sophisten hinter der Maske des Philosophen verbergen (denn die Sophistik ist nur eine Scheinweisheit); die Dialektiker diskutieren über alles, und das allen Gemeinsame ist das Seiende: offenbar diskutieren sie deshalb über dergleichen, weil es von Haus aus zur Philosophie gehört. Die Sophistik und die Dialektik beschäftigen sich also mit demselben Gegenstandsbereich wie die Philosophie. Die Philosophie unterscheidet sich aber von der Dialektik durch den Weg, den ihr Vermögen beschreitet, und von der Sophistik durch den Entschluß, den sie fürs Leben gefaßt hat. Die Dialektik ist eine prüfende Disziplin hinsichtlich der Dinge, von denen die Philosophie Erkenntnisse begehrt; die Sophistik scheint Philosophie zu sein – und ist doch keine.“61 Zur Frage nach einem ontologischen Gehalt der Dialektik äußert sich Aristoteles an anderer Stelle in der „Metaphysik“ folgendermaßen: „Die Dialektik und die Sophistik handeln zwar von dem, was zum Seienden hinzugekommen ist – aber nicht zum Seienden, insofern es ist; und sie handeln auch nicht vom Seienden selbst, insofern es seiend ist. Es bleibt also nur übrig, daß der Philosoph derjenige ist, der die genannten Dinge betrachtet, insofern sie seiend sind.“62 Diese Feststellungen von Aristoteles lassen erkennen, daß er genauso wie sein Lehrer Platon die Dialektik von der Sophistik abgrenzen wollte, daß er aber anders als dieser das Aufgabenfeld der Dialektik nicht auf „das Sein als solches“ ausdehnen wollte. Im Vorfeld der Aristotelischen „Ersten Philosophie“, also der Prinzipienlehre und Ontologie der Substanzen, soll und kann sich die Dialektik aber vorbereitend und heranführend nützlich machen. Somit ergibt sich hinsichtlich der Standortbestimmung von Dialektik als Methode durch Aristoteles, daß er in ihr eine spezifische Fähigkeit zum Untersuchen, dialogischen Argumentieren und Problemlösen im Feld der gängigen Meinungen sieht. Diese Methode soll auf Unklarheiten und Wi59 60 61 62

Aristoteles, Zweite Analytik, I.11, 77a 26–35. Aristoteles Metaphysik, 3. Buch, 1. Kap., 995b 20–25. Ibid., 4. Buch, 2. Kap., 1004b 15–26. Ibid., 11. Buch, 3. Kap., 1061b 7–11.

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dersprüche aufmerksam machen, um sie widerspruchsfrei zu beseitigen. Sie soll hinsichtlich des Grades an Verbindlichkeit hinter dem Verfahren des strengen Beweises zurückstehen, hinsichtlich des Grades an Klarheit und Eindeutigkeit aber klar die sophistischen Fang- und Fehlschlüsse ausschließen. Insofern die Dialektik als Methode des Untersuchens und Problematisierens zwar der philosophischen Prinzipienlehre und der Ontologie vorarbeitet, in diese aber schließlich doch nicht integriert wird, fungiert die Dialektik als ein Komplement der Ontologie. Neben den genannten methodischen Aspekten des Aristotelischen DialektikVerständnisses, welche die Dialektik eng an die Logik, die Erkenntnistheorie und auch an die Rhetorik heranführen, sind durchaus auch beachtenswerte theoretische Aspekte einer angewandten Dialektik in der Aristotelischen Philosophie zu erwähnen. Diese lassen sich vor allem in seiner Naturphilosophie finden. Hier spielen zunächst prinzipielle Klarstellungen zu den philosophischen Grundannahmen über das Wesen von Wirklichkeit eine Rolle. Von dem Eleatismus oder dem Heraklitizismus grenzt er sich prinzipiell ab, wenn er weder die philosophische Annahme einer allgemeinen Ruhe noch die Annahme eines unaufhörlichen Sich-Veränderns aller Dinge zur Basis seines Wirklichkeitsverständnisses macht63. Auch in der Frage, inwieweit Gegensätze (d.h. vor allem polare Gegensätze) fundamentale Erklärungsgründe für die Welt sein können, bestimmt Aristoteles seine eigene Position in strikter Abgrenzung von vorangegangenen Meinungen. Er grenzt sich dabei zunächst von Denkern ab, die „alle Dinge aus Gegenteilen hervorgehen lassen“, um dann festzustellen: „Aber es hat hier weder mit ‚allen Dingen‘ noch mit dem Hervorgehen ‚aus Gegenteilen‘ seine Richtigkeit; alle diese Denker sagen uns auch nichts darüber, wie denn nun die Dinge, an denen Gegenteile bestehen, aus diesen Gegenteilen entstehen können: denn Gegenteile können einander nicht affizieren. Für uns löst sich das Problem zwanglos durch die Annahme, daß es etwas Drittes gibt.“64 In dem letzten zitierten Satz deutet sich an, welche große Bedeutung er der Vermittlung von Gegensätzen in seiner Erklärung des Weltzusammenhangs gibt. Aristoteles erhebt den Anspruch, alle bisherigen Lehren über „Gegenteile“ korrigieren zu müssen65. Dazu entwickelte er speziell einen eigenen dialektischen Ansatz, der unter der Bezeichnung „Potenz-Akt-Dialektik“ bekannt geworden ist. Dieser Ansatz wird insbesondere im Kontext seiner Naturphilosophie fruchtbar. Denn es geht in beidem um eine Analyse und eine Erklärung des Phänomens der Bewegung bzw. des Prozesses als einer Hauptcharakteristik alles natürlich Seienden. Unter „Bewegung“ bzw. „Prozeß“ (grch. „kinesis“) versteht Aristoteles „die Verwirklichung des dem Vermögen nach Seienden, insofern es dem Vermögen nach ist“66. Anders gesagt: die „Potenz“ (oder das „Vermögen“) und der „Akt“ (oder die „Verwirklichung“) als zwei differente Modi des Seienden 63 64 65 66

Vgl. ibid., 4. Buch, 8. Kap., 1012b 22–24. Ibid., 12. Buch, 10. Kap., 1075a 28–32. Vgl. ibid., 12. Buch, 10. Kap., 1075b 11–13. Ibid., 11. Buch, 9. Kap., 1065b 16.

DIALEKTIK IN DER PHILOSOPHIE DES ARISTOTELES

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bilden in der Bewegung im Sinne einer prozeßhaften Veränderung eine dialektische Einheit, indem sie prozeßhaft miteinander vermittelt werden. Mit dem Begriff der „Potenz“ benennt Aristoteles generell sowohl die Quelle der Bewegung und Veränderung als auch des Stillstandes in der Natur67. Damit wird die reale Möglichkeit bezeichnet, daß etwas werden kann oder aus etwas ein anderes werden kann. Der „Akt“ bzw. das in Wirklichkeit Seiende bezeichnet die realisierte Möglichkeit. Überall, wo es in der aristotelischen Naturphilosophie um die natürliche, an ein bestimmtes stoffliches Substrat gebundene Veränderung geht, ist als wesentliche Voraussetzung ein in Möglichkeit Seiendes vorauszusetzen, das real in den Wirklichkeitsstatus überführt werden kann. Dafür ist durchaus auch das Vorhandensein alternativer Realisierungsmöglichkeiten in ein und demselben stofflichen Substrat anzunehmen, so daß die Überführung einer vorhandenen Realisierungsmöglichkeit in den Wirklichkeitsstatus den gleichzeitigen Ausschluß einer anderen Realisierungsmöglichkeit bedingt. Diesen Aspekt einer prinzipiellen Alternativität noch nicht realisierter Möglichkeiten in natürlichen Substraten oder technischen Konstrukten erläutert Aristoteles mit den folgenden Beispielen: „Was man nach dem Vermögen bezeichnet, das ist vermögend zu Gegenteilen; so ist z.B. dasjenige Ding, dem man das Vermögen zum Gesundsein zuspricht, als dasselbe Ding – und zur gleichen Zeit – auch vermögend, krank zu sein; denn ein und dasselbe Vermögen ist das Vermögen zum Gesundsein und zum Kranksein, das Vermögen zum Ruhen und zum Bewegtwerden, das Vermögen zum Bauen und zum Niederreißen oder das Vermögen zum Gebautwerden und Einstürzen.“68 Die Potenz-Akt-Dialektik hat ihren kosmologischen Platz in der Welt der ständigen Veränderungen, des Werdens und des Vergehens, die Aristoteles mit der sogenannten „sublunaren Welt“ gleichsetzt. Die Welt der stofflichen Dinge unterhalb der Welt der Gestirne ist die Heimstatt von Aristoteles’ Dialektik der prozessualen Veränderungen. In den naturphilosophischen Spezialschriften (vor allem in der „Physik“ und der Schrift „Über Werden und Vergehen“) und auch in der „Metaphysik“ hat Aristoteles das dialektische Verhältnis zwischen dem in Möglichkeit Seienden und dem in Wirklichkeit Seienden genauer untersucht. Der Aspekt der dialektischen Vermittlung zwischen konträren Gegenteilen spielt dabei eine wichtige Rolle. Dies betrifft vor allem die Vorgänge von qualitativer, quantitativer und Ortsveränderung natürlicher Dinge. Prinzipiell gilt hier, daß eine solche Veränderung als Übergang von einem konträren Gegenteil zu einem anderen, unter Umständen auch durch ein Mittelglied, aufzufassen ist69. In seiner Schrift „Über Werden und Vergehen“ erläuterte Aristoteles ausführlich, wie auf der Basis der natürlichen stofflichen Anlage der Dinge die Vorgänge des Werdens und Vergehens direkt miteinander korrespondieren, wie „Leiden“ und „Wirken“ aufeinander bezogen sind und wie es schließlich zu einer Verbindung zwischen unterschiedlichen 67 68 69

Vgl. ibid., 9. Buch, 8. Kap., 1049b 7–8. Ibid., 9. Buch, 9. Kap., 1051a 5–10. Vgl. ibid., 4. Buch, 7. Kap., 1011b 34–35; 12. Buch, 1. Kap., 1069b 3–7; Physik, Buch 5, Kap. 2.

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Komponenten durch deren Wandlung kommen kann (zur „mixis“). Ebenfalls erläutert er, wie die Grundbestandteile der natürlichen Welt, die Elemente, auf Grund ihrer konstitutiven kompatiblen Eigenschaften, die untereinander im Verhältnis einer partiellen Kontrarietät stehen, ineinander umwandelbar sind. Alle diese Reflexionen zeigen das Bemühen, die Relativität, Kompatibilität und relative Einheit von Gegenteilen in einer natürlichen Welt der Wandlungen und Veränderungen zu demonstrieren. Das Prinzip der Vermittelbarkeit von Gegensätzen in den prozessualen Veränderungen der natürlichen Körperwelt auf der Basis einer gemeinsamen Materie ist ein zentraler Bestandteil von Aristoteles’ Dialektik als Theorie der Relativität und der Einheit von sich gegenseitig sowohl bedingenden als auch ausschließenden Gegenteilen („Potenz“ – „Akt“, „Leiden“ – „Wirken“, „Werden“ – „Vergehen“, „Stoff“ – „Form“, „Kälte“ – „Wärme“, „Trockenheit“ – „Feuchtigkeit“). Bei alledem gilt für ihn der Grundsatz vom auszuschließenden logischen Widerspruch als das zu wahrende Grundprinzip der Naturerklärung70. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Aristoteles die Dialektik sowohl als Praxis des Fragens und Antwortens im Bereich der Diskussionen um echte Problemlösungen, als eine Logik der Wahrscheinlichkeitsschlüsse („dialektischer Syllogismus“) und auch als eine Lehre von der Vermittelbarkeit von Gegensätzen gebraucht hat. In der metaphysischen Annahme von gegensatzfreien Basiseinheiten alles Seins (der „Substanzen“), in der absoluten Entgegensetzung von einer Welt ständigen Werdens und Vergehens („sublunare Welt“) und einer Welt der konstanten Beständigkeit („supralunare Welt“) und schließlich in der Absolutsetzung eines ruhenden Weltzentrums (der Erde) sind die metaphysischen Grenzen dieses philosophischen Weltbildes zu sehen, welche auch die absoluten Grenzen von Aristoteles’ theoretischer Dialektik waren. Insofern ist auch sein Dialektik-Verständnis im Zusammenhang mit seiner Metaphysik zu sehen.

Das Dialektik-Konzept des Boëthius und anderer spätantiker Denker Boëthius (ca. 480–524) hat insbesondere in zwei Schriften ausführlich sein Konzept von „Dialektik“ begründet, d.h. im Kommentar zu Ciceros „Topik“ und in der Schrift „De differentiis topicis“. Der Tenor seiner Ausführungen liegt darin, die „Dialektik“ als eine Kunst des Argumentierens mit sogenannten „Wahrscheinlichkeitsargumenten“ zu begreifen und diese Kunst als lehr- und lernbar darzustellen71. Das „Plausible“ („probabile“) eines Arguments nun, das es zu einem „Wahrscheinlichen“ („verisimile“) macht, liegt nach Boëthius an seiner offensichtlichen Richtigkeit für „alle oder die meisten oder die Klugen und bei den letzteren wieder für alle, die meisten oder die 70 71

Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 4. Buch, 3.–6. Kap.; 10. Buch, 5.–6. Kap.. Boëthius, In Topica Ciceronis Commentariorum libri sex, lib. I, col. 1045 B–C.; ders., De differentiis topicis, lib. I, col. 1181 D–1182 C.

DAS DIALEKTIK-KONZEPT DES BOËTHIUS UND ANDERER SPÄTANTIKER DENKER

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berühmtesten und hervorragendsten“; bzw. es liegt an seiner Richtigkeit für bestimmte Fachleute auf ihrem jeweiligen Gebiet; bzw. es liegt an der Richtigkeit für einen bestimmten Gesprächspartner; bzw. es liegt an der Richtigkeit für einen Richter. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein solches Argument selbst wahr oder falsch ist72. Aber nicht nur die unmittelbare Zustimmungsfähigkeit in den genannten kommunikativen Zusammenhängen, sondern auch die davon zu unterscheidende unmittelbare Evidenz beim bloßen Hören eines entsprechenden Arguments unter Verzicht auf weitere erklärende und erläuternde Zusätze, konstituiert seine Plausibilität73. Boëthius stützte sich bei einer solchen Beschreibung von Plausibilität auf entsprechende Ausführungen von Aristoteles und Cicero. Mit beiden teilte er auch den leitenden Gesichtspunkt einer gewissen Nähe zwischen Dialektik und Rhetorik. Denn diese beiden Befähigungen zum argumentativen Reden verwenden „plausible“ Argumente im zuvor beschriebenen Verständnis als die jeweiligen Ausgangspunkte ihrer Ausführungen. Ferner argumentieren beide auch problembezogen, d.h. bezogen auf Behauptungen, welche entweder affirmiert oder negiert werden können, nachdem sie aufgestellt worden sind, ohne daß sie a priori als falsch oder wahr angesehen werden dürfen. Gleichwohl kann es auch Fälle geben, in denen von beiden Befähigungen nicht ausschließlich plausible, sondern auch plausible und zugleich notwendige Argumente (d.h. Argumente mit einem a priori gegebenen Wahrheitsanspruch) verwendet werden. Und nur in diesen Fällen erfüllt eine dialektische oder rhetorische Argumentation auch die Anforderung an Demonstrabilität, d.h. der strengen, beweiskräftigen Ableitbarkeit, wie sie im Verständnis des Boëthius für die „Philosophie“ charakteristisch sei. Insofern und nur dann kann es auch in der „Philosophie“ dialektisch zugehen. Isoliert steht der rhetorischen, dialektischen und streng wissenschaftlichen („philosophischen“) Weise des Argumentierens dagegen die „sophistische“ Art gegenüber, da sie Scheinargumente benutzt, welche weder „plausibel“ noch „notwendig“ sind, wie er feststellt74. Diese allgemeinen Charakterisierungen von Dialektik und Rhetorik finden nun in den beiden zuvor erwähnten Schriften zur Topik ihre Präzisierungen und Konkretisierungen. In der und durch die Topik werden diejenigen „Örter“ der „Wahrscheinlichkeitsargumente“ aufgelistet und beschrieben, welche die Schlüsse aus den als Prämissen dienenden Wahrscheinlichkeitsargumenten ermöglichen. Diese Lehre soll die Ausdrucksfähigkeit von Rednern und Dialektikern steigern bzw. die Suche nach der Wahrheit seitens der „Philosophen“ 72

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Boëthius, De differentiis topicis, lib. I, col. 1180 C–D: „Probabile vero est, quod videtur vel omnibus, vel pluribus, vel sapientibus, et his vel omnibus, vel pluribus, vel maxime notis atque praecipuis, vel quod unicuique artifici secundum propriam facultatem, ut de medicina medico, gubernatori de navibus gubernandis, id praeterea quod videtur ei cum quo sermo conseritur, vel ipsi, qui iudicat, in quo nihil attinet verum falsumve sit argumentum, si tantum verisimilitudinem teneat.“ Ibid., lib. I, col. 1181 B: „Ea sunt enim probabilia, quibus sponte atque ultro consensus adiungitur, scilicet ut mox ac audita sunt approbentur.“ Ibid., lib. I, col. 1181 D–1182 A.

ANTIKE PARADIGMEN DES DIALEKTISCHEN DENKENS

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befördern. Sie begründet also eine Kunst der Findung von Argumentationen aus leitenden, unmittelbar einsichtigen allgemeinen Grundsätzen („Maximen“) und in diese eingeschlossenen Wahrscheinlichkeitsargumenten. Diese Kunst, so hält Boëthius fest, ist lehr- und lernbar und für den Redner, den Dialektiker und den „Philosophen“ unverzichtbar75. Dadurch wird die „Dialektik“ im Sinne des Boëthius de facto als eine heuristische Methodik des plausiblen Argumentierens expliziert. Er unterscheidet nun aber auch eine dialektische Topik von einer rhetorischen, trotz aller Gemeinsamkeiten beider hinsichtlich der Qualität der verwendeten Argumentationsformen. Er markiert zu diesem Zweck bestimmte trennende Unterschiede zwischen beiden Arten von „Wahrscheinlichkeitsargumentation“. Erstens rekurriere die „Dialektik“ als Argumentationsfähigkeit auf verallgemeinerte Behauptungen, ohne wie die Rhetorik auf raumzeitliche Umstände, handelnde Personen und deren Motive bzw. Handlungsweisen einzugehen, es sei denn auf eine verallgemeinerte Weise. Zweitens bewege sich die dialektische Argumentationsweise grundsätzlich im Frage-Anwort-Modus, die Rhetorik hingegen im Modus der fortlaufenden Rede. Drittens verwende die Dialektik vollständige Syllogismen, die Rhetorik aber verkürzte (d.h. das Enthymem). Viertens gebe es in einer dialektischen Disputation keine dritte Urteilsinstanz zwischen den Disputierenden wie im Fall der richterlichen Instanz in einer Gerichtsverhandlung: Vielmehr formuliert der Gegner in der dialektischen Disputation selbst ein Urteil. Fünftens will der (Gerichts-) Redner einen Richter überzeugen, ein Dialektiker hingegen einen Gegner entwaffnen, so daß sie dadurch verschiedene Ziele haben76. – Der „Dialektik“ räumt Boëthius auf Grund ihres größeren Allgemeinheitscharakters im Vergleich mit der Rhetorik einen Vorrang ein, so daß ein Rhetor sich durchaus dialektischer Topoi bedienen kann, während ein Dialektiker mit seinen eigenen zufrieden ist und nur in Ausnahmefällen auf rhetorische Topoi Bezug nimmt, wie er festhält77. Diese Differenz zwischen beiden mache sich auch in der Verwendung einer abstrakten Begriffssprache seitens des Dialektikers bemerkbar, während die Sprache eines Rhetorikers jeweils einen konkreten Sachbezug unter Einschluß entsprechender abstrakter Begriffe (Genus, Spezies usw.) habe78. Die Bedeutung der Boëthianischen Reflexion über das Wesen und die Funktion von „Dialektik“ ergibt sich historisch daraus, daß sie die Aristotelische und Ciceronianische Dialektik- bzw. Topik-Tradition von der Antike an das lateinische Mittelalter vermitteln half. Darin ist inhaltlich auch die Nähe der „Dialektik“ zur Rhetorik, die Abgrenzung von der strengen Analytik und die Entgegensetzung zur Sophistik eingeschlossen. Ferner ist des Boëthius Akzentsetzung auf die Heuristik und die Disputationsmethode hervorzuheben, wenn er sich zum Wesen der „Dialektik“ äußert. Nicht weniger beachtens75 76 77 78

Ibid., lib. I, col. 1182 A–D. Ibid., lib. IV, col. 1205 C–1206 D. Ibid., lib. IV, 1215 D–1216 A. Ibid., lib. IV, col. 1216 B–C.

DAS DIALEKTIK-KONZEPT DES BOËTHIUS UND ANDERER SPÄTANTIKER DENKER

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wert erscheint der von ihm intendierte quasi-universelle Charakter der von ihm dargestellten „Dialektik“. Und indem er zwischen dem für ihn wahrheitsindifferenten „Wahrscheinlichen“ bzw. „Wahrähnlichen“ von Rhetorik und Dialektik einerseits und dem ontisch-notwendigen „Wahren“ der „Philosophie“ bzw. Analytik andererseits Überlappungen zuläßt, öffnet er die Tür für eine Wiederannäherung von „Meinung“ und „Wissen“. In der Tat, Boëthius hat die von Aristoteles übernommene Topik „zu einer sämtlichen Wissenschaften und Künsten vorausliegenden Grundlagendisziplin des ‚Auffindens‘ von logischen Prinzipien“ geformt79. Inwieweit eine so verstandene „Dialektik“ im Sinn von Topik eher zu einer formalisierten Logik wurde oder in ontologische oder rhetorische Kontexte eingebettet wird, inwiefern die gnoseologischen Fragestellungen über das Verhältniss zwischen „Wissen“ und „Meinen“ und „Wirklichkeitserkenntnis“ in sie Eingang finden, werden die sich anschließenden Entwicklungen in der mittelalterlichen Philosophiegeschichte erweisen. Boëthius hatte hier einiges angedeutet, doch nichts endgültig entschieden. Aller Wissenschaft und Philosophie, die sich methodisch auf Argumentation, Dialog und Problemdiskussion einließ, konnte das Boëthanische Dialektik-Konzept eine wertvolle methodische Stütze sein. Auch andere spätantike bzw. patristische Autoren haben mit ihren Äußerungen über das Wesen und die Funktion der Dialektik die späteren Auffassungen der mittelalterlichen Philosophen beeinflußt. Cassiodorus (ca. 485–580) sprach sich ebenso wie später Isidor von Sevilla (560–636) für die Einbeziehung und die besondere Wertigkeit der topischen Findungskunst in die bzw. für die Dialektik aus80. Zahlreiche Autoren setzten die Dialektik mit der aristotelischen Logik, der Begriffs- und Kategorienlehre des Aristoteles oder speziell mit einer Kunst des Disputierens gleich oder betrachteten die Dialektik als einen konstitutiven Bestandteil der Logik81. Cassiodorus und Isidor von Sevilla sahen in Aristoteles sogar denjenigen Philosophen, welcher die Dialektik erst zu einer „Kunst“, im Sinne eines geregelten Verfahrens, gemacht habe82. Augustinus (354–430) unterstrich den besonderen Rang der Dialektik, indem er sie in ihrer Rolle als Lehr- und 79

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P. v. Moos, „Was allen oder den meisten oder den Sachkundigen richtig scheint.“ Über das Fortleben des endoxon im Mittelalter, S. 729. Vgl. Cassiodorus, Institutiones divinarum et saecularium litterarum, lat.-dt., übers. v. W. Bürsgens, lib. II, cap. 3.15–18, S. 372–380; Isidorus Hispalensis, Etymologiarum sive originum libri XX, ed. W. M. Lindsay, lib. II, cap. XXX, p. 119–122. Vgl. Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii, ed. J. Willis, lib. IV, p. 105–147; Isidorus Hispalensis, Etymologiarum sive originum libri XX, lib. II, cap. XXII–XXIV, p. 103–105; Johannes von Damaskos, Capita philosophica (Dialectica), cap. 66, p. 138; Cassiodorus, Institutiones divinarum et saecularium litterarum, lib. II, praef. 4, S. 296; Augustinus, De doctrina christiana libri IV, ed. J. Martin, lib. II, cap. XXXI.48, p. 65–66; ders., Principia dialecticae, cap. I, col. 1409. Vgl. Cassiodorus, Institutiones divinarum et saecularium litterarum, lib. II, cap. III.1, p. 336: „Dialecticam primi philosophi in suis quidem dictionibus habuerunt, non tamen ad artis redigere peritiam. Post quos Aristoteles, ut fuit disciplinarum omnium diligens explanator, ad quasdam regulas doctrinae huius argumenta perduxit, quae prius sub certis praeceptionibus non fuerunt“; vgl. Isidorus Hispalensis, Etymologiarum sive originum libri XX, lib. II, cap. XXII, p. 103.

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Lernkunst als die „Wissenschaft der Wissenschaften“ („disciplina disclipinarum“) bezeichnete83. Einen besonderen Wert verlieh er der „Wissenschaft der Disputation“ auch dadurch, daß er sie zur wichtigsten Disziplin bei der Erörterung der Inhalte der Heiligen Schrift erklärte. Gleichzeitig warnte er eindringlich davor, sie mit einer sophistischen Täuschungskunst zu verwechseln84. Während einige Autoren noch eine gewisse Nähe zwischen Dialektik und Rhetorik gelten ließen85, widmete Martianus Capella (5. Jh.) in seiner Enzyklopädie der „Freien Künste“ der Dialektik und der Rhetorik jeweils getrennte Darstellungen86.

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Vgl. Augustinus, De ordine libri duo, ed. W. M. Green, lib. II, 13.38, p. 128. Augustinus, De doctrina christiana libri IV, lib. II, cap. XXXI. 48, p. 65–66: „Sed disputationis disciplina ad omnia genera quaestionum, quae in litteris sanctis sunt, penetranda et dissolvenda, plurimum valet; tantum ibi cavenda est libido rixandi et puerilis quaedam ostentatio decipiendi adversarium. Sunt enim multa, quae appellantur sophismata, falsas conclusiones rationum et plerumque ita veras imitantes, ut non solum tardos, sed ingeniosos etiam minus diligenter attentos decipiant.“ Vgl. Augustinus, Principia dialecticae, cap. VII, col. 1414; Isidorus Hispalensis, Etymologiarum sive originum libri XX, lib. II, cap. XXIII, p. 103–104; Cassiodorus, Institutiones divinarum et saecularium litterarum, lib. II, cap. III.2, S. 336. Vgl. Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii, lib. IV et V, p. 105–147; p. 147–201.

II. Kapitel: Die Anfänge eines dialektischen Denkens in der mittelalterlichen Philosophie

Die Anfänge eines dialektischen Denkens in der mittelalterlichen Philosophie können in eine direkte Verbindung mit der einsetzenden Rezeption des antiken philosophischen Erbes, mit den Bemühungen um eine Fundierung eines diskursiv abgesicherten neuen Weltbildes im Rahmen der monotheistischen Religionen Judentum, Islam und Christentum und nicht zuletzt auch mit den Versuchen gebracht werden, den Forschergeist und eine Debattenkultur in den Wissenschaften heimisch werden zu lassen. Diese Umstände und Motivationen waren es, welche in der Zeit vom 9. bis zum 12. Jahrhundert erste originelle denkerische Leistungen in der mittelalterlichen Philosophie ermöglichten. Unter „Dialektik“ wurde in dieser Zeit sowohl die Logik als Theorie und Methode des korrekten Schließens, eine allgemeine Kategorien- und Begriffslehre, eine Kunst des überzeugenden Argumentierens und Disputierens als auch eine Wissenschaft von den allgemeinen Strukturen des Seins verstanden. Das neuplatonische philosophische Erbe dominierte die theoretischen Diskurse. Dies lassen in genügender Klarheit u.a. die philosophisch-kosmologische Schrift „Periphyseon“ des Johannes Scottus Eriugena (ca. 810–ca. 877), das „Buch der Genesung der Seele“ des Ibn Sina (980– 1037), der gelehrte Dialog „Die Lebensquelle“ von Ibn Gabirol (ca. 1020–1058), die philosophisch-theologischen Thesenwerke „Buch der 24 Philosophen“ und der „Liber de causis“ erkennen. Sie sollen im folgenden näher untersucht und vorgestellt werden. In Form der „negativen Theologie“, des kosmologischen Kreislaufmotivs, des Theorems von der Entfaltung des göttlichen „Einen“ in die mundane Vielfalt, der Lehre von den Vermittlungen zwischen den konträren Gegensätzen in Gestalt seelisch-geistiger Zwischeninstanzen und nicht zuletzt in Gestalt des Motivs eines intellektuellen „Hinaufführens“ zum Urgrund alles Seins, dem „Eins“, begegnen dort zentrale neuplatonische dialektische Theoreme. In Verbindung mit eigenen originellen philosophischen Ideen werden sie von Johannes Scottus Eriugena, Ibn Sina und Ibn Gabirol in eine umfassende Welterklärung eingegliedert, welche die Welt als etwas aus dem göttlichen Ursprung Gewordenes bzw. Werdendes, als ein harmonisch Geordnetes und durch vermittelbare Gegensätze konstituiertes Ganzes erklärbar machen. Dadurch erlangt das dialektische Denken den Rang einer umfassenden idealistischen Welterklärung. Diese

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ANFÄNGE DIALEKTISCHEN DENKENS IN DER MITTELALTERLICHEN PHILOSOPHIE

wiederum war in bestimmte theologische bzw. metaphysische Vorstellungen über ein gegensatzfreies, einheitliches, transzendentes göttliches Absolutum als aktiven Ursprung des Ganzen eingebettet. Dieser Denkansatz blieb für viele nachfolgenden Generationen von Theologen und Philosophen ein wiederholter Anlaß für weiterführende Diskussionen. In der lateinischen Frühscholastik, dem juristischen bzw. politischen Schrifttum des 11. und 12. Jahrhunderts bewährte sich das dialektische Denken als ein Instrument eines produktiven Streits um die richtigen Auslegungen der Bibel und der Kirchenväterliteratur, einer Erörterung von Problemen des praktischen Lebens auf den Feldern von Politik und Recht und in den ersten Anfängen auch als ein Instrument einer rationalisierten Naturforschung. Die Dialektik als eine Kunst des sachlichen problembezogenen Argumentierens, des methodischen Zweifelns an vorgefaßten Meinungen, der Antithetik, der Begriffsdifferenzierungen, der Textkonkordanzen, der dialogischen Gedankenentwicklung und der heuristischen Wahrheitssuche wird in dieser Zeit zum Inbegriff des vernünftigen Denkens. Vor allem im Übergangsfeld von Philosophie und Theologie konnte es dabei zu prinzipiellen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern einer solchen Denkart und ihren Gegnern, den Verteidigern einer dogmatisch strengen Glaubenstradition, kommen. Zu den ohne Zweifel prominentesten Vertretern der Dialektik dieser Zeit im Rahmen der scholastischen Philosophie und Theologie gehörten Berengar von Tours (ca. 1000–1088) und Petrus Abaelard (1079–1142). Die Kontroversen, welche sie auslösten bzw. an denen sie beteiligt waren, machten sie weithin bekannt. Dies ist Grund genug, auf ihre Motive, Argumente und Problemlösungsverfahren etwas ausführlicher einzugehen. Die auf Aristoteles, Cicero und Boëthius zurückgehende Tradition der Topik und die Wahrscheinlichkeitslogik wurde in der lateinischen Scholastik seit dieser Zeit allmählich wiederentdeckt. Die Dialektik erhielt im unmittelbaren Zusammenhang damit den Charakter einer systematisierten Heuristik argumentativer Meinungsbildung. Für diesen Vorgang steht beispielhaft als ein historisches Zeugnis ersten Ranges die Schrift „Metalogicon“ des Johannes von Salisbury (ca. 1120–1180). Sie soll darum im folgenden etwas näher beleuchtet werden. Erste Anwendungen einer dialektischen Probabilistik und die ersten Schritte einer dialektischen Theoriebildung auf dem Feld rationaler Naturforschung sind ebenfalls in der lateinischen Frühscholastik des 12. Jahrhunderts festzustellen. Dafür stehen exemplarisch die Dialogschriften „Dragmaticon Philosophiae“ des Wilhelm von Conches (ca. 1090–1154) und „De elementis“ eines Marius, welche in diesem Kapitel ebenfalls näher betrachtet werden. Mit den geschichtsphilosophischen Reflexionen eines Otto von Freising (um 1111–1158) wird schließlich eine Facette des dialektischen Denkens des frühen Mittelalters in Erinnerung gebracht, welche bisher in diesem Zusammenhang eher vernachlässigt als gebührend gewürdigt wurde. Das dialektische Denken bewährte sich im Zeitraum vom 9. bis zum 12. Jahrhundert als ein intellektuelles Mittel der Rationalisierung und Erweiterung der Denkhorizonte

DIE DIALEKTISCHE THEOLOGIE DES JOHANNES SCOTTUS (ERIUGENA)

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auf vielen Gebieten philosophischen Nach- und Weiterdenkens. Es war auch außerhalb der Philosophie anzutreffen. In der philosophischen Entwicklung des dialektischen Denkens im Mittelalter markiert das 12. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt. Die weitere Entwicklung wird ab der Mitte dieses Jahrhunderts durch die intensive Rezeption des gesamten logischen und naturphilosophischen Schrifttums des Aristoteles einschließlich der Auslegungen durch seine arabischen Kommentatoren vorangetrieben. Die platonisch-neuplatonische Traditionslinie des dialektischen Denkens erhält ihrerseits verstärkende Impulse.

Die dialektische Theologie des Johannes Scottus (Eriugena) Am Beginn der europäischen Philosophie im Mittelalter präsentierte Johannes Scottus (oder Johannes Eriugena) (ca. 810–ca. 877) mit seinem großen Werk „Periphyseon“ eine philosophisch-theologische Kosmologie, in welcher Hauptelemente der Platonischen, Aristotelischen, neuplatonischen und patristischen Denkrichtung zu einem christlich fundierten Welt- und Menschenbild vereinigt werden. Dieses Werk enthält hinsichtlich seiner Form, der Methodik der Untersuchung und Darstellung und nicht zuletzt auch hinsichtlich seines theoretischen Gehalts einen dialektischen Ansatz. Dieser Ansatz tritt nicht als ein erklärtes Ziel des Autors oder als ein separates Lehrstück in Erscheinung. Unter „Dialektik“ wird in diesem Dialogwerk zunächst einmal ganz traditionell eine allgemeine Begriffslehre und Argumentationskunst im Rahmen der aristotelisch-boëthianischen Logik verstanden87. Zu ihren Hauptinstrumenten werden die Grammatik und die Rhetorik erklärt. Gleichwohl soll diese „Mutter der Künste“, wie die „Dialektik“ in diesem Werk auch genannt wird, ihre Beweisgründe nicht allein aus den Regeln des sprachlichen Ausdrucks schöpfen, sondern in erster Linie aus der „Natur der Dinge“ selbst88. Insofern kann dem Autor ein begriffliches Verständnis von „Dialektik“ unterstellt werden, welches nicht auf die Logik reduzierbar ist, sondern in einem umfassenden Sinn die Wirklichkeit als ganze (die „Natur“) potentiell einbezieht. Gerade in der Explikation des Zentralbegriffs der „Natur“ entfaltet Johannes ein dialektisches Philosophieren im Sinne eines differenzierten Gesamtverständnisses von Wirklichkeit. Indem dabei eine christliche Theologie und Kosmologie sowie Anthropologie in Erscheinung tritt, erhält dieses Philosophieren klare theoretische Lehrgehalte. Diese Lehrgehalte basieren zum Teil auf dem traditionellen philosophischen Kategorienreservoir der aristotelischen Philosophie. Doch indem der Autor zeigt, daß diese Begrifflichkeit nur in einem begrenzten Sinn gegenstandsadäquat sein kann, wird die Begrenztheit und Bedingtheit von verstandesmäßiger Rationalität aristotelischer Provenienz und vor allem die objektive Differenz von Endlichkeit des Verstandes und Unendlichkeit des 87 88

Johannis Scotti seu Eriugenae Periphyseon Liber primus, ed. E. A. Jeauneau, p. 42–48. Johannis Scotti seu Eriugenae Periphyseon Liber quartus, ed. E. A. Jeauneau, p. 16; ders., Periphyseon Liber quintus, ed. E. A. Jeauneau, p. 15–16, v. 403–431.

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Daseins Gottes als Ursprung und Wesen von Wirklichkeit zu einem der zentralen Probleme des Werks. Aus dem Wissen und in dem Wissen um diese Differenz wird das theoretische Denken zu einem Wissen des Nicht-Wissens, zu einem Nicht-Wissen des Wesens des göttlichen Ursprungs von allem, es wird in der Gestalt göttlicher Selbstreflexion zum „göttlichen Nicht-Wissen“ als höchster Form der Weisheit89. Die Dialektik von Wissen und Nichtwissen als Wissen des Nicht-Wissens ist in „Periphyseon“ von einem Duktus kritischer Selbstreflexivität geprägt, der sich gegen die Verabsolutierung bestimmter Denkformen wendet, wenn die Welt als ganze und vor allem ihr Ursprung erfaßt werden sollen, ohne diese Denkformen pauschal zu negieren. Doch nicht nur in der kritisch-negativen, sondern auch in der affirmativ-doktrinären Reflexion in der Form „positiver Theologie“, Kosmologie und Anthropologie tritt ein dialektischer Gehalt in „Periphyseon“ hervor. Dieser wird vor allem in dem philosophisch-theologischen Lehrstück vom Hervorgang aller Dinge aus Gott und ihrer Rückkehr in diesen demonstriert. Denn hier kommt eines der dialektischen Hauptprinzipien in „Periphyseon“ zur Geltung: das Prinzip der Vermittlung und des Ineinanderumschlagens der Gegensätze in einem allgemeinen Prozeß des fortschreitenden Wandels. – Wenn in Johannes’ großem Dialogwerk „Periphyseon“ auf die genannte Weise ein dialektisches Philosophieren Eingang findet, so ist dieses gleichzeitig und essentiell in einen theologischen Kontext eingebunden. Dieser besteht in dem Wirken des göttlichen Schöpferwillens und dem Prozeß der göttlichen Selbstoffenbarung. Nicht also in einer verselbständigten Wirklichkeitsdialektik außerhalb theologischer Überlegungen, sondern vielmehr und gerade in der Dialektik von Immanenz und Transzendenz Gottes gegenüber der Welt tritt die spezifische Eigenart des dialektischen Philosophierens von Johannes Scottus hervor. Diese Dialektik wird in der literarischen Form des Dialogs in einem systematischen Verfahren expliziert. Ausgehend von der These, daß die „Natur“ als Kennzeichnung alles dessen, was ist und was nicht ist, mit vier konstitutiven Differenzen versehen sei (d.h. 1. schaffende und nicht-geschaffene, 2. geschaffene und schaffende, 3. nicht-schaffende und geschaffene, 4. nicht-geschaffene und nicht-schaffende Natur)90, wird sodann im einzelnen die Vermittelbarkeit, Korrespondenz bzw. Identität dieser sich unter formal-logischem Gesichtspunkt zunächst paarweise einander ausschließenden Gegensätze demonstriert. Vor allem der Gegensatz zwischen der „Natur, welche schafft und nicht geschaffen wird“ (d.h. dem Schöpfergott) und der „Natur, welche geschaffen wird und nicht schafft“ (die in Erscheinung tretende Welt der Schöpfung) wird in den ersten vier Büchern von „Periphyseon“ als ein nur scheinbarer aufgeklärt und damit relativiert. Dazu wird bereits im 1. Buch ein wichtiger Grundsatz vorangestellt: Gott selbst ist auch der „Grund des Gegensätzlichen“91. Mit „Gegensätzliches“ (lateinisch „contraria“) ist an dieser Stelle spe89 90 91

Vgl. Johannis Scotti seu Eriugenae Periphyeon Liber secundus, ed. E. A. Jeauneau, p. 94–101. Vgl. Johannis Scotti Periphyseon Liber primus, p. 3–4. Ibid., p. 95: „Contrariorum quoque causa est …“.

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ziell die Entgegensetzung zur göttlichen Ordnung des Guten in der Schöpfung gemeint. Es sind die Erscheinungen des Schlechten, Bösen und Verwerflichen in der Welt. Sie erweisen sich als defiziente Abweichungen von der göttlichen Idealnorm, sind also nur „Gegensätze“ in Bezug auf und im Kontext mit dieser Idealnorm und sind dadurch keine substantiellen Formen der Wirklichkeit im Gegensatz und im Unterschied zu deren konstitutivem Prinzip, also Gott. Die zuvor erklärte Urheberschaft Gottes für das defizient Gegensätzliche in der Welt ist damit als eine indirekte erwiesen. Gott selbst wird hingegen als jeder Gegensatzbestimmung überhoben als eine „Gegensätzlichkeit der Gegensätze“ begriffen92. Das bedeutet, daß der Ursprung aller Wirklichkeit indirekt der Grund aller Gegensätzlichkeit und zugleich eine übergegensätzliche Instanz ist, insofern mit „Gegensatz“ die Defizienz gemeint ist, welche der Welt in konkreten Fällen zukommt. In direkter Weise aber wird Gott als der Urheber einer universellen Harmonie zwischen den partikularen Kontrarietäten im Weltganzen angesehen93. Damit gibt es für Johannes Scottus keinen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dem göttlichen Ewigen und Unwandelbaren, dem Geistig-Vernunftmäßigen auf der einen Seite und dem Temporären, Wandelbaren und Stofflichen der Welt auf der anderen Seite. Gott erscheint vielmehr als der Einheitsgrund von diesem allen. Er habe alles durch seinen „gleichförmigen Willen“ zu einer harmonischen Eintracht geführt, wie es in „Periphyseon“ heißt. Die universelle Harmonie des partikulär als Gegensätzliches Erscheinenden findet ihre ausgleichende Mitte also im gleichbleibenden Schöpferwillen Gottes94. Johannes Scottus reduziert mit dieser Vermittlungsdialektik die sekundären Polaritäten im Weltzusammenhang auf einen Einheitsgrund, der diese Polaritäten sowohl überschreitet als sie auch in einen harmonischen Gesamtzusammenhang einbindet. Der dialektische Grundsatz der Relativität und Einheit der Gegensätze gehört zu den Leitprinzipien dieses theologischen Weltbildes. Im 2. Buch von „Periphyseon“ zeigt Johannes die vermittelnde Funktion der sogenannten „Primordialursachen“ bzw. göttlichen „Ideen“ zwischen dem göttlichen Schöpfer und der Ordnung der sichtbaren und unsichtbaren Welt auf der Grundlage des Platonischen Teilhabe-Prinzips95. Dieses philosophische Prinzip wird auch im 3. Buch angewendet. Es erklärt die gestufte Ordnung und den prozessualen Hervorgang eines differenzierten Ganzen aus einem einheitlichen Grund. Dabei kommt auch der dialektische Gedanke des Werdens des Seins zur Geltung. Er wird mittels der philosophischen 92 93

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Ibid., p. 103: „Est enim … oppositorum oppositio, contrariorum contrarietas.“ Ibid., p. 103–104: „Haec enim omnia pulchra ineffabilique armonia in unam concordiam colligit atque componit. Nam quae in partibus universitatis opposita sibimet videntur atque contraria et a se invicem dissona, dum in generalissima ipsius armonia considerentur, convenientia consonaque sunt.“ Johannis Scotti seu Eriugenae Periphyseon Liber tertius, ed. E. A. Jeauneau, p. 29: „… universitatis concordia ex diversis naturae unius subdivisionibus a se invicem dum singulariter inspiciuntur dissonantibus, iuxta conditoris uniformem voluntatem coadunata est.“ Johannis Scotti Periphyseon Liber secundus, p. 124–127.

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Metapher des „Fließens“ ausgedrückt: die göttliche Gutheit und das göttliche wesenhafte Sein sowie die göttliche Weisheit „ergießt“ sich über die „Primordialursachen“ in die geordnete kosmische Welt, welche sich als ein hierarchisch gestuftes Ordnungssystem von Essenzen nach dem Teilhabe-Prinzip offenbart96. Ein großes Gewicht legte Johannes im 2. Buch von „Periphyseon“ auch auf das Prinzip der Transzendenz und Immanenz Gottes gegenüber allem endlichen Seienden. So heißt es an einer Stelle: „Gott ist sich bewußt, daß er in keinem von jenem [was nach Maß, Zahl und Gewicht eingegrenzt ist – H.-U. W.] existiert. Er erkennt, daß er vielmehr auf Grund der Erhabenheit seiner Weisheit über allen Ordnungen der Natur ist, daß er durch die Größe seiner Wirkungskraft ebenfalls in allem ist, daß er ferner durch das unerforschliche Walten seiner Vorsehung allem immanent ist sowie alles umfaßt, weil in ihm alles und außer ihm nichts existiert.“97 Diesem Prinzip der Transzendenz und Immanenz Gottes gesellt sich das Prinzip des „göttlichen Nicht-Wissens“ als Prinzip der Selbstreflexion Gottes zur Seite98. Dementsprechend wird wiederum „auf dem rechten Weg des Denkens“ bei den Menschen aus der Erkenntnis der Differenz zwischen dem Bestehenden und Gott bzw. aus der Erkenntnis der Transzendenz Gottes dieser schließlich besser als derjenige gewußt, welcher „jenseits von allem, was ist und nicht ist“, besteht99. Damit wird klargestellt, daß weder eine affirmative noch eine abstrakt negative Theologie alleine, sondern erst die beide transzendierende dialektische Theologie als rationale Gottesforschung eine gedankliche Annäherung an Gott ermöglicht. In dieser Theologie wird „Gott“ als ein doppelt Negatives mit unendlicher Intension gewußt: Gott überschreitet in diesem Verständnis sowohl das Seiende als auch das Nicht-Seiende. Diese dialektische Theologie ist somit eine besondere Form der „negativen Theologie“, der sich Johannes Scottus vor allem nach dem Vorbild des Dionysius Pseudo-Areopagita anschließt. Die Differenz zwischen dem Bestehen des göttlichen Urgrunds und demjenigen, „was ist und was nicht ist“, ist vor allem in der Differenz zwischen der Unendlichkeit Gottes und der endlichen Wirklichkeit („natura rerum“) begründet, welche mittels des aristotelischen Kategoriensystems bzw. überhaupt einem kategorialen Denken bestimmt werden soll100. In Bezug darauf stellt sich Gott im Rahmen der dialektischen Theologie als ein reflektiertes Anderes dar. Gott erscheint auf diese Weise als das negative dialektische Korrelat jeder welthaften Subsistenz. Diesem Aspekt korrespondiert andererseits 96

Johannis Scotti Periphyseon Liber tertius, p. 21–22. Johannis Scotti Periphyseon Liber secundus, p. 89: „Deus autem in nullo eorum intelligt se esse, sed cognoscit se supra omnes naturae ordines esse suae sapientiae excellentia, et infra omnia suae virtutis altitudine, et intra omnia suae providentiae ininvestigabili dispensatione, et omnia ambire quia in ipso sunt omnia et extra ipsum nihil est.“ 98 Ibid., p. 94–98. 99 Ibid., p. 99: „… et nesciendo eum in his quae sunt melius eum sciunt super omnia quae sunt et quae non sunt.“ 100 Ibid., p. 98. 97

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der positive theologische Gedanke der universellen vermittelten „Teilhabe“ von allem Seienden an Gott. Die dialektische Theologie von Johannes Scottus gewinnt aus diesem Zusammenfügen von Differenz als Anderssein und Identität durch „Teilhabe“ ihren spezifischen Gehalt und Anspruch. In der Lehre von den „Theophanien“ vollzieht er die theoretische Synthese beider Komponenten. In den „Theophanien“, d.h. in dem alleine dem Denken zugänglichen Gegenwärtigsein des Schöpfergottes in seiner Schöpfung, zeigt sich laut Johannes sowohl die Immanenz als auch die Transzendenz Gottes. Denn alle weltlichen Objekte unseres Erkenntnisstrebens verweisen sowohl in positiver als auch in negativer Weise auf Gott. Sie gelten als dialektische Aufhebungen Gottes. In ihnen zeigt sich das Positive der göttlichen Negativität. Sprachlich ist dieses Phänomen durch eine Reihe von Paradoxien ausdrückbar, welche das dialektische Prinzip der Durchdringung der Gegensätze ausdrücken: „Alles dasjenige, was gedanklich verstanden und was wahrgenommen wird, ist nichts anderes als das Erscheinen des Nicht-Erscheinenden, das Offenbarwerden des Verborgenen, die Bejahung des Verneinten, das Erfassen des Unerfaßbaren, das Aussprechen des Unsagbaren, das Herankommen des Unzugänglichen, das Verstehen des Nicht-Verstehbaren, der Körper des Unkörperlichen, das Wesen des Überwesentlichen, die Form des Formlosen, das Maß des Nicht-Meßbaren, die Zahl des Unzählbaren, das Gewicht des Gewichtslosen, die Verleiblichung des Geistigen, die Sichtbarkeit des Unsichtbaren, die Örtlichkeit des Nicht-Örtlichen, die Zeitlichkeit des Zeitlosen, die Eingrenzung des Unbegrenzten, die Abgrenzung des Unabgegrenzten, und das Übrige, was mit dem bloßen Denken gedacht und durchschaut wird und sich dabei dem Gedächtnis entzieht und dem Scharfsinn entkommt.“101 Um die paradoxe Beschreibung der göttlichen Vergegenwärtigung verständlicher zu machen, zieht Johannes die sprachliche Kommunikation des menschlichen Intellekts als Analogon der „Theophanie“ heran. Auch hier durchdringen sich im Prozeß der Selbstentäußerung und Selbstmitteilung des Intellekts die Gegensätze102. In den „Theophanien“ sieht Johannes die Resultate der göttlichen Selbstoffenbarung und Selbsterzeugung im Vorgang der Schöpfung, welche letztlich nicht nur die Durchdringung, sondern in der Konsequenz die Einheit der Gegensätze in dem „unaussprechlichen Hinabsteigen“ der „höchsten Gutheit“ in alles Seiende beinhaltet. Nun wird auch der zentrale theologische Gegensatz von Schöpfer und Geschöpf (d.h. von „schaffender und ungeschaffener Natur“ und „geschaffener und nicht-schaffender Natur“) relativiert. „Wir dürfen Gott 101

Johannis Scotti Periphyseon Liber tertius, p. 22: „Omne enim quod intelligitur et sentitur nihil aliud est nisi non apparentis apparitio, occulti manifestatio, negati affirmatio, incomprehensibilis comprehensio, ineffabilis fatus, inaccessibilis accessus, inintelligibilis intellectus, incorporalis corpus, superessentialis essentia, informis forma, immensurabilis mensura, innumerabilis numerus, carentis pondere pondus, spriritualis incrassatio, invisiblis visibilitas, illocalis localitas, carentis tempore temporalitas, infiniti diffinitio, incircumscripti circumscriptio, et caetera quae puro intellectu et cogitantur et perspiciuntur et quae memoriae sinibus capi nesciant et mentis aciem fugiunt.“ 102 Ibid., p. 22–23.

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und Geschöpf nicht als zweierlei voneinander Verschiedenes denken, sondern müssen sie als ein und dasselbe verstehen. Denn das Geschöpf subsistiert in Gott und Gott wird auf wunderbare und unaussprechliche Weise im Geschöpf geschaffen, indem er sich selbst offenbart, sich als Unsichtbarer sichtbar macht, als Unbegreiflicher begreifbar macht, als Verborgener bekannt macht, als Unerkannter erkannt macht, als Form- und Gestaltloser schön und ansehnlich macht, als Überwesentlicher wesenhaft macht, als Übernatürlicher natürlich macht, als Einfacher zusammengesetzt macht, als Akzidensfreier zum Träger von Akzidentien und zum Akzidens macht, als Unbegrenzter begrenzt macht, als Unabgegrenzter abgegrenzt macht, als Überzeitlicher zeitlich macht, als Überörtlicher örtlich macht, als Schöpfer von allem in allem geschaffen macht, als Erzeuger von allem in allem erzeugt macht, als Ewiger eine Existenz beginnt, als Unbeweglicher zu allem bewegt wird und in allem alles wird. Und dies sage ich nicht in Bezug auf die Fleischwerdung des Wortes und die Menschwerdung, sondern hinsichtlich des unaussprechlichen Herabsteigens der höchsten Gutheit, welche Einheit und Dreiheit ist, in dasjenige, was des Seins wegen ist, damit sie selbst vom Höchsten bis zum Niederen in allem ist, immer ewig, immer erzeugt, aus sich heraus und in sich selbst ewig und aus sich heraus und in sich selbst erzeugt.“103 Die Gegensätze von Schöpfergott und Geschöpf, Sichtbarem und Unsichtbarem, Natürlichem und Übernatürlichem, Endlichem und Unendlichem, Geistigem und Stofflichem usw. werden damit zu relativierten Unterschieden in einem einheitlichen göttlichen Schöpfungsvorgang. Aber auch nur in diesem einheitlichen Vorgang werden sie eins. Insofern besteht die theologische Dialektik bzw. die dialektische Theologie von Johannes Scottus nicht in einem undifferenzierten All-Einheits-Denken, das alle Unterschiede und Gegensätze in eine unmittelbare Identität aufhebt. Vielmehr bleibt Gott, indem er in allem hervortritt, zugleich immer jenseits von allem, wie Johannes hervorhebt: „Und indem er überall zum Vorschein kommt, erzeugt er auch alles und kehrt zu sich selbst zurück, indem er alles in sich selbst wieder zurückruft. Während er in allem wird, hört er nicht auf, über allem zu sein. Er macht also alles aus nichts: aus seiner Überwesenhaftigkeit nämlich bringt er die Wesen hervor, aus der Überlebendigkeit vieles Leben, aus der Übergedankenhaftigkeit die Gedanken, aus der Verneinung von allem, was ist und was 103

Ibid., p. 85: „Proinde non duo a se ipsis distantia debemus intelligere deum et creaturam, sed unum et id ipsum. Nam et creatura in deo est subsistens, et deus in creatura mirabili et ineffabili modo creatur, se ipsum manifestans, invisibilis visibilem se faciens, et incomprehensibilis comprehensibilem, et occultus apertum, et incognitus cognitum, et forma ac specie carens formosum ac speciosum, et superessentialis essentialem, et supernaturalis naturalem, et simplex compositum, et accidentibus liber accidentibus subiectum et accidens, et infinitus finitum, et incircumscriptus circumscriptum, et supertemporalis temporalem, et superlocalis localem, et omnia creans in omnibus creatum, et factor omnium factus in omnibus, et aeternus coepit esse, et immobilis movetur in omnia et fit in omnibus omnia. Neque hoc de incarnatione verbi et inhumanatione dico, sed de summae bonitatis, quae unitas est et trinitas, ineffabili condescensione in ea que sunt ut sint, immo ut ipsa in omnibus a summo usque deorsum sit, semper aeterna, semper facta, a se ipsa in se ipsa aeterna, a se ipsa in se ipsa facta.“

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nicht ist, die Bejahungen von allem, was ist und was nicht ist.“104 Die Dialektik von Transzendenz und Immanenz Gottes gegenüber der Welt und die Dialektik der Negativität verhindern ein pantheistisches All-Einheits-Denken. Diese dialektischen Denkfiguren sind die Kennzeichnungen für die Aktivität Gottes. Es ist die selbstreferentielle Subjektivität des Schöpfergottes im Akt der Selbstoffenbarung und Weltschöpfung, welche bei Eriugena die polaren Gegensätze miteinander vermittelbar macht und sie zum Umschlagen bringt. Außerhalb der theologisch-philosophischen Perspektive des Schöpfungs- und Selbstoffenbarungsvorgangs in der göttlichen Subjektivität, d.h. also außerhalb der universellen theologisch-kosmologischen Vermittlungsdialektik des Johannes Scottus, gilt das Prinzip der Aufspaltung der Betrachtungsweisen in der „duplex speculatio“. Diese besteht zum Beispiel im Kontext einer naturphilosophischen Untersuchung darin, das Wandelbare von dem Unwandelbaren, die Akzidentien von den Substanzen abzutrennen, d.h. also die entgegengesetzten Verstandesbestimmungen gerade in ihrem wechselseitigen Ausschluß und in ihrer Unmittelbarkeit zu analysieren: „Es gibt doch eine doppelte Art der theoretischen Betrachtung dieser sichtbaren und den körperlichen Sinnen zugänglichen Dinge: denn wir betrachten die in ihnen gegebenen und unveränderlichen Subsistenzen, denen sie ihr eigentliches Dasein verdanken, auf eine andere Art als die Akzidentien, welche das Anwachsen und Vermindern erleiden und ständig und unaufhörlich in einer ruhelosen Bewegung sind. Aus diesem Grund mußte das Veränderliche von dem Unveränderlichen abgetrennt werden, d.h. die Akzidentien mußten durch eine gedankliche Unterscheidung von den Substanzen getrennt werden …“105 Damit wird die aristotelische Metaphysik und Naturphilosophie ausdrücklich als gültige affirmative Art des Weltverständnisses bewertet. Die Dialektik der Transzendenz und Immanenz Gottes ist die dazu komplementäre umfassendere theologische Ergänzung, welche sich gerade nicht mit einfachen Affirmationen, unvermittelten Polaritäten und abstrakten Negationen im Herangehen an Gott zufriedengibt, sondern in deren Überschreiten durch ein wissendes Nicht-Wissen den richtigen Weg einzuschlagen gewiß ist106. 104

Ibid., p. 91–92: „Ac sic ordinate in omnia proveniens facit omnia, et fit in omnibus omnia, et in se ipsum redit revocans in se omnia. Et dum in omnibus fit, super omnia esse non desinit. Ac sic de nihilo facit omnia, de sua videlicet superessentialitate producit essentias, de supervitalitate vitas, de superintellectualitate intellectus, de negatione omnium quae sunt et quae non sunt affirmationes omnium quae sunt et quae non sunt.“ 105 Ibid., p. 126: „Quoniam vero harum rerum visibilium corporeis sensibus subiectarum duplex speculatio est – aliter enim in eis subiectas et immutabiles subsistentias, quibus proprie subsistunt, aliter accidentia, quae augeri et minui patiuntur instabilique motu semper variari non desinunt speculamur – necessarium erat mutabilia ab immutabilibus segregari, hoc est, accidentia a substantiis intellectuali diiudicatione discerni …“. 106 Ibid., p. 96: „Eo igitur vocabulo [videl. ‚nihil‘ – H.-U. W] deum vocari necesse est, qui solus negatione omnium quae sunt proprie innuitur, quia super omne quod dicitur et intelligitur exaltatur, qui nullum eorum quae sunt et quae non sunt, est, qui melius nesciendo scitur.“

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Der große gelehrte Dialog des Johannes Scottus führt im Nachdenken über den Ursprung und das Hervortreten der Welt als ganzer ein dialektisches Prozeß- und Vermittlungsdenken vor. Der philosophische Ertrag zeigt sich in den Reflexionen über die Relativität, Kompatibilität und die Einheit der Gegensätze, in der Anwendung des Gedankens der Vermittelbarkeit von Gegensätzen im vernünftigen bzw. weisheitlichen Denken, in der Kritik an den Grenzen des endlichen Verstandes nach dem Muster des aristotelischen Kategoriensystems. Die „Dialektik“ erweist sich in dem theoretischen Anspruch von „Periphyseon“, die Totalität von Wirklichkeit zu erfassen, wesentlich als eine Theologie der Selbstoffenbarung Gottes. Der weltanschauliche Gehalt dieses dialektischen Ansatzes wiederum zeigt sich zum einen in dem Gedanken der universellen Immanenz und Transzendenz Gottes gegenüber der Welt. Zum anderen aber verleiht Johannes Scottus auch dem Menschen eine universelle Vermittlungsfunktion in der Gesamtheit aller Geschöpfe Gottes107. Insofern enthält auch seine Anthropologie wesentliche dialektische Aspekte seiner universellen Weltsicht. Zu einer separaten dialektischen Naturbetrachtung aber vermag Johannes Scottus nicht zu gelangen.

Ibn Sinas dialektische Modalmetaphysik Die im Mittelalter durchaus charakteristische Verknüpfung dialektischer philosophischer Diskurse mit religiös-theologischen Vorstellungen und der Metaphysik als philosophischer Prinzipienlehre wird exemplarisch im Werk des Ibn Sina (980–1037) greifbar. Anhand von Ibn Sinas Hauptwerk, dem „Buch der Genesung [der Seele]“, soll dieses Phänomen näher erläutert werden. Neben den traditionellen philosophischen Inhalten, welche der Autor den aristotelischen und neuplatonischen Lehren entnimmt, gibt es bei ihm neuartige Perspektiven in der Metaphysik, welche dialektische Theorieelemente enthalten. Diese sind wiederum mit theologischen Vorstellungen kompatibel. Kurz gesagt, es handelt sich um die Kombination von traditioneller neuplatonischer Emanationslehre und dem theologischen Schöpfungsdenken sowie der Vorstellung einer Ewigkeit der Welt unter Anwendung einer idealistischen Potenz-Akt-Dialektik und Subjekt-Objekt-Dialektik. Im Ergebnis tritt die metaphysisch-dialektische Vorstellung von einer „ewigen Schöpfung“ bzw. einem „ewigen Werden“ hervor. Zum anderen wird in diesem Kontext insbesondere die „Kontingenz“ als dialektischer Daseins-, Ereignis- und Bedingungsmodus von Welt thematisiert, welcher das Gott-WeltVerhältnis, das Verhältnis von Notwendigkeit und Zufall und das Verhältnis simultaner alternativer Möglichkeiten als Verhältnisse dialektischer Gegensatzpaare verstehen läßt. Neben diesen speziellen inhaltlichen Hauptelementen eines dialektischen Weltverständnisses enhält das philosophische Hauptwerk Ibn Sinas auch deutliche Anzeichen einer dialektischen Methodik. Dies zeigt sich in der Anwendung topischer, apore107

Vgl. Johannis Scotti Periphyseon Liber secundus, p. 17; ders., dass., Liber quartus, p. 42; ders., dass., Liber quintus, p. 49, v. 1517–1523.

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tischer, dialogischer und dihäretischer Argumentationsformen. Kurz gesagt: gedankliche Systematik und diskursive Gedankenentwicklung gehen eine unauflösliche Symbiose ein. Der Kosmos stellt sich Ibn Sina als ein hierarchisch gegliedertes Ganzes dar, das im Wege eines schöpferischen Emanationsprozesses aus dem göttlichen Ur-Einen hervorgegangen ist. Dieses Sein des Kosmos als ein Gewordenes und immerfort Werdendes ergibt sich einmal durch den direkten Hervorgang eines „Intellekts“, d.h. geistigen Prinzips, aus dem „Notwendig Seienden“, d.h. Gott: so wird der Übergang der Transzendenz in die Immanenz eingeleitet. Aus diesem „Intellekt“ als dem ersten Gewordenen werden dann ein weiterer neuer Intellekt, ein Himmelskörper und eine „Himmelsseele“ erzeugt; gleiches geschieht aufs neue im zuletzt entstandenen Intellekt bis hinunter zum sogenannten „aktiven Intellekt“ oder „Geber der Formen“, welcher die Welt und Umwelt des Menschen strukturiert. So spielt sich ein durch die „Intellekte“ als geistigen Erzeugungsprinzipien gesteuerter immanenter iterativer Erzeugungsprozeß des Kosmos ab. Auf diese Weise vermittelt sich die göttliche Einheit mit der außergöttlichen Vielheit, die göttliche Transzendenz mit der kosmischen Immanenz, das Geistige mit dem Körperlichen und das Potentielle mit dem Aktualen. Ibn Sina versteht die „Intellekte“ als in sich funktional differenzierte schöpferische Drei-Einheiten, welche durch Rekursion, Selbsttranszendenz und dialektische Selbstreflexion jeweils neue Triaden aus Intellekt, Seele und Körper generieren: „Insofern der erste Verstand das erste Seiende denkt, ergibt sich aus ihm ein anderer Verstand; insofern er aber in sich selbst nach seinen zwei Seiten hin (in der Selbstbetrachtung liegt eine Teilung des Wesens in Subjekt und Objekt) individuell bestimmt ist, ergibt sich aus ihm die erste Sphäre mit ihrem Körper, d.h. mit ihrer Materie und ihrer Wesensform … Ebenso verhält es sich bei jedem einzelnen Verstande und jeder einzelnen Sphäre, so daß die Reihenfolge dieser Geister und Sphären schließlich endigt bei dem aktiven Intellekte, der unsere Seelen leitet. Diese Kette der Geister geht nicht ins Unendliche fort, so daß unter jedem immateriellen Prinzip ein weiteres Prinzip existierte.“108 Es sind also hierarchisch geordnete Triaden aus Geist, Körper und Seele und funktionale Drei-Einheiten aus intellektuellem Rekurs, intellektueller Selbsttranszendenz und Selbstreflexion, welche die Potenz-AktDialektik bzw. die Dialektik von Subjekt und Objekt als prozessual vermittelbarer Gegensätze in Ibn Sinas idealistischer Kosmologie strukturieren. Dieser Vorgang ist als ein Prozeß ohne zeitlichen Anfang und ohne ein zeitliches Ende gedacht. Sein leitender metaphysischer Grundgedanke besteht in der Annahme einer Parallelisierung von intellektuellem und realem Erzeugungsvorgang. Für Ibn Sina gilt zunächst eine metaphysische Dichotomie alles Seins in das „notwendig Seiende“, d.h. Gott, und das nur „mögliche bzw. kontingente Seiende“, d.h. das außergöttliche Sein. Dieses außergöttliche Seiende ist seinem Wesen nach ein Mögli108

Avicenna, Das Buch der Genesung der Seele: Die Metaphysik, IX. Abhandlung, 6. Kap., S. 603– 604.

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ches, d.h. nicht Notwendiges. Es harrt seiner Aktualisierung durch ein anderes, während das göttliche Sein seinem Wesen nach immerfort aktual existiert. Indem das außergöttliche Seiende aber aktualisiert wird, mutiert es zu einem „Notwendigen durch ein anderes“. Diese Doppelbestimmung des außergöttlichen Seienden als seinem Wesen nach Mögliches und als ein akzidentiell Notwendiges durch eine Abhängigkeit von einem anderen macht den Kerngedanken der Modalmetaphysik von Ibn Sina aus. Er spricht allem außergöttlichen Seienden prinzipiell eine formal-wesenhafte Kontingenz zu. Damit kann alles Außergöttliche nicht mehr so wie der göttliche Ursprung als eine undifferenzierte Einheit von Wesen und Existenz, sondern nur als differenzierte Doppelbestimmung aus Wesen und Existenz bzw. aus Möglichkeit und Aktualitätsbedingung gedacht werden109. Dadurch wird das Verhältnis zwischen Gott und Welt zunächst in ein konträres modales Gegensatzverhältnis zwischen Kontingenz und Notwendigkeit gesetzt. Im Prozeß der Emanation und im Kontext der Naturvorgänge hebt sich dieser konträre Gegensatz aber bei Ibn Sina in ein dialektisches Verhältnis der Komplementarität zwischen Kontingenz und Notwendigkeit auf110. Auf diesem Wege vermeidet er eine naturalistische Verabsolutierung der Notwendigkeit alles Geschehens in der Welt wie aber auch eine voluntaristische Verabsolutierung einer absoluten Kontingenz der Welt, wie sie von einigen Vertretern der islamischen Theologie postuliert wurde, um somit die absolute Souveränität Gottes zu begründen. Die außergöttliche Welt wird von Ibn Sina in eine himmlische und eine sublunare Region geteilt. Für die himmlische Region, aber auch für die seelischen und geistigen Kräfte behauptet er eine Koinzidens von möglichem und notwendigem Sein, da hier keine Vergänglichkeit auftrete und eine makellose Vollkommenheit bestünde111. In der „unteren Welt“, also der Welt der körperlichen Materie, der Elemente und des Werdens und Vergehens, sieht er den niedrigsten Grad an Wirklichkeit112. Gleichwohl postulierte er auch hier und gerade hier die Wirkung der göttlichen Providenz als ordnungsstiftenden Faktor neben der Wirkung der himmlischen Kräfte und irdischen Naturkräfte. Nur so gelangen Kontingenz und Existenz bzw. Notwendigkeit und Zufall in dieser Region 109

Ibid., I. Abhandlung, 7. Kap., S. 76–77: „Was aber das Mögliche anbetrifft, so ist aus obigem seine Eigentümlichkeit klar. Sie besteht darin, daß es notwendig eines anderen Dinges bedarf, durch das es in die aktuelle Existenz versetzt wird. Jedes ‚möglich Seiende‘ ist in bezug auf sein Wesen immer nur möglich. Manchmal jedoch kommt es ihm als Akzidens zu, daß seine Existenz durch einen anderen notwendig ist. … Daher ist nichts außerhalb des notwendig Seienden frei von der Beimischung alles dessen, was in sich selbst betrachtet potential und kontingent ist. Er ist die Einheit, alle anderen Dinge sind zusammengesetzte Zweiheit.“ 110 Vgl. Lenn E. Goodman, Avicenna, S. 74–101. 111 Avicenna, Das Buch der Genesung, I. Abhandlung, 7. Kap., S. 77; ibid., IX. Abhandlung, 8. Kap., S. 625; vgl. auch Ibn Sinas Äußerung im Disput mit Al-Biruni: „Nun ist das Mögliche bei den ewigen Dingen zugleich ein Notwendiges …“ (in: Al-Biruni, In den Gärten der Wissenschaft, S. 52). 112 Ibid., IX. Abhandlung, 7. Kap., S. 613: „Ebenso wie die Bewegung derjenige Zustand ist, der in der himmlischen Welt die geringste Seinsfülle besitzt, ebenso ist die Materie dasjenige Wesen, das in der unteren Welt die geringste Wirklichkeit in sich schließt.“

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der Welt in eine enge Wechselbeziehung. Auch die menschlichen Willensakte und Entscheidungen sind davon betroffen113. „Notwendigkeit“ und „Zufall“ bzw. „Kontingenz“ können sogar nach Ibn Sina im Naturgeschehen als zwei unterschiedliche Aspekte ein und desselben Geschehens begriffen werden, je nachdem, ob eine eingeschränkte Perspektive (wie beim „Zufall“) oder eine umfassende (wie bei der „Notwendigkeit“) auf dieses Geschehen gewählt wird, wie er in einer der naturphilosophischen Schriften aus dem „Buch der Heilung“ hervorhebt114. Für Ibn Sina gibt es in der Natur weder nur ein absolut notwendiges Geschehen, noch auch ausschließlich den Zufall. Unter „Zufall“ versteht er ein kontingentes Geschehen, das mit der gleichen Wahrscheinlichkeit, mit der es eintreten kann, auch nicht eintreten kann. Es kommt durch ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren zu gleicher Zeit zustande115. Hervorzuheben ist sein Gedanke, daß der „Zufall“ im genannten Sinn als Kontingenz verstanden werden kann und daß eine kontingente Folge von einem faktischen und einem möglichen, aber nicht notwendigen Geschehen keinen ursachelosen Zusammenhang darstellt, sondern die Einheit von Kontingenz und einer „zufälligen Ursächlichkeit“ repräsentiert. Für diese dialektische These von der Einheit von Kausalität und Kontingenz in bestimmten Geschehenszusammenhängen nennt Ibn Sina als Beispiele die unerwartete Begegnung eines Schuldners durch seinen Gläubiger auf einem Markt und die Verletzung des Kopfes eines Menschen durch einen gerade herabfallenden Stein116. Neben dieser konsekutiven Kontingenz, welche auf eine akzidentielle Weise für Ibn Sina auch kausal bedingt ist, kennt er auch den „Zufall“ als eine simultane Kontingenz, in welcher zwei voneinander nicht kausal abhängige mögliche Ereignisse zu gleicher Zeit 113

Ibid., VI. Abhandlung, 5. Kap., S. 424: „In der göttlichen Vorsehung, die ein selbstloses Geben bedeutet, ist es notwendig, daß jedes der Möglichkeit nach Existierende und Gute die Existenz erhalte, die für das Ding ein Gut bedeutet, und ferner gehört es ebenso in den Bereich der Vorsehung, daß durch sie die Existenz der zusammengesetzten und aus Elementen bestehenden Körper erfolgt“; ibid., X. Abhandlung, 1. Kap., S. 661; vgl. Avicenna latinus. Liber tertius naturalium: De generatione et corruptione, ed. S. van Riet, cap. 15, S. 147: „Et omnes istae terrenae dispositiones dependent ex motibus caelestibus, usque ad electiones rerum et ad voluntates; quia ista sine dubio sunt res quae renovantur postquam non fuerint; et omnis nova res quae nondum erat habet causam innovantem, et attingit istud usque ad motum circularium motuum; et iam expedivimus nos de declaratione istius. Nostrae autem electiones ita bene consequntur motus caelestes; et motus et quietes terreni qui proveniunt alii post alios regulariter et obviant sibi sunt excitantes et inchoantes voluntatem ut operetur, et istud est fortuna quam inducit necessitas, quia necessitas est actio divina perpetua eius exaltati super omnia a quo infunduntur necessitates.“ 114 Vgl. Avicenna latinus. Liber primus naturalium: Tractatus primus de causis et principiis naturalium, ed. S. van Riet, p. 112: „Et declarabimus iudicium huius sententiae paucis verbis, hoc est, quia una et eadem res aliquando ex uno respectu est saepe, sed necessaria, et alio respectu est utrumlibet, sed raro; quando perfecte considerata fuerit et assignatae fuerint omnes eius dispositiones, fiet necessaria …“. 115 Ibid., cap. 13, p. 118: „Res autem casuales adveniunt ex concursu duarum rerum aut plurium.“ 116 Ibid., cap. 13, p. 117.

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vorkommen können, aber nicht müssen. Dafür nennt er als Beispiel den Fall, daß sich etwas Bestimmtes während einer Mondfinsternis ereignet, ohne daß die Mondfinsternis dafür als Ursache in Frage kommt117. Zufälle können demzufolge als rationale, natürliche Erklärungsgründe für bestimmte simultane oder konsekutive Ereignisse im Sinne von nicht-notwendigen Geschehniszusammenhängen, welche mit gleicher Wahrscheinlichkeit sowohl eintreten als auch nicht eintreten können, in die philosophische Weltbetrachtung integriert werden, ohne sie entweder zu universellen Ursachen oder aber zu bloßen Scheinphänomenen zu bestimmen. In diesem oder einem analogen Sinn übernahmen einige lateinische Scholastiker später Ibn Sinas dialektische Überlegungen118. Der im 15. Jahrhundert lebende Erfurter Aristoteleskommentator Johannes Rucherat von Wesel bemerkt in seinem Kommentar zu Aristoteles’ „Physik“ sogar, daß die Auffassung des Avicenna (Ibn Sina) in dieser Frage allgemein anerkannt sei, hingegen diejenige seines Kritikers Ibn Ruschd (Averroës) nicht119. Insgesamt ist aber zu unterstreichen, daß Ibn Sina keine autonome Naturdialektik unabhängig von metaphysischen und theologischen Reflexionen gelten lassen kann. Immer wieder verweist er in seinen naturphilosophischen Betrachtungen des „Buchs der Heilung“ auf entsprechende Klarstellungen und Erläuterungen in dem metaphysischen Teil. Die dialektische Modalmetaphysik umspannt bei Ibn Sina einen Gesamtkomplex aus göttlichem Ursprung, kosmologischem Emanationsvorgang, Naturbetrachtung und Menschenwelt. Im Naturgeschehen beispielsweise ergeben sich für Ibn Sina alle Erscheinungen regulär aus einem Zusammenspiel von natürlicher Disposition und prägender Kraft des sogenannten „Formgebers“, also des untersten der in der Emanation entstehenden „Intellekte“, wie er unterstreicht. Darin ist auch die Möglichkeit der defizienten Wirkung eingeschlossen120. Eine Einheit der differenten Seinsmodi findet für Ibn Sina nur im Geiste Gottes statt, insofern die Gedanken Gottes die Totalität von Welt als Gesamtheit 117

Ibid., cap. 13, p. 114. Vgl. Johannes Buridanus, Quaestiones super octo Physicorum libros Aristotelis, lib. II, qu. 11, fol. 38 r.; Gualterus Burlaeus, In Physicam Aristotelis expositio et questiones, lib. II, fol. 49 vb.–50 rb.; Benedictus Hesse, Quaestiones super octo libros Physicorum Aristotelis, ed. S. Wielgus, lib. II, qu. 31, S. 262–264; Johannes Rucherat de Wesalia, Quaestiones de libris Physicorum Aristotelis, in: Ms. Erfurt, Amploniana, Q. 307, lib. II, qu. 12, fol. 81r. 119 Johannes Rucherat de Wesalia, Quaestiones de libris Physicorum Aristotelis, lib. II, qu. 12, fol. 81 r: „Sciendum quod contraria opinantur Commentator et Avicenna circa materiam questionis [scil. ‚Utrum fortuna et casus fiant in contingentibus ad utrumlibet?‘]. Unde Avicenna, cuius opinio communiter tenetur, diffinit …“; ibid., fol. 81r.: „Respondetur ad questionem secundum opinionem Avicenne quod respectu effectuum contingencium ad utrumlibet habent fieri casus et fortuna tamquam cause agentes contingentes ad utrumlibet.“ 120 Vgl. Avicenna latinus. Liber quartus naturalium. De actionibus et passionibus primarum qualitatum, ed. S. van Riet, Pars secunda, cap. I, p. 79: „Ratio autem in omnibus istis est una, et est quod corpus compositum disponitur per sui complexionem ad recipiendum positionem vel formam vel potentiam propriam quae influitur ei a datore formarum et virtutum absque alio, et eius influentia est per sui largitatem, et ‹quod› non impeditur per eum dum non deficit dispositum cui pertinet receptio.“ 118

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aus dem aktual Existenten und den noch nicht realisierten Möglichkeiten umfassen121. Dieser idealistische Grundtenor muß beachtet werden. Nimmt man das Kontingente, d.h. dasjenige, das sowohl möglicherweise existieren als auch nicht existieren kann, in der Isolation von einer aktualisierenden Ursache, welche die Indifferenz zwischen den alternativen Möglichkeiten zugunsten einer Dominante aufhebt, so verbleibt es in einem konträren Gegensatz zur aktualen Existenz122. Insofern impliziert der Seinsmodus „Möglichkeit“ bzw. „Kontingenz“ gegenüber der „Aktualität“ immer einen Mangelzustand, also ein Moment der Negativität123. Von einer Potenz-Akt-Dialektik, welche die Einheit von Potenz und Akt bzw. von Kontingenz und bedingter Notwendigkeit zugrundelegt, läßt sich bei Ibn Sina – wie gezeigt – nur im Vollzug des göttlichen Denkens und der von Gott ausgehenden Emanation oder der von ihm indirekt mitdeterminierten Naturvorgänge des Entstehens und Vergehens sprechen. Ibn Sina grenzt aber seinen Begriff des „Möglichen“ nicht nur von der aktualen Existenz und dem aus sich Notwendigen ab, sondern auch von dem absoluten „Nicht-Sein“124. Dadurch wird er zu einer zwar defizienten, aber zugleich auch positiven Seinsmodalität mit fundamentaler Bedeutung für das gesamte Weltverständnis.

Ibn Gabirols „Lebensquelle“ als dialektische Welterklärung Der jüdische Philosoph Salomon Ibn Gabirol (ca. 1020–1058) verfaßte um die Mitte des 11. Jahrhunderts in Spanien die dialogische Schrift „Die Lebensquelle“ in arabischer Sprache. Als philosophischer Text erzielte das Werk allerdings nicht unter den Arabern oder den Juden, sondern unter den philosophisch gebildeten christlichen Denkern des Mittelalters seine größte Wirkung. Dafür waren sowohl sein origineller Inhalt als auch der Umstand entscheidend, daß es im 12. Jahrhundert unter dem Titel „Fons vitae“ und dem Autorennamen „Avencebrol“ in das Lateinische übersetzt und bis zu G. Bruno intensiv rezipiert wurde. Trotz eines Auszugs in hebräischer Sprache aus dem 13. Jahrhundert haben die mittelalterlichen jüdischen Philosophen sich kaum auf die Schrift bezogen. 121

Avicenna, Das Buch der Genesung der Seele. Die Metaphysik, VIII. Abhandlung, 7. Kap., S, 532: „Daher ist die Welt der göttlichen Gewalten so, daß sie alles real Existierende und auch das nur Mögliche umfaßt. Daher hat das Wesen Gottes eine Beziehung zu den Dingen, insofern sie begrifflich erfaßt sind, nicht insofern ihnen reale Existenz in den Individuen zukommt.“ 122 Ibid., IX. Abhandlung, 1. Kap., S. 549: „… denn dasjenige, was in der Möglichkeit ist, zu existieren oder nicht zu existieren, wird nur dann aktuell und gelangt als Wirkung zur Vorherrschaft (zum Übergewichte), wenn eine Ursache auftritt.“ 123 Ibid., IV. Abhandlung, 2. Kap., S. 273: „Sodann ist die Aktualität früher als die Potenz in bezug auf die Vollkommenheit und das letzte Ziel. Denn die Potenz enthält einen Mangel.“ 124 Ibid., IV. Abhandlung, 2. Kap., S. 270: „Der Begriff der Möglichkeit kann nun aber keinesfalls ein Nichtseiendes sein, sonst würde dem Möglichen die Möglichkeit der Existenz nicht vorausgehen. Daher muß derselbe etwas Reales sein …“

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Die besondere Qualität der Schrift liegt in ihrem theoretischen Gehalt begründet. Im einzelnen gehören dazu die Lehrstücke über eine „Erste Wesenheit“, den Aufbau der Welt aus Materie-Form-Komplexen und über einen „Willen“ göttlicher Provenienz. Die Form des Dialogs zwischen einem Lehrer und einem Schüler und die angewandte Methode des Fragens und Antwortens haben zunächst nur stilistische und didaktische Bedeutung und nichts mit einem echten Streitgespräch zu tun. Allerdings wird der Leser des Dialogs durch die Figur des „Lehrers“ als des spiritus rector des Gesprächs mit seinem „Schüler“ bereits zu Beginn auf die Bedeutung der „dialektischen Kunst“ („ars dialectica“) hingewiesen: denn sie sei es, welche mittels Untersuchung und argumentativer Problemlösung nach bestimmten Regeln schließlich Gewißheit über Dinge verschaffe, welche sowohl in die Wissenskompetenz des Menschen gehören als auch nicht von vornherein evident wißbar sind125. Daneben und im Zusammenhang mit dieser Problemorientierung steht als leitendes Motiv des gesamten Dialogs der sukzessive Aufstieg des nach Wissen Strebenden zum Urgrund alles Seins vermittels differenzierender Selbst- und Welterkenntnis. Dieses Motiv gehört zur neuplatonischen Traditionslinie des dialektischen Vorgehens. So bestimmte Plotin das Wesen von Dialektik als einer philosophischen Kunst gerade aus der genannten Art der „Emporführung“ (grch. „anagoge“)126. Es wird nun von Ibn Gabirol für seinen Versuch einer umfassenden Welterklärung eingesetzt. Dazu gilt es, diskursiv die Hauptthese zu explizieren, daß insgesamt und im einzelnen die drei konstitutiven Seinsprinzipien, d.h. die „Erste Wesenheit“, die Stoff-Form-Komplexe und der „Wille“, welcher zwischen beidem vermittelt, untereinander in Beziehung stehen bzw. treten127. Im Verlauf des Dialogs mit seinen verzweigten Gedankenführungen werden die dabei auftretenden theoretischen Probleme mittels einer Dialektik der Vermittlung zwischen gegensätzlichen Reflexionsbestimmungen diskutiert und aufgelöst. Es geht um die Reflexionsbestimmungen Schöpfer und Geschaffenes, Sichtbares und Unsichtbares, Körperliches und Geistiges, Einheit und Vielheit, Identität und Differenz, Sein und Werden, Stoff und Form, Möglichkeit und Wirklichkeit (bzw. „Notwendigkeit“), Substanz und Akzidens, Aktion und Reaktion, Ruhe und Bewegung usw. Diese und weitere Gegensatzpaare werden in ihrer wechselseitigen Bedingtheit, Vermittelbarkeit und Durchdringung aufgezeigt. Eine solche Vermittlungsdialektik wird von Ibn Gabirol allerdings in eine Metaphysik eines überweltlichen „Ur-Einen“ als des transzendenten Ursprungs und Ziels von allem eingefügt. Zu seiner Metaphysik zählen auch die Hypostasen-, Form-, Emanations- und Lichttheorie. Dieser unverkennbar neuplatonische theoretische Rahmen schließt auch die aristotelische Substanzenontologie ein. Doch nicht allein in der Nutzung traditioneller Theoriebestandteile, sondern auch und gerade in dem Versuch einer umfassenden 125

Avencebrolis (Ibn Gabirol) Fons vitae, ed. C. Baeumker, I. 1, p. 3: „… quae vero per se nota non fuerint, fiet cognitio eorum mediante probatione, et secundum diligentiam observandi regulas probationis, id est regulas dialecticae artis, perficietur certitudo inquisitionis.“ 126 Plotin, Enneaden, I.3 [20], in: Plotins Schriften, Bd. Ia, übers. v. R. Harder, S. 350–359. 127 Avencebrolis Fons vitae, I. 7, p. 5–6.

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dialektischen Welterklärung auf der Basis einer philosophischen Vermittlungsdialektik ohne Berücksichtigung theologischer Lehren liegt der historische und systematische Wert von Ibn Gabirols Dialogschrift innerhalb der mittelalterlichen Philosophie. Von den 5 Traktaten, aus denen sich Ibn Gabirols Werk zusammensetzt, kommt dem mittleren, dritten Traktat ein zentrale Funktion zu. Denn dieser expliziert durch eine umfangreiche Lehre von den „einfachen“ bzw. „mittleren Substanzen“ das angedeutete Konzept einer universellen Vermittelbarkeit der Gegensätze im Rahmen einer rational begreifbaren Weltordnung. In einer Reihe von Argumentationen begründen „Lehrer“ und „Schüler“ die Notwendigkeit des Daseins der „mittleren Substanzen“. Diese Substanzen vermitteln zwischen der undifferenzierten Einheit des „ersten Schöpfers“ und der „Substanz, welche die neun Kategorien trägt“ als der ontischen Sphäre der „größten Vielheit“. Sie stehen zwischen diesen beiden zunächst unvereinbar erscheinenden Extremen und vereinigen in sich auf jeweils konkrete Weise beide gegensätzlichen Ordnungsmomente128. In die dafür eingebrachte Argumentation geht als Prämisse der Grundsatz ein, daß „alles Getrennte ein Mittleres besitzt“129 oder daß „zwei Gegenteile immer ein Mittleres besitzen, was jedem von beiden ähnlich ist“130. Unter diesem Aspekt können die „mittleren Substanzen“ in sich auch als bifunktionale Einheiten aus „Schöpfer“ und „Geschaffenem“ angesehen werden131. Ein so verstandenes „Mittleres“ hebt aber die Trennung zwischen den beiden Extremen nicht zu einer undifferenzierten Einheit auf, sondern es „berührt“ beide getrennten Gegenteile, wie z.B. die „Substanz der Seele“ als ein Mittleres zwischen der „Substanz der Intelligenz“ und der „Substanz, welche die neun Kategorien trägt“ beide Gegenteile „berührt“132. Insofern impliziert das Postulat einer „mittleren Substanz“ den Gedanken, daß es etwas gibt, welches kontingent seine beiden Gegenteile ist und auch nicht ist. Nicht allein in statischer, sondern auch in dynamischer Hinsicht kommt den „mittleren Substanzen“ in Ibn Gabirols Welterklärung eine zentrale Bedeutung zu. Denn die den Menschen umgebende Welt ist durch einen prozessualen Übergang von einem Möglichkeits- in einen Wirklichkeitszustand geprägt; zwischen diesen beiden Zuständen vermittelt ein „Mittleres“, d.h. ein Wirkliches, was das nur erst Mögliche in das Wirkliche transformiert. Und dieses Wirkliche kann nicht mit Gott als dem Schöpfer und Ursprung, der jenseits der Differenz von „Möglichkeit“ und „Wirklichkeit“ besteht, identisch sein133. Die Rolle des „Transformators“ von dem Möglichkeits- in den Wirklichkeitszustand schreibt Ibn Gabirol dementsprechend den „mittleren Substanzen“ zu. Dadurch erklärt er alle Bewegungsvorgänge in der den Menschen umgebenden Welt de facto als abhängige funktionale Einheiten aus „Wirken“ und „Leiden“ bzw. aus „Poten128

Ibid., III. 2.(3) et (8), p. 76, 77. Ibid., III.2. (1), p. 75: „et omnia distantia medium habent“. 130 Ibid., III.3. (17), p. 79: „Omnia duo opposita medium habent, quod est simile utrique.“ 131 Vgl. ibid., III.3. (17), p. 79. 132 Vgl. ibid., III.3. (21), p. 81. 133 Vgl. ibid., III.4. (26), p. 83. 129

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tialität“ („Möglichkeit“) und „Aktualität“ („Wirklichkeit“)134. Grundsätzlich gibt es für ihn zwischen dem unbewegten Schöpfer der Welt und der wesensmäßig passiv bewegten Substanz der den Menschen umgebenden Welt ein Mittleres mit der Doppelbestimmung aus aktiv Bewegendem und passiv Bewegtem, d.h. also mit einer funktionalen Vereinigung jener kosmologischen Gegensätze135. Andererseits bilden die Sphäre der „Potentialität“ („Möglichkeit“) bzw. der „Substanz, die die Kategorien trägt“ und die Sphäre der „mittleren Substanzen“ mit einem permanenten Status von „Aktualität“ („Wirklichkeit“) bzw. „Notwendigkeit“ keine miteinander unvereinbaren Seinsgattungen, sondern sind gattungsmäßig eine Einheit: dadurch sind sie ineinander wandelbar, „also gehört die Möglichkeit demselben Genus wie die Notwendigkeit an“136. So wird der Gedanke der Einheit und der Differenz der Gegensätze in die dynamische Erklärung der Weltordnung eingebracht. Die Rolle der dynamischen Mittler zwischen dem schöpferischen Ursprung der Welt und der hiesigen komplexen, wandelbaren Welt fällt in Ibn Gabirols Weltkonzept immateriellen „einfachen Substanzen“ zu, d.h. der „Seele“ und der „Intelligenz“. Dies ist darin begründet, daß diese Substanzen „sich selbst und ihre Kräfte und Formen übertragen“ bzw. „Kräfte“ und „Lichter“ übertragen137. Dadurch und darin sollen sie sich von den „körperlichen Substanzen“ unterscheiden. Ferner läßt Ibn Gabirol die gesamte Welt von der „universellen Seele“ und der „universalen Intelligenz“ auf Grund ihrer „Kraft“ und ihres „Lichts“ durchdrungen sein. In Analogie dazu postuliert er auch eine Allgegenwart der „Kraft des geheiligten Gottes“138. Daraus erschließt sich die Leitidee, daß die Welt eine Einheit bilden soll auf Grund ihrer durch „Kraft“ und „Licht“ vermittelten Vielheit. Eine nähere Begründung erfährt diese Vorstellung durch das Konzept des „Herausfließens“ von „Wesenheit, Kraft und Licht“ aus den geistigen Substanzen als ein aktiver Prozeß der Selbstmitteilung139. Zugleich wird damit auch ein Vorgang eines „Durchdringens in eine entgegengesetzte aufnahmebereite Sache“ bzw. ein Reagieren und Wechselwirken mit dem durchdrungenen aufnahmebereiten Gegenstand in Verbindung gebracht140. Dieser Argumentationsgang zum Nachweis der dynamischen Vermittlungsfunktion der „einfachen Substanzen“ in der Weltordnung verknüpft das neuplato134

Vgl. ibid., III.10 (56), p. 100–102. Vgl. ibid., III.7 (39), p. 92–93. 136 Ibid., III.10 (56), p. 101: „ergo possibilitas eiusdem generis est cum necessitate.“ 137 Vgl. ibid., III.15, p. 109–111. 138 Vgl. ibid., III.15, p. 111. 139 Ibid., III.15, p. 110: „… quanto magis necessarium est secundum hanc considerationem ut substantia spiritualis quae immunis est a quantitate, sit effluens suam essentiam et virtutem et lumen suum.“ 140 Ibid., III.15, p. 111: „… et cogitaveris penetrabilitatem eius in rem contrapositam quae parata est recipere eam“; ibid., III.18 (17), p. 120: „et omne a quo fluit forma eius, ipsa forma reverberatur ab opposito quod est receptibile illius. ergo forma spiritualis substantiae reverberatur ab opposito quod est receptibile illius.“ 135

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nische Emanationsdmodell mit einer spekulativen Subjekt-Objekt-Dialektik. Im Resultat dieses „Ausfließens“, „Durchdringens“ und „Reflektierens“ kommt es nach dem Willen des Autors zu einer dialektischen Formensynthese zwischen den aktiven „fließenden einfachen Substanzen“ und den „zusammengesetzten Substanzen“: es entstehen in den „zusammengesetzten Substanzen“ aus ihrer eigenen ursprünglichen Wesensform und der Wesensform der „einfachen Substanzen“ auf synthetischem Weg zuvor nicht existente „Gestalten, Kräfte und Bewegungen“141. Sowohl am Anfang wie am Ende dieser spekulativen Erklärung der Genesis einer dynamischen Welt der „zusammengesetzten Substanzen“ steht ausdrücklich der Leitsatz von der positiven Verbindung gegensätzlicher Formen zu einer neuen synthetischen Einheit142. Ebenfalls wird ausdrücklich hervorgehoben, daß das Produkt der dialektischen Formsynthese (d.h. „die in der zusammengesetzten Substanz rezipierte Form“) jenseits der ausschließenden Alternative von Körperlichem und Geistigem situiert ist, da sie beide Komponenten in sich bifunktional vereinigt143. Daraus läßt sich als theoretischer Gehalt eine bewußte Dialektik von Sein und Werden, von Einheit und Vielheit sowie von Wandelbarkeit und Beständigkeit gewinnen. In deren Konsequenz und unausgesprochener Voraussetzung steht die These von der Kompatibilität, Relativität und synthetischen Vereinbarkeit entgegengesetzter Reflexionsbestimmungen. Auch das Bild von Substanzen, welche aus Substanzen „fließen“, fügt sich in diese dialektische Argumentation: der „Fluß“ ist hier ein Symbol für die Einheit aus Kontinuität und Diskontinuität bzw. aus Wandel und Beständigkeit, welche die vertikal geordnete Substanzenwelt als ein differenziertes und koordiniertes Ganzes verstehbar macht. Der traditionelle Substanz-Begriff des in sich ruhenden und durch sich selbst Seienden wird unter Verwendung dieses Symbols mit dem Aspekt eines raum- und zeitlosen Werdens synthetisiert und modifiziert. Ebenfalls wird der in der traditionellen Substanzenontologie als unüberbrückbar erscheinende Gegensatz zwischen „Substanz“ und „Akzidens“ im Rahmen dieser Fluß-Theorie in Gestalt der Lehre von der „herausgeflossenen Substanz“ als einer Einheit aus Substanz und Akzidens modifiziert. Eine „fließende Substanz“ repräsentiert auf ihre Weise wiederum eine spezifische Einheit aus wesenhaftem So-Sein und dynamischem Anders-Sein-Können144. Neben den genannten Bestandteilen dieser Welterklärung aus dem 3. Traktat der „Lebensquelle“ ist auch Ibn Gabirols Lehre von der durchgängigen korrelativen Einheit von Materie und Form als der „Wurzel von allem“ eine Dominante seines philosophischen Konzepts einer einheitlichen und differenzierten Welt145. Beide Komponenten (Materie und Form im Verbund) bilden aufeinander irreduzible Gegensätze, welche auf 141

Vgl. ibid., III.20 (27), p. 127–128. Ibid., III.20 (27), p. 126: „Omnia opposita, cum coniunguntur, fiunt unum aliquid“; ibid., p. 128: „Omnia duo unita, fit ex coniunctione eorum forma aliud a forma uniuscuiusque eorum.“ 143 Vgl. ibid., III.34, p. 158. 144 Vgl. ibid., III. 52–54, p. 195–200. 145 Ibid., IV.11, p. 237: „… et materia et forma sunt radix omnium.“ 142

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Grund ihrer Funktion als „Träger“ und „Getragenes“ gleichzeitig eine funktionale Einheit bilden146. Vom „Sein“, so Ibn Gabirol, könne ausschließlich in bezug auf die Verbindung von Materie und Form gesprochen werden, nicht aber unter Ausschluß einer der beiden Komponenten147. Aus der Vereinigung beider entsteht etwas Drittes und Neues, d.h. eine „Natur, die vorher so nicht in einer der beiden Komponenten existierte“148. Die Vereinigung beider Komponenten geschehe nicht durch ein vermittelndes Drittes, sondern durch eine sogenannte „Einprägung von Einheit“ von oben in sie hinein149. Ibn Gabirol läßt es allerdings mit dieser metaphysischen „Einprägung“ nicht bewenden. Er fügt den komplementären Gedanken eines universellen immanenten Strebens aller Gegensätzlichkeiten zu ihrer Verbindung, Übereinstimmung oder Vereinigung untereinander hinzu. Er unterscheidet bezüglich der „Einheit“ zwischen den polaren gegensätzlichen Typen der „Einung“ („unitio“) im Bereich des „Höchsten“ und der „Vermischung“ („commixtio“) als der im Niederen der Körperwelt gegebenen Form von „Einheit“150. Mit den Begriffen „Sehnsucht“, „Liebe“ und „Verlangen“ beschreibt er die gerade der Materie eigene aktive Funktion bei der Konstituierung einer in sich geordneten Welt151. Doch nicht der Körpersubstanz als solcher schreibt er ein autonomes Streben zu, sondern läßt nur eine von den „geistigen Substanzen“ dieser Substanz „eingegossene“ Bewegungspotenz gelten und macht auf diese Weise seine spiritualistische Position aufs neue deutlich152. Trotz der gelegentlich durchscheinenden metaphysischen Präsuppositionen bringt auch die Lehre von den Stoff-Form-Komplexen als den konstitutiven Einheiten für den gesamten Weltaufbau Ibn Gabirols dialektische Intention zum Ausdruck. Hier wird vor allem das Prinzip der Korrelativität aller Gegensatzbestimmungen bis hin zu dem Postulat einer synthetischen Einheit der Gegensätze ausgeführt. Eine der Voraussetzungen für eine solche Intention formuliert Ibn Gabirols „Lehrer“ an einer Stelle des Dialogs: „die Dinge sind weder völlig voneinander getrennt noch stimmen sie völlig überein.“153 Positiv gewendet, heißt dieser Grundsatz, die Welt als ein in sich differenziertes Ganzes zu verstehen. Keiner der für die Weltordnung konstitutiven Gegensätze darf zu einem kosmologischen oder ontologischen Dualismus hypostasiert werden. Keine in der Welt bestehende Einheit oder Vereinigung darf bis zur Aufhebung aller Differenz zugespitzt werden. Dieser Weltauffassung ist als weiterer dialektischer Grundgedanke die Idee der 146

Vgl. ibid., V.2, p. 260. Ibid., V.8, p. 270: „… et omnino debes scire quod esse non sit nisi ex coniunctione materiae et formae, et proprietas esse non convenit materiae per se, sed materiae et formae simul.“ 148 Ibid., V.9, p. 273: „… ex coniunctione materiae et formae fit natura alia composita ex illis, quae prius non erat in aliqua illarum per se …“. 149 Vgl. ibid., V.31, p. 315. 150 Vgl. ibid., V.35, p. 321. 151 Vgl. ibid., V.32–33, p. 316–319. 152 Vgl. ibid., V.36, p. 323–324. 153 Ibid., V.12, p. 279: „… res non sunt omnino diversae nec sunt omino convenientes.“ 147

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Transzendenz und Immanenz Gottes gegenüber der Welt übergeordnet; und mit ihm wiederum steht der Gedanke der Vermittlungsfunktion eines von Gott auf die Substanzenwelt ausfließenden „Willens“ in enger Verbindung. Alles zusammengenommen, ist Ibn Gabirols „Lebensquelle“ ein wichtiges Zeugnis einer neuplatonisch fundierten, nichtsdestoweniger eigenständigen dialektischen Welterklärung in der mittelalterlichen Philosophie.

Das dialektische Denken im Übergangsfeld von Philosophie und Theologie in der Frühscholastik Im 11. Jahrhundert trugen die „Dialektiker“ und „Antidialektiker“ an den christlichen Kloster- und Kathedralschulen einen Streit um die Berechtigung und die Grenzen der Anwendung logisch-rationaler Reflexion auf Fragen der Glaubensbegründung aus. Unter „Dialektik“ wurde hierbei eine Denkweise verstanden, die die Ausübung des Verstandes mittels logischer Argumentation leiten und das Wahre von dem Falschen unterscheiden lehren sollte. Inhaltlich ging es um eine „Dialektik“, welche das damals bekannte System der aristotelisch-boëthianischen Logik, Kategorienlehre und Ontologie umfaßte. Aber auch die spezielle Bedeutung von „Dialektik“ als Argumentations- und Disputationsmethode war bekannt. De facto ging es in dem Streit zwischen „Dialektikern“ und „Antidialektikern“ um eine argumentative Problemlösungsmethodik im Rahmen einer angewandten aristotelisch-boëthianischen Logik, deren prinzipielle Bedeutung und Berechtigung als Kern wissenschaftlich-philosophischer Bildung, allgemein gesehen, zwar unstrittig war, im speziellen Fall einzelner Glaubensartikel (z.B. der Trinitätslehre oder Eucharistie-Lehre) aber kontrovers war. Diejenigen, welche sich positiv zu einer weitgehenden Anwendung der „Dialektik“ auf Fragen der Glaubensauslegung und deren Lösung äußerten (die „Dialektiker“), mußten bei der Gegenseite (den „Antidialektikern“) mit heftigen Polemiken rechnen, die auf eine von logischen Einwendungen und Zweifeln unbeeindruckte Treue zum Dogma gerichtet waren. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts stand thematisch der Streit um die richtige Auslegung des Sakraments der Eucharistie (bzw. des Abendmahls) im Zentrum der Auseinandersetzung. Der Hauptvertreter der „Dialektiker“ war BERENGAR VON TOURS (ca. 1000–1088). Er hatte sich der Attacken Lanfranks (ca. 1010–1089) zu erwehren, eines ehemaligen Grammatik- und Logiklehrers, der mittlerweile zum wichtigen Fürsprecher einer strikten Dogmentreue und einer Abgrenzung von den kritischen „Dialektikern“ geworden war. In der Replik auf diese Attacken nun demonstrierte Berengar die Unverzichtbarkeit der „Dialektik“ gerade auch in zentralen Fragen des richtigen Verständnisses von Glaubenslehren. So heißt es in seiner Entgegegnung auf die gegen ihn als „Dialektiker“ gerichteten Vorwürfe Lanfranks: „Wenn ich, um die Wahrheit offenzulegen, dialektisch spreche, so bedeutet das nicht, daß ich zur Dialektik Zuflucht nehme – selbst wenn es so wäre, könnte ich damit zufrieden sein, denn selbst die Weisheit und Kraft Gottes verschmäht diese nicht – sondern, daß ich meine Gegner nach allen

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Regeln der Kunst widerlege. Es ist Zeichen eines großen Verstandes, in allem der Dialektik zu folgen, denn so etwas bedeutet der Vernunft zu folgen. Und wer sich nicht dorthin wendet, verläßt, da er gerade auf Grund seiner Vernunft zum Ebenbild Gottes geschaffen wurde, seine eigene Würde. So einer kann sich nicht von Tag zu Tag in der Ebenbildlichkeit Gottes erneuern“.154 Es geht in der „Dialektik“, wie sie Berengar versteht, also um eine vernunftgemäße Suche nach Wahrheit, die sich einer unbedingten Legitimität sicher ist. Eine spezielle Terminologie gehört selbstverständlich dazu. Den Weg zu diesem Ziel beschreitet Berengar methodisch durch die Widerlegung gegnerischer Auffassungen, indem er deren innerliche Widersprüchlichkeit und äußere Inadäquatheit zu den maßgeblichen biblischen und patristischen Quellen aufzeigt. Berengar will die Wahrheit seiner eigenen Auffassung von der Eucharistie, d.h. die logisch widerspruchsfreie Verstehbarkeit und die Adäquatheit zu den maßgeblichen Quellen der Tradition, nachweisen und sich so vor den gegen ihn gerichteten kirchenoffiziellen Angriffen schützen. Eine Analyse von Texten mittels einer logischen Begrifflichkeit, eine Kritik an für falsch gehaltenen Dogmen und die Apologie der eigenen für richtig gehaltenen Meinung sind die methodischen Instrumentarien dieses Vorgehens. Berengar grenzt sich prinzipiell von der ihm aufgezwungenen dogmatischen Auslegung ab, daß nach der Konsekration durch den Priester „Brot“ und „Wein“ auf dem Altar dasselbe seien wie „der Leib und das Blut von Christus“ bzw. eine substantielle stoffliche Verwandlung des einen in das andere stattfinde. Diese Auslegung hält er für in sich widersprüchlich und deshalb für unannehmbar155. Von einem strikten Gebot, unreflektiert etwas glauben zu sollen, ohne ein nachforschendes Verstehenkönnen einzuräumen, will Berengar im Gegensatz zu Lanfrank generell nichts wissen156. Die Dialektik von Gewißheit (als Glaube und Dogma) und reflektorischer Begründung (durch Sprachanalyse und immanente Kritik) stellt sich in Berengars Erwiderungsschrift in einem diskursiven Prozeß heraus, an dessen Ende die Kompatibilität beider ideeller Haltungen als erwiesen gelten soll. Die von ihm als methodisches Instrument eingesetzte „Dialektik“ fungiert dabei als eine Kunst der Analyse und Kritik von Aussage- und Begriffsinhalten. Er setzt der naturalistischen Interpretation der Einsetzungsformel des Abendmahls im Verlauf seiner ausführlichen Argumentationen eine alternative nichtnaturalistische Deutung entgegen. Hierzu bedient er sich der Grundsätze der aristote154

Beringerius Turonensis, Rescriptum contra Lanfrannum, ed. R. B. C. Huygens, I, 1788–1799, p. 85: „Verbis dialecticis ad manifestationem veritatis agere non erat ad dialecticam confugium facere, quamquam si confugium illud accipitur, non me peniteat ad dialecticam confugisse, a qua ipsam dei sapientiam et dei virtutem video minime abhorrere, sed suos inimicos arte revincere. ‹…› Maximi plane cordis est per omnia ad dialecticam confugere, quia confugere ad eam ad rationem est confugere, quo qui non confugit, cum secundum rationem sit factus ad imaginem dei, suum honorem reliquit nec potest renovari de die in diem ad imaginem dei.“ 155 Vgl. ibid., I 1433 sqq., p. 75 sqq. 156 Ibid., II 979–1008, p. 127–128: „Et primo illud non tacendum quod persuadere conaris, quod ad mensam dominicam pertineat posse utiliter credi, non posse utiliter inquiri. …“

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lisch-boëthianischen Logik und Ontologie sowie in großem Umfang patristischer Quellen als Voraussetzungen seiner Argumente. So fordert er wiederholt zur Beachtung der wechselseitigen Bedingtheit von Ding („Zugrundeliegendem“, lat. „subiectum“) und Eigenschaften („Akzidentien“) bzw. von Subjekt und Prädikat in einem Satz auf157. Ebenso verlangte er die Beachtung der semantischen Differenz zwischen dem „Werden“ bzw. „Entstehen von etwas“ im Sinne einer Beseitigung und Zerstörung von etwas Bestehendem bzw. der Erzeugung von etwas ganz Neuem einerseits und der „Wandlung“ von etwas durch Hinzufügung einer zusätzlichen Funktion bzw. Beschaffenheit ohne Zerstörung des Substrats bzw. der „Materie“ des bereits Bestehenden andererseits158. Ferner fordert er die Beachtung des Unterschieds zwischen individueller und gemeinschaftlicher Identität159. Neben diesen Reflexionen über die kategorialen Voraussetzungen eines adäquaten begrifflichen Gegenstandsbezugs findet sich auch ein Hinweis auf die Differenz zwischen unterschiedlichen Modi des sprachlichen Ausdrucks, d.h. der „eigentlichen Rede“ („propria locutio“) und der „bildhaften Rede“ („tropica locutio“)160. In ontologischer Hinsicht gilt ihm die Prämisse, daß zwischen einer unsichtbaren Gegenwärtigkeit von etwas und seiner sinnlich-wahrnehmbaren Gegenwärtigkeit zu unterscheiden sei161. Speziell der Absicherung seiner eigenen Deutung des Abendmahlssakraments als Ausdruck einer nicht sinnlich-gegenständlich wahrnehmbaren, sondern ausschließlich gedanklich-reflektiert erfaßbaren Gegenwärtigkeit eines göttlichen Gnadenerweises für den gläubigen Menschen unter Vermittlung einer Weihehandlung dient ihm die Unterscheidung zwischen „Sakrament“ („sacramentum“) und „im Sakrament ausgedrückter Sache“ („res sacramenti“)162. Ebenso differenziert Berengar zwischen Naturgegenständen („res“) und Sakramenten als heiligen Zeichen163. Nicht zuletzt übernimmt er die auf die Platonische Tradition zurückgehende Unterscheidung zwischen dem „inneren Menschen“ („homo interior“) und dem „äußeren Menschen“ („homo exterior“)164. Alle diese erwähnten Differenzierungen betreffen konstitutive Begriffe von Berengars eigener Deutung des Abendmahlssakraments. Sie zeigen, daß mit seinem Verständnis von „Dialektik“ auch ein angewandtes Verfahren der Begriffsdifferenzierung in kategorialen Ausdrücken aus der Sprachlogik, der Hermeneutik und der Ontologie gemeint ist. Diese begrifflichen Ausdrücke erhalten ihre jeweilige Bedeutung durch Referenz auf bestimmte Gegenstände und eine Differenz zu den jeweilig komplementären oder entgegengesetzten Ausdrücken und deren Referenten. Begriffliche Identifizie157

Vgl. ibid., I 1325–1329, p. 72; II 2108–2113, p. 158; II 2172–2174, p. 160. Vgl. ibid., I 1260–1285, p. 71; II 898–923, p. 125–126. 159 Vgl. ibid., I 1602–1612, p. 80. 160 Vgl. ibid., I 2169–2185, p. 96. 161 Vgl. ibid., I 76–79, p. 103; II 1663–1667, p. 146; II 2942–2945, p. 181; III 717–723, p. 209–210. 162 Vgl. ibid., II 2736–2740, p. 176; III 635, p. 207. 163 Vgl. ibid., III 714–715, p. 209. 164 Vgl. ibid., III 427–428, p. 201. 158

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rung und Differenzierung sind also komplementäre Momente eines ganzheitlichen Denkaktes. Eine solche Begriffsdifferenzierung ist aber kein Selbstzweck, sondern soll einzig einer adäquaten Erfassung von Problemen und deren logisch widerspruchsfreier Lösung dienen, um auf diese Weise die sachliche „Wahrheit“ des diskutierten Gegenstandes zu ermitteln. Die „Dialektik“ Berengars umfaßt also sowohl eine Analyse sprachlich-begrifflicher Komplexität als auch ein argumentatives Problemlösungsverfahren. Durch ein ausgesprochenes Verlangen nach Wahrheit erhebt sie einen verbindlichen Anspruch auf Anerkennung und Geltung kraft vernünftiger Verallgemeinerbarkeit. Somit geht sie weit über rein formal-logische Aspekte hinaus. Die Theologie und die Philosophie bilden in dieser „Dialektik“ noch ein begrifflich-methodisches Ganzes. Der Ertrag ihrer Anwendung in der Polemik mit dem „Antidialektiker“ Lanfrank ist ein doppelter: einmal der Nachweis des Nutzens von Kritik, Analyse und Interpretation von Texten und Dogmen bei der Suche nach einer wahrheitsgemäßen Begründung von Ansichten; zum anderen der Aufweis der Kompatibilität von religiös-theologischer Tradition und philosophischer Begriffssprache und Methodik. In dieser produktiven Doppelfunktion konnte sich die „Dialektik“ im 11. Jahrhundert als ein Kritik-, Argumentations-, Analyse- und Vermittlungsinstrument im Übergangsfeld zwischen theologischem und philosophischem Denken bewähren. Zwischen Dialektik, Analytik, Logik und Rhetorik machte Berengar noch keinen Unterschied, sondern integrierte sie in sein Konzept von „Dialektik“. Auf eine charakteristische Gemeinsamkeit dieser Arten reflektierenden Denkens und Redens kam es ihm entscheidend an: mittels Argumenten und allgemein akzeptablen Voraussetzungen zu widerspruchsfreien Problemlösungen zu gelangen. Zu den allgemein akzeptablen Voraussetzungen zählte er auch den Traditionsbestand an religiösen Texten aus der Bibel und der Patristik, nicht aber dogmatische Entscheidungen von einzelnen Personen oder Institutionen. Damit weist sein Verständnis von Dialektik nicht nur auf methodische Erwägungen zur Begründung und Widerlegung von Ansichten, sondern auch auf die Kritik an dogmatischen Erstarrungen in der Gemeinschaft der Gläubigen. Seine kritische Haltung richtete sich aber auch gegen eine naiv realistische Wirklichkeitsauffassung, welche unter „Wirklichkeit“ immer nur ein unmittelbar Gegebenes unter Umgehung des reflektierenden Denkens verstanden haben will165. Damit war anhand eines konkreten Themas in der frühmittelalterlichen Scholastik ein wichtiger Anstoß für die Nutzung des dialektischen Denkens erfolgt. Einer der bedeutendsten Fortsetzer und zugleich Innovatoren einer christlichen dialektischen Theologie in der historischen Nachfolge von Johannes Scottus Eriugena und Berengar von Tours war PETRUS ABAELARD (1079–1142). In den Jahrzehnten zwischen 1120 und 1140 trat er als ein teils gefeierter, teils aber auch heftigen Angriffen durch Traditionalisten ausgesetzter theologischer Lehrer und Autor von Schriften in Frankreich auf. Mit gründlichen Kenntnissen in der aristotelisch-boëthianischen Logik, der 165

Vgl. K. Flasch, Berengar von Tours: Rescriptum contra Lanfrancum. Die Vernunft und das Abendmahl, S. 121–124.

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Bibel, der Kirchenväterliteratur und der unterschiedlichen theologischen Lehrmeinungen seiner Zeit ausgestattet, versuchte er, die Grundzüge einer systematisch und argumentativ vorgehenden christlichen Theologie mit den Mitteln einer dialektischen Hermeneutik zu entwickeln. Deren methodisches Instrumentarium reichte vom antithetischen Disput und einer dialogisch vorgehenden Problementwicklung über den methodischen Zweifel gegenüber vorgefaßten Textdeutungen, über Begriffsdistinktionen, Sinnübertragungen, Analogiebildungen bis zu einem kontextuellen und historischen Sinnverstehen und schließlich zu einer „negativen Theologie“. Die Verteidigung der eigenen Glaubensüberzeugung durch logisch widerspruchsfreie Begründung der zentralen Glaubensaussagen war das erklärte Ziel von Abaelards unterschiedlichen theologischen Arbeiten. Dieses Ziel versuchte er durch die Entkräftung von offenen oder versteckten Angriffen auf die zentralen Glaubenslehren, durch die systematische Ausführung einer positiven rationalen Begründung auch mittels philosophischer Argumente und Begriffe bis hin zu einem als „höchste Philosophie“ bezeichneten Grenzwissen über die „Natur der Gottheit“ zu erreichen, welches aber nur ein bestimmtes Näherungswissen, jedoch keine letztgültige Wahrheitserkenntnis gewährleisten sollte. Dieses Vorgehen richtete Abaelard polemisch sowohl gegen Andersgläubige außerhalb der christlichen Religion, als auch gegen Glaubensabtrünnige oder -zweifler im Christentum selbst („Häretiker“), aber auch gegen dogmatische Traditionalisten unter den damaligen Theologen und schließlich gegen die als „Pseudo-Dialektiker“ bezeichnete Anhänger einer formalen Übertragung von Begriffen und Methoden der Logik auf die Theologie. Mit Augustinus optierte er für eine vernünftige Auslegung des geschriebenen oder gesprochenen Wortes gerade dann, wenn dessen Sinn dem „weltlichen Menschen“ verschlossen bleibt166. Er selbst setzte sich dabei und dadurch heftigen Attacken seiner Gegner aus. Eine besondere Qualität erhielt dieses Vorgehen nicht nur durch eine dialektische Hermeneutik in der christlichen Theologie unter Anwendung neuer Argumente und Begriffe, sondern auch dadurch, daß Abaelard dieses Vorgehen selbst mehrfach ausführlich begründete und verteidigte. Nebenbei wurde aus den entsprechenden Darlegungen auch die Doppeldeutigkeit des Terminus „Dialektik“ in seiner damaligen Verwendung offenkundig. Abaelard und auch andere Zeitgenossen gebrauchten diesen Terminus in einem engeren und in einem weiteren Sinn, ohne immer beide Bedeutungen voneinander deutlich zu trennen. In seiner eigenen intellektuellen Entwicklung hat Abaelard die beiden Bedeutungen mit allmählicher deutlicher Akzentverlagerung von der engeren zur weiteren Bedeutung einbezogen. Anhand seiner Schriften ist deutlich zu erkennen, daß er als Logiker in seiner ersten Entwicklungsphase unter „Dialektik“ zunächst im engeren Sinn vor allem eine Lehre und Methodik vom formal-korrekten Schließen im Rahmen der aristotelisch-boëthianischen Logik verstand167. Mit der deut166 167

Petrus Abaelardus, Theologia ‚Scholarium‘, ed. E. M. Buytaert, C. J. Mews, I, 27, p. 329–330. Vgl. P. Abaelardus, Dialectica, ed. L. M. De Rijk, tract. III, lib. I, p. 278: „Et bene a dialecticis verae inferentiae proprietas attenditur, quibus praecipue veritatis inquisitio relinquitur quorumque

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lichen Verlagerung seiner Interessen auf das Gebiet der Theologie in seiner zweiten intellektuellen Entwicklungsphase gebrauchte er den Terminus „Dialektik“ vorzugsweise im weiteren Sinn, d.h. in der Bedeutung eines inhaltlichen argumentativen Problemlösungsverfahrens mit der Zielstellung, anerkannte Wahrscheinlichkeitsaussagen zu gewinnen168. Und genau in dieser zweiten Bedeutung tritt „Dialektik“ mit dem erwähnten Instrumentarium in das Zentrum der Methodik von Abaelards theologischphilosophischem Schrifttum der zweiten Entwicklungsphase. Ein klares Zeugnis dieses weiter gefaßten Verständnisses von „Dialektik“ und der Begründung, eine so verstandene „Dialektik“ in der Theologie fruchtbar zu machen, liefert Abaelards „Lob der Dialektik“, das er dem argumentativen Teil seiner Schrift „Theologia ‚Summi Boni‘“ voranstellte169. Gleich zu Anfang beruft er sich auf entsprechende positive Äußerungen Augustinus’ über die „Dialektik“ als einer „Kunst der Künste“, d.h. als einer überragenden Lehr-, Lern- und Reflexionsform, und als „Kunst der Erörterung“ mit einer besonderen Kompetenz bei der Lösung von Problemen der Theologie170. Im weiteren Verlauf macht Abaelard klar, daß er sich von Streitsucht, Spitzfindigkeiten und arroganter Selbstsicherheit als mißbräuchlichen Formen des Umgangs mit der „Dialektik“ distanziert. Genauso aber verwahrt er sich gegen jede Form von Wissenschaftsfeindlichkeit, insbesondere Philosophiefeindlichkeit171. Es geht ihm in Gestalt der „Dialektik“ um die argumentierende menschliche Vernunft. Diese soll durch Differenzierungsvermögen, kritische Art der Fragestellung, zwingende Argumentation und Wahrscheinlichkeitserkenntnis dazu prädestiniert sein, eine widerspruchsfreie „höchste Philosophie“ über theologische Fragen anzustreben172. Dabei unterstreicht Abaelard die Begrenztheit des Erkenntniswerts der erreichten Resultate dieser „Dialektik“ auf dem Weg zur „höchsten Philosophie“, eine Begrenztheit, welche deren Argumente und Schlußfolgerungen sowohl außerhalb letztgültiger Erfassung der Sache selbst, als auch außerhalb völligen Unwissens stehen läßt. Denn Unwissenheit bzw. Schein-Wissen sieht er gerade durch einen unvorsichtigen Umgang mit der „Dialektik“ durch unkontrollierte Ausdehung ihres Geltungsanspruchs entstehen, wie es seines Erachtens viele damalige öffentliche Lehrer der „Dialektik“ praktizierten173. Sowohl das wissende Nicht-Wissen der „negativen exercitium in investigatione veri ac falsi consumitur, atque haec certis comprehendere regulis tota studii assiduitate laborat …“. 168 Vgl. P. v. Moos, Die angesehene Meinung. Studien zum endoxon im Mittelalter: Abaelard, S. 355– 380. 169 Petrus Abaelardus, Theologia ‚Summi Boni‘, ed. E. M. Buytaert, C. J. Mews, II, 5–26, p. 115–123. 170 Ibid., II, 5, p. 115–116. (vgl. auch P. Abaelardus, Theologia christiana, ed. E. M. Buytaert, II, 117, p. 184–185; ders. Theologia Scholarium, ed. E. M. Buytaert, C. J. Mews, II, 19, p. 414–415; vgl. Augustinus, De ordine libri duo, ed. W. M. Green, lib. II, 13.38, p. 128; ders., De doctrina christiana, ed. J. Martin, lib. II, cap. XXXI.48, p. 65–66.) 171 Petrus Abaelardus, Theologia ‚Summi Boni‘, II, 5–12, p. 115–118. 172 Ibid., II, 25–27, p. 122–123. 173 Ibid., II, 11–12, p. 118.

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Theologie“174 als auch das Näherungswissen einer mit Analogien operierenden philosophischen Argumentation sollen den besonderen epistemologischen Status dieser von Abaelard befürworteten „Dialektik“ konstituieren. Er beendet sein „Lob der Dialektik“ mit den folgenden Feststellungen: „Was auch immer wir im Kontext dieser höchsten Philosophie erörtern werden, so handelt es sich gewiß nicht um die Wahrheit, sondern um ein Schattenbild, im Sinne einer gewissen Analogie, die nicht die Sache selbst ist. Der Herr wird wissen, was das Wahre ist. Ich meine aber, daß es mir zukommt, das Wahrähnliche (‚verisimile‘) und vor allem das mit denjenigen philosophischen Argumenten in Einklang Stehende auszudrücken, mit welchen wir angegriffen werden.“175 Nicht unbedingt ein skeptischer Zweifel gegenüber den Erkenntnispotenzen des Menschen motiviert Abaelards dialektisches Vorgehen. Er beansprucht zwar nicht, die gesuchte Wahrheit lehren zu können, das hielt er für unmöglich. Insofern interessiert ihn „Wissenschaft“ im Sinne eines abgeschlossenen Lehrgebäudes in diesem Zusammenhang nicht. Aber ein systematisches Suchen nach der Wahrheit mittels „dialektischer Studien“ war ihm als ein Prozeß unverzichtbar. Dieses Streben aufgegeben zu haben und nur den Streit zu suchen, warf er seinen philosophischen Gegnern vor176. Nicht also ein Streit um Worte, sondern eine sachliche Problemdiskussion mit einem nur näherungsweise erreichbaren Ziel machte für ihn das Wesen von „Dialektik“ aus. Die Probleme, welche Abaelard mittels der so beschriebenen „Dialektik“ in seinen systematischen theologischen Schriften lösen will, betreffen die Grundfragen der christlichen Theologie, d.h. den trinitarischen Gottesbegriff, die Verhältnisse zwischen Gott und Schöpfung bzw. Gott und Welt, das Verhältnis zwischen göttlicher Providenz und Allmacht sowie irdischer Kontingenz und Freiheit des menschlichen Willensentscheids, den Gegensatz und/oder die Kompatibilität von religiösem Glauben und philosophischem Wissen bzw. von kanonischem Text und philosophischer Begriffssprache usw. Das dialektische Problemlösungsverfahren zielt auf eine Auflösung aller im ersten Zugriff antithetischen Auslegungen der diese Problemstellungen betreffenden Schriftzeugnisse. Insofern ist es ein hermeneutisches Widerspruchsauflösungsverfahren. In seinem Werk „Sic et Non“ gab Abaelard beispielhaft und ausführlich eine methodische Anleitung zu einem solchen Verfahren und nannte 158 Problemfragen der Theologie („quaestiones“) als möglichen Anwendungsbereich. Diese Problemfragen ergaben sich daraus, daß die überlieferten Texte der Bibel und der patristischen Literatur dazu einander widersprechende Feststellungen trafen. Aus dieser Situation soll „beständiges und häufiges Fragen“ („assidua seu frequens interrogatio“) nach dem Vorbild des Aristoteles und zielgerichtetes Untersuchen herausführen, mit dem Ziel, die Wahrheit herauszufinden, wie Abaelard in dem Prolog zu seiner Schrift erklärt177. Der dazu erforderliche 174

Ibid., II, 21–22, p. 121–122. Ibid., II, 27, p. 123 (vgl. ibid., III, 101, p. 201; ders., Theologia christiana, III, 57, p. 218, IV, 161, p. 346). 176 Ibid., III, 101, p. 201 (vgl. ders., Theologia christiana III, 15, p. 202; IV, 161, p. 346.) 177 P. Abaelard, Sic et Non, ed. B. Boyer/ R. McKeon, Prologus, p. 103. 175

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kritische Umgang mit den autoritativen Quellen soll sich nach bestimmten Konkordanzregeln richten, welche sowohl die Intentionen der Verfasser (d.h. der Kirchenväter), die Mehrdeutigkeit bzw. den kontextuellen Sinn der in den Texten vorgefundenen Ausdrücke, die pragmatischen Aspekte des Sprachgebrauchs, den Meinungswandel und die Irrtumsfähigkeit der Autoren, die historischen Hintergründe der Texte, den Verbindlichkeitsgrad der Aussagen als auch die Schwierigkeiten und Widersprüche der Textüberlieferung berücksichtigen178. So wird zueinander (scheinbar) Entgegengesetztes durch ein tertium comparationis miteinander vergleichbar gemacht. Aus dem Widersprechenden der Meinungen wird so ein durch Reflexion auf ein Drittes beziehbarer, vermittelter Gegensatz. Der Gegensatz zwischen den Meinungen erweist sich als relativ in Hinsicht auf das tertium comparationis und die Reflexionsleistung des interpretierenden Subjekts. Keinesfalls kann Abaelard eine unkritische Übernahme der vorliegenden Texte der Kirchenväter billigen. Denn er stellt prinzipiell fest: „Diese Gattung von Schriften soll man nicht unter der Verpflichtung, an sie zu glauben, sondern mit der Freiheit, sie zu beurteilen, lesen.“179. Damit soll einem kritischen Theologiestudium genutzt werden. Die dialektische Hermeneutik geleitet den aufmerksamen Studierenden von der bloßen Feststellung antithetischer Aussagen von Autoritäten über die Erklärung ihrer Hintergründe zu einem bestimmten positiven Endresultat. Dieses soll nach Abaelard entweder die völlige Beseitigung des anfangs festgestellten Widerspruchs zwischen den Autoritäten oder aber dessen Abschwächung mittels einer Hierarchisierung der differenten Autoritäten nach dem Kriterien der Stärke ihrer Bezeugung und dem Grad der Zustimmung zu ihnen bringen180. Abaelard gebraucht also die Dialektik in seiner theologischen Schrift „Sic et Non“ als eine heuristische Methode des Ausgleichs bzw. der Beseitigung von Interpretationswidersprüchen. Der kritische Impuls dieser Methode richtet sich weder gegen die Anerkennung von Autoritäten überhaupt, noch gegen die Wahrheitssuche, sondern prinzipiell gegen eine unkritische Autoritätsgläubigkeit gegenüber Schriftzeugnissen aus dem außerkanonischen Bereich. Abaelard legte auch in anderen theologischen Schriften großen Wert auf eine allgemeine Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit seiner Argumentationen. Von sophistischer Streiterei und spitzfindigen Analogiebildungen will er sich dabei fernhalten181. Vielmehr muß der genaue Kontext, der Bezugsgegenstand, der Geltungsbereich und die Einheit von Gleichheit und Ungleichheit zwischen Analogat und Analogon berücksichtigt werden, um sinnvolle positive Aussagen über die Natur Gottes mittels philosophischer und Alltagsterminologie zu erreichen, betont Abaelard182. Daraus wird auch verständlich, daß er mit den aufgelösten Widersprüchen in der Textinterpretation und den 178

Ibid., p. 89–103. Ibid., p. 101: „Quod genus litterarum non cum credendi necessitate sed cum iudicandi libertate legendum est.“ 180 Ibid., p. 96. 181 Petrus Abaelardus, Theologia ‚Summi boni‘, III, 34–37, p. 172–173. 182 Ibid., III, 71–72, p. 187–188. 179

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gefundenen Analogien oder Sinnübertragungen nicht schon einen Endpunkt der dialektischen Reflexion erreicht sieht, sondern ständig nach noch besseren Argumenten mit hoher Wahrscheinlichkeit und Akzeptanz sucht, um sich der „höchsten Philosophie“ als singulärer Wissensform über die „Natur Gottes“ weiter zu nähern. Zum Beispiel zeigt er, daß der aristotelische Begriff der „Substanz“ auf die „göttliche Substanz“ weder eindeutig anwendbar noch nicht anwendbar ist183. Die ganze Substanz-AkzidensOntologie der aristotelischen Philosophie wird von ihm darum wiederholt als inadäquat in bezug auf die göttliche Trinität bzw. die „göttliche Natur“ herausgestellt. Stattdessen hält er sich an eine Auffassung, welche die göttliche Natur bzw. Substanz als eine transzendente unveränderliche Einheit jenseits des aristotelischen Substanz-Begriffes versteht184. Den „Ungläubigen“ wirft er vor, einen freien Diskurs über Gottes Sein oder Nicht-Sein wider bessere eigene Einsicht zu verweigern und vorgefaßte Meinungen zu vertreten185. Anstelle der nur begrenzt gültigen aristotelischen Begrifflichkeit im Rahmen seines Theologieprojekts wandte sich Abaelard intensiv der „platonischen Schule“ („platonica secta“) zu, welche er als die alle anderen Richtungen überragende philosophische Denkweise kennzeichnete, ohne sie aber unkritisch zu übernehmen186. Diese Mischung aus interessierter Nähe und kritischer Distanz zeigt sich in Abaelards Umgang mit der Platonischen Theorie der „Weltseele“. In seinen theologischen Schriften sah er in ihr einerseits eine Metapher für die dritte göttliche Person, den „Heiligen Geist“187. Doch gleichzeitig nutzte er Platons Beschreibung des Ursprungs der „Weltseele“ in dessen Dialog „Timaios“ (35a), um ein zentrales dialektisches Erkenntnisprinzip aufzustellen: diese von Platon metaphorisch gemeinte Lehre von der Seele in ihrer irreduziblen Einheit aus „Teilbarem“ und „Unteilbarem“, aus „Identischem“ und „Verschiedenem“ markiere den einheitlichen, universellen und hinreichenden Erkenntnisgrund aller zu erkennenden Wirklichkeit, meint Abaerlard. Dies bedeutet, wie er erklärt, die Wirklichkeit bzw. „die Dinge“ und „Substanzen“ sowohl in ihrem isolierten Sein an sich, als auch in ihrer Vergleichbarkeit oder Differenz mit und zu anderen zu betrachten188. Der Wirklichkeit und dem rationalen abwägenden Denken wird auf diese Weise 183

Ibid., II, 68, p. 137. P. Abaelardus, Theologia christiana, III, 86, p. 229. 185 Ibid., V, 16, p. 353–354. 186 Petrus Abaelardus, Theologia ‚Scholarium‘, I, 184–187, p. 396–397. 187 Petrus Abaelardus, Theologia ‚Summi boni‘, I, 36–55, p. 99–106; ders. Theologia christiana, I, 69– 122, p. 100–124; ders. Theologia Scholarium I, 125–185, p. 369–397. 188 Petrus Abaelardus, Theologia ‚Summi boni‘, I, 55, p. 105–106: „Dasjenige, was Platon über die Weltseele sagt, daß sie nämlich aus einer teilbaren und einer unteilbaren Substanz bzw. aus Demselben und dem Verschiedenen bestehe, läßt sich auch anders verstehen, derart nämlich, daß er mit jenen Worten das ganze Vernunftvermögen des Geistes selbst heraushebt. Von daher wird er auch ‚Geist der Weisheit, der Einsicht und des Wissens‘ genannt (Is, 11, 2). Denn eine vollständige Abwägung eines jeden zu erkennenden Gegenstandes richtet sich nach vier Aspekten. In Hinsicht auf diese wird ein jedes Ding zunächst korrekt als solches betrachtet, sobald wir es nach seinem ihm eigenen Wesen in Hinsicht darauf untersuchen, ob es einfach oder zusammengesetzt ist, d.h. heißt also, ob es unteilbar oder 184

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eine komplexe, die Identitäten und Differenzen zusammenfügende Struktur zugeschrieben. Damit zeigt Abaelard deutlich seine Affinität zu dem objektiv-idealistischen Dialektikkonzept Platons aus dessen Spätwerk. Das methodische Vorgehen, die gnoseologische und die kosmologische Reflexion Abaelards treffen sich in einem Grundsatz: es geht darum, die harmonische Komplexität und die dialektische Kompatibilität der gegensätzlichen Aspekte herauszufinden. Ein weiteres beeindruckendes Zeugnis seines dialektischen Denkens bietet das philosophisch-theologische „Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen“ von Abaelard. Der Autor zeigt die fruchtbringende Rolle einer sachbezogenen Problemdiskussion zwischen konträren Meinungsrichtungen mit jeweiligem exklusivem Wahrheitsanspruch. Abaelards fiktives Szenarium eines Streitgesprächs zwischen der Philosophie, dem jüdischen und dem christlichen Offenbarungsglauben demonstriert sein dialektisches Denken auf dem Feld der Ethik. Sowohl nach der äußeren dialogischen Form zu urteilen, als auch im Hinblick auf die dominante Argumentationsweise in der Schrift, wie nicht zuletzt im Hinblick auf einige inhaltliche Gesichtspunkte geht es in der Schrift um den Aufweis der Kompatibilität von Gegensätzen: 1. Der Gegensatz zwischen den agierenden typischen Vertretern von Philosophie, Judentum und Christentum erhält in der Gestalt des „Richters“ (eine Selbstverdopplung Abaelards) ein neutrales Bezugsmedium. Dieses personifizierte Bezugsmedium entpuppt sich als zwar aufmerksamer, aber weitesgehend schweigsamer Beobachter und Zuhörer, der kaum interveniert. 2. An seine Stelle tritt in der Folge de facto die Autorität des vernünftigen Argumentierens, welches als gemeinsame akzeptierte Berufungsdinstanz die polemischen Wechselreden zu einem bestimmten Ergebnis führen soll. 3. Mit diesem akzeptierten Verständigungsmittel, dem Zitate von Autoritäten, Sprichwörter und empirische Beispiele hinzugesellt werden, tritt die argumentative Bestimmung des gemeinsamen Zieles und des Weges zu diesem Ziel in den Mittelpunkt der Dialoghandlung, d.h. des „Höchsten Gutes“ und der moralischen Voraussetzungen zu seinem Erreichen. Aus der Polemik zu Anfang des Gesprächs ist damit ein reines Prüfverfahren von zweckdienlichen oder -schädlichen Begriffen und Argumenten im Hinblick auf das angestrebte Ziel geworden. 4. Der Gespächsgang erreicht seinen Höhepunkt und (vorläufigen) Schluß in einem abschließenden Monolog über die christliche Intentionalitätsethik. Diese verbindet die Erkenntnis der Relativität alles menschlichen Tuns mit der Setzung eines übergeordneten Zieles, des „Höchsten Gutes“ bzw. des Glücks. – Damit erscheinen die anfängliche Unversöhnlichteilbar ist. Genau darin besteht auch die naturgemäße Betrachtung einer jeden Sache, wenn es um die Ermittlung ihrer Natur geht. Dies bedeutet, daß wir sie zuerst für sich genommen daraufhin betrachten, ob ihre Substanz einfach ist oder nicht. Anschließend untersuchen wir sie im Vergleich mit anderen Dingen, nämlich worin sie mit anderen übereinstimmt oder worin sie sich von anderen unterscheidet, also ähnlich oder unähnlich ist. ‚Die Seele besteht aus einer teilbaren und einer unteilbaren Substanz bzw. aus Demselben und dem Verschiedenen‘ – dies bedeutet: die Seele kann ein jegliches Ding wahrheitsgemäß daraufhin erkunden, ob es für sich genommen einfach oder zusammengesetzt ist, und worin es mit anderen übereinstimmt oder von anderen verschieden ist.“

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keit der Disputanten untereinander, die unvermittelte Entgegensetzung von vernünftiger Argumentation und kodifizierter Glaubenslehre, von Intentionalität und Faktizität des Handelns, von theonomer und natürlicher Moral sowie von Legalität und Moralität in eine intentionalistische christliche Glücksethik aufgehoben. Der von Abaelard bereitwillig entrichtete Preis dafür besteht in einem bewußten Verzicht auf ein unreflektiertes, buchstäbliches Verständnis des Bibeltextes und in der Hervorhebung von dessen symbolischem Sinngehalt. Die religiöse Buchstabengelehrsamkeit, ein naiver Volksglaube und eine ihre Grenzen nicht erkennende weltliche Weisheit sind die unreflektierten Bewußtseinslagen, welche Abaelards Dialogwerk kritisch überwinden will. Die dialektische Kompatibilität von gegensätzlichen Positionen erschließt sich dem Leser auf Grund ihres argumentativen Vergleichs untereinander, welcher die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede und unüberbrückbaren Differenzen zwischen ihnen benennt. Sowohl in der Absolutsetzung eines vorgefaßten religiösen Glücksbegriffes, als auch in der kompromißlosen Ausschaltung des „Juden“ aus dem Streitgespräch läßt Abaelard allerdings auch klar die Grenzen seiner dialektischen Problemdiskussion und Kompromißbereitschaft erkennen. Aber die Überzeugung vom Anwachsen des Wahrscheinlichkeitswissens und der Einsichtsfähigkeit der Menschen in Abhängigkeit von der Zeit und dem Einsatz einer argumentativen Vernunft ist Abaelards ausgesprochener Grundsatz: Und diesen läßt er sowohl den „Philosophen“, den „Juden“ als auch den „Christen“ seines Gesprächswerkes teilen189. Genau in dieser Überzeugung liegt der positive dialektische Ertrag dieser Schrift. Ein dialektisches Reflektieren kann sich auch in der Form von Thesen manifestieren. Ein anschauliches Beispiel dessen bietet das sogenannte „BUCH DER 24 PHILOSOPHEN“ („Liber viginti quattuor philosophorum“). In ihm geht es um die Suche nach konsensfähigen begrifflichen Bestimmungen von Gott, an welcher Suche sich dem Prolog dieser Schrift zufolge genau 24 Philosophen beteiligt hätten, welche mit 24 Definitionen bzw. Deskriptionen Gott zu charakterisieren versuchen190. Ab dem 12. Jahrhundert wurde der Text zitiert und später kommentiert. Er vereinigt neuplatonisches und christliches Gedankengut und scheint eine längere Vorgeschichte zu haben191. In den Thesen und den zugehörigen Erläuterungen läßt sich eine Kombination aus positiver, negativer und symbolischer Theologie konstatieren, welche in Form von einzelnen Definitionen und Deskriptionen des Wortes „Gott“ teils in direktem Verbund, teils nebeneinander, teils in explizitem Verweis auf vorangegangene Thesen zum Ausdruck gebracht werden. Die negative Theologie präsentiert z.B. eine Erklärung des Wortes „Gott“ in den Thesen VII und X durch negative differentiae specificae: „Gott ist Anfang ohne Anfang, Hervorge189

Vgl. Peter Abailard, Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen, lat.-deutsch, hrsg. u. übers. v. H.-W. Krautz, S. 16, 22, 108, 124, 160; vgl. Petrus Abaelardus, Dialectica, tract. V, lib. I, S. 535: „… nec tantum in nobis mortalibus scientia potest crescere ut non ultra possit augmentum recipere“; vgl. ders., Sic et Non, prolog. p. 92, 99. 190 Vgl. Liber viginti quattuor Philosophorum, ed. F. Hudry, prol., p. 3. 191 Vgl. ibid., Introduction, p. V–XXXII.

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ANFÄNGE DIALEKTISCHEN DENKENS IN DER MITTELALTERLICHEN PHILOSOPHIE

hen ohne Veränderung, Ziel ohne Ziel“ (These VII); „Gott ist derjenige, dessen Können nicht gezählt wird, dessen Sein nicht in sich abgeschlossen ist, dessen Gutheit nicht begrenzt wird“ (These X)192. In der Betonung der Transzendenz Gottes durch die Attribuierung Gottes mit einem „Übersein“ („superesse“) und einer „unendlichen Möglichkeit“ („infinita possibilitas“) in der These XI sowie deren anschließender Erläuterung wird „Gott“ als ein Positivum mit eingeschlossener Negation alles Endlichen, Mangelhaften und Abhängigen erklärt193. Einen Verbund von Negationen mit eingeschlossenen Affirmationen bzw. von Affirmationen mit eingeschlossenen Negationen liefern darüber hinaus noch weitere Thesen zur Charakterisierung Gottes. So heißt es in der These XIII: „Gott ist immerwährende Dauer, er wirkt innerhalb seiner selbst ohne Aufteilung und ohne einen bestimmten Habitus.“194 Auch hier erfolgt eine Charakterisierung Gottes durch eine Differenz zum Status der geschöpflichen Welt. In einer nächsten These wird diese Differenz durch die Differenz zwischen Gott und Nichts ergänzt und daraus die folgende Aussage gemacht: „Gott ist der Gegensatz des Nichts unter der Vermittlung des Seienden.“ (These XIV)195. In der These von Gott als einem „unbewegten Beweger“ wird der Aspekt der Unveränderlichkeit mit dem Aspekt der Lebendigkeit in Gott zusammengedacht (These XIX)196. Die anschließende These konkretisiert den göttlichen Lebensvollzug wieder, indem sie ihn in Differenz zu allen anderen Lebensvollzügen setzt und positiv als rein ideelle Selbsttätigkeit in voller Unabhängigkeit charakterisiert197. Die Funktion Gottes als des Urhebers alles Seins wieder wird in der These XXII durch Differenzen zu den Modi der Generierung von neuem Sein in der Welt charakterisiert: weder durch Zerteilung, noch durch Veränderung und auch nicht durch Vermischung füllt Gott seine Urheberschaft aus198. Neben diesen Charakterisierungen Gottes aus den Differenzen zur Welt bzw. zum Nichts bzw. aus beidem zusammen enthält das „Buch der 24 Philosophen“ auch spezielle Thesen, welche die Unerkennbarkeit des Wesens Gottes behaupten, eine der zentralen 192

Ibid., VII, p. 13: „Deus est principium sine principio, processus sine variatione, finis sine fine“; ibid., X, p. 15: „Deus est cuius posse non numeratur, cuius esse non clauditur, cuius bonitas non terminatur.“ 193 Ibid., XI, p. 18: „Deus est super ens, necesse, solus sibi abundanter, sufficienter.“ – „Haec definitio formalis est sed relata. Esse omne clausionem dicit. Superest igitur qui non clauditur. Et necesse quia malum non habet, quia non clauditur, sed infinita possibilitate. Nec sic distrahitur suum superesse quin redeat a se in se, et non totum indigenter, sed exuberanter.“ 194 Ibid., XIII, p. 20: „Deus est sempiternitas agens in se sine divisione et habitu.“ 195 Ibid., XIV, p. 21: „Deus ist oppositio nihil mediatione entis.“ 196 Ibid., XIX, p. 26: „Deus est semper movens immobilis.“ 197 Ibid., XX, p. 27: „Deus est qui solus sui intellectu vivit.“ – „Non vivit sicut corpora quae recipiunt aliena intra se ut convertant ea in sui naturam. Non vivit ut corpora supercaelestia quae a spiritibus habent motum, nec vivit ut intelligentiae, animae quae ab ipsius unitate sustentantur. Sed a se ipso et in se intelligendo vivit et est superessentialiter.“ 198 Ibid., XXII, p. 29: „Deus est ex quo est quicquid est non partitione, per quem est non variatione, in quo est quod est non commixtione.“

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Lehren der negativen Theologie. So behauptet die These XVI die Unerfaßbarkeit Gottes durch Worte und Gedanken auf Grund seiner Vorzüglichkeit und Unvergleichbarkeit199; die anschließende These konstatiert die völlige Selbstreferentialität des göttlichen Erkennens und dessen Gegensatz zur Prädikation, so daß dieser prädikativ nicht faßbar ist200; die Thesen XXI und XXIII weisen den bleibenden Ausweg bei der Suche nach einem intellektuellen Erfassen Gottes: dieser liegt in dem schrittweisen Ausschluß aller positiven Attribuierungen Gottes mit innerweltlichen Formen bis hin zum göttlichen „Dunkel“ (These XXI)201 und dem schließlichen Eingeständnis, ihn durch Nicht-Wissen zu erkennen202. Der dialektische Gedanke des wissenden Nicht-Wissens bildet den Höhepunkt und Abschluß derjenigen Reihe von Thesen, welche eine begriffliche Charakterisierung Gottes durch Negationen, Transzendierungen und Differenzen versuchen. Diese Reihe umfaßt genau die Hälfte aller 24 Thesen. Alle anderen Thesen (I–VI, VIII– IX, XII, XV, XVIII, XXIV) bezeichnen Gott prägnant positiv. In der letzten These (XXIV) wird Gott als ein alles überstrahlendes und durchstrahlendes Licht ohne jede Brechnung charakterisiert und damit als ein makellos Positives dem mangelhaften „kreatürlichen Licht“ mit dessen Brechungen entgegengesetzt, und zwar in der Weise, daß er den Dingen „Gottförmigkeit“ verleiht203. Damit wird dem Gedanken der Transzendenz und Einzigkeit Gottes auch der Gedanke der Immanenz und Allgegenwärtigkeit hinzugefügt. In der synthetisierenden Komplexität und Differenziertheit aus positiver, negativer und symbolischer Theologie bietet das „Buch der 24 Philosophen“ einen speziellen dialektischen Ansatz im Übergangsfeld zwischen Philosophie und Theologie. Dieser Ansatz zeigt im Vergleich mit anderen Anwendungen von dialektischer Methode und Theorie im 11. und 12. Jahrhundert auch die Vielgestaltigkeit des dialektischen Vorgehens im philosophisch-theologischen Denken dieser Zeit. Gerade in der dialektischen Kombination, nicht aber in der ausschließenden Entgegensetzung von positiver und negativer Theologie erreicht der Text seine theoretische Tiefe und methodische Brillianz. Dadurch konnte er als Vorbild für Spätere wirken. Seit dem 12. Jahrhundert erfreut sich auch ein anderes Thesenwerk wachsender Beliebtheiund Aufmerksamkeit unter den lateinischsprachigen Philosophen und Theologen, der „LIBER DE CAUSIS“ („Das Buch von den Ursachen“). Es liefert Thesen und Argumentationen neuplatonischer Provenienz in Verbindung mit schöpfungstheologischen Überlegungen über den Ursprung und den Hervorgang alles Seienden aus einer „Erstursache“, d.h. Gott, und die Rückkehr in diese. In diesen Gedankenkomplex sind Elemente einer negativen Theologie (z.B. die Lehre von der Unmöglichkeit einer exak-

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Ibid., XVI, p. 23: „Deus est quod solum voces non significant propter excellentiam, nec mentes intelligunt propter dissimilitudinem.“ 200 Ibid., XVII, p. 24: „Deus est intellectus sui solum, praedicationem non recipiens.“ 201 Ibid., XXI, p. 28: „Deus est tenebra in anima post omnem lucem relicta.“ 202 Ibid., XXIII, p. 31: „Deus est qui sola ignorantia mente cognoscitur.“ 203 Ibid., XXIV, p. 33: „Deus est lux, quae fractione non clarescit, transit, sed sola deiformitas in re.“

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ten Erkennbarkeit und Benennbarkeit der „Erstursache“ mittels bestimmter Attribute)204 gemeinsam mit ausführlichen affirmativen Charakteristiken der „Erstursache“ als Licht, Schöpfer, Weltlenker, reine Einheit und Gutheit205 eingearbeitet. Desweiteren werden sowohl die Transzendenz als auch die Immanenz der „Erstursache“ gegenüber der geschaffenen Welt positiv behauptet und begründet206. Und schließlich enthält der Text einen speziellen Gedanken, welcher die Existenz von zwischen den polaren Gegensätzen „Ewigkeit“ und „Zeitlichkeit“ vermittelnden Instanzen, d.h. von sogenannten „mittleren Substanzen“, ausführt. Diese vereinigen in sich die „immerwährende Dauer“ mit dem prozessualen Verändern in der Zeit („Bewegung“), mit Entstehen und Vergehen. In diesen „mittleren Substanzen“, welche ihrem Wesen nach seelischer Art sind, harmonieren direkt das Wirklichsein und das Werden miteinander, ohne miteinander identisch zu sein207. Das ganze Werk durchzieht schließlich der Gedanke des sich gegenseitig Ausschließens und Bedingens des „Einen“ und des „Vielen“ als wichtigster ontologischer Grundprinzipien. Diese deutlich erkennbaren Akzentsetzungen theoretischer Art folgen dem dialektischen Grundprinzip der Relativität und Kompatibilität von Gegensätzen, welche als solche in einen umfassenden Zusammenhang gehören. Ein Mangel des Textes besteht darin, daß dieses Grundprinzip und auch seine konkreten Anwendungen nicht explizit reflektiert werden. Gleichwohl ist das vorliegende Werk ohne die genannten dialektischen Akzentsetzungen nur noch mit einem beträchtlichen Verlust an theoretischer Substanz denkbar. Der „Liber de causis“ ist ein Beispiel für eine immanente theoretische Dialektik in einem metaphysischen und theologischen Rahmen. Diese Dialektik wird erst in der Verbindung aus Axiomatik und argumentativem Diskurs transparent, welche den Text methodisch strukturieren. Das Ziel beider Komponenten besteht in dem Erreichen von Einsichten, welche alle Zweifel argumentativ aus sich ausgeschlossen haben. Dementsprechend setzt sich der „Liber de causis“ nicht allein aus axiomatischen Behauptungen zusammen, sondern auch aus deren Erläuterungen, sowie aus Beweisen, Zusammenfassungen von Argumentationen, Einwänden, Antworten auf diese und Rückbezügen208. Damit werden dem Leser des Textes auch die jeweiligen Problembezüge und mögliche alternative Lösungsvarianten ins Bewußtsein gerückt. Insofern kann diesem Text auch in methodischer Hinsicht durchaus eine dialektische Intention im Sinne eines argumentativen Problemlösungsverfahrens mit dem Ziel zweifelsfreier Erkenntnisse zuerkannt werden.

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Vgl. [Anonymus], Liber de causis. Das Buch von den Ursachen, lat.-dt., hrsg. u. übers. v. R. Schönberger u. A. Schönfeld, prop. V (VI), n. 57–62, S. 14; prop. XXI (XXII), n. 166–177, S. 42– 44. 205 Vgl. ibid., prop. V, n. 58; prop. VIII, n. 79; prop. XIX, n. 155–156; prop. XX, n. 163; prop. XXII, n. 174–175; prop. XXXI, n. 217–219. 206 Vgl. ibid., prop. XIX–XXIII, S. 38–48. 207 Vgl. ibid., prop. XXIX–prop. XXXI, S. 54–60. 208 Vgl. ibid., Anmerkungen, Nr. 26, S. 71.

DIALEKTIK ALS HEURISTIK

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Dialektik als Heuristik Im Zusammenhang mit der umfassenden Rezeption der Aristotelischen Philosophie seit dem 12. und 13. Jahrhundert im lateinischen Europa wird auch der besondere Rang der Dialektik als Heuristik wiederentdeckt. Im Werk des JOHANNES VON SALISBURY (ca. 1120–1180), vor allem in seiner Schrift „Metalogicon“ (entstanden 1159), kommt dieser Aspekt gut zum Ausdruck. Das hing direkt mit der Wiederentdeckung von Aristoteles’ „Topik“ zu jener Zeit zusammen. Aber auch der gleichzeitige Einfluß von Ciceros und Boëthius’ Positionen in der Logik-, Rhetorik- bzw. Topik-Diskussion ist zu berücksichtigen. Im „Metalogicon“ gibt es umfangreiche Ausführungen über die Dialektik im Sinne einer „Wahrscheinlichkeitslogik“ („probabilis logica“). Damit wird diese hinsichtlich ihrer Argumentationsweise sowohl von der streng-demonstrativen als auch von der sophistischen Art des Argumentierens unterschieden. Hinsichtlich ihres inhaltlichen Bezuges richtet sich diese Art von Logik auf die allgemein anerkannten Meinungen und Aussagen, anerkannt nämlich von „allen, den meisten oder den Weisen“, bzw. sie richtet sich auf das aus diesen Meinungen Folgende. Diese Charakterisierung der „probablen“, allgemein anerkannten Meinungen folgt direkt der entsprechenden Beschreibung der Ausgangsbedingungen eines „dialektischen Syllogismus“ in Aristoteles’ „Topik“ (I. 1, 100a18). Johannes macht zugleich darauf aufmerksam, daß dieses allgemein Anerkannte bzw. die gültige Expertenmeinung der Ausgangspunkt sowohl für die Rhetorik als auch für die Dialektik darstellt. Beide Disziplinen der „Wahrscheinlichkeitslogik“ zielten auf Argumente ab, die zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit beanspruchen, ohne dabei unbedingt eindeutig als „wahr“ oder „falsch“ bewertbar zu sein. Die Dialektik ihrerseits würde weder als eine strenge Lehre, noch als eine juristische Rhetorik oder als eine sophistische Verführungskunst aufzufassen sein, betont Johannes209. Der Unterschied der Dialektik zur Rhetorik bestünde darin, daß die Dialektik sich in ihren Erörterungen nicht auf die konkreten raum-zeitlichen Umstände, Personen und Motive einlassen müsse wie ein Rhetor. Ihre Ausdrucksweise sei kurz und bündig sowie interpellierend. Sie strebt ein Urteil über eine jeweils einer bestimmten Auffassung entgegenstehende Meinung an; sie wendet sich an eine bestimmte Person, nicht an eine große Menge, wie im Falle eines Rhetors. Hinsichtlich ihres Gegenstandes bzw. Gegenstandsbereiches wiederum richte sich die Dialektik auf Problemfragen, welche es in einem größeren Einzugsbereich von unterschiedlichen Disziplinen gäbe. Damit verfolgt die Dialektik nach Johannes einen allgemeineren Zweck, da sie die benötigten Verfahren zur Problemauflösung in unterschiedlichen Bereichen liefere210. Begleitend zu dieser Präzisierung und Abgrenzung des Aufgabenfeldes der Dialektik betont Johannes deren Dialogcharakter und die spezifische Leistungskraft bei der Lösung aufgeworfener Problemfragen. Die heuristische Funktion 209 210

Ioannis Saresberiensis Metalogicon, ed. J. B. Hall, II. 3, p. 60. Ibid., II. 12, p. 74.

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ANFÄNGE DIALEKTISCHEN DENKENS IN DER MITTELALTERLICHEN PHILOSOPHIE

von Dialektik als Problemlösungsverfahren tritt so in den Vordergrund. Sie ist für ihn darin ein universelles Instrument der Philosophie211. Als solches sei sie applizierbar auf sämtliche Teilgebiete der Philosophie, d.h. auf die Ethik, die Naturphilosophie und die Logik im engeren Sinne des Wortes, indem sie über jedes aufgeworfene Problem eine Unterredung mit akzeptablem Resultat zu führen vermag212. In dieser konkreten Nutzanwendung liegt auch der spezifische Wert der Dialektik begründet: sie erweist sich für Johannes als nützlichste von allen „Freien Künsten“. Der formallogische Aspekt dialektischer Problemlösungsverfahren tritt für ihn in diesem Zusammenhang aber in den Hintergrund213. Zu ihrer spezifischen Aufgabe und Potenz zählt auch die Erforschung der Prinzipien der Methoden214. Immer wieder hebt Johannes im „Metalogicon“ die Probabilität als den spezifischen Erkenntnismodus des Dialektikers hervor. Das bedeutet: ein Dialektiker darf sich nicht mit Dingen abgeben, welche niemandem einleuchten oder aber von vornherein völlig evident sind215. Das „Probable“ ist – objektiv gesehen – das Häufige und Regelhafte; subjektiv gesehen, ist das Probable das leicht und mit Gewißheit Faßbare216. Es macht sich als „wahre Meinung“ („opinio vera“), „wahre Rede“ („vera locutio“) oder als „richtiger Ausdruck“ („sermo verus“) geltend, die eine mittlere Annäherung an das Wesen der Dinge darstellen, wenn man die göttliche und engelhafte Erkenntnispotenz als Maximum des Möglichen, dem Menschen aber Unerreichbaren, ansieht217. Bei alledem hat es die Dialektik nach Johannes auch wesentlich mit Gegensätzlichem und Widersprüchlichem zu tun: denn das Disputieren erfolgt immer am „Zweifelhaften“ („dubia“) oder demjenigen, was sich gegenseitig widerspricht („in contradictione posita“), oder an demjenigen, was zum Zweck der Bestätigung oder Widerlegung auf unterschiedliche Weise ausgedrückt wird218. Es gelte das Dictum anzuerkennen, so Johannes, daß hinsichtlich einer jeden Sache bzw. Angelegenheit einander entgegengesetzte und zugleich trotzdem gleich-wahrscheinliche Ansichten vorgetragen werden können („de omni re potest in utramque partem probabiliter disputari“). Irrtümlich schrieb Johannes diesen Gedanken Pythagoras anstatt dem Protagoras zu219. Für Johannes von Salisbury wird die „Erforschung des Wahrscheinlichen“ („probabilium investigatio“) wesentlich durch einen methodisch geregelten rationalen Erkenntnisanspruch motiviert. Die Aristotelische „Topik“ gilt ihm dafür als Leitfaden. Mit „Er211

Ibid., II. 5, p. 61. Ibid., II. 15, p. 78: „Potens enim est de omni problemate ethico scilicet, phisico, et logico probabiliter disputare.“ 213 Ibid., II. 13, p. 75; II. 15, p. 78–79. 214 Ibid., II. 13, p. 75. 215 Ibid., II. 13, p. 76. 216 Ibid., II. 14, p. 76–77. 217 Ibid., IV. 33, p. 170. 218 Ibid., II. 4, p. 60–61. 219 Ibid., III. 10, p. 138–139.

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DIALEKTIK ALS HEURISTIK

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forschung des Wahrscheinlichen“ kennzeichnet Johannes den menschlichen Erkenntnisprozeß überhaupt. Dieser aber richtet sich nicht auf alles und jedes, sondern lediglich auf das argumentativ Wißbare und Entscheidbare, was einen Zuwachs an Wissen ermöglicht. Ansonsten gilt das Wissen des eigenen Nichtwissens220. Der topische Charakter der Dialektik-Konzeption von Johannes tritt somit klar hervor. Ein wichtiger Ertrag dieser Konzeption ist die Relativierung des Unterschieds bzw. Gegensatzes von Wissen und Meinung. Daß eine „wahre Meinung“ möglich ist, schreibt Johannes dem menschlichen Erkenntnisvermögen überhaupt zu, welches aber durch eine Irrtumsfähigkeit von dem Erkenntnisvermögen Gottes und der Engel unterschieden ist221. Diese Differenzierung von Erkenntnisvermögen verweist auf den christlichen Hintergrund seiner Aristoteles-Rezeption. Johannes hob nicht nur die Wahrscheinlichkeitserkenntnis und die „wahre Meinung“, sondern auch den Glauben als eine unverzichtbare Verhaltensform des Zu- und Vertrauens zwischen Mensch und Gott einerseits und zwischen den Menschen andererseits hervor. Er stellt ihn kognitiv als eine Zwischenstufe zwischen einer ungefestigten Meinung und dem sicheren Wissen dar. Der Glaube ist aber auch eine eigene Form der Gewißheit, die aus einem inneren Ergriffensein, nicht aber aus Wissen resultiere. Gleichwohl sind für Johannes Glaubensgewißheit und wissenschaftliche Gewißheit einander ebenbürtig222. An anderen Stellen seines „Metalogicon“ hat er in gleichem Zusammenhang auf den begrenzten Erkenntnisanspruch von rationalem Denken und die Notwendigkeit, sich der eigenen Erkenntnisschranken bewußt zu sein, aufmerksam gemacht. Denn ein Vertrauen auf die Kunst der Problemlösung und Disputation müsse Aristoteles zwar entgegengebracht werden, in Sachen der Moral und des Glaubens aber sei die Jugend vor ihm zu schützen, meint Johannes223. Zugleich pflichtet er Augustinus bei, daß Gott besser durch Nichtwissen als durch klares Wissen erkannt wird224. Daraus läßt sich insgesamt folgern, daß der kognitive Status der „wahren Meinung“ eines Dialektikers von Johannes wertmäßg geringer veranschlagt wird als der des religiösen Glaubens. Oder anders gesagt: Johannes läßt die aristotelische topische Dialektik nur als ein instrumentelles Methoden- und Sachwissen im Vorfeld der religiösen 220

Ibid., III. 10, p. 138: „Sed nec ubique, nec semper, nec de quolibet disputandum. Sunt enim plura quae disputationem non admittunt, sunt quae humanas excedunt rationes, et tantum fidei consecrantur. Sunt et quae interrogante aeque et respondente videntur indigna, et eos qui in talibus dimicant, aut desipere aut non sapuisse convincunt. Haec autem sunt quae scita non conferunt, et ignorata non laedunt. His operam dare ad philosophiam non tam accessum praeparat, quam recessum. Neque enim proficientis sed deficientis ingenii, indicium est. Unde eleganter beatus Ambrosius. Libenter fateor me nescire quod nescio, immo quod scire nihil prodest. Porro probabilium investigatio ex quibus fere scientia est humana, quodam modo manat a fonte topicorum, quae rerum sermonumque adiunctione deprehensa parant copiam rationum …“. 221 Ibid., IV. 33, p. 170. 222 Vgl. ibid., II. 14, p. 77; IV. 13, p. 151–152. 223 Ibid., IV. 27, p. 164. 224 Ibid., IV. 40, p. 181.

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ANFÄNGE DIALEKTISCHEN DENKENS IN DER MITTELALTERLICHEN PHILOSOPHIE

Glaubensgewißheit zu, verweist aber im Falle der Gotteserkenntnis tendentiell auf eine „Negative Theologie“. Beide Formen einer näherungsweisen Erkenntnis werden von einer gemäßigt skeptischen Haltung des Johannes gegenüber vorschnellen Urteilsentscheidungen getragen. Denn solche vorschnellen Urteile führten in die Irre. Eine generelle Irrtumsfähigkeit des Menschen sieht Johannes ferner auch jeglichem Anspruch auf einen totalen und abschließenden philosophischen Erkenntnisanspruch entgegenstehen225. Alleine Gott wird ein absolutes Erkenntnisvermögen zugesprochen; den Engeln eine unerschütterliche Gewißheit; den Menschen aber gesteht Johannes von Salisbury als „Vollkommenheit“ zu, in den meisten Fällen richtig zu denken bzw. zu meinen226. Die dialektische „Wahrscheinlichkeitserkenntnis“ bleibt so in einer eigenartigen Ambivalenz: als menschliches Maß an Vollkommenheit hinsichtlich des rationalen Erkenntnisbestrebens ist sie zugleich Ausdruck der menschlichen Unvollkommenheit im Vergleich zu dem göttlichen Erkenntnisvermögen. Insofern ist die spezifische Anlage von Johannes’ Dialektik-Konzept nicht nur aus der Rezeption von Aristoteles’ und Ciceros topischen Lehren, sondern auch aus der Übernahme skeptischer und fideistischer Positionen zu erklären. Dementsprechend empfiehlt Johannes von Salisbury auch in seinem Werk „Policraticus“ eine weise Urteilsenthaltung im Sinne des akademischen Skeptikers in fundamentalen Fragen der Philosophie, Theologie und Naturerkenntnis, die weder durch den Glauben, die sinnliche Gewißheit noch durch die Vernunft eindeutig entscheidbar sind, wo aber zueinander entgegenstehende Antworten geltend gemacht werden können. Dazu zählt er solche Themen wie die göttliche Vorsehung, den Ursprung der Seele, das Schicksal, den Zufall, den freien Willen, die Materie und die Bewegung der Körper, die Zeit und den Raum, die Identität und Verschiedenheit, den Status der Universalien, den Ursprung und das Ziel von Tugenden und Lastern, die Einheit und den Widerstreit der Weltprinzipien, die Möglichkeiten der Erkenntnis Gottes usw.227 Damit wird der methodische Zweifel in das heuristische Programm seiner dialektischen Vorgehensweise integriert. Die allgemein anerkannte Meinung, der methodisch geregelte Disput, die „wahre Meinung“, der methodische Zweifel, die begründete Urteilsenthaltung und das wissende Nicht-Wissen machen zusammengenommen die positiven Instanzen der dialektischen Heuristik in den Schriften des Johannes von Salisbury aus. Auf die Anwendung dieser Instanzen werden sowohl die Philosophie als auch die Theologie verwiesen.

225

Ibid., IV. 41, 181–182. Ibid., III. 3, p. 110: „Omnia namque ad plenum nosse divina, in nullo labi angelica, in plurimis bene sentire, humana perfectio est.“ 227 Joannis Saresberiensis Policratici libri VIII, ed. C. C. I. Webb, T. 2, lib. VII, cap. 2, p. 98–99. 226

DIE ANFÄNGE EINER NATURPHILOSOPHISCHEN DIALEKTIK IN DER SCHOLASTIK

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Die Anfänge einer naturphilosophischen Dialektik in der Scholastik Seit dem 12. Jahrhundert wird in der Literatur der Scholastik allmählich die besondere Bedeutung der Vorgänge und Strukturen der natürlichen Welt wiederentdeckt228. WILHELM VON CONCHES (ca. 1090–ca. 1154), einer der führenden Philosophen seiner Zeit, hat mit seinen Schriften maßgeblich dazu beigetragen. Beispielhaft kann anhand seines naturphilosophischen Spätwerks, des Dialogs „Dragmaticon Philosophiae“ (entstanden ca. 1147–1149), gezeigt werden, wie dabei auch einzelne Elemente des dialektischen Denkens im Hinblick auf den Inhalt und die Methode bewußt eingesetzt wurden, um die neuen Entdeckungen vorzustellen und zu begründen. Wenn der Autor von „Dialektik“ spricht, so versteht er darunter eine Kunst des begründenden Argumentierens, welche eine methodische Grundlage und Voraussetzung für das Philosophieren bilden und sich sowohl von der Grammatik als auch von der Rhetorik unterscheiden soll229. Darin ist auch der Aspekt der Disputation eingeschlossen, da Wilhelm die „Dialektik“ in einer anderen Schrift speziell als „Wissenschaft der Beweisführung von Einwänden“ gekennzeichnet hat230. Wenn Wilhelm die „Dialektik“ als konstitutiven Teil des Triviums in erster Linie als Kunst des sprachlichen Ausdrucks versteht, spricht er sich gleichzeitig gegen ein Auseinanderreißen von Sprach- und Sachwissenschaft aus.231 Im „Dragmaticon“, einer Dialogschrift im Frage-Antwort-Modus, verweist der Autor nun außerdem auf die spezielle Bedeutung von Beweisführungen in der Naturphilosophie, welche bestimmte Aussagen und Urteile wahrscheinlich machen wollen, ohne dabei deren strikte Notwendigkeit aufweisen zu können232. Ohne sich auf Aristoteles oder Boëthius zu berufen, praktiziert Wilhelm von Conches damit de facto die Dialektik als Kunst der Wahrscheinlichkeitsargumentation und sieht darin das methodische Spezifi228

Vgl. A. Speer, Die entdeckte Natur. Untersuchungen zu Begründungsversuchen einer „scientia naturalis“ im 12. Jahrhundert. 229 Guillelmus de Conchis, Dragmaticon Philosophiae, ed. I. Ronca, lib. VI, cap. 27, § 5, p. 272: „… recte scribere et recte pronuntiare scripta, quod confert grammatica; probare id quod probandum est, quod docet dialectica; ornare verba et sententias, quod tradit rethorica. Initiandi ergo sumus in grammaticis, deinde in dialectica, postea in rethorica; quibus instructi et ut armis muniti ad studium philosophiae debemus accedere.“ 230 ders., Glosae super Boetium, p. 34: „In eloquentia vero prius est addiscenda grammatica, quia principium est eloquentiae scire scribere recte et recte pronuntiare scripta; deinde dialectica quasi augmentum eloquentiae, scilicet probandi scientia quod contradicitur; deinde rethorica quasi perfectio, scilicet scientia persuadendi vel dissuadendi.“ 231 Vgl. Guillelmus de Conchis, Dragmaticon, I. 1, § 7, p. 6–7. 232 Ibid., I. 6, p. 22; ibid., II. 2, p. 38; vgl. ders., Philosophia, ed. G. Maurach, I.7, § 19: „Hactenus de illis quae sunt et non videntur nostra disseruit oratio; nunc ad ea quae sunt et videntur stilus convertatur. Sed antequam initium dicendi faciamus, petimus, ut si loquentes de visibilibus, aliquid probabile et non necessarium dicamus, vel necessarium et non probabile, non inde vituperemur: ut philosophi enim necessarium, etsi non probabile ponimus, ut physici enim probabile, etsi non necessarium adiungimus.“

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ANFÄNGE DIALEKTISCHEN DENKENS IN DER MITTELALTERLICHEN PHILOSOPHIE

kum der Naturphilosophie. Das Diskutieren, Argumentieren, In-Frage-Stellen und das Finden von der „Wahrheit ähnlichen“ (also wahrscheinlichen) Antworten bilden das Methodenarsenal in der genannten Schrift. Wiederholt läßt Wilhelm seine Dialogpartner alternative Meinungen zu bestimmten Fragen diskutieren und auf den Nutzen eines sachlichen Vergleichs zwischen unterschiedlichen Positionen verweisen, auch wenn sie der vom Autor bevorzugten Position entgegenstehen233. Dieser dialektische Ansatz eines reflektierenden Denkens und einer konstruktiven Kritik wird auch auf die Meinungen der „heiligen Väter“ ausgedehnt, wenn diese die „Physik“ betreffen, denn jene seien auch Menschen gewesen, wenngleich bedeutendere als andere, stellt er fest234. Spöttisch äußert er sich gegenüber Ansprüchen auf Allwissenheit 235; dann behauptet er, daß es auch „wahre Meinungen“ (im Gegensatz zu „falschen Meinungen“ und dem „Verstandesurteil“) geben kann, welche zwar eine Unentschiedenheit und Ungewißheit über Wahrheit und Falschheit ausdrücken, aber auf Grund der Zustimmung der „Weisen“ bzw. unabweisbarer Argumente in ein wohlbegründetes Urteil verwandelt werden können236. Und mit einem Ausspruch Vergils stellt er abschließend klar, daß nur ausdauernde Anstrengung die guten persönlichen Anlagen eines Menschen zur Perfektion bringen kann237. Diese auf Meinungsentfaltung und -entwicklung, auf den methodischen Zweifel und den Disput mittels sachlicher Argumentation orientierte Methode Wilhelms, seine Intention einer „wahrscheinlichen“, d.h. der Wahrheit sehr weit angenäherten Erklärung der Naturprozesse lassen die dialektische Anlage des „Dragmaticon Philosophiae“ gut erkennen. Nicht zuletzt dürfte in methodischer Hinsicht dafür Platons „Timaios“, der ja zu den besonders wichtigen Quellen der damaligen Naturphilosophie gehörte, anregend gewirkt haben. Insofern lassen sich die platonischen oder die aristotelischen Muster einer Dialektik als Methode des Argumentierens und Disputierens im „Dragmaticon“ nicht eindeutig auseinanderhalten. Neben den erläuterten methodischen Aspekten läßt Wilhelm von Conches auch in seinen theoretischen Reflexionen bestimmte Elemente und Ansätze zum dialektischen Denken erkennen. Im Zentrum seiner Naturphilosophie steht die Annahme, daß die gesamte natürliche Körperwelt aus unsichtbaren kleinsten Partikeln, den „Elementen“, besteht, welche sich durch bestimmte primäre Qualitätsmerkmale voneinander unterscheiden und in ihrer Verschiedenheit und Komplementarität untereinander zu gleicher Zeit von Gott geschaffen worden seien. In gewisser Weise synthetisiert er damit einen 233

Vgl. ders., Dragmaticon, I. 6, p. 22; II. 2, p. 38; IV. 4, p. 91; V. 4, p. 145; V. 6, p. 153–157; V. 8, p. 161–163. 234 Ibid., III. 2, § 3, p. 58: „In eis tamen quae ad physicam pertinent, si [sancti patres – H.-U. W.] in aliquo errant, licet diversum adfirmare. Etsi enim maiores nobis, homines tamen fuere.“ 235 Vgl. ibid., lib. VI, prol., p. 179–181. 236 Vgl. ibid., VI. 26, § 3, p. 266: „… Quaedam igitur opinio in rationem potest transire.“ 237 Vgl. ibid., VI. 27, § 4, p. 272: „Quamvis vero sanguinea complexio habilis sit ad doctrinam quippe in omnibus temperata, tamen in omni aliquis perfectus cum labore potest esse, quia labor improbus omnia vincit.“

DIE ANFÄNGE EINER NATURPHILOSOPHISCHEN DIALEKTIK IN DER SCHOLASTIK

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korpuskulartheoretischen Ansatz antiker Provenienz mit der christlichen Schöpfungslehre238. Auf der Basis dieses Prinzipienkompromisses kann dann die natürliche Welt in ihrer Vielfalt und Veränderlichkeit näher erklärt werden. Alle sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände versteht Wilhelm als veränderliche Verbindungen aller „Elemente“ (Erde, Wasser, Luft und Feuer), wobei es jeweils eine Dominanz bestimmter qualitativer primärer Beschaffenheiten dieser Elemente (feucht, trocken, kalt oder warm) zu konstatieren gibt, ohne daß die entgegengesetzten Beschaffenheiten von diesen Gegenständen dadurch ausgeschlossen würden239. Ausführlich erläutert Wilhelm die notwendiger Vermittlung zwischen den konträren „Elementen“ und ihren Qualitäten, um die Ordnung und den Zusammenhang in der Welt plausibel zu machen240. Der dialektische Gedanke der Kompatibilität und der Vermittlung von Gegensätzen als konstitutiven Bestandteilen eines Ganzen findet also in Wilhelms Elemententheorie seinen direkten Ausdruck. Einen weiteren dialektischen Grundsatz integriert er seinem naturphilosophischen Weltbild, d.h. das Prinzip der Beständigkeit im Wandel. Denn für Wilhelm erhält sich die gesamte Weltordnung durch die Erhaltung ihrer elementaren Bausteine bei oder trotz einer fortgesetzten Bewegung und Veränderung in einzelnen Bereichen der Welt bzw. in einzelnen Körpern241. Das Werden und Vergehen in der Welt wiederum stehen für Wilhelm ebenfalls in einem Verhältnis dialektischer Wechselseitigkeit242. Die ganze Naturanschauung Wilhelms zielt letztlich auf das Verständnis der körperlichen Welt als eines trotz aller Differenzen und Gegensätze geordneten harmonischen Ganzen. Diesem gehört auch der Mensch als ein vernunftbegabtes Lebewesen und als Erdbewohner an. Auch er besteht aus einer harmonischen Verbindung der Elemente, welche wiederum die Basis für die harmonische Leib-Seele-Verbindung bildet. Diese allerdings löst sich auf, sobald die Elemente untereinander in Widerstreit treten243. Die Harmonie und die Ordnung, welche das Differente und das Gegensätzliche unter Ausschaltung des Widerstreits als miteinander Zusammenhängendes verstehbar machen, werden durch Gott und die Natur garantiert244. Eine Herstellung von Ordnung durch Selbstorganisation der Natur unter Ausschaltung des göttlichen Schöpfers hat Wilhelm nicht angenommen. Für ihn füllten Gott als Schöpfer der Grundbestandteile der natürlichen Welt und die Natur als Potenz der Selbstreproduktion der Körper jeweils unersetz238

Vgl. ibid., I. 6, p. 21–28. Vgl. ibid., II. 2, p. 35–39; VI. 6, p. 199. 240 Vgl. ibid., II. 4–5, p. 42–48. 241 Vgl. ibid., II. 6, § 3, p. 49; II. 6, § 12, p. 54; V. 2, § 17, p. 142; VI. 6, § 8, p. 201. 242 Vgl. ibid., VI. 6, § 8, p. 201. 243 Vgl. ibid., VI. 25, § 4, p. 264. 244 Vgl. ibid., I. 7, § 4, p. 31: „Quia igitur natura et artifex non poterant ad operationem creatoris ascendere, voluit creator ad illorum operationem condescendere. Si enim hoc non esset, debilitas naturae putaretur, quociens ab ea aliqua mixta crearentur. Vel, ut alii dicunt, mixtim creavit ut significaret quanta confusio rerum esse potest, nisi sua dilectio res ordinaret“; vgl. ders., Philosophia, I. 2, § 6–8. 239

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ANFÄNGE DIALEKTISCHEN DENKENS IN DER MITTELALTERLICHEN PHILOSOPHIE

bare Eigenfunktionen aus245. Von einer autonomen Naturdialektik im Sinne einer Theorie eigengesetzlicher Entwicklung kann also bei Wilhelm von Conches keine Rede sein. Das schmälert natürlich in keiner Weise sein historisches Verdienst, auf der Basis einer umfassenden Elemententheorie den Mikrokosmos und den Makrokosmos in ihrer Differenziertheit und Dynamik dialektisch erklärt zu haben. Während die Einflüsse der aristotelischen Naturphilosophie auf Wilhelm von Conches vernachlässigbar gering waren, zeichnete sich in dieser Hinsicht in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts bereits ein Wandel der Aufmerksamkeit bei den Gelehrten der lateinischen Scholastik ab. Erste naturphilosophische Schriften von Aristoteles wurden seitdem registriert und ausgewertet246. Dies wirkte sich auch auf die Diskussion um die „Elemente“ als Grundbausteine der natürlichen Welt aus. Deutliche Anzeichen dafür lassen sich z.B. in dem elementtheoretischen Dialog „De elementis“ aus dieser Zeit ausmachen, der einem gewissen MARIUS zugeschrieben wird247. Der Autor nutzt beispielsweise die aristotelische Potenz-Akt-Dialektik, um die Umwandlungen der Elemente untereinander bzw. die qualitativen Veränderungen der Körper zu erklären248. Auch die aristotelische Lehre von der „mixis“ als der Vereinigung verschiedener veränderter qualitativer Elemente in einem Ganzen wendet er an249. Ferner korreliert er auf dialektische Weise Beständigkeit und Wandel miteinander, indem er eine Korrelation zwischen dem Prinzip der Erhaltung des Bestehenden (d.h. der Substanz) und den sichtbaren qualitativen Veränderungen an den „Formen“ auf Grund der Bewegung der Substanz herstellt250. Die Bewegung und die Veränderung der Körper wiederum erklärt er aus dem Bestreben der Körper, die bestehenden qualitativen Gegensätze untereinander auszugleichen. Hingegen bedingen ausgeglichene Gegensätze Ruhe und Stillstand251. Auf dieser theoretischen Basis kann der Autor ebenfalls eine umfassende Erklärung der belebten und der unbelebten Natur einschließlich des Menschen geben. Die natürlichen Wechselbeziehungen, die Wandlungen, Vereinigungen und Auflösungen der Körper auf der Basis ihrer elementaren Wirkqualitäten werden verstehbar auf Grund der durchgängigen Dialektik aus Einheit und Differenz, Widerstreit und Ausgleich der Gegensätze. In dieser dynamisch aufgefaßten Gesamtnatur gilt dabei, wie bemerkt, auch der Grundsatz der Erhaltung der substantiellen Grundbestandteile bei gleichzeitiger Veränderung der sichtbaren Naturdinge. In der Beachtung dieses Grundsatzes und der Annahme eines ursprünglichen göttlichen Schöpfungsaktes treffen sich Wilhelm von Conches und Marius. In der Ablehnung korpuskularer Vorstellungen bzw. in der Rezeption aristotelischer Theoreme durch Marius wiederum zeigt sich eine theoretische Differenz zwischen 245

Vgl. ibid., I. 7, §§ 2–3, p. 30. Vgl. T. Ricklin, Die „Physica“ und der „Liber de causis“ im 12. Jahrhundert, S. 9–68. 247 Marius, On the elements, ed. and transl. by R. C. Dales. 248 Vgl. ibid., lib. II, p. 145–151. 249 Vgl. ibid., lib. II, p. 107 sqq., p. 147, p. 151, p. 153–165. 250 Vgl. ibid., lib. I, p. 79–81, p. 93. 251 Vgl. ibid., lib. II, p. 139–141. 246

DIALEKTISCHES DENKEN IN DER GESCHICHTSPHILOSOPHIE OTTOS VON FREISING

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beiden Theoretikern der „Elemente“. Diese Theorien boten im Spannungsfeld von empirischer Naturbeobachtung, wissenschaftlicher Medizin, Metaphysik und Theologie auch ein erstes Experimentierfeld für das dialektische Denken außerhalb von Theologie, Textexegese und Begriffsanalyse. Bis zum Ende des Mittelalters kam es dabei zu einer Vielzahl weiterer Versuche einer naturphilosophisch begründeten bzw. angewendeten Dialektik.

Elemente des dialektischen Denkens in der Geschichtsphilosophie Ottos von Freising Otto von Freising (um 1111–1158), der Onkel von Kaiser Friedrich I., kombinierte in seinen Geschichtswerken („Historia de duabus civitatibus“, „Gesta Friderici“) eine historiographische Beschreibung und Berichterstattung mit der philosophischen Reflexion. Im Rahmen der von ihm so genannten „menschlichen Philosophie“ („humana philosophia“)252 macht er deutlich, in welcher Hinsicht Gegensätze eine Einheit bilden, relativiert werden können und miteinander kompatibel sind. Ein solcher theoretischer Ansatz dient ihm zur Erklärung der konkreten Wirklichkeit als einer in sich komplex verfaßten, differenzierten Gesamtheit aus teils aufeinander bezogenen, teils einander ausschließenden Gegensätzen. Dazu greift er auf den Begriff des „Geborenen“ („nativum“) zurück. Mit ihm faßt er die komplexe Wirklichkeit im Unterschied und im Gegensatz zu dem göttlichen Ursprung. Dieses „Geborene“ sei prinzipiell ein „Komplexes“ („compositum“). Die höchste Komplexität komme wiederum dem Menschen zu, stellt er bei der Erläuterung seiner Ontologie des „Geborenen“ fest253. Otto macht deutlich, daß er die Komplexität des „Geborenen“ keineswegs nur als eine Aggregation von selbständigen Einheiten, sondern als die „Verknüpfung von Gegensätzlichem“ („concretio oppositorum“, „iunctura oppositorum“, „compactio oppositorum“, „compactio rerum“) verstehen will254. Damit hat er eine ihrem Grundansatz nach dialektische Ontologie seinen weiteren Reflexionen über die Welt, speziell die Welt des Menschen, zugrundegelegt. Eine wesentliche theoretische Voraussetzung für diesen Ansatz war die Lehre, daß prinzipiell in allem konkreten Seienden zwischen dem konkreten Existierenden („id quod est“) und dessen formbestimmtem Sein („esse“) zu trennen ist, welche beide aber nur zugleich und aufeinander verweisend in einer „Verknüpfung von Gegensätzlichem“ wirklich sein können255. Diese Lehre ging auf Boëthius und Gilbert 252

Vgl. Otto von Freising und Rahewin, Gesta Friderici seu rectius Cronica, ed. F.-J. Schmale, lib. I, cap. 66, p. 270, v. 9. 253 Ibid., lib. I, cap. 5, p. 138, v. 26–27: „Omne igitur nativum compositum“; ebd., lib. I, cap. 5, p. 140, v. 1–2: „Inter omnia vero nativa nichil magis compositum invenitur quam homo …“. 254 Vgl. ibid., lib. I, cap. 5, p. 136, v. 31–32; lib. I, cap. 5, p. 140, v. 3–4; lib. IV, cap. 14, p. 544, v. 27.– 255 Vgl. ibid., lib. I, cap. 5, p. 136, v. 26–32.

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ANFÄNGE DIALEKTISCHEN DENKENS IN DER MITTELALTERLICHEN PHILOSOPHIE

von Poitiers zurück. Eine solche ontologische Fixierung der dialektischen Einheit von Gegensätzlichem ermöglicht es, das konkrete Seiende als eine dialektische DingEigenschafts-Einheit zu fassen; es dabei auf Grund ähnlicher Eigenschaften in seiner prinzipiellen Vergleichbarkeit („conformitas“) zu anderem Seienden zu begreifen, oder aber es in seiner je spezifischen Eigenart und Besonderheit gegenüber anderem Seienden durch einen bestimmten ihm eigenen Verbund von Akzidentien („concretum“) herauszuheben256. Das Ding und seine Eigenschaften, seine Identität und seine Differenz, seine Allgemeinheit und seine Besonderheit bilden damit als fundamentale Reflexionsbestimmungen von Wirklichkeit miteinander eine unauflösliche dialektische Einheit. Otto von Freising bediente sich zum genaueren Verständnis der Eigenart des Menschen auch der These von der Zusammensetzung der natürlichen Körper, einschließlich des menschlichen Körpers, aus zueinander entgegengesetzten Elementen257. In Verbindung mit dem Befund, daß die „Formen“, d.h. die charakteristischen Eigenschaften des Menschen, einem ständigen Entstehen und Vergehen unterliegen, gelangt er zur These, daß solche hochkomplexen Gebilde einer unausweichlichen Selbstauflösung durch Segregation ihrer konstitutiven widerstreitenden Bestandteile wie auch auf Grund der allgemeinen „Veränderlichkeit der Natur“ („mutabilitas naturae“) unterliegen258. Von dieser naturphilosophischen Erklärung der konkreten Wirklichkeit des Menschen leitet Otto zu dem allgemeinen Grundsatz über, die Zustände von Reife und Stabilität immer im Hinblick auf die Möglichkeit ihrer Ablösung durch Zustände des Verfalls und der Instabilität zu verstehen. Diesem Prinzip folgten sowohl die Mediziner als auch die „Ärzte der Seele“259. Damit hat Otto seinen dialektischen Ansatz für das Verständnis von konkreter Wirklichkeit auf das Niveau einer dialektischen Prozeßanalyse gehoben, welche den zyklischen Phasenwechsel im Dasein lebendiger Organismen als Folge von zueinander entgegengesetzten und gleichfalls aufeinander verweisenden Reifestadien begreift. Doch nicht nur im ontologischen und naturphilosophischen, sondern auch im ethischen Sinn erläutert Otto seinen dialektischen Erklärungsansatz für die Komplexität und Wandelbarkeit menschlichen Daseins. Denn scheinbar eindeutige Sachverhälte und Phänomene erhalten je nach ihrem Kontext entgegengesetzte Bewertungen. So verweist er anhand von Beispielen auf die Relativität des Gegensatzes von „Gut“ und „Schlecht“ im Sinne des „Nützlichen“ und „Schädlichen“. In Abhängigkeit von konkreten Situationen, den Umständen und Folgen und nicht zuletzt von den konkreten ausführenden und betroffenen Akteuren von Handlungen lassen sich ein und dieselben 256

Ibid., lib. I, cap. 5, p. 138, v. 26–30: „Omne igitur nativum compositum. De conformitate et concretione supra probatum est, quod videlicet ex substantiali similitudine conforme, ex eo quod subiectum informet multitudinemque post se accidentium trahat, concretum dicatur.“ 257 Vgl. ibid., lib. I, cap. 5, p. 140, v. 10–15. 258 Vgl. ibid., lib. I, cap. 5, p. 140, v. 24. 259 Vgl. ibid., lib. I, cap. 5, p. 140, v. 24–p. 142, v. 3.

DIALEKTISCHES DENKEN IN DER GESCHICHTSPHILOSOPHIE OTTOS VON FREISING

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Handlungen durchaus sowohl als „nützlich“ als auch als „nicht nützlich“ begreifen. Insofern sei präzise zwischen einem „schlechthin Nützlichen“ („utile simpliciter“) und einem „relativ Nützlichen“ („utile secundum quid“) zu unterscheiden, hält Otto fest260. Alle diese philosophischen Reflexionen lassen sich ihrem historischen Ursprung nach bis in die Zeiten Heraklits und des Hippokrates zurückverfolgen. Die dialektischen Grundsätze vom allgemeinen Fließen der Dinge und Erscheinungen, von der Relativität von Entgegensetzungen, von der Reziprozität des Werdens und Vergehens und des Umschlagens von Gegensätzen ineinander, wenn sie zu einem Extrem geführt werden, scheinen hier auf. Gerade auch in der geschichtlichen Raum-Zeit begegnet nun Otto dieser Wandelbarkeit, Relativität und Unbeständigkeit als der Grundsignatur des Natürlichen anhand vieler belegbarer Beobachtungen, Daten und Fakten. Insofern kommen seine philosophischen Reflexionen auch in der Historiographie anhand zahlreicher Beispiele zum Ausdruck. So verweist er mit Bezug auf Reiche, Territorien und Personen auf das Umschlagen von Macht und Stabilität in Wirrnisse und Niedergang, auf die permanente territoriale Verlagerung von Machtzentren und auf das Symbol des „Rads“ als einer Metapher für die Unaufhörlichkeit des Wechsels zwischen Glück und Unglück im Verlauf eines zyklischen Prozesses261. So versteht er die Geschichtsschreibung ganz bewußt auch als ein Mittel dafür, „die Unbeständigkeit und Hinfälligkeit alles Irdischen“ („rerum volubilitas ac defectus“) aufzuzeigen262. Die Geschichtsschreibung dient ihm insgesamt dazu, „die Unbeständigkeit der irdischen Zustände aufzuzeigen, und durch diese Wandlung des Reiches werden wir als durch ein vollgültiges Zeugnis auf die Unwandelbarkeit des himmlischen Reiches hingewiesen“263. In dieser Sentenz macht Otto auf den metaphysischen theologischen Rahmen seines historischen und philosophischen Denkens aufmerksam. Dementsprechend beherbergen für ihn die Welt des Menschen, die Geschichte und die Natur Gegensätzlichkeiten, Scheinstabilitäten und generell eine Wandelbarkeit, welche dem göttlichen Ursprung alles Seins mit seiner Einheitlichkeit, wirklichen Beständigkeit und Unwandelbarkeit entgegengesetzt sind und zugleich auf diesen verweisen. Das dialektische Argumentieren Ottos mit der Einheit, der Kompatibilität und der Relativität von Gegensätzen in der Welt des Menschen hat sein Komplement in der metaphysischen Lehre von dem göttlichen Absolutum als Ausgangs- und Endpunkt alles Daseins. Allerdings hat er mit dem „Gesetz der Lebenskurve“, das analog für natürliche und historisch-politische Zyklen auf der Basis der Theorie vom „Ge260

Vgl. ibid., lib. I, cap. 66, p. 268, v. 11–p. 270, v. 20. Vgl. Otto von Freising, Chronica sive Historia de duabus civitatibus, ed. A. Hofmeister, W. Lammers, lib. II, cap. 50, p. 202, v. 1–4; ibid., lib. V, cap. 36, p. 426–428; ders., Gesta Friderici seu rectius Cronica, lib. III, cap, 49, p. 492, v. 13–17. 262 Vgl. Otto von Freising, Historia de duabus civitatibus, lib. I, prol., p. 14, v. 5–6. 263 Ibid., lib. V, cap. 36, p. 428, v. 23–26: „… nos, qui ad ostendendas mutationes rerum res gestas scribimus, hac regni mutatione tanquam sufficienti argumento ad regni caelestis immutabilitatem missi …“. 261

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borenen“ („nativum“) zur Geltung kommen sollte, einen wichtigen Beitrag zur Fortentwicklung des geschichtsphilosophischen Denkens im Mittelalter geleistet264. Otto von Freising folgte mit seiner Lehre vom „Geborenen“ auch den Intentionen des Theologen und Philosophen Gilbert von Poitiers (ca. 1080–1154). Mit dieser Lehre sollte auch eine Brücke zwischen dem göttlichen Absolutum und Urspünglichen auf der einen Seite und dem Wandelbaren und konkret Wirklichen auf der anderen geschaffen werden. Insofern ließen sich auch die Philosophie und Geschichtsschreibung Ottos mit ihrem theologischen Rahmen auf der Basis der Lehre vom „Geborenen“ verknüpfen. In der Lehre Gilberts haben die sogenannten „geborenen Formen“ („formae nativae“), welche die göttlichen Ursprungsformen auf die konkreten materiellen Dinge projizierten und zugleich in diesen präsent waren, eine solche Vermittlungsfunktion265. Im Kontext seines Geschichtswerks sieht Otto die „geborenen Formen“ wegen ihrer relativen Selbständigkeit, ihrer wechselseitigen Rekombinationsfähigkeit und Unstetheit offenbar als Hauptauslöser der Unruhe in der Welt. Denn in diesem Sinn spricht er von den „Formen“, welche in dem „Geborenen“ wirken266. Die in dem „Geborenen“ vorhandenen „Formen“ grenzt er wiederum hinsichtlich ihres Ursprungs von der innertrinitarischen „theologischen Zeugung und Geburt“ ab, bezeichnet sie aber doppelt als „Gewordenes“ und „Geschaffenes“, um damit sowohl den philosophischen Gedanken des Werdens als auch den theologischen Gedanken der Schöpfung auszudrücken, dem das „Geborene“ seine Differenz zum göttlichen Ursprung verdankt267. Unter Umgehung des neuplatonischen Emanationsparadigmas schafft Otto mit der von ihm adaptierten Lehre von dem „Geborenen“ und dessen Formen eine Vermittlungssphäre zwischen dem Schöpfergott und der konkreten Wirklichkeit mit deren aufgezeigten Charakteristiken. Insofern enthält auch die philosophische Basis von Ottos geschichtsphilosophischen Spekulationen und Beobachtungen ein Stück Vermittlungsdialektik, wodurch der kontradiktorische Gegensatz zwischen Göttlichem und Weltlichem zu einem relativierten und vermittelten Gegensatz zwischen Ursprünglichem und Gewordenem gewandelt werden kann.

264

Vgl. L. Sturlese, Die deutsche Philosophie im Mittelalter, S. 171–178. Vgl. dazu Ioannis Saresberiensis Metalogicon, ed. J. B. Hall, lib. II, cap. 17, p. 83, v. 86–88; lib. IV, cap. 35, p. 173, v. 32–34. 266 Otto von Freising, Gesta Friderici, lib. I, cap. 5, p. 140, v. 16–20: „Accedit ad hoc, quod non solum forma, que substantiale est esse, ex formis est composita, sed quod ipse forme componentes, nunc nascentes, nunc occidentes, neque umquam in existendi conditione constanti et rata perseverantes subiectum quiescere non permittunt.“ 267 Vgl. ibid., lib. I, cap. 5, p. 136, v. 19–22: „Non enim hic ad effandum de theologia et ineffabili generatione seu nativitate attolimur, sed tantum de ea, que a philosophis genitura, a nobis factura seu creatura dici solet, disputationem instituimus.“ 265

III. Kapitel: Formen, Inhalte und Tendenzen des dialektischen Denkens im Hochmittelalter

Der Zeitraum von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert ist in der mittelalterlichen Philosophie u.a. durch die intensive Rezeption und Diskussion der Schriften des Aristoteles gekennzeichnet. Eine herausragende Rolle spielte dabei der arabische Philosoph und Aristoteles-Kommentator Ibn Ruschd (Averroës). Dieser Philosoph hat die Dialektik als eine Methode, einen bestimmten kritischen Stil des Denkens und auch in der Form bestimmter theoretischer Auffassungen genutzt. Er wendet sie in der Naturphilosophie, der Metaphysik, der Logik und nicht zuletzt auch auf theologische Fragestellungen an. Wie schon andere arabische Philosophen vor ihm rezipierte er das Verständnis von Dialektik als Kunst des Argumentierens und Disputierens nach dem Vorbild der „Topik“ des Aristoteles. Solche Fragen wie die richtige Fassung des Verhältnisses von religiöser Glaubenstradition und philosophischer Reflexion, des Verhältnisses von Meinungsbildung und Wahrheitserkenntnis, der Bestimmung des Wesens der Aristotelischen „Ersten Materie“, der Erklärung von qualitativer Veränderung in der Natur, des Wesens der „mixis“ als dauerhafter Verbindung von verschiedenen Dingen zu einer Einheit und nicht zuletzt das Problem des Verhältnisses zwischen dem potentiellen und dem aktualen Dasein hat er mit den Methoden und Grundsätzen der Dialektik der Vermittlung zwischen den Gegenteilen diskutiert. Deutlich dominiert auch bei den Vertretern der lateinischen Scholastik aus dem 13. Jahrhundert die aristotelische Konzeption einer vermittelnden Inbezugsetzung von Gegenteilen als Basis ihres Daseins. Andererseits reflektieren die Philosophen auch verstärkt die Dialektik der Negativität, indem sie vom Dasein des Nicht-Seins als eines konkret bestimmten Andersseins bzw. In-Möglichkeit-Seins in Differenz sowohl zum abstrakten Nicht-Sein als auch zum positiv bestimmten Seienden ausgehen. Nicht wenige übernehmen das Konzept einer „negativen Theologie“, um einen dialektischen Weg zur intellektuellen Wesensbestimmung Gottes aufzuzeigen. Unverkennbar sind auch die Anleihen bei der neuplatonischen Dialektik im Rahmen der Theologie und Kosmologie bei zahlreichen Philosophen. Dies wurde u .a. durch den steigenden Einfluß der Schriften des Pseudo-Dionysius Areopagita und des „Liber de causis“ in der lateinischen Scholastik dieser Zeit ausgelöst. Auffallend ist des weiteren die Zunahme an erkenntnis-

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DIALEKTISCHES DENKEN IM HOCHMITTELALTER

theoretischen Reflexionen in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts. Als prominente Autoren, welche eine dialektische Erklärung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses im Erkenntnisprozeß versuchten, sind namentlich Thomas von Aquino, Dietrich von Freiberg und Raimundus Lullus zu nennen. Die Naturphilosophie ist ebenso ein Anwendungsfeld der Dialektik, das sich besonderer Aufmerksamkeit erfreut, wie die Beispiele des Averroës, Albertus Magnus oder des Raimundus Lullus zeigen. Hinsichtlich des auch bei Aristoteles selbst nicht ganz eindeutig gefaßten Verhältnisses von Dialektik und Metaphysik im Sinn von Ontologie und universeller Prinzipienwissenschaft gab es divergierende Auffassungen. Traten einige für eine möglichst strikte Abgrenzung beider Gebiete ein, befürworteten andere eine weitgehende Annäherung beider. Insbesondere die seit dem 13. Jahrhundert immer mehr in den Vordergrund tretende Theorie von den Transzendentalien bot Gelegenheit, dialektische Elemente in die Ontologie einzufügen. Sowohl die Transzendentalienlehre des Thomas von Aquino als auch der Diskurs des Johannes Duns Scotus über das Wesen des real Möglichen sind konkrete Beispiele für die Ausweitung des Anwendungsbereichs der Dialektik auch auf das Feld der Ontologie. Wie schon zuvor bei den arabischen Aristotelikern läßt sich auch bei den lateinischen Aristotelikern eine sprunghafte gestiegene Aufmerksamkeit für die „Topik“ des Aristoteles als ein dialektisches Standardwerk feststellen, in welchem sowohl eine verallgemeinerte Charakterisierung der Dialektik als spezifischer Methodik mit philosophischem Anspruch als auch deren konkrete Anwendung als Übungs-, Untersuchungs-, Argumentations- und Disputationsmethode auf unterschiedlichen Problemfeldern demonstriert wird. Das Beispiel des Kommentars des Boëthius von Dacien zu dieser Schrift zeigt dies deutlich. Sein Insistieren auf eine objektive Absicherung von Wahrscheinlichkeiten als Basis des dialektischen Argumentierens, welche die bei Aristoteles noch im Vordergrund stehende Intersubjektivität als hinreichender Basis der Annehmbarkeit von Prämissen übertrifft, deutet die Selbständigkeit der scholastischen Aristoteles-Kommentatoren im Umgang mit dem Erbe an. Gleichzeitig macht diese Überlegung die ganze Problematik des Verhältnisses von Dialektik und Wirklichkeitserkenntnis bzw. von Dialektik und Philosophie in jener Zeit deutlich. Allen Autoren, denen sich das Kapitel etwas eingehender widmen wird, kann eine gewisse Originalität in ihren philosophischen Denkansätzen bescheinigt werden. Das 13. Jahrhundert war in der lateinischen Scholastik eine Zeit des intensiven und lebendigen Meinungsstreits. Zur Herausbildung von philosophischen Schulen kam es höchstens in ersten schwachen Ansätzen. Die Lehrmeinungen befanden sich im Fluß, ohne konturen- und prinzipienlos zu sein. Nicht zuletzt war dies der Praxis der Disputationen geschuldet, die zum festen Bestandteil der Übungen, des Unterrichts, des Prüfens und Forschens an den sogenannten „Artistenfakultäten“, d.h. den philosophischen Fakultäten, geworden waren. Insbesondere die Methode der Pro-Contra-Argumentation in der sogenannten „Quaestio“ und die „Ars obligatoria“ als Form der dialogischen Logik haben als dialektische Methoden im 13. und im anschließenden 14. Jahrhundert wesentlich zur Dynamik des geistigen Lebens an den Universitäten beigetragen. Selbst die

DIALEKTISCHE ANSÄTZE IM DENKEN DES IBN RUSCHD (AVERRROËS)

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Methode der Darstellung in den zahlreichen Schriften der Philosophen und Theologen wurde immer mehr von der „Quaestio“ dominiert. Damit wurde die Dialektik zu einer festen Institution in der mittelalterlichen Philosophie. Die Institutionalisierung und die Formalisierung der Dialektik als einer Argumentations- und Disputationsmethode ließ sie nach wie vor auch in einem engen Kontakt mit dem gesamten Gebiet der Logik stehen. Wie schon in der davorliegenden Periode waren auch im Sprachgebrauch dieses Zeitabschnitts oftmals „Dialektik“ und „Logik“ Synonyma. Auf der anderen Seite gab es eine ziemlich klare Gegenüberstellung von Dialektik und Rhetorik bzw. Dialektik und Analytik. Denn das Spezifikum der Dialektik als Methode wurde gerade in der Schlußform des sogenannten „dialektischen Syllogismus“ oder in der Kunst gesehen, die allgemeinen philosophischen Geltungsgründe der Argumentationen in Gestalt der „topoi“ („loci“) aufzufinden. Die besondere Rolle der Disputationen im Leben der Universitäten tat ein Übriges, um die Nähe von Dialektik und Logik einerseits und die Differenz der Dialektik gegenüber der Rhetorik als Kunst des überzeugenden Redens und der Analytik im Sinne einer Theorie des strengen beweiskräftigen Schließens plausibel zu machen.

Dialektische Ansätze im Denken des Ibn Ruschd (Averrroës) Im 12. Jahrhundert wirkte auf der iberischen Halbinsel der arabische Philosoph Ibn Ruschd (1126–1198), der unter dem Namen „Averroës“ bei den lateinischen Philosophen des Mittelalters seit dem 13. Jahrhundert zur bedeutendsten Autorität der arabischen Aristoteles-Interpretation wurde. In seinen Kommentaren zum Werk des Aristoteles, aber auch in anderen Schriften hat er sich wiederholt zur Dialektik geäußert. Er verstand darunter vor allem eine Argumentations- und Disputationsmethode von allgemeiner Bedeutung sowohl für die Philosophie als auch die Theologie. Zu deren bewußter Anwendung sind nach seiner Meinung Menschen mit bestimmten intellektuellen Begabungen fähig. Aber auch das beharrliche Einüben bestimmter argumentativer Methoden befähige zu ihrer Anwendung. Ein dialektisches Vorgehen hatte nach seiner Meinung die Erkenntnis der Wahrheit zum Ziel. Der argumentative Wert der dafür angewandten Methoden sollte zwischen dem Wert einer nur rhetorischen Argumentationsweise im Rahmen des Normalverstandes der Menschen und dem Wert des strengen Beweisens im Rahmen einer Philosophie positioniert sein, welche nur einer exklusiven Minderheit zur Verfügung stand. Mit einer solchen Kennzeichnung ihrer spezifischen Wertigkeit war die Dialektik für ihn gerade auch ein legitimes Verfahren der Theologie, solange dabei von dieser strikt die jeweilige intellektuelle Kompetenz der Adressaten einer dialektischen Argumentation beachtet wurde268. Denn trotz ihres Allgemeinheitsanspruchs sollte diese Methode nur unter bestimmten Voraussetzungen in der Theologie Anwendung finden. Überall, wo in theologischen Argumentationen entwe268

Vgl. Averroës, Harmonie der Religion und Philosophie, übers. v. M. J. Müller, S. 20–22.

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der probable Prämissen ohne direkte Evidenz oder aber Schlußsätze mit bildhafter Ausdrucksweise auftauchen, konnte die Dialektik als Interpretationshilfe bei der Suche nach der Wahrheit eingesetzt werden. Und dies sollte in der Weise erfolgen, daß sie entweder die probablen Prämissen interpretiert, ohne die aus ihnen folgenden evidenten Schlüsse zu interpretieren, oder in der Weise, daß sie die bildhaften Schlußsätze von Argumentationen interpretiert, ohne die vorangegangenen Prämissen zu interpretieren. Wenn aber die Prämissen und die Schlußsätze entweder beide evident oder beide nicht evident sind, dann soll es nach Averroës den Theologen verwehrt sein, die Dialektik als Interpretationshilfe zu nutzen. Denn er sah im entgegengesetzten Fall die akute Gefahr des „Unglaubens“ für Interpreten und auch die Hörer einer Interpretation gegeben269. Er hielt es wiederum für einen ausgesprochenen Mißbrauch der Dialektik, wenn Theologen einen Widerspruch zwischen dem Wortlaut religiöser Offenbarungen und ihrer Interpretation konstatieren und diese Feststellung auch noch öffentlich machen270. Averroës akzeptierte also die Dialektik in ihrer Funktion als Kunst der Widerspruchsbeseitigung bzw. -verhinderung im Kontext theologischer Interpretationen von Glaubensaussagen. Ganz offensichtlich ging es ihm um die Sicherung der Wahrheit und des Konsenses unter den Gläubigen. Vielen von ihm kritisierten Theologen des Islam warf er vor, stattdessen auf Zwistigkeiten und die Erzeugung von Zweifeln aus zu sein. Die Dialektik sollte und durfte also für ihn keine Eristik werden, sondern durch interpretierende Klarstellungen und Reflexionen von nicht-evidenten Argumentationsteilen eine hinreichende Klarheit auf der Ebene sprachlichen Sinnverstehens ermöglichen, ohne dabei aber den Anspruch auf eine strenge Beweisführung nach den Normen der aristotelischen Wissenschaftstheorie erheben zu dürfen. Wenn es nun um das Verhältnis zwischen der islamischen Theologie und der Philosophie, speziell der aristotelisch geprägten, ging, so wollte der arabische Philosoph auch hier einen Konsens erreichen. Doch diesem sollte ein Diskurs vorangehen, in dem auch alternative Denkangebote nicht von vornherein aus religiösen Gründen ausgegrenzt werden durften. In diesem Sinn verwahrte er sich heftig gegen den Vorwurf des berühmten islamischen Theologen al-Ghazali (1058–1111), daß die aristotelisch geprägten Philosophen mit ihrer These von der Ewigkeit der Welt des „Unglaubens“ durch einen Bruch des allgemeinen Konsenses unter den Gläubigen schuldig seien. Stattdessen verlangte er eine genaue Begriffs- und Textanalyse der philosophischen und religiösen Überlieferung hinsichtlich des genauen Wortlautes, der inneren Folgerichtigkeit der Argumentationen und vor allem hinsichtlich einer Kompatibilität beider miteinander. Im Ergebnis sollten der Grad der Übereinstimmung und der Differenz zwischen beiden festgestellt werden271. Mit dieser Art, bestehende Konflikte zu eliminieren und eine Harmonie zwischen unter269

Ibid., S. 21–22. Ibid., S. 22–25; vgl. Averroës, Spekulative Dogmatik. Die Erklärung der Beweismethoden hinsichtlich der Glaubensvorstellungen der Religion, übers. v. M. J. Müller, S. 74. 271 Averroës, Harmonie der Religion und Philosophie, S. 12–14. 270

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schiedlichen Denkweisen zu erzeugen, hat er gegenüber der dogmatischen islamischen Theologie oder auch entgegen dem skeptischen Denken eines al-Ghazali einen alternativen Denkstil an den Tag gelegt. Dieser läßt sich als ein vermittelnd-dialektischer kennzeichnen. Am Schluß seiner Abhandlung über die Harmonie von Religion und Philosophie stellte er programmatisch fest, daß Gott selbst „die große Menge auf einen mittleren Weg zu seiner Kenntnis berufen (hat), der sich so hoch über die Niedrigkeit des Autoritätsmenschen erhebt, als er unter den Eristiken der Dogmatiker steht …“272. Die Dialektik als hermeneutische Methode der Widerspruchsbeseitigung bzw. -vermeidung im Rahmen probabler Aussagen und Argumentationen und als ein konzilianter Denkstil der Vermittlung zwischen der religiösen Tradition und der philosophischen Argumentation wurde von Averroës auch in der Schrift „Tahafut Al-Tahafut“ („Die Inkohärenz der Inkohärenz“) angewandt, seiner berühmten Verteidigung der Philosophie gegen die Polemik von al-Ghazali. Im Interesse dieses Anliegens kritisierte er aber auch heftig die dialektische Modalontologie Ibn Sinas als eine unbewiesene Hypothese273. Speziell ging er auf die Polemik zwischen dem Kreationismus und den Anhängern der Ewigkeit der Welt ein und versuchte zwischen beiden Extremen mittels der These eines durch Gott mitbewirkten „ewigen Werdens“ der Welt einen vermittelnden dritten Weg einzuschlagen274. Averroës wandte in einigen seiner philosophisch-theologischen Schriften die Dialektik offenbar als eine Methode und einen speziellen Denkstil an, deren kritische Spitze gegen einen unreflektierten Autoritätsglauben und auch gegen eristische Methoden in der islamischen Theologie gerichtet war. Obwohl er mit dieser Methode und diesem Denkstil einen höheren Wahrheitsanspruch einlösen wollte als mit den Mitteln der Rhetorik, sah er trotzdem in der Methode des strengen Beweises eine deutlich überlegene Weise der Wahrheitserkenntnis in der Theologie und der Philosophie. Dies bekundete er auch in seinen zahlreichen Kommentaren zu den Schriften des Aristoteles. Insofern kann man ihm eine enge Affinität zum Verständnis von Dialektik als einer Methode der Wahrscheinlichkeitslogik unterstellen. Ähnlich wie Aristoteles hat auch Averroës der Dialektik ein breites Anwendungsfeld im Rahmen von Logik, Naturphilosophie und in bestimmter Hinsicht auch in der Metaphysik zugebilligt. Viel stärker als in seinen philosophisch-theologischen Schriften wies er in seinen Aristoteles-Kommentaren auf die heuristische Funktion des methodischen Zweifels und des Disputierens im Interesse der Wahrheitsfindung hin. So heißt es an einer Stelle seines Kommentars zu Aristoteles’ „Metaphysik“: „… da die Metaphysik genauso wie die Dialektik auf eine umfassende Weise die Wahrheit betrachtet, ist darin auch eine allgemeine Untersuchung über die Wahrheit als ein Problem einbezogen“275. 272

Ibid., S. 27–28. Averroës, Tahafut Al-Tahafut, trans. by S. Van den Bergh, Vol. I, n. 154, S. 91; n. 246, S. 146–147. 274 Ibid., n. 168–172, S. 100–104. 275 Averroës, In Aristotelis Metaphysica, lib. I, comm. 1, f. 58r.–58v. 273

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Wenig später heißt es dort: „Bevor nicht eine eventuell auftretende Schwierigkeit erkannt worden ist, kann niemand etwas erkennen. Denn sonst kann jemand einem Menschen verglichen werden, der zwar seinen Füßen eine richtige Richtung gibt, aber nicht weiß, wo sie sich befinden. Ein solcher Mensch setzt sich im Fortschreiten zwar in Bewegung, doch er weiß nicht, wohin er geht. Ebenso erfaßt auch jemand, der nach der Wahrheit sucht und die Wahrheit(sbedingungen) nicht zu bestimmen weiß, nicht seinen eventuellen Fund. Demzufolge muß zunächst die Schwierigkeit aller aufgeworfenen Probleme durch genaue Prüfung abgewogen werden, um das Ziel der Fragestellung nicht im Unklaren zu belassen. Wer also die Schwierigkeit der Problemstellung nicht untersucht hat, hat kein genaues Ziel. Auch wenn jemand über zwei gegnerische Parteien ein Urteil fällen will, muß er zunächst die Behauptungen von jeder Seite kennenlernen, d.h. also die bejahenden genauso wie die verneinenden, bevor er ein Urteil abgibt. Dies wiederum ist nur mittels vorangegangener Fragestellungen einschließlich der in ihnen enthaltenen Unklarheiten möglich. Folglich müssen alle, die die Wahrheit wissen möchten, zuerst die mit ihr verbundenen schwierigen Fragen stellen.“276. Die Dialektik, um deren Eigenart im Kontext der aristotelischen „Metaphysik“ es hier geht, wird damit auf den methodischen Zweifel als eines unverzichtbaren Glieds der Wahrheitssuche verwiesen und als Untersuchungsmethode in der Philosophie angewendet. Averroës billigt der Dialektik in ihrer Funktion einer bestimmten Argumentationsweise darüber hinaus auch einen speziellen Wissensstatus zu. Dieser besteht in einem reflektierten Wahrscheinlichkeitswissen, das auf dem Weg eines „Wahrscheinlichkeitssyllogismus“ gewonnen werden kann. Zwischen dem Wissen, das ein Metaphysiker mittels eines strengen Beweises erlangt, und dem Wahrscheinlichkeitswissen eines Dialektikers sollte es ihm zufolge lediglich einen graduellen Unterschied geben277. Nicht also nur eine Meinung zu dem, was sich sagen läßt, sondern ein Wissen von dem, was wirklich ist, sollte den Dialektiker im Kontext der philosophischen Argumentation auszeichnen. Dies bedeutete eine deutliche Erhöhung seiner kognitiven Kompetenz. Die vornehmste Aufgabe der Dialektik sah Averroës in der Unterstützung sowohl des philosophischen Denkens als auch der Gespräche in „der großen Menge“. Eine solche 276

Ibid., f. 58 v.: „Nemo potest aliquid cognoscere, antequam prius difficultatem sibi contingentem cognoscat: aliter erit similis illi, qui pedes suos habet in viam rectam, nihilominus locum eorum ignorat, et ideo deambulans movetur, sed nescit quo vadat: et similiter ille, qui veritatem quaerit, et veritatem ignoret, nescit quid inveniat: et ideo dubitandum est prius de difficultate omnium quaestionum, ut finis earum non sit ignotus; quoniam finis earum [im Text: eorum], qui non sunt perscrutati de difficillimis quaestionibus, est ignotus: Et similiter, si aliquis iudicare inter duos adversarios vult, primo oportet cognoscere propositiones partis utriusque, scilicet affirmativas, et negativas, antequam iudicium proferat: et hoc non fit nisi praeponuntur quaestiones, ac earum [im Text: eorum] difficultates: quare necesse est omnibus volentibus scire veritatem, primo quaestiones difficiles circa eam proponere.“ 277 Averroës, In Aristotelis Metaphysica, lib. IV, comm. 5, f. 95 r.: „… logicus autem convenit cum philosopho, quoniam ambo vere sciunt, et sciunt se scire: ille tamen per syllogismum probabilem scit, iste vero per veram demonstrationem: et ideo verius de ente scit.“

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Unterstützung wiederum mußte sowohl nach Aristoteles als auch nach Averroës damit beginnen, nützliche von überflüssigen oder schädlichen Fragestellungen zu unterscheiden. Hinsichtlich ihres philosophischen Anwendungsbereichs sollte die Dialektik allen Bestandteilen der Philosophie dienen, d.h. also der „theoretischen“, der „praktischen“ Philosophie und auch der Logik. Darin war auch die Erörterung einer solchen weltanschaulichen Frage wie der nach einer Schöpfung der Welt eingeschlossen278. Die kritisch-prüfende propädeutische Funktion von Dialektik richtet Averroës z.B. gegen Fragestellungen, die bestimmte Vertreter der dogmatischen islamischen Theologie seiner Zeit aufwarfen, wie z.B. ob es eine Wahrheit über sinnlich-wahrnehmbare Gegenstände gibt, oder ob es zeitlich konstante Merkmalseigenschaften (Akzidentien) gäbe. Derartige Fragestellungen lehnt er als schädlich für die „theoretische Philosophie“ ab. Gewisse Grundbedingungen von objektiver Wissenschaft sollten nicht mehr problematisierbar sein, auch nicht in einem dialektischen oder skeptischen Sinn279. Neben als falsch erachteten Fragestellungen sollten aber auch Problematisierungen von evidenten Einsichten oder sehr schwer lösbare Problemstellungen außerhalb des Anwendungsbereichs der Dialektik bleiben, wie Averroës gemeinsam mit Aristoteles hervorhebt280. Als Kunst des Sich-Unterredens nach bestimmten Regeln und Voraussetzungen also kam der Dialektik eine weitere wichtige Rolle zu. Und aus der dabei erlangten Fertigkeit zum richtigen Fragen und Antworten sollte ein Dialektiker auch gerade einem Vertreter der streng beweisenden Wissenschaft von Nutzen sein, wie er am Schluß seines „Topik“-Kommentars hervorhebt281. Neben den ausführlichen Betrachtungen der Dialektik in ihrem Status als einer universell anwendbaren Methode und neben ihrer Anwendung als ein bestimmter Denkstil hat Averroës die Dialektik auch als eine Theorie gebraucht, welche die Relativität bzw. Einheit von Gegensätzen aufzeigt. Dies läßt sich einigen seiner Reflexionen zur aristotelischen Metaphysik und der Naturphilosophie entnehmen. So erörterte er z.B. den Aristotelischen Begriff der „Ersten Materie“. Dieser Grenzbegriff der aristotelischen Ontologie sollte das natürliche Sein in seiner maximalen Unbestimmtheit kennzeichnen, ohne dieses mit einem bestimmten Gegenstand oder etwa mit dem abstrakten „Nichts“ gleichzusetzen. Vielmehr war damit eine universelle Potenz zur Formbarkeit ohne eine definierbare eigene Form intendiert. Dieser Intention schloß sich Averroës in seinen Kommentaren von Aristoteles’ Schriften zur Metaphysik und zur Naturphilosophie an. Er identifizierte die „Erste Materie“ als etwas, was „gewissermaßen in der 278

Vgl. Averroës, Media expositio in Aristotelis Topica, lib. I, cap. 9, f. 185r.–185v. Vgl. ibid., lib. I, cap. 9, f. 185r.–185v.: „Exemplum noxii in scientias theoricas est, an sensibilium sit veritas aliqua nec ne? Et an accidentia sint permanentia duobus temporibus, nec ne?, prout scrutantur loquentes nostri aevi.“ 280 Ibid., 185v. 281 Averroës, In Topica, lib. VIII, cap. 6, fol. 272v.–273r.: „Et haec quidem vis non est minima, facit enim dialecticum adipisci potestatem ad interrogationem et ad responsionem. Et viro demonstrativo utilis est multis modis …“ 279

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Mitte zwischen dem Nicht-Sein schlechthin und dem aktualen Sein ist“.282. Die „Erste Materie“ gehört für ihn zum „Seienden“283; sie läßt sich aber auch negativ als ein bestimmtes „Nicht-Sein“ im Sinn eines potentiellen oder „Nicht-aktualen Seins“ kennzeichnen284. Damit repräsentiert die „Erste Materie“ also die dialektische Einheit von Sein und bestimmtem Nicht-Sein in Gestalt des potentiellen Seins. Darüber hinaus stellt sie eine Einheit dar, die der Potenz nach eine Vielheit ist285. Mit einer solchen begrifflichen Fassung von „Materie“ bzw. „Erster Materie“ konnte nicht nur in einem konkreten Fall die Dialektik von „Sein“ und „Nicht-Sein“ bzw. von „Einheit“ und „Vielheit“ aufgezeigt werden, sondern auch verhindert werden, das philosophische Hyle-Prinzip entweder mit einem reinen Mängelstatus oder aber mit dem allgemeinen Substrat von Körperlichkeit gleichzusetzen286. Dieser theoretischen Entscheidung über eines der Grundprinzipien der Metaphysik und Naturphilosophie lag das dialektische Konzept einer „Mitte“ als einer relativierten Einheit von Gegensätzen, welche sich wechselseitig sowohl bedingten als auch ausschlossen, zugrunde. Insofern war Averroës ein aristotelischer Vermittlungsdialektiker. Der arabische Aristoteles-Kommentator demonstrierte auch anhand speziellerer Themen der Naturphilosophie einen dialektischen Erklärungsansatz. In seinen Kommentaren zu Aristoteles’ „Physik“, „Über den Himmel“ und dessen Werk „Über das Werden und Vergehen“ ging er auf solche grundlegenden Themen wie die qualitative Veränderung, die ungleichförmige Bewegung und die „mixis“ (die dauerhafte Verbindung zwischen unterschiedlichen Dingen) ein. Als eine charakteristische Gemeinsamkeit der Beschreibung dieser Phänomene tritt in den Kommentaren der Gedanke der Assoziation oder der Vermittlung von gegensätzlichen Komponenten auf. Bereits Aristoteles hatte in seiner „Physik“ eine sogenannte „Beimischung des Gegenteils“ zur Erklärung von Vorgängen retardierender oder ungleichförmiger Prozesse in der Natur herangezogen287. Averroës legte diesen Gedanken mit der verallgemeinernden Bemerkung aus, daß in „jedem Genus eine Abminderung auf die Beimischung eines Gegenteils zurückzuführen ist“.288. Der Vorgang der „Abminderung“ einer bestimmten Ei282

Averroës, Commentaria in Aristotelis de Physico auditu, lib. I, comm. 70, fol. 32r.: „Deinde dicit et quid est subiectum …, est quasi medium inter non esse simpliciter et esse in actu.“ 283 Ibid., lib. I, comm. 66, fol. 30v.: „Et universaliter materia secundum quod est materia, numeratur in entibus, quod non est in privatione.“ 284 Ibid., lib. V, comm. 7, fol. 171r.: „… Et intelligo per non esse, non esse in actu: quod est esse in potentia: et universaliter non esse quod est proprium primae materiae, non negationem simpliciter.“ 285 Averroës, In Aristotelis Metaphysica, lib. XII, comm. 11, fol. 320r.: „Vult narrare quod quamvis materia prima sit una tamen multa est in potentia et habilitate …“ 286 Vgl. Averroës, Commentaria in Aristotelis de Physico auditu, lib. I, comm. 63, fol. 26v., lib. I, comm. 66, fol. 30v. 287 Aristoteles, Physik, V.4, 229a1–3. 288 Averroës, Commentaria in Aristotelis Physica, lib. V, text. comm. 45, f. 189r.: „… et diminutum in omni genere est diminutum per mixtionem contrarii …“; ibid., lib. V, text. comm. 19, f. 179r.: „… quoniam non fit minus, nisi ex mixtione contrarii …“

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genschaft ist ein Beispiel für einen ungleichförmigen Prozeß. Averroës gelangte deshalb zu der generalisierenden Schlußfolgerung: „eine ungleichförmige Bewegung ist aus konträren Gegensätzen zusammengesetzt“, und zu der These, daß „eine Beimischung [von Gegenteilen] in einem jeden Prozeß möglich ist“.289. Damit wird eine ungleichförmige Bewegung als Assoziation einander entgegengesetzter Komponenten erklärt. Diese Gegensatzassoziation hat den Status einer „mixis“, d.h. eines Mittleren zwischen einer undifferenzierten Einheit und einer Separierung von Gegensätzen. Im Mittleren Kommentar zu Aristoteles’ Schrift „Über das Werden und Vergehen“ äußerte sich Averroës in enger Anlehnung an Aristoteles’ Ausführungen zur „mixis“ als einer inneren Verbindung zwischen unterschiedlichen Komponenten, aus der ein neues Ganzes entsteht. Charakteristisch für eine solche Verbindung ist der Umstand, daß keine der beiden Komponenten in der Verbindung völlig verschwindet und auch nicht unverändert erhalten bleibt, so daß sie also „in der einen Hinsicht bestehen und in einer anderen Hinsicht nicht bestehen“290. Eine „mixis“ besteht genauer dann und dort, erläutert Averroës den Aristotelischen Gedankengang, wann und wo im Ergebnis einer aktiven Einwirkung von etwas auf ein anderes und der Wirkungsaufnahme durch dieses andere (actio-passio-Beziehung) eine „mittlere Qualität“ zwischen den beiden konträren Eingangsqualitäten zustandekommt291. Allerdings muß dafür auch eine weitere Grundbedingung erfüllt sein, d.h. die Einheit der materiellen Basis der so Verbundenen292. Genau so, wie bei einer Einwirkung von einer aktiven Qualität auf eine entgegengesetzte passive eine „mittlere Qualität“ entstehen soll, läßt sich auch ein „mittlerer Zustand“ von zwei Extremen bei einer graduellen Abstufung von konträren qualitativen Eigenschaften herausheben, wie Averroës in seinem Kommentar zur „Physik“ des Aristoteles bemerkt293. Zum Gedanken der Gegensatzassoziation und dem Gedanken der Gegensatzvermittlung kommt damit der Gedanke der graduellen Abstufung von Gegenteilen bis zu einem „mittleren Zustand“ zwischen den Extremalstufen von qualitativen Gegenteilen hinzu. Die „Mischung“ oder die „Beimischung der Gegenteile“ im Ver289

Averroës, Commentaria in Aristotelis Physica, lib. V, text. comm. 45, f. 189r.: „… et diminutum in omni genere est diminutum per mixtionem contrarii; sequitur, ut motus inaequalis sit compositus ex contrariis, et sic non est unus in veritate. Et cum narravit quod motus inaequalis est inaequalis per mixtionem contrarii et mixtio est possibilis in omni motu, secundum quod est motus …“ 290 Averroës, Commentarium Medium in Aristotelis De generatione et corruptione libros, ed. F. H. Fobes, lib. I, text. comm. 83, p. 88: „Cum igitur duo admixta non corrumpuntur, neque unum illorum, neque sunt fixa, oportet ut secundum unum modum sint et secundum alium modum non sint.“ 291 Ibid., lib. I., text. comm. 89, p. 92: „Mixtio autem contingit quando equaliter patiuntur et agunt, ita quod veniat post aliqua qualitas media inter duas contrarietates.“ 292 Ibid., lib. I, text. comm. 87, p. 91: „Dicamus quod res quibus mixtio contingit sunt ea que sunt activa et passiva adinvicem quorum eadem est materia.“ 293 Averroës, Commentaria in Aristotelis Physica, lib. V, text. comm. 6, f. 170v.: „Id est, causa in hoc est, quoniam in medio sunt duo extrema in media dispositione, secundum vero quod in eo inveniuntur duo extrema in media dispositione, secundum hoc utrumque extremum est contrarium simplicibus duobus.“

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ständnis des Averroës läßt entgegengesetzte Prozesse, Formen oder Qualitäten als in einem Bewegungs- oder Wirkungszusammenhang stehende natürliche Komponenten eines Ganzen verstehen. Dieses Ganze steht quasi in der Mitte zwischen einer bloß äußerlichen Zusammensetzung und einer undifferenzierten Einheit. Diese Betrachtungen des Averroës gehören in den Kontext einer naturphilosophischen Aristotelischen Vermittlungsdialektik. Diese kann bestimmte Bewegungsformen, Bewegungszustände, Verbindungsarten und graduelle Abstufungen in ein Gesamtkonzept von der Natur einordnen, ohne bei den „reinen“ Formen stehen zu bleiben. Neben dem Leitgedanken der Vermittlung der Gegensätze in einem Dritten bei gegebener gattungsmäßiger Identität dieser Gegensätze nutzte Averroës im Anschluß an Aristoteles auch die Potenz-Akt-Dialektik, um das abgeschwächte Dasein „vermischter Gegensätze“ als eine nicht-aktuale, potentielle Existenz zu beschreiben. Damit greift er zugleich auch die metaphysische Position von Avicenna an, der ein unverändertes aktuales Fortbestehen der „substantiellen Formen“ der Komponenten der „mixis“ in der „mixis“ postuliert hatte294. Auf diese Weise wird ein Stück Dialektik der Negativität in die Betrachtung der „mixis“ eingebracht, indem quasi die dialektische Aufhebung von zwei Gegensätzen in einem neuen Ganzen behauptet wird. Des Averroës Interpretation des Aristotelischen Mixis-Konzepts konkurrierte im Mittelalter mit anderen Aristotelesauslegungen und wurde in der mittelalterlichen Philosophie rezipiert295.

Die Rezeption dialektischer Denkansätze im Werk des Albertus Magnus Albertus Magnus (ca. 1200–1280) nahm in seinem enzyklopädischen Werk viele Anregungen und Denklinien aus der ferneren und näheren Vergangenheit auf, um sie in vorbildlicher Weise für die Nachfolgenden aufzubereiten und im eigenen Denken 294

Averroës, Commentarium Medium in Aristotelis De Generatione et corruptione libros, lib. I, text. comm. 90, p. 94: „Recte dixit Aristotels miscibilia non esse in mixto actu et salvari in potentia.“ – Vgl. auch Averroës, Commenta in Aristotelis De caelo et mundo, lib. III, text. comm. 67, f. 231v.– 232r.: „Dicemus quod formae istorum elementorum substantiales sunt diminutae a formis substantialibus perfectis, et quasi suum esse est medium inter formas et accidentia. Et ideo non fuit impossibile, ut formae eorum substantiales admiscentur et proveniret ex collectione earum alia forma, sicut cum albedo et nigredo admiscentur, fiunt ex eis multi colores medii. Et cum hoc latuit Avicennae et concessit quod formae substantiales non dividuntur in magis et minus, dicens quod haec elementa non miscentur nisi secundum qualitates eorum, non secundum substantias. Et ex hoc continget magnum impossibile, scilicet ut elementa sint in composito in actu, propter quod compositum non habebit unam formam substantialem.“ 295 Zum Vergleich zwischen den unterschiedlichen Mixis-Konzepten siehe A. Maier, An der Grenze von Scholastik und Naturwissenschaft, S. 22–140; F. A. J. De Haas, Mixture in Philoponus. An encounter with a third kind of potentiality, S. 45.

DIE REZEPTION DIALEKTISCHER DENKANSÄTZE IM WERK DES ALBERTUS MAGNUS

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fruchtbar zu machen. Zu diesen Anregungen gehören auch in bestimmtem Maße dialektische Methoden- und Theorieansätze teils aristotelischer, teils neuplatonischer Provenienz. Dem Wortgebrauch nach versteht Albert die „Dialektik“ in der Nachfolge von Aristoteles (vgl. Metaphysik, Buch B, 1. Kap., 995b 20 ff.) zunächst ganz konventionell als eine Untersuchungsmethode, welche von sogenannten „Wahrscheinlichkeitsannahmen“ ausgeht und gesprächsweise zu prädikativen Aussagen gelangt, ohne dabei die Fragen nach dem Wesen der Dinge zu berühren, welche sie der „Ersten Weisheit“ (d.h. der Metaphysik) überlasse. Die Spezifik von „Dialektik“ liegt also für Albert, entsprechend dem durch Aristoteles vorgegebenen Gebrauch des Wortes, eindeutig im Methodischen, insofern die „Dialektik“ mit der beschriebenen Vorgehensweise eine Anleitung für das Philosophieren ist, ohne aber selbst „Philosophie“ (im Sinne der „Ersten Philosophie“ des Aristoteles) zu sein, wie Albert festhält. Hinsichtlich ihrer Gegenstände aber wird ihr keinerlei Beschränkung auferlegt, denn hier stimme sie mit der „Ersten Weisheit“ überein, betont er in der Auslegung der erwähnten Textstelle aus Aristoteles’ „Metaphysik“296. Albert selbst wendet das Verfahren argumentativen Problemlösens durch Problematisieren von Lehrmeinungen, Konfrontieren alternativer Lösungsansätze und schließliche Problemauflösung in seinen Schriften laufend an und ist somit durchaus schon im genannten Sinn des Wortes als ein „Dialektiker“ zu bezeichnen. Um allerdings Alberts speziellere Beiträge zum dialektischen Denken kennenzulernen, gilt es, vor allem auf die theoretische Inhalte seiner Schriften und die ihn leitenden Intentionen einzugehen. Und dabei muß es um Zusammenhänge gehen, welche die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und auch Gegensätze der Dinge im Komplex erhellen, ohne dabei Antworten auf das Letzte, das Höchste, das Absolute im Sinne abschließender metaphysischer Wesenserkenntnis erwarten zu können. Diese Umschreibung des Untersuchungsfeldes von „Dialektik“ gibt die Intention Alberts und Aristoteles’ bei der Abgrenzung der „Dialektik“ von der „Ersten Philosophie“ wieder. Allerdings lassen sich entsprechende Äußerungen Alberts nicht in Gestalt eines systematischen Metadiskurses finden, wohl aber im Sinne einer angewandten theoretischen Dialektik in bestimmten Teilgebieten seines philosophischen und theologischen Gesamtwerks. Dazu zählen seine Konzeption von natürlicher Veränderung; sein kosmologisches Konzept und nicht zuletzt auch sein Ansatz einer „negativen Theologie“. Diese Konzepte sollen im weiteren näher unter dem genannten Aspekt vorgestellt werden. Eines der tragenden Prinzipien des Albertschen Naturverständnisses besteht in der Annahme, daß die Natur, d.h. die Welt der körperlichen Gegenstände, durch ein ständiges Werden und Vergehen charakterisiert ist. Dieses erfolgt für ihn aber weder chaotisch, noch nach einer starren Regelmäßigkeit. Vielmehr liegen den entsprechenden Phänomenen bestimmte Beziehungen verallgemeinerbarer Art zu Grunde. Genauer gesagt, betrifft das die Beziehungen zwischen den Prinzipien „Materie“ und „Form“; 296

Vgl. Albertus Magnus, Metaphysica, ed. Coloniensis, Vol. 16/1, lib. III, tract. 3, cap. 6, p. 144–145.

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zwischen „Potentialität“ und „Aktualität“ sowie zwischen Regelhaftigkeit und Kontingenz. Diese korrelativen Begriffspaare sind nicht nur die theoretischen Leitprinzipien der philosophischen Naturerklärung. Diese Leitprinzipien stellen auch korrelative Begriffspaare dar, welche in ihrer Differenz nur als Verbundene und in ihrer Verbindung nur als Differente auf die Naturwirklichkeit anwendbar sind. Insofern stellen sie dialektische Leitprinzipien der theoretischen Naturbeschreibung in einem verallgemeinerten Rahmen dar. Ihr dialektischer Gehalt erschließt sich allerdings nicht deklarativ durch eine einfache Prinziperklärung, sondern applikativ im Verfahren der Problemdiskussion und -lösung. Albert befaßte sich besonders ausführlich mit der Klärung des Begriffs „Materie“. Darunter wollte er weder ausschließlich ein feststehendes einheitliches Substrat, noch ausschließlich ein form- und gestaltloses Prinzip der Unbestimmtheit, noch ausschließlich ein bloßes Gefäß zur Aufnahme von außen eingegebener „Formen“ verstehen. Vielmehr faßte er unter „Materie“ eines der entscheidenden Prinzipien zum Verständnis des natürlichen Werdens und Vergehens. Indem dieses Prinzip von ihm als ein Moment der Wirklichkeit verstanden wird, kann es weder von der „Form“ völlig losgetrennt werden, noch im Sinn einer aktualen Wirklichkeit bereits als ein bestimmtes Vorhandenes begriffen werden. Albert verleiht der „Materie“ unter den genannten Prämissen eine Doppelfunktion: sie ist sowohl der Träger („subiectum“, „fundamentum“) der Formen, als auch eine Art vorgeformter bzw. keimförmiger Befähigung zu einer vollkommen ausgeprägten Form („incohatio formae“). Beide Funktionen der Materie bilden laut Albert einen in sich differenzierten Komplex in der real existierenden Materie297. Daraus ergibt sich, daß Albert unter der „Materie“ weder nur eine reine Substantialität (und damit kein selbständiges Seinsprinzip), noch auch nur eine reine Potentialität (und damit kein bloßes Bewußtseinskonstrukt) versteht, sondern auf die „Vermischung“ des Aspekts der Substantialität und des Aspekts des Wirkungsvermögens („virtus“) aufmerksam machen will298. In einer derart begriffenen „Materie“ vereinigen sich de facto der aristotelische Begriff von „Substanz“ im Sinne von „Substrat“, der aristotelische Begriff von „Potenz“ als Modus des In-Möglichkeit-Seienden und der stoische Begriff der „Samengründe“ im Sinne der bewegend-gestalterischen Kräfte in den Dingen miteinander. Die „Anfangs-“, „Keim-“ oder „Rohform“ („incohatio formae“), von der Albert bezüglich der natürlichen Materie spricht, versteht er als ein relatives „Unvollkommenes, was danach strebt, vervollkommnet zu werden, indem die Vervollkommnung in ihm in gewisser 297

Ibid., lib. I, tract. 4, cap. 2, p. 49: „Constat autem ex his quae in Praehabitis bene disputata sunt de principiis, materiam non esse subiectum nisi per aliquid formae, quod incohative est in ipsa; hoc autem est esse formae in potentia; esse igitur formae et in potentia esse sunt unius iterati, quia esse formae qualecumque sit, materiae dat unitatem et esse tale quale competit materiae, quando non est actu per formam. … Sic igitur unitas est principium rerum ut natura, et binarius primus ut materia.“ 298 Vgl. ibid., lib. I, tract. 4, cap. 8, p. 57: „Materia autem in nulla rerum est nisi per unionem et mixtionem substantiae et virtutis.“

DIE REZEPTION DIALEKTISCHER DENKANSÄTZE IM WERK DES ALBERTUS MAGNUS

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Weise angefangen hat“. Dieses „Vervollkommnetwerden“ ist gleichzeitig als eine Beendigung der Unbestimmtheit der ursprünglichen Anlage hinsichtlich der fertigen Ausprägung eines geformten Ganzen zu verstehen299. Es gibt in allen natürlichen Dingen nach Albert ein natürliches Verlangen nach „Vervollkommnung“ bzw. nach dem „Guten“, welches auch dem „Verlangen“ („appetitus“) der „Materie“ nach der „Form“ eigen sei300. Die schon in Ibn Gabirols Schrift „Die Lebensquelle“ deutlich gewordene Doppelbestimmung von „Materie“ als eines Trägers der Formen und als eines nach Gestaltung verlangenden Vermögens wird von Albert auf die gezeigte Weise zu einem komplexen Begriff weitergeführt, in welchem beide Seiten dialektisch vereint sind301. Das Struktur- und das Prozeßdenken haben mit dem Materie-Prinzip demzufolge eine gemeinsame Grundlage erhalten. Albert wendet zur genaueren Fassung seines komplexen Materie-Prinzips und speziell des Aspekts der „incohatio formae“ das dialektische Prinzip der Vermittlung der Gegensätze an. In diesem Sinn ist diese „Rohform“ bzw. der „Formanfang“ in der Materie ein spezifischer potentieller Mittelzustand, welcher für alternative Gestaltungsmöglichkeiten offen ist, ohne diese bereits aktualisiert zu haben302. Die „Materie“ in dieser Funktion eines potentiellen Mittleren von konträren Formbestimmungen realisiert einen bestimmten „Indistinktheits-“, „Unbestimmtheits-“ und „Durchmischungsstatus“, welcher ein nicht substanzhaftes simultanes Befähigtsein für zueinander entgegengesetzte Realisierungsmöglichkeiten darstellt. Insofern kann von der Gleichzeitigkeit des Bestehens von Gegensätzen in ihr ausgegangen werden, wie Albert ausdrücklich festhält303. Mit dem Zustandekommen einer bestimmten „Form“ an etwas realisiert die 299

Ibid., lib. V, tract. 2, cap. 16, p. 255: „Habemus igitur, quod id in quo est, substantia quaedam est, et hoc vocatur materia. Id ipsum autem quod comparatum habet esse, incohatio formae est, quae est in materia. … Relinquitur igitur, quod ex hoc determinatur potentia, quod est comparatio materiae ad actum sicut comparatur imperfectum desiderans perfici per hoc quod aliquo modo incohata est in eo perfectio. Et per hoc est possibile fieri hoc et non aliud …“ 300 Albertus Magnus, De bono, ed. Coloniensis, t. 28, tract. 1, qu. 1, a. 1, p. 4: „Et est appetitus naturalis, qui nihil aliud est quam aptitudo et inclinatio eius quod est in potentia ad perfectionem; et ille est in omnibus et de hoc intelligitur, quod dicitur, quod bonum est, quod omnia appetunt, sicut dicit Philosophus in fine I ‚Physicorum‘ quod materia appetit formam sicut femina masculum et turpe bonum.“ 301 Vgl. den Abschnitt „Ibn Gabirols ‚Lebensquelle‘ …“, S. 52. 302 Albertus Magnus, Physica, ed. Colon., t. 4/1, lib. I, tract. 3, p. 39: „Cum autem dicitur medium contrariorum esse, sicut fuscum est medium inter album et nigrum, et cum dicitur materia sive subiectum esse medium contrariorum, accipitur medium hinc et inde aequivoce, quia medium, quod est forma inter contraria, habet participative utrumque contrariorum per essentiam formalem, subiectum autem medium non habet contraria nisi potentialiter, quae potentia non est actus aliquis, sed est confusa quaedam et imperfecta formae contrariorum inhohatio.“ 303 Albertus Magnus, Metaphysica, ed. Colon., t. 16/1, lib. V, tract. 1, cap. 7, p. 225: „Licet enim genus non sit materia, in duobus tamen ad minus materiae est propinquissimum. Quorum unum est, quod materia est primum formarum subiectum , sicut et genus est subiectum differentiarum. Secundum

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„Materie“ dabei und dadurch auch die Ausschaltung einer alternativen Gestaltungsmöglichkeit. So können die Phänomene des „Entstehens“ und „Vergehens“ von etwas und generell die „Wandelbarkeit“ der materiellen Dinge erklärt werden304. Das „Entstehen“ und das „Vergehen“ werden auf diese Weise zu einem Paar reziproker Begriffe. Die natürliche Wandelbarkeit aller sinnlichen Substanzen im Sinn des Entstehens und Vergehens findet also in der „Materie“ als dynamischer Verhaltensform mit einer Doppelaffinität zum Formerwerb oder/und zum Formverlust ihre kausale Erklärung. Gleichwohl gilt in Alberts Reflexionen der Grundsatz, daß diese Kausalfunktion der Materie ihr nicht autonom und aktiv, sondern lediglich abhängig von einem äußeren Movens und passiv in Gestalt des erwähnten „Formanfangs“ („incohatio formae“) zukommt305. Wie dargelegt wurde, basiert Alberts Erklärung der natürlichen Wandelbarkeit auf einer Theorie der dialektischen Einheit von „Materie“ und „Form“, zwischen Kontingenz und Regelhaftigkeit und zwischen Potentialität und Aktualität. Auch in den natürlichen Vorgängen prozessualer Veränderung an den Körpern, wo es nicht um einen substantiellen Wandel geht, gilt eine dialektische Regel: diese Vorgänge laufen auf der Grundlage einer relativ stabilen „Materie“ mit der Empfänglichkeit für zueinander konträre nicht-substantielle „Formen“ ab, welche im Vorgang der Veränderung untereinander vermittelbar oder vermischbar sind. De facto liegt hier eine Simultaneität von gegenläufiger Formaufnahme und -abgabe bzw. von Potentialität und Aktualität vor und insofern gilt Albert generell für alle Vorgänge prozeßhaften Wandels die Kompatibilität der Gegensätze, insbesondere gegensätzlicher Körpermerkmale – allerdings nicht der „vollkommenen“ Gegensätze, sondern ihrer graduell reduzierten Daseinsformen306. Die autem est, quia sicut potestate genus habet omnes differentias, actu vero nullam, et haec potestas non est ipsa natura generis et substantia, sed est habitualis incohatio confusa et imperfecta differentiarum, ita et materia potestate habet formas, quae potestas non est ipsamet materia, sed est habitualis confusio et incohatio formae ad speciem indistincta et indeterminata. Et ideo ambit formas oppositas, sicut potestas generis differentiarum ambit oppositionem. Est enim haec confusio permixta potentiae, et ideo sic non est, quod prohibeat simul contraria inesse.“ 304 Albertus Magnus, Physica, ed. Colon. 4/1, lib. I, tract. 3, cap. 18, p. 75: „Et cum materia acquirit formam aliquam, acquirit tunc privationem ad formam aliam, et haec est causa corruptionis in ipsa, et sic semper materia propter permixtionem sui cum privatione transmutabilis est secundum formas.“ 305 Vgl. Albertus Magnus, Metaphysica, ed. Colon., t. 16/1, lib. V, tract. 2, cap. 4, p. 240; ibid., lib. V, tract. 2, cap. 12, p. 249 u. p. 250; ders., Metaphysica, ed. Colon., t. 16/2, lib. XI, tract. 1, cap. 8, p. 470; ders., Physica, ed. Colon., t. 4/1, lib. I, tract. 3, cap. 3, p. 41; ibid., lib. II, tract. 1, cap. 7, p. 86–87; ders., De generatione et corruptione, ed. Colon., t. 5/2, lib. I, tract. 1, cap. 23, p. 130. 306 Vgl. Albertus Magnus, Super Dionysium De divinis nominibus, ed. Colon. 37/1, cap. IV, p. 256: „Ad tertium dicendum, quod de ratione oppositorum est, quod secundum perfectum esse non possint esse simul; sed secundum quod sunt in esse imperfecto, possunt esse simul, sicut patet im motu alterationis, in quo utrumque oppositorum est non ut in termino, sed ut in via, alterum quidem abiectionis, alterum acceptionis; et similiter malum potest esse in bono, quod est imperfectum bonum, non simpliciter.“ Ders., Super Dionysium De ecclesiastica hierarchia, ed. Colon., t. 36/2,

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Prozessualität bzw. „Bewegung“ als ein natürlicher Wandlungs- und Veränderungsprozeß ist für ihn generell etwas Mittleres und insofern „Unvollkommenes“, gleichwohl Wirkliches, das sich zwischen einer „reinen Potenz“ und einem „einfachen Akt“ ereignet307. Somit faßt Albert die Kategorie „Bewegung“ bzw. „Prozeß“ im Kontext der natürlichen Veränderungsvorgänge als einen dialektischen Begriff der vermittelten Einheit oder der Kompatibilität von Gegenteilen (d.h. zueinander gegenteiliger Qualitäten, Daseinsmodi und Bewegungsmomente). Ähnlich wie im Fall des Materie-Prinzips basieren diese seine Überlegungen im wesentlichen auf der aristotelischen naturphilosophischen Prozeß- und Vermittlungsdialektik. Albertus Magnus hat seine naturphilosophische Vermittlungsdialektik in einen größeren Kontext gestellt und keinesfalls als eine autonome Naturdialektik angestrebt. Denn die „Materie“ war für ihn kein autonomes aktives Wirkprinzip. Die neuplatonische Theorie von der „Ausstrahlung“ bzw. vom „Ausfluß“ und vom „Zurückstreben“ aller Dinge in Relation auf einen einheitlichen Ursprung alles Seins, d.h. des göttlichen „Guten“, bildet den erweiterten weltanschaulichen Rahmen seiner Naturphilosophie. Er legte allerdings auch großen Wert darauf, die systematische Eigenart jeder einzelnen Zusammenhangsform strikt zu beachten und keine Nivellierung der Betrachtungsebenen zuzulassen. Insgesamt gesehen, wird die materielle und die immaterielle Welt durch einen komplexen kreisförmigen Prozeß des Hervorgehens aus Gott („exitus“), der stufenweisen Selbstrealisierung („perfectio“) und der schließlichen Rückkehr zum göttlichen Ursprung („reductio“) gedeutet. Mit der Übernahme dieses neuplatonischen Denkmodells folgte Albert den Vorgaben des „Liber de causis“ und der Schriften des Pseudo-Dionysius Areopagita308. Die Welt wird von ihm als ein geordnetes Ganzes aufgefaßt, was durch eine dialektische Einheit aus einer Differenz zum göttlichen Ursprung (auf Grund des Schöpfungsstatus der Welt) und der partiellen Identität mit diesem (auf Grund der „Teilhabe“ der Welt an bestimmten göttlichen Gütern wie Sein, Leben, Wahrnehmen, Erkennen usw.) charakterisiert ist309. Zur Explikation dieses weltanschaulichen Rahmens bediente sich Albert der Denkfigur des „Flusses“ bzw. des „Fließens“, um damit die Dialektik von Sein und Werden, cap. 2, p. 46: „Solutio: Dicimus quod contraria non possunt esse in actu perfecto simul, et hoc est quod dicit ‚summe contraria‘; secundum potentiam tamen possunt esse simul, et non tantum secundum puram potentiam receptibilitatis materiae, quia sic omnes formae sunt simul in materia in potentia, sed etiam secundum motum, in quo est potentia permixta actui; propter quod dicitur a Philosopho, quid est actus imperfectus, quia quod alteratur, partim habet utrumque terminum, sicut est in aliis motibus …“ Vgl. auch H.-U. Wöhler, Alberts des Großen Lehre von den Kontrarietäten, S. 157–169. 307 Albertus Magnus, Super Dionysium De divinis nominibus, cap. 4, p. 198: „Motus, ut dicitur in III ‚Physicorum‘, est actus imperfecti, quia est actus existentis in potentia secundum quod huiusmodi, et est actus imperfectus, quia est medius inter puram potentiam et actum simplicem.“ 308 Vgl. H. Anzulewicz, Pseudo-Dionysius Areopagita und das Strukturprinzip des Denkens von Albert dem Großen, S. 251–295; ders., „Bonum“ als Schlüsselbegriff bei Albertus Magnus, S. 113–140. 309 Vgl. H. Anzulewicz, „Bonum“ …, a.a.O., S. 119 u. S. 132 u. passim.

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Wandel und Beständigkeit, von Identität und Differenz bzw. von Einheit und Vielheit aufzuweisen und schließlich den inneren Zusammenhang zwischen der „Ersten Ursache“ als dem göttlichen Ursprung bzw. den sogenannten „Intelligenzen“ als den Mittlerwesen und der auf Selbstverwirklichung angelegten Welt als eines lebendigen Wirkzusammenhanges deutlich zu machen310. Insonderheit steht die neuplatonische FlußMetapher für den dialektischen philosophischen Gedanken der Vermittlung von göttlicher Einheit und innerweltlicher Vielheit311. Die „Formen“ und das „Licht“ strömen ferner nach Albert auf die Dinge von der „Ersten Ursache“ her, um diesen Dingen nicht nur einen bestimmten Seinsbestand zu sichern, sondern um diese Dinge mit den jeweils eigenen spezifischen Wirkpotenzen zur eigenen Vervollkommnung anzuregen, und schließlich auch zu dem Zweck, ihnen die „Rückkehr“ zum „Ursprung des Guten“ zu ermöglichen312. Damit schließt die Fluß-Metapher auch die Dreieinigkeit aus Konstitution, Perfektion und Rekursion als der wesentlichen Aspekte des Verhältnisses zwischen dem göttlichen Ursprung und der Welt ein. Im Ergebnis wird damit auch die Dialektik aus der Transzendenz und der Immanenz Gottes gegenüber der Welt ausgeführt. Wie bereits angedeutet, hat Albert auch spezielle Mittlerwesen in sein Weltbild aufgenommen, welche die immateriellen Vermittler des Licht- und Formflusses sein sollten und die er „Intelligenzen“ nannte. Die dazu von ihm gemachten Ausführungen gehören ebenfalls zur neuplatonisch orientierten kosmologischen Vermittlungsdialektik. Letztlich bildet dieses Lehrstück auch das theoretische Vermittlungsglied zwischen der Kosmologie und der Albertschen Naturphilosophie. Unter dem Einfluß des „Liber de causis“ und Ibn Sinas Intellekt-Theorie erschloß Albert sich dieses Lehrstück313. Das von den „Intelligenzen“ vermittelte „Licht“ löst nach Albert in den Naturdingen gewissermaßen initial den Vorgang der Vervollkommnung der eigenen Anlagen aus314. Die Welt als ganze erscheint auf diese Weise als ein harmonisch Geordnetes mit zueinander komplementären Funktionen. Die Natur wird in Alberts Verständnis zu einem abhängigen Mit-Wirkungsfaktor der „Intelligenz“. Dementsprechend sprach er häufig davon, 310

Vgl. Albertus Magnus, Super Dionysium De divinis nominibus, cap. 13, p. 432; ders., De causis et processu universitatis a prima causa, ed. Colon., t. 17/2, lib. I, tract. 4, p. 42–58; ibid., lib. II, tract. 1, cap. 1, p. 61. 311 Albertus Magnus, De causis et processu universitatis …, lib. I, tract. 4, cap. 1, p. 42; ibid., lib. I, tract. 4, cap. 5, p. 48–49; ibid., lib. I, tract. 4, cap. 8, p. 58. 312 Ibid., lib. II, tract. 1, cap. 1, p. 61: „… lumen primae causae tripliciter influat rebus, scilicet influentia constitutionis ad esse et influentia irradiationis ad perfectionem virtutis et operis et influentia reductionis ad primam fontem ut ad boni principium.“ 313 Albertus Magnus, De causis et processu …, lib. I, tract. 4, cap. 1, p. 43–44; ibid., lib. I, tract. 4, cap. 8, p. 55–58; ibid., lib. II, tract. 1, cap. 1, p. 92–94; ibid., lib. II, tract. 1, cap. 2, p. 94–95. 314 Albertus Magnus, De anima, ed. Colon., t. 7/1, lib. II, tract. 3, cap. 12, p. 116: „Est autem haec forma, quae vocatur lumen, vivificativa vivorum et calefactiva et motiva ad esse generabilium, inquantum est instrumentum intelligentiae, quae per motum luminarium lumine emisso movet ad esse omne quod in natura est, sicut etiam supra diximus.“

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daß „das Werk der Natur das Werk einer Intelligenz“ sei315. Mit den „Intelligenzen“ und ihrer multiplen Funktionalität von Verursachern und Verursachtem, von Vermittlern der Einheit und Faktoren dynamischer Vielheit, von der Natur übergeordneten und ihr zugleich immanenten Faktoren der Regelhaftigkeit komplettiert Albertus Magnus seinen dialektischen Erklärungsansatz für die Welt als ganze und die Natur als ihres immanenten Bestandteils. Jetzt steht nicht mehr die Vermittelbarkeit von zueinander konträren Gegenteilen wie im Fall der materiellen Sphären, sondern die harmonische Koordination unterschiedlicher Systembestandteile im Zentrum seiner Vermittlungsdialektik. Beiden Fällen von angewandter theoretischer Dialektik ist ein dynamisches Ganzheitsdenken eigen. Dieses wird in einen theologischen und metaphysischen Rahmen eines letzten und höchsten Absolutums, der „Ersten Ursache“ oder des „Ersten Guten“, d.h. Gottes, eingefügt. Albert widmete sich auch intensiv der Frage nach der Erkennbarkeit des göttlichen Ursprungs. Im Ergebnis konzipierte er unter dem Einfluß der Schriften des PseudoDionysius Areopagita eine „negative Theologie“. Ausgehend von den Feststellungen, daß ein sinnliches oder verstandesmäßig-kategoriales Erfassen des Wesens Gottes dem Menschen unter den gegebenen Bedingungen seiner irdischen Existenz nicht möglich ist und daß ihm zugleich das Dasein Gottes unmittelbar gewiß erscheint, geht es Albert um die Bedingungen der Möglichkeit des intellektuellen Begreifens Gottes. Diese Bedingungen sieht er vor allem, aber nicht ausschließlich in Form von negativen Kennzeichnungen Gottes als Zeichen seiner Seins-Differenz zur geschöpflichen Welt gegeben316. Gleichwohl bleibt das Wesen Gottes auch unter dieser Bedingung für den Menschen ein „Unsagbares“317. Dabei gibt er zu bedenken, daß die negativen Kennzeichnungen Gottes keinen Mangelzustand an diesem ausdrücken, sondern Kennzeichen der Transzendenz Gottes hinsichtlich aller seiner Wesenbestimmungen sind, welche ihrerseits dem herausgehobenen Seinsstatus von Gott entsprechen318. Für Albert stellt die „negative Theologie“ einen spezifischen Erkenntnismodus dar, den er als „modus divinus“ bezeichnet und den er als auf ein Unendliches gerichteten Erkennntnismodus dem „modus philosophicus“ als der verstandesmäßigen, auf die Endlichkeit und Eindeu315

Vgl. J. A. Weisheipl, The axiom ‚opus naturae est opus intelligentiae‘ and its origins, S. 441–463; L. Hödl, Opus naturae est opus intelligentiae. Ein neuplatonisches Axiom im aristotelischen Verständnis des Albertus Magnus, S. 132–148. 316 Albertus Magnus, Super Dionysium De divinis nominibus, cap. I, n. 51, p. 32: „Et ideo non possumus ipsum affirmative nominare secundum quod ‚quid‘ est, sed tantum per ea quae sunt in effectibus, quibus ipsum cognoscimus, quae verius per modum illum removentur a causa non univoca, quam insint, et ideo negative maxime et proprie nominatur a nobis.“ 317 Ibid., cap. I, n. 62, p. 40: „Ad secundum dicendum, quod illud nomen quod inter alia erat mirabilius propter sui simplicitatem, est hoc nomen ‚qui est‘; ex hoc tamen quod ipsum est supra cognitionem nostram, sequitur, quod secundum alia etiam nomina dei sit indicibilis deus a nobis.“ 318 Ibid., cap. II, n. 22, p. 58–59: „Ad secundum dicendum, quod privativa, quae dicuntur de divinis, non fundantur super aliquam privationem in ipso existentem, sed super eminentiam sui actus, idest esse; unde privatio potius remanet ex parte nostra.“

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tigkeit festgelegten Erkenntnisform entgegensetzt319. Ausdrücklich hebt er die konkreten Negationen bei der Kennzeichnung Gottes im Rahmen der „negativen Theologie“ von abstrakt-logischen Negationen ab: denn im ersten Fall werden Differenzen gekennzeichnet und damit eine bestimmter Inhalt mitgeteilt, im zweiten Fall einer abstraktallgemeinen Negation jedoch nicht320. Die „negative Theologie“ kann also demzufolge als eine Möglichkeit zur indirekten Annäherung an das Verstehen Gottes durch die negative Kennzeichnung der Differenz zwischen Gott und geschöpflicher Welt aufgefaßt werden. Der menschliche Intellekt bleibt dabei allerdings im Zustand einer „Uneindeutigkeit“ („confusio“) gegenüber dem ureigensten Sein Gottes321. Insofern bleibt das menschliche Erkennen Gottes ein unvollkommenes322. Eine so verstandene „negative Theologie“ stellt für Albert nicht den logischen Gegensatz der „affirmativen Theologie“ dar, sondern deren dialektische Ergänzung. Denn an einer absolut positiven Kennzeichnung des Wesens Gottes als der vollkommensten Ursache von allem läßt Albert keinerlei Zweifel zu. Folglich stellen die „negative Theologie“ und die „affirmative Theologie“ für ihn zwei unverzichtbare, zugleich aber auch jeweils unzulängliche und aufeinander verweisende Erkenntismethoden dar. Das Wesen Gottes und dessen Seinsspezifik aber deuten beide nur an, ohne es jeweils hinreichend zu erfassen323. Ein „dialektisch“ zu nennender Ansatz in Alberts Theologie zeichnet sich also in der angedeute319

Ibid., cap. VII, n. 15, p. 348: „Sciendum est autem ad evidentiam huius, quod duplex modus est, quo accipimus cognitionem de rebus, unus philosophicus et alter divinus. Philosophicus quidem modus est, secundum quod scientia nostra causatur ab entibus, quae subsunt nostro intellectui, vel quantum ad modum accipiendi scientiam. … Modus autem divinus est, secundum quod accipimus cognitionem ab eo quod est supra intellectum nostrum, inquantum illud immittit se nobis, non secundum proportionem suam, sed secundum potestatem intellectus nostri. Et ideo quando venit in illud, non figitur in ipso tamquam in aliquo determinato cuius fines vel essentiae vel virtutis vel operationis vel proprietatum inspiciat, sed sicut in quodam pelago infinito, in quo verius cognoscit, quid non est, quam quid est …“; vgl. auch Albertus Magnus, Super Dionysii Mysticam Theologiam, ed. Colon., t. 37/2, cap. 1, S. 463–464. 320 Albertus Magnus, Super Dionysium De divinis nominibus, cap. VII, n. 29, p. 358: „ Ad primum ergo dicendum, quod negatio, quae nihil relinquit, nihil certificat, sed per negationes, quae aliquid relinquunt, determinatur confusio intellectus ad aliquid certum, et utimur eis loco differentiarum in his quorum propter sui simplicitatem differentias positivas accipere non possumus …“ 321 Ibid., cap. VII, n. 29, p. 359: „Et similiter, ut dicit Rabbi Moyses, per negationes determinatur aliquo modo confusio intellectus nostri circa deum, quamvis numquam deveniamus ad esse proprium ipsius.“ 322 Vgl. ibid., cap. 1, n. 51, p. 32: „Dicendum quod in deo est aliquid intelligibile in se, per quod distinguitur ab aliis. Sed hoc nos intelligere non possumus propter nostram imperfectionem nisi per ‚quia‘ confusum, et ideo non possumus secundum illud ipsum nominare perfecte.“ 323 Albertus Magnus, Super Dionysii Mysticam theologiam, cap. 1, p. 458–459: „Quamvis causaliter omnium affirmationes ponantur in ipso, tamen multo magis essentialiter omnia removentur ab ipso, et ipse nihil est eorum. Et istae ‚negationes non‘ sunt ‚oppositae‘ illis ‚affirmationibus‘, quia non sunt secundum idem, sed oportet causam omnium ponere et super negationes et super affirmationes, quia per neutrum horum comprehenditur quiditas dei.“

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ten Synthese aus der „affirmativen“ und der „negativen Theologie“ als zweier kompatibler Annäherungsweisen an das Wesen und spezifische Sein des transzendenten Gottes ab. Allerdings verleiht er der „negativen Theologie“ als imprädikativer Aussageweise gegenüber der prädikativen der „affirmativen Thologie“ einen gewissen Vorrang, da nach Albert eine Prädikation von Gott grundsätzlich inadäquat („incompacta“) sei324. Ein dialektischer Ansatz in Alberts theologischem Denken manifestiert sich also in einem methodischen Fortschreiten beim intellektuellen Erfassen Gottes. In Gestalt der „negativen Theologie“ wird ein Stadium der Annäherung erreicht, das zwischen völliger Unkenntnis bzw. inadäquater Prädikation und einer vollkommenen Wesenserkenntnis Gottes eine Art Mittelstellung einnimmt. In der „negativen Theologie“ als einer Form der Repräsentation Gottes ist auch die Erkenntnis unseres eigenen Nicht-Wissens vom Wesen Gottes eingeschlossen. Die negativen Kennzeichnungen Gottes im Ausgang von den daseienden Formen der geschöpflichen Welt lassen diese Formen nicht als letztgültige Wahrheiten, sondern als Wegweiser in das Verborgene verstehen, und damit wird sowohl die Begrenztheit unseres Wissens als auch der Weg in das Verborgene eröffnet. Das „Erkennen“ Gottes erweist sich so als ein „Ent-Hüllen“325. Das „wissende NichtWissen“ und die dialektische Einheit von Wissen und Nicht-Wissen charakterisieren also im Endresultat die Bedingung der Möglichkeit einer intellektuellen Erkenntnis Gottes. Albertus Magnus war ein typischer Dialektiker der Vermittlungen und des prozessualen Wandels. Dieser Grundzug manifestiert sich sowohl in seinem methodischen Vorgehen als auch in den gezeigten theoretischen Ausführungen über die Naturvorgänge, die kosmologischen Grundstrukturen und die Problematik einer intellektuellen Gotteserkenntnis. Unverkennbar rezipierte er dabei eine Vielzahl von Vorleistungen anderer Denker vor ihm. Und genauso unverkennbar fanden die von ihm philosophisch erschlossenen dialektischen Gegensatzvermittlungen in seinen metaphysischen Einheits324

Ibid., cap. 5, p. 474: „In omni enim praedicatione oportet accipere id quod subicitur, et id cui subicitur, quod sit in ipso et habeat aliquam compositionem cum ipso, et oportet iterum accipere proportionem subicibilitatis in subiecto et praedicabilitatis in praedicato, quia non omne de omni praedicatur; sed in deo nulla est compositio et ideo neque aliquid in alio vel sub alio, et ideo ipsa res divina excedit omnem proportionem subicibilitatis et praedicabilitatis, et propter hoc vere et proprie non potest de deo formari propositio …, sed utimur loquentes de ipso accomodatis verbis et significamus idem in subiecto et praedicato, et non est aliqua differentia rei, sed tantum in modo intelligendi, qui fundatur in respectu ad extra. Unde patet,. quod nihil neque secundum modum nominis neque secundum rem potest proprie praedicari de deo et propter hoc omnia de ipso verius removentur. Unde dictum est in Caelesti Hierarchia II Capitulo, quod negationes in divinis sunt verae et affirmationes incompactae.“ 325 Ibid., cap. 2, p. 466: „Procedentes in negationibus ‚cognoscamus illam ignorantiam‘, idest divinam eminentiam ignotam nobis, ‚revelate‘ sine aliquo velamine creaturae, ipsam dico, ‚circumvelatam ab omnibus noscibilibus‘ quae sunt ‚in omnibus existentibus‘; in omnibus enim rebus quae cognoscuntur per suas formas ipsae formae sunt imagines divinae pulchritudinis, per quarum negationem venimus in illud occultum quod velate repraesentabatur in eis …“

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spekulationen eine grundsätzliche Grenze. Im Rahmen der mittelalterlichen lateinischen Scholastik aber war sein Beitrag zu einem universalen, komplexen, in sich konsistenten Denkmodell auf den genannten Grundlagen, nicht zuletzt auch auf der Grundlage von aristotelischer und neuplatonischer Dialektik, historisch beispielgebend. Auf vielfältige Weise konnte daran angeknüpft werden und wurde daran angeknüpft.

Die Reflexionsdialektik im Werk des Thomas von Aquino Überall dort, wo es gilt, die Dinge, Phänomene und Prozesse in ihrem wechselseitigen Zusammenhang als sowohl positiv wie negativ aufeinander bezogene zu erkennen, kann dialektisches Denken ins Spiel kommen. Werden sie hingegen voneinander isoliert, verabsolutiert oder ausschließlich positiv bzw. negativ aufeinander bezogen, okkupiert ein nicht-dialektisches Denken die Perspektive. Treten beide Betrachtungsweisen eng nebeneinander auf bzw. ergänzen einander, so läßt sich ein dialektischer Ansatz in Form einer Teilperspektive mit eingeschränkter Gültigkeit in einem komplexen Gedankensystem erschließen. Diese zuletzt genannte Konstellation trifft auf bedeutende Teile des Werks von Thomas von Aquino (1224/25–1275) zu. Entsprechende Vorprägungen erhielt dieser einflußreiche Denker aus der aristotelischen und neuplatonischen Tradition, der er sich anschloß. So postulierte er einerseits fundamentale polare ontische Entgegensetzungen (zum Beispiel mit der Bestimmung Gottes als eines „reinen Akts“ im Gegensatz zur „Ersten Materie“ als einer „reinen Potenz“), sah in Entitäten mit dem Status einer undifferenzierten „Einheit“ das eigentliche Seiende, ließ aber auch relationierte und vermittelte Gegensätze gelten und seine intellektuelle Landkarte komplettieren. Werden die Dinge aufeinander bezogen und nicht ausschließlich als verabsolutierte Seiende, Wesens- und Dingheiten verstanden, so ergibt bereits die Reflexion auf das simultane Dasein unterschiedener Dinge eine elementare dialektische Korrelation, d.h. das Verhältnis von „Etwas“ und einem „Anderen“. Denn „Etwas“ ist nicht das „Andere“, und zugleich ist das „Andere“ ein anderes „Etwas“, und „Etwas“ ist das „Andere“ des „Anderen“. Thomas hat diesen allgemeinen dialektischen Gedanken einer wechselseitigen elementaren unmittelbaren Selbstunterschiedenheit der Dinge in ihrem bestimmten Dasein mittels des Terminus „aliquid“ („etwas“) ausgedrückt. Dieser Terminus bezeichnet nämlich in allgemeinster Form alles Seiende in seiner wechselseitigen Ordnung und Unterschiedenheit. Unter „aliquid“ muß nach Thomas dementsprechend immer „ein anderes etwas“ („aliud quid“) verstanden werden. Als sogenanntes „Transzendentale“ umfaßt dieser Ausdruck in Thomas’ Ontologie ausnahmslos alles Seiende in seiner wechselseitigen unmittelbaren Unterschiedenheit, ist also generell konstitutiv und primär für das Verstehen des Seins unter dem genannten Aspekt326. Zwischen „Etwas“ und dem „Anderen“ besteht in diesem Zusammenhang aber nicht einfach nur das Verhältnis einer Juxtaposition, sondern unmittelbar auch das Verhältnis einer negativ 326

Vgl. Thomas von Aquino, Quaestiones disputatae de veritate, qu. 1, ar. 1, co.

DIE REFLEXIONSDIALEKTIK IM WERK DES THOMAS VON AQUINO

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vermittelten Entgegensetzung, da ein „Seiendes“ von einem anderen „Seienden“ immer nur als das „Nicht-Seiende“ des anderen unterschieden und begriffen werden könne, hebt Thomas hervor327. Das mit dem positiven Terminus „aliquid“ gekennzeichnete Sein wird auf diese Weise zu einem relationierten Nicht-Sein, indem ein jedes Seiende in dem und durch den Bezug auf ein anderes Seiende zugleich auch das Nicht-Sein des Anderen im konkreten eigenen So-Sein in sich einschließt. In einer solchen Reflexion werden die Bestimmungen „Seiendes“ und „Nicht-Seiendes“ zu wechselseitig einander einschließenden Gegenteilen im konkreten Wechselbezug der Dinge aufeinander. Diese sich hier abzeichnende Dialektik von „Sein“ und „Nicht-Sein“ bzw. von „Seiendem“ und „Nicht-Seiendem“, welche konsequent zur Annahme des Seins des Nicht-Seienden führt, ist allerdings von Thomas nicht im Rahmen einer Identitätsdialektik als unmittelbare Identität von „Sein“ und „Nichts“ aufgefaßt worden. Thomas betonte wiederholt, daß es der vermittelnden Funktion des erkennenden Intellekts bedarf, um das Sein des konkreten Nicht-Seins bzw. die Relation zwischen beiden behaupten zu können328. Der erkennende Intellekt ist für ihn das konstitutive Bindeglied von Sein und Nicht-Sein: „Nicht-Sein“ ist nur als ein erkanntes Seiendes ein Seiendes, außerhalb dieses Bezugs bleibt es ein Formloses und Unerkanntes ohne einen eigenen Seinswert329. Die dialektische Relationierung von „Seiendem“ und „Nicht-Seiendem“ bzw. von „Etwas“ und dem „Anderen“ setzt Thomas in der Betrachtung der Reflexionsbestimmungen „Eines“ und „Vieles“ fort. Denn in diese positiven Bestimmungen sind schon per definitionem Negationen eingeschlossen: „Eines“ („unum“) heißt ein Seiendes dann und insofern, wenn und insoweit es ein „Nicht-Geteiltes“ bzw. ein „Ungeteiltes“ ist, d.h. also unter Absehen von seinem Bezug auf ein Anderes betrachtet wird330; hingegen heißt ein Seiendes dann ein „Vieles“, wenn und insofern es eine „reale Negation“ („negatio realis“) in sich einschließt, d.h. die Nicht-Identität mit einem anderen Seienden als Faktum realisiert331. Aber das „Viele“ bzw. die „Vielheit“ („multitudo“) läßt sich auch durch den Bezug auf sein Gegenteil, das „Eine“ bzw. das „Einssein“, bestimmen: es ist ein Seiendes, das durch voneinander getrennte Einheiten konstituiert wird332. Trotz dieser Entgegensetzung zum „Einen“ ist es für Thomas aber ein Seiendes, das nicht 327

Thomas von Aquino, In librum Boethii De Trinitate, p. 2, qu. 4, ar. 1, co. 2: „Non autem potest hoc esse, quod ens dividitur ab ente inquantum est ens; nichil autem dividitur ab ente nisi non ens. Unde et ab hoc ente non dividitur hoc ens nisi per hoc quod in hoc ente includitur negatio illius entis.“ 328 Thomas von Aquino, Quaestiones disputatae de veritate, qu. 1, ar. 1, ad 7; ibid., qu. 1, ar. 5, ad 2; ibid., qu. 1, ar. 5, ad. 15; ibid., qu. 1, ar. 8, resp. 329 Thomas von Aquino, Quaestiones disputatae de veritate, qu. 1, ar. 1, ad. 7,; ders., Summa theologiae I, qu. 16, ar. 3, ad 2; ders., Summa theologiae I, qu. 17, ar. 4, co. 330 Thomas von Aquino, Quaestiones disputatae de veritate, qu. 1, ar. 1, co. 331 Thomas von Aquino, In I Sent., dist. 24, qu. 1, ar. 1, ad 1; ibid., dist. 24, qu. 1, ar. 3, ad 2; ders., Quaestiones disputatae de potentia, qu. 9, ar. 7, co. 332 Thomas von Aquino, Quaestiones disputatae de potentia, qu. 9, ar. 7, co; ders., Summa theologiae I, qu. 11, ar. 2, ad 4.

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absolut, aber „in bestimmter Hinsicht“ („secundum quid“) ein „Eines“ ist. Und auch die Umkehrung dieses Verhältnisses gilt, denn „in gewisser Hinsicht“ ist auch das „Eine“ vielerlei333. Dem ist hinzuzusetzen, daß der Begriff das „Einen“ auch negativ mit dem des „Vielen“ zu vermitteln ist: denn ein Seiendes heißt „Eines“, wenn und insofern es nicht vieles ist, d.h. also die im „Vielen“ konstitutive Unterschiedenheit und Getrenntheit aufgehoben ist, es also ein Un-Geteiltes ist334. Die reflexive Vermittlung verallgemeinerter Gegensatzbestimmungen, wie sie gerade erläutert wurde, ist in der Thomasischen Ontologie nicht isoliert zu betrachten. Denn dieser Aspekt, der die dialektische Qualität seines Denkens auszeichnet, wird von dem metaphysischen Grundsatz der Vorund Überordnung des positiv bestimmten Seienden und des in sich ungeteilten „Einen“ gegenüber der Negativität, Alterität und Pluralität des Seienden überlagert und dominiert335. Wenn also etwa das „Eine“ negativ mit dem „Vielen“ vermittelt werden kann, so ist dieser Umstand nach Thomas lediglich einer intellektuellen Reflexion geschuldet, nicht aber seinem abgeleiteten Seinsstatus: denn, real gesehen, ist es in einem höheren Maße positiv bestimmt als das „Viele“ und seine begriffliche Fixierung hängt auch nicht alleine von seinem Bezug auf das „Viele“ ab, wie Thomas hervorhebt336. Ferner seien negativ miteinander vermittelte Gegensatzbeziehungen, wie im Fall von privativen oder konträren Gegensätzen, immer durch eine Asymmetrie zwischen einem „Vollkommenen“ auf der einen Seite und einem „Unvollkommenen“ auf der anderen Seite geprägt, wobei eine Negation bzw. Privation den „unvollkommenen“ Part anzeige337. Diese Typen von Gegensatzbeziehungen führen über den Bereich der Transzendentalontologie hinaus in den Bereich des kategorial bestimmten Seins. Wie sich abzeichnet, können Reflexionen über das Sich-Bedingen und Sich-Ausschließen von Gegensätzen in diesem Bereich nur als ein Komplement einer Ontologie und Metaphysik angesehen werden, die eine positive und widerspruchsfreie Seins- und Heilsordnung zum Prinzip erhoben hat. Dementsprechend haben reine Negativitäten neben dem in sich Positiven und dem relativ Negativen keinerlei konstitutive Funktion für Thomas, da sie nichts für sich Bestehendes bestimmen können338. Gleichwohl kommt dem relativ Negativen sowohl im Bereich der Transzendentalontologie als ein unmittelbar Positives, wie auch im Bereich des kategorial bestimmten Seins als ein vermittelt Positives eine unverzichtbarer Stellenwert im Thomasischen Denken zu. 333

Thomas von Aquino, Summa theologiae I, qu. 11, ar. 2, ad 1: „Et exinde contingit quod multitudo est quoddam unum. … Et similiter quod est unum simpliciter, est multa secundum quid; et e converso.“ 334 Thomas von Aquino, In I Sent., dist. 24, qu. 1, ar. 1, ad 1; ders., Summa theologiae I, qu. 11, ar. 2, co. 335 Vgl. Thomas von Aquino, Summa theologiae I, qu. 11, ar. 2, ad 4. 336 Vgl. Thomas von Aquino, In I Sent., dist. 24, qu. 1, ar. 3, ad 2. 337 Vgl. Thomas von Aquino, Quaestiones disputatae de potentia, qu. 7, ar. 8, ad 4. 338 Vgl. Thomas von Aquino, Summa theologiae I, qu. 17, ar. 4, co.; ders., De principiis naturae, cap. 2.

DIE REFLEXIONSDIALEKTIK IM WERK DES THOMAS VON AQUINO

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Im Übergang von der Reflexionsdialektik im Rahmen der Transzendentalontologie zur Dialektik des natürlichen Werdens und Vergehens wendet sich Thomas der Aristotelischen Potenz-Akt-Dialektik zu. Denn alles kategorial bestimmte Sein, also alles Seiende zwischen dem göttlichen Ursprung als einem „reinen Akt“ und der Ersten Materie als einer „reinen Potenz“, ist durch die Differenz von Potentialität und Aktualität als gegensätzlicher Modi des Seins an jedem Seienden determiniert, wie Thomas festhält339. In den Vorgängen des Werdens und Vergehens und der prozessualen Veränderung (Bewegung) treten beide Seiten dieser Differenz in ein bestimmtes Verhältnis. Denn hier werden in konkreter Weise „Seiendes“ im Sinne des aktual formbestimmten Daseins von etwas („Akt“) und „Nicht-Seiendes“ im Sinne von Nicht-MehrDasein oder Noch-Nicht-Dasein einer bestimmten Form („Potenz“) an einem bestimmten Gegenstand miteinander vermittelt. Denn ein Ding, was sich bezüglich einer bestimmten „Form“ im Modus deren Möglichseins befindet, ist ein sowohl Noch-NichtSeiendes in bezug auf diese konkrete aktuale Form als auch ein mit einer davon unterschiedenen Form ausgestattetes Noch-Seiendes und vereinigt in einer prozessualen Veränderung von der einen zur anderen Formbestimmtheit beide entgegengesetzten Aspekte in sich340. Diese spezifische Kombination aus „Akt“ und „Potenz“ bzw. von Seiendem und Nicht-Seiendem, welche eine Bewegung ontologisch zwischen dem reinen Sein und dem reinen Nicht-Sein existieren läßt, repräsentiert für Thomas im Vergleich zum unbeweglichen reinen Sein Gottes gleichwohl eine gewisse Unvollkommenheit, also einen Defiziensstatus341. Die Bewegung ist also für ihn gewissermaßen ein negatives Anderes des göttlichen Seinsstatus und nicht einfach nur ein anderes Seiendes. Der Grund für diese ontologische Positionierung des natürlichen Bewegungsverhältnisses im Sinne eines Spannungs- und Inkongruenzverhältnisses zwischen „Potenz“ und „Akt“ bzw. zwischen „Sein“ und „Nicht-Sein“ ist für Thomas in der „Materie“ zu suchen. Durch sie gibt es in der natürlichen Körperwelt immer ein unaufhebbares Spannungsverhältnis zwischen momentanem aktualem Formbesitz und der Wechselmöglichkeit zu einer jederzeit möglichen alternativen Form. Im Unterschied und Gegensatz zur Welt der Himmelskörper kann es durch die „Materie“ in der natürlichen Körperwelt niemals zu einer Aktualisierung aller Potentialitäten kommen, wie er festhält342. Thomas füllt die kosmologische Lücke zwischen dem „reinen Akt“ in Gestalt Gottes und der „reinen Potenz“ in Gestalt der Ersten Materie also durch eine zweifache Wechselbeziehung zwischen „Potenz“ und „Akt“: zum einen durch die an Materie-Form-Komplexe gebundene Dialektik von „Potenz“ und „Akt“ bzw. von Wan339

Thomas von Aquino, Quaestio disputata de spiritualibus creaturis, art. 1, sol.: „Manifestum est enim quod cum potentia et actus dividant ens, et cum quodlibet genus per actum et potentiam dividatur …“ 340 Thomas von Aquino, In libros Physicorum, lib. V, lect. 2, n. 8; ders. Quaestiones disputatae de potentia, qu. 5, art. 3, co. 341 Vgl. Thomas von Aquino, Quaest. disp. de potentia, qu. 1, ar. 6, co. 342 Vgl. Thomas von Aquino, Quaest. disp. de potentia, qu. 5, ar. 8, co.

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del und Beständigkeit in der Körperwelt, in welcher die beiden Seinsmodi nur partiell zur Deckung kommen, ansonsten aber eine Asymmetrie zwischen aktualem und potentiellem Dasein bestehen bleibt; zum anderen durch die Dialektik aus gesetzter und realisierter Möglichkeit in den Bewegungen der Himmelskörper, wo „Potentialitäten“ und „Aktualitäten“ vollständig zueinander symmetrische Gegenteile bilden. Die Potentialitäten und Aktualitäten innerhalb des kategorial bestimmten Seins werden damit nicht als unvermittelte polare Gegensätze behandelt, sondern als prozessual vermittelbare, welche zueinander in bestimmte Verhältnisse treten. Insofern zeigen Thomas’ Reflexionen auch deutlich die Intention einer Vermittlung der kosmologischen Gegensätze. Von anderen dialektischen Ansätzen hingegen, welche entweder die absolute Kontingenz in der Körperwelt und damit die Symmetrie von positiver und negativer Daseinspotentialität propagierten (Ibn Sina) oder das generelle unaufhörliche Werden und Vergehen in Gestalt eines allumfassenden „Fließens“ aller Dinge vertraten (Heraklit), hat sich Thomas ausdrücklich distanziert343. Die kognitive Dimension dieser Potenz-Akt-Dialektik von prozessualen Veränderungen, welche sich in der irdischen und der Himmelskörperwelt abspielen, besteht in der Durchdringung von objektivem Sachverhalt und begrifflicher Reflexion. Denn die Negativitäten überhaupt und damit auch diejenigen, welche im Begriff der „Bewegung“ und in den Begriffen des „Werdens“ und „Vergehens“ eingeschlossen sind, sind für Thomas keine substanz- und wesenhaften Entitäten, sondern Reflexionsinhalte des erkennenden Intellekts344. Insofern bleibt die Dialektik der natürlichen Veränderungen bei Thomas konsequent eine Reflexionsdialektik und wird nicht zu einer separaten Dialektik der Natur. Nichtsdestoweniger kommt dem privativen „Noch-Nicht-Sein“ und dem „Nicht-Mehr-Sein“ im Sinn eines Werdenden bzw. Vergehenden bei der Erklärung des Werdens eine prinzipielle, d.h. begründende und erklärende Funktion zu. Hingegen entbehrt es dieser Funktion für das Sein als solches, wie Thomas ausdrücklich festhält345. Der Intellekt behandele, so Thomas, innerhalb von bejahenden und verneinenden Aussagen die Negationen und Privationen „gewissermaßen wie Seiende“, ohne daß ihnen ein selbständiger kategorialer Status zufallen kann: sie haben ein „Sein im Verstand“346. Nicht als Dinge, sondern als Sachverhalte können Negationen und Privationen durch den Intellekt als objektive Reflexionsgegenstände zur Wahrheitserkenntnis herangezogen werden347. Wird nun von „Seiendem“ („ens“) in einem weiteren Sinn als nur in der Bedeutung des naturhaften, des an sich Seienden, des „reinen Seins“ oder des kategorial bestimmten positiven Seienden gesprochen, so läßt sich nach Thomas auch das sogenannte 343

Vgl. Thomas von Aquino, Quaest. disp. de potentia, qu. 5, ar. 3, co.; ders. In libros Physicorum, lib. 5, lect. 6, n. 7. 344 Vgl. Thomas von Aquino, Quaest. disp. de veritate, qu. I, ar. 8, resp. 345 Vgl. Thomas von Aquino, De principiis naturae, cap. 2. 346 Vgl. Thomas von Aquino, Commentaria in libros Metaphysicorum, lib. 4, lect. 1, n. 12. 347 Vgl. Thomas von Aquino, Quaest. disp. de veritate, qu. 1, ar. 5, ad 2.

DIE REFLEXIONSDIALEKTIK IM WERK DES THOMAS VON AQUINO

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„Böse“ bzw. das „Schlechte“ („malum“) als ein „Seiendes“ verstehen, und zwar als ein solches, das sich in einer Äquidistanz zum „Seienden als solchen“ („ens simpliciter“) und dem „Nicht-Seienden als solchen“ („non ens simpliciter“) befindet. Das „Böse“ oder „Schlechte“ ist, kurz gesagt, eine Privation, d.h. also ein negativ bestimmtes Seiendes bzw. Nicht-Seiendes in einem bestimmten Seienden348. Doch auch diese Form einer bestimmten Negativität bzw. eines defizitären Seinsstatus, welcher in Gestalt einer negativen Normabweichung eine konkrete Negation in einem zugrundeliegenden Gegenstand einschließt, ist für Thomas kein Ding349. Es ist ein „Un-Gutes“, d.h. ein in Abweichung von der Norm (dem „Guten“) Bestehendes, das wir gewöhnlich als „Böses“ oder „Schlechtes“ bezeichnen. Dabei bleibt die zugrundeliegende Substanz des „Schlechten“ etwas in der Potenz zum Guten Bestehendes350. Das sogenannte „Schlechte“ läßt sich allgemein also als ein relatives „Gutes“ bestimmen351. Die Relativität des Gegensatzes von „Seiendem“ und „Nicht-Seiendem“ zeigt sich hier in der Relationierung des „Schlechten“ bezüglich des Guten durch den Begriff der „Privation“. Die Allgemeingültigkeit des „Guten“ in allem Seienden impliziert den Sachverhalt, daß ein bestimmtes „Gutes“ auch ein „Schlechtes“ ist, und zwar nicht in derselben Hinsicht, sondern in verschiedener Hinsicht: so kann ein bestimmtes Lebewesen, das ein „Gutes“ ist, beispielsweise erblindet und insofern auch ein „Schlechtes“ sein, welches „Schlechtsein“ sich nicht auf seine „Güte“ als Lebewesen, sondern den Zustand der Sehkräftigkeit bezieht. In der Konsequenz einer solchen Erklärung des Daseins des sogenannten „Schlechten“ konstatiert Thomas die Wahrung des Gesetzes vom ausgeschlossenen logischen Widerspruch in Kombination mit dem Zusammenbestehen gegensätzlicher Bestimmungen an ein und demselben, d.h. von „Gutem“ und „UnGutem“352. Die von Thomas intendierte Relativität und Kompatibilität von bestimmten Gegensätzen wird also innerhalb der Reflexionsdialektik strikt an das logische Widerspruchsprinzip gebunden. Darin ist die strukturelle Grundbedingung der Thomasischen Reflexionsdialektik zu sehen. Die Kompatibilität von Gegensätzen im Bereich des begrifflichen Denkens gilt für Thomas grundsätzlich für die sogenannten „konträren Gegenteile“ (z.B. „Gutes“-„Schlechtes“, „Schwarzes“-„Weißes“, „Gesundheit“„Krankheit“ usw.). Solche Gegensätze bzw. Gegenteile hören im Akt ihres Begriffenwerdens auf, einander ausschließende Gegenteile zu sein, wie er hervorhebt. Vielmehr werden sie kognitiv als Korrelate durch ein und denselben Wissensakt erfaßt und bilden darum – anders als in der extramentalen Wirklichkeit – für ihn artidentische Komponenten ein und desselben Wissens, welche aufeinander verweisen und einander bedingen, ohne einander auszuschließen. Der reflektierende Intellekt, nicht aber das unmittelbare Dasein von „konträren Gegenteilen“ in ihrer konkreten materialisierten 348

Vgl. Thomas von Aquino, Summa theologiae I, qu. 48, ar. 2, ad 1. Vgl. Thomas von Aquino, Summa theologiae I, qu. 48, ar. 2, ad 2. 350 Vgl. Thomas von Aquino, Summa theologiae I, qu. 48, ar. 3, co. 351 Vgl. Thomas von Aquino, Summa theologiae I, qu. 11, ar. 2, ad 1. 352 Vgl. Thomas von Aquino, Summa theologiae I, qu. 48, ar. 3, ad 3. 349

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Gestalt bedingt deren relative Einheit. Die reale Verschiedenheit und wechselseitige Ausschließlichkeit solcher „konträrer Gegenteile“ bleibt davon genauso unberührt wie das Verbot ihrer unterschiedslosen Ineinssetzung. Denn Thomas läßt solche Gegensätze in der Realität auf einem Gegensatz zwischen verschiedenen Spezies ein und derselben Gattung beruhen. In der heiklen Grundsatzfrage der Aristoteliker nach der Arteinheit oder aber -verschiedenheit von „konträren Gegenteilen“ hat Thomas offenbar mit einem vermittelnden „sowohl als auch“ zu antworten versucht353. Die Thomasische Reflexionsdialektik erschöpft sich nicht in der Betrachtung von extramentalen Gegenstandsbereichen und Sachverhalten, sondern erstreckt sich auch auf den sich selbst reflexiv erkennenden Verstand. Und Thomas trennt beide Erkenntnismodi nicht voneinander ab, sondern behauptet vielmehr ihre gegenseitige Bedingtheit. Er stellt fest: „Unser Denken kann sich nicht selbst erkennen, indem es sich selbst unmittelbar erfaßt: vielmehr auf die Weise, daß es dadurch und damit, daß es anderes erfaßt, zur eigenen Erkenntnis gelangt.“354. Diese Befähigung des menschlichen Geistes zur reflektierenden Selbsterkenntnis ist für Thomas ein angestammtes Wesensmerkmal alles Seelischen, konstituiert also das menschliche Erkenntnisvermögen der „Intellektseele“ als eines Subjekts355. Ganz generell erfolgt wiederum die intellektuelle Wesenserkenntnis von gegenständlicher Wirklichkeit nach Thomas auf die Weise, daß in ihr drei aufeinander folgende Phasen miteinander korrespondieren: zunächst der „Ausgang“ hin zum zu erkennenden Gegenstand; sodann die „Zurückbeugung“ des Intellekts auf diesen seinen Akt und die damit verbundene Erkenntnis des darin tätigen Prinzips, d.h. des Intellekts selbst; schließlich die Inbezugsetzung des Erkenntnisaktes zum zu erkennenden Gegenstand und die Feststellung einer Übereinstimmung beider im Sinne der „Wahrheit“. Jedes intellektive Erkennen ist für Thomas damit ein selbstreflexiver Kreislaufprozeß, in welchem das Erkenntnissubjekt und das -objekt miteinander vermittelt werden und das Erkenntnissubjekt sich selbst in der Vermittlungstätigkeit erkennt. In das Ontologische und das Kosmologische gehoben, erkennt Thomas dann hierin die vollkommenste Art des Seienden überhaupt, welche er den sogenannten „geistigen Substanzen“ zuspricht: denn bei ihnen finde der Vorgang einer vollständigen Rückkehr zu sich selbst statt. Den neuplatonischen Ursprung einer solchen Deutung macht Thomas durch einen direkten Verweis auf den „Liber de causis“ deutlich. In der so charakterisierten Kreisförmigkeit intellektueller Erkenntnis- und Daseinsweise erschließt sich für Thomas ein besonderes Stück von Reflexionsdialektik, das so weder dem Vorgang sinnlichen Erkennens noch der unbeseelten Wirklichkeit zu353

Vgl. Thomas von Aquino, Summa theologiae I–II, qu. 54, ar. 2, ra. 1; ders., Quaest. disp. de verit. 2, qu. 26, ar. 3, ra. 6; ders., Quaest. disp. de virtutibus, qu. 2, ar. 6, ra. 8; ders., In libros Metaphysicorum, lib. 7, lect. 6, n. 25. 354 Thomas von Aquino, Quaest. disp. de veritate, qu. 10, ar. 8, co.: „Mens nostra non potest seipsam intelligere ita quod seipsam immediate apprehendat; sed ex hoc quod apprehendit alia devenit in suam cognitionem.“ 355 Ibid., qu. 10, art. 8, co.

DIE REFLEXIONSDIALEKTIK IM WERK DES THOMAS VON AQUINO

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kommt, wie er abschließend feststellt356. Die Dialektik des Erkenntnisprozesses besteht in der vermittelten Einheit von Erkenntnissubjekt und -objekt, von Fremd- und Selbsterkenntnis, von Sein und Bewußtsein, von Dasein und Werden. Im Gesamtrahmen des Thomasischen Denkens findet das Kreismotiv in dem theologischen Gedanken des Ausgangs aller Dinge hinsichtlich des Seins und Wesens aus Gott, in der Annahme ihres daraus begründeten formhaften Daseins und dem Postulat ihrer schließlichen Rückwendung auf ihren Ursprung eine grundlegende Anwendung357. Thomas bedient sich im Rahmen dieses neuplatonischen Motivs allerdings nicht der Emanations- und Flußmetapher, sondern betont die direkte Rolle Gottes als des unmittelbaren Schöpfers des kreatürlichen Seins und dessen identische Omnipräsenz in allem Seienden als dessen Schöpfer, als die „Ursache des Seins“ („causa essendi“)358. Alles kreatürliche Dasein wird so nicht einfach als „Ausfluß“ aus dem göttlichen Ur-Einen, sondern als eine komplementäre Einheit aus Gottnähe vermittels einer graduellen endlichen Partizipation am Sein und einer gleichzeitigen Gottferne durch eine unendliche Distanz zum reinen Sein Gottes und damit eine gewisse Form des „Nicht-Seins“ definiert359. Im Sein der geschaffenen Dinge vereinigen sich nach Thomas auch die beiden komplementären Aspekte der Einheit und der Vielheit, die beide unmittelbar auf Gott zurückführbar sind, zugleich aber nur unvollkommen und in abgewandelter Form in ihnen zum Ausdruck kommen können360. Ferner charakterisiert für Thomas auch eine Vereinigung aus Unterschiedenheit und Ähnlichkeit (neben dem Verhältnis von Ursprung und Abgeleitetem) das Verhältnis zwischen dem göttlichen Sein und Wesen einerseits und der geschaffenen Welt andererseits361. So treten zur Charakteristik des Verhältnisses von Welt und Gott positive und negative Momente im Verein auf, sind durch die Wahl unterschiedlicher Perspektiven auf dieses Verhältnis aber auch voneinander getrennt. Auf diese Weise werden zwei Extrempositionen in der Deutung dieses Verhältnisses vermieden: einerseits eine krasse Entgegensetzung von Gott und Welt, andererseits deren indifferente Ineinssetzung. Thomas entscheidet sich für das Verhältnis eines relativierten Gegensatzes zwischen ihnen. Darin kann die dialektische Pointe von Thomas’ geschilderter Reflexion über dieses Verhältnis gesehen werden. Hinsichtlich der Möglichkeiten einer intellektuellen Erkenntnis Gottes ging Thomas einerseits von gewissen Ähnlichkeiten der Geschöpfe mit ihrem Schöpfer aus, betonte aber auch umgekehrt, daß Gott seinerseits den Geschöpfen nicht ähnlich sei, was sich insgesamt sprachlich durch eine analoge Prädikation ausdrücken lasse362. Im 356

Ibid., qu. 1, ar. 9, resp. Vgl. Thomas von Aquino, Summa theologiae I, qu. 63, art. 4; ders., Summa contra gentiles II, cap. 46. 358 Vgl. Thomas von Aquino, Summa theologiae I, qu. 8, ar. 1, co. 359 Vgl. Thomas von Aquino, Quaest. disp. de veritate, qu. 2, art. 3, ad 16. 360 Vgl. Thomas von Aquino, Compendium theologiae, lib. 1, cap. 71–73. 361 Vgl. Thomas von Aquino, Quaest,. disp. de potentia, qu. 7, ar. 8, co.; ebd., qu. 7, ar. 8, ad 4. 362 Vgl. Thomas von Aquino, Quaest. disp. de potentia, qu. 7, ar. 7, co.; ebd., qu. 7, art. 7, resp. ad contra 3. 357

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DIALEKTISCHES DENKEN IM HOCHMITTELALTER

Resultat werden damit sowohl eine gewisse Gleichheit als auch eine Ungleichheit zwischen beiden ausgesagt. Eine irgendwie geartete positive Wesenserkenntnis Gottes aber hat Thomas prinzipiell ausgeschlossen und an deren Stelle die grundsätzliche Transzendenz Gottes gegenüber allen Bestimmungen des sonstigen Daseienden vertreten. In dieser Beziehung gilt der Satz, daß „Gott zu erkennen heißt, daß wir wissen, daß wir sein Wesen nicht kennen“363. Thomas artikuliert hier durchaus einige Grundannahmen der „negativen Theologie“, wenn er von der Transzendenz Gottes ausgeht und eine adäquate Wesenserkenntnis Gottes leugnet. Wird von Gott in diesem Zusammenhang wie von einem „Nicht-Seienden“ gesprochen, so meint das nach Thomas allerdings einzig und allein eine Kennzeichnung von dessen transzendenter Existenzweise „über alles Existente hinaus“, und zwar als „sein Sein selbst“, wie Thomas hervorhebt364. Im Unterschied zu anderen Vertretern einer „negativen Theologie“ hat er in dieser negativen Kennzeichnung Gottes keine überlegene Art der Annäherung an Gott gegenüber der affirmativen Theologie gesehen. Statt dessen sah er in der „negativen Theologie“ eine bloße alternative Kennzeichnungsform ohne einen spezifischen Erkenntnisgewinn bezüglich ihres Gegenstandes365. Die Kompatibilität von „Sein“ und „Nichts“ erweist sich in bezug auf die begriffliche Erkenntnis Gottes so offenbar als eine rein subjektive. Sie muß im Thomasischen Verständnis hinter der metaphysischen Gleichsetzung von Gott mit „dem Sein selbst“ zurücktreten366. Die subjektive Selbstreflexivität des Verstandes in der Form seines wissenden Nicht-Wissens vom Wesen Gottes vereinigt in sich sowohl die spezifische positive Vollkommenheit des Intellekts als eines selbstreflexiven Vermögens mit der eigenen Begrenztheit und Unvollkommenheit hinsichtlich des Erfassens eines unendlich Seienden. In der „negativen Theologie“ von Thomas findet also nicht so sehr ein dialektischer Gottesbegriff als vielmehr die Dialektik des endlichen Verstandes einen entsprechenden Ausdruck. Thomas von Aquino läßt in seinen Betrachtungen über die dialektischen Beziehungen von Sein und Nicht-Sein, von Einheit und Vielheit, von Identität und Unterschied, von Immanenz und Transzendenz Gottes, von Gegenstands- und Selbsterkenntnis usw. auf der Basis aristotelischer und neuplatonischer Vorgaben einen komplexen dialektischen Denkansatz erkennen, der durchaus vergleichbar ist mit demjenigen seines Lehrers Albert des Großen. Vor allem in der Transzendentalontologie und der Theorie der rationalen Erkenntnis und Selbsterkenntnis konnte er eigene Akzente im Rahmen seiner Reflexionsdialektik setzen. Hingegen waren entsprechende Impulse im Rahmen von Naturphilosophie, Kosmologie oder Theologie schwächer ausgeprägt als bei Albert. In der ausgiebigen Anwendung von Pro- und Contra-Argumentationen und dem Gebrauch 363

Vgl. Thomas von Aquino, In Dionysii De divinis nominibus, cap. 7, lect. 4: „… hoc ipsum est deum cognoscere, quod nos scimus nos ignorare de deo quid sit.“ 364 Vgl. Thomas von Aquino, Summa theologiae I, qu. 12, ar. 1, ad 3. 365 Vgl. Thomas von Aquino, Summa contra gentiles I, 30, 3. 366 Vgl. dazu J. Miernowski, Le Dieu Néant. Théologies négatives a l’aube des temps modernes, S. 22–38.

EIN DIALEKTISCHER ANSATZ IN DER NATURPHILOSOPHIE DES RAMON LULL

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der Methode der „Quaestio“ als eines kontroversen Diskussions- und Problemlösungsverfahrens hat die Dialektik in ihrer Funktion als Disputationsmethode367 und als ein Verfahren der Widerspruchsbeseitigung ebenfalls einen festen Platz in seinem umfangreichen Werk. Gegenüber der übergeordneten metaphysischen Seins- und Wesenserkenntnis aber hatte sie sich mit den „Akzidentien des Seienden“ und mit der Rolle eines heuristischen Verfahrens, ausgehend von Wahrscheinlichkeitsannahmen, zu begnügen, ohne im strengen Sinn des Wortes zu „demonstrieren“, wie Thomas im Einklang mit Aristoteles feststellt368.

Ein dialektischer Ansatz in der Naturphilosophie des Ramon Lull Ramon Lull (1232–1316) entwickelte in seinem umfangreichen philosophisch-theologischen Werk Vorstellungen, die ein dialektisches Verstehen der natürlichen Welt als ganzer möglich machten. In der Schrift „Liber Chaos“369 (um 1283 entstanden) begreift er die natürliche Welt als ein in ständiger Bewegung und Veränderung befindliches dynamisches Ganzes. Zur Basis dieses Ganzen erklärt er die Wirkungen, Wechselwirkungen und dynamischen Verbindungen der „Elemente“, d.h. also von Erde, Wasser, Luft und Feuer. Allerdings ist dieser Zusammenhang von ihm dem göttlichen Schöpfungsakt nach- und beigeordnet, welcher sich auf die einfachen natürlichen Körper, deren Dispositionen und die Regeln der Entfaltung der Ursprünge in ihre komplexen Wirklichkeiten bezieht. Doch neben diesem kreationistischen Gesichtspunkt, der den theologischen Rahmen der Gedankenwelt Lulls belegt, geht es ihm im weiteren hauptsächlich um eine immanente Betrachtung des Zusammenhangs zwischen den Ursprüngen und den mannigfaltigen innerweltlichen Vorgängen. Denn für ihn galt es als erwiesen, daß aus der ursprünglichen potentiellen Vereinigung aller Dinge in Gestalt der „Samengründe“ bzw. der Einheit von „universeller Form“ und „universeller Materie“ alles weitere Besondere und Einzelne durch die harmonisierende Kraft der „Natur“ „herausfließe“370. Damit kombinierte er in seiner Kosmogonie stoische, aristotelische und neuplatonische Motive. Die Dialektik von Potentialität und Aktualität, von Werden und Sein sowie von Einheit und Vielheit realisiert sich bei Lull im Vorgang einer graduell-genetischen Konstituierung von Welt. Die Triaden von „Anfang“ („principium“). „Mitte“ („medium“) und „Ziel“ („finis“); von „Größersein“ („maioritas“), „Gleichheit“ („aequalitas“) und „Kleinersein“ („minoritas“); sowie die Triade von „Unterschied“ („differentia“), „Übereinstimmung“ („concordantia“) und „Gegensatz“ („contrarietas“) 367

Thomas von Aquino, In III Sent., dist. 33, qu. 3, ar. 1d, co.: „… et dialectica, quae est ex operibus quae sunt a nobis ordinatis ad sciendum, cum sit scientia bene disputandi …“ 368 Vgl. Thomas von Aquino, Summa theologiae II–II, qu. 48, ar., co.; ders., Commentaria in libros Metaphysicorum, lib. 3, lect. 2, n. 8. 369 In: Raymundus Lullus, Opera, T. III, Mainz 1722, p. 249–292. 370 Ibid., vgl. cap. „De tribus gradibus Chaos“ und cap. „De motu Chaos“, p. 252–254.

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bilden die Gruppen von relativen Prinzipien, durch welche der Hervorgang, der Ablauf und die Struktur der Weltkonstituierung ganz allgemein geregelt werden sollen371. Dabei gilt sowohl der allgemeine Grundsatz der Korrelativität der Prinzipien untereinander, als auch der der Wirkungskräfte und -gegenstände sowie der der Prozeßstufen untereinander. Dementsprechend schaltet Lull zwischen den potentiellen Ursprung alles natürlich Daseienden (als dem ersten Grad des „Chaos“) und der vollständigen Diversifikation aller individuellen Seinsformen (als dem dritten Grad des „Chaos“) einen sogenannten „zweiten Grad des Chaos“ („secundus gradus Chaos“). Dieses Mittelglied umfaßt die strukturierten Urformen der Naturdinge in ihrem spezifizierten Dasein unter der regulierenden Kraft des Ursprungs. Es vermittelt die potentiellen Ursprünge der „Samengründe“ mit der Welt des diversifizierten Besonderen und Einzelnen372. Insofern liegt dem Lullschen Weltmodell eine Vermittlungsdialektik von Allgemeinem, Besonderen und Einzelnen zu Grunde. Die Einheit von Identität und Differenz sowie von Beständigkeit und Vergänglichkeit im natürlichen Weltgeschehen zeigt sich für Lull in der Allgegenwart des „ersten Grades des Chaos“ in der „sublunaren Welt“, in dem beständigen Werden und Vergehen von Differenzierungen sowie der schließlichen Rückkehr zum einheitlichen Ausgangspunkt von allem, nachdem das Differenzierte sich wieder aufgelöst hat373. Auf diese Weise unterliegt die physische Welt im Lullschen Verständnis einem universellen Kreislaufprozeß, in welchem es eine durchgehende Richtung vom allgegenwärtigen einheitlichen Ursprung von allem, über die vielfältigen Differenzierungen schließlich wieder zum Ursprung zurück gibt. Sowohl die neuplatonische dialektische Trias aus „Hervorgang“, „Verharren“ und „Rückkehr“, als auch der aristotelische dialektische Wechselbezug aus Entstehen und Vergehen werden als immanente Momente dieses Kreislaufprozesses aufgefaßt. Das wechselseitige Bedingtsein von Materie und Form, von Anfang, Mitte und Ende, von Werden und Vergehen, von Verbindung und Auflösung, von Ursache und Wirkung usw. ist für Lull eingebunden in eine reale Zeitlichkeit. Denn nur unter dieser Bedingung kann es sich bei den genannten Reflexionsbegriffen um Bezeichnungen für echte Korrelativa handeln, also für in ihrer Differenz zueinander zugleich aufeinander verweisende Relationsglieder eines Prozeßzusammenhangs, nicht aber um rein gedankliche Konstrukte. Analog dazu hält Lull auch in den Diskursprozessen die Realität der Zeit371

Ibid., vgl. cap. „De tribus gradibus Chaos“, p. 252 und passim. Ibid., vgl. cap. „De tribus gradibus Chaos“, „De generatione et corruptione Chaos“, „De decem praedicamentis et primo de substantia Chaos“, p. 252–253; 256; 275. 373 Ibid., cap. „De differentia Chaos“. p. 271: „Sicut differentia descendit de primo gradu Chaos in tertium, generando, sic de tertio ad primum revertitur corrumpendo, et hoc in eodem loco, cum primus gradus Chaos ubique sit sub globo lunari, unde illa differentia, quae generata est, quando corrumpitur, tunc mediantibus quatuor speciebus mixtionis ad primum gradum rervertitur, aliter si grano corrupto eius differentia in nihilum deveniret, primus gradus Chaos esset naturaliter annihilabilis, quod est impossibile.“ 372

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lichkeit für eine conditio sine qua non für die Kompatibilität von deren korrelativen Momenten, d.h. „Unterscheidung“, „Übereinstimmung“ und „Gegensätzlichkeit“; „Anfang“, „Mitte“ und „Ende“; „Größersein“, „Gleichheit“ und „Kleinersein“; „Bejahung“, „Anzweiflung“ und „Verneinung“. Denn nur dann wird zueinander Differentes auch als miteinander positiv Zusammenhängendes begreifbar, wie Lull hervorhebt374. Die Realität von Zeit wird Lull so zum Realgrund für die Einheit aus Identität und Differenz sowohl im Naturzusammenhang als auch im argumentativen Denkzusammenhang. Die Zeit selbst wird ihm zum notwendigen Vermittler der relativen Gegensätze in dem Ganzen der Natur und des rationalen Diskurses. Die Daseins- und die Denkordnung können auch erst unter der Bedingung einer „objektiven Zeit“ („tempus objectatum“) wahrheitsgemäß aufeinander bezogen werden, wie Lull an gleicher Stelle hervorhebt375. Die dialektische Annahme einer Kompatibilität und Korrelativität von Unterschieden und Gegensätzen als positiver Komponenten eines Ganzen verbleibt also bei Lull nicht in einer subjektiven Perspektive, sondern fußt auf der ontologischen Annahme einer einheitlichen Realzeit in der Welt. Aber auch die physische Realität räumlicher Beziehungen und Differenzen ist für ihn die notwendige Voraussetzung seiner dynamischen dialektischen Kosmologie. Ansonsten, so macht er plausibel, seien alle dynamischen Prozesse und Verhaltensweisen der natürlichen Körper unmöglich376. Freilich denkt er in den Kategorien der Raumwelt des Aristoteles. Er versteht unter „Raum“ („Örtlichkeit“) nicht ein Absolutum, sondern in erster Linie die Relation des realen Enthaltenseins von etwas in einem anderen im Sinn einer wesentlichen Bedingung des einen durch das andere und auch im Sinn ihrer wechselseitigen wesentlichen Bedingtheit, d.h. von Materie und Form, der unterschiedlichen Elemente, von Substanz und Akzidens. Eine solche „räumliche“ Beziehung charakterisiert er als unbeweglich, unsichtbar und fern der sinnlichen Vorstellung377. Der Ansatz zu einer dialektischen Naturphilosophie und Kosmologie in Lulls „Liber Chaos“ war vom Autor als Anwendung und Anhang seiner 1283 entstandenen „Ars demonstrativa“ konzipiert worden, um im Bereich der Naturphilosophie die Gültigkeit seiner universellen Kombinatorik und insbesondere seiner triadischen Prinzipienlehre 374

Ibid., vgl. cap. „De tempore Chaos“, p. 281–283. Ibid., p. 281–282: „Primus gradus Chaos fuit prius, quam secundus, et secundus, quam tertius, et hoc satis manifestum est, quod tamen manifestum non esset sine tempore objectato, unde si tempus nihil est, potentia objectiva falsum objectat, ut possit objectare verum , et isto modo conveniunt melius falsum et verum, quam verum et verum, quod falsum est, ergo oportet tempus esse aliquid reale, ut de influentia et virtute eius intellectiva potentia possit objectum accipere vero modo absque falsitate …“ 376 Ibid., cap. „De loco Chaos“, p. 283–285. 377 Ibid., p. 284: „… locus est id, per quod continens et contentum possunt esse, et per quod altera pars potest esse in altera, sicut forma in materia, et e converso, et alia elementa in aliis, et alia accidentia in aliis, sicut caliditas in humiditate et e converso, et substantia in accidentibus et e converso, hoc siquidem dicimus locum, quem quaerimus, hic autem locus est per se simplex, immobilis, invisibilis et inimaginabilis.“ 375

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nachweisen zu können378. Mit dem Begriff des „Chaos“, der im Mittelpunkt des Werks steht, will Lull die Welt als eine Einheit des Unterschiedenen sowohl in strukturaler, genetischer als auch prozessualer Hinsicht zu begreifen lehren. Die dialektische Triadik Lulls macht die Vermittlung von relativen Gegensätzen plausibel, insofern sie zu differenten Daseinsmomenten eines Ganzen bestimmt werden. Ferner ist Lulls Intention offenbar auch darauf gerichtet, das theologische Schöpfungsprinzip mit der aristotelischen Potenz-Akt-Theorie, der neuplatonischen Flußmetaphorik sowie der stoischen Lehre von den „Samengründen“ zu einem Gesamtmodell des natürlichen Kosmos zu synthetisieren. Indem er von der theologischen und metaphysischen Spekulation zu einem Modell der raum-zeitlichen Welt als eines bewegten und belebten Ganzen fortschreitet, zeigt er die theoretischen und methodischen Grundsätze seines dialektischen Naturverständnisses. Methodisch wird dabei der Begriff des „Chaos“ durch ein fortschreitendes Differenzieren in seine hierarchisch einander zugeordneten Bedeutungsebenen zerlegt, mit der überlieferten Begrifflichkeit vor allem der aristotelischen Philosophie koordiniert, und schließlich werden die verschiedenen Bedeutungsebenen von Lull zu einem komplexen Ganzen synthetisiert. Die in der Kombinatorik zuvor gewonnene Lehre von den relativen Prinzipien bildet die immanente heuristische Voraussetzung für die Argumentationsführung. In theoretischer Hinsicht richtet sich Lull nach dem Prinzip der Bedingtheit und des Vermitteltseins aller Unterschiede und Gegensätze in einem dynamischen Gesamtzusammenhang. Lull hat in seiner 1303 vollendeten Schrift „Logica nova“ noch einmal zum Begriff der „Natur“ grundsätzlich Stellung genommen. Hier betont er die innere dynamische Trias aus „aktiver Natur“ („naturativum“), „passiver Natur“ („naturabile“) und der „Tätigkeit des natürlichen Wirkens“ („naturare“) als eine unauflösliche Einheit unterschiedlicher Momente im Natürlichen379. Diese triadische Struktur von „Natur“ ist grundlegend, wesentlich und notwendig, wie Lull festhält. Dieses komplexe „Natur“-Prinzip gilt sowohl im Bereich der Körperwelt, als auch in der Sphäre der Engel und nicht zuletzt auch für das Begreifen Gottes380. Speziell macht Lull auf die vermittelnde Position von „Natur“ zwischen dem abstrakt Allgemeinen und dem Einzelnen bzw. zwischen dem Wesen und dem Sein aufmerksam, welche die Daseinsweise von „Natur“ generell auszeichne381. Lull versteht unter dem „Natur“-Prinzip offenbar ein universell gültiges Vermittlungsprinzip, welches die metaphysisch getrennten Abstrakta (Aktives-Passives, Einzelnes-Allgemeines, Wesen-Sein) zu Komponenten eines konkreten Ganzen kontrahiert und sie dadurch in ihrer Gegensätzlichkeit relativiert. Als eine dialektische Dreieinheit bzw. Zweieinigkeit repräsentiert das „Natur“-Prinzip Lulls außerdem die innere 378

Ibid., prooemium, p. 249: „Secundum modum secundae figurae elementalis fit haec positio, quam Chaos appellamus, demonstrabilis manifeste.“ 379 Vgl. Raimundus Lullus, Logica nova, lat.-dt., übers. u. hrsg. v. Ch. Lohr, dist. V, cap. 1, p. 274– 281. 380 Ibid., p. 278. 381 Ibid., p. 280.

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Einheit von Sein und Wirken382. Das bestehende Seiende der Natur ist für Lull also kein isoliertes, lebloses Etwas, sondern eine mobilisierende und strukturierende Kraft. Das Bestehen, das Bewirken und das Gestalten sind also als die konstitutiven und korrelative Momente des Natürlichen zu verstehen. Diesen Gedanken von einer dynamisch aufgefaßten Wirklichkeit hatte Lull bereits in seinem „Liber Chaos“ expliziert. Er gehört zu den tragenden Intentionen von Lulls Philosophie. Entsprechende Parallelen bzw. Vorgänger sind in den Überlegungen von Ibn Gabirol, Roger Bacon, Albertus Magnus oder Dietrich von Freiberg zu finden. Ohne Zweifel war Lull aber von dem neuplatonischen Thesenwerk „Liber de causis“ besonders inspiriert worden. Gleichwohl hat Lull mit seinem „Natur“-Konzept und seinem komplexen „Chaos“-Begriff einen eigenen originellen Ansatz zu einer dialektischen Natur- bzw. Wirklichkeitsphilosophie geschaffen. Trotz aller unterschiedlichen thetischen, hypothetischen oder demonstrativen Formen vereinte diesen philosophischen Ansatz und die berühmte Lullsche Kombinatorik sein oberster Grundsatz argumentativer Problemlösung, wonach zu Beginn der methodische Zweifel im Sinn der Anerkennung alternativer Lösungsmöglichkeiten nicht nur gestattet, sondern sogar erwünscht war, der am Ende der Argumentation ausgeräumt worden sein sollte383. Nicht zuletzt in dieser Art der Problemorientierung erweist sich die Lullsche Art des Philosophierens als eine besondere Form von Dialektik. Es ist ergänzend zu bemerken, daß Lull einen dialektischen Ansatz außer in seinem naturphilosophischen Konzept und seiner problemorientierten Methodik auch in einigen seiner erkenntnistheoretischen Äußerungen erkennen läßt. Denn er verstand seine „Kunst“ („Ars“) nicht nur als ein analytisches und kombinatorisches formales Verfahren, sondern vor allem auch als ein aufsteigendes Verfahren von Erkenntnisgewinnung. In diesem Verfahren sollten die jeweils übergeordneten Vermögen des Objekterfassens die Resultate der jeweils untergeordneten Vermögen in sich bewahren und zugleich ergänzend und kritisierend überschreiten. Die Sinneskraft wird auf diese Weise von der Vorstellungskraft „transzendiert“; ihrerseits die Vorstellungskraft wieder vom Intellekt; der Intellekt schließlich kann sich selbst „transzendieren“, so daß er sein eigenes NichtErfassen erfassen und es zu Annahmen über eine „objektive Realität“ kommen kann, die die Fassungskraft des Intellekts überschreiten, aber im Glauben („fides“) und im Meinen („opinio“) eine volle Gültigkeit besitzen, so daß es also eine Art überbewußter Wirklichkeit gibt, welche nur dem Glauben und dem Meinen Objekt sein kann, nicht aber dem diskursiven Verstand. Ein solcher Gedankengang erscheint bereits in der frühesten Form von Lulls „Ars“, d.h. in der um 1274 entstandenen „Kunst der Wahrheitsfindung“ („Ars inveniendi veritatem“)384. Diese Überlegungen zu einer Aufstiegstheorie 382

Ibid., p. 280. Vgl. ibid., dist. I, cap. 6, p. 27. 384 Raymundus Lullus, Ars inveniendi veritatem, dist. III, octava regula, p. 47: „In omni materia punctum transcendentem dicimus inveniri posse. Causatur enim punctus transcendens ex excessu, quem alia potentiarum hominis habet supra aliam, aut aliquando supra seipsam; eo quod confluentes ad obiectum, quaelibet secundum suam propriam rationem attingunt inaequaliter ipsius objecti 383

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des Erkennens enthalten auch ein Moment von Negativität, insofern zwischen den unterschiedlichen menschlichen Potenzen des Objekterfassens sowohl ein Verhältnis des sich gegenseitigen Bedingens, als auch des partiellen Ausschlusses existiert, wie Lull an der zuvor angeführten Stelle seiner „Ars inveniendi veritatem“ ausgeführt hatte. In seiner Naturphilosophie hingegen gibt es keine Dialektik der Negativität. Lull betont die Einheit von Kontinuität und Diskontinuität im Prozeß aufsteigender Erkenntnis. Die subjektiven Bestandteile der menschlichen Seele (d.h. die rezeptiven, imaginativen, kognitiven und volitiven Potenzen des Menschen) zeigt er in ihrem konkurrierenden und sich zugleich ergänzenden Verhältnis zueinander. Das oberste Ziel des ganzen Prozesses von Wahrheitssuche und -findung stellt für Lull das Erfassen des unendlichen und völlig frei von jeglicher Gegensätzlichkeit bestehenden Wesenheit Gottes dar385. Ähnlich argumentierte Lull auch in seinem Spätwerk „De potentia, obiectu et actu“ („Über das Vermögen, den Bezugsgegenstand und den Akt“). Hier liegt der Tenor auf dem Überschreiten der Sinnlichkeit und der diskursiven Vernunft hin zur intellektuellen wahren Erkenntnis Gottes durch eine alle Gegensätzlichkeiten transzendierende Erkenntnis. Nikolaus von Kues fertigte sich Auszüge aus dieser Schrift an386. Der für den Kusaner so wichtige Koinzidenzgedanke als ein Element der adäquaten Gotteserkenntnis wird auch schon von Lull intendiert. Gleichwohl gehörte Lull zu denjenigen Theoretikern intellektueller Gotteserkenntnis, welche eine negative Theologie ausschlossen387.

Dietrichs von Freiberg dialektische Erkenntnistheorie Dietrich von Freiberg (gest. ca. 1320) beteiligte sich in einigen seiner Schriften auch an den erkenntnistheoretischen Debatten der Scholastik, die seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Rezeption der arabischen Aristotelesinterpretationen und den Kontroversen um das wechselseitige Verhältnis von Philosophie, empirischer Wissenschaft, Logik und Offenbarungstheologie an Intensität deutlich zugenommen hatten. Als einer der ersten mittelalterlichen Philosophen erörterte er den Vorgang der menschlichen Wirklichkeitserkenntnis als einen aktiven Aneignungs- und Konstitutionsvorgang, in welchem dem sogenannten „Möglichen Intellekt“ als Träger realitatem, ita quod de natura cujuslibet earum est ultra quantitatem suam attingendi negare. Itaque negat id, quod alia potentia per excessum attingit super illam. Excessus quidem earum cum sit naturalis, per se est manifestus, nam quantumcunque sensus sentiendo attingit, tantundem imaginatur imaginatio et ultra; et quantumcunque imaginatur imaginatio, tantundem intelligit intellectus et ultra, et quantumcunque realitatis intelligit intellectus in obiecto, tantundem est in eo et ultra. Quod si non, impossibilis esset suppositio ultra intellectum, et per consequens nec fides nec opinio essent. Et hic transcendit intellectus se ipsum intelligens aliqua esse necessario, quae non intelligit …“ 385 Ibid., p. 59–61. 386 Vgl. E. Colomer, Nikolaus von Kues und Raimund Lull, S. 164–172; Ch. Lohr, Ramon Lull: Logica nova, S. 346–348. 387 Vgl. Raimundus Lullus, Ars brevis, lat.-dt., übers. v. A. Fidora, 11.4., p. 119.

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der Erkenntnisleistung eine Subjektfunktion gegenüber einem durch ihn selbst konstituierten Objekt zufallen sollte. Diesen Grundgedanken hat Dietrich ausführlich in seiner um das Jahr 1280 entstandenen „Abhandlung über den Ursprung der kategorial bestimmten Realität“ entwickelt388. Insbesondere im Kapitel 5 dieser Abhandlung erfolgte die eingehende Begründung dieses Gedankens389. Laut Dietrich bestehe zwischen dem Intellekt und den formalen Wesensbestimmungen der Dinge („quiditates rerum“) keine Identität, sondern ein Verhältnis von Ursache und Verursachtem390. Umgekehrt bestreitet er eine kausale Bedingtheit des Intellekts durch einen körperlichen Gegenstand: dem Intellekt als etwas Unkörperlichem könne keine körperliche Einwirkung widerfahren, betont er. Außer dieser antimaterialistischen Prämisse geht in Dietrichs Argumentation die weitere Überlegung ein, daß im Akt des Erkennens selbst ein Ding die Funktion des Objekts allererst erhält. Genau darin liegt die Kausalfunktion des erkennenden Intellekts hinsichtlich des Objekts der Erkenntnis. Unter dem „Erkennen“ habe man ein „Erfassen eines Dinges gemäß der Bestimmung seiner derartigen Prinzipien“, d.h. der sein Wesen konstituierenden Formbestandteile, zu verstehen. Und dadurch wird die „Form“ als die Wesensbestimmung der Dinge und werden die zu erkennenden Dinge in ihrem „washeitlichen Sein“ („esse quiditativum“) determiniert. Genau hierin liege zugleich die eigentümliche Bestimmung des Objekts der Erkenntniskraft, wie Dietrich festhält391. Zwischen dem erkennenden Intellekt und dem Erkenntnisobjekt als dem „washeitlichen Sein“ der Dinge besteht demnach ein intimes Subjekt-Objekt-Verhältnis, in welchem beide als Unterschiedene zugleich ein geordnetes aktuales Ganzes bilden, für das die Erkenntnisleistung des Intellekts konstitutiv ist. Denn erst der Intellekt vermag die zunächst nur potentiell existierenden Wesensformbestandteile aktual zu determinieren. Die aristotelische Potenz-Akt-Dialektik wird damit für die Erklärung des SubjektObjekt-Verhältnisses im Erkenntnisvorgang herangezogen392. Dietrich erklärt auf diese Weise den erkennenden Intellekt zum Mittler zwischen den potentiellen Wesensformbestandteilen der Dinge und dem in seiner Wesenscharakteristik („quiditas“) aktual zu erkennenden Ding selbst. Die Subjekt-Objekt-Dialektik der intellektuellen Wirklichkeitserkenntnis ist damit als eine intellektuelle Vermittlungsleistung zu verstehen, in welcher das Erkenntnissubjekt, das -mittel und das -objekt unter der Dominanz des Subjekts ein geordnetes Ganzes bilden. 388

Theodoricus de Vriberch, Tractatus de origine rerum praedicamentalium, ed. L. Sturlese, p. 135– 201. (künftig als „Op. 3“ zitiert). 389 Ibid., p. 181–201; vgl. auch die lat.-dt. Ausgabe des Kapitels 5: Theodoricus de Vriberch, Tractatus de origine rerum praedicamentalium, cap. V, übers. v. B. Mojsisch (künftig zitiert als „Jahrb. 2“). 390 Theodoricus, Op. 3, cap. 5, § 20, p. 185; ders., Jahrb. 2, § 20, S. 135: „Igitur res seu quiditates rerum, quae sunt obiectum intellectus, vel sunt idem intellectui secundum praedicta, vel erit inter ea solum ordo secundum rationem causae. Sed intellectus noster non est idem rebus; relinquitur ergo ordo secundum rationem causae et causati.“ 391 Theodoricus, Op. 3, cap. 5, § 26, p. 187–188; ders., Jahrb. 2, § 26, S. 137–138. 392 Theodoricus, Op. 3, cap. 5, §§ 27–28, p. 188; ders., Jahrb. 2, §§ 27–28, S. 138–139.

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Die im Erkenntnisvorgang zur Geltung kommende verursachende Funktion des Intellekts gegenüber seinem Objekt bezieht sich inhaltlich einerseits auf die wesenhafte Beschaffenheit der Dinge, d.h. also auf ihr Dasein als Substanzen, Quantitäten oder Qualitäten. Andererseits bedingt die Tätigkeit des Intellekts aber auch die vollständigen modalen Bestimmungen des Daseins der Dinge, d.h. die Maßbestimmungen, die Verhältnisbestimmungen und die Zuordnung der jeweiligen Begleitmerkmale der Dinge. Und ferner läßt Dietrich auch die „Eigentümlichkeiten“ und die „wesentlichen Affektionen“ der seienden Dinge als inhärente Wesensattribute in die konstitutive Leistung des Intellekts eingeschlossen sein393. Gesondert vermerkt er zusätzlich die Seinsform der rein mathematischen Objekte der Arithmetik und der Geometrie: als abstrakte Seinsformen werden sie zusätzlich zum „wesenhaften Sein“ und zum naturhaften Sein der Dinge durch den Intellekt erwirkt, und zwar als eine „neue Seinsform“ („novus modus essendi“)394. Zusammengenommen wird die durch die Tätigkeit des Intellekts konstituierte „erstgemeinte Wirklichkeit“ („res primae intentionis“) den ebenfalls durch den Intellekt konstituierten, aber lediglich mental existierenden Verstandesformen („res secundae intentionis“) prinzipiell gegenübergestellt395. Außerdem grenzt Dietrich den Intellekt als eine aktive und konstitutive Erkenntniskraft von der seines Erachtens rein passiven Einbildungskraft ab396. Er fügt zur Klarstellung der spezifischen Stellung des Intellekts beim Erkennen und Konstituieren des Erkenntnisobjekts die folgende Charakteristik des sogenannten „Möglichen Intellekts“ im erkennenden Vollzug hinzu: während dieser in Bezug auf sein Objekt, wie festgestellt wurde, keinesfalls passiv ist, kommt ihm gegenüber dem „Aktiven Intellekt“ als übergeordneter Kraft, welche den „Möglichen Intellekt“ erst in den Aktualitätsmodus versetzt, ein rezeptiver Status zu397. Dietrich verleiht dem „Möglichen Intellekt“ als Subjekt der Erkenntnisleistung damit eine Vermittlungsfunktion zwischen dem rein passiven Moment (dem Objekt des Erkennens) und dem rein aktiven Moment (dem „Aktiven Intellekt“) im Erkenntnisvollzug ein. Dieser vereinigt beide entgegengesetzten Momente in sich, allerdings jeweils in unterschiedlicher Hinsicht. Diese Klarstellung Dietrichs verweist eindeutig auf den vermittlungsdialektischen Ansatz für den behaupteten Subjekt-Objekt-Bezug im intellektuellen Erkennen der Wirklichkeit. In Ergänzung hierzu postuliert er eine ontologische Dreiteilung des Seienden in reine Verstandesbestimmungen („res secundae intentionis“), reine Naturdinge („res naturae“) und dem in der Mitte zwischen diesen beiden Formen des Seienden stehenden Seienden. Dieses mittlere Seiende stellt für ihn die primär und in formaler Hinsicht vermittels definitorischer Bezeichnung angezeigte und durch den Intellekt konstituierte „erstgemeinte Wirklichkeit“ („res primae intentionis“) dar. Diese wiederum setzt einen naturhaften Seinsbestand, wie zum Beispiel die Sub393

Theodoricus, Op. 3, cap. 5, §§ 47–49, p. 194–195; ders., Jahrb. 2, §§ 47–49, S. 147. Theodoricus, Op. 3, cap. 5, § 50, p. 195; ders., Jahrb. 2, § 50, S. 148. 395 Theodoricus, Op. 3, cap. 5, §§ 53–55, p. 197; ders., Jahrb. 2, §§ 53–55, S. 150–151. 396 Theodoricus, Op. 3, cap. 5, § 58, p. 198–199; ders., Jahrb. 2, § 58, S. 152. 397 Theodoricus, Op. 3, cap. 5, § 56; ders., Jahrb. 2, § 56, S. 151. 394

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stanz, notwendig voraus398. Nicht also eine Subjekt-Objekt-Dialektik der freien autonomen Setzung von Gegenständen durch ein Subjekt ohne Bindung an vorhandene Seinsbestände, sondern eine Vermittlung zwischen intellektunabhängiger und intellektabhängiger extramentaler Wirklichkeit macht die Subjektfunktion des Intellekts in der Wirklichkeitserkenntnis nach Dietrichs Theorie aus. Freilich war Dietrich ein idealistischer Subjekt-Objekt-Dialektiker, aber durchaus kein subjektiver Idealist. Für ihn gab es auch eine Wirklichkeit vor dem und ohne den Intellekt. Der „verwirklichte Intellekt“, also der Intellekt des aktualen Erkenntnisvollzugs, konstituiert kein Ding in seinem Sein überhaupt und auch nicht in seinem naturhaften Dasein. Dafür macht Dietrich das „Erste Prinzip“ bzw. natürliche Wirkursachen verantwortlich. Es ist einzig das „wesenhafte Sein“ („esse quiditativum“), das sich der definitorischen (oder, wie Dietrich auch sagt, „quidifikativen“) Leistung des Intellekts verdankt399. Daraus wird nicht nur ein komplexes Wirklichkeitskonzept in Dietrichs Philosophie, sondern auch der Primat der Metaphysik als Lehre von der Parallelität von Denk- und Daseinsformen in seinem Denken ersichtlich. Die Subjekt-Objekt-Dialektik der intellektuellen Wirklichkeitserkenntnis klärt grundsätzlich die Bedingungen innerhalb der Metaphysik, unter denen Wirklichkeit als Objekt auftreten kann. Denn nur unter der Voraussetzung der „quidifikativen“ Tätigkeit des Intellekts wird Wirklichkeit als Objekt konstituiert! Die von Dietrich in einer weiteren Abhandlung, der „Abhandlung über den Intellekt und den Erkenntnisinhalt“ („Tractatus de intellectu et intelligibili“), vorgenommene Analyse der Dynamik des intellektuellen Erkenntnisprozesses mit der Einheit aus rekursiver Erkenntnis des eigenen Ursprungs, reflexiver Selbsterkenntnis und modellhafter Wirklichkeitserkenntnis macht den dialektischen Ansatz seiner Erkenntnislehre in seiner ganzen Komplexität und Beziehung auf den Prozeß des Erkennens deutlich400. Die Subjekt-Objekt-Dialektik des Erkennens wird damit in den Bezug von erkennendem Menschen, göttlichem Ursprung und der Welt als ganzer eingeordnet. Der prägende Einfluß von entsprechenden Lehren von Proklos und Avicenna (neben denen des Aristoteles) auf Dietrichs Überlegungen ist dabei ebenso unverkennbar. Gleichwohl hat Dietrich mit diesen dialektischen Überlegungen und ihrer Zentrierung auf den erkennenden Menschen innerhalb der aristotelischen Philosophie des Mittelalters neue Maßstäbe geschaffen401.

398

Theodoricus, Op. 3, cap. 5, § 59, p. 199; ders., Jahrb. 2, § 59, S. 152–153. Theodoricus, Op. 3, cap. 5, § 37, p. 192; ders., Jahrb. 2, § 37, S. 143–144. 400 Theodoricus de Vriberch, Tractatus de intellectu et intelligibli, ed. B. Mojsisch, pars II, cap. 38–40, p. 176–177; pars III, cap. 37, p. 209. 401 Vgl. J. Halfwassen, Gibt es eine Philosophie der Subjektivität im Mittelalter? Zur Theorie des Intellekts bei Meister Eckhart und Dietrich von Freiberg, S. 354–359; B. Mojsisch, Dietrich von Freiberg, Tractatus de origine rerum praedicamentalium, S. 327–328; K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustinus zu Machiavelli, S. 453–455. 399

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Die transzendentalphilosophische Dialektik des Möglichen bei Johannes Duns Scotus Johannes Duns Scotus (1265/66–1308) gehört zu den maßgeblichen Metaphysikern des lateinischen Mittelalters. Im Kommentar zu Aristoteles’ „Metaphysik“ entwickelte er einen umfangreichen Diskurs über das Transzendentale „Potenz“ („potentia“: „Vermögendes“, „Mögliches“, „Möglichkeit“), einen der Grundbegriffe der Philosophie des Aristoteles. Unter den verschiedenen Bedeutungen dieses Begriffs bezeichnet das von Duns Scotus mit „potentia metaphysica“ – im Unterschied zur logischen und mathematischen Potentialität – benannte Transzendentale einen positiven Seinsmodus („modus entis“), welcher von Duns Scotus im Anschluß an Aristoteles und Ibn Sina als dasjenige bestimmt wird, was weder unmöglich, noch notwendig, noch aktual existent ist402. In bezug auf diesen Seinsmodus entwickelt Duns Scotus einen dialektischen Diskurs auf zwei Ebenen: auf der metaphysischen bzw. transzendentalontologischen Ebene und auf der Ebene der Handlungstheorie. Auf metaphysischer Ebene werden zunächst die „Potenz“ und der „Akt“ als aufeinander bezogene partielle Gegensätze behandelt. Denn in der aristotelischen Philosophie galt das Mögliche immer in bezug auf ein aktual Wirkliches als gegeben, nicht in absoluter Entgegensetzung dazu. Dem schloß sich Duns Scotus prinzipiell an. Beide modalen Bestimmungen stellen ferner partielle Gegensätze insofern dar, als man immer in bezug auf ein Identisches von „Potenz“ oder „Akt“ spricht, allerdings in verschiedener Hinsicht. Während sich nun ein „Potentielles“ immer auf ein „Aktuales“ beziehe und damit den Gegensatz beider als einen relativen erkennen lasse, müsse das aktual Seiende als ein Absolutum im Vergleich zum potentiellen angesehen werden, vermerkt Duns Scotus403. Insofern stellen „Potenz“ und „Akt“ also kein korrelatives Gegensatzpaar dar. Generell handelt es sich bei „Potenz“ und „Akt“ für Duns Scotus um fundamentale Differenzen des Seienden überhaupt („differentiae entis“), zwischen denen eine „transzendente Relation“ bestehe404. Damit stellen sie sogenannte „disjunktive Transzendentalien“ dar, d.h. also das Sein als solches differenzierende universelle Grundbestimmungen, welche zueinander in einem relativen Gegensatzverhältnis stehen und nicht mehr aufeinander, sondern nur noch auf das Sein im allgemeinen zurückführbar seien405.

402

Ioannes Duns Scotus, Quaestiones super libros Metaphysicorum Aristotelis. Libri VI–IX, ed. R. Andrews et al., lib. IX, qu. 1–2, nn. 14–21, p. 512–515. 403 Ibid., lib. IX, qu. 1–2, nn. 22–23, p. 516–517. 404 Ioannes Duns Scotus, Quaestiones super libros Metaphysicorum Aristotelis. Libri I–V, ed. R. Andrews et al., lib. V, qu. 11, p. 603 f., 608. 405 Vgl. R. Lay, Passiones entis disiunctae. Ein Beitrag zur Problemgeschichte der Transzendentalienlehre, S. 58–59.

TRANSZENDENTALPHILOSOPHISCHE DIALEKTIK DES MÖGLICHEN BEI DUNS SCOTUS

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Die von Duns Scotus behandelte „potentia metaphysica“ stellt nun eine Seinsmöglichkeit dar, welche eine reale und nicht nur fiktive Potentialität beinhaltet. Sie bedeutet also svw. „reale Möglichkeit“. Und nur in bezug auf diesen Begriff entwickelt er einen dialektischen transzendentalontologischen Diskurs. Eine so gefaßte „Potenz“ bedeutet ein Nicht-Seiendes, das aber sein kann. Sie läßt sich auch als ein konkretes Nicht-Seiendes, nicht aber als eine abstrakte Negation des Seins fassen, da sie dann kein disjunktives Transzendentale mehr wäre. Diese Weise, den ontologischen Status von „Potenz“ als eine konkrete Einheit aus Sein und Nicht-Sein bzw. als konkretes Dasein des Nicht-Seins zu denken, bezeichnet Duns Scotus selbst ausdrücklich als einen „probalen Weg“ („via probabilis“)406. Zuvor erörterte er die dazu alternative Möglichkeit, die „Potenz“ (im Sinne eines Seinsmodus) als ein inneres Wechselverhältnis zwischen einer Essenz („essentia“) bzw. einem bestimmten Seienden und einer bestimmten Existenz („esse“) zu deuten und insofern also die „Potenz“ als ein Vermittlungsverhältnis zwischen Unterschiedlichem zu interpretieren407. Beide alternativen Interpretationsmöglichkeiten des ontologischen Status von „Potenz“ zeigen den dialektischen Gedanken der Einheit oder Vermittelbarkeit von Unterschiedenem in ein und demselben. Weiter stellt Duns Scotus fest, daß es sich beim potentiell Seienden gewissermaßen um ein „gemindertes“ Seiendes handele408. Die dialektische Vermittlung bzw. Einheit von Seiendem und Nicht-Seiendem in einem real Möglichen erhält für Duns Scotus ihre Plausibilität durch den reflektierenden Verstand, welcher beide Aspekte zusammendenkt409. Der transzendentalontologische Diskurs des Duns Scotus über den Status von „Potenz“ entpuppt sich damit als ein Stück Reflexionsdialektik, welche nicht nur der Begriffsbestimmung dient, sondern die Wirklichkeit in ihrer inneren unauflöslichen Diffenziertheit zu begreifen sucht. Das disjunktive Transzendentale „Potenz“ steht für Duns Scotus nun nicht nur zum „Akt“ bzw. dem aktual Seienden in einem bestimmten Gegensatz, sondern auch zur Notwendigkeit. Hier beruft er sich auf die „Metaphysik“ von Ibn Sina410. Auch in dieser begrifflichen Entgegensetzung begegnet sich wieder ein Paar aus einem vollwertigen und einem geminderten Seinsmodus. Denn Duns Scotus bestimmt zum einen den Gegensatz aus Notwendigkeit und Möglichkeit als einen Gegensatz von vollendeter und mangelhafter Entität411. Doch zum anderen und sogar in Umkehrung des Gesagten wendet er sich an späterer Stelle seines „Metaphysik“-Kommentars einer be406

Ioannes Duns Scotus, Quaestiones, lib. IX, qu. 1–2, n. 35–36, p. 522–523. Ibid., lib. IX, qu. 1–2, n. 27, p. 518–519. 408 Ibid., lib. IX, qu. 1–2, n. 63, p. 533: „Ad quartum dicendum quod licet ‚ens in potentia‘ non sit ita simpliciter ens sicut ‚ens actu‘ (ac si ratio potentiae deminuat ens), non tamen omnino destruit rationem entis.“ 409 Ibid., lib. IX, qu. 1–2, n. 64, p. 533. 410 Ibid., lib. IX, qu. 1–2, n. 21, p. 515. 411 Ibid.: „… et sic dicitur ‚necesse‘ quod ex se habet entitatem indefectibilem; ‚ens possibile‘ quod defectibilem.“ 407

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stimmten Form von Möglichkeit zu, die nicht nur im Gegensatz zur Notwendigkeit steht, sondern dieser sogar wertmäßig überlegen sein soll: der „Kontingenz“412. Hierbei geht es allerdings um nicht irgendeine „Kontingenz“, sondern zunächst um die Kontingenz des Willensaktes, vor allem des göttlichen Willens im Schöpfungsakt. Die Betonung der Kontingenz als eines fundamentalen Seinsmodus entwickelt Duns Scotus gerade im Kontraposition zur bisherigen Vorrangstellung von Notwendigkeit als primärer Zusammenhangsform im Denken vieler Philosophen. Die Kontingenz des Willensaktes als eine Simultanpotenz des frei entscheidenden Willens zu alternativen Bestimmungsmöglichkeiten wird von Duns Scotus als ein metaphysisches Faktum ohne eine weitere Begründbarkeit behandelt413. Doch letztlich geht es ihm hier und anderer Stelle wohl um die Wahrung der theologischen Lehre von der absoluten Freiheit Gottes im Schöpfungsakt. Mit dieser Lehre stehen in direkter oder indirekter Weise alle Erörterungen des Duns Scotus über die Kontingenz im Zusammenhang414. Die außerordentliche Rangstellung der Kontingenz als eines Seinsmodus und als einer Zusammenhangsform im Vergleich mit der Notwendigkeit bedingt wiederum die besondere Art von Kausalität im Handeln von aktiven Willenspotenzen im Vergleich zu naturartigen Abläufen. Ebenso wie Aristoteles behauptete auch Duns Scotus, daß alle intellektualen Vermögen (im Unterschied zu den nicht-vernunftbegabten Vermögen in der Natur) „Vermögen zum Gegenteiligen“ seien415. Duns Scotus betritt mit diesen Reflexionen nun eine weitere Ebene seines dialektischen Diskurses über die „Potenz“. Mit dem ersten Diskurs auf metaphysischer Ebene ist der Zusammenhang dadurch hergestellt, daß Duns Scotus die Kontingenz als einen „Modus des Seienden“ („modus entis“) bzw. als eine „Daseinscharakteristik des Seienden“ („condicio entis“) im Gegensatz und Unterschied zum Modus der Notwendigkeit begreift416. Diesen Modus bzw. diese Daseinscharakteristik spricht er nun dem Willen als einer rationalen Entscheidungs-, Entschluß- und Durchsetzungskraft, als einem selbstbestimmten Vermögen zu alternativen Bestimmungsmöglichkeiten zu. Oder anders gesagt: es geht um die Kontingenz im Willensakt als eine dialektische Einheit aus volitiver Potenz und simultan-alternativen Selbstbestimmungsmöglichkeiten dieser Potenz: entweder als freier Entscheid über ein Handeln und Nicht-Handeln oder als Abwägung von alternativen Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich eines identischen Zieles. Der Begriff der „Kontingenz“ meint also hier genauso wie in anderen Schriften des Duns Scotus die Gleichwahrscheinlichkeit zueinander gegensätzlicher 412

Ibid., lib. IX, qu. 15, n. 44, p. 688: „Haec enim nobilior est contingentia necessitate …“ Ibid., lib. IX, qu. 15, nn. 24–30, p. 681–683. 414 Vgl. Ioannes Duns Scotus, Ordinatio I, d. 2, p. 1, qq. 1–2, nn. 79 sq., p. 176 f.; ibid., Ordinatio I, d. 8, p. 2, q. un., n. 282, p. 313 f.; ders., Tractatus de primo principio, ed. W. Kluxen, cap. IV, concl. 4–5, nn. 55–59, p. 66–76. 415 Aristoteles, Metaphysik, 9. Buch, 1046 b 4–6; 1048 a 8–10; 1050 b 10–11; Ioannes Duns Scotus, Quaestiones, lib. IX, qu 15, n.61, n. 73, p. 694, 699. 416 Ioannes Duns Scotus, Quaestiones, lib. IX, qu. 15, n. 60, n. 64, p. 694, 695. 413

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Möglichkeiten, nicht einfach nur ein Nicht-Notwendiges417. Die Kontingenz ist existent im aktualen Sein des Willens, nicht etwa vor oder nach seiner Aktion, betont Duns Scotus418. Insofern stellt sie also auch eine relative dialektische Einheit aus Potenz und Akt des Willens dar. Die Simultaneität von konträren Gegensätzen zeigt sich für Duns Scotus ferner intellektuell im abwägenden Urteilen des Willens über bestimmte Wahlmöglichkeiten, die vermittels eines verbindenden Oberbegriffs oder durch eine Relationierung indirekt auch ein Urteil über das jeweilige Gegenteil zulassen, d.h. dieses also zumindest relativ einbeziehen419. Auch ist der Umstand in Rechnung zu stellen, daß im Willensakt ein zustimmendes Wollen von etwas Gutem und ein ablehnendes Nicht-Wollen von etwas Schlechtem im jeweils konkreten Handeln vermittelt sind und gleichzeitig begegnen420. Insofern gilt auch hier eine Vermittlungsund Reflexionsdialektik. Johannes Duns Scotus trennt strikt zwischen der Kontingenz des Willensaktes und den Naturpotentialitäten: die für eine Vielzahl von Formbestimmtheiten geeignete Materie, welche den objektiven Grund von Naturpotentialität darstellt, kann diese Potenz nie aus sich selbst, sondern nur durch etwas ihr Äußeres zum aktualen Sein überführen; darin genau liegt der Unterschied zum Willensakt, hebt Duns Scotus hervor421. Wenn er also für den Willen und alle rationalen Vermögen ein spezielles „Vermögen zum Gegenteiligen“ bzw. die „Kontingenz“ gelten läßt, so bleibt die Wirkungsweise von natürlichen Wirkungsvermögen grundsätzlich außerhalb einer eigenen Kontingenz. Denn keine natürliche Wirkungspotenz sei von sich alleine heraus zu alternativen Wirkungen mit gleicher Intention oder zur Wahl zwischen Wirken und Nicht-Wirken in der Lage422. Die in der Natur auftretende Zufälligkeit von Ereignissen, welche er mit Aristoteles gelten läßt, liege nicht in der Natur selbst begründet, sondern sei letztlich ursächlich auf eine göttliche Potenz zu reduzieren, bemerkt Duns Scotus423. Damit wird von ihm effektiv einer Gleichsetzung von „Kontingenz“ und „Zufall“ entgegengetreten und eine objektive Dialektik aus Notwendigkeit und Zufall bzw. von Freiheit und Natur ausge417

Vgl. Ioannes Duns Scotus, Ordinatio I, d. 2/1, qu. 1–2, n. 86, ders., Tractatus de primo principio, cap. 4, concl. 4, n. 56, p. 70. 418 Ioannes Duns Scotus, Quaestiones, lib. IX, qu. 15, n. 60, p. 694: „Loquimur enim nunc de contingentia, prout est modus entis in actu quando est in actu et pro illo nunc pro quo est in actu.“ 419 Ibid., lib. IX, qu. 15, nn. 55–56, p. 692–693. 420 Ibid., lib. IX, qu. 15, n. 68, p. 697. 421 Ibid., lib. IX, qu. 15, nn. 31–32, p. 683. 422 Ibid., lib. IX, qu. 15, n. 73, p. 699: „Sed nulla naturalis ‹potentia› ex se habet posse oppositas actiones circa idem elicere, seu ex se agere et non agere, quo modo potentia rationalis est contrarietatis vel contradictionis.“ Vgl. ders., Tractatus de primo principio, cap. IV, n. 56, p. 68: „Es gibt kein anderes Prinzip kontingenten Tuns als den Willen oder solches, das den Willen begleitet; denn jede andere (Ursache) wirkt aus Notwendigkeit der Natur, und so nicht in kontingenter Weise.“ 423 Ibid., lib. IX, qu. 9, n. 9., p. 597: „Nihil enim est casuale respectu unius causae naturalis quin sit intentum ab alia, nihilque omnino casuale aut fortiutum quod non sit per se terminus potentiae divinae.“

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schlossen. Sowohl mit seinen dialektischen Reflexionen über die „reale Möglichkeit“ („potentia metaphysica“) und über die „Kontingenz“, als auch mit den aufgezeigten metaphysischen und theologischen Begrenzungen seiner Überlegungen hat Duns Scotus seinen Zeitgenossen und Nachfolgern ein weites Feld zu weiterführenden Überlegungen eröffnet.

Das Dialektik-Konzept des Boëthius von Dacien Im 13. Jahrhundert erreichte der prägende Einfluß des Aristotelischen Philosophierens in der lateinischen Scholastik einen Höhepunkt. Dieser Einfluß läßt sich auch für die Ausprägung des Begriffs von „Dialektik“ bzw. die Ausprägung und Anwendung eines dialektischen Philosophierens konstatieren. Die „Topik“ des Aristoteles und die entsprechenden Schriften des spätantiken Philosophen Boëthius lieferten dazu einen bedeutenden Teil der maßgeblichen Informationen und Positionen, insofern die „Dialektik“ als eine besondere Kunst des problembezogenen Argumentierens verstanden wurde. Diese Positionen wurden in dem logischen Schrifttum des 13. Jahrhunderts systematisiert und zusammengefaßt, so insbesondere in den Schriften von Petrus Hispanus, Lambert von Auxerre und William von Sherwood. Besonders beachtenswert sind darüber hinaus aber auch die direkten Kommentare zu Aristoteles’ Schrift „Topik“, welche seit dem 13. Jahrhundert entstehen und u.a. speziell die philosophische Bedeutung der „Dialektik“ und ihre Stellung im System der Wissenschaften und „Künste“ reflektieren424. Ein herausragendes Beispiel für diesen Schriftentypus ist der Quaestionen-Kommentar des Boëthius von Dacien (gest. um 1284) zu Aristoteles’ „Topik“, welcher zwischen 1270 und 1280 entstanden war425. Der Autor des Kommentars zeigt im Verlauf seiner ausführlichen Diskussion der Aristotelischen Schrift die spezifischen Voraussetzungen, Funktionen und Inhalte von Dialektik. Unter „Dialektik“, welche er auch synonym als „Logik“ bezeichnet, versteht er eine Theorie, Methodik und Praxis des Argumentierens bzw. Disputierens mittels „probabler“ Behauptungen und Schlüsse oder auch speziell eine Kunst des Auffindens der allgemeinen Geltungsgründe des Argumentierens, d.h. also die Topik. Deren theoretischer Hauptgegenstand, über den sie sich lehrmäßig ausläßt, sei die „Art und Weise des dialektischen Argumentierens“, wie er feststellt426. Der Dialektik wird unter dieser Voraussetzung von Boëthius ein genereller Nutzen für das vollkommenere Verständnis aller philosophischen Disziplinen bescheinigt, ohne daß er sie selbst aber zu einem konstitutiven Bestandteil der Philosophie bzw. der einzelnen 424

Vgl. dazu N. J. Green-Pedersen, The tradition of the Topics in the Middle Ages. The Commentaries on Aristotle’s and Boëthius’ „Topics“. 425 Boethius de Dacia, Quaestiones super Librum Topicorum, ed. N. G. Green-Pedersen et J. Pinborg. 426 Ibid., lib. I, qu. 4, ad 1, p. 16: „Ad rationem dicendum quod licet dialectica doceat multa, illa tamen multa attribuuntur alicui uni, quod principaliter docet, scilicet modum arguendi dialectice.“

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Bestandteile der Philosophie erklärt427. Ein Dialektiker habe nämlich in seiner speziellen Funktion als ein Dialektiker weder mit der Betrachtung des Wesens der Dinge, noch mit der speziellen Untersuchung und Erklärung einzelner Gegenstandsbereiche hinsichtlich deren sachlicher Erklärungsgründe zu tun. Dieser ignoriere aber diese speziellen Betrachtungsweisen nicht, sondern sehe in ihnen die notwendigen Voraussetzungen für sein eigenes Vorgehen. Dieses bestehe wiederum darin, auf der genannten Basis auf die „allgemeinen Gesichtspunkte“ („communes intentiones“) und die „topischen Beziehungen“ („habitudines locales“) zu reflektieren, welche den vorliegenden Argumentationen ihren argumentativen Geltungsgrund verschaffen428. Erst in und mit dem Auffinden dieser evidenten Argumentationsgründe, deren Wesensart in bestimmten Relationsbegriffen bzw. begrifflichen Relationen besteht, konstituiert ein Dialektiker sein eigenes Aufgabenfeld im Unterschied zur sonstigen Philosophie und anderen Betrachtungsweisen. Bis zum Auffinden dieser Argumentationsgründe aber decken sich die Untersuchungsweise von Philosoph und Dialektiker, wie Boëthius unter Verweis auf eine entsprechende Äußerung von Aristoteles festhält429. Die topische Kunst des Auffindens der Geltungsgründe von Argumenten wird somit zu einer differentia specifica des Aufgabenfeldes eines Dialektikers im Rahmen philosophischer Fragestellungen. Hier zeigt sich die differenzierte Haltung des Aristotelikers gegenüber dem Problem des Verhältnisses von Dialektik und Philosophie zueinander. Boëthius von Dacien sah offenbar zwischen beiden ein Verhältnis partieller Identität und partieller Differenz als gegeben an. Eine Trennung oder Entgegensetzung beider aber schloß er offenbar aus. Den objektiven Grund für dieses Verhältnis sah er in der Ableitung der dialektischen Geltungsgründe aus den spezifischen Daseinsweisen der Dinge in der Realwelt, wie sie vom Philosophen erforscht werden430. Allerdings bedingt dieser abgeleitete Charakter der dialektischen Geltungsgründe auch das akzidentielle und zeichenhafte Verhältnis dieser Geltungsgründe gegenüber der Realwelt, so daß die Dialektik dieser gegenüber nur zu „Meinungen“, nicht aber zu unabänderlichem sicherem „Wissen“ imstande sei. Gleichwohl erklärt Boëthius die Unterweisung über ein entsprechendes Vorgehen mittels sogenannter „dialektischer Syllogismen“ und die Ableitung von deren Geltungsgründen aus bestimmten Verhältnissen der Realwelt selbst wiederum zu einem besonderen Typus von „Wissen“, d.h. also von sicherer Erkenntnis durch notwendiges Schließen aus Gründen. Der Dialektik als einer systematischen Unterweisung („dialectica docens“) wird dadurch epistemisch der Wissensstatus zugesprochen, während der „angewandten Dialektik“ („dialectica utens“) lediglich der epistemische Status einer „Meinung“ bezüglich der Wesenseigenschaften der Dinge der Realwelt zugebilligt wird. Auch mit 427

Ibid., lib. I, qu. 23, ad 2, p. 62. Ibid., lib. I, qu. 4, p. 17–19. 429 Ibid., lib. I, qu. 4, ad 1, p. 19; lib. IV, qu. 7, p. 211; lib. VIII, qu. 1, p. 310; vgl. Aristoteles, Topik, VIII.1, 155b 7–8: „Die Untersuchungsweise des Philosophen und des Dialektikers ist bis zum Auffinden des ‚Ortes‘ vergleichbar …“ 430 Ibid., lib. I, qu. 4, p. 28–29. 428

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dieser epistemologischen Reflexion macht Boëthius noch einmal das ambivalente Verhältnis zwischen Dialektik und Objektwissenschaft deutlich, wie er es in der Nachfolge zu Aristoteles auffaßt431. Der Dialektik wird auf diese Weise ein doppelter Status als eine systematische spezielle Wissenschaft und als ein angewandtes Methodenwissen auf der Basis der Objektwissenschaften (Metaphysik, Naturphilosophie und Ethik) zugesprochen. Boëthius von Dacien differenziert zwischen unterschiedlichen Arten des Argumentierens, d.h. zwischen dem strengen Beweis, der topischen Pro-und-Contra-Argumentation, der sophistischen und der rhetorischen Argumentationsweise432. Typisch für den „dialektischen Syllogismus“ als der Form des dialektischen Argumentierens ist zum einen der Gebrauch von Wahrscheinlichkeitsannahmen, in denen eine Subjekt-PrädikatVerbindung eine zwar wahrscheinliche, aber nicht zwingend notwendige und eindeutige Einheit bildet, wie dies beim streng beweisenden Syllogismus der Fall ist; zum anderen besteht die Spezifik des dialektischen Argumentierens in der epistemischen Qualität seiner Schlüsse, welche nur eine „Meinung“, nicht aber ein „Wissen“ darstellen, wie Boëthius erklärt433. Das „Meinen“ („opinio“) im Sinn eines subjektiven Für-WahrHaltens ohne letzte Gewißheit betrifft hier jedoch nicht die logische Form des syllogistischen Schließens, sondern einzig die epistemische Qualität des sachlichen Aussagegehalts, wie er hervorhebt434. Dies impliziert in erster Linie die Möglichkeit, für Alternativen zu einmal getroffenen Feststellungen zu bestimmten Sachverhalten offen zu sein. Das einem solchen „Meinen“ konträr gegenübergestellte „Wissen“ hingegen schließt qua „Wissen“ diese Möglichkeit definitiv aus, wie Boëthius unter Verweis auf Aristoteles’ Position hervorhebt435. Demzufolge besteht das spezifische Vorgehen eines „Dialektikers“ im Rahmen einer syllogistischen Form des Argumentierens im Fortschreiten von bestimmten Wahrscheinlichkeitsannahmen zu bestimmten Schlußfolgerungen, welchen die epistemische Qualität von „Meinungen“ zukommt. Die Verwendung von Wahrscheinlichkeitsannahmen und das Argumentieren im Wahrscheinlichkeitsmodus, wie es für die Dialektik charakteristisch sein soll, ist für Boëthius von Dacien allerdings in erster Linie durch den ambivalenten Charakter des betrachteten Objekts der Argumentation bedingt, welches in sich selbst die Möglichkeit zum Besitz zueinander alternativer Eigenschaften enthält, so daß potentiell ein jedes Prädikat, das den Besitz einer bestimmten Eigenschaft anzeigt, durch ein dazu entgegengesetztes ausgetauscht werden kann. Ferner seien Grade der Wahrscheinlichkeit von bestimmten Behauptungen zu unterscheiden. Von diesem Fall variabler positiver Wahrscheinlichkeit von Behauptungen, Annahmen und Schlußfolgerungen (d.h. als „propositio probabilis“: dafür nennt er als Beispiel die Aussage: „Eine jede Mutter liebt“. Diese Aussage 431

Ibid., lib. I, qu. 1, p. 12–13; lib. I, qu. 13, p. 44–46. Vgl. ibid., prooemium, p. 7–10. 433 Ibid., lib. I, qu. 1, p. 12–13; lib. I, qu. 10, ad 4, p. 38–39. 434 Ibid., lib. I, qu. 13, ad 2, p. 45–46. 435 Vgl. ibid., lib. I, qu. 12, p. 42–43. 432

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ist mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr, ohne daß aber ihr Gegenteil deswegen völlig ausgeschlossen werden kann) unterscheidet Boëthius zwei andere Fälle, die ebenfalls in den dialektischen Argumentationen auftreten können. So führt er einerseits den Fall einer „neutralen Behauptung“ („propositio neutra“) an, in welcher keine von zwei entgegengesetzten Eigenschaften eher als die andere einem Träger zugesprochen werden können, insofern die innere Veranlagung dieses Trägers dafür den Ausschlag gibt (als Beispiel nennt er die Behauptung „Sokrates disputiert“. Grundsätzlich kann Sokrates das Prädikat des Disputierens genauso zukommen wie ein entgegengesetztes, ohne daß eines von beiden prinzipiell falsch wäre). Zum anderen nennt er an dritter Stelle den Fall einer leicht zu entkräftenden Behauptung (d.h. der sogenannten „propositio improbabilis“), in welcher etwas sehr Unwahrscheinliches von etwas behauptet wird (als Beispiel erwähnt er die Aussage „Ein Esel disputiert“). Mit der Diskussion dieser konkreten Fälle von möglichen Wahrscheinlichkeitsaussagen hat er gewissermaßen den objektiven Grund der Zulässigkeit und Annehmbarkeit eines dialektischen Argumentierens im Unterschied zum streng beweisenden Argumentieren aufgezeigt436. Er erwähnt daneben auch den von Aristoteles genannten subjektiven bzw. intersubjektiven Grund der Annehmbarkeit bzw. Wahrscheinlichkeit von Behauptungen: nämlich daß sie „allen oder den meisten oder den Klugen so erscheinen“437. Boëthius von Dacien sieht hierin allerdings lediglich ein äußerliches Merkmal der Wahrscheinlichkeit, welches dem zuvor erwähnten objektiv-sachlichen Grund in seiner Wichtigkeit deutlich nachsteht438. Demzufolge klammert er „Meinungen“ bzw. Wahrscheinlichkeitsbehauptungen im Sinn lediglich subjektiver, nicht aber intersubjektiv wie objektiv-real begründeter Annahmen aus dem Dialektik-Konzept aus. Wie zu sehen ist, tritt das intersubjektive Element im Wahrscheinlichmachen von Behauptungen, das bei Aristoteles noch im Vordergrund steht, bei Boëthius deutlich an die zweite Stelle. Wie gezeigt worden ist, vertritt Boëthius von Dacien die Dichtomie von „Wissen“ und „Meinen“, mit der er das Verhältnis von streng beweisendem analytischem und probablem dialektischem Argumentieren beschreibt. Die Möglichkeit, ein und denselben Schluß sowohl zu „wissen“ als auch zu „meinen“, schließt er definitiv aus439. Indem aber auch das „Meinen“ für ihn aus sachlich begründeten Annahmen und dem Streben nach Wahrheit, nicht aber aus subjektiven, arbiträren Postulaten entsteht, hält er fest, daß die Dialektik als Meinungsbildungsinstanz eine Mittelstellung zwischen dem „Wissen“ („scientia“) und der völligen Unkenntnis („ignorantia“) einnimmt, indem sie eine Art unvollständigen Wissens bezüglich des Wesensgrundes der von ihr 436

Ibid., lib. I, qu. 14, p. 47–48. Vgl. Aristoteles, Topik, I.1, 100b 21–23. 438 Ibid., lib. I, qu. 17, p. 54: „Dicendum quod ex parte propositionis est causa suae probabilitatis quae dicta est superius. Quod autem illa causa probabilitatis faciat nobis sic apparere vel non, hoc accidit propositioni.“ 439 Ibid., lib. I, qu. 12, p. 42: „Dicendum ad hoc quod aliquis non potest simul scire et opinari eandem conclusionem …“ 437

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beurteilten Gegenstände ist, dabei aber durchaus zutreffende Schlüsse bezüglich dieser Gegenstände ziehen kann440. Die Dialektik unterscheidet sich nach Boëthius auch hinsichtlich ihrer Erklärungsgründe und der Art ihrer Betrachtungsweise („modus considerandi“) von der Metaphysik und der Sophistik: indem sie auf übergreifende und wahrscheinliche Erklärungsgründe („rationes communes et probabiles“) rekurriere, nicht aber wie die Metaphysik auf die „eigentlichen“ („rationes propriae“) oder wie die Sophistik auf nur scheinbare („rationes apparentes“), hebe sich die Dialektik ungeachtet eines gemeinsamen identischen Gegenstandsbezugs von den beiden genannten konkurrierenden Betrachtungsweisen ab441. Nicht also die Form oder der Gegenstand des Argumentierens, sondern erst ihre Intention hebt eine dialektische Betrachtungsweise eindeutig von benachbarten Betrachtungsweisen ab. Gleichwohl ist die Dialektik keine autonome Kunst. Denn hinsichtlich der von ihr herangezogenen topischen Geltungsgründe bzw. bei deren Auffindung hänge die Dialektik von einer vorangegangenen Erkenntnis der „Natur der Dinge“ ab, wie sie die Philosophie erziele442. Dieser Versuch einer Bestimmung der differentia specifica von Dialektik im engen Kontext zur Philosophie und im Rahmen der Aristotelischen „Topik“ begreift die „Dialektik“ damit also de facto als eine philosophische Topik. Deren spezifische Prinzipien stellen die sogenannten „allgemeinen Gesichtspunkte“ („communes intentiones“) und die „topischen Beziehungen“ („habitudines locales“) dar. Unter den „allgemeinen Gesichtspunkten“, von denen eine jede dialektische Argumentation irgendwie ausgeht, sind nach Boëthius von Dacien z.B. „Ursache“, „Genus“, „Spezies“, „Korrelat“, „Konträres“ zu verstehen. Diese Allgemeinbegriffe drücken die Dinge in ihrer Bezüglichkeit auf andere aus und betreffen damit die Dinge nicht isoliert, in ihrer Substantialität, sondern kennzeichnen die Dinge der Realwelt akzidentiell, eben durch Einbeziehung der relativen Stellung gegenüber anderen Dingen, wie er vermerkt443. Die „topischen Beziehungen“ wiederum sind mit den Verhältnissen identisch, welche die Dinge in ihrer Beziehung auf andere Dinge eingehen444. Abschließend führt Boëthius von Dacien alle topischen Beziehungen und Betrachtungsweisen auf das Begriffspaar „Identisches“ und „Ver440

Ibid., lib. I, qu. 5, ad. 3, p. 24: „Ad tertiam dicendum, quod dialecticus non ignorat suam consequentiam esse bonam nec scit eam esse bonam, quia non procedit ex talibus, per quae contingit scire, sed ipse opinatur. Opinio autem nec est scientia nec ignorantia, sed aliquo modo est medium inter ista. Non est ignorantia, quia qui opinatur aliquam conclusionem esse veram, plus habet de ea cognitionis quam penitus ignorans. Nec est perfecte scientia, quia opinio non est habitus completus per causam rei sicut scientia.“ 441 Ibid., lib. VII, qu. 1, p. 304–305. 442 Vgl. ibid., lib. IV, qu. 6, p. 210; lib. IV, qu. 7, p. 211–212; lib. VIII, qu. 1, p. 310. 443 Vgl. ibid., lib. I, qu. 2, p. 14–15. 444 Ibid., lib. IV, qu. 12, p. 217–218: „… quia communis intentio est proprietas quaedam, quae rei debetur non absolute, sed in comparatione ad aliquid aliud, et ipsa relatio ad illud aliud est ipsa habitudo localis in illa proprietate fundata.“

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schiedenes“ zurück445. In der Korrelativität von Identität und Verschiedenheit, welche auch für eine jede Definition charakteristisch sei (denn jede Definition schließt als Identifikation das Gegenteil des Definierten als sein Anderes aus oder die Entkräftung einer Definition affirmiere das von dieser Definition Verschiedene), sind also letztlich alle topischen dialektischen Reflexionen fundiert446. Der auf die Dinge in ihrer je eigenen Identität, Andersheit und Wechselbezüglichkeit komplex reflektierende Verstand eruiert also die topischen Beziehungen zwischen ihnen und artikuliert, ausgehend von diesen, eine topische Betrachtungsweise. Er ist der Mittler zwischen den „allgemeinen Gesichtspunkten“ bzw. „topischen Beziehungen“ und den erzielten „Meinungen“ aus bestimmten Argumentationsverläufen. Die topische Dialektik des Boëthius erweist sich so als eine Vermittlungs- und Verstandesdialektik. Speziell ist die Dialektik im Verständnis von Boëthius auch eine Methode dialogischer Disputation nach festen Regeln, wie sie in der damalig entstehenden sogenannten „Ars obligatoria“ fixiert wurden. Sie kann in dieser Ausprägung entweder der Wahrheitssuche oder aber der bloßen Übung im Argumentieren dienen, wie er in seiner ausführlichen Beschreibung dieses besonderen Aspekts von Dialektik vermerkt447. Der Kommentar des Boëthius von Dacien zu Aristoteles’ „Topik“ führt ein komplexes Konzept von „Dialektik“ vor. Durch die Abgrenzung von der Metaphysik, der Analytik, der Rhetorik und der Sophistik konnte er ihre Spezifik als eine Theorie, als Methodik und als Praxis des argumentativen Problemlösens mit dem Ziel der Sicherung der Geltungsgründe des Argumentierens im Rahmen einer „Wahrscheinlichkeitslogik“ herausstellen. Mit einer klaren Anbindung an philosophische Fragestellungen und Positionen epistemologischer und ontologischer Art zeigte er die Abhängigkeit der „Dialektik“ von der Philosophie. Als eine allgemeingültige „Kunst“ wiederum ist sie auf alle Arten von speziellen Objektwissenschaften anwendbar, ohne selbst eine solche zu sein. Diese Charakterisierung von „Dialektik“ im Rahmen der Topik beließ sie hinsichtlich ihres Referenzobjekts in der Schwebe zwischen Wirklichkeitswissenschaft und den Disziplinen vom sprachlichen Ausdruck (Grammatik und Rhetorik). Die historischen Grenzen dieses Konzepts werden vor allem in den Dichotomien aus „Meinung“ und „Wissen“ oder aus streng beweisendem und dialektischem Vorgehen, aber auch in der Fixierung auf die Argumentationsform des Syllogismus klar, welche in späterer Zeit allmählich überwunden werden. Nicht zuletzt zeigt die Form des QuaestionenKommentars, welche Boëthius von Dacien für die Auslegung von Aristoteles’ „Topik“ heranzog, daß die Dialektik als eine akademische Methode der Problemdiskussion unter der Einbeziehung selbständiger Lösungsvorschläge und der Aufforderung zu selb445

Ibid., lib. VII, qu. 2, p. 306: „… et si qua sunt alia, quae determinantur per easdem habitudines locales et considerationes, omnia reducuntur ad idem et diversum, ut patet diligenter inspicienti.“ 446 Vgl. ibid., lib. VII, qu. 3, p. 307. 447 Ibid., lib. VIII, qu. 2–14, p. 310–331.

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ständigem Weiterdenken fruchtbringend war bei der Rezeption der Aristotelischen Schriften im 13. Jahrhundert.

Die Dialektik als Disputationsmethode Die mittelalterliche philosophische Kultur des lateinischsprachigen Europa integrierte die Disputation sehr zeitig und auch nachhaltig in ihr Methodenarsenal. Seit der Herausbildung der Universitäten diente die Methode des Disputierens dort als eine mehr oder weniger standardisierte Übungs-, Unterrichts-, Prüfungs- und Forschungsmethode. Hierbei taten sich besonders die philosophischen Fakultäten („Artistenfakultäten“) hervor. An ihnen wurden die Disputationen vor allem in zweierlei Richtung gepflegt und entwickelt: einerseits als eine spezielle „Kunst“ („ars obligatoria“), welche der Einübung bestimmter logischer Regeln für dialogische kontroverse Argumentationen mit dem Ziel der Widerlegung bestimmter Behauptungen durch die Erzeugung von Widersprüchen diente und die sich im Lauf der Entwicklung von der Erörterung außerlogischer Sachfragen loslöste; zum anderen als kontroverses argumentatives Problemlösungsverfahren mit der Zielstellung wahrer oder „wahrähnlicher“ Urteile (als sogenannte „quaestio“). Beide Disputationsverfahren existierten nebeneinander, wurden oft aber auch von denselben Personen bzw. in ein und demselben Diskussionsrahmen oder Text angewandt. Beiden ist gemeinsam, daß sie einem bestimmten Regelwerk folgten und sich im Rahmen einer Pro-Contra-Argumentation bewegten. Sie unterscheiden sich darin, daß in der Kunstform der sogenannten „Ars obligatoria“ sich eine auf formaler Folgerichtigkeit basierte Methodik der dialogischen Rede entwickelte, wohingegen die sogenannten „Quaestionen“ primär sachbezogene Verfahren zur Lösung außerlogischer Problemfragen darstellten448. Freilich unterlag auch die Form der „Quaestio“ im Laufe der Entwicklung zwischen dem 13. Jahrhundert und dem Ausgang des Mittelalters einer allmählichen Veränderung: von einem Verfahren des lebendigen Meinungsstreits wurde sie je länger desto mehr zu einer formalisierten Technik rationaler Argumentation bei Eliminierung des dialogischen bzw. dialektischen Charakters der Problembehandlung449. Insofern ist also eine einfache Gleichsetzung von „dialektischer Disputation“ mit dem Verfahren der „Ars obligatoria“ bzw. der „Quaestionen“ nicht ohne weiteres möglich. Für eine genauere Charakterisierung sind bestimmte funktionelle und inhaltliche Kriterien heranzuziehen. Sie ergeben sich aus einer langen Tradition dialektischer Methodik von der klassischen Antike bis in das hohe Mittelalter450. Zunächst mußte gemäß der aristotelisch-boëthianischen Tradition eine „dialektische Disputation“ grundsätzlich von der Methodik strengen Beweisens oder vom sophistischen Widerstreit von 448

Vgl. H. Keffer, De obligationibus. Rekonstruktion einer spätmittelalterlichen Disputationstheorie, S. 48–51; O. Weijers, La ‚disputatio‘ dans les Facultés des arts au moyen âge, S. 12–15, 159, 319. 449 Vgl. O. Weijers, La ‚disputatio‘ …, S. 328 f. 450 Vgl. P. Schulthess/ R. Imbach, Die Philosophie im lateinischen Mittelalter …, S. 147–150.

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Meinungen unterscheidbar sein. Aber auch Redeweisen, Positionen und Urteile, welche das Sein und Wesen der Dinge in metaphysischer Hinsicht berührten, mußten ausgeklammert werden. Ferner mußte aber auch weitgehend von persönlichen Erfahrungshorizonten abstrahiert werden, um den disputierten Fragen einen gewissen Grad der Verallgemeinerung zu verleihen. Allerdings mußte der Wissens- und Kenntnisstand der Gebildeten dabei in Rechnung gestellt werden. Eine prinzipielle Begrenzung auf bestimmte Gegenstandsbereiche sollte es gleichfalls für eine dialektische Disputation nicht geben. Insofern standen ihr alle Problembereiche offen, außer dem des reinen und absoluten Seins der Metaphysik. Genauso konnten Pseudoprobleme oder von vornherein unlösbare Fragestellungen nicht als legitime Gegenstände von „dialektischen Disputationen“ gelten (vgl. Aristoteles, Topik, Buch I, Kap. 10–11). Ihren spezifischen Status als dialektische Form der Gedankenentwicklung verdankte eine solche Disputation darüber hinaus aber einer bestimmten Problemlösungsstrategie, welche die Grundstruktur einer dialektischen Disputation bildete: 1. Am Anfang steht eine bestimmte sachliche Fragestellung; 2. diese Fragestellung zieht mit Beginn der Disputation einander entgegengesetzte Meinungen („pro“ und „contra“) von unterschiedlichen Disputanten mit dem jeweils gleichem Anspruch auf Gültigkeit nach sich, indem diese Meinungen als begründbare Antworten auf die eingangs gestellte Frage vertreten werden; 3. die Disputation führt sodann über diese kontroversen Meinungen hinaus zu einem klärenden eindeutigen Urteil mit Wahrheitsanspruch in bezug auf die eingangs gestellte Frage; 4. auf der Grundlage dieses Urteils erfolgt dann eine abschließende Zurückweisung von ihm entgegengesetzten Thesen. – Die ganze Prozedur einer disputierten Problemfrage („quaestio“) konnte unter den genannten Voraussetzungen als ein dialektisches Verfahren angesehen werden. Der Grad der Verbindlichkeit des Wahrheitsanspruchs im abschließenden Urteil konnte variieren. Damit konnten auch bestimmte Wahrscheinlichkeitsurteile als Lösungen von dialektischen Fragestellungen und Disputationen angesehen werden, was auch geschah. Unverzichtbar und eindeutig blieb hingegen das Gebot sachlicher und lösbarer Problemstellungen. Die Bezeichnung „dialektische Disputation“ ist nicht eindeutig. Sie kann im Kontext der Lehr- und Lernpraxis an den mittelalterlichen Universitäten in einem engeren und in einem weiteren Sinn des Wortes verstanden werden. Im engeren Sinn des Wortes werden vor allem im Mittelalter selbst mit dieser Bezeichnung bestimmte Übungsgespräche im Frage-Antwort-Modus gemeint, die zwischen einem sogenannten „Respondenten“ und einem „Opponenten“ nach den Regeln der „Ars obligatoria“ in dem Bereich der Aussagenlogik bzw. dialogischer Logik erfolgen. Insbesondere das 14. Jahrhundert ließ diese Praxis und die sie begleitenden theoretischen Abhandlungen zur Hochform aufsteigen451. Im weiteren Sinn des Wortes bezeichnet der Ausdruck „dia451

Als entsprechende Beispiele dafür seien genannt: Gualterus Burley, Tractatus de obligationibus, ed. R. Green, S. 34; R. Swyneshead, Obligationes, ed. P. V. Spade; Paulus Venetus, Quadratura; vgl. ferner H. Keffer, De obligationibus …, S. 3 ff.

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lektische Disputation“ aber die universitären Debatten, Lehr- und Lernmethoden und nicht zuletzt auch eine immer mehr in den Vordergrund tretende Form von Textinterpretationen, welche der oben erläuterten dialektischen Struktur einer sogenannten „Quaestio“ folgen. Zwar waren aus dieser Prozedur logische Fragestellungen nicht von vornherein ausgeschlossen, doch ließ sich eine so verstandene „dialektische Disputation“ auch nicht auf solche reduzieren. Vielmehr waren sämtliche Bereiche des Philosophierens tangiert, in denen es nicht vordergründig um formale Folgerungsbeziehungen zwischen Aussagen, sondern um die Lösung inhaltlicher Problemfragen durch einen argumentativen Vergleich von alternativen Lösungsmöglichkeiten ging. Für diese weiter gefaßte Verwendung des Ausdrucks „dialektische Disputation“ kann auch die bedeutungsgleiche Bezeichnung „scholastische Disputation“ verwendet werden, insoweit darin die erläuterten funktionalen und inhaltlichen Besonderheiten einer vollentwickelten „Quaestio“ eingehen. Dafür ist es aber zweitrangig, ob darunter lebendige Diskurse zwischen unterschiedlichen Personen aus dem Universitätsbetrieb unter maßgeblicher Beteiligung von Magistern gemeint sind oder Berichte über solche Diskurse bzw. eine bestimmte Art diskursiver Problemabhandlung in Fachtexten von einzelnen Autoren452. Die „Quaestionen“ wurden als prozedurale Technik problembezogener Textexegese sogar zur bevorzugten Form der Vorlesungen an der Pariser Artistenfakultät453. Sowohl das lebendige Streitgespräch als auch die schriftliche Darstellung oder der Bericht von kontroverser Meinungsbildung gehörten im 13. und im 14. Jahrhundert zu den üblichen Formen von dialektischer Disputation im weiteren Sinn des Wortes. Zum Ende des Mittelalters trat freilich deutlich der formalisierte technische Charakter einer „Quaestio“ in den Vordergrund bzw. diente der Vermittlung von vorgefaßten Meinungen in Vorlesungen und Darstellungen. Im Kontrast dazu zeigen aber prominente Zeugnisse von disputierten Quaestionen, Quodlibets (d.h. also von festlichen, außerordentlichen Quaestionen-Disputationen) und Textkommentaren in der literarischen Form einer Quaestio aus dem 14. Jahrhundert, wie dialektische Disputationen in der Form der „Quaestio“ bis zum letzten Satz problembezogen und offen sein konnten. Auch die berühmte Impetus-Hypothese von Johannes Buridan zur Erklärung der Projektionsbewegung von Körpern im irdischen Raum ist in einem solchen Zusammenhang entwikkelt worden454. Die Eröffnung neuer Perspektiven gerade im Rahmen der scholastischen Naturphilosophie konnte offensichtlich unmittelbar von der dialektischen Disputation in der Form der „Quaestio“ profitieren. Die von den Autoren bekundete „Probabilität“ ihrer Diskussionsresultate sicherte diesen einen gewissen Wahrheitsan452

Vgl. O. Weijers, La ‚disputatio‘ …, S. 83, S. 326 und passim. Ibid., S. 25, 37. 454 Vgl. Johannes Buridanus, Quaestiones super octo libros Physicorum Aristotelis, lib. 8, qu. 12, in: A. Maier, Zwei Grundprobleme der scholastischen Naturphilosophie, Rom 1951, S. 207–214; Johannes von Jandun, Quaestio disputata „Utrum forma substantialis perficiens materiam sit corruptibilis“, zit. bei O. Weijers, La ‚disputatio‘ …, S. 40; Nicole Oresme, Quodlibeta, zit. bei O. Weijers, a. a. O., S. 56.

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spruch, ohne diesen zu verabsolutieren. Damit stellen die dialektischen Disputationen an den mittelalterlichen Universitäten ein entscheidendes Durchgangsstadium von geistiger Evolution in der Philosophie dar. Sie vereinigten in ihrer voll entwickelten Gestalt auf dialektische Weise Inhalt und Form, Traditionsbezug und Innovationsbereitschaft, logisch-rationale Argumentation und Problementfaltung sowie den Meinungsstreit und die Wahrheitsfindung.

IV. Kapitel: Traditionen und Neuerungen im dialektischen Denken des Spätmittelalters

In der Zeit des 14. und des 15. Jahrhunderts entwickelte sich das dialektische Denken sowohl in methodischer als auch in theoretischer Hinsicht weiter. Die Auslegung vor allem von Aristoteles’ Opus bot dafür manche günstige Gelegenheiten. Vor allem trat dabei immer mehr der inhaltliche Problembezug und nicht die reine Textexegese in das Zentrum akademischen Philosophierens. Dieses Phänomen läßt sich auch für die akademische Theologie konstatieren. Ein wachsendes Problembewußtsein traf auf zahlreiche originelle Denker mit intensiv diskutierten neuen Lösungsangeboten. Vor allem in Frankreich, England, Deutschland und Italien lassen sich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts solche Umstände verstärkt feststellen. Neben die Interpretation von Texten trat zunehmend auch die Beobachtung und Diskussion empirischer Tatbestände, die in ihrer Komplexität nicht ohne weiteres in die vorhandenen Theorien eingliederbar waren. Auch und gerade scheinbar evidente Überzeugungen galt es erneut zu prüfen. Gegenüber bisher zweifelsfrei übernommenen Autoritäten, einschließlich der des Aristoteles, wurden Bedenken und Einwände vorgetragen. Im Nachdenken über alternative Lösungsmöglichkeiten wurde im Diskurs über „mögliche Welten“ sogar der vorgegebene weltanschauliche Bezugsrahmen verlassen. Sowohl im Gebrauch der „Quaestio“Methode, als auch in zahlreichen speziellen theoretischen Reflexionen konnte sich ein dialektisches Denken bewähren. Entsprechende Themen betrafen die Prozesse und Strukturen der Natur, den Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen und das Verhältnis zwischen göttlichem Urgrund, der Welt und dem Menschen. Aber auch die Probleme und Fragen aus dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß bzw. zur Erklärung des menschlichen Strebens nach Einsicht, Wissen und Verstehen wurden durch dialektische Theorieansätze zu lösen versucht. Zu den ständig wiederkehrenden Themen der philosophischen Debatten dieser Zeit gehörten das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit bzw. von Kausalität, Zufall und Kontingenz, welche auch direkt das Selbstverständnis von menschlicher Existenz tangierten. Die nach wie vor enge Partnerschaft von philosophischem und theologischem Denken auch und gerade hinsichtlich eines dialektischen Denkansatzes veranschaulicht das Werk Meister Eckharts. Die Traditionslinie der Dialektik der Negativität tritt dort klar

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hervor. In seinen tieflotenden Überlegungen werden die Bedingungen des intellektuellen Erfassens Gottes und der Begegnung mit ihm, der Läuterung der Menschen und der menschlichen Selbsterkenntnis reflektiert und in oftmals paradoxen Wendungen neu bestimmt. Tendentiell deutet sich dabei ein Übergang von einer dominanten Vermittlungsdialektik zu einer Dialektik von Vermittlung und Unmittelbarkeit in der Tätigkeit der Vernunft an. Meister Eckhart läßt dabei gerade auch die kritische Potenz des dialektischen Denkens bewußt werden. Er nutzt dieses Mittel sowohl im akademischen als auch im außerakademischen Bereich, sowohl in der theologischen Hermeneutik als auch im Bemühen um Veränderungen des praktischen moralischen Handeln der Menschen. Die Ansätze und Erträge eines dialektischen Philosophierens dieser Zeit bewegten sich zwar zunehmend auf speziellen Diskussionsfeldern, sind aber im allgemeinen in einen metaphysischen Rahmen gestellt und beziehen sich auf diesen. Namentlich die aristotelische Substanzenontologie und die neuplatonische Einheits-Philosophie sind hier zu erwähnen. In Gestalt des Probabilismus entstand wiederum eine dialektische Geisteshaltung, welche zwischen unkritischer Traditionstreue und offenem Traditionsbruch eine Art Mittelweg fand, auf welchem sowohl alternative Seitenwege begehbar wurden, als auch bewährte Orientierungen beibehalten werden konnten. In der spätmittelalterlichen scholastischen Naturphilosophie bieten die Diskurse über die Erklärung von natürlicher Prozessualität, von Zufall und Notwendigkeit, von Erhaltung und Wandelbarkeit, von Potentialität und Aktualität in der Natur oder von Einheit und Differenz in qualitativen natürlichen Zusammensetzungen der „Elemente“ zahlreiche Gelegenheiten zu dialektischen Lösungsansätzen. In ihnen kann die Relativität, die Kompatibilität oder die Vermittlung der Gegenteile konkret erörtert und nachgewiesen werden. Im Kapitel werden entsprechende Diskussionsangebote von Walter Burley, Nicole Oresme, Albert von Sachsen und Blasius von Parma dargestellt, also von herausragenden Naturphilosophen aus dieser Zeit. Mehrere Autoren haben im 14. und im 15. Jahrhundert nach einer dialektischen Lösung der Frage gesucht, wie Kausalität und Notwendigkeit mit Freiheit und Zufall in ein Verhältnis gesetzt werden können, das frei von einer verabsolutierenden Entgegensetzung dieser Zusammenhangsformen bleibt. An die Stelle einer Verabsolutierung der Notwendigkeit oder der Kontingenz setzten sie bedingte Notwendigkeiten, nicht-lineare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, gebundene Kontingenzen, probabilistische Abhängigkeiten oder eine kompatible Einheit aus Freiheit und Notwendigkeit. Diese dialektischen Bedingungsverhältnisse wurden entweder auf Naturzusammenhänge oder auf Handlungszusammenhänge oder aber auch vereint auf beide Bereiche von Wirklichkeit angewendet. Zu den prominenten Vertretern eines so verstandenen dialektischen Determinismus können Wilhelm von Ockham, Nikolaus von Autrecourt, Levi ben Gerson und Johannes Wyclif gezählt werden, denen sich das Kapitel im einzelnen zuwendet. In methodischer und methodologischer Hinsicht weist das dialektische Denken der Philosophen im 14. und im 15,. Jahrhundert vor allem im Anschluß an Aristoteles’ „Topik“ bemerkenswerte Zeugnisse auf. Die „dialektische Argumentation“ oder der „topi-

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sche Syllogismus“, die hypothetische Mutmaßung, der methodische Zweifel und der Diskurs über Lösungsalternativen werden von herausragenden Philosophen zu integralen Bestandteilen einer wissenschaftlichen Untersuchung gemacht und brechen damit die Monopolstellung des streng deduktiven Beweisens. Im 14. oder im 15. Jahrhundert haben in dieser Richtung vor allem Wilhelm von Ockham, Johannes Buridan und die Vertreter der Buridanschule und nicht zuletzt auch Johannes Versor bemerkenswerte Vorstellungen und Belege geliefert. Die Dialektik von Meinen und Wissen und die Möglichkeit eines Methodenpluralismus im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß konnten so verstärkt in das Bewußtsein gerückt werden. Die verstärkte Aufmerksamkeit für die Dialektik des Erkenntnisprozesses in dieser Zeit veranschaulicht auch das Beispiel des Petrus Aureoli. Er entwickelte eine phänomenologische Reflexionsdialektik, in welcher er grundlegend sowohl eine spezifische Subjekt-Objekt-Dialektik des Erkenntnisprozesses als auch ontologische Fragestellungen im Rahmen der aristotelischen Dialektik abhandelte. Schließlich findet die Dialektik als eine Argumentations- und Disputationsmethode auch Eingang in die Staats-, Gesellschafts- und Kirchenlehre dieser Zeit. Dies kann anhand einiger Beispiele aus den Schriften Wilhelms von Ockhams, Dantes und Marsilius’ von Padua gezeigt werden. Die Genannten haben auch theoretische dialektische Vorstellungen in die Diskurse über das Naturrecht, die Grundlagen einer universellen Reform von Macht und Herrschaft bzw. die Grundlagen eines harmonischen Zusammenlebens der Menschen eingebracht. Die kritische Potenz des dialektischen Denkens offenbart sich damit auch in einem direkten Bezug auf aktuelle Fragen der damaligen Zeit.

Elemente eines dialektischen Philosophierens im Werk von Meister Eckhart Mehrere Autoren, welche sich mit dem Werk Eckharts (gest. 1328) beschäftigt haben, konnten darin bestimmte Elemente von dialektischem Denken feststellen455. Sowohl die Begriffssprache Eckharts, die paradoxalen und aporetischen Formen der Darlegung seiner Gedanken, der kritische Umgang mit den zeitgenössischen Denkweisen, als auch nicht zuletzt die Inhalte seiner Aussagen zum Wesen Gottes und zum Verhältnis von Gott, Welt und Mensch im Rahmen einer „negativen Theologie“ sind in den Kontext einer dialektischen Methodik und Theorie gestellt worden. Die genannten dialektischen Momente und Elemente seines theologischen Denkens lassen sich zum Beispiel als 455

Vgl. dazu Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, hrsg. v. G. Steer und L. Sturlese, Bd. I (insbesondere die Beiträge von Köbele, Davies, Hasebrink und McGinn); V. Lossky, Théologie négative et connaissance de Dieu chez Maître Eckhart; M. de Gandillac, La „dialectique“ de Maître Eckhart; S. Kroll, „Die Gerechten werden leben ewiglich bei Gott“. Eine Studie zur Dialektik des Gerechtigkeitsbegriffs bei Meister Eckhart …; G. Faden, Meister Eckharts Dialektik.

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immanente Charakteristika von einigen Predigten Eckhards erkennen. Trotz der ständig wechselnden Perspektiven und Kontexte gibt es hier auch bestimmte theoretische Dominanten. Eine solche ist die Dialektik von Identität und Differenz, von Immanenz und Transzendenz, von Vermittlung und Unmittelbarkeit im Verhältnis von göttlichem Ursprung, geschöpflicher Welt und dem nach der eigenen Seligkeit strebenden Menschen. So heißt es beispielsweise in einem lateinischen Predigttext: „Wenn wir sagen, daß alles in Gott ist, (so heißt das:) wie er selbst ununterschieden in seiner Natur und trotzdem von allen Dingen schlechthin unterschieden ist, so ist in ihm alles zugleich in größter Unterschiedenheit und ununterschieden.“456 Damit wird von Eckhart eine dialektische Einheit von Identität und Differenz für die Kennzeichnung des Verhältnisses von Gott und der Gesamtheit der Dinge zugrundegelegt. Als eine von mehreren angefügten Erklärungen für eine solche Ansicht äußert Eckhart gleich im Anschluß daran folgendes: „Viertens bemerke auf Grund des Vorherigen, daß in Gott, der ja Geist ist, alle Dinge ohne Lage wie auch ohne Grenze sind. Zudem aber: wie Gott unaussprechlich, unbegreiflich ist, so ist in ihm alles auf unaussprechliche Weise …“457. Die Dialektik von Identität und Differenz im Gott-Welt-Verhältnis gilt also nur unter der Bedingung der völligen Entgrenzung des üblichen Aussagehorizonts. Insofern deutet sich der transzendente Charakter dieser Dialektik an. Eine Dialektik von Identität und Differenz gilt für Eckhart auch für die Verhältnisse im Rahmen der göttlichen Trinität: „Ich predigte einst in lateinischer Sprache, und das war am Tage der Dreifaltigkeit, da sagte ich: Die Unterschiedenheit kommt aus der Einheit, ich meine die Unterschiedenheit in der Dreifaltigkeit. Die Einheit ist die Unterschiedenheit, und die Unterschiedenheit ist die Einheit. Je größer die Unterschiedenheit ist, um so größer ist die Einheit, denn das eben ist die Unterschiedenheit ohne Unterschied.“458 Für den philosophierenden Theologen Eckhart kam der geschöpflichen Welt, isoliert genommen, allerdings überhaupt kein Sein zu. „Alle Kreaturen sind ein pures Nichts. Ich sage nicht, daß sie gering oder (überhaupt) etwas seien: Sie sind ein schlechthinniges Nichts. Was nicht Sein hat, das ist ein Nichts. Alle Kreaturen haben kein (eigenes) Sein, hängt doch ihr Sein an der Gegenwärtigkeit Gottes. Kehrte sich Gott einen Augenblick von allen Kreaturen ab, so würden sie zunichte. Ich sagte gelegentlich, und es ist auch wahr: Wer die ganze Welt zu Gott hinzunähme, der hätte nicht mehr, als wenn er Gott allein hätte“459, heißt es in einer Predigt. Und in einer anderen ähnlich: „alle Kreaturen sind, so wie sie sind, ein Nichts …“460. Damit ist klar gestellt, daß nur im und durch den Schöpfungsakt Gottes überhaupt ein Verhältnis zwischen Gott und Welt konstituiert ist. Der christliche Schöpfungsgedanke ist die conditio sine qua non der Eck456

Meister Eckhart, Sermo IV.1 (Lateinische Werke, Bd. IV, p. 27–28). Ibid., p. 28. 458 Meister Eckhart, Predigt 10 (Deutsche Werke Bd. I, p. 173). 459 Meister Eckhart, Predigt 4, übers. v. K. Ruh, in: Lectura Eckhardi, Bd. I, p. 7. (vgl. Deutsche Werke Bd. I, p. 69–70). 460 Meister Eckhart, Predigt 45 (Deutsche Werke Bd. II, übers. v. J. Quint, p. 705). 457

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hardschen Dialektik von Identität und Differenz im Verhältnis zwischen Gott und Welt. Äußerlich genommen, d.h. also in einer trennenden Gegenüberstellung, besteht für Eckhart zwischen Gott und Welt überhaupt kein Verhältnis, sondern nur der wechselseitige Ausschluß im Sinne des polaren Gegensatzes von reinem Sein und reinem Nichts. Die „Welt“ als ein geschöpfliches Sein begriffen, erhält zum anderen aber ein von Gott abhängiges Sein. Für Eckhart ist damit ein inneres Verhältnis begründet, welches er teils als Attributionsanalogie, teils als spiegelbildliche Komplementarität beschreibt, wodurch die Einheit von Identität und Differenz näher beschreiben wird. Insofern wird hier eine positive Dialektik zur Geltung gebracht. Umgekehrt wird durch die konstitutive Defizienz eines eigenen selbständigen Seins der Welt alles kreatürliche Seiende in einen unaufgelösten Widerspruch zwischen der Bestimmung als (uneigenes) Sein und als (eigenes) Nichts gesetzt: dieser von Eckhart zugrundegelegte unauflösbare innere Wesensgegensatz in kreatürlichem Seienden läßt den Aspekt der Einheit und Identität alles Seins zugunsten des Aspekts der Differenz zurücktreten und dadurch eine negative Dialektik des kreatürlichen Seins begründen: kreatürliches Seiendes ist Voneinemanderen-Seiendes und – für sich genommen – Nicht-Seiendes. Diese widersprüchliche Grundkonstitution, welche dem kreatürlichen Seienden als solchem zukam, war für Eckhart aber kein statischer Zustand, sondern ein dynamisch zu seiner Auflösung drängendes Verhältnis461. Eckhart machte wiederholt deutlich, daß die Bestimmung Gottes nur durch eine absolute Transzendierung aller gewohnt-eindeutigen Bestimmungen auf ein widerspruchsfreies Absolutum hin betrieben werden kann, das entweder als eine metatranszendentale absolute „Einheit“462 oder aber als ein hypernegatives Positivum zu kennzeichnen war. Den letzten Aspekt bringt Eckharts Begriff von Gott als einer „negatio negationis“ bzw. einem „Verneinen des Verneinens und einem Verleugnen des Verleugnens“ bzw. als „als gar nichts … weder dies noch das“ oder als „ein Nichts und ein Etwas“ zur Geltung463. In der Auslegung des 2. Buch Mose heißt es: „Auf Gott trifft also keine Verneinung, nichts Verneinendes zu außer der Verneinung der Verneinung, die das eine Verneinung einschließende Eine ausdrückt: ‚Gott ist einer‘ (Deut. 6,4; Gal. 3,20). Die Verneinung der Verneinung ist jedoch lauterste und vollste Bejahung: ‚ich bin, der ich bin‘.“464 Diese aus der negativen Theologie hervorgehenden Ausdrücke heben in dialektischer Weise die Transzendenz Gottes gegenüber allem Seienden hervor, indem er dieses überbietet und zugleich als differenz- und gegensatzlose Einheit erfüllt. Damit stellt sich Eckhart gegen eine differenzlose Gleichsetzung von Gott und metaphysi461

Vgl. Norbert Winkler, Meister Eckhart zur Einführung, S. 72–75. Vgl. Burkhard Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, S. 82–110; A. de Libera, L’un ou la trinité? Sur un aspect trop connu de la théologie eckhartienne. 463 Meister Eckhart, Predigt 21 (Deutsche Werke Bd I, p. 361–363); ders., Predigt 23 (Deutsche Werke Bd. I, p. 402); ders. Predigt 71, neu übers. v. B. Hasebrink, in: Lectura Eckhardi, Bd. I, p. 225 (Deutsche Werke Bd. III, p. 222.) 464 Meister Eckhart, Expositio libri Exodi n. 74 (Lateinische Werke, Bd. 2, p. 77). 462

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schem Sein im landläufigen Verständnis der „Meister“ der scholastischen Philosophie: „Die Meister lehren, Gott sei Sein und ein vernünftiges Sein und erkenne alle Dinge. Ich aber lehre: Gott ist weder Sein, noch ein vernünftiges Sein, noch erkennt er dieses und jenes. Daher ist Gott losgelöst von allen Dingen, und deshalb ist er alle Dinge.“465 Eckharts dialektisch-transzendentaler Gottesbegriff beschreibt sowohl die Transzendenz als auch die Immanenz Gottes gegenüber den „Dingen“. Wenn diese innere Spannung aufrechterhalten bleibt, kommt der dialektische Ansatz in Eckharts Theologie zur Geltung. Wird Gott ausschließlich als ein differenzloses „Eins“ gefaßt, so wird die Dialektik von Identität und Differenz bzw. von Transzendenz und Immanenz durch eine Einheitsmetaphysik ersetzt. Beide Tendenzen gibt es in Eckharts philosophischer Theologie und zwischen beiden Perspektiven wechselt er. Eine weitere Dominante dialektischen Philosophierens in Eckharts Theologie ist die Dialektik von Vermittlung und Unmittelbarkeit Gottes in der menschlichen Seele. Diese Dialektik tritt zum Beispiel in Gestalt der Lehre von dem „Licht“ in Erscheinung. Eckhart unterschiedet zwischen drei Modi des „Lichts“: dem „natürlichen Licht der Seele“, dem „Engelslicht“ und dem „göttlichen Licht“466. In dem Zusammentreffen dieser „Lichter“ wird von ihm zugleich die unmittelbare innerste Gegenwärtigkeit Gottes in der lebendigen Seele des Menschen gesehen467. Das „göttliche Licht“ ermöglicht sowohl die unmittelbare Gegenwart Gottes im Innersten der Seele als auch überhaupt das Sein der Kreaturen: „So also sollte die oberste Kraft der Seele, die das Haupt ist, gleichmäßig erhoben sein unter den Strahl des göttlichen Lichts. […] Alle Kreaturen sind, so wie sie sind, ein Nichts; wenn sie von dem Licht überstrahlt werden, in dem sie ihr Sein empfangen, da [erst] sind sie Etwas.“468 Durch, mit und in dem „Licht“ ereignet sich auch der Aufstieg der Seele zu Gott: „Alles, was geordnet ist, das muß dem untergeordnet sein, das über ihm ist. Gott gefällt keine einzige seiner Kreaturen, es sei denn, das natürliche Licht der Seele, in dem sie ihr Sein empfangen, scheine über sie, und das Licht des Engels überstrahle dieses Licht der Seele und bereite sie vor und forme sie so, daß das göttliche Licht in ihr wirken könne; denn Gott wirkt nicht in körperlichen Dingen, er wirkt in der Ewigkeit! Deshalb eben muß die Seele gesammelt sein und muß in die Höhe emporgezogen und muß ein Geist sein. Dort wirkt Gott, dort behagen Gott alle Werke. Niemals gefällt Gott irgendein Werk, es sei denn, es würde dort gewirkt.“469 Wird an dieser zitierten Predigtstelle die vermittelnde Funktion des „Lichts“ akzentu465

Meister Eckhart, Predigt 52, neu übers. v. K. Flasch, in: Lectura Eckhardi, Bd. I, p. 175 (Deutsche Werke Bd. II, p. 497). 466 Meister Eckhart, Predigt 18 (übers. v. J. Quint, in: Lectura Eckhardi, Bd. I, p. 103, Deutsche Werke Bd. I, p. 501). 467 Ibid.; vgl. auch Meister Eckhart, Sermo XXXVI,1, n. 370 f. (Lateinische Werke Bd. IV, p. 317 f.; zitiert in Lectura Eckhardi, Bd. I, p. 138). 468 Meister Eckhart, Predigt 45 (Deutsche Werke Bd. II, p. 369, in der Übersetzung J. Quints, p. 705). 469 Meister Eckhart, Predigt 19 (neu übers. v. F. Löser, in: Lectura Eckhardi, Bd. I, p. 119; Deutsche Werke Bd. I, p. 313).

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iert, so kommt in einer weiteren Predigt der Gedanke der unvermittelten Gleichheit mit Gott auf Grund des „Lichts in der Seele“ zur Sprache. So heißt es in der Predigt 48: „Ich habe gelegentlich von einem Licht gesprochen, das in der Seele ist und das ungeschaffen und unerschaffbar ist. Dieses Licht berühre ich gewöhnlich immer in meinen Predigten, und dieses nämliche Licht nimmt Gott unvermittelt, unverdeckt und nackt, so, wie er in sich selbst ist; das ist dem wirklichen Vollzug der Eingebärung nach zu verstehen. Da kann ich fürwahr sagen, daß dieses Licht mehr Einheit mit Gott besitzt, als es Einheit hat mit irgendeiner (Seelen-) Kraft, mit der es doch dem Sein nach eins ist …“470. Die zitierten Stellen aus Eckhards Predigten zeigen die dreifache Funktion der Licht-Metaphorik im ontologischen, erkenntnistheoretischen und im anthropologischen Kontext, dem Aufweis der Vermittlung des Unmittelbaren zu dienen. Eckhart konnte dabei auf eine lange Tradition in der Philosophie, auf die Bibel und die Patristik zurückgreifen. Ein besonderer Akzent der Eckhartschen Licht-Spekulation kommt aber darin zur Geltung, daß er im Unterschied beispielsweise zu Pseudo-Dionysius Areopagita nicht von einem kontinuierlichen prozeßhaften Übergang der Seele zur Erkenntnis Gottes unter Vermittlung des „Lichts“ ausgeht, sondern hier eine scharfe Grenze zwischen dem Prozeß der Hinführung und dem eigentlichen Sehen des „göttlichen Lichts“ zieht471. Mittels des philosophisch-theologischen „Licht“-Prinzips wird so von Eckhart auch das dialektische Prinzip der Einheit von Vermittlung und Unmittelbarkeit, von Kontinuität und Diskontinuität, von Gleichheit und Unterschied zur Geltung gebracht. Eine Dialektik von Vermittlung und Unmittelbarkeit kommt auch in einem weiteren Stück von Eckharts Theologie zur Geltung, in der Bild-Theologie. So heißt es in der Predigt 16b: „Ihr sollt wissen, daß das einfaltige göttliche Bild, das der Seele eingedrückt ist im Innersten ihrer Natur, (ebenfalls) ohne Vermittelndes sich empfängt. Und das Innerste und Edelste, das in der (göttlichen) Natur ist, das ‚erbildet‘ sich allereigentlichst in das Bild der Seele, und hier gibt es kein Vermittelndes, weder Wille noch Weisheit, wie ich vorhin schon gesagt habe. Wenn hier Weisheit ein Vermittelndes ist, dann ist es das Bild selbst. Hier ist Gott ohne Vermittelndes in dem Bild, und das Bild ohne Vermittelndes in Gott. Freilich ist Gott auf viel edlere Weise in dem Bild, als das Bild in Gott ist. Hier nimmt das Bild Gott nicht, insofern er Schöpfer ist, sondern es nimmt ihn, insofern er vernünftiges Sein ist, und das Edelste in der Natur ‚erbildet‘ sich allereigentlichst in das Bild. Das ist ein natürliches Bild Gottes, das Gott in alle Seelen auf natürliche Weise eingedrückt hat. Darüber hinaus kann ich dem Bild nichts geben; gäbe ich ihm aber noch etwas darüber hinaus, so müßte es Gott selbst sein, und das ist unmöglich, denn dann wäre Gott nicht Gott.“472 In vier Punkten faßt Eckhart im 470

Meister Eckhart, Predigt 48 (neu übers. v. B. Mojsisch, in: Lectura Eckhardi, Bd. I, p. 155; Deutsche Werke Bd. II, p. 418). 471 Vgl. Burkhard Hasebrink, Zu Predigt 71: Surrexit autem Saulus, in: Lectura Eckhardi, Bd. I, p. 237–238. 472 Meister Eckhart, Predigt 16b (neu übers. v. S. Köbele, in: Lectura Eckhardi, p. 47; Deutsche Werke Bd. I, p. 268).

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Anschluß an die zitierte Textpassage die Hauptcharakteristika seines Begriffes von einem „Bild“ zusammen: „Ein Bild ist (1) nicht aus sich selbst, noch ist es für sich selbst, es stammt (2) allein von dem, dessen Bild es ist, und gehört ihm gänzlich mit allem, was es ist. (3) Was dem, dessen Bild es ist, fremd ist, dem gehört es nicht, noch stammt es von ihm. (4) Ein Bild nimmt sein Sein ohne Vermittelndes allein aus dem, dessen Bild es ist, und hat ein Sein mit ihm und ist dasselbe Sein.“473 Wie S. Köbele hervorhebt, legt Eckhart seinen spekulativen „Bild“-Begriff in zwei entgegengesetzte Richtungen aus: einerseits zeigt „Bild“ eine Verschiedenheit vom Ursprung an, andererseits aber auch die Einheit mit dem Ursprung474. Der reflektierte Bild-Begriff Eckhards transportiert theologisch den Gedanken der Unterschiedenheit und der Einheit der Seele mit Gott und philosophisch den dialektischen Gedanken der Einheit von Vermittlung und Unmittelbarkeit im Vorgang der Selbstmitteilung Gottes. Eckhart zeigt in seiner „Licht“- und „Bild“-Spekulation nicht mehr nur die Vermittlung von Unterschiedenem bzw. Gegensätzlichem durch ein Drittes (ein „Mittleres“), sondern überbietet diesen Gedanken durch das dialektische Prinzip der Einheit von Vermittlung und Unmittelbarkeit, welche durch eine plötzliche unmittelbare Gleichheit zwischen den zunächst vermittelten Unterschiedenen zustande kommen soll. Aus der Vermittlungsdialektik wurde so eine Dialektik der Identität jenseits des Horizonts des geschöpflichen Seins und des Horizonts von Wille, Weisheit und suchender Vernunft. Ein ähnlicher Gedankengang ist mit Eckharts Begriffen „Armut“, „Gelassenheit“ und „Abgeschiedenheit“ verbunden, welche in den deutschen Predigten eine grundlegende Rolle spielen. Mit ihnen wird das religiöse Ideal eines vollendeten, gottgleichen Menschseins expliziert475. Der speziell dialektische Gehalt stellt sich auf theoretischer Ebene als die Setzung und Aufhebung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes zwischen Erkenntnissubjekt und -objekt, des Gegensatzes von Zweck und Mittel, des Gegensatzes von Ursprünglichkeit und Gewordensein und von Distanz und Nähe zwischen Gott und Mensch dar. Diese Dialektik ist radikal negativ gegenüber allen Formen positiv bestimmter Ansprüche auf Besitz, Wissen und zweckrationales Streben des Menschen. Sie zeigt deren Nichtigkeit und innere Widersinnigkeit. Sie zeigt zugleich die alternativlose Positivität dieser kritisch-negativen Haltung und Einstellung als praktische Lebensleistung des „seligen Menschen“. Die Dialektik als kritische Methode kommt gerade in Eckharts „Armuts-“, „Gelassenheits-“ und „Abgeschiedenheits-Postulaten“ zum Durchbruch. Diese Dialektik will nicht mehr die Vermittlung zwischen den Gegensätzen, sondern ihre radikale Überwindung in einer differenzlosen Einheit aufzeigen. Ihrer ethischen Dimension nach ruht diese kritische Dialektik auf dem Gedanken des Ineinsfallens von Selbstüberbietung und Selbstgewinn im wahrhaft seligen Leben. Insofern 473

Ibid. (Deutsche Werke Bd. I, p. 270). S. Köbele, Zu Predigt 16b: Quasi vas auri solidum, in: Lectura Eckhardi, Bd. I, p. 67. 475 Vgl. Meister Eckhart, Predigt 12, Predigt 16b, Predigt 52, in: Lectura Eckhardi I, p. 26–33, 44–51, 168–181; ders., „Die rede der unterscheidunge“ (Deutsche Werke Bd. V, S. 137–376); vgl. auch K. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. III, S. 342–351. 474

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stellt sie eine bestimmte Art eines negativen Eudämonismus dar. Erkenntnistheoretisch wiederum ruht diese Dialektik auf der Idee der Subjekt-Objekt-Identität in der transzendenten Erkenntnis des „Einen in der Seele“ als der Erkenntnis des Ursprungs des Erkennens selbst476. Im Grunde geht es hier um die Dialektik der Selbsterkenntnis als eine Einheit von Selbsteinsatz und Selbstüberbietung der Vernunft. In ihrer behaupteten Zeitlosigkeit und Absolutheit beinhaltet eine solche Gedankenführung Eckharts wesentlich eine idealistische Geist-Metaphysik bzw. mündet in diese. Genau in dieser Kompatibilität von Elementen einer dialektischen Theorie und Methodik und der metaphysischen Grundlegung seines Denkens im Rahmen einer Einheitsund Geist-Metaphysik wird der spezifische philosophisch-historische Ort von Eckharts dialektischem Denken offenbar. Insofern diese Konstellation wiederum wesentlich einem religiösen und theologischen Vorverständnis ihres Autors zu verdanken ist, gehören die gezeigten Elemente von dialektischem Denken einer theologischen Dialektik bzw. dialektischen Theologie an.

Der Beitrag des Walter Burley zu einer dialektischen Naturbetrachtung In den Schriften des englischen Scholastikers Walter Burley (ca. 1275–nach 1344) gibt es eine Reihe von dialektischen Aspekten, welche gerade die Interpretation der aristotelischen Naturphilosophie betreffen. Die Dialektik Burleys ist nicht nur wegen ihrer methodischen Form als Methode der kontroversen Diskussion, sondern auch wesentlich auf Grund ihrer theoretischen Gehalte zu charakterisieren477. Ihren theoretischen Hauptgegenstand bilden die sogenannten „akzidentiellen Qualitäten“ und deren wechselseitiges Verhältnis, insbesondere deren konträres Verhältnis. Es sind das vor allem diejenigen natürlichen Qualitäten, welche durch wechselseitige Verbindungen, durch Wechselwirkungen und Veränderungen die natürliche Welt in ihrer konkreten Veränderbarkeit und Differenziertheit verstehen lassen, insoweit dies in der Aristotelischen Philosophie thematisiert wurde. Zu diesem Gegenstand hat sich Burley z.B. in dem „Tractatus primus“ geäußert. Dieser Traktat enthält vier Lehrsätze („conclusiones“), welche Burleys Reflexion präzise wiedergeben. Im Anschluß an die Nennung dieser Sätze gibt der Autor mehrere Pro- und Contra-Argumente an, um sie abzusichern. Der erste Lehrsatz („prima conclusio“) besagt, daß eine bestimmte Qualität aus eigener Kraft eine „substantielle Form“ erzeugen kann478. Den Hintergrund dieser These bildet die in der Scholastik übliche Entgegensetzung von „substantieller Form“ als kon476

Meister Eckhart, Predigt 52, übers. v. K. Flasch, in: Lectura Eckhardi, Bd. I, p. 175. Vgl. H.-U. Wöhler, Die Dialektik in der Metaphysik: Walter Burleys Lehre von den Kontrarietäten, S. 43–70. 478 Gualterus Burlaeus, Tractatus primus, zit. nach: E. D. Sylla, The Oxford calculators and the mathematics of motion. 1320–1350. Physics and measurment by latitudes, S. 471, I.: „Qualitas in virtute propria potest producere formam substantialem“; vgl. H.-U. Wöhler, l. c., S. 68, Anm. 52.

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stanter Wesenscharakteristik der Dinge und der „akzidentiellen Form“ als wechselnder und variabler qualitativer Beschaffenheit. Diese Entgegensetzung implizierte auch die Frage nach der Ursache und Herkunft einer neu bzw. erstmalig auftretenden „substantiellen Form“. Burleys erster Lehrsatz nun bedeutet, daß er das Entstehen einer neuen Wesensform bzw. „substantiellen Form“ als ein notwendiges Resultat von vorangegangenen Veränderungen der akzidentiellen Qualitäten sieht. Also bringt eine Qualität bzw. qualitative Veränderung eines natürlichen Gegenstandes etwas hervor, was sie selbst nicht ist, d.h. eine „substantielle Form“. Dies geschieht, so Burley in seiner näheren Begründung, auf dem Wege einer Dispositionierung und Umwandlung der zugrundeliegenden „Materie“479. Nicht ein äußerer Eingriff durch einen sogenannten „Formgeber“ erzeugt also das substantiell Neue, sondern die natürlichen akzidentiellen Qualitäten in der Materie. Das gilt auch gerade im organischen Bereich, z.B. im Falle der „substantiellen Form“ sinnliches Wahrnehmungsvermögen von Lebewesen: hier genügt laut Burley die Wärme in einem Samen als hinreichende Ursache zur Erklärung des Hervortretens jener „substantiellen Form“480. Durch diesen Gedankengang erklärt Burley de facto eine Vermittelbarkeit des Substantiellen mit dem Akzidentiellen, des statischen Seins mit dem dynamischen Werden, von „substantieller Form“ und „akzidentieller Form“. Ebenso macht er den inneren notwendigen Zusammenhang zwischen einer allmählichen qualitativen Veränderung und dem Eintreten eines plötzlichen Formenwandels plausibel. Burley liefert mit seinem Lehrsatz und der anschließenden Argumentation also eine dialektische Erklärung für einen Grenzübergang im Zusammenhang von natürlichen Veränderungs- und Wandlungsprozessen. Der zweite Lehrsatz („secunda conclusio“) setzt den zuvor explizierten Gedanken fort und lautet: „Im Zeitmoment der Einführung einer substantiellen Form in einer Materie ist keine Wirkungskraft (agens) erforderlich, welche diese Form einführt.“481 Dieser Lehrsatz postuliert für den Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens die Identität von faktischem Dasein einer „substantiellen Form“ und dem momentanen Wandel, der zu diesem Dasein geführt hat, ohne daß zwischen beide ein von außen vermittelndes Drittes einzuschalten wäre. Burley formuliert: „… Ich sage, daß das plötzliche Werden einer Substanz bzw. einer substantiellen Form nichts anderes ist als die substantielle Form selbst.“482 Das „Sein“ im Sinne eines faktischen, formbestimmt-wesenhaften Daseins und das „Werden“ im Sinne des unvermittelten Auftretens fallen zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt in eins, zu welchem das Endresultat eines kausal verursachten Veränderungsprozesses erstmalig in Erscheinung tritt. Burley plädiert also offensichtlich für eine dialektische Einheit von kontinuierlicher Veränderung und diskontinuierli479

Gualterus Burlaeus, Tractatus primus, in: Sylla, S. 472, I. A. 1. b. (3). Ibid., in: Sylla, S. 77 f., vgl. Wöhler, Die Dialektik …, S. 68, Anm. 93. 481 Ibid., in: Sylla, S. 479, II, vgl. Wöhler, S. 69, Anm. 95: „… quod in instanti induccionis subite forme substantialis in materia non requiritur agens pro tunc inducens formam.“ 482 Ibid., in: Sylla, S. 481, II. D: „… dico quod generatio subita substantie vel forme substantialis non est aliud quam ipsa forma substantialis.“ 480

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chem Resultat der Veränderung im Zeitpunkt des Auftretens dieses Resultats. Aber auch eine Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit im Sinne von denkbarem und realem Sein ist dieser Überlegung zugrundegelegt483. Burleys dritter Lehrsatz („tertia conclusio“) lautet: „Die drei Wärmen, welche der Philosoph im zweiten Buch der Schrift „De generatione animalium“ voneinander unterscheidet, nämlich die himmlische, die elementarische und die Lebenswärme, gehören zu ein und derselben untersten Art.“484 Die Identität und Differenz von unterschiedlichen Sorten der natürlichen Wirkqualität „Wärme“ aufzuweisen, ist die Aufgabe dieses Abschnittes von Burleys Traktat. Außerdem will er auch die dialektische Einheit von Qualität und Quantität zeigen: denn es gibt für ihn einen direkten Zusammenhang zwischen der Intensität einer „Wärme“ und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art oder Qualität von Wärme485. Erkenntlich läßt er aus den spezifischen Differenzen der traditionellen Lehre von den drei „Wärmen“ nun graduelle Unterschiede in ein und derselben „Wärme“ werden. Er benennt aber auch die Identität dieser graduell abgestuften „Wärmen“, welche er in der konkreten natürlichen Wirkung des Erwärmens und Trocknens sieht486. Diese dialektische Theorie der Einheit von Differenz und Identität von natürlicher Wärme deutet tendentiell eine Aufhebung der dualistischen Entgegensetzung von Himmlischem und Irdischem bzw. von Organischem und Anorganischem an. Burleys vierter Lehrsatz („quarta conclusio“) in seinem „Tractatus primus“ besagt, daß konträre Formen wie „Wärme“ und „Kälte“, „Weiße“ und „Schwärze“ ein und derselben untersten Art angehören487. Zur Unterstützung dieser These führt Burley eine Fülle von Argumenten aus den Bereichen Naturphilosophie, Logik, Medizin und Ethik an. Die These behauptet in ihrem theoretischen Kern die Relativierbarkeit und Vermittelbarkeit von qualitativen Gegensätzen in der Natur. Diese Vermittlung ereignet sich in jeweiligen Prozessen von bestimmten qualitativen und quantitativen Veränderungen, welche von einer Extremalform einer Qualität über eine „mittlere Form“ zu der entgegengesetzten Extremalform führen488. Diese Prozeßmomente sind für Burley nun aber nicht durch spezifische Differenzen voneinander getrennt, wie laut traditioneller Lehre behauptet wurde, sondern durch die Doppelung aus Artgleichheit und „Formaldistanz“ gekennzeichnet, wie Burley ausführt489. Dieser Gedanke der Einheit von Identität und Differenz zwischen den Bestandteilen eines jeweilig konkreten konträren Gegensatz483

Ibid., in: Sylla, S. 480, II. A. 3.b. Ibid., in: Sylla, S. 482, III.; vgl. Wöhler, S. 69, Anm. 98: „Et tercia conclusio quod isti tres colores, quos Philosophus distinguit in secundo ‚De generacione animalium‘, scilicet calor celestis vel elementaris et animalis, sunt eiusdem speciei athome.“ 485 Ibid., in: Sylla, S. 482–483; vgl. Wöhler, S. 69–70. 486 Ibid., in: Sylla, S. 482 f. 487 Ibid., in: Sylla, S. 483, IV; vgl. Wöhler, S. 55, Anm. 44: „Quarta conclusio erat quod forme contrarie, scilicet calor et frigus, albedo et nigredo, sunt eiusdem speciei specialissime.“ 488 Ibid., in: Sylla, S. 512–517. 489 Ibid., in: Sylla, S. 510; vgl. Wöhler, S. 56 f. 484

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paares und der Gedanke der Vermittelbarkeit zwischen allen konträren Gegensätzen490 ermöglichen Burley eine neue dialektische Sichtweise. Daraus leitete er auch z.B. die Relativität der Entgegensetzung von „Krankheit“ und „Gesundheit“ in Abhängigkeit von körperlicher Konstitution und betroffenem Subjekt bzw. biologischer Spezies ab491. Burley hat sich in seiner Naturphilosophie zwar für eine Vermittlung von natürlichen konträren Qualitäten ausgesprochen, doch die Theorie einer „Beimischung“ oder einer Vermischung von konträren Gegenteilen lehnte er ab492. Neben der prozessualen Vermittlung zwischen qualitativen Gegensätzen hat er auch eine Vermittlung zwischen konträren Komponenten einer statischen Verbindung (der „mixtio“) angenommen, welche in Gestalt einer virtuellen Präsenz der Gegenteile in einer „Mitte“ realisiert werden kann493. Für Burley stellte die natürliche Kontrarietät zwischen bestimmten Qualitäten aber auch ein Verhältnis der Wechselwirkung bzw. des wechselseitigen „Wirkens“ und „Leidens“ dar. Aus einer Disputation vom Jahr 1341 ist seine These überliefert, daß eine Wechselwirkung nicht notwendig die Ungleichheit der Wechselwirkenden voraussetzt, sondern durchaus auch bei gleicher Wirkungskraft denkbar ist494. Damit hatte er in eine gerade erst einsetzende umfangreiche spätmittelalterliche Diskussion über die Bedingungen von natürlicher Wechselwirkung („reactio“) eingegriffen und bewußt eine Minderheitsmeinung vertreten. Diese These bringt den Gedanken der relativen Gleichheit der Gegenteile bzw. des „Zusammenschlusses“ von konträren Gegenteilen („compossibilitas contrariorum“) im konkreten Wirkungszusammenhang des wechselseitigen „Wirkens“ und „Leidens“ zum Ausdruck, den er in dieser Deutlichkeit zuvor noch nicht vertreten hatte. Auf diese Weise stellt sich Burleys dialektisches Problematisieren von überkommenen Thesen aus der scholastisch-aristotelischen Naturphilosophie auch als ein gedanklicher Veränderungsprozeß seiner eigenen Positionen dar. Diese Positionen riefen ein lang anhaltendes literarisches Echo in der philosophischen Debatte bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts hervor. Doch hatte er offenbar weniger Befürworter seiner Ansichten als Gegner. In seiner Auslegung von Aristoteles’ „Physik“ sprach sich Burley auch im Anschluß an Ibn Sina dafür aus, in der Natur „kontingente“ Zusammenhänge anzuerkennen. Es sind dies für ihn einerseits solche Zusammenhänge, in denen, ausgehend von ein und derselben Grundlage eines aktiven Wirkungsvermögens, zwei zueinander konträre Möglichkeiten von Folgen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit eintreten können. Die490

Ibid., in: Sylla, S. 519, IV. P. 3.; vgl. Wöhler, S. 66, Anm. 85. Ibid., in: Sylla, S. 490–491, IV. A. 4.; vgl. Wöhler, S. 60. 492 Ibid., in: Sylla, S. 504, IV. I. 2. d. 3; vgl. Wöhler, S. 62 493 Vgl. Gualterus Burlaeus, In De Generatione et corruptione, nach: A. Maier, An der Grenze von Scholastik und Naturwissenschaft, S. 113–114; ders. Tractatus de formis, ed. F. J. D. Scott, p. 41– 42; ders. De intensione et remissione formarum, f. 10rb, 10va. 494 Gualterus Burlaeus, Quaestio: Utrum contraria adaequata in virtute agant et patiantur ad invicem, vgl. Wöhler, S. 67, Anm. 89: „Illa est opinio, quam reputo meliorem, quamvis non teneatur communiter, scilicet quod contraria adaequata in virtutibus et activa et passiva sunt per se ad invicem.“ 491

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ser Modus des Zuammenhangs steht zwischen der strikten Notwendigkeit und dem bloßen Zufall. Er trifft nach Burley z.B. auf den allgemeinen Fall zu, wenn die Wirkung einer bestimmten Naturkraft mit der gleichen Wahrscheinlichkeit eintritt wie sie auch nicht eintreten kann495. Dieser Fall aber hängt immer von der Art des Wirkungsvermögens und den konkreten Umständen ab und ist dementsprechend etwas Akzidentielles. Keine aktive Naturkraft wirke aus sich selbst und absolut in kontingenter Weise, hebt Burley ausdrücklich hervor, um damit den Unterschied zur Kontingenz vernunftbegabter Wirkungskräfte herauszustellen496. Hingegen schreibt er andererseits den natürlichen Rezeptionsvermögen, also den passiven Potenzen in der Natur, generell und wesentlich eine Kontingenz hinsichtlich der Rezeptionsfähigkeit zueinander entgegengesetzter „Formen“ zu. Diesen Umstand führt er ursächlich auf die allgemeine Rezeptionsfähigkeit der „Ersten Materie“ gegenüber allen „materiellen Formen“ zurück497. Damit wird die „Erste Materie“ als ein universeller, unmittelbarer und einheitlicher Grund der Wandlungsfähigkeit in der Natur bzw. der simultanen passiven Aufnahmefähigkeit hinsichtlich zueinander entgegengesetzter Formbestimmungen durch die natürlichen Aufnahmekräfte bestimmt. Der dialektische Gedanke der Kontingenz als einer Gleichwahrscheinlichkeit von zueinander konträren realisierbaren Möglichkeiten auf der Basis einheitlicher natürlicher aktiver oder passiver Vermögen wird damit in die Aristotelische Naturanschauung integriert. Hier zeigt sich Burley als Anhänger eines komplexen Determinismus, in welchem die Naturzusammenhänge nicht in reduktiver Weise mittels der absoluten Notwendigkeit oder aber der absoluten Kontingenz, sondern als eine in sich differenzierte Einheit aus notwendigen, zufälligen oder kontingenten Zusammenhängen erklärt werden. Mit diesem Ansatz wird auf dialektische Weise die Natur als ein in sich differenziertes wandlungsfähiges Ganzes verstanden. Ganz offensichtlich war Burley hier durch entsprechende Überlegungen des Ibn Sina beeinflußt, welche er ausdrücklich gegen die Einwände von Ibn Ruschd verteidigte498. Burleys dialektische Betrachtungen einiger Gesichtspunkte der aristotelischen Qualitätenphysik sind auch hinsichtlich ihres formal-methodischen Aspekts im gleichen Sinne geprägt. Denn hier ist in der Diskussion von alternativen Antwortmöglichkeiten auf ein gestelltes Problem und in der Entkräftung bzw. Bestätigung bestimmter Ansichten 495

Gualterus Burlaeus, In Physicam Aristotelis expositio et questiones, lib. II, fol. 49vb: „Alio modo potest dici vel intelligi quod contingens equaliter reperiatur in potentiis activis in comparatione ad effectum contingentem equaliter sic quod a potentia activa proveniat effectus ad utrumlibet, id est effectus qui de natura sua non est magis natus evenire quam non evenire. Et isto modo est contingens ad utrumlibet in causis agentibus naturalibus. Et hoc intellexit Avicenna. …“ 496 Ibid., lib. II, fol. 50ra: „Sic igitur app‹ar›et quod contingens equaliter non reperitur per se et absolute in agentibus naturalibus, sed in agentibus rationalibus bene invenitur contingens equale …“ 497 Ibid., lib. II, fol. 50rb: „… dico quod contingens equaliter reperitur per se in potentiis passivis naturalibus, quia in materia prima quantum est ex parte sui est equaliter in potentia ad omnes formas materiales.“ 498 Vgl. ibid., lib. II, fol. 48vb–50ra.

DIALEKTIK BEI NICOLE ORESME UND BLASIUS VON PARMA

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mit dem Ziel, eine probable Meinung als Problemlösung zu erreichen, ein dialektischer Ansatz zu erkennen. Dazu gehört auch Burleys kritisches Verhältnis gegenüber dogmatischen Autoritätsbeweisen. Nicht alleine die formale Stringenz eines strengen Beweises, sondern die Annehmbarkeit und Evidenz der vorgetragenen Pro- und ContraArgumentationen waren ihm auf weiten Strecken seiner naturphilosophischen Schriften ein hinreichendes Resultat der Erörterungen. Der Maßstab der „Probabilität“ war für ihn nicht mehr und in erster Linie die Zustimmung von allen, den meisten oder den Experten, sondern die argumentativ abgesicherte Wahrscheinlichkeit einer Aussage mangels stichhaltiger Gegenargumente auf Grund ihrer logischen Widerspruchsfreiheit und Gegenstandsadäquatheit. Dafür scheute er sich nicht, auch großen anerkannten Autoritäten, wie z.B. dem Averroës, zu widersprechen. Die Kunst des Widerspruchs war für ihn aber in der Naturphilosophie strikt an die Klärung eines sachlichen Problems gebunden und niemals Selbstzweck.

Die naturphilosophische Dialektik bei Nicole Oresme und Blasius von Parma Zu denjenigen Autoren, welche im Anschluß an Aristoteles, dessen arabischen Kommentator Averroës und teilweise auch die innovativen Überlegungen Walter Burleys durchaus eigenständige dialektische Überlegungen in die Naturphilosophie einbrachten, gehört der französische Philosoph NICOLE ORESME (1322–1382). Dies kommt insbesondere in seinen ausführlichen Erörterungen der Phänomene der „mixis“ („mixtio“) in einem Quaestionen-Kommentar zu Aristoteles’ Schrift „Über das Werden und das Vergehen“ und der natürlichen qualitativen Veränderung („alteratio“) in einem QuaestionenKommentar zu Aristoteles’ „Physik“ zum Ausdruck. Oresme vertritt hinsichtlich der Frage, welchen Status die Qualität einer als „Mischung“ bezeichneten Vereinigung von Elementen im Verhältnis zu den Qualitäten dieser Elemente besitzt, die Meinung, daß diese Qualität eine relative „mittlere Qualität“ zwischen den Qualitäten der Elemente ist499. Diese „mittlere Qualität“ steht in einer doppelten Beziehung zu den beiden Extremen, deren relative Mitte sie bildet: sie ist mit ihnen sowohl vergleichbar als auch in einer gewissen Distanz zu ihnen500. Virtuell gesehen, in der „Vorstellung“ und in einer analogen Entsprechung, nicht aber dinglich-real stellt eine „mittlere Qualität“ nach Oresme auch eine simultane Komposition konträrer Gegenteile dar: denn unter jeweils getrennter Hinsicht stellt sie jeweils eines der konträren Extreme in bestimmter Propor499

Nicole Oresme, Quaestiones super de generatione et corruptione, ed. S. Caroti, qu. I. 5, p. 40: „… Primum est quod huiusmodi qualitas mixti est media respective inter calidum in summo et frigidum, sicut aliquis locus dicitur esse medius inter locum sursum et locum deorsum et respective dicitur sursum et deorsum.“ 500 Ibid., qu. I. 5, p. 40: „Et ideo ista qualitas media est similis quodammodo utrique extremo et etiam utriusque extremi remissiva et quodammodo contraria …“

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tion dar501. Nicht formal-real und direkt, wohl aber in der Gestalt einer zulässigen Reflexion („Vorstellung“) wird so eine relative Einheit von entgegengesetzten Bestimmungen in Gestalt der „mittleren Qualität“ einer „Mischung“ postuliert. Diese Reflexion Oresmes folgt prinzipiell der aristotelischen Vermittlungsdialektik in der spätscholastischen Naturphilosophie. Allerdings konnte sich Oresme dem Averroësschem Gedanken einer „Beimischung des Gegenteils“ als Grund von Intensitätsveränderungen von Qualitäten nicht vorbehaltlos anschließen. Eine Theorie von der qualitativen Veränderung, welche eine Gleichzeitigkeit von zueinander konträren Qualitäten in ein und demselben Gegenstand postulierte, hielt er zwar für so bedenkenswert, daß er sie unter den vier alternativen theoretischen Konzepten zu dieser Frage als die zweitbeste auf Grund gewisser plausibler, leicht verständlicher Argumente einstufte. Diejenigen Konzepte, welche die Idee einer relativen Vereinigung von zueinander entgegengesetzten Qualitäten pauschal in Abrede stellten, wurden von ihm auf Grund innerer Inkonsistenz demgegenüber zurückgewiesen502. Aus dieser doppelten Abgrenzung (mit einer gewissen Konzilianz gegenüber der Lehre von einer relativen Einheit von Gegensätzen im Prozeß einer qualitativen Veränderung) zog er dann seine ganz eigenen Schlußfolgerungen. Seine Erklärung dieses Prozesses sieht nicht die simultane Realität bzw. reale Zusammensetzung der konträren Gegensätze im Verlauf einer qualitativen Veränderung vor, sondern den relativen Wandel in der akzidentiellen Beschaffenheit eines Gegenstandes gegenüber einem unterstellten Extremwert503. Auch in seinem Kommentar zur 501

Ibid., qu. I. 5, p. 41: „Secundum correlarium est, quod hoc non obstante, tamen potest ymaginari composita, quia ibi est compositio similitudinaria; et possunt ibi ymaginari contraria simul secundum aliquam proportionem, non quod ita sit in re, sed quia ex hoc scitur quantum ista qualitas media est magis calida quam frigida, sic‹ut› etiam locus medius inter sursum et deorsum potest dici in duplo magis sursum quam deorsum.“ Ibid., qu. II. 4, p. 214: „… in mixto saltem sunt contraria similitudinarie et in virtute,“, ibid., qu. II. 13, p. 277: „Pro questione primo supponendum est qualiter elementa manent in mixto, quia non formaliter sed virtualiter, quia mixtum habet qualitates similes elementis, et non oportet propter hoc quod contraria sint simul ita quod mixtum habeat caliditatem et frigiditatem, sed unam qualitatem mediam, non per compositionem sed per respectum, sicut locus dicitur medius inter locum sursum et locum deorsum; et similiter habeat qualitatem mediam inter humidum et siccum, et ita de aliis. Et cum hoc stat quod potest ymaginari et admitti quod sint contraria proportionata, ut per hoc sciatur qualiter unaqueque qualitas est media inter extrema, sicut potest dici de loco quod aliquid habet tres gradus de loco sursum et tres de loco deorsum, et per hoc sciretur qualiter se haberet ad simpliciter sursum et simpliciter deorsum et quomodo distat.“ 502 Vgl. Stefan Kirschner, Nicolaus Oresmes Kommentar zur Physik des Aristoteles. Kommentar mit Edition der Quaestionen zu Buch 3 und 4 der Aristotelischen Physik sowie von vier Quaestionen zu Buch 5, lib. V, qu. 6, S. 396, Z. 53–54; lib. V, qu. 8, S. 409, Z. 117 u. Z. 123. 503 Ibid., lib. V, qu. 6, S. 396, Z. 49–52: „Quarta ›opinio‹ est, ut credo, quod nullo modo contraria sunt simul nec est ibi medium nisi solum in respectu, sicut inter sursum et deorsum, et in quolibet instanti, quo est alteratio, est novum accidens, sed non sicut imaginatur tertia opinio“; vgl ibid., lib. V, qu. 9, S. 414, Z. 157–162: „Secundo sciendum quod quarta opinio est rationabilior et facilior nec oportet facere difficultates, qualiter unus gradus prius corrumpitur aut generatur aut qualiter sunt simul, sed iuxta eam aliquid intendi secundum aliquam qualitatem non est nisi accedere et ap-

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Schrift „Über das Werden und Vergehen“ widersprach Oresme der These von der „Beimischung des Gegenteils“504. Oresme folgte in seiner ausführlichen Abwägung von Pro und Contra mit dem Ziel, eine am meisten probable Lösung des Problems zu erreichen, sichtbar der dialektischen Prozedur des Durchspielens alternativer Erklärungsansätze von naturphilosophischen Sachverhalten. Wenn er sich nicht dem Gedanken einer realen „Durchmischung der Gegensätze“ oder ihrer realen Vereinigung in einem „Mittleren“ anschließen wollte, so ließ er aber eine beziehungslose Entgegensetzung der qualitativen Unterschiede in einem Vorgang qualitativen Wandels ebensowenig zu. Denn er stellt prinzipiell klar, daß es immer eine Korrelation zwischen der Steigerung der einen Qualität und der Verringerung der zu ihr konträren bezüglich ein und desselben Trägers dieser Eigenschaften gäbe505. Genauso läßt er unter bestimmten Grenzbedingungen eine Komplementarität von qualitativen Gegenteilen in ein und demselben Gegenstand zu gleicher Zeit zu, insofern diese Gegenteile nicht in ihrer extremalen Form auftreten, sondern in einer abgeschwächten506. Eine funktionale, nicht aber eine essentielle Vereinigung von Gegenteilen hielt er also für durchaus grundlegend in der Naturphilosophie. Die natürliche, d.h. der normalen Beschaffenheit und Anordnung der Dinge entsprechende, Beschaffenheit der Körperwelt in Gestalt der „mixtio“ beruht für Oresme auf einer harmonischen „mittleren Qualität“ der körperlichen Gegenstände, welche sich sowohl von der Qualität eines „reinen“ Elements als auch von einem widernatürlichen, anomalen Zustand der Gegenstände unterscheidet507. Insofern beschreibt die Theorie der „mixtio“ die natürliche, zwischen extremen Zustandsformen der Realität vermittelnde Konstitution der materiellen Welt, d.h. der „sublunaren Welt“ des Aristoteles. In die Zustandsform der „mixtio“ werden aber nicht nur die natürlichen körperlichen Gegenstände, sondern auch die Artefakte der Alchimisten einbezogen, welche gleichwohl den natürlichen Möglichkeiten der Veränderung und Verwandlung der Körper unterworfen sind508. Auf diese Weise wird auch der Gegensatz von „natürlich“ und „gewaltsam“ relativiert. Oresme unterscheidet zwischen zwei Hauptgruppen von Qualitäten, welche in einer „mixtio“ vorkommen: zwischen den primären Wirkqualitäten der Elemente bzw. ihren abgeschwächten Abkömmlingen (d.h. warm, kalt, feucht und trocken) und den anderen körperlichen Qualitäten, welche auf jene zurückführbar seien509. Während die genannten primären Qualitäten auch außerhalb einer „mixtio“ in den Elementen sozusagen „rein“ und ohne eine eingeschlossene Kontrarietät zwischen ihnen vorkommen können, proximari ad summum, si est dare summum, vel quod illud fiat magis tale, et remitti est fieri minus tale et recedere ab esse perfecto secundum illam qualitatem.“ 504 Nicole Oresme, Quaestiones super de generatione et corruptione, qu. II. 4, p. 214. 505 Vgl. S. Kirschner, Nicolaus Oresmes Kommentar …, lib. V, qu. 9, S. 417, Z. 269–270: „Ideo generaliter concluditur quod impossibile est habens contrarium intendi quin oppositum remittatur.“ 506 Vgl. ibid., lib. V, qu. 6, S. 399–400. 507 Nicole Oresme, Quaestiones super de generatione et corruptione, qu. I. 5, p. 41. 508 Ibid., qu. I. 21, p. 178. 509 Ibid., qu. I. 5, p. 41; qu. II. 1, p. 183–188.

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ist die Existenz der anderen Qualitäten in den „gemischten“ Körpern laut Oresme immer unter Einschluß der Wirkung konträrer Gegenteile gegeben510. Damit wird das wechselseitige Sich-Bedingen und -Ausschließen von Qualitäten zur konstitutiven Grundbedingung des Daseins von natürlichen Körpern gemacht. Das Entstehen der natürlichen Körper in Gestalt der „mixta“ wiederum resultiert aus der „Zusammenmischung“, der „Veränderung“ und „Verwandlung“ der Elemente ineinander vermittels der angegebenen vier Wirkqualitäten511. Und eine zustandegekommene „mixtio“ wiederum begründet das Verhältnis der Kontrarietät zwischen den Elementen, welche – isoliert genommen – ohne eine solche Gegensatzbeziehung sind512. Und ebenso kann es ein „mixtum“ nicht ohne die eingeschlossene Kontrarietät zwischen den beteiligten Elementen geben513. An einem „mixtum“ als gegenständlich-konkreter Daseinsweise der natürlichen Körper sind jeweils alle vier „Elemente“ (Erde, Wasser, Luft und Feuer) konstitutiv beteiligt514. In diesem „mixtum“ bleiben weder die ursprünglichen „Formen“ der „Elemente“, noch deren Qualitäten bestehen, sondern nur die in gewisser Weise mit jenen Qualitäten vergleichbaren und in der Intensität reduzierten Qualitäten, hebt Oresme noch einmal hervor515. Die Vermittlung der unterschiedlichen „Elemente“ und Qualitäten erfolgt in jeweils spezifischen Verhältnissen, welche die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Gegensätze der Dinge erklärbar machen516. Dabei ist der Zustand eines Gleichgewichts bzw. einer Gleichheit der konträren Komponenten eines „mixtum“ immer nur partiell und temporär möglich. Jedem partiellen Gleichgewicht zwischen bestimmten Komponenten entspricht auf der anderen Seite ein Ungleichgewicht hinsichtlich anderer Komponenten, hebt Oresme hervor517. Ferner liegt eine unbegrenzte Anzahl möglicher Proportionen zwischen den Komponenten einer „mixtio“ vor, so daß z.B. kein Mensch einem anderen völlig gleich ist518. Zu diesem Gedanken der innerlichen Differenzierbarkeit auf Grund wechselnder Proportionen und Verhältnisse fügt Oresme noch den Aspekt der generellen Wandelbarkeit in dieser Welt519 und den Aspekt der sowohl äußerlich wie innerlich verursachten Vergänglichkeit eines jeden „mixtum“ hinzu520. In der Welt der „mixta“ gilt aber genauso das Prinzip der Erhaltung 510

Ibid., qu. II. 1, p. 188. Ibid., qu. II. 3, p. 201: „Probatur, quia elementa debent talia esse ex quorum commixtione, alteratione et transmutatione regenerentur mixta, igitur eis principaliter competunt qualitates mediantibus quibus fiunt tales actiones, et iste sunt qualitates active, ergo iste sunt proprie elementis, igitur ex eis debemus arguere distinctionem elmentorum et numerus.“ 512 Ibid., qu. II. 3, p. 202. 513 Ibid., qu. II. 11, p. 264. 514 Ibid., qu. II. 11, p. 264. 515 Ibid., qu. II. 11, p. 262. 516 Ibid., qu. II. 7, p. 240; qu. II. 13, p. 277. 517 Ibid., qu. II. 13, p. 279–280. 518 Ibid., qu. II. 13, p. 283. 519 Ibid., qu. II. 14, p. 288–290. 520 Ibid., qu. II. 15, p. 297. 511

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und Beständigkeit der Dinge. Aus einem spezifischen Komplex von Bedingungen und Ursachen ergibt sich dann die jeweilige Daseinsdauer eines Dinges. Letztlich hängt diese Daseinsdauer von der inneren Konstitution der Dinge und der Einwirkung verändernder, konträrer äußerer Kräfte auf diese ab521. Die von Oresme aufgezeigte Korrelativität von Konstanz und Variabilität, von Wandelbarkeit und Erhaltungsvermögen, von Gleichgewicht und Ungleichgewicht sowie von innerer Konstitution und äußeren Umständen bzw. Kräften ermöglicht einen komplexen dialektischen Erklärungsansatz für die Dinge, Zustände und Prozesse in der materiellen Welt. Die „mixtio“ („mixis“) als Sphäre der konkreten Vermittlung, Abstimmung und Korrespondenz der qualitativen Gegensätze erfaßt in Oresmes Naturbild de facto die Grundkonstitution der gesamten natürlichen und artifiziellen Erfahrungswelt der Menschen. Auf diese Erfahrungswelt sind die vorgeführten dialektischen Reflexionen Oresmes bezogen. Die objektive fundamentale Grundursache für die aufgezeigte Wandelbarkeit der Dinge dieser Welt liegt für Oresme in der Dialektik von Potentialität und Aktualität der Materie. Sie stellt auch den Grund der Einheit der konträren, sich abwechselnden Möglichkeiten dar. Materiefreie oder gegensatzfreie Sphären wie der Himmel oder das „Licht“ unterliegen jener Dialektik nicht und gehören damit nicht zur Thematik von Oresmes dialektischer Reflexion über die Vermittlung natürlicher Gegensätze522. Damit bleibt er insgesamt der aristotelischen Vorstellungswelt verhaftet. Seine naturphilosophische dialektische Reflexion über das Entstehen und Vergehen der natürlichen Dinge basiert methodisch auf der Abwägung alternativer Erklärungsmöglichkeiten nach dem Modell der „Quaestio“. So wird die spezifische Eigenart der Naturphilosophie transparent. Sie zielt auf die Ermittlung von wahrscheinlichen bzw. wahrscheinlicheren Gründen, welche Ausgangspunkte für allgemein annehmbare Meinungen und stringente Argumentationen sind. Sowohl die empirische Erfahrung als auch das Abwägen unterschiedlicher Positionen gehört zu dieser Art der Erkenntnis, welche weder mit der mathematischen, noch der rein logischen oder metaphysischen Evidenz, sondern mit einer eigenständigen Evidenz versehen ist, wie Oresme in verschiedenen Schriften hervorhob. Dabei nivelliert er auch den Gegensatz zwischen „probabler“ und „demonstrativer“ Argumentationsweise, indem er in der Naturphilosophie beide Formen zugleich gegeben sieht523. 521

Ibid., qu. II. 15, p. 297–299. Ibid., qu. II. 15, p. 295–296: „Ex hoc sequitur correlarie quod omne habens contrarium aliquando corrumpitur, ita quod ista conditionalis est necessaria: si habet contrarium, corrumpetur. Patet statim, quia eadem est materia contrariorum, quia sibi invicem succedunt in eadem materia. Et sic materia que est sub uno contrario est in potentia adhuc ut fiat sub alio contrario, quod, nisi contingeret, sequitur quod ista potentia esset frustra. Et ideo Commentator concludit ex hoc primo Celi quod celum non habet materiam, quia illa potentia esset frustra. … Correlarium secundum est quod omne non habens contrarium est incorruptibile, quia deficiente causa deficit et effectus. Et loquor de substantia, propter lumen et talia huiusmodi …“ 523 Vgl. S. Caroti, Einleitung, II. Teil, zu N. Oresme: Quaestiones super de gener. et corr., S. 83*, 85*. 522

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In den Diskussionen über unerklärliche oder schwer erklärliche Beobachtungen aus der menschlichen und der natürlichen Welt plädiert er für eine Suche nach wahrscheinlichen kausalen Erklärungen. Eine solche Verfahrensweise soll auch prinzipiell offen für Korrekturen und Verbesserungen sein. Ganz klar aber distanziert er sich von endlosen Streitereien zwischen unterschiedlichen Meinungen oder solchen Scheinerklärungen, welche sich anstelle wahrscheinlicher natürlicher Ursachen auf übernatürliche (d.h. die Kräfte der Sterne, der Dämonen oder von Gott) beziehen524. Anstelle solcher falscher Problemlösungsstrategien fordert er zu einer eingehenden Untersuchung der Komplexität der Kausalzusammenhänge in der Natur und gleichfalls zu einer Berücksichtigung der objektiven und subjektiven Fehlerquellen im Streben nach Erkenntnis auf525. Insgesamt ergibt sich daraus ein argumentatives Problemlösungsverfahren in der Naturerkenntnis, in welchem grundsätzlich eine approximative probabilistische Erkenntnismöglichkeit aller beobachtbaren Phänomene durch eine komplexe Kausalerklärung vorausgesetzt wird. Weder also ein Verharren in einem verständnislosen Staunen über deren Vielfalt und Wandelbarkeit, noch eine Zuflucht in die Welt des Okkultismus kann für Oresme das letzte Wort in dieser Sache sein. Eine abschließende genaue Erkenntnis von Wirklichkeit aber überläßt er der unendlichen Wissenspotenz Gottes526. Neben den gezeigten inhaltlichen Aspekten von Oresmes Naturbetrachtung gehören diese methodischen Aspekte zu einer spätscholastischen Naturphilosophie, welche ihrem Ansatz nach dialektisch verfährt, indem sie die Relativität, Vermittelbarkeit und Kompatibilität der Gegensätze aufzeigt. In ihrer Selbstbeschränkung auf die „sublunare“ Teil-Welt hat diese Naturphilosophie aber nur eine eingeschränkte Geltung. Dies gilt auch für die eingebrachten dialektischen Reflexionen, welche nur unter Absehung von dem religiösen Weltbild des Oresme eine relative eigenständige Funktion besitzen. Eine autonome Naturdialektik war aber nicht in der Intention des französischen Scholastikers. Die metaphysischen und religiös-weltanschaulichen Ausgangspunkte von Oresme stehen einer solchen Naturdialektik entgegen. Das ändert aber nichts an der historischen Bedeutung der dargestellten methodischen und inhaltlich-theoretischen dialektischen Einblicke Oresmes. In der Zeit des Übergangs vom 14. zum 15. Jahrhundert wirkte der italienische Philosoph BLASIUS VON PARMA (gest. 1416). Er ging hinsichtlich einer dialektisch reflektierten Naturphilosophie teilweise noch weiter als Nicole Oresme und machte dabei die 524

Nicole Oresme, Tabula problematum, ed. B. Hansen, Nr. 216, S. 393: „Scio enim quod faciliter quasi quelibet responsio hic posita potest reprobari quia questiones sunt difficiles seu ipsarum causae et responsiones difficulter possunt inveniri. Non autem est in talibus magisterium scire contra arguere: sed causas probabiles reddere et non ad impossibilia fugere ut ad demones vel influentiam ignotam aut ad Deum gloriosum immediate est subtilis intellectus. Reddat igitur cui iste non placent causas clariores.“ 525 Nicole Oresme, De causis mirabilium, ed. B. Hansen, cap. 1, Z. 12–25, Z. 195–200; cap. 3, Z. 131– 134, Z. 421–435. 526 Ibid., cap. 4, Z. 70: „Punctualiter igitur non sciuntur res nisi a solo Deo infinita sciente.“

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schon seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts bemerkbare Tendenz, einige metaphysischen Voraussetzungen in der aristotelischen Philosophie zu problematisieren oder zu überwinden, erneut deutlich. Blasius ging prinzipiell von der Begrenztheit und grundsätzlichen Ergänzungs- und Korrekturbedürftigkeit des menschlichen Denkvermögens aus. So stellt er fest: „Es scheint keine menschliche Erkenntnis jeglichen Irrtum auszuschließen. Dementsprechend ist die Meinung zu beargwöhnen, es könne eine gewisse Menschheit über einen schlüssigen Beweis zu den Naturdingen verfügen, wenn unter ‚schlüssiger Beweis‘ ein Vorgehen verstanden wird, was ohne jeden Irrtum ist.“527 Die Ableitung eines Schlußsatzes aus bestimmten als richtig angenommenen Prämissen leitet für Blasius nicht zu einer Aussage mit vollständiger Evidenz über, sondern zu einem relativen Wissen, wenn es richtig ist, daß „Wissen“ eine graduell veränderliche Qualität darstellt528. Die „Dialektik“, also die Logik im damaligen Verständnis, gilt Blasius dementsprechend nicht im Hinblick auf die Gewißheit der von ihr aufgezeigten Methoden und Resultate oder im Hinblick auf den von ihr behandelten Gegenstand als die „Wissenschaft der Wissenschaften“. Einen solchen Titel erkennt er ihr aber durchaus in einem propädeutischen Sinn insofern zu, als sie zum angestrebten Wissen besser als alle anderen Wissenschaften hinführen kann, ohne es aber wie andere Wissenschaften (wie z.B. die Mathematik) im höchsten Maß zu besitzen529. Mit einer solchen Betonung der Relativität von Wissensinhalten und des Prozeßcharakters des Erkennens hat er in seinen Schriften zur Naturphilosophie eine Reihe von Problematisierungen überkommener scheinbarer Evidenzen vorgenommen und alternative Positionen entwickelt. Dazu zählen auch die folgenden, von ihm für „probabel“ angesehenen naturphilosophischen Meinungen (nach G. Federici-Vescovini530): die „natürlichen Elemente“ (Feuer, Wasser, Luft und Erde) sind keine reinen substantiellen Formen, sondern aus einem materiellen Ur-Element hervorgegangene Mischformen; die „natürlichen Formen“ sind 527

Blasius de Parma, Quaestiones perspectivae, Firenze, Laur. Plut. XXIX, 18, I, qu. 6, fol. 17vb (zitiert nach: G. Federici-Vescovini, Astrologia e scienza. La crisi dell’ aristotelismo sul cadere del Trecento e Biagio Pelacani da Parma, S. 193): „Nulla humana cognitio videtur omnem gradum erroris excludere et sequitur consequenter quod suspectum est aliquam posse humanitatem habere demonstrationem de rebus naturalibus, si per demonstrationem intelligas processum exludentem omnem gradum erroris.“ 528 Blasius de Parma, Quaestiones physicorum, I, qu. 2, Vat. lat. 2159, fol. 64va (zit. nach: G. FedericiVescovini, Astrologia …, S. 193): „Ex quo infero quod nunc primo scitis praemissis non propter ea subito inducitur tota latitudo evidentiae de conclusione et hoc est verum ubi velis tenere quod scientia sit qualitas gradualis.“ 529 Blaise de Parme, Quaestiones super Tractatus Logicae Magistri Petri Hispani, ed. J. Biard et G. Federici-Vescovini, qu. I. 2, S. 45: „Tertia conclusio: ratione subiecti vel certitudinis dialectica non est scientia scientiarum. Ista conclusio patet per rationes supra dictas. Ultima conclusio: ratione modi introducendi dialectica est scientia scientiarum et aliis scientiis nobilior. Ista patet in prima conclusione cum dicebatur ‚est habens viam etc.‘“ 530 Vgl. G. Federici-Vescovini, Note sur la circulation en Italie du commentaire d’ Albert de Saxe sur le „De caelo“, S. 243–245.

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keine undifferenzierten unvermischten Einheiten, sondern qualitativ und quantitativ bestimmte Ausprägungen der Materie; es gibt keine absoluten räumlichen kosmologischen Gegensätze oder absolute Gegensätze von Körperqualitäten („leicht“ und „schwer“), sondern durch astrale Einflüsse bedingte relative Unterschiede; die Kreisbewegung und die geradlinige Bewegung sind keine unvereinbaren Gegensätze, sondern miteinander kompatibel, da alle Bewegungen untereinander vermischt sind; der Gegensatz von „natürlicher“ und „gewaltsamer Bewegung“ ist nicht substantieller Art, da alle Bewegungen als „gewaltsam“ auf Grund eines ihnen eigenen „Impetus“ angesehen werden können. – Und auch in der breit diskutierten Frage, ob in einer Wechselwirkung („reactio“) oder „Durchmischung“ („mixtio“) ein und dasselbe sowohl aktiv Wirkendes wie auch Wirkungsempfänger hinsichtlich aller seiner qualitativen Merkmale sein könne, nimmt Blasius durch seine positive Antwort einen dialektischen Standpunkt ein, mit welchem er sich von anderen Meinungen bewußt absetzt, z.B. auch von der des N. Oresme531. Die korrelative Einheit von „Wirken“ und „Leiden“ in den dynamischen Wirkungsvorgängen der Natur gilt für Blasius auch im Bereich intellektueller Handlungen (durch den „aktiven“ und den „möglichen Intellekt“)532. Und auch in der heiß debattierten Streitfrage um die Notwendigkeit oder die Zufälligkeit des zukünftigen Geschehens bzw. die Freiheit oder die Determiniertheit des menschlichen Handelns war Blasius für eine Synthese dieser Entgegensetzungen anstelle der Behauptung ihrer kontradiktorischen Unvereinbarkeit533. In der Kontingenz des freien Willensentscheids der Menschen sieht Blasius sogar eine Einheit von zwei kontradiktorisch zueinander entgegengesetzten Möglichkeiten bzw. die Einheit des Faktischen mit dem Kontrafaktischen als gegeben an534. Ein dialektisches Denken im Rahmen der damaligen scholastischen Debatten zeigt sich bei Blasius von Parma angesichts der erläuterten Überlegungen sowohl in der Methode, alternative Lehrmeinungen gegen einseitige Verabsolutierungen vorzubringen, 531

Blasius de Parma, Quaestiones de generatione, II, qu. 1, Roma, Bibl. Vaticana, Chigi O. IV. 41, fol. 31vb (zit. nach: G. Federici-Vescovini, Astrologia …, S. 349): „Haec opinio, ut quod omne agens in agendo repatitur et ut patet ex dictis eius, haec opinio ut quod non contingit illud agens secundum unam qualitatem agere in passum et secundum eandem repati a passo: quia sunt multa inconvenientia quae dicta fuerunt in quaestione, ut quod nunquam agens assimilaret sibi passum et multa talia quae dicta sunt de intentione Nicolai Orem, haec opinio reprobatur quia in mixtione idem agit et repatitur secundum omnes suas qualitates, aliter enim in mixtione necessario poneretur aliqua qualitas in summo.“ 532 Vgl. G. Federici-Vescovini, Astrologia …, S. 350. 533 Blasius de Parma, Quaestiones de anima, ed. G. Federici-Vescovini, p. 139: „cum necessitate futurorum stat multa a casu fieri et a fortuna“; vgl. G. Federici-Verscovini, Astrologia …, S. 391. 534 Blaise de Parme, Quaestiones super Tractatus Logicae Magistri Petri Hispani, qu. I. 20, p. 127: „Alia conclusio: contradictoria tu potes verificare illa. Patet quoniam, quocumque tempore dato, per minus tu potes currere et per minus tu potes non currere; et cum tu sis libere voluntatis et possis currere et non currere, modo vis currere; si tu curris, tu facis hanc esse veram ‚tu curris et tu non potes currere‘. Et sic patet conclusio.“

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als auch in dem Bestreben, kontradiktorische Entgegensetzungen aus der philosophischen Theorie in relativierte Gegensätze bzw. kompatible Differenzen zu verwandeln.

Eine dialektische Fassung des Materie-Begriffs durch Albert von Sachsen Albert von Sachsen (ca. 1330–1390), einer der einflußreichsten Vertreter der Pariser Buridan-Schule, der insbesondere durch seine systematische Aufbereitung der theoretischen Positionen dieser Schule geschichtlich hervortrat, stellte im Anschluß an Aristoteles und dessen Kommentator Averroës in einem Quaestionen-Kommentar zu Aristoteles’ „Physik“ interessante Reflexionen zum Materie-Prinzip an. Im Resultat gelangte er zu bemerkenswerten dialektischen Feststellungen über das Wesen und die Funktion der Materie in der Natur und der Welt als ganzer. Für die Grundtendenz dieser Feststellungen im Rahmen der Buridan-Schule steht zunächst die These von dem aktualen und nicht nur rein potentiellen Seinsstatus der Materie, welche bereits von Johannes Buridan in seinem Quaestionen-Kommentar zur „Physik“ aufgestellt worden war535. Buridan verband nun diese These vom aktualen Seinsstatus der Materie direkt mit der These einer primären, aktualen quantitativen und qualitativen Beschaffenheit der Materie und sah dies als ihre natürliche Ausstattung an536. Albert von Sachsen nun betonte zunächst ebenfalls den aktualen Seinsstatus der Materie537. Hinsichtlich der Bestimmtheit dieses Seins aber ließ er – anders als Buridan – die Indifferenz der Materie gegenüber jeglicher konkreten Beschaffenheit gelten; eine solche würde sie nicht durch sich selbst, sondern erst durch die „Form“ erhalten; die Materie allein aber determiniere nicht eine bestimmte „substantielle“ oder „akzidentielle“ Form538. Damit versteht Albert die Materie als 535

Vgl. Ioannes Buridanus, Subtilissimae questiones super octo Phisicorum libros Aristotelis, lib. I, qu. 20, f. 24ra: „Prima ‹conclusio› est quod materia est ens quia aliter iste propositiones affirmative non esse‹n›t vere, que immediate dicte sunt, scilicet quod materia est substantia, natura et principium etc. Secunda conclusio est quod ipsa est ens in actu, non solum in potentia, quia esse solum in potentia non est esse sed posse esse …“ 536 Ibid., f. 24a: „Quinta conclusio ponitur quod semper materia prima est actu quanta et qualis et actu formata forma substantiali …“ 537 Albertus de Saxonia, Expositio et Quaestiones in Aristotelis Physicam ad Albertum de Saxonia attributae, T. II: Quaestiones, ed. B. Patar, lib. I, qu. 15, p. 206: „Tunc sit prima conclusio: materia est ens“; ibid., p. 208: „Septima conclusio: materia est ens in actu praesentiae. Patet, quia materia praesentialiter est, ex quo est ens.“ 538 Ibid., p. 207 f.: „Sexta conclusio: materia non est in actu formali de se. Patet, quia materia, quantum est de se, ad quamlibet formam est indifferens; ergo, quantum est de se, non plus est in actu formali per unam formam quam per aliam; et ipsam esse in actu formali est ipsam esse partem alicuius compositi quod est de una determinata specie substantiae; modo hoc non habet ex se sed ex forma“; ibid., p. 212 f.: „Ad rationes. Ad primam: … Ita quod breviter materia nec est quid nec quale nec quantum, id est nec determinet sibi aliquam formam substantialem nec aliquam accidentalem, sed ad quamlibet, quantum est ex parte sui, ipsa est indifferens; cum hoc tamen stat quod ipsa est.“

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ein transkategoriales indifferentes Seinsprinzip mit einem positiven Seinsstatus. Dementsprechend unterstützt er auch die These des Averroës, daß die Materie ein Mittleres zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein darstelle, d.h. also zwischen einem abstrakten Nicht-Sein und einem ganz bestimmtem Seienden539. Das Sein der Materie ist also nicht Nicht-Sein und auch nicht Dies-da-Sein. In dieser doppelten Ausschließlichkeit liegt die positive Unbestimmtheit des Seins der Materie begründet. Das bedeutet für Albert auch, daß die Materie eine „uneingeschränkte Aufnahmefähigkeit“ („passivitas infinita“) für alle von der „Ersten Ursache“ („prima causa“) aktiv erzeugten Formen besitzt, d.h. also ein „potentielles Seiendes“ („ens in potentia receptiva“) darstellt540. Das besondere aktuale Sein der Materie schließt für ihn also auch den Status einer Potentialität mit ein: Sein und Nicht-Sein sowie Potenz und Akt bilden also im Falle der natürlichen Materie nach der Interpretation des Albert von Sachsen eine dialektische Einheit. Damit ist ein Stück aristotelischer Vermittlungsdialektik in die naturphilosophische Prinzipiendiskussion der mittelalterlichen Spätscholastik eingegangen. Ein wichtiger Zwischenschritt zu einem positiven, universellen und einheitlichen Materiebegriff, den es in der aristotelischen Tradition nicht gab, ist hier erfolgt. Albert ergänzt die erläuterten ontologischen Reflexionen um den spezifischen Seinsstatus der Materie durch weitere Feststellungen naturphilosophischer Art. So schreibt er der stofflichen Materie die generelle Funktion zu, das „mittelbare zugrundeliegende Prinzip“ („principium subiectivum mediatum“) aller Vorgänge von Ortsbewegung diesseits der Himmelsregion zu sein541. Die Materie erhält somit de facto die Funktion eines Trägers von natürlichen Ortsbewegungen in letzter Instanz. Die örtlichen Veränderungen der Dinge in der „sublunaren Welt“ bedürfen also eines allgemeinen Trägerprinzips, das unter der Vermittlung aller möglichen Umstände und Eigenheiten der sich bewegenden Dinge die notwendige universelle stoffliche Voraussetzung von Veränderung überhaupt ist. Dies bedeutet, daß eine jegliche konkrete Ortsbewegung an eine konkrete Einheit von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem in den sich bewegenden natürlichen Gegenständen gebunden ist. Als stoffliches Trägerprinzip von Ortsveränderung tritt die Materie nach Albert also nicht als ein Abstraktum, sondern nur als ein 539

Ibid., p. 213: „Ad quartam confirmationem dico: cum Commentator dixit materiam esse medium inter ens et non ens, intellexit materiam esse medium inter non ens simpliciter et esse in actu hoc aliquid, quia materia nec est non ens simpliciter nec est ens in actu hoc aliquid“, cf. Averroës, In Physicam, I, comm. 70, fol. 32r.: „Deinde dicit et quid est subiectum, id est et modus essentiae eius est, quod non est demonstratum in actu, sed est quasi medium inter non esse simpliciter et esse in actu …“ 540 Ibid., p. 208: „Nona conclusio: materia est ens in potentia receptiva formae generandae … Quod autem quamcumque formam generandam potest recipere, patet, quia si non, tunc sua passivitas esset terminata et non esset infinita, quod est contra prius dicta: ipsa enim cuiuscumque est receptiva cuius prima causa est activa.“ 541 Ibid., p. 211: „Quarta conclusio: materia proprie accipiendo materiam, cuiuslibet motus localis alterius a caelo ipsa est principium subiectivum mediatum. Patet ex eo quod quodlibet aliud a caelo quod movetur localiter habet materiam proprie dictam.“

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Konkretum in der Natur auf. Diese konkret-dialektische Einheit von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem gilt allerdings strenggenommen nur für die bewegten Dinge der „sublunaren Welt“, da in der „supralunaren“ Himmelswelt das Materieprinzip ausgeschaltet wird. Hier zeigt sich die metaphysische Grenze der von Albert angenommenen Interpretation von Aristoteles’ Materie-Begriff. Doch Albert ergänzt seine Ausführungen über die Funktion der Materie in den Ortsveränderungsvorgängen durch die These, daß die Materie auch der unmittelbare konstante Träger aller Vorgänge von substantiellen Veränderungen542 und darüber hinaus sämtlicher natürlicher Veränderungsvorgänge sei, wenn man den Terminus „Materie“ im weiten Sinne des Wortes gebrauche543. Damit wird der Begriff des Wandels bzw. der Veränderung („transmutatio“) auf sein dialektisches Korrelat „Materie“ im Sinne des im Wandel Beständigen bezogen. Veränderung wird damit als eine dialektische Einheit aus Wandel und Beständigkeit gefaßt bzw. der Wandel nicht als bloßes Anderswerden, sondern als eine konkrete Veränderung an etwas Bestimmtem. Zum anderen erscheint das universelle Trägerprinzip alles Wandels nicht als etwas rein Äußerliches dieses Wandels, sondern die Materie gilt als Empfängermedium („principium passivum“) der konkreten Wandlungen. Überhaupt gilt, daß sich in der „sublunaren Welt“ alle Dinge kontinuierlich verändern und dementsprechend sich die „Erste Materie“ kontinuierlich verändert, auch wenn das nicht immer wahrnehmbar ist, wie Albert hervorhebt544. Insofern kommt der Materie also die Doppelfunktion eines universellen Prinzips des Beständigen im Wandel und der beständigen Wandelbarkeit zu. Die „Erste Materie“ als passives Prinzip ist genauso wie die „Erste Ursache“ als aktives Prinzip in jedes Wirken und Leiden einer materiellen Substanz einbezogen, sagt Albert an einer Stelle seines „Physik“-Kommentars545. Die Passivität der Ersten Materie und die Aktivität der göttlichen Ursache korrespondieren also als universelle Prinzipien der Veränderung in der Natur. Diese Überlegung Alberts macht seine Verankerung in der Naturphilosophie des Aristoteles und in der christlichen Weltvorstellung offenkundig. Auch sie zeigt das Bemühen, die unterschiedlichen, gegensätzlichen Funktionen im Gesamtzusammenhang 542

Ibid., p. 211 f.: „ Quinta conclusio: cuiuslibet transmutationis substantialis materia proprie dicta est subiectum immediatum. Patet, quia ipsa est illud quod immediate manet sub uptroque termino talis transmutationis …“ 543 Ibid., p. 212: „Sexta conclusio: acciepiendo materiam large, cuiuslibet transmutationis mundi materia est subiectum seu principium subiectivum. Patet, quia omnis tranbsmutatio naturalis vel est generatio vel corruptio vel est augmentatio vel est diminutio vel est alteratio vel est loci mutatio …“ 544 Albertus de Saxonia, Expositio et Quaestiones in Aristotelis Physicam ad Albertum de Saxonia attributae, T III, Quaestiones (lib. IV–lib. VIII), ed. B. Patar, lib. VIII, qu. 4, p. 1022 f.: „… licet quodlibet corpus infra caelum continue alteretur, non tamen de quolibet corpore hoc percipitur, et hoc propter tarditatem illius motus alterationis. Unde imaginandum est quod materia prima continue alteratur sicut caelum continue localiter movetur.“ 545 Ibid., lib. VII, qu. 1, p. 941: „… unde ad cuiuslibet substantialis materialis actionem et passionem concurrit materia prima, quae nullius est activitatis, sicut Prima Causa, quae nullius est passibilitatis.“

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der Welt zur Erklärung von Wandel, Bewegung und Veränderung dialektisch zu vereinigen. Allerdings wird damit auch deutlich, daß Alberts dialektisches Konzept der Materie nicht Bestandteil einer autonomen Dialektik der Natur war, sondern eingebettet ist in metaphysische Vorstellungen des Aristoteles und der christlichen Theologie. Ein nächster Schritt in der dialektischen Fassung der Materie würde dann in der Vereinigung von Aktivitäts- und Passivitätsprinzip in der Materie selbst bestehen. So weit wollte Albert allerdings noch nicht gehen.

Ein dialektisches Determinismuskonzept bei Wilhelm von Ockham Wilhelm von Ockham (ca. 1285–1350) reflektierte in seinen philosophischen und theologischen Schriften, vor allem aber in seinen Schriften zur aristotelischen Naturphilosophie, die unterschiedlichen Formen von Zusammenhang und Abhängigkeit in der Welt. Von einer Verabsolutierung einer schicksalhaft wirkenden „Notwendigkeit“ war er genauso wie von der Annahme einer „absoluten Kontingenz“ unbeeindruckt, welche der belebten oder unbelebten Natur keinerlei inneren Kausalnexus zugestand, sondern alles aktuelle Geschehen auf göttliche Interventionen zurückführte. Gleichwohl räumte er das Bestehen von „Notwendigkeit“, „Kontingenz“, „Zufall“ und „Kausalität“ als mögliche Formen des Zusammenhangs in der Welt ein und integrierte das Handeln der Menschen und eines allmächtigen Gottes als selbständiger Faktoren in seine Betrachtungen. In allem, was auf „natürliche Weise“ ablief oder existierte, d.h. im nicht-voluntativen Bereich, also jenseits des mit einem absoluten freien Willen agierenden Gottes und jenseits autonomer Willensentscheidungen des Menschen, sah er ein Geflecht von möglichen Zusammenhängen gegeben, das auf der Basis von Naturkausalität bestand. Hier galt ihm schon in einer seiner frühen Schriften der Grundsatz, daß „eine natürlich wirkende Ursache immer wirksam ist, es sei denn, daß sie selbst sich grundlegend wandelte oder an ihr etwas ganz Neues entstanden ist oder eine andere Ursache ihre Wirkung eingestellt hat oder in einer noch anderen Hinsicht [ein Grund zur Veränderung vorgelegen hat]“546. Mit einer so beschriebenen Naturkausalität war von Ockham ein an bestimmte Voraussetzungen gebundener regelmäßiger Wirkungszusammenhang benannt worden, welcher gerade durch seine charakteristischen Voraussetzungen in klarer Opposition zu einer autonomen Willenshandlung stand, welche keinerlei Notwendigkeit unterlag, sondern auf Grund des freien Willensentscheids rein kontingent war547. Da aber auch die Naturkausalität im Ockhamschen Verständnis, wie gezeigt, bestimmten 546

Guillelmus de Ockham, Scriptum in Primum Sententiarum. Ordinatio, dist. 38, qu. un., p. 580 (= Opera theologica, Vol. IV): „… causa naturaliter agens semper agit, nisi ipsum mutetur vel aliqua novitas fiat circa ipsum vel quia alia causa cessat causare vel per aliquem alium modum …“. 547 Vgl. ibid., p. 580: „Vel dicitur causare contingenter quia libere, sine omni variatione adveniente sibi vel alteri et non per cessationem alterius causae, potest cessare ab actu in alio instanti, ita quod in alio instanti sit non causans, non quod in in eodem instanti sit non causans. Et isto modo voluntas causat contingenter.“

EIN DIALEKTISCHES DETERMINISMUSKONZEPT BEI WILHELM VON OCKHAM

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Bedingungen unterlag, erfüllt sie de facto den Status einer „bedingten Notwendigkeit“, stand also in einer doppelten Opposition, d.h. sowohl zur Kontingenz des freien Willensentscheids als auch zu einer schicksalhaft wirkenden absoluten Notwendigkeit. Sie stellt de facto ein bedingtes Unbedingtes dar. Für Wilhelm von Ockham gab es auch keine strikte Beweisbarkeit für die Annahme, daß aus einer „sekundären [d.h. natürlichen] Ursache“ eine ganz bestimmte Wirkung hervorgeht548. Damit war der Diskurs über Abhängigkeiten und Zusammenhänge im Bereich der Natur bzw. des Natürlichen einem dialektischen Determinismus überantwortet, in welchem es um Wahrscheinlichkeiten auf der Basis von Naturkausalität im genannten Sinn ging. Eine Wahrscheinlichkeit der Wirkung des einen auf das andere im Bereich der Natur („approximatio causarum“) liegt für Ockham immer dann vor, wenn kein Hinderungsgrund vorliegt. Verallgemeinert läßt sich dieser Sachverhalt in dem folgenden Konditionalsatz ausdrükken: „Unter der Bedingung, daß A nicht behindert, wird B der realen Möglichkeit nach auf C wirken können.“ Oder umgekehrt: „Unter der Bedingung, daß A behindert, muß B nicht auf C wirken.“549 Die Prozesse und Ereignisketten mit der größten Wahrscheinlichkeit auf Grundlage der Naturkausalität bezeichnete er mit dem Terminus „allgemeiner Lauf der Naturursachen“ („communis cursus causarum naturalium“)550. Ein einer so bezeichneten Regelmäßigkeit und Wahrscheinlichkeit entgegenstehendes Phänomen in der Natur (z.B. starke Niederschläge im Hochsommer) bezeichnete er als „Verletzung des gewöhnlichen Laufs der Naturursachen“ („violentum, quod fit praeter communem cursum causarum naturarum“)551 oder als „Zufall in einem weiteren Sinn“ („casus ut large accipitur“): hier ging es um relativ seltene Phänomene (z.B. auch Mißbildungen und alle Arten von Anomalien), welche aber auch aus der Naturkausalität durch Einbeziehung einer komplexen Ursachenanalyse („concursus causarum“) erklärbar sein sollten552. Damit waren auch „Zufälle“ (im genannten Sinn von nicht-regelhaften Ereignissen mit vermittelt wirkenden Ursachen) in den Bereich der Naturkausalität integriert. Die Kausalität (im engeren Sinn einer linearen Ursache-Wirkungs-Folge) und die Zufälligkeit wurden als kompatible Gegensätze behandelt. Allerdings hat der Determinismus Ockhams den Gedanken einer der Natur eigenen Kontingenz (im Sinne einer prinzipiellen Alternativität von untereinander gleichberechtigten entgegengesetzten Realisierungsmöglichkeiten) nicht übernommen. Denn die Freiheit von Willensentscheidungen, 548

Ders., Quaestiones in librum secundum Sententiarum (Reportatio), lib. II qu. 4, p. 72 (= Opera theologica, Vol. V): „Et ex hoc sequitur quod non potest demonstrari quod aliquis effectus producitur a causa secunda …“ 549 Vgl. Guillelmus de Ockham, Quodlibeta, VII, qu. 8, ad sec., p. 729 (= Opera theologica, Vol. 9) 550 Vgl. Guillelmus de Ockham, Brevis summa libri Physicorum, lib. 6, cap. 3, p. 104 (= Opera philosophica, Vol. 6); ders., Quaestiones in libros Physicorum Aristotelis, qu. 34, p. 485 (= Opera philosophica, Vol. 6). 551 Vgl. ders., Quaestiones in libros Physicorum Aristotelis, qu. 34, p. 485. 552 Vgl. ders., Summula philosophiae naturalis, lib. II, cap. 12, p. 244–245 (= Opera philosophica, Vol. 6).

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welche auf der Kontingenz des Entscheidungsaktes beruhte, sollte im Bereich der Natur nicht gelten. Wenn Ockham eine solche „aktive Kontingenz“ als direkten kontradiktorischen Gegensatz zur Naturkausalität betrachtet, so läßt er jedoch eine reduzierte Form von Kontingenz, ein sogenanntes „nicht-freies natürliches Kontingentes“ („contingens aequale naturale, non liberum“), im Bereich der Naturkausalität zu. Diese spezifische Art von Kontingenz beruht auf der Offenheit der Materie als rein passives Rezeptionsvermögen für alternative Qualitätsausprägungen unter Vermittlung einer äußeren Wirkursache553. Da aber in der Naturkausalität das Vorhandensein von Materie eine conditio sine qua non ist (im Gegensatz zur freien Schöpfungstätigkeit Gottes)554, gibt es also in dem Naturgeschehen eine vom Handeln Gottes und des Menschen unabhängige Form von Kontingenz, welcher die Materie als passiver Mittler zwischen alternativen Qualitäten der Dinge in Korrespondenz mit bestimmten Wirkursachen zugrundeliegt. Die „bedingte Notwendigkeit“ und eine „nicht-freie“, d.h. gebundene Kontingenz sind die in der Naturkausalität dialektisch vereinigten gegensätzlichen Bedingungsformen, wie sie Ockham versteht. Die dabei waltende „Notwendigkeit“ führt er prinzipiell und in letzter Instanz auf ein ziel- und strukturbestimmendes Telos bzw. eine entsprechende „Form“ zurück555. Der dialektische Determinismus Ockhams entpuppt sich auf diese Weise als eine spezifische Form der aristotelischen Stoff-Form-Dialektik und Potenz-AktDialektik. Die Gegensätzlichkeit von Freiheit und Natur, welche dem Ockhamschen Verständnis von Naturkausalität bzw. voluntativer Kausalität zugrundeliegt, ist aber insofern relativ, als sie keine Gegenstände, sondern Verhaltensweisen trennt und die Möglichkeit besteht, daß z.B. die „Vernunftseele“ („anima intellectiva“) in der einen Hinsicht, d.h. als Auslöser von Willensakten, eine frei agierende Potenz ist, in der anderen aber, d.h. als eine Potenz des Verstehens und Erkennens, eine natürliche Potenz ist556. Die „Freiheit“ und die „Notwendigkeit“ sind also im Falle der menschlichen Vernunftseele komplementäre relative Gegensätze mit einem identischen Träger. Damit wird der menschliche Intellekt gewissermaßen zur Schnittstelle von Freiheit und Notwendigkeit in der Welt und zum diskursiven Medium ihrer Differenzierung und Relationierung. 553

Vgl. ders., Expositio in libros Physicorum Aristotelis, lib. II, cap. 8, p. 322–323 (= Opera philosophica, Vol. 4). 554 Vgl. ders., Quaestiones in librum secundum Sententiarum (Reportatio), lib. II, qu. 4, p. 76. 555 Vgl. ders., Expositio in libros Physicorum Aristotelis, lib. II, cap. 13, p. 398: „Et per consequens omnis necessitas in re et in materia rei est principialiter propter finem“; ibid., p. 404: „… Sed isto modo necessitas in naturalibus est ex fine. Quia mediate vel immediate est sufficienter ex fine et per finem contingit ultimate respondere ad quaestionem per ‚quare‘ de re naturali; et hoc quia finis est quodammodo causa causarum, quia aliquo modo mediate movet efficientem ad agendum et efficiens producit formam in materia quae est propter formam.“ 556 Vgl. ders., Quaestiones in libros Physicorum Aristotelis, qu. 127, p. 740–741; ders., Expositio in libros Physicorum Aristotelis, lib. II, cap. 8, p 324; ibid., cap. 10, p. 347; ders., Brevis Summa libri Physicorum, lib. VIII, cap. 1, p. 118.

EIN DIALEKTISCHES DETERMINISMUSKONZEPT BEI WILHELM VON OCKHAM

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Im Rahmen von Naturkausalität geht es um Prozesse, welche teils extern determiniert, teils aber auch selbstverursacht sind, so daß auch die direkte spezifische Einheit von Ursache und Wirkung in Gestalt von Selbstbewegung eine konkrete Form von Naturkausalität darstellt, wie Ockham an verschiedenen Stellen erläutert557. Auch den Gedanken einer Koinzidenz von bestimmten Ursacheformen im Rahmen der Naturkausalität übernimmt Ockham in Anschluß an Aristoteles. Er betont, daß Wirk-, Form- und Zweckursächlichkeit in Prozessen des natürlichen Entstehens des öfteren in Eins fallen, obgleich dies nicht generell gelte558. Damit wird der dialektische Gedanke der „causa sui“ im Sinne der Selbstorganisation bzw. Selbstreproduktion im natürlichen Werden von Eigenschaften und Repräsentanten einer Spezies in den Ockhamschen Determinismus übernommen. Zum dialektischen Determinismus Ockhams gehört auch der von ihm verteidigte Grundsatz, daß zwischen Ursachen und Wirkungen nicht eine völlige strukturelle Symmetrie besteht, daß also ein und dieselbe Wirkung durchaus mehrere Ursachen haben bzw. ein und dieselbe Ursache für differente Wirkungen stehen kann559. Damit werden die Relationen der Korrespondenz bzw. Korrelativität und der Inkongruenz für das kausale Bedingungsverhältnis zusammengenommen zugrundegelegt. Und auch die Simultaneität von Ursache und Wirkung ist für Ockham kein universelle gültiger Gesichtspunkt im Determinationsverhältnis. Denn im Falle eines potentiellen Kausalverhältnisses (z.B. zwischen etwas, was erwärmen kann, und etwas anderem, was erwärmt werden kann) ist eine Simultaneität nicht erforderlich, sondern können Ursache und Wirkungsgegenstand zeitlich voneinander getrennt existieren560. In seinem frühen Kommentar zu den „Sentenzen“ stand bereits der Satz: „Eigentlich gesprochen, sind Ursache und Wirkung zu gleicher Zeit und sind es nicht.“561 Der dialektische Determinismus Ockhams basiert auf der strikten Beachtung des Prinzips vom ausgeschlossenen logischen Widerspruch. Dieses Prinzip gilt auch für die aktiv handelnden kontingenten freien „Ursachen“ Gott und Mensch. Gleichwohl sieht Ockham Gott als einen „vollständigen und freien Grund“562, der nicht determiniert im 557

Vgl. ders., Brevis Summa libri Physicorum, lib. II, cap. 3, p. 30; ibid., lib. VIII, cap. 2, p. 126; ders., Summula philosophiae naturalis, lib. II, cap. 13, p. 246; ders., Expositio in libros Physicorum Aristotelis. lib. II, cap. 5, p. 289; ibid., lib. II, cap. 11, p. 353. 558 Vgl. ders., Expositio in libros Physicorum Aristotelis, lib. II, cap. 11, p. 352–354; vgl. Aristoteles, Physik, Buch II, Kap. 7, 198a 24–27. 559 Vgl. ders., Brevis Summa libri Physicorum, lib. II, cap. 3, p. 30; ders., Summula philosophiae naturalis, lib. II, cap. 3, p. 220, ibid., lib. II, cap. 9, p. 237. 560 Vgl. ders., Quodlibeta, VI, qu. 20, p. 656–657; ders., Summula philosophiae naturalis, lib. II, cap. 9, p. 236–237; ders., Expositio in libros Physicorum Aristotelis, lib. II, cap. 6, p. 301; ders., Brevis Summa libri Physicorum, lib. II, cap. 4, p. 32–33. 561 Ders., Quaestiones in librum secundum Sententiarum (Reportatio), lib. II, qu. 4, S. 61: „Et similiter causa et effectus, proprie loquendo, simul sunt et non sunt.“ 562 Ders., Brevis Summa libri Physicorum, lib. VIII, cap. 1, p. 118: „… causa totalis et libera, cuiusmodi est Deus secundum fidem …“

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Sinne einer natürlich vorgegebenen Ordnung nach notwendigen Gründen handeln muß und insofern nicht deterministisch verstanden werden darf. Die von Ockham angenommene freie und universelle Verursachungspotenz Gottes im Sinne einer „potentia Dei absoluta“ („absolute Macht Gottes“) erstreckt sich bis zur Annahme einer von Gott erschaffbaren möglichen anderen, besseren Welt durch die Schaffung spezifisch von der gegenwärtigen Welt unterschiedener Individuen bzw. Individuengesamtheiten563. Der dialektische Determinismus Ockhams ist auf natürliche Zusammenhänge und Abhängigkeiten beschränkt und bleibt im Kontext der aristotelischen Kosmologie verankert, hat aber im Nachdenken über unterschiedliche Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten einen wichtigen Berührungspunkt mit Ockhams Theologie. Dies gilt auch negativ und in einem problematischen Sinn: denn die deterministische Sicht auf den Weltzusammenhang steht bei Ockham generell unter dem Vorbehalt, daß Gott auch unter Umgehung der aristotelischen Ordnung der natürlichen Ursachen direkt und im Rahmen des Möglichen agieren kann, um jede beliebige Wirkung hervorzubringen – dies allerdings, so merkt Ockham an, lasse sich mittels der „natürlichen Vernunft“ nicht hinreichend beweisen564.

Die angewandte Dialektik bei Levi ben Gerson (Gersonides) Der jüdische Philosoph Levi ben Gerson (1288–1344) beteiligte sich auf seine Weise an der philosophischen Debatte um das Verhältnis von Kontingenz bzw. Freiheit und Determination in der Welt des Menschen. Ausführlich behandelt er dieses Thema im Rahmen seines Traktatwerks „Die Kämpfe Gottes“ (entstanden zwischen 1317 und 1329). Hier entwickelt er ein theoretisches Konzept, das sowohl nach seinem methodischen Ansatz als auch seiner inhaltlichen Ausführung bestimmten dialektischen Prinzipien folgt. Hierzu schließt er zunächst den Fatalismus und den Voluntarismus aus. Das menschliche Dasein in der Welt unterliegt dem von ihm entwickelten Alternativkonzept zufolge weder einer schicksalhaften Notwendigkeit, noch einer völligen Regellosigkeit und Willkür. Vielmehr will er das Gegenteil dieser beiden auszuschließenden Extreme unter Beweis stellen. Dazu folgt er einem Modell, in welchem das menschliche Dasein in seinen fundamentalen Bedingungen einerseits einer prädisponierenden Determination seitens des fürsorglich wirkenden Gottes, der einwirkenden Astralkräfte und der formativen Kraft des „aktiven Intellekts“ ausgesetzt ist. Und andererseits zeichnet sich dieses Dasein im konkreten Handeln des einzelnen Menschen durch eine grundsätzliche Freiheit der Wahl zwischen alternativen Möglichkeiten aus. Damit bilden die individuelle Freiheit der Wahl und die Determiniertheit der substantiellen Bedingungen des Daseins der Menschen ein Paar konstitutiver dialektischer Gegensätze, welche miteinander kor563

Vgl. ders., Scriptum in librum primum Sententiarum. Ordinatio, lib. I, dist. 44, qu. un., p. 655; ders., Quodlibeta, VII, qu. 18, p. 774–775; ibid., Quodlibet VI, qu. 1, art. 1, p. 586. 564 Vgl. ders., Scriptum in librum primum Sententiarum, lib. I, dist. 42, qu. un., p. 620–621.

DIE ANGEWANDTE DIALEKTIK BEI LEVI BEN GERSON (GERSONIDES)

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relieren. Darin ist der grundsätzliche dialektische Ansatz des deterministischen Konzepts zu sehen, welches der Autor ausführlich in seiner genannten Schrift erklärt. Es sind das rationale menschliche Erkenntnisvermögen, der „praktische Intellekt“ der Menschen, das Sammeln von Erfahrungen und Informationen und speziell auch die Nutzung antizipatorischer Fähigkeiten (wie z.B. der Prophetie als Zeichen höchster Weisheit und Gelehrsamkeit), welche je nach ihrer Nutzung über das Maß des Glücks oder Unglücks der Menschen in ihrem Handeln entscheiden, wie Levi ben Gerson zeigt565. Mittels des von der Vernunft gesteuerten Willens und des Strebens nach einer allmählichen Vervollkommnung der Erkenntnisse kann der Mensch im Rahmen der vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten seine Freiheit und Glückseligkeit positiv erfahren566. Die Determiniertheit der Handlungsmöglichkeiten durch das vorausschauende Wissen Gottes betrifft dem Autor zufolge die „intelligible Ordnung“ der Dinge in ihrer Gesamtheit, nicht jedoch direkt und unmittelbar das einzelne Ereignis. Dadurch bleibt die Kontingenz als Qualität zukünftiger Ereignisse gewahrt567. Dieser Grundsatz von der Kontingenz der „sublunarischen Dinge“ (d.h. der Welt und Umwelt der Menschen), bildet die geistige Achse der Thora, wie Gersonides feststellt568. Das Eintreten und das Erleben von Unheil als des praktischen Ausdrucks von Unfreiheit führt Gersonides auf teils subjektive, teils objektive Gründe zurück. Die subjektiven Gründe sieht er vor allem im jeweiligen unzureichenden Entwicklungsgrad der individuellen menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche dem Menschen zu seiner Geburt erst der Anlage nach zugeeignet wurden und die er selbst weiter ausprägen muß, dies gelegentlich aber aus „Torheit und Narrheit“ unterlasse569. Objektiv aber sei ein Unheil auch auf das Wirken von antagonistischen Kräften außerhalb des einzelnen Menschen zurückzuführen, welche z.B. in der Philosophie mit „Liebe“ und „Haß“, „Einheit“ und „Vielheit“, „Endlichkeit“ und „Unendlichkeit“, „Vereinigung“ und „Trennung“ bzw. „Gutes“ und „Böses“ bezeichnet werden, bei den Thoragelehrten aber „Gott“ und „schädliche Geister, d.h. Dämonen“ heißen570. Das „Unheil“ als negative Form von Determiniertheit ist also für Gersonides subjektiv und objektiv begründet und zumindest partiell abwendbar. Das positive Zusammenspiel und die Einheit von Freiheit und Determiniertheit zeigt sich laut Gersonides im Koinzidieren von freiem menschlichen Handeln, den astralen Einwirkungen auf die Menschen und der göttlichen Providenz, wodurch Ordnung und Harmonie in der „sublunaren Welt“ bewahrt werden könnten571. Um die angestrebte Freiheit im Entscheiden und Handeln umzusetzen, müsse der 565

Vgl. Lewi ben Gerson, Die Kämpfe Gottes, 2. Teil, übers. v. B. Kellermann, 2. Traktat, S. 1–86. Vgl. ibid., 2. Traktat, 2. Abschnitt, S. 13–17; 2. Traktat, 7. Abschnitt, S. 73. 567 Vgl. ibid., 3. Traktat, 5. Abschnitt, S. 186–187. 568 Ibid., 3. Traktat, 6. Abschnitt, S. 187: „Das Dogma der Thora und die Achse, um die sie sich dreht, ist der Möglichkeitscharakter der sublunarischen Dinge.“ 569 Vgl. ibid., 4. Traktat, 2. Abschnitt, S. 206–210. 570 Vgl. ibid., 4. Traktat, 3. Abschnitt, S. 227–229. 571 Vgl. ibid., 4. Traktat, 6. Abschnitt, S. 251–253. 566

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Mensch sich des wichtigsten Organs bedienen, das ihm Gott verliehen hat: des Intellekts. Ansonsten würden latente Konflikte auf Grund von Ungleichgewichten zwischen den im Menschen selbst oder zwischen verschiedenen Menschen wirkenden Kräften zum Austrag kommen und als akzidentielles „Böses“ erfahren werden. Denn es sei zu beachten, merkt der Autor an, daß die positive göttliche Fürsorge für den Menschen nur unter der Bedingung wirke, daß er sich selbst um die Vervollkommnung seines Intellekts bemühe572. Damit wird die von ihm diskutierte Thematik des Verhältnisses von Freiheit und Determiniertheit ganz direkt in den Kontext einer Subjekt-Objekt-Dialektik der individuellen intellektuellen Evolution gestellt. Neben der vorrangig diskutierten Rolle der menschlichen Individualität reflektierte Gersonides auch das bewußte Handeln der Menschen im sozialen Kontext im Wechselbezug von Kontingenz bzw. Freiheit und Determination. So führt er das Funktionieren von gesellschaftlicher Arbeitsteilung als Bedingung des Zusammenlebens der Menschen sowohl auf das Einwirken providentieller astraler Einflüsse auf soziale Gemeinschaften zurück, als auch auf die persönliche Einsicht in die Notwendigkeit, bestimmte Berufe im Interesse des sozialen Zusammenhalts zu ergreifen. Diese positive Einheit von Freiheit und Determiniertheit bei der Berufswahl der einzelnen Menschen schließe allerdings wegen der fortbestehenden menschlichen Willensfreiheit nicht den Fall aus, daß Menschen ausschließlich nach ihrer individuellen Neigung und nicht nach gesamtgesellschaftlichen Erfordernissen handelten. Dies hält der Autor aber als einen Ausnahmefall von der zuvor beschriebenen Regel fest573. Dieses Beispiel zeigt deutlich die überragende Rolle, welche Gersonides dem praktisch werdenden Intellekt der Menschen bei der dialektischen Vermittlung von Freiheit bzw. Kontingenz und Determiniertheit des menschlichen Verhaltens zumißt. Gleichermaßen wird aus den zuvor erläuterten Ausführungen des Autors deutlich, daß ihm sehr viel an dem Nachweis der Kompatibilität von religiös-theologischem und philosophischem Denken auf der Basis rationaler Argumentation und der Treue zur Tradition des Judentums liegt. Das theoretische Konzept Levi ben Gersons zur Erklärung des Verhältnisses von Freiheit und Determination bzw. von Rationalität und Tradition setzt er methodisch durch ein dialektisches Verfahren um. Dieses startet mit der Konfrontation von alternativen Thesen und Positionen zu einem gestellten Problem. Im Anschluß daran erfolgt eine Selektion dieser Thesen und Positionen durch das Verfahren der Aporie, welches gewisse Positionen als innerlich zweifelhaft und darum unannehmbar erweisen soll. Darauf wiederum werden die noch verbleibenden Aussagen verifiziert, indem mögliche Einwände gegen sie aufgelöst werden. Dieses kritische argumentative Problemlösungsverfahren, welches innere Zweifel an der Akzeptanz gewisser Thesen ausräumen bzw. bei anderen Thesen erhärten und schließlich die Wahrheit ermitteln helfen soll, hat Ger572 573

Vgl. ibid., 4. Traktat, 6. Abschnitt, S. 257–259. Vgl. ibid., 1. Traktat, 2. Abschnitt, S. 15–16.

DIE ANGEWANDTE DIALEKTIK BEI LEVI BEN GERSON (GERSONIDES)

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sonides bereits in der Vorrede zu seiner Abhandlung ausführlich begründet574. Dort hebt er hervor, daß auch abzulehnende Thesen und Positionen zunächst ausreichend auf ihre positive Begründbarkeit geprüft werden müssen. Erst nachdem die entsprechenden Begründungen widerlegt seien, könne auch die problematisierte These als widerlegt betrachtet werden575. Unschwer erkennbar bedient er sich des alten dialektischen Grundsatzes, nach zwei Seiten hin zu argumentieren, auch wenn sich beide gegenseitig ausschließen, um alle möglichen Antworten auf ein gestelltes Problem zu diskutieren. Mit der Antithetik, dem methodischen Zweifel, der Aporetik und einem approximativen Verifikationsverfahren setzt er bewährte Instrumente des dialektischen Argumentierens ein. Explizit erwähnt er auch die Gründe für die prinzipielle Begrenztheit des menschlichen Wahrheitsstrebens. Er sieht sie sowohl in der Mangelhaftigkeit der sinnlichen Wahrnehmungskraft der Menschen, als auch in Fehlern und Irrtümern in der Astronomie und Astrologie, wie letztlich in der Komplexität des gestuften Aufbaus der Welt und der damit verbundenen Schwierigkeit, deren Einheitsgrund zu erfassen576. Gersonides leugnet zwar die Möglichkeit eines absoluten Wissens für die Menschen während ihrer normalen irdischen Existenz, gesteht aber die Möglichkeit eines relativen individuellen Fortschritts im Rahmen eines je individuellen „erworbenen Intellekts“ zu. Daraus resultieren wiederum je unterschiedliche Grade von Glückseligkeit der Menschen in Abhängigkeit von der Quantität und Qualität ihres Erkennens und in Abhängigkeit von der Nähe zum „aktiven Intellekt“ als dem konstitutiven Einheitsgrund alles unseres Wissens577. Die Begrenztheit und die Individualität des menschlichen Erkenntnisvermögens sowie das menschliche Streben nach dem Glück als dem Ausdruck höchster Erfüllung stellen damit keine unvereinbaren Gegensätze dar. Vielmehr korrespondieren sie miteinander, da die Relativität von „Glück“ zu berücksichtigen ist. Der dialektische Grundsatz einer Relativität der Entgegensetzungen auf Grund ihrer wechselseitigen Bedingtheit kommt hier klar zum Ausdruck. Levi ben Gerson hat an den Anfang seines Traktatwerks „Die Kämpfe Gottes“ neben einer Begründung der von ihm angewandten Methodik auch eine umfassende Analyse und Kritik der überlieferten Theorien über den „Intellekt“ gestellt. Im 1. Traktat stellt er die diversen Ansichten von Alexander von Aphrodisias und späterer Kommentatoren, vor allem von Ibn Ruschd, Ibn Sina und Al-Farabi, vor. In den Reflexionen über den „potentiellen“, den „erworbenen“ und den „aktiven Intellekt“ findet er das theoretische Fundament seiner Lehren über das Verhältnis von Mensch, Welt und Gott in ihrem jeweiligen Verhältnis zueinander. Insbesondere bieten sie ihm die Gelegenheit, durch eine umfassende Kritik der überlieferten Theorien eine eigene Konzeption über die Entwicklung der Menschen unter der Bedingung von Kontingenz und Determiniertheit 574

Vgl. Lewi ben Gerson, Die Kämpfe Gottes, 1. Teil, übers. v. B. Kellermann, Vorrede, S. 9–17. Vgl. ibid., 1. Traktat, 2. Abschnitt, S. 30–31. 576 Vgl. ibid., 1. Traktat, 12. Abschnitt, S. 202–214. 577 Vgl. ibid., 1. Traktat, 13. Abschnitt, S. 216–219. 575

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ihres Handelns vorzulegen. Dem philosophischen Inhalt nach stellt sein Intellektkonzept einen Kompromiß dar. Einerseits unterstützt er die Ansicht des Alexander von Aphrodisias von der Nicht-Ewigkeit und dem Entstehen des „materiellen Intellekts“578. Zum anderen äußert er entgegen den Auffassungen mehrerer Aristoteles-Kommentatoren der Vergangenheit seinen grundsätzlichen Zweifel an der These einer möglichen Vereinigung des „möglichen Intellekts“ der Menschen mit dem „aktiven Intellekt“ als höchster Stufe intellektueller Vollendung im Leben der Menschen bzw. an dessen Ende579. Und mit der Zustimmung zur These von einer individuellen Unsterblichkeit nach dem physischen Tod stellt er die Übereinstimmung mit den religiösen Glaubensgrundsätzen her580. Analog zur Lehre von der dialektischen Einheit von Kontingenz und Determiniertheit im Dasein der Menschen zeigt Gersonides in seinem Intellektkonzept ein Menschenbild, welches das Streben nach Erkenntnis und Glück unter die Doppelsignatur von Autonomie und Heteronomie bzw. von Immanenz und Transzendenz stellt. Auf diesem Hintergrund findet auch seine starke Affinität zur Astrologie und die Einbettung dieser Überlegungen in das Gesamtkonzept einer göttlichen Providenz gegenüber der Welt des Menschen eine Erklärung. Indem er auf diesem Hintergrund die Möglichkeiten der Entwicklung von Menschen eruiert, entgeht er der Gefahr, Freiheit und Determiniertheit dualistisch einander entgegenzustellen. Denn auch die astralen Einflüsse versteht er als prädisponierende Emanationen, nicht aber als Erzwingungsgründe für konkretes Handeln. In den verschiedenen Formen des „Intellekts“ ortet Gersonides die Sphären der Vermittlung zwischen Gott, Natur und Mensch. Einen umfassenden dialektischen Determinismus, der neben dem menschlichen Handeln auch die Naturprozesse umfaßt und erklärt, hat Gersonides offenbar nicht angestrebt. Stattdessen verharrt er in einem Dualismus aus Natur und Freiheit bzw. Notwendigkeit und Zufall581.

Das dialektische Determinismuskonzept des Nikolaus von Autrecourt In der Diskussion um die Evidenz und die Gültigkeit der überkommenen Lehren von den Formen des Zusammenhangs (d.h. Notwendigkeit, Kontingenz, Möglichkeit, Kausalität usw.) hat Nikolaus von Autrecourt (ca. 1298–1369) in den 20er und 30er Jahren des 14. Jahrhunderts an der Pariser Universität bemerkenswerte neue Akzente gesetzt. Sie sind als alternative Denkangebote im Rahmen der scholastischen AristotelesInterpretation zu verstehen, welche konträr zu vielen gängigen Meinungen standen. Die zeitgenössischen kritischen Reaktionen auf diese zeigen die prinzipielle Bedeutung der Überlegungen des Pariser Magisters. Dieser problematisierte u.a. die scheinbare Ge578

Vgl. ibid., 1. Traktat, 9. Abschnitt, S. 130. Vgl. ibid., 1. Traktat, 12. Abschnitt, S. 197–214. 580 Vgl. ibid., 1. Traktat, 4. Abschnitt, S. 42; ibid., 1. Traktat, 13. Abschnitt, S. 217–219; ibid., 1. Traktat, 14. Abschnitt, S. 219–220. 581 Vgl. Lewi ben Gerson, Die Kämpfe Gottes, 2. Teil, 2. Traktat, 1. Abschnitt, S. 7–9. 579

DAS DIALEKTISCHE DETERMINISMUSKONZEPT DES NIKOLAUS VON AUTRECOURT

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wißheit von Aussagen über Kausalzusammenhänge, welche aus der Regelmäßgkeit empirisch beobachteter Folgebeziehungen erschlossen werden. Für ihn trog die behauptete Evidenz des Bestehens solcher Kausalbeziehungen deshalb, weil er die These vertrat, daß es widerspruchsfrei möglich ist zu behaupten, daß eine einmal nachgewiesene notwendige Folge aus erzeugender Ursache und erzieltem Wirkresultat genausogut nicht besteht, weil die erwartete Wirkung nicht eintreten werde. Stattdessen verlangte er, eine solche Beziehung nur aus der Perspektive einer intellektuellen Mutmaßung („habitus conjecturativus“) zu konstatieren, welche die alternative Möglichkeit offenhält582. Für ihn stellt damit eine Behauptung über einen Kausalnexus niemals eine Aussage mit absoluter Evidenz, sondern lediglich die Behauptung der Möglichkeit dar, aus dem Wirken einer aktiven Kraft auf etwas anderes auf die Existenz einer bestimmten Wirkung schließen zu können, ohne dabei das Nichteintreten der Wirkung ausschließen zu können. Die Anerkennung des gleichzeitigen Bestehens dieser einander entgegengesetzten Möglichkeiten implizierte für ihn demzufolge keinen logischen Widerspruch. Genau darin besteht der dialektische Ansatz von Nikolaus, welcher ohne Zweifel auch eine skeptische Komponente enthält, welche sich allerdings gegen das Postulat der Gewißheit von Aussagen über den Kausalnexus, nicht aber unbedingt auch gegen die Annahme von Kausalität als Realität richtete. Nicht weniger problematisch wie die behauptete Evidenz von Aussagen über einen Kausalnexus war für Nikolaus aber auch die Vorstellung von dem Bestehen der „Kontingenz“ im Sinn einer Gleichwahrscheinlichkeit von Wirkungskräftigkeit und Wirkungslosigkeit von ein und derselben Kraft zu ein und demselben Zeitpunkt. Eine solche Vorstellung sollte dem Nachweis des Bestehens von Freiheit in der Welt dienen. Diesem Gedanken begegnete er mit der These, daß das Ausbleiben von Wirkungen aus einer vorhandenen Wirkungspotenz nur auf einen fremden Hinderungsgrund zurückzuführen sei583. Sowohl im Bereich der bewußtlos agierenden Naturkräfte, als auch der frei agierenden bewußten Agentien schloß er die Kontingenz als elementare Eigenschaft aus. Selbst im Bereich der individuellen Willensentscheidungen wollte er diese nicht gelten lassen. Doch er akzeptierte sie für das Handeln von Individuengesamtheiten, da hier unterschiedliche Willen zu gleicher Zeit in zueinander entgegengesetzte Richtungen gehen könnten584. Damit wurde die „Kontingenz“ zu einer Disposition einer Gesamtheit von willensbegabten Individuen zu differenten Entscheidungen gemacht. Of582

Vgl. Nicholas of Autrecourt, Exigit ordo executionis, ed. J. R. O’Donnel, S. 237; ders., Epistola Nicolai ad Egidium, S. 70. 583 Nicholas of Autrecourt, Exigit ordo …, S. 260: „Et ita de quacumque causa mundi, si non ponat suum effectum, verum est dicere quod est propter hoc quod est impedita, non propter ejus libertatem ut imaginantur adversarii.“ 584 Ibid., S. 261–262: „Quod igitur dicitur quod voluntas est ad opposita non est intelligendum secundum individuum quod sit aliqua voluntas particularis quae sit ad opposita, immo quaelibet est determinata ad unum, ut dictum est, sed intelligendum est secundum speciem; nam est aliqua voluntas quae est respectu unius et alia respectu oppositi.“

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fenbar wollte Nikolaus mit einem solchen Konzept von „Kontingenz“ verhindern, daß die Kausalität in der Welt und der logisch widerspruchsfreie Diskurs über die Willensfreiheit eliminiert werden. In ähnlicher Weise wie im Fall von „Kontingenz“ transformierte Nikolaus von Autrecourt das alte Prinzip der Äquivalenz von Ursache und Wirkung („causa aequat effectum“585): Für „einfache Wirkungen“ sollte es uneingeschränkt gelten, für einen „Wirkungskomplex“ hingegen nicht mehr uneingeschränkt, da hier vom Wirken unterschiedlicher Ursachen für diesen einheitlichen Wirkungskomplex (z.B. für die Person von Sokrates) auszugehen sei586. Damit wird das Äquivalenzprinzip für komplexe Gebilde durch das Prinzip einer Korrelativität von Ursachenkomplex und einheitlicher Wirkung ersetzt. Nicht mehr nur eine bestimmte causa sine qua non kommt dann für solche Zusammenhänge als hinreichender Grund für das Eintreten einer Wirkung in Frage, sondern ein ganzheitlicher Faktorenverbund aus indirekten und direkten, überund untergeordneten, sowie stimulierenden und behindernden Wirkkräften. Diesen Gedanken explizierte Nikolaus beispielhaft anhand des Vorgangs der Entzündung eines brennbaren Materials587. Nicht also das Bestehen von Zusammenhängen zwischen bestimmten Bedingungen und den durch sie ermöglichten Prozessen, sondern die Behauptung einer linearen Ursache-Wirkung-Folge („productio univoca“) bei komplexen Phänomenen zog der Philosoph mit seinem neuen Konzept einer ganzheitlichen Faktorenanalyse in Zweifel588. Der dialektische Gedanke der Einheit der Wirkung unter der Bedingung der Differenz der simultanen Wirkungsfaktoren wird von ihm sowohl nach dem Modell der Erzeugung von etwas durch aktive wechselwirkende Kräfte als auch nach dem mechanischen Modell der Aggregation und Segregation von Körperteilchen bzw. Elementen mit jeweils einander entgegengesetzten Primärqualitäten expliziert589. Nikolaus von Autrecourt wollte aber auch die Kausalität im strengen, engeren Sinn durchaus gelten lassen. Für ihn konnte weder ein und dieselbe Ursache Wirkungen haben, die voneinander spezifisch unterschieden sind, noch konnte eine und dieselbe Wirkung von Ursachen stammen, welche voneinander spezifisch unterschieden waren590. 585

Vgl. ibid., S. 261: „Quaelibet enim causa operatur effectum adaequatum sibi et non alium, ita quod nulla causa nec agit infra ipsam nec supra ipsam.“ 586 Ibid., S. 256: „Et quidquid sit de responsione vel ratione illa superiores faciunt me existimare quod haec conclusio sit probabilior opposita, quod numquam effectus unus non procedit nisi ab una causa, et hoc est verum de effectu simplici, non de composito ex rebus diversarum naturarum, secus esset in alio, quia tunc quantum ad veritatem ibi sunt diversa entia sicut in Socrate ossa, caro, anima, sanguis etc.; et ideo ibi oportet ponere diversas causas.“ 587 Vgl. ibid., S. 256–257. 588 Vgl. ibid., S. 257. 589 Vgl. ibid., S. 258–259. 590 Ibid., S. 256: „Et ex istis regulis quod una causa non possit habere plures effectus specie diversos, et quod unus effectus non potest produci nisi ab una causa sequuntur …“; vgl. S. 265: „… nunquam

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Die Kausalität als ein „möglicher Seinsbestand“ („entitas possibilis“) wird von ihm durchaus grundsätzlich als ein „Schmuck des Alls“ („ornatum universi“) anerkannt591. Dementsprechend postulierte er, daß das „Erste Agens“ immer nur eine ganz bestimmte Wirkung hervorbringen kann und daß das vermittelnde Wirken von Partialursachen nur für „komplexe Wirkungen“ zutrifft592. Damit synthetisiert er de facto das alte Äquivalenzprinzip der Kausalität mit dem neuen Prinzip der Korrelativität von untereinander verbundenen Partialursachen und Wirkungen im Bereich der irdischen Wirkungszusammenhänge. Zwischen den Extremen einer Verabsolutierung von Kausalität oder aber von Kontingenz positioniert er so ein eigenes komplexes dialektisches Determinismuskonzept, in welchem die Kausalität, die Kontingenz, die Wechselwirkung und die polyfaktorielle Determiniertheit nebeneinander bzw. im Verbund zur Geltung gebracht werden. Eine hinreichende kausale Erklärung von Naturvorgängen implizierte für ihn die komplexe Einbeziehung von Substraten, Faktoren und möglichen Wirkungen, ohne das Eintreten alternativer Wirkungsfolgen auszuschließen. Die so vollzogene Ablösung einer verabsolutierten Wirkkausalität oder Kontingenz durch ein differenziertes Modell der Erklärung der Weltzusammenhänge endete nicht in einem Indeterminismus, sondern in einem dialektischen Ganzheitsdenken, in welchem neben den Vorgaben der aristotelischen Philosophie auch probable andere Erklärungsversuche ihren legitimen Platz hatten. Der Probabilismus als Methode der Diskussion gleichberechtigter alternativer Entwürfe lag den erläuterten Überlegungen des Nikolaus von Autrecourt zu Grunde und beförderte seine dialektischen theoretischen Überlegungen.

John Wyclifs Ansatz eines dialektischen Determinismus John Wyclif (ca. 1330–1384), der bedeutende Oxforder Philosoph und Theologe, hat sich in mehreren Schriften mit dem Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit sowie von Notwendigkeit und Zufall bzw. Kontingenz befaßt. Er ging dabei auch wiederholt auf entsprechende gelehrte Debatten aus seiner Zeit sowie weiter zurückliegende philosophische und theologische Quellen ein. Ein Beispiel dafür ist die von ihm stark beachtete Schrift „De causa Dei adversus Pelagium“ von Thomas Bradwardine (ca. 1300– 1349), in welcher dieser die absolute Souveränität Gottes gegenüber allem Geschehen hervorgehoben hatte. Seinen eigenen Standpunkt explizierte Wyclif in einem dialektiduo possunt habere unum effectum, quod nunquam aliqua virtus agit infra se nec supra se, quod una virtus non potest habere nisi unum effectum …“ 591 Vgl. ibid., S. 255: „Item, sicut arguebatur supra, omnis entitas possibilis, cujus positio esset conveniens et ad ornatum universi, est; sed illa est quaedam entitas possibilis, scilicet causa directe correspondens effectui …“ 592 Ibid., S. 259: „Ex dictis habemus quod non omnia producta a primo agente neque sicut a producente totali quia solum illius est sic unus effectus adaequans suam naturam in produci, neque sit causa partiali quia tales causae partiales non habent locum nisi in effectu complexo ex multis sicut visum est supra.“

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schen Argumentationsverfahren der Entgegensetzung, Kritik und schließlichen Entscheidung alternativer Positionen und Antwortmöglichkeiten. Ihm kam es dabei positiv auf die Kohärenz von zwei prinzipiellen, sich scheinbar einander ausschließenden philosophisch-theologischen Thesen an: der These von der uneingeschränkten Allmacht Gottes und der These von der Existenz von Kontingenz, Freiheit und Zufall in der Welt. In einem absoluten Determinismus und in einem voluntaristischen Indeterminismus sah er solche Ansätze, welche jene Kohärenz gerade verletzten bzw. ausschlossen. Das Fundament seines eigenen Konzepts bildet der Grundsatz der Gleichwertigkeit und Gleichgewichtigkeit von Notwendigkeit und Kontingenz für alle zukünftigen Ereignisse. So heißt es in seinem Traktat „De volucione Dei“ an einer Stelle: „Die Beweisführung ist klar einsichtig und die Schlußfolgerung ist einzuräumen, daß alles Zukünftige nämlich notwendig ist, weil ein Seliger alles in dem Wort erschaut. Doch nicht in einer solchen Weise ist alles notwendig, daß es nicht kontingent hinsichtlich zweier alternativer Möglichkeiten ist, wie im Fall einer beliebigen Wahrheit über Vergangenes und im Fall des zu beliebiger Zeit Existenten.“593 Denselben Gedanken führte er auch in seinem berühmten „Tractatus de universalibus“ aus594. Einschränkend fügte er hinzu, daß das „Zusammenbestehen“ von Kontingenz und Notwendigkeit ausschließlich für die sogenannte „bedingte Notwendigkeit“ („conditionata necessitas“) gegeben ist, welche zwischen einer erfüllten kontingenten Bedingung überzeitlicher Art und einem akzidentiell temporären Sachverhalt besteht. Denn in diesem Fall sei keine absolute Notwendigkeit gegeben, welche alternative Möglichkeiten ausschließt. Und ironisch bemerkt er, daß ein Logiker nicht erröten müsse, wenn er zuläßt, daß das Kontingentste ein Notwendiges ist595. Diese differenzierende Gleichstellung von „bedingter Notwendigkeit“ und Kontingenz führt Wyclif auf Gott als der „Quelle der ersten Notwendigkeit und der ersten Kontingenz“ zurück, da es in der geschöpflichen Welt Notwendiges und Kontin593

Johannes Wyclif, De ente libri secundi tractatus tercius, ed. M. H. Dziewicki, p. 185: „Et plena est deduccio ac conlusio concedenda, cum omne futurum sit necessarium esse, ex quo beatus videt omnia illa in verbo: non tamen sunt sic necessaria, quin sint contingencia ad utrumlibet, sicut et quelibet veritas de preterito, et existencia cuilibet tempore.“ 594 John Wyclif. Tractatus de universalibus, ed. by Ivan J. Mueller, cap. 14, p. 346: „Sed facile est respondere ad ista, concedendo quod omnia futura necessario – necessitate ex suppositione – sunt futura, quae tamen contingentissime sunt futura.“ 595 John Wyclif, Tractatus de universalibus, cap. 14, p. 334: „Et patet, detecta aequivocatione necessitatis, quomodo cum summa contingentia stat conditionata necessitas. Non autem intelligo necessitatem pure conditionatam quae non ponit alterum extremorum qualis est ista: si tu es asinus, tu es rudibilis, quia illa est veritas connexionis absolute necessaria, sed ‹intelligo› veritatem contingentem aeternam, inferentem veritatem temporaliter accidentem sic quod veritas connexionis est absolute necessaria, sed veritas antecedentis causantis est contingens. Et illam vocant doctores et Aristoteles in II Physicorum, commento ultimo, necessitatem ex suppositione. Et patet quod logicus non debet erubescere concedendo quod contingentissimum est necessarium. Nec sequitur: Si data veritas sit necessaria, tunc non potest non esse, sed hoc solum sequitur de necessario absolute, nec refert si veritas potest esse vel non esse aut potuit vel poterit in futurum.“

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gentes immer nur als von Gott Verursachtes oder aber frei Gewolltes geben könne596. Damit rückt Gott in die Position eines Einheitsgrundes von Notwendigkeit und Kontingenz. Eine autonome innerweltliche Dialektik von Notwendigkeit und Kontingenz wird damit ausgeschlossen. Das theozentrische Weltbild Wyclifs stand dem entgegen. Er kennzeichnete es aber auch in einer seiner frühen Schriften über die Logik als einen schweren Fehler, aus dem Vorherwissen, aus der Prädisposition und Bestimmung des Zukünftigen durch Gott auf eine absolute Notwendigkeit alles Zukünftigen zu schließen597. Insofern bleiben sowohl ein absoluter innerweltlicher Determinismus als auch ein pantheistischer Determinismus für Wyclif unannehmbare Denkmöglichkeiten. Ihm kommt es auf die Relativität des jeweiligen Beziehungsrahmens an. So läßt er zwar eine allgemeine Bedingtheit alles Zukünftigen durch Gott in Form des sowohl Notwendigen als auch Kontingenten zu und schließt dabei den Zufall in Bezug auf Gott aus, betont aber zugleich, daß in Bezug auf die sogenannte „zweite Ursache“ auch Zufall und Freiheit gelten und in Bezug auf diese „zweite Ursache“ auch eine Kompatibilität von „bedingter Notwendigkeit“ und „Kontingenz“ gegeben sei598. So ergibt sich ein zweistufiger komplexer dialektischer Determinismus. In Gott selbst läßt Wyclif Freiheit und Notwendigkeit in Einheit bestehen: dort würden der höchste Grad an Freiheit und der höchste Grad an Notwendigkeit koexistieren. Allgemein gelte, daß sich Freiheit und Notwendigkeit wechselseitig auf der jeweiligen Stufe ihres Daseins bedingen599. Die Korrespondenz und Relativität bzw. Einheit von „Notwendigkeit“ und „Kontingenz“ bzw. „Notwendigkeit“ und „Freiheit“ wird von Wyclif im Ergebnis eines begrifflichen Differenzierungsprozesses dieser Termini behauptet. Nur in Gott gelten diese Bestimmungen in ihrer absoluten Einheit und Gleichwertigkeit. Weiter abwärts in der Hierarchie der Ursachen und Gründe koexistieren die „bedingte Notwendigkeit“ und die Kon596

Ibid., p. 335: „Et patet ulterius quod fons primae necessitatis et primae contingentis est in Deo, nam nihil creatum est necessarium nisi de quanto ipse necessitat ipsum ad esse, nec aliqua creatura potest contingenter esse vel non esse ad utrumlibet nisi de quanto Deus potest aeque velle ipsum libere vel non velle.“ 597 Johannes Wyclif, Tractatus de logica, ed. by M. H. Dziewicki, Vol. III, tractatus tercius, cap. 10, p. 181: „Error enim huius logice facit multos errare in materia de necessitate futurorum. Putant enim aliqui quod omne futurum est absolute necessarium, forte propter prescientiam, preordinacionem vel determinacionem dei. Sed hoc non sequitur …“ 598 Ibid., p. 181: „Ideo necessitas ex supposicione non excludit contingenciam ad utrumlibet; et per consequens non tollit libertatem arbitrii nec casum vel fortunam quo ad causam secundam, sed quo ad deum. Et sic errando putamus ex magna ignorancia quod futura sunt indeterminata.“ 599 Johannes Wyclif, De ente libri secundi tractatus tercius, p. 134: „Nec repugnat libertas et necessitas in eodem, set, ut patebit posterius, libertas et necessitas, ex equo proporcionaliter se invicem consequuntur: sic quod summus gradus necessitatis, tam in absolutis quam respectivis, correspondet summo gradui libertatis, et ita de gradibus proporcionaliter ut sunt vera; ut sicut deus est summe necessarius, sic est proporcionaliter summe liber, et spiritus sanctus liberime producitur et causatur, et tamen absolute necessario. Ideo, ut dictum est superius, non est repugnancia necessitatis et libertatis, et pari evidencia non est repugnancia necessitatis antecedentis et libertatis causate.“

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tingenz im Sinne einer Wahlmöglichkeit bzw. Wahlfreiheit der Menschen und im Sinne einer Existenzmöglichkeit von Zufall und Geschick (fortuna). Sie koexistieren dadurch, daß sie auf Ursachen zurückgehen, welche weder mit „absoluter Notwendigkeit“, „äußerem Zwang“ noch „natürlicher Notwendigkeit“ wirken. Denn damit würde moralisch verdienstliches Handeln unmöglich. Dieses aber ist genauso wie Ratschluß, Zufall und Geschick notwendig, wie Wyclif hervorhebt. Es würde dem „ewigen Gesetz“ widersprechen, gäbe es solcherlei nicht600. Die Kontingenz in der Sphäre der „vernunftbegabten Kreatur“ äußert sich darin, daß diese Kreatur viele Wirkungen entweder eintreten lassen oder verhindern kann. Und der Mensch trage auch verantwortlich dazu bei, daß „ewige Wünsche“ in Gott unerfüllt bleiben oder aber umgekehrt601. Genauso, wie Wyclif zwischen unterschiedlichen Formen von „Notwendigkeit“ unterschied, differenzierte er die „Kontingenzen“. Neben der auf dem göttlichen oder dem menschlichen Willensentscheid beruhenden Kontingenz gab es für ihn „Kontingentes im größeren Teil“ („contingens in maiori“), das heißt die gelegentliche Abweichung einer natürlichen Ursache-Wirkungs-Folge von ihrem regelhaften Resultat. Außerdem kannte er „Kontingentes im geringeren Teil“ („contingens in minori“), das heißt das Eintreten einer unbeabsichtigten Wirkung in einem „außernatürlichen“ Zusammenhang. Alle diese Kontingenzen stehen sich aber nicht konträr, sondern nur relativ gegenüber, wie er hervorhebt602. Das Verhältnis von Notwendigkeit und Kontingenz bleibt damit also nicht nur auf die Willenshandlungen beschränkt. Und auch dem souveränen Gott ist bei aller maximalen Freiheit und Kontingenz seines Tuns einiges notwendig unmöglich: Gott könne weder das Schlechte tun, noch könne er ein Vakuum erzeugen oder eine Substanz vernichten, stellt Wyclif fest603. Gleichwohl räumte er in einer anderen Schrift 600

Johannes Wyclif, Tractatus de logica, tractatus tercius, cap. 10, p. 194/195: „Si ergo esset absolute necessarium omnia futura evenire, vel necessitate coactionis, vel tertio necessitate naturali excludente libertatem, periret meritum. Modo est necessariuum meritum, consiliacionem, casum et fortunam esse: ymo potenciam a domino esse cuiuslibet creature; et hoc est de lege que potest esse ordinata: ‚talia possunt contingere‘; lege tamen ordinate, que est eterna et incorruptibilis, repugnat talia non esse.“ 601 John Wyclif, Tractatus de universalibus, cap. 14, p. 343: „Hic videtur mihi posse dici quod multi effectus sunt in libera potestate contradictionis rationalis creaturae sic quod potest facere ipsos fore et potest facere quod non erunt, quia aliter tolleretur meritum atque demeritum. Et sic est in potestate hominis facere de quotlibet volutionibus aeternis in Deo quod nulla earum erit et sic de nonvolutionibus et econtra.“ 602 Johannes Wyclif, Tractatus de logica, ed. by M. H. Dziewicki, Vol. II, tractatus tercius, cap. 8 p. 189: „Contingens in maiori est effectus habens causam ex quo naturaliter sequitur. Contingit tamen casualiter causam illam poni, et effectum illam non sequi. Contingens in minori est effectus preternaturaliter sequens ex causa illud non intendente. Ex quo patet quod dicta contingenter non oppununtur contrarie, sed relative.“ 603 Johannes Wyclif, De ente primo in communi, ed. S. Harrison Thomson, tractatus secundus, p. 112: „Et ex istis patet cum aliis necessariis quod deus nescit male facere, causare vacuum vel adnichilare substanciam.“

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mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein, daß es eine andere Welt und eine andere Zeit als die bestehende geben könne604. Damit wird jede weitergehende Restriktion der göttlichen Handlungsfreiheit als im zuvor beschriebenen Zusammenhang von ihm negiert. So zeigt er auch hier seine Neigung zur dialektischen Probabilität und Alternativität. Wyclif hatte auch seine zentrale These von der Gleichzeitigkeit und -wertigkeit von Notwendigkeit und Kontingenz hinsichtlich des Zukünftigen direkt als eine „probable Meinung“ gekennzeichnet, welche aus dem ausführlichen Versuch der Harmonisierung dissonanter theoretischer Positionen entstanden sei605. Diese Feststellung zeigt noch einmal deutlich die dialektische Intention seiner breit angelegten Reflexion zu dieser Problematik.

Dialektik als Logik der Wahrscheinlichkeit Auch im späten Mittelalter setzte sich die Diskussion um die Aristotelische „Topik“ fort. In ihrem Kontext gab es Diskussionen um die unterschiedlichen Formen des logischen Schließens und die Anwendung unterschiedlicher Untersuchungs- und Forschungsmethoden in den Wissenschaften. Für die entsprechenden Debatten im Rahmen der Wissenschaftsmethodologie und der Naturphilosophie waren z.B. einige Überlegungen von Johannes Buridan und Wilhelm von Ockham maßgeblich, die später in der Strömung der „via moderna“ einen überragenden Einfluß erlangten. Sie thematisierten in unterschiedlichen Schriften das dialektische Untersuchungs-, Argumentations- und Schlußverfahren bzw. führten anhand bestimmter Themen ein solches Verfahren direkt durch. BURIDAN diskutierte z.B. in einer Quaestio seines „Topik“-Kommentars über die Stellung und die Struktur einer „argumentatio dialectica“. Eine solche Form des Schließens liege dann vor, stellt Buridan fest, wenn die conclusio nicht notwendig aus den Prämissen folge und die conclusio keine einfache evidente Erkenntnis bewirke, sondern eine „akzeptable einleuchtende Ansicht“ („persuasio probabilis“) bzw. eine „Meinung“ („opinio“) 606. Speziell die Induktion, das Paradigma und das Enthymem kennzeichnet 604

John Wyclif, Tractatus de universalibus, cap. 14, p. 351: „… dicens nunc ad primam confirmationem quod si foret alius mundus vel mundus qui non est iste vel pars sui, tunc foret tempus quod non est istud vel pars sui, cuius possibilitas videtur probabilis.“ 605 Ibid., cap. 14, p. 352: „Convenio autem in ista materia cum omni philosopho opinionis probabilis ponens simul necessitatem et contingentiam omnium futurorum sic quod nemo loquitur laxius de contingenti vel necessario, et per distinctionem concordo sententias quae videntur verbaliter esse contrariae …“ 606 Vgl. Johannes Buridanus, In Topica Aristotelis, lib. I, qu. 16, S. 372: „Unde sciendum quod li ‚argumentatio‘ vel dicitur solum de his quae de necessitate inferunt conclusionem, vel dicitur de his quae de necessitate inferunt conclusionem et cum hoc faciunt notitiam perfectam et evidentem simpliciter de conclusione, vel de his quae licet non de necessitate inferunt conclusionem nec faciunt notitiam evidentem simpliciter de conclusione, sed bene persuasionem probabilem et opinionem. Isto ultimo modo capiendo argumentationem argumentatio dialectica dicitur argumentatio.“

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Buridan als vollkommene dialektische Schlußformen607. Sie generieren Meinungen und Überzeugungen. Damit werden topische Argumentationen als gültige Schlußfolgerungen angesehen und dementsprechend aufgewertet, so daß der Syllogismus nicht mehr die Monopolstellung einer allein gültigen Schlußform behielt. Für WILHELM VON OCKHAM stellt der sogenannte „syllogismus topicus“ eine besondere Art von Schlußfolgerung dar, welche wahre und notwendige Schlüsse liefert, die jenseits von strenger formallogischer Konsequenz, sophistischer Argumentation, empirischer Evidenz oder religiöser Glaubensgewißtheit im Bereich der sogenannten „natürlichen Vernunft“ („ratio naturalis“) ihre Gültigkeit besitzen. Als Träger dieser „natürlichen Vernunft“ gelten ihm die „Weltweisen“608. Indem er den dialektischen Wahrscheinlichkeitsschluß im Sinn von Aristoteles’ „Topik“ (Buch I, Kap. 1) zum speziellen Gut der „Weltweisheit“ erklärt und neben dem Attribut der Wahrheit auch das der Notwendigkeit für diese Schlußform vergibt, erklärt er de facto den verallgemeinerbaren nicht-formalen Wahrscheinlichkeitsschluß zum speziellen Gut der angewandten Philosophie und Wissenschaft. Auf dieser Basis konnten z.B. im Rahmen der Naturphilosophie neben der Erkenntnis aus sinnlicher Evidenz, Autoritätsbeweisen und formallogischer Analyse und Beweisführung auch probabilistische Untersuchungs- und Schlußverfahren Eingang finden. Denn mit den Attributen der „Notwendigkeit“ und „Wahrheit“ waren zwei der wichtigsten Bedingungen wissenschaftlicher Argumentation im aristotelischen Sinn erfüllt. Ein gutes Beispiel dafür liefert ein Abschnitt aus Ockhams naturphilosophischen Reflexionen. Für die Widerlegung der These von der Existenz der Bewegung als einer gesonderten Entität neben den sich bewegenden Dingen in Zeit und Raum und die Ersetzung dieser These durch die entgegengesetzte (d.h. die These von der Existenz von Bewegung als raum-zeitliche Funktion von Gegenstandsexistenz ohne gesonderte Daseinsweise neben den Gegenständen) bedient sich Ockham einer topischen Argumenta607

Ibid., S. 372: „… licet inductio, exemplum et enthymema non sunt perfectae argumentationes, tamen sunt bene perfectae argumentationes dialecticae.“ 608 Guillelmus de Ockham, Summa logicae, (= Opera philosophica, Vol. 1), pars III, cap. 1, p. 359: „Syllogismus topicus est syllogismus ex probabilibus. Et sunt ‚probabilia quae videntur vel omnibus vel pluribus vel sapientibus, et de his quae videntur vel omnibus vel pluribus vel maxime sapientibus‘. Et est ista descriptio sic intelligenda quod probabilia sunt illa, quae cum sint vera et necessaria, non tamen per se nota, nec ex per se notis syllogizabilia, nec etiam per experientiam evidenter nota, nec ex talibus sequentia; tamen propter sui veritatem videntur esse vera omnibus vel pluribus etc., ut sic brevis descriptio sit ista: pobabilia sunt necessaria, nec principia nec conclusiones demonstrationis, quae propter sui veritatem videntur omnibus vel pluribus etc. Per primam particulam excluduntur omnia contingentia vel omnia falsa; per secundam omnia principia et conclusiones demonstrationis; per tertiam excluduntur quaedam necessaria, quae tamen omnibus apparent falsa vel pluribus etc. Et sic articuli fidei nec sunt principia demonstrationis nec conclusiones, nec sunt probabiles, quia omnibus vel pluribus vel maxime sapientibus apparent falsi. Et hoc accipiendo sapientes pro sapientibus mundi et praecise innitentibus ratione naturali, quia illo modo accipitur ‚sapiens‘ in descriptione probabilis.“

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tion (d.h. des Einsatzes einer allgemeinanerkannten Maxime für die Überführung von einer der möglichen Problemlösungen in eine argumentativ erschlossene „wahrscheinliche“ Meinung). Der Nachweis des „wahrscheinlichen“, d.h. probablen bzw. allgemein akzeptablen, Ergebnisses erfolgt nach dem Schema einer Pro-und-ContraArgumentation, in welche die topische Argumentation eingelagert ist. Ockham will aber nicht die formale Gleich-Gültigkeit der unterschiedlichen Lösungsansätze für die Bestimmung des Wesens von Bewegung nachweisen, sondern durchaus die Wahrheit und die Notwendigkeit des von ihm präferierten Ansatzes im Sinne eines Wahrscheinlichkeitsschlusses einer „probatio“. Er stellt ausdrücklich fest, daß von den zwei am intensivsten diskutierten Meinungen über die richtige Bestimmung des Wesens von „Bewegung“ lediglich eine von beiden auch die „wahre Meinung“ („opinio vera“) ist609. Der Nachweis nun für diese von ihm unterstützte „wahre Meinung“ erfolgt durch einen Rekurs auf eine berühmte, auf Aristoteles zurückgehende topische Maxime, daß „sich umsonst vollzieht, was durch eine Mehrzahl zustande kommt, aber durch weniger erfolgen kann,“ d.h. also das „Ökonomieprinzip“610. Damit wird die Annahme einer gesonderten Entität „Bewegung“ neben den konkreten Gegenständen der Wirklichkeit als eine überflüssige These durch die entgegengesetzte Annahme ersetzt. Zuvor wurde die Inkonsistenz jener ontologischen These aufgeweisen. Die genannte topische Maxime tritt in der weiteren Argumentationsführung Ockhams als ein positiver Leitgedanke in das Zentrum der Beweisführung. Durch die Auflösung von Einwänden und Gegenargumenten zur präferierten „wahren Meinung“ wird abschließend die genügende Tragfähigkeit, d.h. „Probabilität“, dieser Meinung festgehalten611. Damit hat Ockham die indirekte Notwendigkeit (durch Aufweis der Überflüssigkeit des Gegenteils), die indirekte Wahrheit (durch Nachweis der inneren Widerspüchlichkeit der gegenteiligen Meinung und die Plausibilität der präferierten Meinung) sowie die Verallgemeinerbarkeit (durch repräsentative Fallbeispiele) seines Diskussionsresultats einer ontischen Unabtrennbarkeit von „Bewegung“ von den sich bewegenden Dingen nachgeweisen. Berücksichtigt man die von ihm zuvor angestellten Distinktionen des Begriffes „scientia“ („Wissen“ oder „Wissenschaft“), dann kann diese dialektischtopische erbrachte Lösung des Problems der Wesensbestimmung von „Bewegung“ nicht nur als „wahre Meinung“, sondern als „Wissen“ eingestuft werden. Denn im Prolog zu seiner Erklärung von Aristoteles’ „Physik“ gilt ihm in allgemeinster Hinsicht auch „eine mit Gewißheit ausgestattete Erkenntnis eines Wahren“ als „Wissen“, auch wenn die 609

Guillelmus de Ockham, Expositio in libros Physicorum Aristotelis, (= Opera philosophica, Vol. IV), lib. III, cap. 2, § 7, p. 436: „ … Commentator … intendit ibi duas opiniones de motu, quarum una, scilicet famosa, est falsa et alia opinio est vera.“ 610 Vgl. ibid., lib. III, cap. 2, § 6, p. 432: „Quia frustra fit per plura quod potest fieri per pauciora …“; vgl. Aristoteles, Physik, I, 4, 188a17–18: „Es ist besser, eine kleinere und bestimmt begrenzte Mannigfaltigkeit anzusetzen …“ 611 Guillelmus de Ockham, loc. cit., §8, p. 439–449.

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Evidenz fehlt612. Insofern führt jene Ockhamsche Argumentation für eine probable Bestimmung des Wesens von „Bewegung“ de facto zu einer Kongruenz von „wahrer Meinung“ und „Wissen“. Darin besteht auch, allgemein gesagt, der dialektische Gehalt jener topisch-dialektischen Methode: sie zeigt die Möglichkeit zum argumentativen Nachweis der Übereinstimmung von „wahrer Meinung“ und „Wissen“ vermittels einer topischen Maxime. Sie verwandelt eine subjektive alternative Antwortmöglichkeit in eine argumentativ bewährte Überzeugung, ohne die Evidenz dieser Überzeugung zu behaupten. Somit kann eine probable Beweisführung als konstitutiver Bestandteil von Naturphilosophie angesehen werden. Die topische Maxime des „Ökonomieprinzips“ erweist sich im Rahmen der Ockhamschen Naturphilosophie und in der späteren nominalistischen „via moderna“ als dialektisches Vermittlungsglied zwischen Meinung und Wissen bzw. zwischen Inhalt und Methode. Dieses auf die Erzeugung annehmbarer Meinungen gerichtete topische Verfahren sahen viele andere Philosophen im späten Mittelalter generell als eine unverzichtbare Methode in der Naturforschung an. Aber auch für die Theologie, die Medizin und die Ethik war man von der Unverzichtbarkeit dialektischer Wahrscheinlichkeitsschlüsse als eines heuristischen Instrumentariums für eine näherungsweise Erkenntnisgewinnung überzeugt. Besonders von den Anhängern der Philosophen Johannes Buridan und Wilhelm von Ockham sind entsprechende Überlegungen angestellt worden. Im Rahmen der Methodologie gab es auch theoretische Reflexionen zum allgemeinen Stellenwert der „probatio“, d.h. des dialektischen Wahrscheinlichkeitsschlusses, im Gesamtsystem der Argumentations- und Schlußformen613. Daraus ging die Strömung des Probabilismus hervor, welche die Bildung alternativer Meinungen als Annäherung an ein vollkommenes Wissen verstand bzw. probable Meinungen als angenähertes Wissen benutzte. „Wissen“, „Wahrheit“ und „Erkennen“ waren damit nicht mehr exklusiv durch deduktiv-axiomatische Beweisverfahren oder evidente Beobachtungsergbnisse erreichbar. Vielmehr trat die topisch-dialektische Argumentation als legitime Ergänzung neben sie. Die Tendenz zur Öffnung und zur Alternativität im naturphilosophischen und im wissenschaftstheoretischen Diskurs schlug sich seit dem 14. Jahrhundert auch zunehmend in der Methode des Gedankenexperiments nieder. Mittels eines solchen Verfahrens wurden Aussagen abgeleitet, die am Rande der aristotelischen Modellvorstellungen lagen oder über diese bewußt hinausgingen, indem sie danach fragten, was außerhalb des „normalen Laufs der Natur“ theoretisch denkbar und annehmbar war. Zugleich wurden sie bewußt auf ihre logische Widerspruchsfreiheit geprüft und als fiktive Vorstellung („imaginatio“), Mutmaßung oder Wahrscheinlichkeitsannahme für den natur612

Ibid., prologus, p. 5: „… sciendum quod ‚scientia‘ multipliciter accipitur. Et sunt variae distinctiones scientiae, etiam non subordinatae. Una est quod scientia uno modo est certa notitia alicuius veri …“ 613 Vgl. M. Markowski, Dialektische und rhetorische Argumentation an der Krakauer Universität im 15. Jahrhundert, S. 577–587.

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philosophischen Diskurs zugelassen. Neben das im Rahmen der aristotelischen Philosophie zugelassene real Mögliche, das auch immer ein realisierbares Noch-NichtWirkliches war, trat so eine rein gedankliche Möglichkeit, deren Realisierbarkeit in diesem Rahmen von sehr geringer Wahrscheinlichkeit war bzw. völlig unbestimmt oder sogar ausgeschlossen bleiben mußte. In diesen Rahmen gehörten Hypothesen über die Körperbewegung im Vakuum, über unendlich große Geschwindigkeiten, über die Bewegung der Erde, über die Vielheit von Welten, über den Vorgang der Wechselwirkung zwischen qualitativ disparaten Körpern usw. Nicole Oresme bediente sich neben anderen Vertretern der Buridan-Schule dieses Denkmodus besonders intensiv. Er war der originellste Geist unter den Buridanisten. An seinem Vorgehen erscheint besonders bemerkenswert, daß er zur Erörterung derartiger Problemfälle nicht nur den Eingriff einer externen übernatürlichen Kraft in der Gestalt Gottes beanspruchte, sondern auf die interne Plausibilität seiner hypothetischen Annahmen und Schlußfolgerungen setzte, um sie als Argumente für die Problemlösung zuzulassen, ohne sie für die einzig mögliche Lösung auszugeben. Die einzige Bedingung für deren Akzeptanz war die logische Widerspruchsfreiheit. Einer der Hintergründe für die Öffnung des theoretischen Diskurses für die Erörterung hypothetischer Fallbeispiele war durchaus nicht interner, naturphilosophischer Art. Denn seit dem 13. Jahrhundert insistierten die Theologen gegenüber den aristotelisch beeinflußten Naturphilosophen auf der Beachtung der Rolle der „absoluten Macht Gottes“ („potentia Dei absoluta“), welche nicht an die Bedingungen und Möglichkeiten der aristotelischen Philosophie gebunden sein sollte. Diese Mahnung tangierte direkt das Verhältnis zwischen dem Erkenntnisanspruch der Naturphilosophie und dem Absolutheitsanspruch der Glaubenslehren. Dementsprechend waren unterschiedliche Reaktionen der scholastischen Naturphilosophen dazu denkbar und auch faktisch aufgetreten: entweder eine bewußte Abgrenzung von rationaler Naturbetrachtung und theologischem Diskurs hinsichtlich der Themen und Thesen sowie zulässigen Schlußfolgerungen in der Naturphilosophie oder aber die Verwischung dieser Grenzen und die Übernahme der „absoluten Macht Gottes“ als Argumentationsgrundlage für die Erörterung hypothetischer Fallbeispiele in der Naturphilosophie selbst oder schließlich die bewußte Erweiterung des logisch-methodologischen Arsenals der Naturphilosophie um das Verfahren hypothetischen Schlußfolgerns aus bloßen Gedankenkonstrukten614. Alle diese Möglichkeiten haben die Buridanisten im späten Mittelalter genutzt. Doch auch im internen methodologischen Diskurs haben die Naturphilosophen die Spezifik der Naturphilosophie gegenüber anderen Teilgebieten des Philosophierens untersucht. So kam es in methodologischer Hinsicht tendentiell zu einer bewußten Akzeptanz eines Methodenpluralismus und zu einer Überwindung der starren Bindung an das Schema 614

Vgl. dazu H. Hugonnard-Roche, L’hypothetique et la nature dans la physique parisienne du XIVe siècle, S. 161–177; J. Sarnowsky, God’s absolute power, thought experiments, and the concept of nature in the „new physics“ of the XIVth century Paris, S. 179–201; S. Caroti, Ein Kapitel der mittelalterlichen Diskussion über reactio: das novum fundamentum Nicole Oresmes und dessen Widerlegung durch Marsilius von Inghen, S. 145–161.

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des streng beweisenden (demonstrativen) Syllogismus. Der polnische Buridanist JOHANNES VON SLUPCZE (1408–1488) zählte z.B. zu den zulässigen Annahmen in einem naturphilosophischen Diskurs sowohl selbstevidente Thesen, als auch empirisch ermittelte Fakten, aus diesen Fakten mit Evidenz oder bestimmter Wahrscheinlichkeit abgeleitete Folgerungen bzw. solche Annahmen, welche gegenüber ihrem Gegenteil als die wahrscheinlicheren erschienen615. Ähnliche Äußerungen lassen sich auch von anderen Autoren dieser Zeit anführen. Die Einheit der Naturphilosophie wurde auf diese Weise nicht mehr nur durch eine bestimmte Definition ihres Gegenstandes oder die Bindung an ein bestimmtes Textcorpus, sondern durch die spezifische Vielfalt von Methoden des Erkennens ermittelt. Auch dieser Gedanke der Einheit der Wissenschaft in der spezifischen Vielfalt ihrer Methoden kann als ein wichtiges Resultat des dialektischen Denkens jener Zeit angesehen werden. Die aristotelische Wahrscheinlichkeitslogik, die internen methodologischen Debatten der Naturphilosophen selbst, das kritischer werdende Verhältnis zur Philosophie des Aristoteles im späten Mittelalter und nicht zuletzt die Schärfung des Profils naturphilosophischen Denkens gegenüber der Theologie, der Metaphysik und der formalen Logik haben dazu beigetragen. Der spätmittelalterliche Methodendiskurs, in welchem die Dialektik als eine Logik der Wahrscheinlichkeit eine zunehmend gewichtige Rolle gerade in ihren konkreten Anwendungsgebieten findet, wurde nicht nur von den Vertretern der „via moderna“, sondern auch von denen der „via antiqua“ gepflegt. Ein Beispiel dafür ist der Kommentar des JOHANNES VERSOR (gest. nach 1482) zur Aristotelischen „Topik“. Die Schriften dieses Aristoteleskommentators waren weit verbreitet. Die Dialektik wird von ihm analog zur Logik in eine systematische Lehre („dialectica docens“) von den Gründen und Ursachen des „dialektischen Syllogismus“ einerseits und andererseits in eine angewandte Dialektik („dialectica utens“) im Sinne der angewandten Methodik des dialektischsyllogistischen Schließens aus bestimmten Wahrscheinlichkeitsannahmen bzw. allgemeinen topischen Gesichtspunkten in allen möglichen Sachgebieten unterteilt616. Zunächst sieht Versor die Dialektik in der Einleitung zu seinem Kommentar zur „Ars vetus“ neben der Rhetorik, der Poetik, der Analytik, der Sophistik und der tentativen Argumentation auf Grund ihrer besonderen Argumentationsweise („modus ratiocinandi“) als einen besonderen Bestandteil der „philosophia rationalis“ an. Zugleich unterscheidet er die unter diesem Titel vereinigten sprachphilosophischen Disziplinen wieder insgesamt von der „philosophia realis et contemplativa“, d.h. also von der das außergedankliche und außersprachliche Sein betrachtenden Philosophie617. Damit behält er die Trennung der Dialektik von der Metaphysik, der Rhetorik, der Analytik 615

Ioannes de Slupcza, Quaestiones super quatuor libros de coelo et mundo Aristotelis, zit. nach: M. Markowski, Burydanizm w Polsce w okresie przedkopernikanskim, S. 221–222: „Naturalis nihil habet ponere nisi quod est vel per se notum, per sensum et experienciam vel quod est ex hiis evidenter vel probabiliter deducibile vel quod quod forte est probabilius quam suum oppositum.“ 616 Johannes Versor, Quaestiones super libros Topicorum, lib. I, qu. 1, fol. i4ra. 617 Vgl. Johannes Versor, Quaestiones super totam veterem artem, fol. 3r.

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und der Sophistik bei, wie sie für das aristotelische Dialektik-Verständnis charakteristisch war. Die klare Eingliederung der Dialektik in die Philosophie war allerdings eine durchaus nicht von allen Aristotelikern geteilte Entscheidung. Die Unterscheidung in einen systematischen und einen angewandten methodologischen Teil der Dialektik wiederum folgt einer längeren Tradition im mittelalterlichen Aristotelismus. Gleiches gilt für die These, daß es topische Geltungsgründe und verallgemeinerbare Wahrscheinlichkeitsnnahmen seien, welche den Ausgangspunkt einer spezifisch dialektischen Argumentationsweise bilden. Mit Aristoteles hebt Versor den Nutzen dialektischen Vorgehens in der Philosophie unter anderem auf Grund des Verfahrens des methodischen Zweifels hervor: denn das Abwägen alternativer Lösungen von Problemen würde den Intellekt in den Stand versetzen, die Wahrheit zu sehen und ein Wissen zu erlangen618. Auch für ihn schließen sich alternative Lösungsvarianten einer dialektischen Aufgabenstellung und das Streben nach Wissen in einem entsprechenden Diskurs nicht aus: denn dies treffe gerade essentiell auf die Problemstellungen in der Naturkunde („probleumata naturalia“) zu, wie er zur Erläuterung der entsprechenden Ausführungen von Aristoteles feststellt619. Allerdings bleibt hier offen, ob er unter den „naturkundlichen Problemen“ nur die Kuriositäten aus der Naturbeobachtung mit ihrer komplizierten Erklärbarkeit meint, oder ganz generell alle Naturbetrachtung, d.h. auch die der aristotelischen „Physik“ und Kosmologie hier einbezieht. Hinsichtlich der langen scholastischen Diskussion über die epistemische Qualität des Resultats eines dialektischen Problemlösungsverfahrens bietet Versor hingegen eine klare Kompromißlösung an: das unmittelbar erzeugte Resultat eines solchen Verfahrens bestehe in einer „Meinung“, die Intention eines Dialektikers und damit das übergeordnete Ziel eines solchen Verfahrens bestehe aber im „Wissen“620. Zwischen einer trennenden Gegenüberstellung von „Meinung“ (im Sinn einer unsicheren Position, welche ihr Gegenteil nicht völlig ausschließen kann) und „Wissen“ (im Sinn einer 618

Johannes Versor, Quaestiones super libros Topicorum, lib. I, qu. 3, concl. 2, fol. i6ra: „… quia per dyaleticam possumus dubitare ad utramque partem contradictionis, et similiter speculari quid verum quid falsum, et iste est modus conveniens ad adquirendum scientiam, quia dubitatio de utraque parte contradictionis disponit intellectum ad videntum veritatem unius partis eius“ (vgl. Aristoteles, Topik, I.2, 101a 33–35. 619 Ibid., lib. I, qu. 9, concl. 1, fol. k4rb: „Predicta diffinitio probleumatis [ scil ‚probleuma est speculatio contendens ad electionem vel fugam, ad veritatem vel scientiam‘] est sufficiens. Probatur conclusio: quia sufficienter explicat naturam diffiniti, unde ibi ponitur ‚speculatio‘ loco generis et dicitur ‚contendens‘, id est simul tendens ad utranque partem contradictionis vel ‚ad electionem vel fugam‘ propter probleumata moralia, et ita capitur hic ‚contendens‘, ut idem est quod ‚simul tendens et non certans‘, quia sic pertinet ad sophistiam. Et dicitur ‚ad veritatem et scientiam‘ propter probleumata naturalia …“ (vgl. Aristoteles, Topik, I.11, 104b 1–2). 620 Ibid., lib. I, qu. 9, ad rat. 2, fol. k4va–b: „Ad secundam dicitur, quod licet probleuma dialecticum ordinetur ad opinionem tanquam ad finem immediatum, tamen ordinatur ad scienciam tanquam ad ultimum finem, quem dyaleticus primo intendit. Et ita dyaleticus primo intendens scienciam per prius generat opinionem.“

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Gewißheitsposition)621 und ihrer de facto Gleichstellung nimmt er also eine Mittelposition ein. Ähnlich abwägend äußert er sich auch zum Nutzen eines dialektischen Diskurses im Vergleich mit dem der „scientia demonstrativa“ (d.h. der mit streng notwendigen Schlüssen operierenden Wissenschaft): einerseits liefere eine „scientia demonstrativa“ zwar unmittelbar ein erstrebtes Wissen, die dialektische Verfahrensweise hingegen nicht direkt, sondern nur dispositiv; aber dafür könne die Dialektik sowohl im Vortragen alternativer Gegenargumente, als auch durch ihren Beitrag zur Prinzipienforschung und zum schlußfolgernden Denken in den Wissenschaften, rein quantitativ gesehen, einen größeren Nutzen als die streng notwendig schlußfolgernden Wissenschaften erbringen622. Damit baut Versor, symbolisch gesehen, innerhalb des Aristotelismus mit an einem festen Brückenschlag zwischen dem traditionellen Wissenschaftskonzept einer durch syllogistische Ableitungen streng beweisenden und über ihre Prinzipien nicht reflektierenden, weil dieser gewissen Wissenschaft und einer mit Wahrscheinlichkeitsschlüssen, alternativen Lösungsmöglichkeiten und Reflexionen über die Ausgangsprinzipien operierenden dialektischen „Meinungsbildung“. Der größere „quantitative“ Nutzen der Dialektik liegt für Versor ganz offenbar in den vielfältigeren methodischen Funktionen, welche sie gegenüber der „demonstrativen Wissenschaft“ hat. Die Nutzenfunktionen und die epistemischen Qualitäten beider erkenntnisvermittelnder Verfahren ergänzen einander und widersprechen sich höchstens partiell. Hinsichtlich der möglichen Gegenstände einer dialektischen Argumentation, d.h. der zur Diskussion stehenden Fragestellungen und Behauptungen, welche nach Aristoteles „entweder allen oder den meisten oder den Klugen … einleuchtend sind“ („Topik“, I.10, 104a 9–10), reflektiert Versor den zentralen Begriff des „Einleuchtenden bzw. Akzeptablen bzw. Wahrscheinlichen“ (endoxon; probabile). Er bestimmt den begrifflichen Inhalt dieses Ausdrucks mit dem In-Erscheinung-Treten von Wahrheit in Verbindung mit Zweifeln und Ungewißheit. Es ist eine konkrete Einheit aus Teilwissen und teilweiser Unwissenheit, welche für ihn die dialektischen Fragestellungen und Behauptungen konstituieren623. Damit wird das „Wahrscheinliche“, aus welchem ein dialekti621

Vgl. Johannes Versor, Quaestiones de Sophisticis elenchis, lib. I, qu. 3, fol. q. 2va–b: „… habitus firmus, scilicet scientia …, vel habitus infirmus cum formidine de opposito, scilicet opinio …“ 622 Johannes Versor, Quaestiones super libros Topicorum, lib. I, qu. 3, fol. i6ra: „Ad dubium respondetur quod scientia demonstrativa simpliciter est utilior, quia valet immediate ad acquirendum scientiam que est immediate finis ipsius demonstrationis. Et dyaletica valet ad acquirendum opinionem que utilitatem et bonitatem accipit inquantum est quedam dispositio valens ad scientiam perfectam. Tamen quantum ad hoc quod est obviare cuilibet propositioni communiter arguendo ad utranque partem contradictionis et quantum ad hoc quod est valere tam ad principia quam ad conclusiones scientiarum dyaletica potest dici utilior extensive.“ 623 Ibid., lib. I, qu. 8, concl. 1, fol. k3va: „… Ex quo sequitur quod solum ille propositiones sunt dyaletice que sunt probabiles, hoc est que habent apparentiam veritatis cum aliqua dubitatione et partim ignorantur. Omne enim dubitabile partim cognoscitur et partim ignoratur, quia de illo quod totaliter

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sches Argumentieren seinen Anfang nimmt, zu einem „Problematischen bzw. Problematisierbaren“. Und darunter versteht er wieder eine oberste Gattung von „dialektischen Fragestellungen bzw. Behauptungen“ („propositiones dyaletice“) im genannten Sinn624. Der spezifische Gegenstand eines dialektischen Diskurses sind für ihn also problematische Behauptungs- bzw. Fragesätze, welche in einer Diskursgemeinschaft allgemeine Geltung besitzen. Der sprachphilosophische Ansatz im DialektikVerständnis Versors wird anhand der näheren Bestimmung solcherart sprachlicher Äußerungen deutlich. Dazu zählen für ihn – entsprechend den Vorgaben des Aristoteles („Topik“, I.10) – dreierlei Gattungen: 1. die unmittelbar einleuchtenden, weil mit „offenkundiger Wahrheit“ („apparentia veritatis“) versehenen Behauptungen ( wie z.B. die Behauptung „Eine jede Mutter liebt ihren Sohn“). 2. Die auf Grund von Analogieschlüssen gefundenen Annahmen (z.B. „Wenn man den Freunden Gutes tun soll, dann soll man den Feinden Böses tun“). 3. Die auf Grund einer besonderen Autorität eines Fachexperten geltenden Annahmen (z.B. die in der Geometrie oder der Medizin allgemein geltenden Aussagen). – Für Versor entsprechen diesen Gattungen von „dialektischen Behauptungen“, d.h. den in einem dialektischen Diskurs möglichen Eingangssätzen, jeweils bestimmte kollektive Kommunikationssubjekte als Meinungsbildner, wie sie in der Aristotelischen Alternative zwischen „entweder allen oder den meisten oder den Klugen“ näher gekennzeichnet sind625. Die unmittelbar einleuchtenden Wahrscheinlichkeitsannahmen können demzufolge von allen Menschen, die auf Analogieschlüssen beruhenden Wahrscheinlichkeitsannahmen von den meisten und die Expertenmeinungen nur von den „Klugen“ zum Ausgangspunkt einer dialektischen Argumentation gemacht werden. Die Dialektik als Wahrscheinlichkeitslogik wird in Versors Interpretation von Aristoteles’ Darlegungen damit zu einer in sich differenzierten Weise des Argumentierens aus Wahrscheinlichkeitsannahmen unterschiedlichen Allgemeinheits- und Gewißheitsgrades je nach dem Kreis der Beteiligten. Versor vertritt darüber hinaus die Ansicht, daß allen Menschen zwar eine gewisse natürliche Veranlagung zu einem vernünftigen Diskurs eigen ist, welche als „natürliche Logik“ („logica naturalis“) bezeichnet wird und auch ohne spezielle „dialektische“ Bildung als ein elementares „Vermögen des Diskurses“ („virtus discurrendi“) vorhanden ist. Die „Dialektik“ nun, wie er sie versteht, sei aber dasjenige erlernbare und erwerbbare Instrument, was erst die Perfektion im Argumentieren im Rahmen einer Wissenschaft erreicognoscitur non fit dubitatio neque de illo quod totaliter ignoratur, quia qui nihil scit de nullo dubitat.“ 624 Ibid., lib. I, qu. 8, dub. 2, fol. k3vb–k4ra: „Ad dubium respondetur breviter quod in ipsa [diffinitione propositionis dyaletice: ‚ propositio dyaletica est interrogatio probabilis prout omnibus aut pluribus aut sapientibus …‘] ponitur ‚probabilis‘ in obliquo, scilicet in genitivo casu non in recto, nam ibi ponuntur ille partes ‚omnibus aut pluribus‘, ut ostendatur divisio probabilis ad cognoscendum per hoc diversa genera propositionum dyaleticarum, ut ostensum est.“ 625 Vgl. ibid., lib. I, qu. 8, dub. 1, fol. k3vb: „… Et ad comprehendendum istos modos propositionum probabilium ponuntur partes diffinitionis probabilis in diffinitione propositionis dyaletice.“

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chen lasse626. Sie kann damit nicht als eine spontan zur Verfügung stehende Befähigung zur Argumentation gelten, sondern muß in erster Linie als eine gewisse erlernbare argumentative Kompetenz mit wissenschaftlicher Zielstellung innerhalb bestimmter sprachlicher Gemeinschaften mit konsensfähigen Ansichten angesehen werden. Damit positioniert er die Dialektik als eine angewandte Methodik des Argumentierens zwischen einem spontanen logischen Diskurs und dem fertig ausgebildeten strengen Beweisverfahren in einer Wissenschaft. In einer resumierenden Betrachtung über das Wesen von Dialektik gibt Versor gegen Ende seines Kommentars zur „Topik“ eine differenzierte Auskunft. Die Dialektik kann als eine Art von Wissenschaft im Sinn einer theoretischen Betrachtung über einen spezifischen Gegenstand, dessen Prinzipien und dessen Merkmale angesehen werden. Insofern ist sie die Wissenschaft vom „dialektischen Syllogismus“ als ihrem spezifischen Gegenstand, wie sie Aristoteles im 1. Buch der „Topik“ ausführt. Als eine „Kunst“ („ars“), d.h. als ein lehr- und lernbares Verfahren zur Lösung gestellter Aufgaben, kann unter „Dialektik“ zweierlei verstanden werden: 1. eine topische Findungsmethodik, welche die „Örter“ der dialektischen Argumentationen und auch die Lösungen von Problemstellungen ermitteln soll; 2. eine Methodik der Diskussion und Disputation zu bestimmten in Frage gestellten Behauptungen zwischen einem Fragenden und einem Antwortenden. – Die topische Findungsmethodik, wie sie von Aristoteles in den Büchern 2 bis 7 seiner „Topik“ ausgebreitet wird, ist für Versor der spezifische Teil der Dialektik als einer „Kunst“, welcher besonders der Philosophie von Nutzen sei. Er sieht auch einen inneren Zusammenhang zwischen den beiden Hauptfunktionen der Dialektik als „Kunst“: denn zunächst seien die „Örter“ zu finden, dann mittels dieser die Argumente zu befestigen, um daran anschließend diese Argumente in einen Disput mit Diskurspartnern zu bringen, wozu bestimmte Formen des Fragestellens behilflich seien627. 626

Ibid., lib. I, qu. 3, ad rat. 1, fol. i6rb: „… dicitur, quod a natura inest nobis quedam virtus discurrendi per quam possumus rationcinari sine dyletica artificiosa, que potest dici logica naturalis, id est inclinatio naturalis ad ea que per logicam acquiruntur. Tamen ad hoc quod aliquis debeat perfecte arguere et perfecte exercitari in aliqua scientia oportet ipsum habere dyaleticam.“ 627 Ibid., lib. VIII, qu. 1, fol. p1rb–p1va: „Sciendum est primo, quod dyaletica posset accipi per modum scientie, ut considerat syllogismum dyaleticum tanquam subiectum, cuius principia queruntur in dyaletica ista et passiones. Accipitur etiam ut ars, inquantum ordinatur ad probleumata terminanda per modum scientie, ita de syllogismo dyaletico determinatum est in primo, ubi arguebatur de partibus integralibus propinquis et remotis, et de partibus subiectivis. Et ita ibidem determinatum est de eo quantum ad eius substratum. Prout autem accipitur ut ars, consideratur dupliciter: aut prout est inquisitiva, ut dictum est, ut ipsa utilis est ad secundum philosophiam disciplinas. Et ita determinatum est de ipsa in sex libris intermediis; aut consideratur ut est obviativa et exercitativa. et hic de ea sic traditur in isto, videlicet de aliis duabus utilitatibus, scilicet de exercitatione et obviatione. Vel aliter potest sic continuari: quia in dyaletica est locos invenire, et per locos argumenta confirmare, et argumenta inventa contra alios dirigere, et ad hoc confert ordinatio et modus interrogandi; et hoc oportet frequenter facere et exercitare. Prout ergo docet invenire est dyaletica aut in se, et dicitur inquisitiva, et inventiva, et probleumatum terminativa. Prout autem docet ad alterum

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Die Dialektik wird von Versor ihrem Kern nach also als eine Methodik des Untersuchens, Argumentierens und Disputierens mittels bestimmter philosophischer „Örter“ angesehen. Indem er strikt zwischen den „rhetorischen Örtern“ und den „dialektischen Örtern“ unterscheidet (erstere richteten sich auf das konkrete Handeln von Menschen, letztere auf das Wahrscheinlichmachen von Meinungen durch Argumentation)628, und indem er die paradigmatische Funktion der Schlußformen des Syllogismus und der Induktion in der Dialektik gegenüber der paradigmatischen Funktion von Enthymem und Exemplum in der Rhetorik betont, läßt er den Standort des konservativen Aristotelikers sowohl gegenüber dem Konzept von Dialektik und Rhetorik bei Boëthius als auch bei den „Modernen“ unter den Scholastikern und den Anhängern eines humanistischen Dialektik-Konzepts erkennen. Einen Kompromiß deutet er aber an, wenn er die spezifischen Schlußformen des Rhetors in denen eines Dialektikers enthalten sein läßt629. Bemerkenswert an diesen Überlegungen ist Versors fast selbstverständliche Einordnung der Dialektik als Methodik in den theoretischen philosophischen Diskurs. Und dabei legte er offenbar nicht den Akzent auf Elenktik, Antithetik, Aporetik oder das Verfahren der Quaestionen, sondern auf die Topik. Als Fähigkeit, sich über die allgemeinen Geltungsgründe der vorgebrachten Argumentationen zu vergewissern und das wahrscheinlich Wahre zu finden, nicht aber isoliert als eine antithetische Technik war ihm die Dialektik wertvoll. Hinsichtlich der Disputationsmethodik und des genannten Hauptziels der Dialektik sah er ein Mittel-Zweck-Verhältnis als gegeben an630. Auch hier erreichte er im Meinungsbild seiner Zeit eine Art vermittelnder Position zwischen den bedingungslosen Anhängern einer zum Selbstzweck gewordenen Disputationstechnik auf der einen und den scharfen Kritikern dieses Vorgehens vor allem unter den Humanisten auf der anderen Seite. Die Dialektik als Wahrscheinlichkeitslogik konnte für Versor in einer Disputation immer nur aus annehmbaren hin zu problematisierbaren Meinungen führen, und dafür inventa ordinare est aliquid ad alterum, et dicitur obviativa et magis recipit propositiones quam probleumata …“ 628 Ibid., lib. I, qu. 1, fol. i4rb–i4va: „Loci enum rhetorici applicantur ad actus particulares et operationes hominum, ut puta ad persuadendum de aliquo sive particulari; ideo rhetores ut in pluribus utuntur enthimemate et exemplo. Sed loci dyaletici applicantur ad argumentum probabiliter de quolibet proposito et ad generandum opinionem. Ideo dyaletici ut in pluribus utuntur syllogismo et inductione.“ 629 Ibid., lib. I, qu. 10, ad rat. 2, fol. k5rb: „Ad secundam dicitur, quod Boetius cum sua dyaletica tradidit rethoricam, ideo enumerat species argumentationis, que rhetori conveniunt, scilicet enthymema et exemplum, et etiam illas que dyaletico conveniunt, scilicet syllogismum et inductionem. Sed Aristoteles facit dyaleticam distinctam a rhetorica; ideo solum enumerat species argumentationis, que conveniunt dyaletico, sub quibus etiam alie due continentur, licet parum faciunt ad propositum, ut enthimema sub syllogismo continetur, et exemplum sub inductione.“ 630 Ibid., lib. VIII, qu. 6, ad rat. 2, fol. p8va: „Ad secundam dicitur, quod dyaletica est inventiva veri probabilis, sed talis inventio est finis inquisitionis, qualis inquisitio per exercitium promovetur. Et istud spectat ad disputationem dyaleticam …“

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brauchten die „annehmbaren“ Meinungen nicht einmal wahr sein, um akzeptiert werden zu können631. Den besonderen Vorteil von Dialektik sah Versor offenbar nicht in den Disputationen, sondern darin, daß die Dialektik das Reflexionsvermögen und das Problembewußtsein beim Argumentieren und Disputieren aktivierte. Der methodische Zweifel war ihm hier unverzichtbar. Und indem er zwischen dem „Meinen“ und dem „Wissen“ durch den Begriff der „zum Wissen disponierenden Meinung“ eine Brücke schuf, läßt er sein Konzept von „Dialektik“ als Wahrscheinlichkeitslogik mehr sein als eine Anleitung zum Meinungsstreit, nämlich eine Methodik des argumentativen problembezogenen Strebens nach Gewißheit und Wahrheit mit einer wissenschaftlichen Orientierung.

Die phänomenologische Reflexionsdialektik von Petrus Aureoli Der franziskanische Philosoph und Theologe Petrus Aureoli (ca. 1280–1322) konzipierte zu Beginn des 14. Jahrhunderts einen eigenständigen Ansatz in der Erkenntnistheorie. In dem Versuch, die Komplexität des Erkenntnisprozesses und seiner Resultate zu erfassen, gelangte er zu einem phänomenologischen Erklärungsmodell. Dieses Modell diente zum Nachweis der Behauptung, daß alles menschliche Erkennen – gleichgültig, ob es sensitiv oder begrifflich erfolgt – auf der aktiven formativen Kraft der Sinneswahrnehmung und/oder Vorstellungskraft bzw. Vernunft bei der Konstituierung von Erkenntnis beruht632. Wenn die „Seele“ etwas erkenne, dann „verleihe“ sie den Dingen ein „objekthaftes und intentionales Sein“ („esse obiectivum et intentionale“) bzw. ein „erscheinendes Sein“ („esse conspicuum ac apparens“); und in der Selbstreflexion setze sie sich gewissermaßen vor sich selbst. Sie erscheine dann doppelseitig als Setzendes und Gesetztes, meint Aureoli633. Mit diesem Modell reflektiert er das Zusammentreffen von Realwelt 631

Johannes Versor, Quaestiones de Sophisticis elenchis, lib. I, qu. 3, fol. q2va: „Dyaleticus enim est qui ex probabilibus procedit, et nihil prohibet quedam falsa quibusdam veris esse probabiliora, quod eo habet viam ad utranque partem contradictionis, et finis huius disputationis est generare opinionem.“ 632 Petrus Aureoli, Scriptum Super Primum Sententiarum, ed. E. M. Buytaert, Vol. II, dist. III, sect. 14, art. 1, p. 696: „Prima [propositio] quidem quod in actu intellectus de necessitate res intellecta ponitur in quodam esse intentionali conspicuo et apparenti. Non est enim magis formativus sensus interior aut exterior quam sit actus intellectus; sed actus exterioris sensus ponit rem in esse intentionali, ut patet in multis experientis …“ 633 Ibid., dist. III, sect. 14, art. 1, p. 698: „Praeterea, illud quo anima geminatur et ante se constituitur et ponitur conspicua et in suo conspectu, illud inquam videtur dare rebus esse obiectivum et intentionale, et conspicuum ac apperens“; ibid., ebd., dist. III, sect. 14, art. 1, p. 699: „Relinquitur ergo quod intellectus ponat res in conspecto suo et in esse conspicuo ac apparenti obiective“; ibid., dist. V, sect. 17, art. 3, p. 804: „Dictum est enim supra quod anima, seipsam intelligendo, ponit se coram se in esse conspicuo et formato; anima autem ponens et sic posita in nullo distinguitur, nisi in ponere et poni, quod nihil aliud est quam dicere et dici, concipere et concipi, generare et generari“.

DIE PHÄNOMENOLOGISCHE REFLEXIONSDIALEKTIK VON PETRUS AUREOLI

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und um Erkenntnis bemühten Menschen. Das dabei auftretende sogenannte „erscheinende Sein“ ist die Versetzung der Dinge in einen besonderen Modus seitens der Seele. Denn ein Erkenntnisakt sei nichts anderes als ein „formales In-Erscheinung-Treten, wodurch die Dinge objektiv erscheinen“; und dieses „Erscheinen“ geschieht entweder in dem Modus unmittelbarer Gegenwärtigkeit bzw. Aktualität als sogenannter „modus intuitivus“ oder aber lediglich vorstellungsweise im „modus abstractivus“, welch letzterer „Modus“ der Anstrengung der menschlichen Vorstellungskraft zu verdanken ist. Auf diese Weise werden die sogenannte „intuitive Einsicht“ und die „abstraktive Einsicht“ zu besonderen Modi des formalen In-Erscheinung-Tretens634. Wenn zum Beispiel ein Begriff von der Rose gebildet werden soll, dann entsteht im Geist des Erkennenden eine „formale Erscheinung“, aus welcher schließlich eine „objektive Erscheinung“ der Rose dadurch wird, daß der Intellekt einen als „Rose“ gekennzeichneten Gegegenstand unter der entsprechenden „formalen Erscheinung“ betrachtet. In der „objektiven Erscheinung“ des begriffenen Gegegenstandes seien dann die Wirklichkeit und die Erscheinung voneinander ungetrennt. Demzufolge soll also in Aureolis Modell des aktiven Erkennens mit der Hervorbringung eines „erscheinenden Seins“ oder einer „objektiven Erscheinung“ nicht ein weiteres gesondertes Ding neben ein real existentes Ding gesetzt, sondern eine einfache Erscheinung des Dinges selbst bzw. die Einheit aus Wirklichem und Erscheinendem erzeugt werden635. Im und mit dem Erkennen treten die Dinge mit Hilfe des Geistes zum Vorschein, und der Geist betrachtet beim Begreifen der Dinge ihr in Erscheinung getretenes Sein. In dem genannten modalen bzw. „intentionalen Sein“ der betrachteten bzw. erkannten Dinge findet innerhalb dieses Modells also de facto eine Vermittlung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem zu erkennenden Ding statt. Dieses zu erkennende Ding erhält mit dem und durch sein Erkanntwerden den Status eines „objekthaften Seins“. Genau dabei tritt die „formative Kraft“ des Verstandes als des Erkenntnissubjekts in Aktion. Am Beispiel bestimmter Fälle subjektiven Wahrneh634

Petrus Aureoli, Scriptum Super Primum Sententiarum, ed. E. M. Buytaert, Vol. I, prooem., sect. 2, art. 3, p. 205: „Ex praedictis itaque colligitur in quo differunt abstractiva et intuitiva notitia, et quae est ratio utriusque. Sunt namque duo modi apparitionis formalis, cum intellectio non sit aliud quam quaedam formalis apparitio, qua res apparent obiective; sed una apparitione apparent res praesentialiter et actualiter et existenter in rerum natura, sive sit sive non sit; et hoc est intuitio. Alia vero, sive res sit sive non sit, non apparet res praesentialiter et actuative et existenter in rerum natura, sed quasi modo imaginario et absente. Unde magis proprie posset dici ista notitia imaginaria, quam abstractiva …“ 635 Petrus Aureoli, Scriptum …, Vol. II, dist. V, sect. 17, art. 3, p. 799: „Quod patet si accipiatur rosa apparens. Ex apparitione enim formali, quae est in mente actus intelligendi, oritur apparitio obiectiva rosae; qua quidem apparitione nihil fit circa rosam, nisi quod capit esse apparens formaliter per ipsam apparitionem passivam, non autem effective aut principiative; et sic resultat unum productum constitutum ex ipsa passiva productione, quae est apparitio obiectiva, et ex ipsa realitate indistincta ab ipsa apparitione; quod quidem constitutum est rosa simpliciter, quam intellectus intuetur. Unde non producitur aliqua res, sed res et apparitio constituunt unum simplex apparens, quod in esse apparenti productum est passiva apparitione formaliter, non originaliter aut principiative.“

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mens von optischen Erscheinungen (z.B. die optische Brechung von Körpern am Übergang zwischen Luft und Wasser; die Relativbewegung der Umgebung aus der Sicht des sich bewegenden Betrachters; die Erzeugung virtueller Figuren, wie z.B. eines Kreises, durch eine schnelle Achsenrotation eines Stabes; das Entstehen von Farbeindrücken oder von Nachbildern oder Trugbildern usw.) will Aureoli sein Modell bestätigen und verdeutlichen, daß „Erscheinungen“ – gleichgültig, ob sie sinnlicher, imaginativer oder intellektiver Natur sind – weder im Akt des Betrachters noch in einem äußerlichen Medium situiert sind, sondern im Gegenteil ein spezielles „intentionales und erscheinendes Erkanntsein“ besitzen636. Durch das objekthafte „intentionale Sein“ Aureolis können wir uns mit den Dingen bekannt machen und sie selbst bekannt machen. Dies schließt auch deren Erkennen in der Form von „begrifflicher Erkenntnis“ („notitia“) ein. Denn eine „objektive Einsicht“ oder „das in Erscheinung tretende Ding“ sind mit der „begrifflichen Erkenntnis“ identisch, stellt Aureoli fest637. Gerade auch die empirischen Wissenschaften (für Aureoli fallen darunter die Geometrie, Arithmetik, Physik, Medizin, Morallehre, Harmonielehre, Astronomie und die Optik) mit ihrer Kombination aus intellektiver, sinnlicher und/oder imaginativer Erkenntnisweise stellen auf ihre eigene Art den Zugang zum extramentalen Sein durch eine aktive Beziehung des Subjekts auf dieses Sein im Status eines Objekts und in der Weise eines „sich Hinstreckens“ („extensio“) her, erläutert Aureoli; dieser Gruppe von Wissenschaften stellt er die „Sprachwissenschaften“ („scientiae sermocinales“, d.h. Grammatik, Logik und Rhetorik) einerseits und die Metaphysik andererseits auf Grund von deren dazu differenten Erkenntnisweisen gegenüber638. Das sich mit den Dingen in objekthafter Weise Bekanntmachen führt also, systematisch durchgeführt in Gestalt der empirischen Wissenschaften und mittels deren spezifischen „intellektuellen Erkenntnisformen“ („modus se habendi intellectus in cognoscendi“)639, zur Erkenntnis. Allerdings bleibt das menschliche intentionale Erkennen gegenüber dem göttlichen Einsichtsvermögen in jedem Fall zurück und kann nach Au636

Vgl. ibid., dist. III, sect. 14, art. 1, p. 696–698, ibid., p. 698: „Quomodocumque enim sit, constat quod illae apparentiae non sunt actus visionis, nec habent aliquod esse nisi cognitum intentionale et apparens; quod enim aliqui imaginantur quod imagines sint in speculo et apparentiae in medio, sive videantur sive non videantur, hoc utique falsum est. Tunc enim sequeretur quod haberent verum esse et reale.“ 637 Ibid., dist. III, sect. 14, art. 1, p. 700: „Dicendum est enim quod intelligentia obiectiva sive res ut apparens ipsa est notitia …“ 638 Vgl. Petrus Aureoli, Scriptum …, Vol. I, prooem., sect. 5, art. 2, p. 299–301; ibid., p. 300: „Habet autem se aliquando intellectus non reflexive ad actus proprios et conceptus, sed extensive ad obiecta et ea quae sunt extra; quae quidem extensio potest esse ad tria, quia vel ad ea, quae attingit mediante sensu interiori, qui est imaginatio; vel ad ea, quae attingit mediante sensu exteriori, qui sunt visus et auditus quam maxime quia illi sunt inter alios sensus principium et causa disciplinae, ut patet in ‚De sensu et sensatu‘ et I ‚Metaphysicae‘; vel ad ea quae attingit et perpendit, mediante utroque simul.“ 639 Vgl. ibid., prooem., sect. 5, art. 2, p. 299.

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reoli nur eine „unvollkommene Vorstellung“ („imago diminuta“) erreichen640. Er konfrontiert auf relativierende Weise aber nicht nur menschliches und göttliches Erkennen miteinander, sondern auch das wahrheitsgemäße und das irrige Erfassen von Gegenständen. Denn in einem „wahrheitsgemäßen Sehen“ der Dinge sei im Unterschied zum irrenden Wahrnehmen der Aspekt einer „Übereinstimmung mit der Sache“ impliziert, hebt er hervor641. In dem „wahrheitsgemäßen Sehen“ stimmten Ding und „erscheinendes Sein“ ununterscheidbar überein642. Die Wahrheit, welche Aureoli als „objektive Erscheinung“ („apparentia obiectiva“) bestimmt, sei immer die Zielbestimmung der Vernunft; dieses Ziel sei durch richtiges Vorgehen erreichbar, kann aber auch durch Täuschung und Irrtum verfehlt werden643. Konsequenterweise sieht er in der „direkten Gegenstandserkenntnis“ ein Absolutum644 und hebt mit Aristoteles in der Erfahrung die Grundlage und den Ausgangspunkt aller Wissenschaft hervor, indem er diese höher als die „logischen Überlegungen“ bewertet645. In diesem phänomenologischen Erkenntnismodell wird trotz der empiristischen Akzente durchaus kein naiver Realismus gelehrt. Die Diskussion der Sinnestäuschungen an mehreren Stellen von Aureolis Werk und die Unterscheidung zwischen wahrheitsgemäßem und irrendem Erfassen der Dinge und eben gerade auch die Betonung der formativen Kraft des menschlichen Erkenntnisvermögens thematisieren die Komplexität des Subjekt-Objekt-Verhältnisses im Erkennen. Weder eine reine Rezeptivität, noch ein reiner Selbstbezug charakterisieren die Rolle dieses Subjekts. Und in der Subjekt-Objekt-Einheit der „direkten Gegenstandserkenntnis“ als Evidenzform bleibt auch die Differenz von erkennendem Subjekt und extramen640

Petrus Aureoli, Scriptum …, Vol II, dist. III, sect. 14, art. 1, p. 701: „Et si in anima nostra duo supposita emanerent realiter, sicut in divinis, esset imago completa. Nunc autem quia emanant intentionaliter est imago diminuta.“ 641 Petrus Aureoli, Scriptum …, Vol. I, prooem., sect. 2, art. 3, p. 200: „Ergo ipsae eaedem [scil. falsae visiones et errores] possunt esse verae, vel saltem sunt eiusdem speciei cum veris; et per consequens realitas visionis non exigit realem praesentiam obiecti existentis, quamvis exigat eam veritas visionis, pro eo quod veritas addit super realitatem visionis respectum conformitatis ad rem.“ 642 Petrus Aureoli, Scriptum …, Vol. II, dist. III, sect. 14, art. 1, p. 698: „… non distinguitur imago seu res in esse apparenti ab esse reali, quia simul coincidunt in vera visione …“ 643 Ibid., dist. II, sect. 10, art. 4, p. 549: „His ergo praemissis, patet quod intellectus semper terminatur vel ad veritatem si sit actus rectus, nec erroneus; vel ad falsitatem si sit actus deceptorius, cum semper terminetur ad rem positam in esse apparenti. Et ex hoc potest intenta positio declarari. Illud enim est obiectum intellectus terminative ad quod aspectus intellectus non erronei terminatur, sed terminatur ad rei apparentiam obiectivam, quae quidem veritas est, ut supra extitit declaratum. Ergo veritas est obiectum intellectus quoad actum non deceptorium, falsitas autem quoad erroneum.“ 644 Petrus Aureoli, Scriptum …, Vol. I, prooem., sect. 2, art. 3, p. 201: „Sed visio intellectiva et sensitiva et universaliter omnis intuitiva notitia est aliquid absolutum, fundans respectum ad rem intuitive cognitam …“ 645 Ibid., prooem., sect. 2, art. 3, p. 198: „Prima siquidem via experientiae, cui adhaerendum est potius quam quibuscumque logicis rationibus, cum ex experientia habeat ortum scientia, et communes acceptationes quae sunt principia artis inde sumantur, secundum Philosophum I ‚Metaphysicae‘. Unde signum est sermonum verorum convenientia cum rebus sensatis …“

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taler „Sache“ bestehen. Insofern versucht dieses Modell der „intentionalen Objektivität“ die Einheit und die Differenz der entscheidenden Komponenten des Erkenntnisprozesses zusammenzudenken. Es versucht die Gewißheit des Erkennens mit den Gründen seiner Relativität zu konfrontieren. Darin besteht seine kritische dialektische Intention. Gleichwohl kann Aureolis Wahrheitstheorie, welche „Wahrheit“ weder den isoliert genommenen extramentalen Dingen noch den Denk- und Wahrnehmungsakten als solchen zuschreibt, sondern der zwischen beiden vermittelnden „objektiven Erscheinung“ als einer Verhältnisbestimmung, nicht restlos überzeugen. Eine Diskussion und Begründung des Wahrheitskriteriums unterbleibt. Die Relativität von Bewußtseinszuständen hinsichtlich ihres Erkenntniswerts ist ein weiteres Thema Aureolis. Er macht deutlich, daß etwa ein „dialektisches“ Problematisieren von Behauptungen genauso wie das Vertreten von alternativen Meinungen oder wie das Eingeständnis eigenen Zweifels über die Gewißheit gemachter Annahmen kein Wissen darstellen können. Indessen räumt er ein, daß durch einen Abbau von Zweifel und Unsicherheit und durch die Bekräftigung einer „probablen Behauptung“ bzw. „Meinung“ ein Qualitätssprung zum echten, gesicherten Wissen möglich ist646. Insofern räumt er zwar keine direkte Verwandtschaft von „probabler Meinung“ und „gesichertem Wissen“ ein, läßt aber indirekt durch einen Abbau an Ungewißheit einen prozessualen Übergang zwischen dem einen zum anderen Bewußtseinszustand gelten. In diesem Zusammenhang versteht er die „Dialektik“ als eine Methode problembezogener Argumentation bzw. Disputation, welche zwar zu Behauptungen führt, aber grundsätzlich mit einer inneren Unsicherheit behaftet bleibt647. In einer „probablen Meinung“ sieht Aureoli einen „Mischakt“ bzw. eine „Mischform“, in welcher sich der positive Zuspruch und der innere Zweifel zusammengetan haben648. Inhaltlich wird somit von ihm eine Vermittlungsdialektik des Erkenntnisprozesses auf dem Hintergrund einander entgegengesetzter aber vermittelbarer Bewußtseinszustände intendiert. Das Aristotelische Dialektik- und Wissen(schaft)skonzept kommt darin deutlich zum Ausdruck. Der Status der Logik im Rahmen wissenschaftlicher Erkenntnis ist der einer allgemeinen „Beimischung“, wie er festhält649. Auch hieraus geht der komplexe und differenzierende dia646

Ibid., prooem., sect. 1, art. 3, p. 160–163. Ibid., prooem., sect. 1, art. 3, p. 162: „Praeterea, syllogismus dialecticus causat opinionem, ut patet I ‚Topicorum‘; sed syllogismus dialecticus semper sumit propositiones cum formidine; sumit namque eas interrogando utramque partem contradictionis vel explicite, vel implicite, ut Philosophus docet I ‚Priorum‘; et propter hoc propositio dialectica ‚interrogatio‘ dicitur; propter hoc etiam respondens potest sumere quam partem vult, ut apparet ibidem. Ergo habitus, qui ex talibus generatur, habet formidinem.“ 648 Ibid., prooem., sect. 1, art. 3, p. 162–163, ibid., p. 163: „… sicut tepidum est gradus imperfectus caloris et quasi medius inter calorem et frigus, sic opinio facit adhaesionem imperfectam et quasi mediam inter adhaerere et non adhaerere, et hoc appelatur formido“; ibid., p. 163: „… formidare et adhaerere non sunt actus oppositi, nec duo, sed unus actus mixtus et medius, ut superius dicebatur.“ 649 Ibid., prooem., sect. 1, art. 1, resp. ad obiect., p. 174: „… et idcirco logica cuilibet scientiae admiscetur.“ 647

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lektische Ansatz in Aureolis Erkenntnistheorie hervor. Durch unterschiedliche Vermittlungen (zwischen dem Erkenntnissubjekt und dem Bezugsgegenstand, zwischen „Meinen“ und „Wissen“ und zwischen sinnlicher Anschauung und rationalem Diskurs) erfolgt eine schrittweise Annäherung an die Erkenntnis der Wahrheit. Petrus Aureoli dehnte seine dialektischen Reflexionen auch auf den Status des extramentalen Seins aus. Bei der Erkenntnis dieses Seins sei grundsätzlich eine Relativität bezüglich des Erkenntnismodus zu beachten: denn entweder könne man dieses Sein unter dem Aspekt des „Wesens“ („essentia“) oder der „Existenz“ („esse“) betrachten. Beide Aspekte stellen keine voneinander real getrennten oder abtrennbaren Attribute eines Dinges, sondern unterschiedliche Reflexionsbestimmungen ein und derselben Wirklichkeit dar, welche miteinander korrelieren. Denn unter dem Aspekt einer bewegungslosen Ruhe bzw. eines Möglichkeitsmodus und der Zeitlosigkeit betrachtet, erkenne man das „Wesen“ einer Sache; hingegen unter dem Aspekt des Wandels, der Tätigkeit, der Zeitlichkeit und des prozessualen Werdens betrachtet, erkenne man die „Existenz“ einer Sache im Sinne ihres unverminderten Daseins650. Das „Wesen“ und die „Existenz“ werden von Aureoli wie „bewegungslose Form“ („forma quieta“) und „Tätigsein“ („actio“) aufeinander bezogen651. Für ihn sind „Potenz“ und „Akt“ ausdrücklich zwei Reflexionsformen des Intellekts hinsichtlich ein und derselben Sache, nicht aber zwei voneinander getrennte extramentale Gegenstände, Beziehungen oder Wesenscharakteristika652. Die Begriffspaare Wesen und Existenz, Möglichkeit und Wirklichkeit bzw. Sein und prozessuales Werden stellen dementsprechend für Aureoli miteinander korrelierende Gegenteile mit identischem Gegenstandsbezug dar, bzw. koinzidieren wie im Fall von „Existenz“ und „prozessualem Werden“. In einem weiteren Schritt verdeutlicht Aureoli die Beziehungen zwischen „Notwendigkeit“ und „Möglichkeit“ bzw. „Kontingenz“, insoweit alles geschöpfliche Sein unter diesem Doppelaspekt aufgefaßt werden kann. Mit „Notwendigkeit“ wird die notwendige Verknüpfung von „Wesen“ und „Sein“, mit „Möglichkeit“ hingegen eine kontingente Verknüpfung beider durch den Intellekt reflektiert. Dieser reflektorischen Differenz 650

Petrus Aureoli, Scriptum …, Vol. II, dist. VIII, sect. 21, art. 3, p. 916: „Est enim completa differentia inter conceptum essentiae et entis, qui duo conceptus eiusdem rei et sub eadem ratione, modi tamen concipiendi differunt in duobus vel tribus. Primo quidem quia conceptus essentiae est quiescentis et otiantis ab omni operari. Conceptus autem esse est conceptus rei per modum operationis et fluxus, quasi illa res sit quaedam operatio. Secundo vero quia conceptus essentiae abstrahit ab omni tempore et duratione, nec diversificatur secundum tempora, cum ipsum non includat. Conceptus autem esse est semper cum aliquo tempore, vel praesenti ut cum mens dicit quod res est, vel praeterito vel futuro ut cum dicit quod fuit vel erit. Tertio quoque quia conceptus essentiae non veridicat rem, excludendo ab ea omnem modum diminutum, propter quod essentia est in potentia et in intellectu. Conceptus autem esse veridicat ipsam rem, excludendo ab ea potentialitatem et omnem diminutionem.“ 651 Ibid., dist. VIII, sect. 21, art. 4, resp. ad obiecta, p. 929: „Ad primum quidem quod esse et essentia non differunt sicut abstractum et concretum, sed sicut actio et forma quieta.“ 652 Ibid., dist. VIII, sect. 21, art. 4, resp. ad obiecta, p. 928: „Est ergo ibi potentia et actus secundum duos modos concipiendi eandem rem, ut dictum est saepe.“

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entspricht die ontische Differenz von göttlicher Unwandelbarkeit bzw. dem NotwendigSein Gottes und der Wandelbarkeit alles Geschöpflichen, wie Aureoli festhält653. Es ist für Aureoli ausdrücklich der sich formativ auf Gegegenstände beziehende Intellekt und nicht ein ontisches Substrat, von dem dieser Befund der Wandelbarkeit und Kontingenz alles außergöttlichen Seins (und damit seiner Indifferenz gegenüber „Sein“ und „NichtSein“) oder die Differenzierung zwischen göttlicher „Notwendigkeit“ und kreatürlicher „Möglichkeit“ primär ausgeht654. Hinsichtlich der kreatürlichen Wirklichkeit gesteht er die Möglichkeit verallgemeinender Aussagen mit dem Notwendigkeits-Status zwar zu, betont aber die allgemeine Regel graduell abgestufter Veränderlichkeit und damit Nicht-Notwendigkeit (d.h. Kontingenz) sowohl der jeweiligen partikulären Erkenntnisobjekte als auch der auf sie gerichteten Erkenntnisakte655. An die Stelle einer objektivistischen extramentalen Dialektik von „Wesen“ und „Sein“ bzw. von „Notwendigkeit“ und „Möglichkeit“, wie sie Ibn Sina entwickelt hatte, setzt Aureoli die These von der rein konzeptuellen Dialektik dieser Reflexionsbestimmungen. In der extramentalen Wirklichkeit kann für ihn deshalb unabhängig vom reflektorischen Intellekt keine eigene Kontingenz bzw. „Möglichkeit“ (im Sinne der dialektischen Einheit von Sein und Nicht-Sein) postuliert werden656. Damit schließt er sowohl eine eigenständige Dialektik in der sich wandelnden Naturwirklichkeit als auch eine verabsolutierende Entgegensetzung von „Wesen“ und „Existenz“ bzw. von „Notwendigkeit“ und „Kontingenz“ bzw. von „Wirklichkeit“ und „Möglichkeit“ in der kreatürlichen Welt aus, da es sich hier für ihn um miteinander korrelierende Reflexionsbestimmungen handelt. Wenn er also das 653

Vgl. ibid., dist. VIII, sect. 22, art. 4, p. 960. Ibid., dist. VIII, sect. 22, art. 4, p. 960: „Ergo omnis talis res est contingens. Et si dicatur quod talis contingentia non est realis sed in intellectu, nec talis potentia est in re; dicendum ad hoc quod nec necessitas nec possibilitas rei simplicis potest poni aliter in re simplici, nisi quatenus possunt de ea formari duo conceptus ut dictum est supra“; ibid., p. 963: „Universaliter vero cuncta sunt mutabilia quantum ad esse primum, non ratione alicuius substrati, sed quia intellectus potest concipere omnem creatam rem ut non exeuntem in suam realitatem; qui quidem exitus appellatur esse. Unde potest concipi indifferens ad esse et non esse, et per consequens possibilis et contingens et commutabilis; et ita solus Deus incommutabilis est …“ 655 Vgl. ibid., dist. VIII, sect. 22, art. 4, p. 963: „Sunt autem quaedam intellectiones quae immutabiles esse non possunt, puta intueri praesentia et nosse contingentia et particularia. Ista enim mutabilia sunt sicut obiecta. Unde in omni intellectu saltem est mutatio secundum ista, excepto illo qui est intelligere omnium rerum subsistens. Sic igitur patet quod corruptiblia sunt in primo gradu et maximo commutabilitatis; corpora vero caelestia in secundo, et alia abstracta in tertio.“ 656 Ibid., dist. VIII, sect. 22, art. 4, resp. ad obiecta, p. 964–965: „Probant enim ambo quod in re non sit potentia ad esse et non esse; nec tamen propter hoc probatur quin res ipsa mutabilis sit, eo modo quo loquimur hic de mutabilitate opposita incommutabilitati divinae. Non est enim incommutabilitas in Deo, ratione connexionis realis existentis inter esse et essentiam realiter distincta, sed ratione connexionis quae est inter illa duo, distincta secundum modum intelligendi. Per oppositum ergo in creatura est mutabilitas propter connexionem contingentem et mutabilem, quam reperit intellectus inter conceptum essentiae et esse.“ 654

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„Wesen“ und die „Existenz“ als korrelative Reflexionsbestimmungen einerseits in ihrer wechselseitigen notwendigen Synthese bei Gott und andererseits in ihrer kontingenten Synthese bei den Geschöpfen betrachtet, so sind das für ihn genauso wie im Fall des Begriffspaares „Ruhe“ und „Bewegung“ keine internen Seinskomponenten, sondern ausschließlich komplementäre begriffliche Reflexionsformen657. Diese Beobachtungen lassen sich in dem Eindruck zusammenfassen, daß Aureoli sowohl in der Erkenntnistheorie als auch in der Ontologie eine phänomenologische Reflexionsdialektik angewandt hat. Diese synthetisiert in origineller und spezifischer Weise eine eigene Subjekt-Objekt-Dialektik des Erkenntnisprozesses mit den Grundsätzen des aristotelischen Dialektikkonzepts und den Prinzipien der christlichen Theologie. Sie unterscheidet sich sowohl von einem rein objektivistischen dialektischen Denkmodell als auch von einem rein begriffsdialektischen Ansatz. Indem Aureoli sich ausgiebig der Methode der kontroversen Problemdiskussion („Quaestio“) bedient, wendet er die dialektische Standardmethode der damaligen Philosophie und Theologie an.

Dialektische Elemente in der praktischen Philosophie Im Rahmen der praktischen Philosophie haben bedeutende mittelalterliche Philosophen bestimmte Elemente dialektischen Denkens in methodischer wie theoretischer Hinsicht eingearbeitet. Dies soll anhand einiger ausgewählter Beispiele gezeigt werden. So wurde der Gedanke der Kontingenz als Ausdruck der simultanen Gleichberechtigung und -gültigkeit von sich wechselseitig ausschließenden Möglichkeiten von WILHELM VON OCKHAM in seinem politischen Schrifttum anhand des Naturrechts expliziert. In seinem „Dialogus“ geht er zunächst von einer begrifflichen Unterscheidung des Terminus „Naturrecht“ in drei unterschiedliche Bedeutungen aus. Neben das absolut gültige und unwandelbare Normensystem der „natürlichen Vernunft“ und des Dekalogs (= 1. Bedeutung von „Naturrecht“) setzt er das Naturrecht als „natürliche Billigkeit“ (= 2. Bedeutung von „Naturrecht“) und ferner das „bedingte Naturrecht“ (= 3. Bedeutung von „Naturrecht“)658. Die beiden zuletzt genannten Bedeutungen von „Naturrecht“ implizieren für Ockham im Gegensatz zur ersten Bedeutung eine bestimmte Wandelbarkeit und Bedingtheit der Gültigkeit von Rechtsnormen in Abhängigkeit von Zeit und Raum ihrer Gültigkeit. Das bedeutet in beiden Fällen eine Kontingenz des als „Naturrecht“ auftretenden Normensystems, insofern es legitim jeweils durch sein Gegenteil ersetzt werden 657

Ibid., dist. VIII, sect. 24, art. 3, p. 1050: „Primo quidem quantum ad hoc quod dicitur [scil. quod sunt composita omnia subsistentia] ex esse et essentia, sive potentia et actu. Probatum est enim supra quod non distinguuntur realiter. Et adhuc potest patere ex hoc quod nulla res intrinsece componitur ex fluxu et quiete. Sed esse concipitur in quodam fluxu; quod apparet ex duratione, sine qua ‚esse‘ concipi non potest. Ergo nulla res componitur ex esse. Alias omnes res essent quidditative fluentes …“. 658 Wilhelm von Ockham, Dialogus, ausgew. u. übers. v. J. Miethke, III Dialogus, II iii, c.6, S. 179– 180. (vgl. die Ausgabe der entsprechenden revidierten lateinischen Textgrundlage durch H. S. Offler, The three modes of natural law in Ockham: A revision of the text, S. 212–213).

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könnte. Im Fall der zweiten Form von „Naturrecht“ als „natürliche Billigkeit“ bedeutet dies, daß ein Rechtszustand, der auf der nicht-statutarischen „natürlichen Billigkeit“ beruht, legitim in sein Gegenteil, d.h. das statutarische „Völkerrecht“, transformiert werden kann. Ockham bezieht sich dabei z.B. auf die Rechtszustände der allgemeinen Freiheit und Gleichheit auf der einen Seite und den Rechtszustand von Privatbesitz und Sklaverei auf der anderen Seite, deren „Wandelbarkeit“ eben in ihrer geschichtlichen Kontingenz „nach dem Sündenfall“ besteht659. Im Fall der 3. Form von „Naturrecht“ drückt sich die „Wandelbarkeit“ in das eigene Gegenteil darin aus, daß ein bestimmtes evidentes Rechtsurteil in sein statutarisch festgesetztes Gegenteil legitim „gewandelt“ werden kann660. Mit der von Ockhams fiktivem Dialogpartner, dem „Lehrer“, im „Dialogus“ indizierten „Wandelbarkeit“ der genannten zwei Formen von „Naturrecht“ wird also auf die Kontingenz bestimmter Rechtszustände hingewiesen. Diese besteht gerade darin, daß sie trotz ihrer wechselseitigen Ausschließlichkeit unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen gleich legitim sein sollen. Diese Art, das Kontingenzprinzip in das rechtlich-philosophische Denken einzubringen, expliziert de facto zwei dialektische Grundprinzipien: 1. Das Prinzip der Relativität der Gegensätze (im gegebenen Fall die Relativität des Gegensatzes von „natürlichem Recht“ und „positivem Recht“ bzw. dem Gewohnheitsrecht). 2. Das Prinzip der Kompatibilität der Gegensätze (im gegebenen Fall den legalen „Wandel“ des einen Rechtszustands oder der einen Rechtsform in den entgegengesetzten bzw. die entgegengesetzte). Im „Dialogus“ nutzt Ockham auch ein weiteres dialektisches Prinzip, wenn er auf die Möglichkeit aufmerksam macht, daß sich eine bestimmte Art politischer Herrschaft, die als bestmögliche Herrschaftsform begriffen wurde, in ihr eigenes Gegenteil, die schlechteste aller Herrschaftsformen, verwandeln kann. Im konkreten Fall betrifft dies die Verwandlung der monarchischen Herrschaft in der Kirche in eine tyrannische661. Das dialektische Prinzip des Ineinander-umschlagen-Könnens von Gegensätzen wird hier angewandt. Wilhelm von Ockham nutzte nicht nur bestimmte Prinzipien der theoretischen Dialektik, sondern betonte auch die wahrheitssichernde Funktion dialektischer Rede und Gegenrede in der Untersuchung von politischen Problemen, „da die Wahrheit sich auch durch Argumentieren, durch Opponieren, durch Disputieren und durch die Erwiderung auf Gegengründe abklärt.“ Eine solche Wahrheit sollte für Ockham auch ausdrücklich schriftlich fixiert und öffentlich gemacht werden können662. Dieser alte methodische Gesichtspunkt des Römischen und des Kanonischen Rechts, durch Rede, 659

Ibid., S. 179. (vgl. H. S. Offler, S. 213). Ibid., S. 179–180. (vgl. H. S. Offler, S. 213). 661 Ibid., III Dialogus I ii, c.20, S. 113. 662 Ibid., III Dialogus II i, Prolog, S. 120; vgl. Guillelmus de Ockham, Opus nonaginta dierum, ed. R. F. Bennett, J. G. Sikes, H. S. Offler, Prolog, p. 293; ders., Octo quaestiones de potestate papae, ed. J. G. Sikes, Prolog, p. 15, qu. 7, p. 185; ders., Breviloquium de principatu tyrannico, ed. H. S. Offler, I 2, p. 100; I 5, p. 104. 660

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Gegenrede und Urteilsspruch zur Wahrheitsfindung beizutragen, war den mittelalterlichen Juristen vertraut663. Die Dialektik als eine Methode der Problemdarstellung, -behandlung und -lösung durch ein geregeltes Pro-und-Contra-Verfahren mit dem Ziel der Urteilsfindung war für Ockham vor allem ein probates und legitimes Instrument, um in der politischen Auseinandersetzung mit dem Papsttum von Avignon den Wahrheitsgehalt der eigenen Argumente unter Beweis zu stellen. Diese Methode war damit nicht mehr nur ein Privileg akademischer und juristischer Dispute, sondern wurde durch den ihr von Ockham zugeschriebenen Publizitätsanspruch zum Ausdruck politisch vernünftigen Argumentierens und öffentlicher Kritik. Dies ist gewiß einer der wesentlichen Aspekte von Dialektik im Sinne von Sich-öffentlich-Unterreden, welcher bei Ockham sowohl in der Form des literarischen Dialogs als auch der politischen Streitschrift zur Geltung kam. Damit wird nicht zuletzt der ursprüngliche Sinn der antiken „Dialektik“ zur Geltung gebracht, ohne daß diese Bezeichnung von Ockham in diesem Zusammenhang gebraucht wird. Auch in dem Hauptwerk DANTES zur praktischen Philosophie, der „Monarchia“, lassen sich sowohl in methodischer wie in theoretischer Hinsicht einige Elemente dialektischen Denkens erkennen. Ausgangspunkt dafür ist zunächst ein klarer Bezug des Autors auf bestimmte Problemfragen, die mittels Argumentationen einer Lösung zugeführt werden. Wie Dante festhält, soll ein solches Verfahren argumentativer Problemlösung die Unwissenheit unter seinen Zeitgenossen und die Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich dieser Probleme überwinden helfen. Zur Erklärung hält er fest: „Wir wissen vieles nicht, worüber wir nicht streiten.“664 Der Meinungsstreit und das Streben nach Erkenntnis bilden für ihn also keine ausschließenden Gegensätze. Dante beginnt seinen Diskurs im 1. Buch seiner Untersuchung über die „zeitliche Monarchie“ zunächst mit einem Argumentationsverfahren, welches mittels evidenter Eingangsannahmen und streng beweisender Syllogismen eine erste Problemlösung erzielt. Hier geht es im Sinne der aristotelischen Analytik um notwendige Schlußfolgerungen aus evidenten Eingangsannahmen. Während ein solches Verfahren im strengen Sinn der Aristotelischen „Dialektik“ noch nicht ein „dialektisches“ zu nennen ist, ändert sich Dantes Verfahrensweise im weiteren Verlauf seiner Untersuchung. Im 2. Buch benutzt er probable Annahmen („offenkundige Zeichen“, „Autoritätsbelege der Weisen“)665 und topische Grundsätze666, um die Richtigkeit seiner These und damit die Lösung der nun anstehenden Problemfrage zu erweisen. Allerdings überläßt er grundsätzlich einer einvernehmlichen Klärung von Streitfragen den Vorrang vor einem „gegenseitigen Zusammenprall sowohl der geistigen wie der körperlichen Kräfte“. Ein solcher Zusammenprall wiederum ist aber genau dann legitim, sobald sich die Streitenden über das Stattfinden der Auseinandersetzung einig waren und auch ein gemeinsa663

Vgl. Wilhelm von Ockham, Dialogus, ausgew. u. übers. v. J. Miethke, Anmerkungen zum Text, Nr. 45, S. 194. 664 Dante Alighieri, Monarchia, lat.-dt., übers. u. hrsg. v. R. Imbach u. C. Flüeler, III.3.1., S. 183. 665 Vgl. ibid., II.2.7., S. 121. 666 Vgl. ibid., II.10.–II.11., S. 171–177.

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mes Ziel dafür vereinbart haben667. Die gemeinsame Wahrheitssuche durch eine geregelte Auseinandersetzung zwischen Kontrahenten mittels der Argumentationsform des „dialektischen Syllogismus“ ist für das 2. Buch von Dantes Untersuchung charakteristisch668. Im letzten Buch geht er dann direkt zur Methode der scholastischen Pro-Contra-Argumentation über, um die dort aufgeworfene Problemfrage zu lösen. Der argumentativ geführte Meinungsstreit nimmt jetzt deutlich polemische Züge an, wo es um Fragen von Gegenwart und Zukunft politischer Machtlegitimation geht. Erst in der Entkräftung von gegnerischen Positionen wird jetzt die conditio sine qua non für die Wahrheitsfindung gesehen. Zur Vollständigkeit dieser Wahrheitsfindung zählt Dante allerdings auch den positiven Aufweis der zur Diskussion stehenden These und schließt einen solchen an den vorangegangenen polemischen Teil an669. Eine dialektische Methodik läßt sich nach dem Gesagten also in Dantes „Monarchia“ in zweierlei Hinsicht konstatieren: einerseits in Hinsicht auf das gewählte argumentative Problemlösungsverfahren mit dem Ziel der Wahrheitsfindung unter Verwendung von probablen Annahmen, andererseits durch die Anwendung der Pro-Contra-Argumentation. Im 3. Buch ist unschwer die Untersuchungs- und Darstellungsform der „Quaestio“ zu erkennen. Der Syllogismus bleibt die durchgehend angewandte Schlußform in der gesamten Untersuchung. So erweist sich Dante als Anhänger der traditionellen aristotelischen Logik. Auch inhaltlich lassen sich in der „Monarchia“ einige dialektische Argumentationen erkennen. So begründet Dante die Möglichkeit eines gemeinschaftlichen Handelns aller Menschen als Gattung in der Vielheit ihrer Bestandteile mit einer einheitlichen spezifischen Erkenntnis- und Handlungspotenz der Menschen, d.h. mit dem „Möglichen Intellekt“, worin die besondere Form des menschlichen Daseins zum Ausdruck kommen soll. Das Gelingen seines politischen Projekts einer umfassenden Herrschaftsreform durch die Etablierung einer Weltmonarchie hat eines seiner theoretischen Fundamente in der Annahme einer spezifischen Potenz des „Möglichen Intellekts“ als eines Vermögens jedes einzelnen Menschen und auch aller Menschen insgesamt, vernünftig denken und handeln zu können670. Daraus erschließt sich eine Dialektik von Einheit und Vielheit sowie von Möglichkeit und Wirklichkeit, die erstmalig auf die Gattung Mensch als ein potentiell einheitlich handelndes Subjekt angewandt wird. Denn gerade in dieser Dialektik, welche sich durch die Verwirklichung des „Möglichen Intellekts“ im Handeln jedes Einzelnen und aller Menschen zusammen realisiert, liegt für Dante der Grund für die mögliche Transformation der Menschheit aus einem Zustand der Zerrissenheit und Desorientierung in einen Zustand harmonischer Eintracht und vernünftig begründeter Einsicht671. Ferner dient ihm die These von der anthropologischen Doppelkonstitution des Menschen als einer dialektischen Einheit aus Leib und Seele bzw. von Vergänglichem und Unver667

Vgl. ibid., II.9.2.–4., S. 161–163. Vgl. ibid., Kommentar der Herausgeber, S. 293. 669 Vgl. ibid., III.15., S. 241–249. 670 Vgl. ibid., I.3.–4., S. 69–71. 671 Vgl. ibid., I.16., S. 111–113. 668

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gänglichem zur Begründung einer doppelten Zielbestimmung des Menschen in Gestalt von irdischer Glückseligkeit und der „Glückseligkeit des ewigen Lebens“. Diese These wird theoretisch mittels des Begriffs der „Mitte“ als einer relativen Einheit zweier Gegenteile begründet: denn als eine solche „Mitte“ interpretiert er die menschliche Doppelkonstitution aus Vergänglichem und Unvergänglichem672. Er wendet also eine These der Vermittlungsdialektik an. Analog dazu bestimmte er auch die spezifische Qualität des menschlichen Handelns aus der Freiheit des Urteilsvermögens, welches das begriffliche „Erfassen“ von Gegenständen mit dem „Begehren“ von ihnen vermitteln soll, indem es die erfaßten Objekte bewertet, um daraus die Richtung des Handelns für den Urteilenden bestimmbar zu machen673. Damit vermittelt also das freie Urteilsvermögen des Menschen das rezeptive mit dem praktischen Vermögen des menschlichen Intellekts. Einer der ethischen Grundsätze von Dantes praktischer Philosophie besagt, daß die Menschen aus ihrer selbständigen Betätigung zu irdischer Glückserfüllung in der Lage sind. Zwischen der Zielbestimmung „irdisches Glück“ und den auf dieses Ziel gerichteten Handlungen der Menschen soll die in die Praxis überführte „philosophische Unterweisung“ vermitteln, d.h. das Praktizieren von moralischen und intellektuellen Tugenden674. Dantes ethischer und intellektueller Eudämonismus hält das menschliche Sein und Sollen durch praktisches Tun der Menschen für untereinander vermittelbar. Seine Anthropologie, politische Theorie, Ethik und Erkenntnistheorie baut also inhaltlich auf einer angewandten Vermittlungsdialektik auf. Die gezeigten methodischen dialektischen Elemente seiner Untersuchung in der „Monarchia“ lassen sich aus der „Topik“ des Aristoteles und der Praxis der dialektischen Disputation in der Scholastik erschließen. Tendentiell ist zu erkennen, wie Dante dialektisches mit analytischem Argumentieren kombiniert, ohne die Unterschiede zwischen beiden zu verwischen. Eine in gewissen Aspekten ähnliche Argumentationsstruktur wie Dantes „Monarchia“ läßt auch der berühmte „Defensor pacis“ (1324) des MARSILIUS VON PADUA erkennen. Auch hier wird eine strenge logische Beweisführung mit einer dialektischen Argumentationsweise verknüpft und als weitestgehend miteinander kompatibel angesehen. Und ebenso gibt es die speziellen Formen argumentativer Problemdiskussion mit dem Ziel der Begründung von wahren Aussagen unter Verwendung von Wahrscheinlichkeitsargumentationen und die Form der Pro-Contra-Argumentation. Die Wahrscheinlichkeitsargumentation im Sinne der Ableitung von probablen Schlußfolgerungen aus bestimmten akzeptierten Voraussetzungen setzt Marsilius sowohl im Kontext seiner eigenen positiven Argumentationen im Rahmen seiner politischen Denkschrift als auch als Prinzip einer symbolischen Auslegung der kanonischen religiösen Schriften ein675. 672

Vgl. ibid., III.15.3.–8., S. 241–245. Vgl. ibid., I.12.3., S. 95. 674 Vgl. ibid., III.15.8., S. 243–245. 675 Vgl. Marsilius von Padua, Der Verteidiger des Friedens (Defensor pacis), lat.-dt., übers. u. hrsg. v. H. Kusch, Teil I, Kap. 14–15; Teil II, Kap. 6, § 13; Teil II, Kap. 16, § 17; Teil II, Kap. 17, § 11; Teil II, Kap. 17, § 15; Teil II, Kap. 28, § 1. 673

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TRADITIONEN UND NEUERUNGEN IN DER SPÄTMITTELALTERLICHEN DIALEKTIK

Die Pro-Contra-Argumentation wird zur Klärung von fundamentalen Problemen in der spätmittelalterlichen Gesellschaft und der Kirche eingesetzt. So wird die Alternative aus Wahl- oder Erbmonarchie durch die Aufstellung eines Wahrscheinlichkeitsbeweises, durch Gegenargumente dazu und die Auflösung dieser Gegenargumente diskutiert676. Ausführlich wird von Marsilius die damals aktuelle Frage der wirtschaftlichen und rechtlichen Grundlagen der apostolischen Armut diskutiert, indem er zunächst Thesen und sie stützende Argumente formuliert, darauf Gegenargumente, die Auflösung dieser Gegenargumente und schließlich eine zusammenfassende Schlußfolgerung anschließt677. Die Diskussion über die Machtkompetenzen der Priesterschaft folgt ebenso dem Muster aus positiver Argumentation, Gegenargumenten und der Auflösung der Gegenargumente als einer hinreichenden Problemlösungsmethode678. Auch in diesem Werk ging es um die Herstellung eines harmonischen gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen mit dem Ziel eines glücklichen irdischen Lebens der Staatsbürger und der Perspektive auf die „ewige Seligkeit“. Und auch hier wird eine entscheidende Vermittlungsinstanz zwischen dem Sein und dem Sollen der Menschen in der praktisch werdenden menschlichen Vernunft gesehen; dieser Instanz fügt Marsilius speziell noch den Grundsatz der gesetzlichen Grundlegung des politischen Handelns als Basis eines stabilen Gemeinwesens hinzu679. Der kritische praktische Vernunftgebrauch und die Rechtsstaatlichkeit treten im Verein als entscheidende praktische Vermittler gesellschaftlicher Stabilität auf. Insofern verfolgt Marsilius auch einen vermittlungsdialektischen Ansatz. Er hat mit seinem „Defensor pacis“ eine kritische Denkschrift gegen die Allmachtansprüche des damaligen Papsttums und für eine harmonisch geordnete Gesellschaft verfaßt. Er zeigte, daß eine reale Harmonie ohne die Offenlegung der Ursachen von Instabilität und Unfrieden in der Gesellschaft unerreichbar bleiben mußte. Deshalb wollte er zur Aufklärung der geistigen Verwirrungen unter seinen Zeitgenossen beitragen, indem er die Ursachen falscher Denkgewohnheiten ermittelte680. Darum verbanden sich Kritik und positive Grundlegung in seiner Schrift zu einem Ganzen. Die Methodik der dialektischen Problemdiskussion konnte zwischen beiden Teilen erfolgreich vermitteln und beide sich gegenseitig stützen lassen. Indem diese Methodik gerade zur Diskussion der brennendsten aktuellen politischen Fragen eingesetzt wurde, zeigte sie in Ockhams, Dantes und des Marsilius von Padua philosophisch-politischen Schriften in der Tat eine praktisch-kritische Funktion. Dies bestätigte sich nicht zuletzt durch die Reaktionen, welche die Genannten mit ihren Schriften auslösten.

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Vgl. ibid., Teil I, Kap. 15–16. Vgl. ibid., Teil II, Kap. 13–14. 678 Vgl. ibid., Teil II, Kap. 15–28; vgl. zusätzlich Kap. II. 3 und Kap. II. 29–30. 679 Vgl. ibid., Teil III, Kap. 3. 680 Vgl. ibid., Teil II, Kap. 1, § 1. 677

V. Kapitel: Protagonisten einer erneuerten Dialektik im Zeichen des Neuplatonismus und des Renaissancehumanismus

Der Ausgang des dialektischen Denkens in der mittelalterlichen Philosophie ist mit den Veränderungen im allgemeinen Welt- und Menschenbild und mit den Umgestaltungen in den Leitvorstellungen vom Wesen und den Aufgaben von Bildung verbunden, wie sie vor allem die Renaissancekultur entwickelte. Die verstärkte Aufmerksamkeit für die natürlichen Sprachen, die Suche nach differenzierteren und alternativen Möglichkeiten von Erkenntnisgewinnung und nicht zuletzt die immer deutlichere Kritik an den Denkschemata der scholastisch-aristotelischen Schulphilosophie verliehen den philosophischen Entwicklungen zwischen dem 15. und dem einsetzenden 17. Jahrhundert nachhaltige Impulse. Dies geschah verbreitet durch eine allmähliche Abkehr vom Aristotelischen Philosophieren, nicht durch einen abrupten Bruch mit diesem. Vielmehr lassen sich die wichtigsten Impulse für das dialektische philosophische Denken dieser Zeit nur auf dem Hintergrund eines nach wie vor starken Einflusses jener großen Richtung des Denkens adäquat verstehen. Dies darf und kann die positive Bewertung der entscheidenden Neuorientierungen nicht beeinträchtigen, welche mit den epochalen Leistungen von Lorenzo Valla, Rudolph Agricola und Nikolaus von Kues im 15. Jahrhundert verbunden waren. Diese Um- oder Neuorientierungen betrafen u.a. eine systematische Wiederannäherung von Dialektik und Rhetorik, von wissenschaftlichem und Alltagsverstand, von analytischem und dialektischem Denken, welche die genannten Autoren in jeweils spezifischer Weise intendierten. Das wachsende Verständnis für die Offenheit und Unabgeschlossenheit des menschlichen Erkenntnisprozesses führte sie und andere Denker zur Aufwertung der Dialektik als einer Kunst des methodischen Zweifels, des Suchens und Mutmaßens, ohne einem dogmatischen Skeptizismus zu verfallen. In dem Topos der „Koinzidenz der Gegensätze“ wird von Nikolaus von Kues schließlich der dialektische Gedanke der Einheit der Gegensätze in differenzierter Weise an die Spitze eines philosophischen Revisionsprogramms gestellt. Darin ist das Sokratische Prinzip des wissenden Nicht-Wissens genauso eingebunden wie eine starke Akzentuierung der Dialektik von Verstand und Vernunft. Beschleunigend auf die Entwicklung des dialektischen Philosophierens in dieser Zeit wirkte sich entscheidend ein verstärktes Rückbesinnen auf das dialektische Erbe der

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PROTAGONISTEN EINER ERNEUERTEN DIALEKTIK

Platonischen und neuplatonischen Philosophie aus. Neben Nikolaus von Kues’ Schriften liefern dafür u.a. auch die Schriften von Giovanni Pico della Mirandola, Francesco Patrizi und Giordano Bruno eindrucksvolle Belege. Diese Philosophen haben in wachsender Distanz zum scholastischen Erbe einen dialektischen Denkansatz sowohl in der Theologie, der Kosmologie, der Ontologie, der Naturphilosophie als auch in der Erkenntnistheorie praktiziert. Dominant blieb im Ergebnis ihrer Reflexionen die Vorstellung einer Harmonisierung bzw. Vermittlung von Gegensatzbestimmungen und deren widerspruchsfreier Reduktion auf einen einheitlichen göttlichen Ursprung. Trotz der durch Valla und Agricola in Gang gesetzten Ablösung der Dialektik von der Metaphysik wird dieser Vorgang von den neuplatonisch orientierten Dialektikern konterkariert. Als Geist-, Licht-, Seins- oder Einheitsmetaphysik liefern ihre Diskurse über höchste und letzte gegensatzfreie Gründe das Pendant zur dialektischen Suche nach den Vermittlungen oder Koinzidenzen der Gegensätze in der Welt. Dialektik und Metaphysik ergänzen sich so bei ihnen wechselseitig. Der weltanschauliche Leitgedanke einer sich in den Gegensätzen und Unterschieden selbst manifestierenden Einheit der Welt führt schließlich bei Giordano Bruno auch zu einer fundamentalen Neubestimmung von „Materie“ als einer universellen positiven gestaltenden Kraft des Kosmos. Die Dialektik von „Wirken“ und „Leiden“, von „Möglichkeit“ und „aktualem Sein“ wird von ihm in die „Materie“ selbst verlagert und die metaphysische Trennung dieser Aspekte aufgehoben. Dieser gedankliche Schritt zeigt deutlich die weltanschauliche Relevanz des dialektischen Denkens und die produktiven Ergebnisse einer intensiven Auseinandersetzung mit dem scholastischen Aristotelismus. In der spekulativen Weltanschauung Jakob Böhmes wird schließlich eine Dialektik der Negativität praktiziert, welche von der konstitutiven Funktion des Widerstreits für den Weltzusammenhang ausgeht. Dies deutet auf eine fundamentale Alternative zur Harmonisierungs- und Vermittlungsdialektik der Vergangenheit, welche bei Böhme nicht mehr die Dominante des dialektischen Philosophierens bildet, sondern eine von mehreren Perspektiven darstellt. Dies markiert einen Wendepunkt in der bisherigen Entwicklung. Eine Annäherung an die Gedankenwelt Heraklits, welche im Mittelalter keine prägende Rolle gespielt hatte, wurde so wieder zur historischen Möglichkeit.

Die Konzeption der Dialektik als Heuristik bei den RenaissanceHumanisten Der Renaissance-Humanismus korrigierte im Rahmen seines kulturellen Reformprogramms viele Methoden und Inhalte der höheren Bildung. Dafür wurden antike Vorbilder gesucht und als Alternative gegen die etablierte universitäre Bildung in Position gebracht. Im Zentrum dieser Neuorientierung standen die sogenannten „studia humanitatis“, also die Fächer Grammatik, Rhetorik, Poetik, Geschichte und Ethik. Die Sprachkultur und die Sprachkenntnisse sollten darin das Fundament der höheren Menschenbildung ausmachen. An den Universitäten kam dem „Trivium“ (Grammatik, Rhetorik

DIALEKTIK ALS HEURISTIK BEI DEN RENAISSANCE-HUMANISTEN

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und Logik bzw. „Dialektik“) die Aufgabe zu, die allgemeinen Formen und Regeln des Sprachgebrauchs zu lehren. Insbesondere die spekulative Grammatik und eine auf den Syllogismus als einzig perfekter Form des logischen Schließens fixierte formale Logik stand dem Anliegen der Humanisten entgegen. Denn damit konnte der Differenziertheit des natürlichen Sprachgebrauchs ihrer Meinung nach nicht entsprochen werden. Zu Veränderungen trugen in diesem Zusammenhang kritische Überlegungen einiger Renaissance-Humanisten zum Status und den Aufgaben der „Dialektik“ als einer Kunst des lebendigen Sprachgebrauchs bei. Seit dem 15. Jahrhundert führte dies zu einer Abtrennung eines neuen humanistischen Dialektik-Konzepts von der scholastischen Logik. Lorenzo Valla und Rudolph Agricola waren dafür die entscheidenden Wegbereiter681. Während Dante Alighieri unter „Dialektik“ noch eine abgeschlossene Wissenschaft verstand, die mit der aristotelischen Logik und insbesondere mit den von ihr analysierten Formen des Argumentierens zusammenfallen sollte682, setzten die Humanisten der späteren Zeit hier ganz neue Akzente. Valla und Agricola orientierten sich bei der Bestimmung von „Dialektik“ nicht mehr hauptsächlich an der aristotelischen Logik, sondern an der Rhetorik, an dem natürlichen Sprachgebrauch und an einer topischen Findungslehre, als sie ihr Revisionsprogramm begründeten. Der formal-logische Aspekt im mittelalterlichen Gebrauch des Wortes „Dialektik“ wird von ihnen zwar nicht völlig eliminiert, doch er tritt gegenüber dem inhaltlichen und methodischen Anliegen einer Kunst überzeugenden Redens deutlich in den Hintergrund. Ähnliches läßt sich auch für die „Dialektik“ als Disputationskunst sagen. Insofern zeichnet sich seit dem 15. Jahrhundert ein Paradigmawechsel im theoretischen wie im praktischen Verständnis von „Dialektik“ im Sinne einer auf die lebendige Sprache zentrierten Methodenlehre ab. Die für die antiken Konzepte von „Dialektik“ außerhalb des Platonismus charakteristische Symbiose aus Dialektik und Rhetorik erfuhr eine umfassende Renaissance. Valla und Agricola knüpften aber auch unverkennbar an die Tradition der mittelalterlichen Topik an. Sie führten sie fort und modifizierten sie. LORENZO VALLA (1406/07–1457) proklamierte in seiner Schrift „Repastinatio dialecticae et philosophiae“ (Vollendung der ersten Fassung im Jahr 1439) die weitgehende Wiederannäherung von Dialektik und Rhetorik als Methoden des Argumentierens auf der Basis des natürlichen Sprechens. Im engeren Sinn des Wortes versteht er unter „Dialektik“ eine Kunst des Auffindens von Argumenten bzw. Argumentationen mit dem Ziel der Bekräftigung oder Widerlegung von Behauptungen. Sie stellt als eine Findungskunst 681

Vgl. C. Vasoli, La dialettica e la retorica dell’ Umanesimo. „Invenzione“ e „Metodo“ nella cultura del XV e XVI secolo. 682 Vgl. Dante Alighieri, Das Gastmahl, 2. Buch, übers. v. T. Ricklin, Kap. 13, n. 12, S. 73: „… denn die Dialektik hat einen kleineren Umfang als jede andere Wissenschaft, denn sie ist vollständig zusammengestellt und zu Ende geführt in jener handvoll Texte, die sich in der ‚Alten Kunst‘ und in der ‚Neuen‘ finden; und sie ist verborgener als jede andere Wissenschaft, insofern sie mit mehr sophistischen und wahrscheinlichen Argumenten vor sich geht, als jede andere.“

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PROTAGONISTEN EINER ERNEUERTEN DIALEKTIK

einen Teil der Rhetorik dar683. Vom Umfang und Anspruch her kommt der Rhetorik als einer Kunst der überzeugenden Rede gegenüber der Dialektik aber ein insgesamt höherer Rang zu. Valla knüpft zur näheren Charakteristik der von ihm gesuchten Symbiose aus Dialektik und Rhetorik sowohl an die dialektische Topik der aristotelisch-boëthianischen Tradition an, als auch an die rhetorische Topik von Cicero und Quintilian. Dazu gehört sein Plädoyer für die Gültigkeit aller Beweisführungen („probationes“), ganz gleich, ob diese eine „notwendige“ oder „glaubhafte“ bzw. „wahrscheinliche“ Art der Argumentation zugrundelegen: denn in jedem Fall seien solche Beweise „wahr“684. Er hebt hervor, daß nach Cicero und Quintilian zwei Arten von Beweisführungen zu unterscheiden seien: einerseits die ausschließlich „notwendigen“, auf die die Logik beschränkt sei; andererseits die „widerspruchsfreien“ und „glaubhaften“, derer sich die Redner bedienten, ohne die erste Art auszuschließen. Nicht der Logik, sondern der Rhetorik sei eine Flexibilität und Variabilität in der Art des Beweisführens zuzuschreiben685. Die Natürlichkeit, die Flexibilität und die Glaubwürdigkeit des Sprechens und Argumentierens soll und kann nach Valla mit dem Anspruch auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit der Aussage harmonieren. Dementsprechend weitete er den Kreis zulässiger, weil beweiskräftiger Argumente bzw. Argumentationsweisen über den Syllogismus hinaus aus. Das Festhalten an starren logischen Formalismen, ein sophistischer Streit um Worte ohne einen Anspruch auf Feststellung der Wahrheit und ein künstlicher, technischer Sprachgebrauch galten ihm als zu überwindende Einengungen der angestrebten Symbiose aus Dialektik und Rhetorik. Anhand des Problems, ob und inwiefern es möglich ist, ein „Mittleres“ zwischen bestimmten Gegenteilen zu finden, zeigt er die Diskrepanz zwischen einem streng logischen („lex veritatis“) und einem auf den „Normalverstand“ („communis intellectus“) bezogenen Verständnis der „Mitte“ zwischen zwei Gegenteilen: denn die Logiker würden die Kontradiktion zum Maßstab aller Gegensätzlichkeit machen und deshalb nicht die Existenz eines „Mittleren“ zwischen den Gegensätzen bejahen. Hingegen fände der „Normalverstand“, welcher die konträren nicht auf die kontradiktorischen Gegensätze reduziere, eine Fülle von Beispielen für die Existenz einer „Mitte“ zwischen echten Gegenteilen686. Das dialektische Denken Vallas knüpft hier deutlich an die Theorie der Vermittlung von gegensätzlichen Qualitäten an, wie sie in der mittelalterlichen Tradition umfangreich diskutiert worden war. Die Bestätigung für diese Vermittlungsdialektik 683

Lorenzo Valla, Repastinatio dialectice et philosophie, I, ed. G. Zippel, lib. II, prooem., nr. 3, p. 175: „Erat enim dialectica res brevis prorsus et facilis, id quod ex comparatione rhetorice diiudicari potest. Nam quid aliud est dialectica, quam species confirmationis et confutationis? He ipse sunt partes inventionis, inventio una ex quinque rhetorice partibus.“ 684 Ibid., lib. II, cap. 15, p. 491–497. 685 Ibid., lib. II, cap. 15, p. 495: „Neque immerito Quintilianus et Cicero duas tantum partes fecerunt sive species probationum, ut alie sint ‚necessarie‘, alie ‚non repugnantes‘ sive ‚credibiles‘: quarum prior ad logicos sola, utraque ad oratores pertinet, illa caret comparatione, hec non caret.“ 686 Ibid., lib. I, cap. 19, p. 162; ders., Repastinatio dialectice et philosophie, II, ed. G. Zippel, lib. I, cap. 8, p. 386–389.

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sucht er allerdings nicht mehr innerhalb der aristotelischen Logik, sondern außerhalb im „Normalverstand“. Dieses Beispiel zeigt Vallas Bestreben, die Annehmbarkeit („Probabilität“) von Aussagen nicht mehr ausschließlich am logischen Fachverstand der scholastischen Aristoteliker, sondern an der kommunizierbaren Gewißheit des normalen Sprachgebrauchs zu messen. Umgekehrt implizierte dies für ihn teils grundsätzliche Kritiken an theoretischen und methodischen Standards der scholastisch-aristotelischen Logik. Vallas Dialektik hat gleichwohl ebenso wie die aristotelische einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und „Wahrscheinlichkeit“. Und auch er situierte ihre praktische Funktion im Rahmen der Topik außerhalb von Analytik und Sophistik. Indem er sie von der strikten Bindung an logische Formalismen löste und für den konventionellen Sprachgebrauch öffnete, führte er im Prinzip auf die antiken Ursprünge der „Dialektik“ zurück. Die von RUDOLPH AGRICOLA (1444–1485) im Jahr 1479 fertiggestellte Schrift „De inventione dialectica“ systematisierte die Umorientierung von „Dialektik“ auf die Rhetorik. Der Charakter der „Dialektik“ als einer topischen Methodik tritt dabei deutlich hervor. Sie wird von ihm als eine Kunst des überzeugenden argumentativen Sprechens über alles, was zur Sprache kommt, oder als eine Kunst der Erörterung von Themenstellungen mit glaubhaftem Gegenstand definiert687. Nicht als eine Kunst des Streitens mit Wörtern und Begriffen, sondern als Methode des argumentativen Problemlösens mit universeller Anwendbarkeit auf alle „Künste“ wird die Dialektik von Agricola verstanden. Nur dort, wo es echte Probleme des Erklärens von Sachverhalten, des Deutens von Texten oder der argumentativen Bekräftigung von Behauptungen gibt, hat die Dialektik als eine topische Methode des Auffindens beweiskräftiger und probabler Argumente ihren legitimen Platz. Die Symbiose von Dialektik und Rhetorik wird von Agricola derart weitergeführt, daß er die Rhetorik und die Grammatik zu speziellen Bestandteilen der Dialektik als der allgemeinen Methodologie der Wissenschaften erklärt. Während Agricola der Dialektik gegenüber den „Künsten“, d.h. also den spezialisierten Wissensgebieten, lediglich eine heuristische methodologische Funktion zuschreibt, billigt er ihr in den Angelegenheiten des Alltagsverstands darüber hinaus auch einen direkten Objektbezug in Form der Beschreibung und Erklärung von Sachverhalten zu688. Die Dialektik als Argumentationsfindungskunst ist für Agricola insgesamt ein aus langanhaltender Übung und dem Einsatz des methodischen Verstands erwachsendes universelles Vermögen der Menschen689. In den Umkreis der durch Argumentation zu erreichenden Glaubwürdigkeit, Konsensfähigkeit und Wahrscheinlichkeit schließt Agricola alles ein, 687

Rudolph Agricola, De inventione dialectica libri tres, ed. L. Mundt, lib. II, cap. 2, p. 208–210: „Quod reliquum igitur est, videbitur sibi dialectice vendicare, probabiliter dicere de qualibet re, quae deducitur in orationem“; ibid., lib II, cap. 2, p. 212: „ars probabiliter de qualibet re proposita disserendi, prout cuiusque natura capax esse fidei poterit“; vgl. auch lib. II, cap. 15, p. 300: „Cum enim sit (quod saepe iam diximus) dialectices munus, accomodate ad fidem pro cuiusque rei natura disserere …“ 688 Ibid., vgl. lib. II, cap. 28, p. 404–406. 689 Ibid., lib. II, cap. 7, p. 238–240.

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PROTAGONISTEN EINER ERNEUERTEN DIALEKTIK

was „probabel“ ist – ungeachtet dessen, ob dabei letzte Zweifel beseitigt werden konnten oder eine gewisse Ambiguität und dialektische Widersprüchlichkeit erhalten bleibt690. Entscheidend bleibt im Resultat bei der Prozedur des Auffindens und des Einsatzes von Argumenten die Reduktion anfänglicher Ungewißheit und anfänglichen Zweifels auf eine größere Gewißheit. Damit steht also der Prozeßcharakter des Erkennens für Agricola im Mittelpunkt seines Konzeptes von „Dialektik“. Problemfreie Behauptungen oder evidente Sachverhalte, welche keinen Erkenntniszuwachs erbringen können, sind demzufolge kein Gegenstand einer dialektischen Operation und Methode. Die echten Problemfragen bilden die Basis für das dialektische Vorgehen überhaupt691. Insofern liegt eine historische Parallele zu der mittelalterlichen universitären Argumentationstechnik der „Quaestionen“ nahe. Agricola stellt freilich klar, daß ein Disputieren zum Selbstzweck oder eine Ignoranz gegenüber dem Problem- und Wissensstand der Einzelwissenschaften für den Dialektiker, wie er ihn sich vorstellt, auszuschließen sind. Damit ist eine gewisse Einschränkung für den Kreis der Problemfragen („quaestiones“) formuliert, mit denen sich ein Dialektiker methodisch auseinandersetzen soll. Die eindeutige Abgrenzung der Dialektik von der Eristik ist also auch für Agricola wichtig gewesen692. Durch die Hervorhebung der Probabilität der Argumentationsweise der Dialektik reiht er sich in den spätmittelalterlichen Probabilismus ein. Dementsprechend plädierte er ähnlich wie Valla für eine umfassende Öffnung des Forschens und Lehrens für alle Methoden probablen Argumentierens und Beweisführens. Eine Entgegensetzung von Dialektik und Rhetorik oder von Dialektik und Analytik gibt es in Agricolas Konzeption nicht mehr. In Verbindung mit einer starken Orientierung auf die sprachlich vermittelte intersubjektive Gewißheit und einer weitgehenden Ausblendung metaphysischer Fragestellungen693 ist Agricolas „De inventione dialectica“ der entscheidende historische Zeuge für eine Neuorientierung im Verständnis von „Dialektik“ im Sinne einer umfassenden „Kunst“ und Methodik im Rahmen des Renaissance-Humanismus. Dafür kann nicht zuletzt seine außerordentlich intensive Rezeption als Beleg dienen694.

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Ibid., lib II, cap. 6, p. 233: „Quod si probabile dicimus, non modo quod ambigue et in utranque partem dici potest, sed ut, quo certius quicque est, eo probabilius sit, et quod indubitatum sit id maxime videatur probabile, omnes artes quaecumque demum sunt, ex probabilibus constabunt.“ 691 Ibid., lib. II, cap. 6, p. 230: „Omne igitur id, de quo ordine apteque ad fidem dici potest, id erit dialectices materia. Quod si uno nomine complecti volumus, haud erit difficile. De quocunque enim fidem conamur facere, id necesse est accipi, tanquam dubium incertumque sit. Nemo enim rem apertam, quatenus est aperta, sumit docendam, sed ut contendi de ea et ambigi possit. Quicquid autem tanquam dubitatum in medium profertur, id vocant quaestionem. Erit ergo quaestio materia dialectices.“ 692 Ibid., vgl. lib. II, cap. 7, p. 240–242. 693 Ibid., vgl. lib. II, cap. 7, p. 236. 694 Vgl. P. Mack, Renaissance Argument. Valla and Agricola in the tradition of Rhetorik and Dialectic, S. 280–372.

DIE DIALEKTIK IM WERK DES NIKOLAUS VON KUES

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Die Dialektik im Werk des Nikolaus von Kues Nikolaus von Kues (1401–1464) führt in seinen Schriften die Traditionen eines dialektischen Philosophierens im Mittelalter unter deutlichen Akzentsetzungen fort und zu einem Höhepunkt. Seinem Beitrag zur Entwicklung dieser Traditionen kommt für die Geschichte der mittelalterlichen Philosophie eine ähnlich große Bedeutung zu wie dem Werk des Johannes Scottus Eriugena. Denn beide stehen in der gedanklichen Strömung einer neuplatonisch orientierten Philosophie und Theologie, welche das wechselseitige Bezogensein von Gott, Welt und Mensch in den Mittelpunkt der Reflexionen stellte. Und wenn sie bewußt die Grenzen der aristotelisch dominierten Philosophie benannten und überschritten, konnten sie wesentlich erweiterte Perspektiven und neue Methoden für das Philosophieren nutzen bzw. entwickeln, indem sie sich beispielsweise auf die Ideen eines Pseudo-Dionysius Areopagita beriefen695. Im Zentrum dieser Perspektiven stehen im Werk des Nikolaus von Kues die dialektischen Topoi des „wissenden NichtWissens“ („docta ignorantia“) und der „Koinzidenz der Gegensätze“ („coincidentia oppositorum“), welche er wiederholt im theoretischen Diskurs anwandte. Die theoretischen Diskurse des Cusaners, seine reflektorische und unkonventionelle Gedankenentwicklung und seine systematische Kritik an dogmatischer Einseitigkeit nutzen die genannten Topoi als integrale Bestandteile des gesamten philosophisch-theologischen Werkes. Anders als Johannes Scottus Eriugena im 9. Jahrhundert hatte der Cusaner es im 15. Jahrhundert aber mit einer intensiv entwickelten Schultradition des scholastischen Aristotelismus zu tun, mit der er sich ausführlicher auseinandersetzen mußte. In dieser Tradition war der Topos von der „Koinzidenz der Gegensätze“ als jenseits des Verstandes (der „ratio“) liegende Annahme undenkbar, weil ihm das oberste Prinzip vom ausgeschlossenen logischen Widerspruch als damit unvereinbare Gegeninstanz vorgehalten wurde. Lediglich die Zugehörigkeit von konträren Gegensätzen zu ein und derselben Gattung konnte in dieser Tradition als erwiesen gelten, nicht aber die von der Vernunft („intellectus“) unterstellte Konkordanz von kontradiktorischen Gegensätzen oder schließlich die Koinzidenz aller Gegensatzbestimmungen in Gott, wie Nikolaus festhält696. In dieser theoretischen Abstufung möglicher Erkenntnispotenzen und von Formen von Gegensatzeinheiten wird der Grundkonflikt mit der aristotelischen Schulphilosophie artikuliert. Ein dialektischer Ansatz im cusanischen Denken ist dementsprechend aufs engste mit der Differenzierung zwischen dem vernunftmäßigen Denken einerseits und dem verstandesmäßigen Denken bzw. der sinnlichen Wahrnehmung auf der anderen Seite mit dem Kriterium der je spezifischen Erfassung von Gegensatzbeziehungen verbunden. Zugleich richtet sich dieser Ansatz auf das traditionelle Problem, 695

Vgl. dazu H. G. Senger, Die Präferenz für Pseudo-Dionysius bei Nikolaus von Kues und seinem italienischen Umfeld, 505–539. 696 Vgl. Nicolaus de Cusa, De coniecturis, ed. J. Koch, K. Bormann, G. Senger, pars II, n. 78 et 79, p. 76–77

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PROTAGONISTEN EINER ERNEUERTEN DIALEKTIK

wie es eine umfassende intellektuelle Erkenntnis Gottes geben kann. Die Dialektik des Cusaners stellt sich in ihrer Spezifik als die Explikation des vernunfthaften Denkens bei der Suche nach Einsicht und Wissen, nicht zuletzt eines erreichbaren Wissens von Gott, heraus. Dieses Grundmuster schließt wiederum die Reflexion über die Art und Weise des Bestehens und Erfassens von Gegensatzbeziehungen als Konstituentien des Seins und des Wissens in sich ein. Für dieses Streben nach Einsicht und Wissen gilt ihm der Grundsatz als erwiesen, „daß eine bejahende Feststellung über das Wahre, wenn sie vom Menschen ausgesprochen wird, immer nur Mutmaßung ist. Die Erfassung des Wahren läßt sich nämlich stets vermehren, aber nie ausschöpfen …“697. Diese Grundsatzfeststellung richtet sich auf das Verständnis des Erkennens als eines Prozesses fortschreitender Präzisierung ohne die Gewähr einer letzten absoluten Gewißheit. Das dialektische Denken des Cusaners expliziert sich dementsprechend als eine „Kunst der Mutmaßungen“ („ars coniecturalis“). Ihr verleiht er das Attribut einer „sehr kurzen Kunst“, mittels der die Wahrheit ermittelt werden kann698. Diese Charakterisierung ist der traditionellen Charakteristik von Dialektik als kurzer und bündiger Art des Argumentierens direkt kompatibel. Nikolaus von Kues verwendet den Ausdruck „Dialektik“ in seinen Schriften allerdings nicht für seine „Kunst der Mutmaßungen“, sondern in der Regel als Synonym für die aristotelisch-boëthianische Logik, welche ihm als typischer Ausdruck eines begrenzten Verstandesdenkens erscheint. Als die näher zu charakterisierenden allgemeinen Komponenten des dialektischen Ansatzes im cusanischen Philosophieren lassen sich folgende Konzepte herausheben: 1. Eine theoretische Dialektik in der Form einer objektiv-idealistischen „Geist“ („mens“)-Theorie, welche inhaltlich eine universelle Dialektik des Maßes und der Prozessualität ist. 2. Eine Heuristik der Gotteserkenntnis in Form einer dialektischen Verbindung von positiver und negativer Theologie mit dem Ziel einer maximalen intellektuellen Annäherung an Gott. 3. Eine topische Hodegetik, welche sich kritisch mit verabsolutierenden oder vereinseitigenden Denkweisen und -inhalten auseinandersetzt. Nikolaus von Kues sieht im „Geist“ („mens ipsa“) ganz im neuplatonischen Sinn eine allumfassende und vermittelnde Potenz. So heißt es in seinen „Mutmaßungen“: „Der Geist setzt voraus, daß er alles umgreift, alles durchstreift und erfaßt, und er schließt daraus, daß er in allem und alles in ihm ist; so kann er behaupten, nichts könne es geben, was außerhalb seiner ist und seinem Gesichtskreis entflieht.“699 Innerlich läßt er 697

Ibid., pars I, prol., n. 2, p. 4: „… omnem humanam veri positivam assertionem esse coniecturam. Non enim exhauribilis est adauctio apprehensionis veri.“ 698 Vgl. ibid., I. 11, n. 60, p. 61: „Magna vis coniecturalis artis … Ars enim brevissima est, qua veritas ipsa indagatur“. 699 Ibid., I. 4, n. 12, p. 18: „Mens ipsa omnia se ambire omniaqe lustrare comprehendereque supponens, se in omnibus atque omnia in ipsa esse taliter concludit, ut extra ipsam ac quod eius obtutum aufugiat nihil esse affirmet.“

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den „Geist“ sich in vier hierarchisch zueinander geordneten Einheiten modifizieren, d.h. Gott, Intelligenz, Seele und Körper700. Diese Einheiten sollen nun durch einen „Abstieg“ und einen gegenläufigen „Aufstieg“ miteinander in Kontakt treten bzw. aneinander „teilhaben“ und insofern die wechselseitige Bedingtheit verschiedener Aspekte eines Gesamtzusammenhangs verkörpern („Der Geist unterscheidet und verknüpft gleichzeitig alles durch eine wunderbare gegenläufige Reihung: Die göttliche uneingeschränkte Einheit steigt schrittweise in die Intelligenz und die Vernunft hinab, und die eingeschränkte sinnenhafte Einheit steigt durch die Vernunft zur Intelligenz herauf.“701). Es gibt einen Kreislauf dieser Einheiten durch ihre Rückwendung zum Ursprung702. Die vernunftgeleitete „Kunst der Mutmaßung“ kommt ferner hinsichtlich der objektiven Weltkonstitution zu der Annahme, daß die Welt als ganze bzw. die Welten durch eine gegenläufige Durchdringung der beiden konträren konstitutiven Prinzipien „Einheit“ („unitas“) und „Andersheit“ („alteritas“) im Sinne einer Interferenz geformt werden, in welcher die progredierende Einheit und die regredierende Andersheit oder umgekehrt eine unauflösliche Verbindung bilden. Dieser dialektische weltanschauliche Grundgedanke wird mit Hilfe eine modellhaften Vorstellung in Gestalt der „paradigmatischen Figur“ („Figura P, paradigmatica“) veranschaulicht703. In seiner Schrift „Der Laie über den Geist“ beschreibt Nikolaus den „Geist“, das Prinzip der Vermittlung der kosmischen Einheiten, in analoger Weise als eine Einheit von Gegensätzen: der „Geist“ bestehe aus dem „Selbigen“ und dem „Verschiedenen“704. Er macht deutlich, daß die Vernunft („intellectus“), nicht aber der Verstand („ratio“) in der Lage ist, die „kompatible Konkordanz“ („compatibilis concordantia“) der Gegensätze, d.h. die Einheit von sich kontradiktorisch ausschließenden Gegensätzen, zu repräsentieren705. Es sei nämlich prinzipiell so, daß alle Gegensätze aus der sinnlichen Wahrnehmung ihre Einheit im Verstand, alle Gegensätze verstandesmäßiger Art ihre Einheit in der Vernunft und schließlich alle vernunftmäßigen Gegensätze ihre Einheit im göttlichen Ursprung finden706. Dieses cusanische Prinzip der differenten Einheiten von Gegensätzen in Verstand, Vernunft und göttlichem Absolutum zeigt klar die Differenz seines dialektischen Denkens und des aristotelischen. 700

Vgl. ibid., I. 4, n 12–16, p. 18–21. Ibid., I. 5, n. 16, p. 21 : „… admiranda in invicem progressione divina atque absoluta unitate gradatim in intelligentia et ratione descendente et contracta sensibili per rationem in intelligentiam ascendente mens omnia distinguat pariterque conectat.“ 702 Vgl. ibid., I. 8, n. 36, p. 41–42. 703 Vgl. ibid., I. 9, n. 39 – I. 10, n. 53, p. 44–54. 704 Vgl. Nicolaus de Cusa, Idiota de mente, ed. L. Baur, cap. 7, n. 97, p. 145–148. 705 Vgl. Nicolaus de Cusa, De coniecturis, I. 6, n. 24, p. 31, 10–11. 706 Vgl. ibid., I. 7, n. 29, p. 36: „Reperitur igitur intellectualis differentia, oppositio, alietas et si quid numero convenit, sed haec unitas sunt in absoluta. Ita quidem quadratae diversitates, alietates, oppositiones in ratione sunt unitas intellectualis; atque cubicae oppositiones et alietates sensibiles ac corporales sunt unitas in ratione.“ 701

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Nikolaus von Kues schreibt speziell dem Verstand und der Vernunft den gemeinsamen Gebrauch von Affirmationen und Negationen als Ausdrucksformen von Gegensätzen zu707. In dem jeweiligen konkreten Gebrauch dieser Aussagequalitäten unterscheiden sich Verstand und Vernunft voneinander. Denn der Verstand kann nur ihre disjunktive Verknüpfung, die Vernunft hingegen ihre kopulative Verknüpfung gelten lassen. Der Verstand kennt auf der Basis der ihm eigenen Verknüpfung von Gegensätzen eine „Koinzidenz von konträren Gegensätzen“ („coincidentia contrariorum“)708. Dies bedeutet, daß der Verstand die durch die Sinneswahrnehmung festgestellten Qualitäten an den Dingen, insofern sie als einander ausschließende Dingeigenschaften hinsichtlich identischer Gegenstände und Zeitpunkte der Prädikation ermittelt werden, in ihrer Gegensätzlichkeit durch Reflexion auf ein sie vereinigendes Drittes in Form einer gemeinsamen Gattung auch als Repräsentanten einer sie umfassenden Einheit ermitteln kann. Genau dies meint die „Koinzidenz der konträren Gegensätze“. Ihre sprachliche Ausdrucksform sind die Disjunktionen. Auch die aus der traditionellen Logik bekannte Begriffseinteilung und -synthese beinhaltete diese Art des wechselseitigen Ausschlusses und des Zusammenschlusses von Gegensätzen. Letztlich basierte das System der kategorialen Begriffe aus der aristotelischen Philosophie auf diesem verstandesmäßigen Differenzieren und Synthetisieren. Die Einheit der Gegensätze in der Vernunft, d.h. die bereits erwähnte „kompatible Konkordanz der Gegensätze“, betrifft die Einheit der gegensätzlichen Begriffsbestimmungen des Verstandes in ihrer Geltung als „Vernunftterme“ („termini intellectuales“)709. Der Geltungsbereich solcher Termini und der sie betreffenden Aussagen transzendiert die verstandesmäßige kategoriale Eindeutigkeit. Dementsprechend vereinigt und anerkennt die Vernunft auch Aussagen in kopulativer Weise, die sich nach den Grundsätzen der formalen Logik einander widersprechen. Die Reflexion auf die Einheit entgegengesetzter transkategorialer Begriffe in sie enthaltenen Aussageverknüpfungen auf Grund ihrer Relativität zueinander wird zum speziellen Aufgabenfeld der Vernunft und macht die ihr spezifische Einheit der Gegensätze aus. Im Rahmen der Reflexionen dieser Vernunftdialektik wird also scheinbar logisch Widersprüchliches ausgesagt und als gültig anerkannt, und zwar aus dem Grund, daß der Geltungsbereich der bisherigen Logik mit seiner Beschränkung auf den Bereich des endlich-eindeutigen Seienden bewußt durch die Ausweitung auf den transkategorialen Bereich überschritten wird. Dementsprechend können „Größtes“ und „Kleinstes“, „Ruhe“ und „Bewegung“, „Anfang“ und Ende“ und andere Grenzbegriffe in einer Aussagenverknüpfung ein und demselben Gegenstand zugesprochen werden. Diese konkrete Anwendung seiner „Kunst der Mutmaßungen“ im Sinne einer Vernunftdialektik der Begriffe hat Nikolaus in seinem ersten philosophischen Werk, „De docta ignorantia“ („Das wissende 707

Vgl. ibid., I. 8, n. 33, p. 39. Vgl. ibid., II. 1, n. 79, p. 77. 709 Vgl. ibid., I. 6, n. 25, p. 32. 708

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Nichtwissen“), ausgiebig vorgeführt. Eine „Koinzidenz von Kontradiktorischem“ ist für ihn darum nichts Undenkbares710. Die von Nikolaus deutlich erklärte Überlegenheit einer vernunftdialektisch gefaßten „Koinzidenz der Gegensätze“ im Sinne ihrer kompatiblen Konkordanz als relativierte transkategoriale begriffliche Intentionalitäten äußert sich gerade auch in seiner Polemik gegen die Verabsolutierung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch. Erst der „Geist“ („mens“) könne die vom Verstand selbst nicht reflektierten Voraussetzungen des Verstandes und die Bedingungen gültiger Aussagen umfassend bestimmen, nicht aber umgekehrt. Dies exemplifiziert er anhand des dialektischen Begriffspaars „NichtAnderes“ („non aliud“) und „Anderes“ („aliud“)711. Die „Koinzidenz der Gegensätze“ ist auch ein Topos in der Gotteslehre des Cusaners. Auf Gott läßt er in koinzidierender Weise die verabsolutierten Transzendentalbestimmungen des „Größten“ und des „Kleinsten“ zutreffen. Dies geschieht aber in der Weise, daß über Gott als einem Allumfassenden nicht mehr in Oppositionen zu urteilen ist, da er über allen möglichen Oppositionen steht. Dementsprechend gilt: „Gegensätzliche Bestimmungen kommen darum nur den Gegenständen zu, die ein Mehr oder Weniger zulassen, und zwar zeigen sie sich hier in verschiedener Weise. Dem absolut Größten kommen sie in keiner Weise zu, da es über allen Gegensätzen steht. Weil also nun das absolut Größte in absoluter Aktualität alles ist, was sein kann, und zwar derart frei von irgendeiner Art des Gegensatzes, daß im Größten das Kleinste koinzidiert, darum ist das absolut Größte gleicherweise erhaben über alle bejahende und verneinende Aussage. All das, was als sein Sein begriffen wird, ist es ebensosehr wie es dieses nicht ist, und all das, was als Nichtsein an ihm begriffen wird, ist es ebensosehr nicht, wie es dieses ist. Vielmehr ist es dieses in der Weise, daß es alles ist, und es ist in der Weise alles, daß es keines ist. Es ist so sehr in höchstem Maße dieses, daß es in geringstem Maße eben dieses ist. So macht es keinen Unterschied, ob man sagt: ‚Gott, der die absolute Größe selbst ist, ist Licht‘, oder ob man sagt: ‚Gott ist so im höchsten Maße Licht, daß er in geringstem Maße Licht ist‘, sonst wäre die absolute Größe nicht aktuell alles der Möglichkeit nach Seiende, wäre diese Größe nicht unendlich, Grenze von allem und durch keines von allen Dingen eingrenzbar …“712. In den „Mutmaßungen“ geht er noch 710

Vgl. Nicolaus de Cusa, De docta ignorantia, ed. E. Hoffmann, R. Klibansky, Epistola auctoris, lib. III, n. 264, p. 163, 15–16: „… contradictoria coincidunt …“; vgl. ders., Apologia doctae ignorantiae, ed. R. Klibansky, p. 14. 711 Vgl. Nicolaus de Cusa, Directio speculantis seu de non aliud, ed. L. Baur, P. Wilpert, cap. 19, p. 46. 712 Nicolaus de Cusa, De docta ignorantia, I. 4, n. 12, p. 10–11: „Oppositiones igitur hiis tantum, quae excedens admittunt et excessum, et hiis differenter conveniunt; maximo absolute nequaquam, quoniam supra omnem oppositionem est. Quia igitur maximum absolute est omnia absolute actu, quae esse possunt, taliter absque quacumque oppositione, ut in maximo minimum coincidat, tunc super omnem affirmationem est pariter et negationem. Et omne id, quod concipitur esse, non magis est quam non est; et omne id, quod concipitur non esse, non magis non est quam est. Sed ita est hoc, quod est omnia, et ita omnia, quod est nullum; et ita maxime hoc, quod est minime ipsum. Non

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weiter als in der Schrift „Wissendes Nicht-Wissen“, in welcher er Verknüpfungen von Oppositionen noch als einen Ausdruck der Wahrheit über Gott angesehen hatte713 und stellt nun klar, daß einzig der Ausschluß einer disjunktiven oder kopulativen Verknüpfung von Oppositionen die göttliche „erste absolute Einheit“ („prima absoluta unitas“) annähernd erfassen läßt714. Damit wird die Differenz der göttlichen „Koinzidenz der Gegensätze“ gegenüber der verstandes- oder der vernunftmäßigen „Koinzidenz der Gegensätze“ angezeigt. Jegliche Art von Differenz muß in Gott entfallen715. Damit wird Gott in der letzten Konsequenz als ein übergegensätzlich Gegensätzliches gedacht716. Nikolaus betont trotz der von ihm wiederholt unterstrichenen Präferenz für die „negative Theologie“ und das Urteil des „wissenden Nicht-Wissens“ auch unmißverständlich die Unverzichtbarkeit einer affirmativen Theologie für die Verehrung Gottes717. Die affirmative und die negative Theologie sind für Nikolaus unverzichtbare, aber auch unvollkommene Weisen des intellektuellen Erfassens Gottes. Letztlich gilt hier der Grundsatz des „wissenden Nicht-Wissens“, das den Menschen immer nur eine Annäherung an die Erfassung des Wesens Gottes gestattet718. In dem Begriff des „NichtAnderen“ („non aliud“) findet der Cusaner schließlich ein weiteres begriffliches Hinweisschild für die maximal angenäherte Kennzeichnung Gottes. Mit diesem Ausdruck transzendiert er selbst noch die Transzendentalien (Eines, Wahres, Seiendes, Gutes) und meint damit eine über allen Oppositionen oder Äquivalenzen stehende singuläre Kennzeichnung Gottes erreicht zu haben. Zugleich drückt er damit die absolute Selbstidentität als allem bestimmten Seienden vorausliegende Grundbedingung aus, welche mit und enim aliud est dicere ‚Deus, qui est ipsa maximitas absoluta, est lux‘, quam ista ‚Deus est maxime lux, quod est minime lux‘. Aliter enim non esset maximitas absoluta omnia possibilia acut, si non foret infinita et terminus omnium et per nullum omnium terminabilis …“ 713 Ibid., I. 6, n. 16, p. 14: „Praeterea veritas maxima est maximum absolute. Maxime igitur verum est ipsum maximum simpliciter esse vel non esse vel esse et non esse vel nec esse nec non esse.“ 714 Nicolaus de Cusa, De coniecturis, I. 6, n. 24, p. 31: „Improportionabiliter simplicior est negatio oppositorum disiunctive ac copulative quam eorum copulatio.“ 715 Ibid., II. 1, n. 78, p. 77: „In divina enim complicatione omnia absque differentia coincidunt …“ 716 Vgl. Nicolaus de Cusa, De visione Dei, ed. A. D. Riemann, cap. 13, n. 54, p. 46: „Omnia enim, quae dicuntur de absoluta simplicitate, coincidunt cum ipsa, quia ibi habere est esse. Oppositio oppositorum est oppositio sine oppositione, sicut finis finitorum est finis sine fine“; ders., Trialogus de possest, ed. R. Steiger, n. 73, p. 86: „Oportet ipsum esse supra omnem oppositionem.“ 717 Nicolaus de Cusa, Apologia doctae ignorantiae, p. 19: „… in ultimo capitulo primi libri Doctae ignorantiae sufficientissime declaratum omnem Dei culturam in affirmativis positionibus necessario fundari, licet docta ignoarantia sibi iudicium retineat.“ 718 Vgl. Nicolaus de Cusa, De docta ignorantia, I. 26, n. 89, p. 56: „Ex quibus concludimus praecisionem veritatis in tenebris nostrae ignorantiae incomprehensibiliter lucere. Et haec est illa docta ignorantia, quam inquisivimus; per quam tantum ad infinitae bonitatis Deum maximum unitrinitrum secundum gradus doctrinae ipsius ignorantiae accedere posse explicavimus, ut ipsum ex omni nostro conatu de hoc semper laudare valeamus, quod nobis seipsum stendit incomprehensibilem“.

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in dem Dasein Gottes erfüllt ist719. In dieser Methode des ständigen Transzendierens sowohl der Denkinhalte des Verstandes, als auch der intellektualen dialektischen Zusammenführung von Oppositionen, wie schließlich der eigenen Annäherungen an einen zufriedenstellenden Gottesbegriff füllen die beiden dialektischen Topoi der „Koinzidenz der Gegensätze“ und des „wissenden Nicht-Wissens“ die Funktion von Leitideen aus. Von ihnen inspiriert, realisiert sich die Cusanische Dialektik im Rahmen seiner theologischen Überlegungen als eine Methode permanenter Selbstkritik. Dies zeigt sich auch in den Formulierungen, daß Gott als das absolut Größte nur „in nicht ergreifender Weise erkennbar“ („incomprehensibiliter intelligibile“) und „in nicht benennender Weise benennbar“ („innominabiliter nominabile“) sei, welche Nikolaus bereits in seinem ersten philosophisch-theologischen Werk verwendet720. Diese Paradoxien weisen auf das Problem der Disparatheit von Sprache und Denken bei gleichzeitiger Notwendigkeit und Möglichkeit sprachlicher Mitteilungen über dieses Problem. Der thematische und der Metadiskurs gehen in den Schriften des Cusaners oft eine enge Symbiose ein. Zugleich wird so auch die dialektische Synthese aus negativer und affirmativer Theologie deutlich. Nikolaus von Kues hat sich zur Erklärung seines philosophisch-theologischen Anliegens kritisch mit gegnerischen Positionen auseinandergesetzt. Vor allem seine Verteidigungsschrift zu seinem Werk „De docta ignorantia“, die „Apologia doctae ignorantiae“, gegen die vorangegangenen Angriffe des Johannes Wenck von Herrenberg („De ignota litteratura“) liefert dazu zahlreiche Belege. So grenzt er sich von einer einseitigen Traditionsverhaftung ab721, kritisiert einen bloßen Streit um Worte722 oder ein Denken in unvermittelten Entgegensetzungen verstandesmäßiger Art723 und distanziert sich von einer Verabsolutierung des Prinzips vom ausgeschlossenen Widerspruch724. Schließlich polemisiert er gegen einseitige willkürliche Textinterpretationen ohne Berücksichtigung des kontextuellen Zusammenhangs725. Eine Festlegung des Denkens auf ausgetretene Pfade insbesondere innerhalb der Logik und der Philosophie, den Mangel an Flexibilität und die Fixierung auf bestimmte Methoden und Formen des verstandesmäßigen Denkens, wie sie die aristotelische Schulphilosophie seiner Zeit („Aristotelica secta“)726 erkennen ließ, will er durch seinen eigenen theoretischen Ansatz überwinden helfen. Die dafür notwendigen Bedingungen und Voraussetzungen sieht er in einem vernünftigen geistigen „Hinaufsteigen“ („ascensus“), „Überschreiten“ („transcensus“), „SichErheben“ („elevatio“) oder einem „Zurückführen zur Übereinkunft“ („in unam concor719

Vgl. Nicolaus de Cusa, Directio speculantis seu de non aliud, cap. 3, p. 7; cap. 4, p. 9–10. Vgl. Nicolaus de Cusa, De docta ignorantia, I. 5, n. 13, p 11. 721 Vgl. Nicolaus de Cusa, Apologia doctae ignorantiae, p. 2–3, p. 36. 722 Ibid., p. 7–8. 723 Ibid., p. 15. 724 Ibid., p. 28. 725 Ibid., p. 17. 726 Ibid., p. 6. 720

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dantem sententiam resolvare“) erfüllt727. Wiederholt argumentiert er dazu mit den Topoi des „wissenden Nicht-Wissens“, der „Koinzidenz der Gegensätze“ und der ausgleichenden Funktion eines ganzheitlichen Sinnverstehens. Diese treten an die Stelle von unkritischen Affirmationen, polarisierenden Konfrontationen oder polemischen Überspitzungen als verfehlter Arten des Argumentierens. Darin spricht Nikolaus wichtige zentrale Elemente einer kritischen Dialektik bzw. einer Dialektik als eines kritischen Argumentierens mit dem Ziel eines schließlichen harmonischen Ausgleichs von konträren Positionen aus. Sie sollen ihren produktiven Ausdruck in der „Mystischen Theologie“ bzw. der „Negativen Theologie“ als geistiger Aufstiegswege zu Gott finden728. Das „wissende Nicht-Wissen“ soll sich bei dieser kritischen Auseinandersetzung als eine Urteilsinstanz gegenüber aller Art eines verständigen Diskurses bewähren729. Nikolaus will mit seiner konstruktiven Kritik an den geistigen Grundlagen seines Gegners und der Verteidigung seines eigenen Ansatzes eine Art vernunftgeleiteter topischer Hodegetik an die Stelle eines unreflektierten Befolgens normierter Verfahrenswege („Methoden“) stellen. Eine Ausschaltung des verstandesmäßigen Folgerns und Problematisierens als Kern des wissenschaftlichen Vorgehens liegt ihm fern. Er sieht die Wurzel des Verstandes vielmehr in der Vernunft730 und versteht das diskursive Denken in der Gestalt des logischen Folgerns und Problematisierens als die unterste Stufe des vernünftigen Denkvermögens731. Und auch das philosophische Fachvokabular aristotelischer Provenienz ist für ihn als Ausdrucksmittel für eine begriffssprachliche Annäherung an eine „unaussprechliche Weisheit“ („ineffabilis sapientia“) unverzichtbar, wenngleich es ihm, für sich genommen, keine abschließende kognitive Präzision intellektueller Gottesforschung zu gewähren vermag732. Insofern stehen sich Verstand und Vernunft für den Cusaner nicht notwendig wie feindliche Brüder gegenüber. Vielmehr will er durch eine systematische Kritik an fixen und erstarrten Denk- und Argumentationsformen eine intellektuelle Läuterung des Verstandes erreichen. Er intendiert nicht die Eliminierung des verstandesmäßigen Diskurses, sondern dessen Erhebung in eine kompatible Einheit mit der Vernunft. In Jesus, dem „vollkommenen Menschen“, sieht er dieses Ideal als realisiert an733.

727

Vgl. ibid., p. 3, 11, 14, 17. Vgl. ibid., p. 6, 10. 729 Vgl. ibid., p. 16. 730 Nicolaus de Cusa, De coniecturis, I. 6, n. 25, p. 32: „Sicut enim intellectus radix est rationis, ita quidem termini intellectuales radices sunt rationalium.“ 731 Nicolaus de Cusa, De visione Dei, cap. XXII, n. 99, p. 77: „Et hic discursus in homine proxime accedit ad virtutem intellectualem, ut sit supremitas perfectionis sensibilis virtutis et infimum intellectualis.“ 732 Vgl. Nicolaus de Cusa, De venatione sapientiae, ed. R. Klibansky /J. G. Senger, cap. 33, n. 100, p. 95. 733 Nicolaus de Cusa, De visione Dei, cap. XXII, n. 100, p. 78: „Ita in te Ihesu meo video perfectionem omnem. Nam cum sis homo perfectissimus, in te video intellectum virtuti rationali seu discursivae, quae est supremitas sensitivae, uniri.“ 728

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Nikolaus von Kues stützte sich für seinen Denkansatz auf bedeutende Autoritäten. Eine illustre Gemeinde herausragender geistiger Neuerer aus der vorangegangenen Geschichte der Philosophie und Theologie, von Sokrates bis zu Meister Eckhart, kann er namentlich als Gewährsleute nennen734. Unverkennbar stellt er sein Anliegen damit selbst in die Tradition des sokratisch-platonisch-neuplatonischen dialektischen Argumentierens, Differenzierens und anagogischen Synthetisierens. Genauso unverkennbar überwölbte er seinen komplexen dialektischen Ansatz mit metaphysischen Reflexionen über ein selbstidentisches schöpferisches göttliches Absolutum, den konstanten Ausgangs- und Zielpunkt seiner gesamten Philosophie und Theologie.

Die dialektische Philosophie des Giovanni Pico della Mirandola Die spätmittelalterliche Philosophieentwicklung im 15. Jahrhundert ist nicht alleine durch die Dichotomie aus scholastischer Schulphilosophie und humanistischem Reformgeist geprägt. Genausowenig verebbte das dialektische Denken völlig oder flüchtete sich einfach in den Schoß der humanistischen Rhetorik bzw. Topik. Vielmehr gab es Denker, welche jenseits dieser Alternativen durchaus bemerkenswerte dialektische Ansätze erkennen ließen. Einer der geschichtlichen Hintergründe dafür war die wachsende Aufmerksamkeit für die wiederentdeckten Schriften Platons und die kritische Reflexion von Thesen und Positionen des schuldogmatischen scholastischen Aristotelismus durch einige herausragende Philosophen. Zu ihnen gehörte auch der junge Italiener Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494). Er kannte die damalige akademische scholastische Philosophie aus eigener Anschauung, war mit den humanistischen Neuerungsbestrebungen und Kritiken am überkommenen Stil und den Inhalten des Universitätsunterrichts vertraut und interessierte sich insbesondere auch für die authentische Philosophie Platons, wie sie durch die neuen lateinischen Übersetzungen von dessen Schriften seit der Wende zum 15. Jahrhundert bekannt geworden waren. Seine philosophische Leitidee bestand in dem Nachweis einer inneren Konkordanz aller bedeutenden Philosophien und Religionen – darunter insbesondere der Aristotelischen und der Platonischen Philosophie – auf der Basis eines christianisierten Neuplatonismus. Zu den wichtigsten Inspirationsquellen seiner dialektischen philosophischen Überlegungen gehörte auch das Werk des Nikolaus von Kues. Schon in seinen frühen Arbeiten, so auch in seiner berühmtesten Schrift, d.h. dem Redeentwurf für den von ihm geplanten ersten Philosophieweltkongreß im Jahr 1487 „Über die Würde des Menschen“ („Oratio de hominis dignitate“), sprach er sich für die Nutzung der Methode der rationalen Disputation mit dem Ziel der Wahrheitsfindung und des Erlangens von Weisheit aus. Genau in diesem Sinn ist dort von „Dialektik“ die Rede. Fern von bloßer Streitsucht sollte diese Methode im Verständnis Picos als ureigenstes Gut der Philosophie die Beschränktheit oder Verwirrtheit des Verstandes über734

Vgl. Nicolaus de Cusa, Apologia doctae ignorantiae, p. 2, 10, 15, 25, 31.

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winden helfen, um schließlich zu den Ursprüngen alles Seins zu weisen und den gedanklichen Aufstieg des Menschen zur reinen Schau Gottes vorzubereiten735. Pico hatte diese Rede vorbereitet, um die Disputation von 900 Thesen („conclusiones“), die er auf dem geplanten Philosophiekongreß zur Debatte stellen wollte, zu begründen und zu verteidigen. In einigen dieser Thesen, deren Ziel im Nachweis der fundamentalen Übereinstimmung aller wichtigen Denkströmungen seiner Zeit bestand, hat Pico auch direkt Gedanken ausgedrückt, die in bewußt paradoxer Form neue Horizonte eröffnen sollten. Zu diesen 71 „paradoxen Thesen, welche der eigenen Auffassung entspringen und neue Lehren in der Philosophie einführen“736, gehören fundamentale theoretische Aussagen dialektischer Art. So etwa: „Kontradiktorische Gegenteile sind in einer vernünftigen Natur untereinander verträglich“737; „Kontradiktorische Gegenteile fallen in einer einheitlichen Natur in eins“738; „Niemand sei darüber erstaunt, daß Anaxagoras die Vernunft als ‚unvermischt‘ bezeichnet, wo sie doch am meisten gemischt ist: denn in einer vernünftigen Natur fällt die größte Vermischung mit der größten Einfachheit in eins“739. Diese Thesen zeigen direkt Picos Affinität zur dialektischen Koinzidenzlehre des Cusaners. Die Dialektik Picos fungiert neben ihrer Rolle als Disputationsmethode hier auch als theoretisches Konzept von den Bedingungen und Möglichkeiten einer Einheit der Gegensätze. Aber auch der Gesichtspunkt der Vermittlung der Gegensätze als fundamentales Prinzip des Aufbaus des Kosmos wird von Pico unter Verweis auf die Lehre Platons in einer weiteren Reihe von Thesen vorgebracht. Dazu gehört die folgende: „Wir können vermittels des Verhältnisses von äußeren Gegenteilen und des Mittleren zwischen ihnen passend die Grade des Alls erkennen, indem wir finden, daß sie in die folgenden fünf eingeteilt werden können: Über-Seiendes, tatsächlich Seiendes, nicht tatsächlich Seiendes, nicht tatsächlich Nicht-Seiendes, tatsächlich Nicht-Seiendes.“740. Die Platonische Schichtenontologie mit ihrem Spektrum von der „Idee des Guten“ bis zu dem Reich der „Schattenbilder“ erscheint so als ein adäquates dialektisches Modell für die „Grade des Alls“. Picos theoretische Dialektik in Form der Koinzidenz-Lehre oder der Lehre von der Vermittlung der Gegensätze präsentiert sich in seiner berühmten Thesensammlung als 735

Vgl. G. Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, lat.-dt., übers. v. N. Baumgarten, S. 15, 19, 23, 25, 31, 35, 37, 39. 736 G. Pico della Mirandola, Conclusiones 900, p. 60: „Conclusiones paradoxae numero LXXI. secundum opinionem propriam, nova in philosophia dogmata inducentes“. 737 Ibid., p. 60, Nr. 13: „Contradictoria in natura intellectuali se compatiuntur.“ 738 Ibid., p. 60, Nr. 15: „Contradictoria coincidunt in natura uniali.“ 739 Ibid., p. 60–61, Nr. 22: „Nemo miretur, quod Anaxagoras intellectum appellaverit immixtum, cum sit maxime mixtus, quia maxima mixtio coincidit cum maxima simplicitate in natura intellectuali.“ 740 Ibid., p. 64: „Conclusiones secundum propriam opinionem numero LXII. in doctrinam Platonis de qua pauca hic adducuntur, quia prima paradoxa conclusio totam sibi assumit Platonis doctrinam discutiendum“. – Nr. 15: „Per extremorum et medii racionem, cognoscere possumus convenienter universi gradus sic in quinque posse dividi, in super ens, vere ens, non vere ens, non vere non ens, vere non ens.“

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Aufzählung paradoxaler Thesen, welche bestimmte probable Meinungen vortragen, die diskutabel sein wollen. Insofern will er kein in sich abgeschlossenes fertiges Dogma präsentieren, sondern die überkommenen Lehren ergänzen und erweitern. Zu diesen überkommenen Lehren gehört auch der Grundsatz, daß das fundamentale Rationalitätskriterium der Aristotelischen Philosophie und der verständigen Wissenschaft überhaupt, d.h. das Prinzip des Ausschlusses von logischen Widersprüchen, seine Berechtigung besitzt741. Damit wird ein Fundament der scholastischen Philosophie ausdrücklich beibehalten. Im Prinzip erscheinen die Aristotelische Philosophie, die rationalen Wissenschaften und das kategoriale Denken überhaupt so als eine probable, aber nicht erschöpfende Art des Denkens, die überboten werden kann. Für Pico erreicht die „vernünftige Natur“ („natura intellectualis“) den Grad von gedanklicher Einsicht, welcher die wechselseitige Durchdringung und Verknüpfung der unterschiedlichen „Formen“ des besonderen Daseins realisiert, ohne sie unterschiedslos miteinander zu verschmelzen. Diesen Gedanken äußert er in der an Platon anknüpfenden Gruppe von Thesen742. Die Dialektik als eine synthetisierende Kraft des vernünftigen Denkens schaltet so den Verstand nicht aus, sondern synthetisiert dessen Resultate von formaler Wirklichkeitserkenntnis. Pico schließt sich damit einem der zentralen Grundsätze der Platonischen Dialektik an, wie sie auch von Nikolaus von Kues befolgt wurde. Wie in einem Brennpunkt vereinigen sich in Picos Überlegungen aus der Sammlung der „900 Thesen“ und in seiner berühmten Rede „Über die Würde des Menschen“ somit Methoden und Inhalte des dialektischen Denkens aus der Antike und dem Mittelalter, wie sie insbesondere durch die Philosophie Platons, die scholastische Disputationsmethodik und das Konkordanz- und Koinzidenzdenken des Nikolaus von Kues vorgeprägt wurden. All dies geschieht nicht durch eine Verabschiedung des scholastischen Aristotelismus, sondern durch dessen bewußte Aufnahme und Integration in ein umfassendes Menschen-, Welt- und Gottesbild. Eine weitere Eigenart von Picos dialektischer Philosophie besteht darin, daß er sie in eine neuplatonische Einheits- und Seinsmetaphysik und eine christliche Theologie einbettet. Dies zeigt sich z.B. sehr deutlich in der wichtigsten Arbeit Picos zur Metaphysik, der Anfang der 90er Jahre des 15. Jahrhunderts entstandenen Abhandlung „Vom Seienden und dem Einen“ („De ente et uno“). Hier will er die Konkordanz von aristotelischer Seins-Metaphysik und neuplatonischer Einheits-Metaphysik nachweisen. Diese Schrift verfolgt in bestimmter Weise ebenfalls dialektische Gesichtspunkte. So ist sie zunächst, formalmethodisch gesehen, eine Mischung aus disputierter Quaestio und einem Traktat. 741

Ibid., p. 60: „Conclusiones paradoxae numero LXXI. secundum opinionem propriam, nova in philosophia dogmata inducentes“, – Nr. 16: „Rationabiliter posuit Aristoteles in suis scientiis, primum principium de quolibet dici alterum contradictoriorum, et de nullo simul.“ 742 Ibid., p. 66: „Conclusiones secundum propriam opinionem numero LXII. in doctrinam Platonis …“, – Nr. 41: „Licet natura intellectualis simul omnia intelligat, non tamen hoc est per virtualem et unitivam continentiam, sed per mutuam penetrationem formarum, et indissociatam communicationem totius esse participati, id est, formalis.“

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Sie behandelt eine bestimmte strittige Problemfrage, d.h. das Problem, ob die These einiger Vertreter des Platonischen Philosophierens zutrifft, daß der transzendentale Obergriff „Eins“ („unum“) nicht äquivalent und umfangsgleich mit dem Obergriff „Seiendes“ („ens“), sondern „Eins“ ein einfacherer und allgemeinerer Begriff als „Seiendes“ ist. Die entgegengesetzte Annahme einer Äquivalenz und Umfangsgleichheit beider Begriffe wird der Aristotelischen Richtung des Philosophierens zugeschrieben. Für die These von der Nicht-Äquivalenz beider Begriffe werden von Pico sodann drei zustimmende und bekräftigende Argumente genannt (Pro-Argumente), welche er im einzelnen widerlegt (Contra-Argumente), um daran anschließend ausführlich die eigene Lehre von den Transzendentalien als umfangsgleichen, aber intentional unterschiedenen Letztbestimmungen darzulegen, darunter der Begriffe „Seiendes“ und „Eins“ (Lehrentscheidung)743. Pico erwähnt zur Begründung seines dialektischen Vorgehens nicht die scholastische Quaestionenmethode, der er sich unausgesprochen anschloß, sondern beruft sich statt dessen explizit auf die Verfahrensweise Platons in den beiden Dialogen „Parmenides“ und „Sophistes“. In diesen Dialogen, so hebt er hervor, sei vorbildlich eine „dialektische Übung“ („dialectica exercitatio“) zum Zwecke der Problemuntersuchung, speziell auch zur Untersuchung des Problems des Verhältnisses von „Sein“ und „Einem“ vorgenommen worden; dieser Art des Vorgehens will er folgen744. Pico wollte allerdings nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich Platon folgen, um aus den genannten Dialogen des antiken Meisterdenkers die von ihm selbst verfochtene Lehre von der Äquivalenz des „Einen“ und des „Seienden“ als probable Schlußfolgerung zu gewinnen. Insofern gebraucht er also die Dialektik als ein argumentatives Problemlösungsverfahren mit dem Ziel einer probablen Lösung. Ferner stützte er sich zur Bekräftigung dieses Ergebnisses u.a. auf die Autorität des Pseudo-Dionysius Areopagita745. Mit der Einschaltung dieses neuplatonisch orientierten christlichen Theologen in den weiteren Diskurs kann Pico ausführlich den Begriff von Gott als eines transzendenten Seienden und Einen im Sinn eines gemeinsamen Besitzes von platonisch und aristotelisch orientierter Philosophie erläutern und darin eines der schlagenden Argumente für seine metaphysische These von der Äquivalenz von „Eins“ und „Seiendem“ finden746. Ein spezieller dialektischer theoretischer Gehalt kommt in den weiteren Diskurs dadurch hinein, daß Pico unter Verweis auf Pseudo-Dionysius Areopagita sowohl die Berechtigung einer affirmativen als auch einer negativen Theologie nachweist. Dies bedeutet für ihn, daß eine einfache positive Bestimmung des Wesens Gottes lediglich eine unvollkommene Zwischenstufe im Aufstieg zu Gott bedeutet. Er gelangt schließlich zu dem Ergebnis, daß die stufenweise intellektuelle Annäherung an Gott in der Erkenntnis der absoluten Transzendenz des göttlichen Seins und der 743

Vgl. G. Pico della Mirandola, De ente et uno, cap. 1–9, p. 160–168. Vgl. ibid., cap. 2, p. 160–161. 745 Vgl. ibid., cap. 2–3, p. 161. 746 Vgl. ibid., cap. 3–4, p. 161–163. 744

DIE DIALEKTISCHE PHILOSOPHIE DES GIOVANNI PICO DELLA MIRANDOLA

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menschlichen Unfähigkeit zu einer adäquaten Erkenntnis des Wesens Gottes mündet747. Diese beiden Gedanken (d.h. von der absoluten Transzendenz Gottes als eines „Einen“ und zugleich „Über-Seienden“ und von dem wissenden Nicht-Wissen des Menschen hinsichtlich des Wesens Gottes) gehören zum Standardrepertoir der „negativen Theologie“. Hierin ist die dialektische Wechselbeziehung von Sein und Nicht-Sein sowie von Wissen und Nicht-Wissen konstitutiv einbezogen und damit eines der Elemente von Picos dialektischem Theorieansatz benannt. Er kombiniert diesen negativ-dialektischen Aspekt seiner Gotteslehre allerdings im weiteren Diskurs mit der These von der universellen positiven harmonisierenden Kraft einer von Gott ausgehenden und wieder auf ihn zurückgehenden „Liebe“ („amor“) in allem Bestehenden748. Insofern enden also seine metaphysisch-dialektischen Reflexionen über das erste Prinzip alles Seienden und seine gefundenen inhaltlichen Bestimmungen nicht in einem negativen Resultat, sondern in dem Postulat einer universellen Harmonie, durch die sich das „Viele“ in letzter Instanz auf ein transzendentes „Eins“ zurückführen läßt. Die Transzendentalien „Eins“, „Seiendes“, „Wahres“ und „Gutes“ gelten ihm dabei als universelle, sowohl auf Gott als auch das geschaffene Universum anwendbare Letztbestimmungen749. Es ist also eine auf universelle Harmonie angelegte Metaphysik, Theologie und dialektische Philosophie, welche Pico in diesem systematischen Werk liefert. Damit artikuliert er Perspektiven eines Denkens, welches bereits in seinen Frühschriften klar ausgeprägt war. Die Transzendentalontologie Picos ist vor allem auf den neuplatonischen Begriff des in sich ungeteilten „Einen“ bezogen. Als alternative Denkmöglichkeit zu einer differenzlosen Einheitsmetaphysik erwähnt er aber auch eine erweiterte Transzendentalontologie, in welcher der Begriff des „etwas“ („aliquid“) im Sinne eines mit sich selbst identischen und zugleich von einem anderen unterschiedenen Seienden zu den Transzendentalien gehört. Er führte diese Idee auf Ibn Sina und letztlich auf Platons „Sophistes“ zurück750. Diese Überlegung Picos zeigt, wie er methodisch (im Sinn der positiven Nennung alternativer Denkmöglichkeiten) und systematisch (im Sinn des Postulats der Einheit von Identität und Alterität als simultaner Grundbestimmungen in allem Seienden) auf die objektiv-idealistische Dialektik Platons Bezug nimmt und sich ihr öffnet. Ein besonderes Resultat seiner kombinierten Seins- und Einheitsmetaphysik und der Integration dialektischer Überlegungen in diese ist von Pico dadurch erzielt worden, daß 747

Vgl. ibid., cap. 4–5, p. 162–165. Ibid., cap. 8, p. 168: „Vidit enim Deus cuncta quae fecerat, et erant valde bona. Quid in, a bono Opifice sunt, qui sui similitudinem omnibus imprimit, quae sunt ab ipso. In entitate igitur rerum admirari potentiam efficientis possumus Dei, in veritate venerari artificis sapientiam, in bonitate reclamare amantis liberalitate‹m›, in unitate suscipere conditoris unicam, ut sic dixerim, simplicitatem. Quae unumquodque sibi tum omnia inter se invicem, tum ad seipsum univit omnia, sic unumquodque ad suimet, ad aliorum, ad Dei postremo vocans amorem.“ 749 Vgl. ibid., cap. 8–9, p. 166–168. 750 Vgl. ibid., cap. 8, p. 166–167. 748

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PROTAGONISTEN EINER ERNEUERTEN DIALEKTIK

er gegen anderslautende Ansichten neuplatonischer Philosophen die sogenannte „Erste Materie“ in den Bereich des „Seienden“ einbezieht. Er grenzte sich damit von einer absoluten idealistischen Seinslehre ab, in welcher die „Erste Materie“ dem Nichts gleichgestellt wurde. Sein abweichender dialektischer Lösungsvorschlag besteht darin, die „Erste Materie“ als ein Seiendes zu betrachten, das weder Nichts, noch ein vollbestimmtes Seiendes ist, das weder eine Einheit, noch völlig frei von Einheit ist. Damit erklärt er die „Erste Materie“ zu einem negativ bestimmten Mittleren zwischen den genannten Gegensätzen751. Diese Integration des Begriffs „Erste Materie“ in eine neuplatonische Einheitsontologie ist eines der wichtigsten Indizien für sein Bemühen, die platonische und die aristotelische Metaphysik in dialektischer Weise zu synthetisieren.

Die Dialektik im Werk des Francesco Patrizi Ein dialektisches Denken, das sich weitgehend durch eine antiaristotelische Perspektive auszeichnet, prägt das philosophische Werk des Francesco Patrizi (1529–1597), eines der wichtigsten und vielseitigsten Vertreter der italienischen Renaissancephilosophie. Er setzte sich systematisch mit der gesamten aristotelischen Philosophie auseinander und zeigt damit die enorm gewachsene kritische Distanz der Renaissance-Philosophie gegenüber diesem historischen Erbe. Unverkennbar tritt bei ihm eine intensiver rezipierte platonische bzw. neuplatonische Richtung des Philosophierens an die Stelle eines schulmäßig betriebenen Aristotelismus. Obgleich er keine pauschale Verurteilung der aristotelischen Philosophie ohne entsprechende Argumentationen anstrebt, wird das Werk des Aristoteles von Patrizi als etwas historisch Gewordenes, als ein Fehler- und Mangelhaftes gerade auch in seiner scholastischen Rezeption und damit als nicht mehr unkritisch Rezipierbares betrachtet. Durch eine gründliche Analyse, durch Vergleiche mit anderen Philosophien, vor allem der Platonischen, und schließlich durch kritische Schlußfolgerungen daraus auf die für die Gegenwart akzeptablen philosophischen Inhalte und Methoden demonstriert er die Grenzen der Philosophie des Aristoteles und dessen Anhänger, um sie bewußt zu überschreiten. Einer der Kontroverspunkte seiner kritischen Betrachtungen war z.B. die Frage nach den geschichtlichen Anfängen, den Inhalten und Methoden sowie den Spezifika der Dialektik. In seinen „Discussiones Peripateticae“ zeigt er bemerkenswerte historisch fundierte Kenntnisse in dieser Frage. Nicht also nur eine exegetische oder lediglich deklarative Beschreibung von „Dialektik“ anhand ausgewählter Texte oder Fragestellungen, sondern eine geschichtlich differenzierende Betrachtung steht am Anfang seines Diskurses. Er arbeitet detailliert anhand der ihm vorliegenden literarischen Quellen sowohl die Übereinstimmungen als auch die Unterschiede, ja Gegensätze zwischen den unterschiedlichen Ansätzen zur Dialektik in der Antike heraus. Er weiß auch, daß die Termini „Dialektik“ und „Logik“ sowohl synonym als auch in getrennter Bedeutung 751

Vgl. ibid., cap. 6, p. 166.

DIE DIALEKTIK IM WERK DES FRANCESCO PATRIZI

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gebraucht werden können. Dies hat zur Folge, daß er zwischen einer „Dialektik“, welche mit der Lehre vom formalen korrekten Schließen identisch ist, und einer „Dialektik“, welche eine Kunst der dialogischen Wechselrede oder des Schließens aus Wahrscheinlichkeitsannahmen bezeichnet, unterscheidet. Die „Dialektik“ als „Logik“ (im Sinne der Lehre vom formalen korrekten Schließen) betrachtet er zunächst nicht weiter. Platon macht er zum Pionier der „Dialektik“ im Sinne eines methodisch geregelten, kritischen Frage-Antwort-Verfahrens (wie es z.B. auch Aristoteles im Buch VIII seiner „Topik“ bekannt gemacht hat) und einer „Dialektik“ als einer analytischen Methode, wobei er gleichzeitig klarstellt, daß die „Dialektik“ als eine subjektive Befähigung zum Argumentieren und zur dialogischen Wechselrede vor ihrer methodischen Perfektionierung durch Platon bereits von Sokrates und seinen Schülern betrieben worden war752. Aristoteles hingegen könne höchstens das Verdienst zukommen, die Technik des dialektischen Syllogismus in seiner „Topik“ breiter entwickelt und dargestellt zu haben, d.h. also das Schließen aus Wahrscheinlichkeitsannahmen753. Ein irgendwie gearteter Alleinvertretungs- oder Führungsanspruch der Aristoteliker in Sachen „Dialektik“ kann also nach Patrizi schon aus historischen Gründen keinesfalls aufrecht erhalten werden. Nach diesen Erläuterungen der historischen Prioritäten schildert er genauso gründlich die wichtigsten Differenzen zwischen der Aristotelischen und der Platonischen Auffassung von „Dialektik“. Diese bestehen, kurz gesagt, darin, daß die Platonische Dialektik als Kern des Philosophierens auf die wahre Erkenntnis des Seienden und des „Ersten Prinzips“, d.h. also auf das Wissen, gerichtet sei, während die Aristotelische Dialektik lediglich ein Mittel für das erfolgreiche Argumentieren und Disputieren gegenüber anderen sei, ohne aber klar zwischen „Wissen“ und „Meinung“ zu differenzieren. Die letzten 400 Jahre des Philosophierens bis in die unmittelbare Gegenwart seien deshalb auch im wesentlichen ein „Wettstreit um Worte“ gewesen754. Patrizi distanziert sich damit deutlich von einer zum Selbstzweck gewordenen Disputationstechnik und nimmt sich statt dessen die Platonische Analysis in ihrer doppelten Funktion als ein reduktivaufsteigendes und als ein dihairetisch-absteigendes Verfahren mit einem unbedingten Anspruch auf Wahrheitserkenntnis zum Vorbild, wie es in Platons „Politeia“ beschrie752

Vgl. Franciscus Patricius, Discussiones Peripateticae, T. II, lib. 1, p. 180–182. Vgl. ibid., T. II, lib. 1, p. 195. 754 Ibid., T. III, lib. 4, p. 318: „De opinione ergo Plato et Aristoteles conveniunt, de scientia non conveniunt. Illi scientia est entium verorum, sincerorum, semper eodem modo se habentium, necessariorum. Aristoteli universalium se ex singularibus fluxibilibus collectorum, non necessariorum, non semper eodem modo se habentium. Atque haec secunda et maxima est huius atque illius dialectices differentia“; ibid., p. 323: „Iam sublimem ergo Plato, nobis dialecticam tradidit, quae nos via certa ad primum principium, atque veram verorum entium cognitionem duceret. Hunc usum Aristoteles eiusque Peripatetici omnes ignorarunt, quorum dialectica utilis tantum est, ne quis nos in contradictionem adducat, inter disputandum, ad quam utilitatem solam versa omnis eius exercitatio est. Atque hinc est quod quadringentis iam annis nedum dialectica, sed philosophia quoque ipsa, nihil aliud fuerit, sitque adhuc in scholis quam lis et verbosa contentio. Ex quibis an Aristotelica Dialectica sit Platonicae conferenda, facile omnes mente sani, perspicere valent.“

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PROTAGONISTEN EINER ERNEUERTEN DIALEKTIK

ben wurde755. Gleichwohl räumt er auch die produktive Funktion des methodischen Zweifels, des kritischen Vergleichs alternativer Meinungen und der Disputationen ein, da auch Platon dies bereits vor Aristoteles erfolgreich praktiziert habe756. Die Platonische Dialektik wird damit zum musterhaften Vergleichsmaßstab für ein jegliches dialektisches Vorgehen gemacht. Unverkennbar liegt der Akzent von Patrizis Erörterungen dabei deutlich auf deren Funktion, eine Hinwendung und einen Aufstieg zu den höchsten und letzten Prinzipien alles Seienden zu ermöglichen. Ausdrücklich erwähnt er in diesem Zusammenhang die Dialektik-Auffassung Plotins als ein positives Beispiel für die erfolgreiche Übernahme und Nachfolge des Platonischen Vorbilds durch Spätere757. An dieser Stelle wird der neuplatonische Akzent seines Dialektikverständnisses deutlich. In seinem Hauptwerk, der „Nova de universis philosophia“, beschreibt Patrizi mittels zahlreicher dialektischer Reflexionen den Ursprung und den Aufbau der Welt. Die Dialektik wird damit zur Theorie von der Vermittelbarkeit und der Einheit der Gegensätze in der Welt durch einen Rekurs auf ihren Ursprung und ihre Genese. Der Gedanke der harmonischen Zusammenordnung des Vielen in der Welt zu einer Einheit durch Hervorgehen aus einem Ur-Einen und den Rückbezug auf dieses klingt in der Prinzipienlehre Patrizis an758. Von ähnlich großer Bedeutung ist das dialektische Theorem der Vermittelbarkeit konträrer Gegensätze, das Patrizi z.B. anwendet, um den Seinsstatus derjenigen Dinge zu erklären, welche dem Wandel und der Vergänglichkeit unterworfen sind, der sogenannten „caducae res“. Für ihn stellen diese Dinge ein „Seiendes Nicht-Seiendes“ dar, welches zwischen dem wahrhaft Seienden und dem Nichts in der Mitte steht759. Eine noch viel wichtigere Funktion als bei der Erklärung des ontologischen Status der veränderlichen Dinge erhält die Vermittlungsdialektik für Patrizi, wenn er das Wesen des „animus“ erklärt, d.h. der allbelebenden Geist-Seele. Denn in dieser zentralen Vermittlungsentität werden das Körperliche und das Unkörperliche zu einer dialektischen Einheit verknüpft, einem „unkörperlichen Körperlichen“, mit einer fundamentalen Bedeutung für den Zusammenhalt und die gesamte Dynamik der Welt, ähnlich wie sie der Platonischen „Weltseele“ zukommt. Diese Verknüpfung soll in einer „bewunderungswürdigen Weise“ („mirando quodam modo“) erfolgen, welche nach Patrizis Beschrei755

Vgl. ibid., p. 322. Vgl. ibid., p. 314. 757 Vgl. ibid., p. 322–323. 758 Vgl. Franciscus Patricius, Nova de universis philosophia, Panarchia, lib. 12, fol. 27va. 759 Ibid., Panarchia, lib. 13, fol. 28va: „Est ergo ens non ens. Medium itaque inter vere entia, et vere non entia, hoc est nihila. Illa vero vere entia, et sunt, et dici debent, de quibus nunquam falsum fuerit dicere, ea entia esse. Et de quibus semper verum fuerit dicere, entia esse. Quod caducis minime contingit. De quibus antequam oriantur falsum erit dicere, esse entia. Et postquam interierint, falsum erit dicere esse entia. Igitur caducae res, nec vere essentiae, nec verae substantiae, nec vera entia sunt. Sunt a veris deciduae, et inter veras, et nihilum interpositae.“ 756

DIE DIALEKTIK IM WERK DES FRANCESCO PATRIZI

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bung de facto auf die Behauptung einer Koinzidenz kontradiktorischer Eigenschaften hinausläuft: „Die meisten der Alten waren im Ungewissen darüber, ob es außer den beiden Naturen, dem Körper und dem Unkörperlichen, im All eine dritte Natur gibt, die nicht körperlich und nicht unkörperlich ist, sondern beides ist, sowohl unkörperlich als auch körperlich, so daß sie eine gewisse mittlere Natur zwischen beiden darstellt, indem sie mit ihrem Unkörperlichen von der unkörperlichen Natur abhängt, mit dem Körperlichen sich aber zum Körper hinneigt. Sie hat an den Eigenschaften von beidem teil, nicht aber im Sinne einer Vermischung der Gegenteile, nicht durch eine Abmilderung der konträr Entgegengesetzten und nicht als eine Zusammensetzung aus verschiedenen Bestandteilen, sondern so, daß sie offenbar auf eine bewunderungswürdige Weise alles zusammen ist: Sie ist sowohl eine vermischte, als auch eine nicht vermischte, sowohl eine abgemilderte, als auch eine nicht abgemilderte, sowohl eine zusammengesetzte, als auch eine nicht zusammengesetzte Natur. Dies sei gesagt, um nicht auf das völlig Unbestimmte verwiesen zu werden, wenn wir nach der Mischung, der gegenseitigen Abstimmung und der Zusammensetzung aus jenen beiden Komponenten suchen.“760 Ferner übernimmt Patrizi den aus den Platonischen Spätschriften stammenden Gedanken der Einheit von Identität und Andersheit im Seienden, um das Verhältnis von „animus“ und dem Unkörperlichen als ein Verhältnis der „Ähnlichkeit“ („similitudo“) zu beschreiben761. Schließlich wendet er auf den „animus“ auch das neuplatonische Ternar aus Wesenheit, Wirkungsvermögen und aktiver Handlung an, um den dynamischen Charakter der Vermittlung von Unkörperlichem und Körperlichem durch den „animus“ zu verdeutlichen762. Die allbelebende Geist-Seele repräsentiert für ihn demzufolge die 760

Ibid., Pampsychia, lib. III, fol. 51vb: „Praeter autem duas hasce naturas, corpus, et incorporeum, veterum plurimi ignorarunt. An vero, et tertia quaedam in universitate erit natura, non corporea, non incorporea, sed utrumque et incorporea, et corporea, ita ut media quaedam sit inter utramque. Incorporeo suo, ab incorporea pendens. Corporeo vero ad corpus vergens. Et sit proprietatum utriusque particeps, ita ut videatur, non quidem ex extremis mista, non ex contrariis temperata, non e partibus composita, sed mirando quodam modo, haec omnia sit. Et mista, et non mista, temperata, et non temperata, composita, et non composita. Ne iterum, dum mistionem, temperationem, compositionem ex duobus illis quaerimus in infinitum amandemur.“ 761 Ibid., fol. 51vb: „Necesse ergo est, quia incorporea sit, incorporeorum proprietates teneat. Non simplicissimas illas, quales in vere incorporeis sunt, sed gradu inferiore. Omne namque productum (quod toties repetimus) non idem cum producente est, sed ei est simile, quatenus ab identitatis suae aliquid aufert. Et quia ab illo in alteritatem cadit, fit etiam ei dissimile. Similitudinem ergo quandam verae incoporalitatis habet.“ 762 Ibid., fol. 52ra: „Necesse ergo tria haec essentiam, vires, actionesque, ita partiri, ut alia sit incoporeis similis essentia nimirum, alia sit similis corporeis, nempe postrema, quae est actio. Inter quas primam, et postremam, mediae sunt vires. Quae uti iam sepe est demonstratum, et ab essentia veniunt, et in essentia habitant, et ab eis, intra et extra essentiam, proferuntur actiones. Atque ita vere medium fit hoc ens, quod incorporeum corporeum nos appellamus. Et animum nuncupamus.“; vgl. Proclus, The Elements of theology, ed. and transl by E. R. Dodds, prop. 169, p. 146: „Ein jeder Intellekt besitzt auf ewig ein wesenhaftes Dasein, ein Wirkungsvermögen und ein Wirken.“

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„Gesamtheit des Seienden“ in seiner belebten Daseinsweise763. Ihr kommen wesentlich die Funktion zu, die Welt als ganze zusammenzuhalten bzw. zu erhalten im Wandel der Dinge und Erscheinungen, indem sie beseelend, belebend und bewegend wirkt. Und dadurch kommt die „Einheit des Unkörperlichen und Körperlichen“ („unio incorporei cum corpore“) zustande764. Patrizi demonstriert mit dieser Seelentheorie ein Kernstück der platonisch-neuplatonischen ontologischen Wesensdialektik zur Erklärung der Welt als ganzer. Die Prinzipien der Einheit und der Vermittlung der Gegensätze in einem einheitlichen harmonischen Ganzen (des Einen und des Vielen, des Körperlichen und des Unkörperlichen, des Identischen und des Verschiedenen, des Beharrenden und des Wandelbaren, des Ruhenden und Wirkenden, des Seienden und des Nicht-Seienden) bilden die positive theoretische Basis des vorgetragenen Konzepts. In der Naturphilosophie („Pancosmia“), dem letzten Teil seiner „neuen Philosophie“, läßt er ebenfalls in Gestalt eines allgegenwärtigen „Licht“-Prinzips („lumen primaevum“) den Zusammenhalt von Körperlichem und Unkörperlichem sowie von Erkennendem und Erkanntem repräsentieren und garantieren765. Die neuplatonische Dialektik artikuliert sich in Patrizis Werk sichtbar in unterschiedlichen Dimensionen, d.h. als Ontologie, Naturphilosophie und Erkenntnistheorie. Sie wirkt kritisch und konstruktiv bei der Überwindung überkommener philosophischer Lehrmeinungen, vor allem der aristotelischen, und systematisiert die gewonnenen Einsichten im Rahmen einer Einheits- und Seinsmetaphysik. Und indem dieser Rahmen von ihm auch positiv in den Kontext einer monotheistischen Schöpfungslehre eingeordnet wird, indem einzelne Kategorien auch der aristotelischen Philosophie weiterhin verwendet werden, indem die Corpernicanische Astronomie von ihm abgelehnt wird, erweist sich dieses Philosophieren als eine Spätform der mittelalterlichen Reflexion. Der philosophische Paradigmenwechsel von einem unkritisch übernommenen Aristoteles zu einem neuplatonisch-monistisch gedeuteten Platon wirkte allerdings deutlich anregend und stimulierend auf andere Denker. Nicht zuletzt ist es die Platonische Dialektik der „Ideen“ aus dem Spätwerk des antiken Denkers (vgl. „Sophistes“, 254c– 257c), sind es die Konzepte Plotins und Proklos’ zur Dialektik von Einheit und Vielheit, welche Patrizi motivierten. 763

Ibid., fol. 52vb: „Animus igitur, omnia entia est; superiora equidem, tamquam eorum imago. Inferiora vero, ut eorum exemplar. Et essentia sua tota universitas entium est, modo nimirum animario …“ 764 Ibid., Pampsychia, lib. IV, fol. 56vb: „Si singuli mundi partes spargerentur, nec mundus totus, nec partes eius consisterent. Ut autem consisterent opus habuerunt, se se quaeque in sua essentia conservare. A sparsilibus se ipsis, id consequi non potuerunt. A non sparsili ergo alio id beneficium fuit adipiscendum. A corpore ergo alio, nequaquam; nisi in infinitum abire voluit: Ab incoporeo igitur, quod tamen esset corpori accomodabile. Accomodatio haec, unio quaedam est, incoporei cum copore. Hanc autem esse, non aliam rem quam animum, est antea demonstratum. Mundi ergo copus, ut mundi corpus esse, et esse perseveraret, animo opus habuit, qui ei iungeretur. Animus autem ipso sui esse, suaque praesentia, tria efficit. Animat, vivificat, movet …“ 765 Vgl. ibid., Pancosmia, lib. V, fol. 74vb–75ra.

DAS DIALEKTISCHE DENKEN GIORDANO BRUNOS

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Das dialektische Denken Giordano Brunos Giordano Bruno (1548–1600), der bedeutende italienische Renaissance-Philosoph, hat in seinen Schriften wichtige Teile des dialektischen Denkens aus der antiken und der mittelalterlichen Philosophie rezipiert und synthetisiert. Dies äußert sich sowohl in der Form und der Methodik, als auch im theoretischen Gehalt vieler seiner Werke. Das Denken in Gegensatzbeziehungen als den konstitutiven Bedingungen für das Dasein, das Werden und Vergehen der Dinge und Erscheinungen in einer ganzheitlich verstandenen Welt hat bei ihm einen derart hohen Rang, daß man seine Philosophie auch als eine dialektische Weltanschauung betrachten kann. So heißt es bereits in einem seiner frühen italienischen Dialoge grundsätzlich und in Auseinandersetzung mit einer nur polarisierenden Gegenüberstellung von Gegenteilen: „Weiter ist vollkommen falsch, daß die Entgegengesetzten den größten Abstand halten; denn in allen Dingen wird Entgegengesetztes verbunden und vereint, und das Universum hat – den Hauptbestandteilen wie den anderen Bestandteilen nach – nicht anders als durch diese Verbindung und Vereinigung Bestand …“766. Und zur Funktion von Gegensatzbeziehungen bei der Schaffung von Symmetrie und Ordnung in der Welt heißt es im gleichen Dialogwerk: „Aus dieser Verschiedenartigkeit und Gegensätzlichkeit [der qualitativen Beschaffenheit der Weltkörper – H.-U. W.] kommt die Ordnung, die Symmetrie, der Aufbau, der Friede, die Eintracht, die Versöhnung, das Leben. Derart, daß die Welten aus Gegensätzlichem zusammengesetzt sind; und die einen Extreme des Gegensatzes, wie die Erden und die Wasserkörper, leben und weben durch die anderen Extreme, wie die Sonnen und Feuer.“767. Und nicht nur im naturphilosophischen Kontext, der in Brunos dialektischem Denken eine herausragende Rolle spielt, sondern durchaus auch im Kontext des praktischen menschlichen Handelns gelangt er zu weltanschaulichen Verallgemeinerungen über die konstitutive Funktion der Gegensätze. So heißt es in dem Dialogwerk „Die Vertreibung der triumphierenden Bestie“ nach einer umfassenderen Reflexion zur Kompatibilität der Gegensätze in naturphilosophischen, mathematischen und ethischen Kontexten zusammenfassend: „Der Anfang, die Mitte und das Ende, die Geburt, das Wachstum und die Vollendung von allem, was wir sehen, geht von Gegensätzen durch Gegensätze in Gegensätzen zu Gegensätzen, und wo Gegensatz ist, da ist auch Wirkung und Rückwirkung, da ist Bewegung, ist Verschiedenheit, ist Mannigfaltigkeit, ist Ordnung, Stufenfolge und Fortschritt.“768. Brunos Weltanschauungsdenken ist antiaristotelisch ausgerichtet. Dies impliziert einen deutlich kritischen Impuls bei der Entwicklung und Begründung der eigenen Philosophie. Die Leitvorstellung einer unendlichen Welt setzt er der Aristotelischen Vorstel766

G. Bruno, Über das Unendliche, das Universum und die Welten, übers. u. hrsg. v. C. Schultz, 5. Dialog, S. 172. 767 Ibid., 3. Dialog, S. 119. 768 G. Bruno, Die Vertreibung der triumphierenden Bestie, 1. Dialog, S. 243.

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PROTAGONISTEN EINER ERNEUERTEN DIALEKTIK

lung einer endlichen Welt entgegen. Damit verbindet er seine Vorstellung von der Relativität, der Vereinigung bzw. der Harmonie der Gegensätze. Eine Verabsolutierung von Gegensätzen, wie sie in der Aristotelischen Kosmologie bestimmend war, kann er dadurch umgehen. Mit dem von ihm kritisierten Konzept setzt er sich argumentativ auseinander. Es geht Bruno um einen sachbezogenen Disput, welcher nicht das Niederringen oder zu Fall Bringen des Gegners, sondern den Aufweis der Wahrheit („die wahre Anschauung der Dinge“) zum Ziel hat769. Insofern verfolgt sein dialektisches Argumentieren ein positives Ziel. Gleichwohl enthalten seine Schriften neben der sachbezogenen Auseinandersetzung auch sehr kritische Äußerungen gegen diejenigen, „die reden, ohne zu überlegen“, oder diejenigen, „die viel sagen und wenig denken“770. Es geht ihm vor allem um die Überwindung eines traditionsverhafteten unreflektierten Denkens771 durch den Einsatz des argumentativen Verstandes und einen auf den Ursprung und das Wesen des Universums zielenden Geist. Um die Konfrontation solcher alternativer Denkstile vorzuführen und die schließliche Überlegenheit seines eigenen theoretischen Ansatzes über die aristotelische Philosophie zu demonstrieren, nutzte er die literarische Form des Dialogs. Das neuplatonische Geist-Prinzip als Inbegriff eines selbstreflexiven und transzendierenden Denkens auf einen Einheitsgrund alles Seienden hin stellt er eindeutig über einen unkritischen und verabsolutierten Gebrauch der sinnlichen Wahrnehmung, über eine zwischen fixen Gegensätzen pendelnden Einbildungskraft und auch über eine die Gegensätze synthetisierende Verstandeskraft, wobei er die subalternierten Erkenntnisformen durchaus als notwendige Durchgangsstufen des Erkenntnisprozesses anerkennt772. Sein dialektisches Denken, das eine intellektuelle Umkehr durch eine kritische Selbstreflexion und eine argumentative Auseinandersetzung mit gegnerischen Positionen erreichen will, soll seinerseits auf ein übergeordnetes metaphysisches Ziel orientiert sein. Insofern korrespondieren auch in Brunos Werk die dialektische Theorie und Methode mit einer metaphysischen Zielstellung. „Dialektisch“ ist sein Ansatz in methodischer Hinsicht aus einem doppelten Grund zu nennen: sowohl zur Kennzeichnung des intersubjektiven dialogischen Moments im Streitgespräch, als auch zur Kennzeichnung des Erkenntniswegs von einer unreflektierten Meinung zu einer objektiven Wahrheitserkenntnis vermittels einer kritisch reflektierenden Vernunft. Einen ersten ausführlichen Grundriß seines neuen philosophischen Konzepts auf sowohl dialektischer als auch metaphysischer Grundlage hat Bruno in seinem italienischen Dialogwerk „De la causa, principio et uno“ („Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen“) im Jahr 1584 entworfen. Hier finden wir die methodischen, theoretischen und weltanschaulichen Komponenten seines dialektischen Philosophierens miteinander verbunden. Insbesondere das Prinzip der Einheit, der Harmonie bzw. der Koinzidenz 769

Vgl. G. Bruno, Über das Unendliche …, Einleitungsschreiben, S. 6. Ibid., 3. Dialog, S. 111. 771 Vgl. ibid., 5. Dialog, S. 148. 772 Vgl. G. Bruno, Von den heroischen Leidenschaften, übers. u. hrsg. v. C. Bacmeister, 1. Teil, 3. Dialog, S. 62; ders., Über das Unendliche …, 1. Dialog, S. 34–35.

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DAS DIALEKTISCHE DENKEN GIORDANO BRUNOS

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der Gegensätze als Daseinsweise des einheitlichen unendlichen Universums wird hier ausführlicher erörtert. Auf diese Ausführungen verweist er auch in späteren Schriften wieder773. Bruno begründet dieses theoretische Prinzip im 5. Dialog dieser Schrift anhand bestimmter Argumente und Belege. An erster Stelle beruft er sich auf die geometrischen Analogien für eine Gegensatzkoinzidenz im Unendlichen, die Nikolaus von Kues in seinem ersten philosophischen Werk, der „Docta ignorantia“ (I. 12–19), angeführt hatte774. Ein nächstes Argument für das Koinzidenzprinzip erhält er aus dem gegenseitigen Ineinanderumschlagen konträrer Qualitäten, wenn sie ein gewisses Maximum erreicht haben, aus der Reziprozität des Werdens und Vergehens von Qualitäten und schließlich aus der wechselseitigen Attraktion entgegengesetzter Charaktereigenschaften775. Ein weiteres Argument bezieht sich auf das Bestehen einer „unentfalteten Einheit“, welche alle möglichen Differenzierungen in sich einschließt und diesen vorgeordnet werden kann776. Damit verbunden ist die Maxime, überall auf die Maxima und Minima am Entgegengesetzten und Widerstreitenden zu achten und den Punkt ihrer Vereinigung zu ermitteln777. Und schließlich wird im Text die Verabsolutierung des Prinzips vom ausgeschlossenen logischen Widerspruch durch Aristoteles kritisiert, nachdem sowohl die ontische als auch die kognitive Gültigkeit des Prinzips der Koinzidenz der Gegensätze unterstrichen wurde778. Bruno übernimmt mit diesem deutlichen Bekenntnis zur Theorie von der Koinzidenz der Gegensätze eine der Hauptstützen der Philosophie und Theologie des Nikolaus von Kues, dem er dafür auch seine Reverenz erweist779. Bruno sieht eine spezielle Form der Koinzidenz der Gegensätze in den Einheiten vorliegen, welche die Substanz bzw. den Ausgangspunkt des differenzierten Weltprozesses bilden. Im Minimum, dem Einfachen und der Monas seien alle Gegenteile – d.h. gleich und ungleich, viel und wenig, endlich und unendlich, kleinstes und größtes – untereinander gleich, d.h. indifferent780. Wie schon im Fall der Koinzidenzlehre seines Dialogs 773

Vgl. G. Bruno, Über das Unendliche …, 4. Dialog, S. 145; ders., De monade, numero et figura, cap. 3, p. 537; ders., De triplici minimo et mensura, lib. IV, cap. 1, p. 272. 774 Vgl. G. Bruno, Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen, übers. v. A. Lasson, hrsg. v. P. R. Blum, 5. Dialog, S. 110–112. 775 Vgl. ibid., S. 112–113. 776 Vgl. ibid., 5. Dialog, S. 114. 777 Vgl. ibid., 5. Dialog, S. 113–114. 778 Vgl. ibid., 5. Dialog, S. 113–114. 779 Vgl. G. Bruno, Die Vertreibung der triumphierenden Bestie, 1. Dialog, S. 243: „Wenn man es also zugleich physikalisch, mathematisch-moralisch betrachtet, dann hat jener Philosoph keine geringe Entdeckung gemacht, der zur Begründung der Koinzidenz der Widersprüche gelangt ist …“; vgl. dazu auch S. Meier-Oeser, Die Präsenz des Vergessenen, S. 257–276; R. Sturlese, Niccolo Cusano e gli inizi della speculazione del Bruno, S. 953–966. 780 G. Bruno, De triplici minimo et mensura, lib. I, cap. 4, p. 147: „In minimo, simplici, monade opposita omnia sunt idem, par et impar, multa et pauca, finita et infinita; ideo quod minimum est, idem est maximum, et quidquid inter haec.“

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„De la causa, principio et uno“ führt Bruno auch in seiner 1591 erschienen Schrift „De triplici minimo et mensura“ für diese These mehrere Argumente und Belege an. So sei Gott als ein und derselbe sowohl überall als auch nirgends; im Universum seien die unterschiedlichen räumlichen Dimensionen zueinander indifferent und die Mitte befinde sich überall; in einer besonderen Sphäre bzw. Welt ist von dem Zentrum aus die Indifferenz der Dimensionen festzustellen; auf der Erdoberfläche ist im Verlaufe eines Tages überall an einem Punkt sowohl Sonnenaufgang, -untergang als auch Mittag; das Konkave und das Konvexe gehören objektiv zu ein und demselben Kreis; ein spitzer und ein stumpfer Winkel existieren an ein und demselben Schnittpunkt zweier Geraden, und sie entstehen und vergehen zu gleicher Zeit; der kleinste Kreisbogen und die kleinste Sehne bzw. der größte Kreisbogen und die größte Sehne lassen sich nicht mehr voneinander unterschieden; die schnellste Bewegung und größte Ruhe sind eins, wie es das Dasein der göttlichen Weisheit oder der Umstand beweist, daß eine Linie weiter nichts als ein maximal schnell bewegter Punkt ist781. Aus dieser Belegen leitet er die Aufforderung ab, überall beim Studium der Natur beim Kleinsten zu beginnen, es zu betrachten und dort auch wieder zu enden782. Damit hat das Koinzidenzprinzip sowohl im Rahmen des unendlichen Universums, der Daseinsweise Gottes als auch im elementaren atomaren Bereich der Natur seine Gültigkeit. Es kann freilich kein Erreichen des Indifferenzpunkts der Gegensätze mittels des menschlichen Verstandes geben, wohl aber einen methodischen Einsatz des Koinzidenzgedankens als eines heuristischen Mittels für die Naturbetrachtung, stellt Bruno klar783. Der Aspekt der Kompatiblität, der Relativität und der Einheit der Gegensätze wird von Bruno hinsichtlich des gesamten Universums desweiteren auch mit der Idee einer universellen Harmonie verbunden. Diese verknüpft die individuelle Eigenart und Besonderheit der Dinge mit der Wohlordnung des Ganzen nach dem Vorbild einer musikalischen Komposition. Hierin und in dem Koinzidenzprinzip sieht er das Grundprinzip für die allseitge Wiederherstellung einer gesunden Philosophie, zu der er selbst beigetragen habe784. 781

Vgl. ibid., p. 147–149. Ibid., lib. I, cap. 4, p. 149: „Si ergo contemplatio naturae vestigia persequitur, a minimo incipiat, et in minimo speculando consistat, et in minimum contemplando desinat oportet.“ 783 Ibid., lib. IV, cap. 1, p. 272: „Ad indifferentiam illam oppositorum omnium exactius apprehendendam, quae per contemplationem maximi in minimo et minimi in maximo delitescit, minime potest humana ratio devenire. Nos per viam coincidentiae dimensionum ad eorum que sunt in natura et circa naturam speculationem in hoc genere contendimus …“ 784 Ibid., lib. IV, cap. 1, p. 272: „Nihil eorum quae sunt ita differt, ut et aliquo pacto imo etiam in pluribus atque praecipuis non conveniat cum eo a quo differt et cui contrariatur; non enim contrariari videmus in elementis naturae quippiam, nisi quod cum altero in eiusdem subiecti convenit appetitu, vel saltem in sui ipsius conservandi appetitu. Hinc contraria omnia propter communem utriusque materiam in eodem genere consistere, etiam vulgo philosophantum est manifestum. Nihil item in universo adeo est exiguum, quod ad eximii integritatem atque perfectionem non conducat. Nihil item malum est quibusdam et alicubi, quod et quibusdam et alibi non sit bonum et optimum. Hinc ad universum respicienti nihil occurret turpe, malum, incongruum; neque etenim varietas atque contrarietas efficit 782

DAS DIALEKTISCHE DENKEN GIORDANO BRUNOS

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Einen bedeutenden Schritt in der Entwicklung des dialektischen philosophischen Denkens ging Bruno auch in der Fixierung eines einheitlichen universellen Materiebegriffs. Auf die „Materie“ wendet Bruno dabei das genannte Prinzip der Koinzidenz der Gegensätze direkt an. Denn er postuliert eine Koinzidenz von Potenz und Akt bzw. von Materie und Form, vereinigt also in einem dialektischen Sinn den Möglichkeitsstatus mit dem Wirklichkeitsstatus und das ungestaltete Substrathafte mit dem Gestalthaften, um damit die Besonderheit seines eigenen Materie-Begriffs herauszuheben785. In der Materie als einem Wirklichkeitsprinzip vereinigt Bruno das Seinkönnen mit dem Sein in dialektischer Weise786. Nicht mehr wird der Materie der Status eines fast NichtSeienden mit einer rein passiven Funktion gegenüber den formgebenden Instanzen zugeschrieben, wie von vielen Scholastikern der vorangehenden Jahrhunderte, sondern der Materie kommt definitiv ein Wirklichkeitsstatus zu, in ihr wird sogar die Quelle des Wirklichkeitsstatus der Dinge gesehen787. Ihr wird ebenfalls klar eine eigene Aktivität bei der Formung der Wirklichkeit zugeschrieben788. Mit dieser Entscheidung hebt er die metaphysischen Gegenüberstellungen von Potentialität und Aktualität bzw. von Materie und Form im Sinne ihrer dialektischen Vereinigung auf. De facto beendet diese Entscheidung Brunos die über viele Jahrhunderte anhaltenden Diskussionen der mittelalterlichen Philosophie aristotelischer Prägung über die richtige Fassung des MaterieBegriffs. Gleichfalls räumt er auch der „Weltseele“ eine ähnliche universelle konstitutive Funktion für den Weltzusammenhang ein wie im Falle der Materie. Die „Weltseele“ und die Materie sind universelle Träger der Beständigkeit im Universum und zugleich universelle Bedingungen für die Beständigkeit im Wandel789. Hier zeigt sich deutlich das dynamistische Weltbild Brunos, das nach biologischen und chemischen Modellvorstellungen gestaltet wurde und dementsprechend das Universum als ein lebendiges Ganzes auffaßt. Der Wandel und die Beständigkeit spielen als zwei komplementäre Gegensätze, die das Bestehen eines Ganzen, konkreter gesagt der natürlichen Körper, garantieren, in der Naturphilosophie Brunos eine zentrale Rolle. Denn nur durch den permanenten Austausch von Atomen mit der Umgebung könne ein natürlicher Körper von Bestand bleiben, stellt er fest790. Wenn er das Universum als ganzes für unbewegquominus omnia sint optima, prout videlicet a natura gubernantur, quae veluti phonascus contrarias voces extremas atque medias ad unam omni (quam possimus imaginari) optimam symphoniam dirigit et perducit. Sed de iis latius in libro De principio et uno definivimus, ubi expressius oppositorum omnium coincidentiam manifestavimus, et optimum philosophiae olim defunctae et modo recuperandae principium restituimus.“ 785 Vgl. G. Bruno, Von der Ursache …, Einleitungsschreiben mit der Inhaltsangabe des fünften Dialogs, S. 13*. 786 Vgl. ibid., 4. Dialog, S. 85. 787 Vgl. ibid., 4. Dialog, S. 88 u. 93. 788 Vgl. ibid., 4. Dialog, S. 95. 789 Vgl. ibid., 2. Dialog, S. 39; 5. Dialog, S. 104. 790 G. Bruno, Über das Unendliche, das Universum und die Welten, 2. Dialog, S. 74–75.

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lich, unwandelbar und unzerstörbar erklärt, so schließt das wiederum den Umstand ein, daß es in diesem unzählige Wandlungen gibt791. Neben dem zentralen dialektischen Grundsatz von der Relativität, der Kompatibilität und der Einheit der Gegensatzbestimmungen ist auch das Konzept von der Vermittelbarkeit aller polaren Entgegensetzungen für das dialektische Denken Brunos leitend geworden. So heißt es in seiner 1591 erschienenen Schrift „De monade, numero et figura“: „Schließlich ist in allem die Reihe von Anfang, Mitte und Ende, nämlich des Tätigen, der Materie und der Formung. Zwischen zwei beliebigen Extremen (in jedweder Ordnung) gibt es eine Mitte. …. So fließt die höchste Welt durch die mittlere in die unterste, und die unterste steigt durch die mittlere zur höchsten hinauf. Berücksichtige dies der Reihe nach dort, wo das Wort zwischen dem Redenden und dem Hörenden vermittelt. Wo wir von den Sinnen durch den Verstand zum Erkennbaren selbst fortschreiten. Wo der Geist als Vehikulum zwischen Seele und Körper vermittelt.“792.

Die Dialektik als spekulative Weltanschauung im Werk Jakob Böhmes Den Ausgang oder das Ende des Mittelalters als Kulturepoche zu bestimmen, ist schwierig. Den Ausgang oder das Ende des dialektischen Denkens in der mittelalterlichen Philosophie zu bestimmen, dürfte nicht weniger mühsam sein. Offenbar handelt es sich bei jenem „Ende“ und jenem „Ausgang“ zeitlich um einen bedeutenden Intervall, nicht um ein singuläres Datum, wenn man die zuvor behandelten Denker und ihre Lebenszeit bedenkt. Das Zurücktreten oder Zurückgedrängtwerden der aristotelischen Welt- und Natursicht, das Hervortreten mehrerer alternativer Entwürfe zu den scholastischen Stereotypen seit Valla und Nikolaus von Kues und die Ablösung von den theoretischen und methodischen Normen der Schulphilosophie und Schulmetaphysik des Mittelalters vollzog sich in einem komplizierten Übergangsprozeß zwischen dem beginnenden 15. und dem ansetzenden 17. Jahrhundert. Das dialektische Denken als eine Methode, eine Theorie oder als eine Anschauungsweise der Welt und des Menschen spielte dabei eine wichtige Rolle. Außer den bisher betrachteten dialektischphilosophischen Gedankenevolutionen dieses Zeitraums muß auch das Phänomen Jakob Böhme (1575–1624) in die Betrachtung einbezogen werden, um einen weiteren Anhaltspunkt für die Komplexität und Kompliziertheit jenes „Ausgangs“ des Mittelalters hinsichtlich bestimmter dialektischer Philosopheme zu gewinnen. Denn seine Schriften zeigen sehr prägnant die gerade erwähnten Züge des Ablösungs- und Neuorientierungsprozesses und sind gleichzeitig eine entscheidende Wegmarke für die Entwicklung des dialektischen Denkens bis hin zu Hegel. Nicht zuletzt zeigen sie die Wirkungsweise von 791 792

Vgl. ibid., S. 85. Vgl. G. Bruno, De monade, numero et figura, cap. 4, p. 373, p. 374–375. (vgl. G. Bruno, Über die Monas, die Zahl und die Figur als Elemente einer sehr geheimen Physik, Mathematik und Metaphysik, übers. u. hrsg. v. E. v. Samsonow, Hamburg 1991, Kap. IV. 7, S. 54–55.)

DIE DIALEKTIK ALS SPEKULATIVE WELTANSCHAUUNG IM WERK JAKOB BÖHMES

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dialektischem Denken in einem Übergangsfeld von Alltagserfahrung, Theologie und Schulphilosophie in der Form einer spekulativen Weltanschauung, welche sich durchaus auch einiger zentraler Philosopheme aus der mittelalterlichen Philosophietradition vor allem neuplatonischer Provenienz zu bedienen weiß. Solche Theoreme wie die Erklärung der Welt als Selbstoffenbarung Gottes, die Synthetisierung von positiver und negativer Theologie, die Annahme eines Zusammenfallens von Gegensätzen in allen Dingen der Welt, des Heraustretens der Welt aus Gott und wieder Zurückführens zu ihm und der trinitarischen Grundstruktur des Daseins der Welt begegnen in unterschiedlichen Schriften Böhmes. Sie sind in der Reflexion Böhmes sowohl theologisch als auch philosophisch motiviert und bilden feste Orientierungspunkte in seinen Spekulationen, ohne aber von ihm einen expliziten Herkunftsnachweis zu erhalten. Weiter läßt sich feststellen, daß in den Schriften Böhmes in gewisser Weise bedeutende Elemente des dialektischen Denkens zwischen der Zeit Heraklits und des Nikolaus von Kues aufgehoben und synthetisiert vorliegen. Sie kommen in einem Denken zum Ausdruck, das direkt und unmittelbar sowohl Gottes-, Welt- als auch Menschenanschauung sein will. Die subjektive und die objektive Dialektik werden von Böhme in einer theoretisch undifferenzierten Weise synthetisiert. Gerade in diesen synthetisierenden Wirkungen der Böhmeschen Denkanstrengungen liegt ein Anreiz, sie an das Ende der diachronischen Betrachtungen zu stellen. Die Sprache Böhmes ist voller poetischer Bilder und eindringlicher Unmittelbarkeit. Dies läßt aber den methodischen oder den theoretischen Ertrag ihrer nachvollziehenden Interpretation nicht immer klar und eindeutig hervortreten. Eine systematisch geordnete Gedankenfolge oder -ordnung liegt im Vergleich mit den bisher behandelten Dialektikern bei Böhme gar nicht oder fast nicht vor. Die Motivation und die Intention des Verfassers zahlreicher Schriften aber lassen sich direkt mit seiner dialektischen spekulativen Weltanschauung in Verbindung bringen. Darauf soll es hier ankommen. Böhme macht immer wieder auf die konstitutive Funktion von Gegensätzlichkeit und Widerspruch für das Bestehen und das Verstehen von Welt aufmerksam, welche sich ihrerseits wieder auf die Aktivität des göttlichen Ursprungs selbst zurückführen und im Leben und Erleben der Menschen manifestieren lassen. Zur Kennzeichnung der dabei entscheidenden negativen Seite von dialektischer Gegensätzlichkeit und damit ihres Charakters als eines Widerspruchsverhältnisses verwendet er solche anthromorphen Ausdrücke wie „Widerwärtigkeit“, „Grimmigkeit“, „Widerwille“, „Böses“ oder „Qual“. Drastisch schildert er die Welt der Schöpfung derart, daß „sich auch solche Unlust in allen Creaturen findet, daß sich Alles beißet, schläget, stößet, quetschet und feindet, und also ein Wiederwille in allen Creaturen ist, und also ein jeglicher Cörper mit ihme selbst uneins ist, wie zu sehen, daß solches nicht allein in lebendigen Creaturen ist, sondern auch in Sternen, Elementen, Erden, Steinen, Metallen, in Holtz, Laub und Gras: in allen ist Gift und Bosheit; Und befindet sich, daß es also sein muß: sonst wäre kein Leben noch Beweglichkeit …, sondern es wäre Alles ein Nichts.“793. In seiner Erstlingsschrift 793

J. Böhme, De tribus principiis, oder Beschreibung der Drey Principien Göttliches Wesens. Vorrede, S. 6.

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„Aurora oder die Morgenröte im Aufgang“ vom Jahr 1612 heißt es im gleichen Zusammenhang: „Denn die Sanftmut in der Natur ist eine stille Ruhe; aber die Grimmigkeit in allen Kräften macht alles beweglich, laufend und rennend, dazu gebärend. Denn die treibenden Qualitäten bringen Lust in alle Creaturen zum Bösen und Guten, daß sich alles untereinander begehrt, vermischt, zunimmt, abnimmt, schön wird, verdirbt, liebt, feindet. Es ist in allen Creaturen in dieser Welt ein guter und ein böser Wille und Quell, in Menschen, Tieren, Vögeln, Fischen, Würme(r)n, sowohl auch in allem dem, was da ist, in Gold, in Silber, Zinn, Kupfer, Eisen, Stahl, Holz, Kraut, Laub und Gras, sowohl in der Erde, in Steinen, im Wasser und in allem, was man erforschen kann. Es ist nichts in der Natur, da nicht Gutes und Böses innen ist; es wallt und lebt alles in diesem zweifachen Trieb, es sei, was es wolle …“794. Diese Dynamisierung seines Natur- und Menschenbildes mittels des Prinzips der Einheit und der Gegensätzlichkeit der bewegenden Prinzipien untersetzt Böhme mit einer Lehre von den „Qualitäten“. Darunter versteht er sowohl eine bestimmte innere Beschaffenheit der Dinge, als auch „Qual“ und „Begierde“ als eine Absonderungskraft und schließlich als einen Grund von Bewegung und Veränderung (im Sinn von „quellen“). Diese Lehre soll die wechselseitige Durchdringung und Vermittlung qualitativer Gegensätze im Werden und Sich-Verändern der Dinge erklärbar machen795. Mit einer solchen Lehre ging er über die qualitative Naturanschauung des Aristoteles sowohl inhaltlich als auch in der Universalität des Erklärungsanspruchs hinaus. Die Universalität seines spekulativen dialektischen Erklärungsansatzes macht auch nicht vor der Frage halt, warum selbst Gott als ein Ur-Eines in Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit, d.h. als zürnender und liebender Gott, erfahren wird. Dazu bedient er sich einer Subjekt-Objekt-Dialektik, welche in dem Wissen der Einheit von „Ja“ und „Nein“, von These und Antithese, von Identität und Andersheit die konstutive Grundbedingung alles konkreten Seienden als Seienden und als eines erkannten Gegenständlichen erblickt. So heißt es in seinen „Quaestiones theosophicae“ (oder „Betrachtung göttlicher Offenbarung“) zur Beantwortung der Frage nach der Ursache für die Widersprüchlichkeit der Gotteserfahrung: „2. Der Leser soll wissen, daß in Jah und Nein alle Dinge bestehen, es sey Göttlich, Teuflisch, Irdisch, oder was genannt mag werden. Das Eine, als das Jah ist eitel Kraft und Leben, und ist die Wahrheit Gottes oder Gott selber. Dieser wäre in sich selber unerkenntlich, und wäre darinnen keine Freude oder Erheblichkeit, noch Empfindlichkeit ohne das Nein. Das Nein ist ein Gegenwurf des Jah, oder der Wahrheit, auf das die Wahrheit offenbar, und etwas sey, darinnen ein Contrarium sey, darinnen die ewige Liebe wirckend, empfindlich, wollende, und das zu lieben sey. – 3. Und können doch nicht sagen, daß das Jah vom Nein abgesondert, und zwey Dinge neben einander sind, sondern sie sind nur Ein Ding, scheiden sich aber selbst in 2 Anfänge, (Principia) und machen zwey Centra, da ein jedes in sich selber wircket, und will. Gleichwie der Tag in der Nacht, und die 794 795

J. Böhme, Aurora, 2. Kap. S. 30. Vgl. J. Böhme, Clavis, oder Schlüssel, Kap. 8–9, S. 85–96.

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Nacht in dem Tage zwey Centra sind, und doch ungeschieden, als nur mit Willen und Begierde sind sie geschieden. Denn sie haben zweyerley Feuere in sich, als (1) den Tag, das Hitzige aufschliessende, und (2) die Nacht, das Kalte einschließende: und ist doch zusammen nur Ein Feuer, und wäre keines ohne das andere offenbar oder wirckend: Denn die Kälte ist die Wurtzel der Hitze, und die Hitze ist die Ursache daß die Kälte empfiundlich sey. Ausser diesen beyden, welche doch in stetem Streite stehen, wären alle Dinge ein Nichts, und stünden stille ohne Bewegniß. – 4. Also auch ingleichen, von der ewigen Einheit Göttlicher Kraft zu verstehen ist: wann der ewige Wille nicht selber aus sich ausflösse, und führte sich in Annehmlichkeit ein, so wäre keine Gestältniß noch Unterschiedlichkeit,. sondern es wären alle Kräfte nur Eine Kraft; so möchte auch keine Verständniß seyn: Denn die Verständniß urständet in der Unterschiedlichkeit der Vielheit, da eine Eigenschaft die andere siehet, probiret und will.“796. Böhmes spekulative dialektische Weltanschauung erstreckt sich in ihrem universellen Erklärungsansatz auf Gott, Welt und Mensch. Sie ist als Subjekt-Objekt-Dialektik und als Widerspruchsdialektik konzipiert. Als Dialektik der Negativität weist sie gerade auf die konstitutive Funktion des scheinbar Destruktiven, Abweichenden und Alternativen, ohne die ein Positives nicht mehr erklärbar wäre. Diese Weltanschauung knüpft implizit an ähnliche philosophische Intentionen an, wie sie in der einen oder anderen Weise von Heraklit, Empedokles, Plotin oder Nikolaus von Kues in der Vergangenheit angedeutet oder explizit vorgetragen wurden. Dabei verzichtete sie auf den Dualismus von Geist und Materie, synthetisierte vielmehr diese beiden Prinzipien. Sie hob den Streit und den Widerspruch als elementare, objektive und produktive Gegebenheiten, als Quellen und Bedingungen für einen möglichen Ausgleich und eine Harmonie hervor. Die hier angedeuteten Grundzüge der spekulativen Weltanschauung Böhmes bündeln wichtige Knotenpunkte in der Entwicklung des dialektischen Denkens im Übergang vom Mittelalter zur neuzeitlichen Entwicklungs- und Subjekt-Objekt-Dialektik. Schelling, Hegel und Feuerbach gehören zu ihren aufmerksamen Rezipienten. Obwohl Böhmes Ansatz einer komplexen Widerspruchsdialektik die mittelalterlichen Entwürfe einer Vermittlungsdialektik und das Harmoniedenken der Renaissance der Intention nach deutlich überschreitet, zeigt er sich selbst der überlieferten Einheits-, Licht- und Geistmetaphysik des Mittelalters und auch dem Harmoniedenken durchaus verpflichtet. Sowohl darin, als auch in der Übernahme der oben genannten zentralen Theoreme aus der vorangegangenen Philosophie und Theologie, sowie in der konstruktiven und kritischen Art des Umgangs mit dem überlieferten Erbe gegenüber den in seiner Zeit herrschenden Ideen und Überzeugungen kann er als ein Übergangsdenker im ausgehenden philosophischen Mittelalter angesehen werden. In dem Einsatz einer spekulativen Widerspruchsdialektik als theologisch-philosophischer Weltanschauung, welche auch Gott und den Menschen einbezieht, steht er zugleich philosophiegeschichtlich an exponierter Stelle. Ein Vergleich mit Heraklits Denken vor ihm oder Hegels Dialektik nach ihm liegt nahe. Doch 796

J. Böhme, Quaestiones theosophicae, oder Betrachtung Göttlicher Offenbarung, 3. Frage, S. 6–7.

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auch eine indirekte prägende Rolle von Meister Eckharts Lehren und der von Nikolaus von Kues für Böhmes spekulativen dialektischen Entwurf muß bei einer historischen Einordnung berücksichtigt werden. Gegenüber allen Genannten hat die sprachliche Präzision des philosophischen Autodidakten Böhme sicherlich ein Nachsehen. Darin muß ein deutlicher Mangel gesehen werden. Insofern bleibt Böhmes Dialektik letztlich ein Denken in Bewegung, das noch nach der adäquaten begrifflichen Ausdrucksmöglichkeit suchte.

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Personenregister

Abaelard (s. Petrus Abaelard) Agricola, Rudolph 193–195, 197–198 Albert von Sachsen 131, 151–154 Albertus Magnus 80, 88–98, 106, 111 Al-Ghazali 82–83 Aristoteles 10, 22–28, 29, 31, 34–35, 46, 59, 67, 69–70, 71, 74, 79–80, 81, 83, 85–88, 89, 107, 109, 112, 115, 116, 118–119, 120–123, 125, 127, 130–131, 141, 143– 145, 151, 153–154, 157, 162, 166, 170– 171, 174–179, 183, 191, 209, 212–214, 216, 219, 224 Augustinus, Aurelius 31, 32, 57–58, 69, 115 Averroës (s. Ibn Ruschd) Avicenna (s. Ibn Sina) Berengar von Tours 34, 53–56 Blasius von Parma 131, 149–150 Boëthius von Dacien 80, 120–125 Boëthius, A. M. T. Severinus 8, 28–31, 34, 67, 71, 75, 179 Böhme, Jakob 194, 222–226 Bruno, Giordano 8, 47, 194, 217–222 Cassiodorus, Flavius Magnus Aurelius 31, 32 Cicero, Marcus Tullius 28–30, 34, 67, 70, 196 Dante Alighieri 132, 189–192 Dietrich von Freiberg 80, 111, 112–115 Dionysius Areopagita 16, 20–21, 38, 79, 93, 95, 136, 199, 210

Eckhart (Meister Eckhart) 138, 207, 226

130–131, 132–

Feuerbach, Ludwig 225 Gilbert von Poitiers 75–76, 78 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9, 11, 222, 225 Heraklit 12, 14, 77, 102, 194, 223, 225 Ibn Ruschd 10, 46, 79–80, 81–88, 143, 142, 144, 151–152 Ibn Sina 10, 33, 42–47, 83, 88, 94, 102, 115– 117, 141–142, 161, 186, 211 Isidor von Sevilla 31 Johannes Buridan 46, 128, 132, 151, 169, 170, 172 Johannes Duns Scotus 80, 116–120 Johannes Scottus Eriugena 33, 41, 56, 199 Johannes Versor 132, 174–180 Johannes von Salisbury 34, 67–68, 70 Johannes von Slupcze 174 Johannes Wenck von Herrenberg 205 Johannes Wyclif 131, 165–169 Lambert von Auxerre 120 Lanfrank 53–54, 56 Levi ben Gerson (Gersonides) 10, 131, 158– 162 Marius 34, 74

PERSONENREGISTER

238 Marsilius von Padua 132, 173, 191–192 Martianus Capella 31, 32 Nicole Oresme 131, 143–148, 150 Nikolaus von Autrecourt 131, 162–165 Nikolaus von Kues 9, 11, 13, 112, 193–194, 199–207, 209, 219, 222–223, 226 Otto von Freising 34, 75–78 Parmenides 14 Patrizi, Francesco 194, 212–216 Petrus Abaelard 34, 56–63 Petrus Aureoli 132, 180–187 Petrus Hispanus 120 Pico della Mirandola, Giovanni 194, 207–212 Platon 10, 12–16, 25, 61, 209–210, 213–214, 216 Plotin 16–19, 48, 214, 216, 225 Proklos 16, 18–20, 115, 216 Pseudo-Dionysius Areopagita (s. Dionysius Areopagita)

Quintilian, Marcus Fabius 196 Ramon Lull 80, 107–112 Roger Bacon 111 Salomon Ibn Gabirol 10, 33, 47–53, 91, 111 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 225 Schlegel, Friedrich 9 Sokrates 12, 123, 164, 207 Thomas Bradwardine 165 Thomas von Aquino 80, 98–107 Valla, Lorenzo 11, 193–196, 198, 222 Walter Burley 127, 131, 138–143 Wilhelm von Conches 34, 71–72, 74 Wilhelm von Ockham 131–132, 154–158, 169–172, 187–189, 192 William von Sherwood 120 Zenon von Elea 12

Sachregister

Analytik 10, 24, 30, 56, 81, 111, 125, 189, 198 Andersheit 15, 18–19, 125, 201, 215, 224 Anderssein 15, 39, 51, 79, 98–99, 211 Argumentation 22–24, 28, 30–31, 33–34, 53, 71, 80–81, 84, 111, 120, 122, 126, 160– 161, 177, 179, 184, 188, 190–191, 195, 213 „Ars obligatoria“ 81, 125, 127 „Aufstieg“ (grch. „anagoge“) 16–19, 21, 48, 111, 206, 208, 214 „Ausfließen“ (vgl. Emanation) 19, 50, 93, 107

Element 28, 44, 72–76, 107, 143, 145–146, 149 Emanation (vgl. „Ausfließen“) 42–44, 46, 48, 51 „endoxon“ (vgl. „Probabilität“, „Plausibilität“) 22, 176 Entstehen (Pendant zu „Vergehen“) 27–28, 66, 76, 92, 108, 146 Eristik 13, 16, 82–83, 198 Erkenntnistheorie 18–20, 26, 79–80, 95–97, 104–106, 111–115, 132, 138, 180, 216

Bewegung 15, 26, 66, 74, 86–87, 93, 101, 152–153 „Buch der 24 Philosophen“ 63

Findungskunst (vgl. Heuristik, Topik) 30–31, 72, 121, 124, 178, 195 „Fließen“, „Fluß“ 38, 51, 77, 93–94, 102, 107, 110 Form 39, 43, 48, 51–52, 74, 76, 78, 89–92, 97, 101, 107–108, 113, 139, 151, 221 Frage-Antwort-Verfahren 12, 16, 23–24, 28, 30, 48, 71, 85, 127, 178, 213 Freiheit 60, 118–119, 131, 150, 156, 168– 160, 165

Chaos 108, 110–111 Determinismus 131, 142, 155–157, 159, 165, 167 Dialog (vgl. Gespräch) 12, 24, 31, 36, 48, 62, 71, 80, 126, 213, 217–218 Differenz (Pendant zu „Identität“) 38–39, 48, 50, 52, 55–56, 61, 74, 76, 90, 93, 96, 101, 108–109, 124–125, 133–134, 140 Disputation 30–33, 53, 57, 69–71, 79–81, 107, 125, 127–129, 178–179, 184, 188, 208, 213 Einheit 18–21, 28, 42–43, 48, 50–52, 66, 74, 76, 85, 92–94, 99–100, 105, 133–134, 140, 174, 190, 200, 209–211, 214, 216

Gegensatz, Gegenteil 7–8, 21, 26–27, 36, 39, 49, 62, 73–75, 77, 85–86, 92, 102–103, 110, 117, 140, 144–146, 148, 150, 187– 188, 196, 201–202, 204, 208, 214, 217, 219, 223 Geist 18, 20, 37, 40, 43, 46, 104, 133, 135, 138, 200–201, 203, 214–215, 218 Geschichte 34, 75, 77–78 Gespräch (vgl. Dialog) 12, 24, 62–63, 84, 89

240 Gott 20–21, 36–43, 46, 50, 53–54, 61, 63–65, 69, 73, 78, 94–95, 101, 105, 110, 112, 115, 118, 133, 136, 148, 153, 156–158, 167–168, 187, 200, 203–205, 210–211, 220, 224 Harmonie 37, 73, 82, 94, 211, 214, 216, 218, 225 Hermeneutik 55, 57, 60, 83 „Hervorgehen“ (grch. „prohodos“) 19, 36, 93, 108 Heuristik 30, 34, 60, 67–70, 83, 107, 110, 172, 200, 220 Hypothese 173 Identität (Pendant zu „Differenz“) 15–16, 19, 39, 48, 70, 76, 93, 108–109, 124–125, 133–134, 137, 140, 204, 211, 215, 224 Immanenz (Pendant zu „Transzendenz“) 10, 19–20, 36, 38–43, 53, 65–66, 94, 133 Intellekt 20, 43, 46, 94–96, 99, 102–104, 106, 111, 114–115, 118, 150, 156, 160–162, 186, 191 – „Möglicher Intellekt“ 112, 114, 162, 190 Kausalität 45, 92, 113, 118, 131, 154–157, 163–165 Koinzidenz 10, 44, 112, 157, 159, 193–194, 199, 202–206, 208, 215, 218–221 Kontingenz 10, 42, 44–45, 47, 90, 92, 118– 119, 141–142, 150, 156, 158–159, 163– 169, 185–187 Kritik 10, 13–14, 18, 42, 54, 56, 60, 63, 72, 79, 85, 111, 137, 161, 189, 192, 199, 205– 206, 218 „Kunst“ (lat. „ars“) 13, 17, 28, 30–33, 48, 58, 71, 79, 111, 120, 125, 178, 194–198, 213 „Liber de causis“ 19, 65–66, 79, 93–94, 104, 111 „Licht“ 18, 48, 50, 65–66, 94, 135–136, 203, 216 Logik 17, 23, 26, 31, 33, 35, 53, 55–57, 70, 80–81, 83, 120, 126, 149, 169, 177, 184, 190, 195, 202, 212–213

SACHREGISTER Materie 28, 44, 48, 51–52, 70, 85–86, 89–92, 101, 107–108, 119, 139, 142, 147, 151– 154, 156, 194, 212, 221 Meinen, Meinung (Pendant zu „Wissen“) 10, 17, 22–23, 31, 67–69, 72, 111, 121–123, 125, 132, 171–172, 175–180, 184, 213 Metaphysik 10, 18–19, 22, 25, 28, 34, 41–44, 46, 48, 66, 77, 80, 83, 95, 97–98, 100, 115–116, 124–126, 135, 138, 194, 209, 211, 216 Methode, Methodik 13, 22–26, 30, 42–43, 54, 58, 72, 79, 81, 83, 89, 122, 125–126, 137–138, 142–143, 148, 150, 160–161, 173, 179, 190, 192, 195, 197, 218 „Mischung“ (grch. „mixis“, lat. „mixtio“) 28, 52, 74, 79, 86–88, 143, 145–147 Mittleres (zwischen Gegenteilen) 49–50, 86– 88, 91, 93, 141, 143–144, 191, 208, 212, 222 Möglichkeit 26–27, 42–44, 47–50, 64, 80, 116–117, 120, 147, 158, 173, 185–186, 221 Mutmaßung 17, 132, 163, 172, 200 Natur 27, 35–36, 52, 73–74, 76, 88, 94–95, 101, 107, 109–111, 119, 136, 142, 154, 156, 215 Naturphilosophie 26, 34, 41, 45–46, 71–75, 80, 83, 86–93, 107–111, 128, 131, 138– 151, 170, 173–175, 216, 221 Naturrecht 132, 187–188 Negation 21, 64–65, 96, 99–100, 102–103, 109, 202 Negation der Negation 134 Negativität 39, 47, 79, 88, 100, 102, 112 – Dialektik der Negativität 14, 41, 88, 130, 194, 225 Neuplatonismus 16–22, 33, 42, 48, 50–51, 53, 63, 79, 93–94, 104–105, 107, 111, 194, 207, 212, 214, 216, 223 Nicht-Seiendes, Nicht-Sein 15, 18, 134, 203, 208, 211, 214, 216, 221 Nicht-Wissen 13, 36, 38, 41, 58, 65, 69, 97, 193, 199, 202–206, 211

SACHREGISTER Notwendigkeit 29, 42–45, 50, 117–118, 131, 155–156, 165–170, 185–186 Ontologie 25, 53, 55, 61, 75, 80, 85, 98, 100, 152, 208, 212, 216 Paradoxie 39, 209, 208 Philosophie 13, 16–17, 23, 25, 29–31, 59, 68, 70, 80, 82, 85, 89, 120–121, 124–125, 129, 178, 213, 217, 223 – praktische Philosophie 85, 187–192 Potenz (s. „Möglichkeit“) 20, 26–28, 43, 49– 50, 86, 90, 101, 116–117, 152, 185, 221 Potenz-Akt-Dialektik 26–27, 42–43, 47, 74, 88, 101, 110, 113, 156 Prinzip 18–19, 23, 31, 90, 109, 201, 211, 213, 218–219, 224–225 Prinzipienforschung 18–19, 23, 25, 31, 68, 176, 213 Probabilismus 131, 165, 172, 198 Probabilität, Plausibilität (vgl. „endoxon“) 28–29, 68, 82, 117, 120, 122, 128, 143, 149, 169–171, 176, 184, 197 Problemdiskussion 22–26, 29, 31, 48, 56, 58–59, 62, 67, 84, 90, 111, 120, 125–126, 128, 141, 148, 175, 190, 192, 197, 198, 210 Pro-Contra-Argumentation (vgl. „Quaestio“) 80, 106, 122, 126–127, 138, 143, 171, 189, 190–192, 210 Quaestio 67, 80–81, 107, 125–128, 147, 190, 198, 209–210 Reflexionsdialektik 21, 48, 51, 98–107, 117, 119, 132, 180–187 Relativität 7, 28, 37, 40, 42, 51, 76–77, 85, 103, 110, 124, 140, 161, 184–185, 188, 218, 220 „Rückwendung“ (grch. „epistrophe“) 19, 36, 93, 108 Sein 15, 17–20, 25, 33, 37–38, 43, 51–52, 64–65, 75, 86, 98–99, 102, 110–111, 114,

241 116, 139, 151–152, 180–181, 185–186, 208–212, 214, 216, 221 Sophistik 10, 24–25, 29, 124–127 Subjekt-Objekt-Dialektik 10, 20, 42–43, 51, 80, 106, 113, 115, 132, 160, 183, 224–225 Syllogismus, dialektischer 22, 67, 81, 121– 122, 174, 178, 190 Theologie, affirmative 36, 38, 65, 82, 96–97, 106, 200, 204–205, 210 Theologie, negative 9, 18–20, 23, 38, 57–59, 63, 65, 70, 89, 95–97, 106, 132, 134, 200, 205, 210–211 Theorie 9, 15–16, 19, 26–28, 35, 48, 66, 72– 75, 85, 95, 125, 138, 199, 211, 214, 217 Topik 22–24, 29–31, 34, 67, 70, 80, 120, 124–125, 170–172, 174–180, 196–197, 200 Topos („Ort“) 24, 29–30, 81, 178–179, 199, 205–206 Transzendentale, -ien 80, 98, 100, 116, 204, 211 Tranzendenz (Pendant zu „Immanenz“) 10, 18–20, 36, 38–43, 48, 53, 64–66, 94–95, 106, 111–112, 133–134, 205, 210–211 Triade, Trias 19, 43, 107–110, 215 Unterredung 12–13, 22, 68, 85 Veränderung 14, 27, 73–74, 76, 79, 86, 89, 92, 101, 138–139, 143–144, 153, 224 „Verharren“ (grch. „mone“) 19, 108 Vergehen (Pendant zu „Entstehen“) 27, 44, 66, 73, 76–77, 89, 92, 101–102, 108, 146, 219 Vermittlung (der Gegensätze) 7, 19–21, 26– 28, 36–37, 42, 48–49, 73, 78–79, 83, 86, 88, 91, 97, 101–102, 109–110, 114, 119, 139, 141, 146, 191, 196, 208, 214, 216, 222 Vernunft 10, 14, 37, 54, 58, 63, 70, 112, 156, 170, 210–202, 206, 218 Verstand 35, 42, 54, 95, 102, 104, 106, 111, 117, 125, 197, 201–202, 206

242 Vielheit (Pendant zu „Einheit“) 19–20, 43, 48, 50–51, 66, 86, 94, 99–100, 105, 174, 190, 214, 216 Wahrscheinlichkeit (vgl. „endoxon“, Probabilität) 22, 24, 28–29, 31, 58, 68–72, 80, 84, 89, 107, 118, 122–123, 127, 147, 148, 155, 158, 174, 176–177, 191, 197 Wahrscheinlichkeitslogik 28–29, 34, 67, 83, 125, 169–180, 191–191 Weltanschauung 16, 19, 33, 42, 93, 194, 217, 223 „Weltseele“ 16, 61, 214, 221

SACHREGISTER Werden 27, 37, 42–44, 51, 65, 73, 77, 83, 89, 101–102, 108, 139, 185, 219, 224 Widerspruch – dialektischer 223, 225 – logischer 28, 54, 103, 157, 173, 209, 219 Wissen 10, 23, 31, 69, 84, 103, 121–123, 132, 149, 171–172, 175–180, 184, 213 Wissenschaft 13, 17, 32–33, 122, 178 Zufall 42, 45, 70, 119, 131, 155, 165 Zweifel 23, 34, 57, 70, 72, 83–84, 109, 111, 132, 161, 175–176, 180, 184, 214

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderband

Anton Leist Ethik der Beziehungen

Versuche über eine postkantianische Moralphilosophie 2005. 236 S. Gb, € 39,80; für Abonnenten der DZPhil € 34,80 ISBN 3-05-004176-5

Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 10 Die Kantische Ethik gilt bis heute als die dominante Theorie der Moral, und dies nicht nur mit Blick auf ihre moralischen Inhalte, sondern mehr noch in Bezug auf ihre Methode der Begründung moralischer Prinzipien aus der Vernunft. Die Auseinandersetzung mit Kant führt jedoch zu der Einsicht, daß wir unsere Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Ethik und Moral, sowie von der Verbindung von Moral und sozialer Realität reformulieren und rekonstruieren müssen. Die im vorliegenden Buch präsentierten Beiträge verbindet die Erwartung, daß die Moral über ihre Funktion im Rahmen sozialer Beziehungen konkretisierbar sein sollte. Die Abwendung vom Rationalismus der Moralphilosophie erschließt den konkreten Reichtum unserer Handlungsziele und Gefühle und öffnet den Blick für die Vielfalt unserer sozialen Verhaltensweisen in mikro- wie makrosozialer Perspektive. Die Ethik der Beziehungen schafft damit den konkreten argumentativen Raum, den die Moral benötigt, um in und aus unseren Beziehungen heraus wirken zu können.

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Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderband

Friederike Kuster Rousseau – Die Konstitution des Privaten Zur Genese der bürgerlichen Familie

2005. 232 S. Gb, € 49,80; für Abonnenten der DZPhil € 44,80 ISBN 3-05-004161-7

Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 11 Jean-Jacques Rousseau ist der erste politische Denker der Moderne, dessen Schriften von der Einsicht zeugen, daß der demokratische Staat seine Bestandsvoraussetzungen nicht selber garantieren kann. Dieser bedarf vielmehr einer soziokulturellen Grundlage, welche für Rousseaus demokratische Republik die Dimension des Häuslichen als integrale Einheit von ökonomischer und psychosozialer Sphäre bildet. Rousseaus politisches Denken bewegt sich so in beiden Bereichen der klassischen Politik: in denen von Haus und Staat, von Privatem und Öffentlichem. Der liberalen Opposition von Individuum und Staat setzt Rousseau ein Modell der politischen Einheit entgegen, das durch die Vermittlungsinstanzen von Geschlechter- und Familienordnung gewährleistet ist. Mit dem erstmals ausformulierten Ideal einer empfindsamen Beziehungskultur wird ein Modell bürgerlicher Lebenskultur propagiert, das sich gleichermaßen auf die häuslich-intime Privatsphäre wie auf die Dimension republikanischer Öffentlichkeit erstreckt und das Rousseaus nachhaltige Deutungsmacht für das moderne bürgerliche Selbstverständnis erweist.

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