Passiones animae: Die "Leidenschaften der Seele" in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie. Ein Handbuch 9783050056593, 9783050064710

This volume examines the theory of the passions through diverse strands of medieval philosophy and theology, from the Ar

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German Pages 317 Year 2013

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Vorwort zur zweiten Auflage
Die Emotionen bei Augustinus
Polypathie. Zur Theorie der Seele nach Dionysius Areopagita
Johannes Damascenus und die Ökonomie der Leidenschaften in der Tradition hellenistischer Philosophenschulen
Die Leidenschaften der Seele bei Peter Abaelard
Die Leidenschaften der Seele im Werk Bernhards von Clairvaux
Die passiones animae im Speculum universale des Radulfus Ardens
Die Leidenschaften der Seele bei David von Augsburg
Leidenschaft und Sünde. Zur Stellung der passiones animae in Psychologie, Sünden- und Lasterlehre sowie ErlösungslehreBonaventuras
Erfüllung und Entsagung. Die Leidenschaft der Gottesminne bei Mechthild von Magdeburg
Natur- und erkenntnisphilosophische Grundlagen der passiones animae bei Albert dem Großen
Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas vonAquin
Passio est aequivocum – passiones animae und affectiones voluntatis bei Johannes Duns Scotus
Tun und Leiden. Die Ambivalenz der Leidenschaft bei Meister Eckhart
Die passiones animae bei Ockham
Nikolaus Cusanus als Denker der Freude
Personenindex
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Passiones animae: Die "Leidenschaften der Seele" in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie. Ein Handbuch
 9783050056593, 9783050064710

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Christian Schäfer, Martin Thurner (Hg.)

Passiones animae

Münchener Universitätsschriften Katholisch-Theologische Fakultät

Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie Band 53 Begründet von Michael Schmaus †, Werner Dettloff und Richard Heinzmann Fortgeführt unter Mitwirkung von Ulrich Horst Herausgegeben von Richard Heinzmann und Martin Thurner (federführender Herausgeber)

Christian Schäfer und Martin Thurner (Hg.)

Passiones animae Die „Leidenschaften der Seele“ in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie 2., erweiterte Auflage Ein Handbuch

Akademie Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2013 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: hauser lacour Druck & Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN eISBN

978-3-05-005659-3 978-3-05-006471-0

Inhaltsverzeichnis

Einführung .............................................................................................................. 7 Vorwort zur zweiten Auflage ............................................................................... 11 Johannes Brachtendorf (Tübingen) Die Emotionen bei Augustinus ............................................................................. 13 Wiebke-Marie Stock (Berlin)

Polypathie. Zur Theorie der Seele nach Dionysius Areopagita ............................31 Christian Schäfer (Bamberg)

Johannes Damascenus und die Ökonomie der Leidenschaften in der Tradition hellenistischer Philosophenschulen ......................................................................53 Susann Lehmann (Jena)

Die Leidenschaften der Seele bei Peter Abaelard................................................73

Ulrich Köpf (Tübingen)

Die Leidenschaften der Seele im Werk Bernhards von Clairvaux .......................91 Stephan Ernst (Würzburg)

Die passiones animae im Speculum universale des Radulfus Ardens................135

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Inhaltsverzeichnis

Marianne Schlosser (Wien)

Die Leidenschaften der Seele bei David von Augsburg .....................................165 Rainer Jehl (Irsee)

Leidenschaft und Sünde. Zur Stellung der passiones animae in Psychologie, Sünden- und Lasterlehre sowie Erlösungslehre Bonaventuras ...........................185 Irmgard Rüsenberg (Bonn)

Erfüllung und Entsagung. Die Leidenschaft der Gottesminne bei Mechthild von Magdeburg ...................................................................................................197 Jörg Alejandro Tellkamp (Mexico City)

Natur- und erkenntnisphilosophische Grundlagen der passiones animae bei Albert dem Großen .......................................................................................207 Eberhard Schockenhoff (Freiburg)

Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas von Aquin .............................................................................................225 Marko J. Fuchs (Bamberg)

Passio est aequivocum – passiones animae und affectiones voluntatis bei

Johannes Duns Scotus ........................................................................................245 Rolf Schönberger (Regensburg)

Tun und Leiden. Die Ambivalenz der Leidenschaft bei Meister Eckhart...........261 Gerhard Leibold (Innsbruck)

Die passiones animae bei Ockham .....................................................................275 Martin Thurner (München)

Nikolaus Cusanus als Denker der Freude ...........................................................297 Personenindex.....................................................................................................313

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Einführung

In seinem Aufsehen erregenden Buch „Zorn und Zeit“ (Frankfurt 2006) hat Peter Sloterdijk vor nicht allzu langer Zeit den ehrgeizigen Versuch unternommen, eine Geschichtsphilosophie anhand der antiken Leidenschaftslehre zu entwickeln. Pate stand ihm dabei im Wesentlichen das Platonische „Seelenwagengleichnis“. Die beiden großen Aspektbereiche der Leidenschaften der Seele, das EpithymetischBegierdehafte und das Thymotisch-Aufbegehrende, seien, so Sloterdijk, tatsächlich nicht nur im Psychischen, sondern mit einer gewissen Folgerichtigkeit auch für die kulturellen Abläufe als die beiden Zugpferde zu verstehen, die der Bändigung und Führung durch die Vernunft bedürften, ohne dass diese Vernunftführung jemals auf längere Zeit hin gelänge. Und so diagnostiziert er die gesamte Entwicklung der westlichen Kultur als eine Auf- und Abbewegung von thymotischen und epithymetischen Phasen (oder, wie er sagt, von „zornigen“ und „erotischen“ Phasen), die einander gewissermaßen „Recht und Strafe gemäß der zeitlichen Ordnung leisten“ (wie man im Anschluss an das Fragment des Anaximander formulieren könnte). Jede dieser Phasen habe einen wertvollen, aber je nach Eigenart eben auch gefährlichen und mitunter abwegigen Beitrag zum Fortschreiten der Zivilisation geleistet. Je weniger aber die Vernunftintervention jeweils das Korrektiv über einen Leidenschaftsbereich geltend habe machen können, desto gefährlicher und unheilvoller habe sich die andere Leidenschaftsart in ihrer Ungehemmtheit ausgewirkt. Der Militarismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei in diesem Sinne ein Demonstrationsbeispiel für das von der Vernunft ungehemmt Thymotische, die „Make Love not War“-Generation der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts für die ungehemmte erotische Gegenbewegung. Sloterdijks Buch (mit seinem doch recht beachtlichen Publikumserfolg) zeigt nun offenbar wenigstens zweierlei: Erstens, dass die Lehre von den Leidenschaften und ihrer Verbindung zum Rationalen, vor allem aber auch, dass das Problem der fehlenden Verbindung oder der Verbindungsunterbrechung zwischen beiden, in letzter Zeit wieder eine gewisse Konjunktur erfahren hat und als ein sehr „heutiges“ Thema mit Bedeutung für drängende Fragen der Gegenwart empfunden wird. Das lässt sich auch an einer steigenden Anzahl von Symposien und Veröf-

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Einführung

fentlichungen zum Thema der Leidenschaften, der akratischen Überwältigung des Vernunftwollens und zum Verhältnis von Unwillkürlichkeit und Freiheitsformen ablesen. Dieses Interesse zeigt sich auf vielen Seiten: Kulturwissenschaft, Philosophiegeschichte, Theologie, aber auch die analytische Philosophie, die Psychologie u.a.m. nehmen sich des Themas aus verschiedenen Blickwinkeln und mit verschiedenen Methoden an. Zweitens, und ebenso aufschlussreich, zeigt Sloterdijks Buch zusammen mit zahlreichen anderen Publikationen zum Thema, dass mit den „Leidenschaften der Seele“ und ihrer Bewandtnis für das Verständnis des Menschen ein Gegenstand aufgegriffen wird, der in seinen Grundanliegen und bis in Details der Ausführungen hinein den mittelalterlichen Diskussionen dieses Themas frappierend ähnelt; gleichzeitig lassen diese zeitgenössischen Wortmeldungen schmerzlich erkennen (und das lässt sich auch ohne Süffisanz feststellen), dass die Höhe und die Ernsthaftigkeit der mittelalterlichen Diskussion in ihnen meist nicht mehr so recht erreicht wird. Aus beiden Beobachtungen ergeben sich also gute Gründe, sich gerade mit der mittelalterlichen Passioneslehre näher zu beschäftigen. Das geschah denn auch während einer international besetzten Tagung zur Thematik der passiones animae in der mittelalterlichen Philosophie und Theologie, welche das Martin-Grabmann-Forschungsinstitut der Universität München am 21. und 22. Juni 2007 in Kloster Ettal abhielt und deren Akten – angereichert durch einige wenige zusätzliche Beiträge – der vorliegende Band vereint. Der Einladung zur Teilnahme an der Tagung folgten zur Freude der Organisatoren ausgewiesene Experten auf diesem Gebiet und zu den behandelten Denkern. So war es möglich, für den Band zu den „Leidenschaften der Seele in der Philosophie und Theologie des Mittelalters“ einen historischen Durchlauf über die gut tausend Jahre von Augustinus bis Nikolaus von Kues zu konzipieren. Vorgestellt werden neben diesen beiden Genannten außerdem noch die Passiones-Theorien von Johannes von Damaskus, Bernhard von Clairvaux, David von Augsburg, Bonaventura, Mechthild von Magdeburg, Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Wilhelm von Ockham. Es ist die zuversichtliche Hoffnung der Herausgeber, dass der Durchgang durch die Leidenschafts-Lehre dieser herausragenden Gestalten des mittelalterlichen Denkens einen Eindruck vom Reichtum und der Intensität der Passiones-Diskussion sowohl im mittelalterlichen Kontext selbst, als auch im akademischen Gedankenaustausch während der Ettaler Tagung vermitteln wird. Eine ebenso freundliche wie großzügige Einladung von Abt Barnabas Bögle OSB und der Benediktinerabtei Ettal ermöglichte es, dass dieser wissenschaftliche Austausch über die Passiones in einem prächtigen gebäudlichen Rahmen mit bester Infrastruktur für Tagungen und in intensiver Arbeitsatmosphäre durchgeführt werden konnte. Gedankt sei an dieser Stelle auch der Universitätsgesellschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Pfarrer-ElzStiftung für die finanzielle Förderung des Symposions. Frau Lic. theol. Susanne

Einführung

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Kaup M.A. hat während der Tagung unschätzbare Hilfe in der Vorbereitung, Organisation und Diskussionsleitung geleistet. Frau Teresa Meißner, Frau Eleni Gaitanu und Herrn cand. phil. Enrico Barbiero sei dafür Dank ausgesprochen, die teilweise recht anspruchsvolle Formatierungsarbeit nach den Formatvorlagen des Verlags und so manche wichtige Korrekturarbeit übernommen zu haben. Herr Manfred Karras hat als Lektor für den Publikationsbereich Mittelalter des Akademie Verlags die Drucklegung des Bands mit freundlichem Interesse und großem Wohlwollen der Sache gegenüber begleitet und hilfreich gefördert, wie sich denn überhaupt die Zusammenarbeit mit dem Verlag, insbesondere im Kontakt mit der Verlagsleiterin Dr. Sabine Cofalla, jederzeit vorbildlich gestaltete und die Arbeit am Text und seiner Veröffentlichung ungemein erleichterte. München, im Frühjahr 2009

Christian Schäfer und Martin Thurner

Vorwort zur zweiten Auflage

Als Herausgeber wollten wir die Gelegenheit einer zweiten Auflage des Passiones animae-Bandes nicht verstreichen lassen, ohne das Buch um einige zusätzliche Beiträge zu erweitern. Dazugekommen sind fünf neue Studien: zu Dionysius Areopagita, Peter Abaelard, Radulfus Ardens, Johannes Duns Scotus und Meister Eckhart. Damit hat, wie wir hoffen, das Buch auch den Charakter einer Sammlung von Tagungsvorträgen, wie er die erste Auflage noch spürbar prägte, im Wesentlichen abgestreift und stellt nun ein handbuchartiges Kompendium der passiones-Lehren der einschlägig interessantesten philosophischen und theologischen Autoren von der Patristik bis zum frühen Renaissancedenken dar, sofern sie für die Tradition des lateinischen Westens von Bedeutung sind. Auch für diese zweite Auflage darf die dankbare Erwähnung derer nicht fehlen, deren Arbeit das Erscheinen erst möglich gemacht hat: Frau Ines Potzernheim und Herr Manuel Gebhardt von der Universität Bamberg haben den Text redigiert und druckfertig formatiert, Tobias Götz von der LMU München hat den Personenindex erstellt. Herrn Manfred Karras vom Akademie Verlag sei für seine stets wohlwollende Hilfsbereitschaft, sein Bemühen und die sehr gute Zusammenarbeit gedankt. Bamberg und München, im Herbst 2012

Die Herausgeber

Johannes Brachtendorf

Die Emotionen bei Augustinus∗

1. Der hellenistische Kontext

Die Emotionen nehmen einen zentralen Platz in Augustins Lehre vom Menschen und seinem Lebensziel ein. Dies kommt bereits in der ikonographischen Tradition zum Ausdruck, die Augustinus als den Mann mit dem vor Liebe brennenden Herzen darstellt. In den , Augustins bekanntestem Werk, spielen neben der Liebe weitere emotionale Zustände eine bedeutende Rolle, vor allem die Traurigkeit, aber auch die Demut und die von Tränen begleitete Reue. Oftmals spricht man sogar von einer christlichen Rehabilitation der Affekte, die Augustinus und seiner Kritik an der emotionsfeindlichen Stoa zu verdanken sei. Allerdings ist der Begriff „Emotion“ bei Augustinus nicht zu finden. Stattdessen verwendet er die zu seiner Zeit gängigen Ausdrücke wie , , , die zumeist mit „Leidenschaft“ übersetzt werden. und vor allem Damit ist zugleich ein inhaltlicher Akzent gesetzt, denn während der moderne Begriff „Emotion“ sowohl lang anhaltende als auch kurze, impulsive Zustände bezeichnet und vielleicht sogar eher an letztere erinnert, interessiert Augustinus sich vor allem für Emotionen, insofern sie grundlegende charakterliche Dispositionen und letztlich sogar Lebensorientierungen erkennen lassen. Weiterhin lässt der moderne Begriff zunächst an unwillkürliche, naturhafte Vorgänge im Menschen denken, die einem einfachen Schema von Reiz und Reaktion folgen, während Augustinus (wie die antike Philosophie überhaupt) die Affekte zunächst aus ethischer Perspektive in den Blick nimmt. Demnach ist der Mensch grundsätzlich verantwortlich für sein emotionales Leben. Affekte sind Gegenstand moralischer Beurteilung und pädagogischer Bemühung. Gefragt wird hier: Sind die Affekte eines Menschen so beschaffen, dass sie seine charakterliche Ausrichtung auf das Confessiones

perturbatio affectio

affectus



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passio

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Erstveröffentlichung des Beitrags in Klassische Emotionstheorien von Platon bis Wittgenstein, hg. v. Hilge Landweer und Ursula Renz, Berlin 2008. Vgl. De civitate dei IX 4.

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Johannes Brachtendorf

höchste Gut befördern oder verhindern? Alle großen Schulen – die platonische Akademie, der Peripatos, Epikur, die Stoa und der Neuplatonismus – waren übereinstimmend der Meinung, die Affekte bedürften der Therapie. Diesem TherapieKonzept zufolge befindet sich der Mensch zunächst in einem Zustand innerer Fehlhaltungen, der sich einerseits in Fehlorientierungen der Affekte manifestiert, und andererseits durch die fehlgehenden Affekte seinerseits perpetuiert wird. Wir freuen uns über Nichtiges, begehren Dinge, die in Wahrheit nicht begehrenswert sind, haben Angst vor letztlich Belanglosem und trauern, wo in Wahrheit nichts zu betrauern ist. Wer hingegen ein tugendhafter, ein glücklicher Mensch werden will – moderner gesagt: wer ein gelingendes Leben leben will – der muss sich auf jeden Fall einer Therapie der Affekte unterziehen. Dann wird er sich nur noch über wahrhaft Gutes freuen, über wahrhaft Schlechtes trauern und nur solches begehren, das wirklich begehrenswert ist. Trotz aller Übereinstimmung hinsichtlich der Notwendigkeit einer Therapie bestand unter den antiken Schulen doch erheblicher Dissens darüber, was Therapie konkret bedeutet und bewirkt. Im Hintergrund des Streites stehen Divergenzen in anthropologischen Grundauffassungen. Die antike Literatur, insbesondere Cicero, auf dessen Tusculanae Disputationes Augustinus sich häufig bezieht, unterscheidet zunächst vier Hauptleidenschaften, je nachdem ob der Affekt sich auf ein Gut oder ein Übel bezieht, und ob dieses Gut beziehungsweise Übel für die Zukunft erwartet wird oder bereits gegenwärtig ist. Begierde (cupiditas/libido) richtet sich auf ein erhofftes Gut, Freude (laetitia) genießt ein gegenwärtiges Gut, Angst (metus/timor) bezieht sich auf ein zukünftiges Übel und Traurigkeit (aegritudo/tristitia) auf ein gegenwärtiges Übel. Die HauptDiskussionslinie der Zeit verläuft zwischen der stoischen Auffassung und dem so genannten akademisch-peripatetischen Konsens, einem philosophiegeschichtlichen Konstrukt, das angeblich gemeinsame Thesen Platons und Aristoteles’ zusammenfasst und vor allem durch Antiochos von Askalon, den Lehrer Ciceros und Varros, repräsentiert wird. Die Stoiker vertreten eine radikale Position, derzufolge die Therapie der Affekte zur gänzlichen Befreiung von den Affekten führt. Weisheit ist für die Stoiker mit einem Zustand der Seelenruhe (Apathie) verbunden, in dem es keine Affekte mehr gibt. Dagegen rechnet die akademischperipatetische Schule die Affekte der Natur des Menschen zu. Daher könne die Therapie der Affekte nicht in ihrer Ausrottung bestehen, dies bedeutete ja eine Verstümmelung der Seele, sondern nur in ihrer Formung und Erziehung durch die Vernunft. Weisheit liege nicht darin, gar keinen affektiven Seelenbewegungen zu 2

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Vgl. CICERO, Tusculanae Disputationes IV 14. Bei AUGUSTINUS vgl. De civitate dei XIV 9 (Ich zitiere nach der Ausgabe von B. Dombart und A. Kalb, Stuttgart 51981, sowie nach der Übersetzung von Wilhelm Thimme, Zürich 1981). Vgl. dazu CICERO, Tusculanae Disputationes, das gesamte Buch IV.

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Die Emotionen bei Augustinus

unterliegen, sondern sie zur rechten Zeit im rechten Maß zu empfinden. Dabei komme ihnen sogar eine die Tugend unterstützende Funktion zu. Zorn sei der Wetzstein der Tapferkeit, Begehren fördere das Erreichen großer Ziele, und Traurigkeit als Folge von Bestrafung halte wenigstens die Menge davon ab, Verbrechen zu begehen. Diese Unterschiede wurzeln in verschiedenen anthropologischen Grundauffassungen. Während die Akademiker und Peripatetiker, ebenso wie Augustinus selbst, neben der Vernunft einen eigenen Seelenteil als Ort der Emotionen ansetzen, der nicht beseitigt werden könne, kennen die Stoiker keine solche Seelenteilung. Emotionen sind für sie lediglich verfestigte Irrtümer der Vernunft, die sich restlos auflösen lassen, ohne dass dadurch ein Teil der Seele „amputiert“ werden müsste. Allerdings ist der Gegensatz weniger deutlich als es zunächst scheint, denn man muss gegen ein verbreitetes Missverständnis festhalten, dass die Apathie der Stoiker nicht dumpfe Gefühllosigkeit bedeutet. Auch der stoische Weise verspürt noch Seelenregungen, nur nicht die genannten unvernünftigen, sondern ihre rein aus der Vernunft entspringenden Gegenstücke, die sogenannten constantiae oder griechisch: eupatheiai. Der Weise freut sich, begehrt und lässt Vorsicht walten, aber in einer rationalen Weise, die die Seelenruhe nicht gefährdet. Im Folgenden sei zunächst Augustins Lehre von den passiones im Grundriss dargestellt sowie seine Positionierung zwischen Stoa und Peripatos. Sodann sollen die metaphysischen Hintergründe erklärt werden, ohne die Augustins Auffassung unverständlich bliebe. Weiterhin wird anhand der Confessiones dargestellt, inwiefern sich der Mensch Augustinus zufolge unter der Herrschaft falscher Emotionen befindet und wie er von dieser Herrschaft befreit werden kann. Schließlich sollen zwei besondere Affekte näher untersucht werden, nämlich die Traurigkeit und das sexuelle Begehren. Am Beispiel der Traurigkeit zeigt Augustinus sehr konkret, wie sich ein falscher Affekt durch die Therapie in einen richtigen Affekt verwandelt. Das sexuelle Begehren spielt in Augustins Deutung des Menschseins eine hervorgehobene Rolle und wurde zudem für eineinhalb Jahrtausende kulturgeschichtlich bestimmend. Insgesamt liefert Augustinus sowohl grundsätzliche, bis in die Metaphysik hineinreichende Reflexionen zur Emotionalität des Menschen, als auch tiefgehende psychologische Analysen konkreter Fälle. 4

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2. Augustins Lehre von den passiones im Grundriss Augustinus entwickelt seine Affektenlehre in De civitate dei IX und XIV. Er setzt sich dabei hauptsächlich mit der Stoa, aber auch mit der akademisch4 5

Vgl. CICERO, Tusculanae Disputationes IV 38-43. Vgl. ebd. IV 14.

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Johannes Brachtendorf

peripatetischen Position auseinander. Im neunten Buch kritisiert Augustinus zunächst die Stoiker. Er zitiert hier eine Geschichte aus den Attischen Nächten des Aulus Gellius , in der Gellius erzählt, wie er einmal zusammen mit einem angesehenen stoischen Philosophen über See gefahren sei. Dabei gerät das Schiff in ein Unwetter, die Passagiere werden von Todesangst gepackt, beobachten aber trotzdem gespannt den Philosophen, um zu sehen, ob er in dieser Situation Apathie bewahren könne. Auch der Philosoph, so ist bald zu erkennen, wird blass vor Furcht. Doch das Unwetter zieht ab, und als die See wieder ruhig ist, befragt Gellius den stoischen Philosophen wegen dessen Angst. Dieser zieht ein Buch Epiktets aus der Tasche, dessen Inhalt mit den Lehren Zenons und Chrysipps, den Gründern der stoischen Schule, übereinstimme, und erläutert die auch von Seneca her bekannte Unterscheidung von affectus und passio. Die passio beruhe auf einer geistigen Zustimmung, das heißt einem Urteil der Vernunft, dass ein Gut oder Übel im Spiel sei. Dagegen stelle der affectus eine unwillkürliche Bewegung der Seele dar, verursacht etwa durch schreckliche Wahrnehmungen wie einen Seesturm. Angewendet auf das Beispiel des stoischen Philosophen im Schiff bedeutet dies: Dass er blass wurde, heißt nicht, dass er den Zustand der Apathie verloren habe. In seiner Vernunft hielt er vielmehr unbeirrt an der Einsicht fest, dass der Tod kein Übel sei, und somit blieb er frei von passiones. Gleichwohl löste das Unwetter in ihm einen affectus aus, der ihn erbleichen ließ, doch da er diesem affectus nicht zustimmte und niemals urteilte, dass ein Übel auf ihn zukomme, blieb er in Wahrheit apathisch. Ein Vergleich des Wortlautes der Geschichte bei Gellius mit der Wiedergabe Augustins zeigt sehr deutlich, welches Interesse Augustinus an dieser Geschichte hat. Letztlich will er zeigen, dass die stoische Behauptung, der Weise könne in diesem Leben bereits das vollkommene Glück erreichen, inakzeptabel ist. Wenn selbst ein vollkommener Mensch in einem Seesturm blass vor Furcht werde, dann stelle dies bereits ein Übel dar, das die Behauptung, er sei glücklich, widerlege. Die Geschichte zeige, dass die Peripatetiker mit ihrer Behauptung von der Unvermeidlichkeit der passiones gegenüber den Stoikern im Recht seien. Zwar schließt Augustinus sich durchaus der stoischen These an, dass es moralisch gesehen einen großen Unterschied mache, ob jemand einer emotionalen Regung zustimmt oder nicht. Sein Interesse richtet sich aber auf das Ganze der conditio humana, zu der die Tatsache gehört, dass der Mensch selbst dann, wenn er nicht 6

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Vgl. De civitate dei IX 4; für GELLIUS vgl. The Attic Nights of Aulus Gellius, with an English translation by John C. Rolfe, 3 vols., London 1927, XIX 1. Vgl. SENECA, De ira 2, 3, 1-4. Vgl. dazu im Detail BRACHTENDORF, Johannes, Cicero and Augustine on the Passions, in: Revue des Etudes Augustiniennes 1997 (43/2), S. 296-299. Vgl. auch die umfassende Studie von COLISH, Marcia L., The Stoic Tradition from Antiquity to the Middle Ages, Leiden 1990, 2 vols.

Die Emotionen bei Augustinus

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zustimmt, von vernunftlosen Seelenbewegungen heimgesucht und verwirrt wird. Vorurteilslos betrachtet beweise die Geschichte vom Philosophen im Seesturm, dass an ein vollkommenes Glück im irdischen Leben schon deshalb nicht zu denken sei, weil der Mensch seine Affekte eben nicht vollständig kontrollieren oder sogar ausrotten könne, sondern immer mit ihnen zu ringen habe. Was das irdische Leben betrifft, so argumentiert Augustinus eher akademischperipatetisch, nicht stoisch. Affekte gehören zur Natur des Menschen, daher ist es unmöglich, ihnen zu entfliehen. Allerdings sind sie durchaus nicht nur negativ zu sehen, sondern sie können entweder schädlich oder nützlich sein. Denn wenn die Gemütsbewegungen „aus gutem Willen und heiliger Liebe“ hervorgehen, „wenn sie sich in vernünftigen Bahnen halten und nur da, wo es angebracht ist, hervortreten“ , dann werde man sie sicher nicht „sündige Leidenschaften“ (vitiosae passiones) nennen wollen. Ebenso wie die Peripatetiker ist Augustinus der Meinung, dass Freude und Begehren, Traurigkeit und Angst positiv sein können, wenn sie bei einem Menschen mit der richtigen Grundorientierung auftreten, wobei Augustinus diese Grundorientierung allerdings nicht schon in einem Leben ,gemäß der Vernunft‘ sieht, sondern in einem Leben gemäß Gott, das seinerseits erst ein vernunfthaftes Leben ermöglicht. Augustinus geht eine Reihe von neutestamentlichen Texten durch, um zu zeigen, dass der bekehrte Mensch lobenswerte passiones besitze, so etwa wenn er die Verdammung fürchtet, das ewige Leben begehrt, wenn er trauert, weil das Himmelreich noch nicht da ist, und sich in Hoffnung auf es freut. Diese positiven Emotionen richten sich auch auf das Wohl des Mitmenschen, denn der Christ sorgt sich um das Glück des Nächsten, er weint über dessen Sünden, freut sich über dessen Rettung und begehrt, mit ihm im Himmelreich zu sein. Es gibt eben nicht nur eine tristitia mundi, sondern auch eine tristitia secundum deum (2 Korinther 7,8 ff), nicht nur einen timor servilis, sondern auch einen timor castus, und so kritikwürdig die ersteren sind, so schätzenswert sind die letzteren. Ob die passiones eine negative oder eine positive Gestalt annehmen, hängt für Augustinus davon ab, ob der Wille des Menschen auf Gott als höchstes Gut gerichtet ist, oder ob er ein anderes Gut zum höchsten erhebt. Liebt der Mensch Gott um Gottes willen und alles andere in Gott, dann ist sein Wille recht und seine passiones sind lobenswert. Liebt er hingegen sich selbst am meisten und alles andere um seiner selbst willen, dann ist sein Wille pervertiert und die passiones werden zu tadelnswerten Leidenschaften. Auch nach Augustinus 9

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De civitate dei XIV 9. Martin Heidegger erkennt den Affekten unter dem Namen der „Befindlichkeit“ eine weltund selbsterschließende Funktion zu, die ursprünglicher ist als die des diskursiven Erkennens. Die ausgezeichnete Befindlichkeit sieht er in der „Angst“ im Gegensatz zur „Furcht“. Für diesen Gegensatz beruft er sich auf Augustins Unterscheidung von timor castus und timor servilis. Vgl. Sein und Zeit § 40, Tübingen 15. Aufl. 1979, S. 190.

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Johannes Brachtendorf

bedürfen die Affekte der Therapie, und diese Therapie geschieht durch die Bekehrung des Menschen. Man spricht oft von einer christlichen Rehabilitation der Affekte bei Augustinus, insbesondere im Vergleich zu den Stoikern. Dies ist berechtigt, insofern Augustinus die in ihrer positiven Form für pädagogisch förderlich hält, weil sie dem Menschen helfen, sein Leben auf Gott als höchstes Gut auszurichten beziehungsweise sogar Ausdruck eines auf Gott ausgerichteten Lebens sind. Und doch bedarf die Rede von der christlichen Rehabilitation der Affekte bei Augustinus der näheren Bestimmung, ja der Eingrenzung und Relativierung. Augustinus schreibt über die positiven Emotionen: passiones

Man muss freilich gestehen: Auch wenn diese Gefühle recht und gottgemäß sind, gehören sie doch nur diesem, nicht etwa auch dem künftigen Leben an, auf das wir hoffen, und oft kommen sie auch gegen unseren Willen über uns. So weinen wir bisweilen, auch wenn wir es nicht wollen, obschon es nicht sündige Begierde, sondern reine Liebe ist, die uns bewegt. Wir unterliegen diesen Gefühlen infolge unserer menschlichen Schwäche.11

Demnach sind die passiones im irdischen Leben grundsätzlich ambivalent, denn nicht nur die schlechten, sondern auch die guten können der „Vernunft widerstreiten und den Geist verwirren“ . Obwohl die positiven Leidenschaften Ausdruck eines gottgemäßen Lebens sind, drohen auch sie aufgrund der Schwäche des Menschen überzuschießen und müssen von der Vernunft gezügelt werden. Augustinus hegt also auch ihnen gegenüber eine gewisse Skepsis, denn selbst in ihrer positiven Gestalt zeugen die passiones von einem Antagonismus zwischen Vernunft und Affekten in der Seele des Menschen. Dieser Antagonismus, diese Uneinheitlichkeit und Bipolarität gehören nach Augustinus zur Natur des Menschen, wie wir ihn kennen. Doch ursprünglich war der Mensch anders. Erst der Sündenfall hat diese Situation bewirkt, erst durch ihn ist der Mensch so schwach geworden, dass sich selbst seine positiven Leidenschaften der Vernunftkontrolle entziehen können. Vor dem Sündenfall existierte dieses Problem noch nicht, und in der jenseitigen Vollendung wird es nicht mehr existieren. Im Blick auf das prälapsarische Leben im Paradies und auf die eschatologische Vollkommenheit sympathisiert Augustinus durchaus mit dem stoischen Gedanken der Apathie, sofern diese eben nicht als dumpfe Gefühllosigkeit verstanden werde, sondern im wahren stoischen Sinne als Seelenzustand, in dem die Gefühle grundsätzlich vernunftgemäß sind, niemals überzuschießen drohen und deshalb auch nicht gezügelt werden müssen. Apathie meint dann einen Zustand, in dem die Leidenschaften sich noch nicht von der Vernunft dissoziiert haben, in dem noch kein zweiter Pol im Menschen ausgebildet ist, ein Zustand also, in dem die passiones per se vernunftgemäß sind. Der Mensch im Paradies 12

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De civitate dei De civitate dei

XIV 9. XIV 9.

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Die Emotionen bei Augustinus

kannte freilich nicht alle vier Leidenschaften: Traurigkeit und Angst existierten nicht, weil es keine Übel gab; nur Freude und Liebe bestimmten das Leben der Menschen, und zwar Liebe zu Gott und zum anderen. Für die eschatologische Vollkommenheit gilt nach Augustinus ebenfalls das Apathie-Ideal. Auch im seligen Leben wird es keine Angst und keine Traurigkeit mehr geben, weil es keine Übel mehr geben wird, sondern nur noch Freude und Liebe. Augustinus kritisiert also die Stoiker mit den Peripatetikern und die Peripatetiker mit den Stoikern. Gegen die Stoa wendet er ein, dass das Apathie-Ideal, das sie für das irdische Leben aussteckten, hier gar nicht sinnvoll erstrebt werden könne, weil es – wie die Peripatetiker zu Recht geltend machten – der Natur des irdischen Menschen widerspreche und sich folglich nur im Jenseits verwirklichen lasse. Die Peripatetiker hingegen seien zwar mit ihrer These von der Natürlichkeit und Unvermeidlichkeit der im Recht, übersähen aber, dass selbst die guten Affekte für den Menschen eine Herausforderung und mitunter eine Beschwernis darstellen, die es im Urstand noch nicht gab und in der Vollendung nicht mehr geben wird. passiones

3. Metaphysische Hintergründe der Affektenlehre

Augustins Bewertung der Affekte, ihrer Rolle im Leben vor und nach dem Sündenfall sowie im Vollendungszustand, beruht letztlich auf metaphysischen Grundlagen, nämlich auf der sogenannten Transzendentalienlehre und auch auf der Privationstheorie. Der Transzendentalienlehre zufolge stellt jedes Seiende eine Einheit dar. , lautet die scholastische Formel. Zwar benutzt Augustinus diese Formel noch nicht, doch die Lehre von der Einheit, Wahrheit und Gutheit jedes Seienden ist bei ihm bereits voll entwickelt. Augustins Transzendentalienlehre zufolge ist nicht jedes Seiende gleichermaßen eines, wahr und gut, sondern es gibt verschiedene Grade von Einheit, entsprechend der Hierarchie des Seienden. An deren Spitze steht Gott, der – ganz platonisch gedacht – die höchste Einheit ist und zugleich die Einheit selbst und die Quelle aller Einheit, insofern er allem anderen Anteil an sich gewährt und ihm somit Einheit mitteilt. Darunter stehen die Engel als reine, unveränderliche Geistwesen, dann der Mensch mit seiner leiblich-geistigen Doppelnatur, dann die Tiere, Pflanzen und schließlich die leblosen materiellen Dinge bis hinab zur reinen Materie. Die Grade der Einheit sind auch Grade des Seins, der Wahrheit und der Gutheit. Je nach der Stufe, auf der ein Seiendes kraft seines Wesens steht, besitzt es einen entsprechenden Grad der transzendentalen Bestimmungen. Ens et unum convertuntur

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Vgl. De ordine II 18,48; Confessiones VII 11,17-16,22.

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Johannes Brachtendorf

Nach Augustinus gibt es aber auf jeder Stufe, die ein Seiendes kraft seines Wesens einnimmt, nochmals eine gewisse Variationsbreite. Beispielsweise erreicht ein gesunder, voll entwickelter Apfelbaum den höchsten Einheitsgrad, der für ihn als Apfelbaum möglich ist, während ein kranker, verkrüppelter Baum zwar immer noch auf der Stufe der Apfelbäume steht, aber dort sozusagen am unteren Ende. Letzterer leidet an einem Mangel an Einheit, Sein, Wahrheit und Gutheit, oder auch an einer Privation, wobei diese Rede besonders deutlich macht, dass die volle Verwirklichung des Wesens, also das Optimum, die Norm darstellt, an der gemessen dem kranken Baum etwas fehlt, das er haben sollte. Krankheit ist für Augustinus Dysfunktionalität, also Verlust an organischer Einheit. Solche Phänomene von Dysfunktionalität und Privation sieht Augustinus nicht nur auf der leiblichen, sondern auch auf der geistigen Ebene, ja seine moralische Psychologie ist, ebenso wie diejenige Platons und vieler hellenistischer Schulen, geprägt von dem Gedanken, dass moralische Schlechtigkeit als eine Art geistige Krankheit auftritt, also als Dysfunktionalität der Seelenkräfte, die ebenso der Heilung bedarf wie die Krankheit des Leibes, nur natürlich mit anderer Medizin. Im Zustand der vollen Verwirklichung seines Wesens, also im Paradies, war der Mensch kognitiv, voluntativ und affektiv an Gott, der Einheit selbst, als höchstem Gut orientiert, denn er liebte Gott um seiner selbst willen und alles andere in Gott. Hier besaß der Mensch den höchsten ihm möglichen Grad an Einheit. Daher kannte der Leib keine Krankheit, es gab keinen Schmerz (als Indikator physischer Unordnung), und die Seele war so sehr eine Einheit, dass sie keinerlei Antagonismen aufwies. Für die passiones animae bedeutet dies, dass sie sich niemals gegen die Vernunft stellten, auch gar keine Tendenz dazu besaßen, weil sie konstitutionell in Harmonie mit der Vernunft standen, das heißt ihrem Befehl bedingungslos gehorchten. Zufolge seines hohen seelischen Einheitsgrades kannte der Mensch im Urstand nur vernünftige Affekte, nämlich – nach Augustinus – Freude und Liebe. Mit dem Sündenfall verlor der Mensch dieses Höchstmaß an Einheit und sank herab – natürlich nicht bis auf die Stufe des Tieres, denn auch der Sünder ist ja ein Mensch, aber bis an den unteren Rand des für den Menschen Möglichen. Diese Privation manifestierte sich in einer bisher ungekannten Schwäche des Leibes (Krankheit), des Zusammenhangs von Leib und Seele (Tod), und auch einer Lockerung der Einheit innerhalb der Seele, das heißt konkret des Bandes zwischen der Vernunft und den Affekten. Augustinus erläutert dies gern, indem er den paradoxen Effekt der Sünde hervorhebt. Der Mensch wollte nicht mehr Gott als seinem höchsten Gut dienen, sondern Herr seiner selbst sein, und erklärte sich daher selbst zu seinem summum bonum. Die willentliche Abwendung von

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Vgl. etwa PLATON, Politeia IV 444a-e; IX 588b-591b.

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Die Emotionen bei Augustinus

der Quelle aller Einheit führte für den Menschen jedoch konsequenterweise zu einem Verlust an Einheit, und dies manifestierte sich unter anderem in einer Dissoziation innerhalb der Seele, derzufolge die Affekte nicht mehr bedingungslos im Dienst der Vernunft stehen, sondern gleichsam einen zweiten Pol bilden, der in Widerspruch zur Vernunft geraten kann. Das bedeutet: Der Mensch, der Herr seiner selbst sein wollte, verliert gerade die Herrschaft über sich selbst, weil sich die Affekte nun der Vernunftkontrolle entziehen können, was zuvor unmöglich war. Der Einheitsverlust in Form der Lockerung des innerseelischen Bandes schwächt den Menschen, so dass er nun die zügeln muss, im Kampf mit ihnen oft unterliegt, ja als Sünder sogar grundsätzlich unterlegen ist. passiones

4. Der Mensch unter der Herrschaft der Affekte

Augustinus sieht einen engen Zusammenhang zwischen dem Willen und den Emotionen, denn die Affekte sind für ihn gleichsam Typisierungen des Wollens in spezifischen Situationen. Daher geht die moralische Qualität des Wollens indirekt auf die Affekte über. Wessen Wille auf das Gute gerichtet ist, dessen Emotionen sind gut. Wessen Wille sich hingegen auf das Böse richtet, dessen Emotionen sind ebenfalls böse. Wie schon gesagt, ist Augustinus mit der hellenistischen Philosophie insgesamt der Meinung, dass die Affekte des Menschen fehl gehen und der Therapie bedürfen. Den Grund dafür sieht er in einer Fehlorientierung des Willens bei allen Menschen, die er auf eine falsche Willensentscheidung des ersten Menschenpaares zurückführt. Adam und Eva besaßen zunächst eine richtige Orientierung des Willens auf ihr höchstes Gut hin, und somit waren auch all ihre Affekte gut. Dann kam jedoch ein pervertierter Wille (voluntas perversa) in ihnen auf, sie wendeten sich von Gott ab und suchten das höchste Gut in sich selbst. Mit diesem pervertierten Willen ist ein falscher Affekt verbunden, nämlich das Begehren (concupiscentia/libido) nach Selbstherrschaft bzw. das Begehren, selbst Gott sein zu wollen. In der ersten Sünde sieht Augustinus nicht nur einen einmaligen moralischen Akt, sondern eine Entscheidung, die die Natur des Menschen in zwei Hinsichten modifiziert. Erstens tritt nun jene Lockerung des Bandes zwischen Vernunft und Affekt auf, von der bereits die Rede war, und zweitens ist der Mensch, da sein Wille pervertiert ist, von vornherein mit der schlechten concupiscentia/libido konfrontiert. Augustinus spricht von einer eisernen Kette, die den Willen des Menschen fesselt und ihn dazu zwingt, Böses zu tun. Diese Kette weist vier Glieder auf, nämlich zunächst die voluntas perversa und den mit ihr verbundenen Affekt der libido, dann die Gewohnheit (consuetudo), die entsteht, wenn der Mensch der 15

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Vgl.

De civitate dei

XIV 7.

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Johannes Brachtendorf

wiederholt zustimmt, und schließlich die Notwendigkeit (necessitas) des Zustimmens, die sich aus der wiederholten Zustimmung ergibt. Im Resultat ist der Mensch Affekten ausgesetzt, denen er nicht widerstehen will und kann, die ihn aber in die falsche Richtung ziehen. Diese fehlgerichteten Affekte bestimmen von nun an sein Handeln. In vielen Einzelszenen der Confessiones zeigt Augustinus, wie sich die Affekte in den verschiedenen Entwicklungsstadien des Menschen auswirken. In der Anekdote von den beiden Milchbrüdern geht es um Kleinkinder, die noch keinen Vernunftgebrauch besitzen und sich somit in einer vormoralischen Lebensphase befinden. Augustinus berichtet hier, wie das eine der beiden Kinder deutliche Zeichen des Zornes und der Eifersucht zeigt, als es sieht, dass die Amme das andere Kind zum Stillen anlegt. Obwohl das Leben dieses Kindes von der Milch abhängt, und obwohl die Amme genügend Milch für beide hat, versucht das andere Kind, dieses zu verdrängen und von der Nahrung auszuschließen. Augustinus zufolge ist das Verhalten des missgünstigen Kindes bereits von der falschen concupiscentia bestimmt, nämlich von einem auf sich selbst gerichteten Begehren, mit dem es sich selbst eine Herrschaftsstellung zuschreibt und dem Milchbruder die Anerkennung verweigert. In der Geschichte vom Birnendiebstahl berichtet Augustinus eine zunächst eher harmlose Begebenheit aus seiner Jugendzeit. Gemeinsam mit einigen Kumpanen stiehlt er des Nachts Birnen aus dem Garten eines Nachbarn. Dem kurzen Bericht lässt er jedoch eine tiefgehende psychologische Analyse folgen, in der er das wahre Motiv seines Handelns sucht. Dieses habe nicht im Verlangen nach den Birnen gelegen, denn sie waren von so schlechter Qualität, dass er seine Diebesbeute sogleich wegwarf. Vielmehr sei es ihm um die Übertretung eines moralischen Gebotes als solche gegangen, denn dadurch habe er sich und seinen Freunden demonstrieren wollen, dass er solchen Geboten nicht unterworfen sei, sondern – gottgleich – über sie herrsche. Augustinus befindet sich nun bereits im moralfähigen Alter, so dass die Geschichte zeigt, wie er dem Begehren, selbst Gott sein zu wollen, innerlich zustimmt. Im Laufe seines weiteren Lebens vollzieht er diese Zustimmung wieder und wieder, bis sie sich zur Notwendigkeit verfestigt. Augustinus hebt die Rolle der öffentlichen Meinung und die Erwartungshaltung der Eltern und Lehrer hervor, die das falsche Streben nach Selbstbehauptung durch Ehre und Ruhm unterstützen. In den gleichen Zusammenhang gehört Augustinus zufolge das Streben nach libido

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Vgl. VIII 5,10. Vgl. I 7,11. Für eine ausführliche Interpretation der vgl. BRACH-TENDORF, Johannes, , Darmstadt 2005. Im Folgenden wird die Übersetzung von Thimme benutzt: AURELIUS AUGUSTINUS, , eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimme, München 6. Aufl. 1992. Vgl. II 4,9-6,14. Confessiones

Confessiones

Confessiones

Augustins Confessiones

Bekenntnisse

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Confessiones

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Die Emotionen bei Augustinus

sexueller Lust. Rückblickend wirft er seinen Eltern, besonders dem Vater Patricius, vor, der Sexualität des heranwachsenden Sohnes freien Lauf gelassen zu haben und sie in der Hoffnung auf eine spätere „gute Partie“ nicht gleich in die geordneten Bahnen einer Ehe gelenkt zu haben. Mit 32 Jahren gerät Augustinus in eine tiefe Lebenskrise, die ihn den Entschluss fassen lässt, seine bis dahin steil verlaufene Karriere als Rhetor aufzugeben, seine Ehrsucht abzulegen und ein zölibatäres Leben zu führen. In diesem Moment erfährt er den Zwangscharakter, den das Streben nach Ehre und sexueller Lust in ihm angenommen hat. Zwar ist er kognitiv, nämlich durch die Lektüre neuplatonischer Schriften , zu der festen Überzeugung gelangt, dass es sich hier in Wahrheit nicht um Güter, sondern um Übel handelt, aber der daraus folgende Entschluss zur Änderung der Lebensführung lässt sich praktisch nicht umsetzen. Der Affekt des Begehrens erweist sich als so stark, dass er dem Willen zur Neuausrichtung des Lebens gemäß erlangter Einsicht in das wirklich Gute widersteht. In Augustins gesamtem Leben bis hierher hatten die falschen Affekte bereits die Führungsrolle übernommen. Im Augenblick des Versuchs der Umkehr wird offensichtlich, dass die Vernunft ihnen gegenüber machtlos geworden ist. Augustinus kann nicht aufhören, nach Ehre und Lust zu streben, obwohl er nicht mehr nach solchen Dingen streben will. Genauer gesagt findet Augustinus nun in sich einen „neuen Willen“, der sich ganz auf Gott und die Weisheit als höchstes Gut richtet, aber auch noch den „alten Willen“. Der Liebe zu Gott steht die Liebe zur Ehre und Lust gegenüber. Der neue Wille ist zu schwach, weil der alte Wille immer noch besteht. 19

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5. Die Befreiung von der Herrschaft der Affekte Augustinus versucht sich durch Willensanstrengung aus der Situation der Willensspaltung zu befreien, was jedoch nicht gelingt und nicht gelingen kann. Entscheidend ist in diesem Moment Augustins Einsicht, dass selbst der Versuch, sich aus eigener Kraft zum Guten bekehren zu wollen, noch ein Ausfluss eines Narzissmus ist, in dem sich der Hochmut der Ursünde und das Begehren nach Selbstherrschaft manifestieren. Daher lässt er von diesem Versuch ab und bekennt seine moralische Schwäche und sein charakterliches Unvermögen. An die Stelle des Hochmutes tritt die Demut und das Eingeständnis, nicht Gott zu sein, sondern nur ein endliches Geschöpf. Dieser Umschwung in der existenziellen Grundhaltung ist stark emotional geprägt. Augustinus berichtet von einem inneren Sturm im Hin 19 20 21

Vgl. Confessiones VII 9,13-16,22. Vgl. Confessiones VIII 1,1. Vgl. Confessiones VIII 5,10 -12; 8,20-10,24.

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und Her zwischen neuem und altem Willen, von der Scham und dem Erröten über das eigene Unvermögen, von der bittersten Zerknirschung des Herzens und schließlich von Strömen der Tränen, die er im Eingeständnis der eigenen Schwäche vergießt. In dieses Eingeständnis des eigenen Unvermögens hinein wirkt die Gnade Gottes, die Augustinus zum Guten bekehrt, indem sie den alten Willen aufhebt, die Situation der Willensspaltung beseitigt und die Notwendigkeit des Zustimmens zu den kritikwürdigen Emotionen auflöst. Gott als das höchste Gut erscheint Augustinus nun begehrenswerter als Ehre und Lust. Die falsche Begierde nach Selbstherrschaft hat sich in das richtige Begehren Gottes verwandelt. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Augustinus vom Thema „Emotionen“ her eine Kritik an der Philosophie führt. Einerseits schätzt Augustinus die Philosophie hoch, insbesondere den Neuplatonismus, dem er vor allem in der Metaphysik zugesteht, die Wahrheit beispielsweise über Gott als immaterielles Wesen erkannt zu haben. Andererseits vermöge die Philosophie jedoch nur die Vernunft zu belehren, nicht aber den Willen zu bekehren. Dazu sei nämlich die Demutshaltung erforderlich, die den Neuplatonikern fehle. Die Philosophen vermittelten zwar ein akkurates Wissen um Gott, doch sie kennen die „Tränen des Bekennens“ (VII 21,27) der eigenen Schwäche nicht, ohne die es keine Therapie der Affekte geben könne. Philosophie ist nach Augustinus ein wertvolles, aber bloß intellektuelles Unterfangen. Wer bei ihr stehen bleibt, wird nicht zum vollkommenen Menschsein gelangen. Bekehrung bedeutet für Augustinus nicht, dass der Mensch sogleich zu einer fraglosen Einheit von Vernunft und Emotionen zurückkehren könnte, denn die Wiederherstellung dieser Einheit ist dem Leben in der eschatologischen Vollendung vorbehalten. Dagegen bleibt das irdische Leben durchgängig geprägt von seelischen Antagonismen, denn die Lockerung des Bandes zwischen der Vernunft und den Affekten als Kennzeichen der Natur des Menschen wird durch die Bekehrung nicht aufgehoben. Das Ideal des antiken Weisen, dessen Emotionen stets von sich aus der Vernunft folgen , hält Augustinus, solange es um den irdischen 22

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Confessiones VIII 12,28. Die Vorstellung von den Tränen der Reue und der Zerknirschung,

die die Einsicht in das Verfehltsein des eigenen Lebens begleiten, geht literarisch zurück auf die Figur des Alkibiades in Platons Symposion (215e-216c). Sie wird tradiert in Xenophons Memorabilia (IV 2,23) und in Ciceros Tusculanae Disputationes (III 77f; IV 61), von woher Augustinus sie vermutlich kennt. Vgl. Confessiones VIII 12,29-30. Vgl. PLATON, IV 441c-445b. Gerechtigkeit als charakterliche Vollendung wird hier Politeia

geschildert als jener Zustand, in dem jeder Seelenteil das Seinige verrichtet im Blick auf Herrschen und Beherrschtwerden (443b). Die Vernunft räumt den Begierden nicht nur keine Herrschaft mehr ein, sondern die Begierden streben gar nicht erst danach, weil sie von sich aus der Vernunft folgen wollen. Platon bezeichnet die Gerechtigkeit auch als Freundschaft der Seelenteile untereinander (vgl. Politeia IV 442c). Der Gerechte ist demnach sein

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Die Emotionen bei Augustinus

Menschen geht, für unerreichbar und überfliegend. Seines Erachtens ist das menschliche Leben auch in seiner (diesseitigen) Bestform gekennzeichnet durch ein Ringen der Tugend mit den Leidenschaften, durch seelische Diskrepanzen und eine ständige Versuchbarkeit. Als Quelle der Versuchungen nennt Augustinus erstens die vom Leib her kommenden Begierden (concupiscentia carnis), vor allem Hunger, Durst und sexuelles Begehren, zweitens die Schaulust (concupiscentia oculorum) und drittens den Ehrgeiz, insbesondere in Form der Ruhmsucht und der Geldgier (ambitio saeculi). Zwar ist der zum wahrhaft Guten bekehrte Mensch frei von dem Zwang, diesen Impulsen zustimmen zu müssen, ja er ist fest entschlossen, ihnen nicht nachzugeben, aber trotzdem ist er ständig der Versuchung durch sie ausgesetzt, wie Augustinus in Buch X der Confessiones anhand einer Selbstanalyse eindrucksvoll zeigt. 25

6. Affekttherapie am Beispiel der Traurigkeit Besonders markant sind zwei parallel gestaltete Szenen des Trauerns, nämlich zum einen die Erzählung vom Tod des besten Freundes Augustins26, zum anderen die Sterbeszene seiner Mutter.27 Beide Male verliert Augustinus eine geliebte Person, beide Male führt er eine eindringliche Analyse seiner affektiven Reaktion auf den Verlust vor. Allerdings finden sich auch kontrastierende Elemente. Der Verlust des Freundes ereignet sich vor Augustins Bekehrung, der Tod der Mutter jedoch nach der Bekehrung. Durch die parallele Anordnung der Szenen zeigt Augustinus, dass und wie sich seine emotionale Reaktion durch die neugewonnene Lebensorientierung ändert. Wir sehen also hier einen Affekt vor und nach der Therapie und erfahren zugleich, welche moralischen Ansprüche Augustinus an den emotionalen Umgang mit Leiderfahrungen stellt. Augustinus berichtet zunächst über seine Freundschaft mit einem gleichaltrigen jungen Mann, dessen Namen er allerdings nicht nennt. Über diese Freundeigener Freund (Politeia IV 443d; IX 589b). Nach Augustinus vermag der irdische Mensch

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auch als Gerechter nicht über ein misstrauisch-wachsames Verhältnis zu sich selbst hinauszukommen. Martin Heidegger ist wesentlich von Augustins Deutung des menschlichen Lebens als eines unaufhebbaren Antagonismus geprägt, wie seine frühe Vorlesung Augustinus und der Neuplatonismus (Gesamtausgabe II. Abt., Bd. 60, S. 157-299) zeigt, in der er das Buch X der Confessiones auslegt. Das Ideal der „Eigentlichkeit“, wie es in Sein und Zeit erklärt wird, geht auf die frühe Augustinus-Rezeption zurück. „Eigentlichkeit“ meint nicht einen Zustand vollkommener innerer Ruhe, sondern ein Sichsammeln in der ständigen Auseinandersetzung mit der Gefahr des Abgleitens und ein immer neu zu vollbringendes Sichbewahren vor dem Verfallen an die dingliche Welt. Vgl. Confessiones IV 4,7-12,19. Vgl. Confessiones IX 11,27-13,37.

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schaft sagt er, sie sei ihm „so süß wie sonst nichts auf Erden“ (IV 4,7) gewesen. Doch der Freund stirbt an Fieber. Augustinus durchlebt Traurigkeit in ihrer gravierendsten Form: „Wie wurde damals mein Herz von Gram verdüstert! Wohin ich auch blickte, überall begegnete mir der Tod. Die Vaterstadt ward mir zur Pein, das elterliche Haus zu unsagbarem Elend. Woran ich einst mit ihm gemeinsam mich gefreut, ohne ihn verkehrte es sich zur Folterqual. Überall suchten ihn meine Augen und fanden ihn nicht. Alles war mir verhaßt, weil er fehlte [...]“ (IV 4,9). Der Tod des Freundes stellt für Augustinus sogar das eigene Leben in Frage: „Ich wunderte mich, daß andere sterbliche Menschen noch lebten, da doch der eine gestorben war, den ich geliebt hatte, als könne er nie sterben, und noch mehr nahm’s mich wunder, dass ich selbst, sein anderes Ich, noch leben konnte, wo er tot war“ (IV 6, 11). Diese Traurigkeit wirkt destruktiv, weil Augustinus seinen Freund nicht in der richtigen Weise geliebt hatte: „O Torheit, die nicht menschlich die Menschen zu lieben weiß! O wie töricht ein Mensch, der über menschliches Geschick maßlos trauert! So war ich damals“ (IV 7,12). Augustins Fehler lag darin, den Freund so zu lieben, als sei dieser kein Mensch und als müsste er niemals sterben. Er setzte den Freund nicht als das endliche Wesen, das er war, in Beziehung zu Gott, sondern behandelte ihn so, als wäre er das höchste, beseligende Gut. Augustinus hatte seinen Freund nicht in Gott, sondern eher als Gott geliebt. Doch die Wurzel dieser Fehlhaltung liegt noch tiefer. Wie schon erwähnt, ist Augustinus der Meinung, dass alle verkehrten Affekte nichts anderes seien als Konkretionen des verkehrten Willens, Gott zu sein. Stolz imitiere Gottes Erhabenheit; Ehrgeiz trachte nach Ruhm, wie er Gott gebührt; Grausamkeit wolle Furcht erwecken, wie Gott zu fürchten ist; Geiz wolle viel besitzen wie Gott alles besitzt. Das gleiche gelte für die Traurigkeit: „Traurigkeit verzehrt sich in Gram über den Verlust der Güter, woran Begierde sich erfreute. Sie möchte sie nicht fahren lassen, aber nur dir allein kann nichts genommen werden.“ Augustinus sieht das grundlegende Motiv für die verkehrte Trauer in seinem Wunsch, wie Gott zu sein. Diese Traurigkeit, die Augustinus die tristitia mundi nennt, lässt sich dann charakterisieren als Ausdruck einer narzisstischen Kränkung, die Augustinus durch den Verlust erleidet. Im Abschnitt über den Tod der Mutter stellt Augustinus dar, wie an die Stelle der falschen tristitia mundi die richtige tristitia secundum deum tritt. Wie viele Jahre zuvor den Freund, so verliert Augustinus nun wiederum eine geliebte Person, doch aufgrund der Umorientierung seines Willens in der Bekehrung ändert sich auch die Art seines Trauerns. Den Prozess dieser Veränderung schildert Augustinus folgendermaßen: „Ich drückte ihr die Augen zu, und unsägliche Trauer brach über mein Herz herein. Sie wollte sich in Tränen ergießen, doch mit 28

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Confessiones II 6,13.

Die Emotionen bei Augustinus

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heftiger Willensanstrengung hielt ich ihren Strom zurück, so daß meine Augen trocken blieben, und in diesem Seelenkampf war mir gar elend zumute“ (IX 12,29). Gegenüber den umstehenden Freunden gibt Augustinus zunächst vor, keine Traurigkeit zu verspüren, doch in Wahrheit steht er unter enormem seelischem Druck. Erst am nächsten Tag, nachdem der heftigste Schmerz gewichen ist, beginnt er zu weinen: „Da tat es mir wohl, vor dir zu weinen, um sie und für sie, um mich und für mich. Ich ließ den Tränen, die ich zurückgehalten, freien Lauf. Mochten sie fließen, soviel sie wollten“ (IX 12,33). Augustinus kann nun die Tränen fließen lassen, weil er begriffen hat, wie der Mensch weinen soll, nämlich vor Gott. Als er um seinen Freund trauerte, weinte er sozusagen „vor sich selbst“. Beim Tod Monicas hält er zunächst seine Tränen zurück, weil er die Neigung spürt, wiederum vor sich selbst zu weinen. Als er schließlich in Tränen ausbricht, tut er es vor Gott, das heißt er trauert nicht so, als hätte seine Mutter niemals sterben müssen, oder als hielte er sich selbst für Gott, dem nichts genommen werden kann. Vielmehr weint er im Bewusstsein, dass Monica ein sterbliches Wesen war. Bezeichnenderweise ist der Blickwinkel des Kummers um seine Mutter weiter als derjenige des Kummers um den Freund. Augustinus weint nicht nur „um“ seine Mutter, also über den Verlust, den er selbst erleidet. Vielmehr weint er „für“ sie, das heißt über die Hindernisse, die seine Mutter vom endgültigen Glück des Seins bei Gott trennen könnten. Denn nach Augustinus besaß Monica durchaus die richtige Ausrichtung des Willens auf Gott als das objektiv höchste Gut, doch es sei schwierig, diese Ausrichtung beizubehalten und nicht abzugleiten in das falsche Streben nach Vorläufigem. Augustinus weint nun „für“ seine Mutter, weil er sich darum sorgt, dass ihre wenn auch geringen Verfehlungen sie am Erreichen des Glücks hindern könnten. Der Blickwinkel der Traurigkeit ist nach der Therapie gegenüber demjenigen vor der Therapie noch aber in einer anderen Weise erweitert. Augustinus weint nun nämlich nicht nur um und für seine Mutter, sondern auch um und für sich selbst. Im Kummer um den Freund hatte er sich ja selbst so geliebt, als wäre er Gott. Auf dem Hintergrund seiner Bekehrung lehrt ihn die Erfahrung des Todes der Mutter, sich selbst als endliches, sterbliches Wesen zu sehen, das sich seine Existenz nicht selbst verdankt und dessen Glück nicht darin liegt, wie Gott sein zu wollen, sondern darin Gott als Gott anzuerkennen. Weil Augustinus nun auch sich selbst „in Gott“ liebt, vermag er „vor Gott“ für sich selbst zu weinen. Therapie der Affekte bedeutet für Augustinus offensichtlich nicht, emotionslos zu werden, aber auch nicht, sich den Emotionen kritiklos hinzugeben. Augustinus rehabilitiert wohl die Affekte, doch er stellt sie zugleich unter einen moralischen Anspruch. Richtige Affekte hat nur der Mensch, der die Selbstzentrierung des Seinwollens wie Gott aufgibt und folglich den Anderen nicht von der eigenen Zentralstellung aus ins Auge fasst, sondern als den, der er wirklich ist. Freude und Trauer sollen sich nicht entzünden an dem, was der Andere für mich ist, sondern an dem, was er in sich ist. Liebe den Anderen um seiner selbst willen! Dies ist das moralische Gebot, dessen

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Johannes Brachtendorf

Einhaltung über Wert und Unwert der auf den Anderen gerichteten Affekte entscheidet. Erfüllbar ist dieses Gebot nach Augustinus aber nur für denjenigen Menschen, der – dank göttlicher Hilfe – aufhören kann, selbst Gott sein zu wollen.

7. Das sexuelle Begehren Das sexuelle Begehren wird in der antiken Philosophie eher negativ gesehen.29 Augustinus stellt hier keine Ausnahme dar. Allerdings nimmt dieses Thema in

seinem Denken wesentlich größeren Raum ein als bei jedem anderen antiken Autor zuvor. Zunächst ist für Augustinus das sexuelle Begehren eine Form der neben anderen wie Hunger, Durst, Ehrgeiz und Schaulust. Allerdings schreibt er ihr schon terminologisch einen gewissen Vorrang zu, denn wenn von bzw. schlechthin und ohne weiteren Zusatz die Rede sei, dann sei damit das sexuelle Begehren gemeint. Die Vorrangstellung erklärt sich dadurch, dass sich Augustinus zufolge im sexuellen Begehren der durch die Ursünde eingetretene Einheitsverlust der Seele besonders deutlich manifestiert. Stärker als alle anderen Affekte verselbständigt sich das sexuelle Begehren gegenüber der Vernunft und tritt als handlungsbestimmende Instanz zu ihr in Konkurrenz. Augustinus schreibt: „Die [ ] nimmt den ganzen Leib, innerlich so gut wie äußerlich, in Anspruch und bringt […] den ganzen Menschen in Wallung, worauf jene Wollust folgt, mit der keine andere körerliche Lust zu vergleichen ist, die, auf ihrem Höhepunkte angelangt, fast alles Denken und Bewusstsein ausder Vernunftlöscht.“ Kein anderer Affekt vermag sich so sehr wie die concupiscentia

concupiscentia

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libido

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libido

Platon äußert sich an vielen Stellen der Politeia skeptisch bis negativ über das sexuelle Begehren (vgl. I 328d-329c; VIII 559a-d; IX 573b-d). Sexuelles Begehren gilt wie Hunger und Durst als notwendige Begierde, im Gegensatz zu den nicht-notwendigen (z.B. Verlangen nach ausländischen Spezialitäten). Der oligarchische Mensch folgt den notwendigen Begierden, der demokratische dazu auch den nicht-notwendigen, und im tyrannischen Menschen gebärdet sich Eros als innerer Despot. Dies legt den Schluss nahe, dass der höher stehende timokratische und der aristokratische Mensch der sexuellen Begierde gar nicht folgen. Der Weise weiß jedenfalls, dass die vom Leib her kommende Lust eine bloße Befreiung von Schmerz darstellt und somit eine unechte Lust ist (vgl. IX 584c), die von der auch qualitativ verschiedenen Lust der Erkenntnis weit übertroffen wird (vgl. IX 585a586c). Der Stufenweg des Aufstiegs zum Schönen selbst, wie er im Symposion geschildert wird, legt ebenfalls nahe, dass die Liebe zu den schönen Leibern nicht nur motivational überschritten, sondern gänzlich zurückgelassen wird (vgl. Symp. 210a-212a). Alkibiades berichtet schließlich, wie er trotz aller Verführungskünste Sokrates nicht von der sexuellen Enthaltsamkeit abzubringen vermochte (vgl. Symp. 216d-219c). Vgl. auch CICERO, Hortensius 84 I-IV (übersetzt, eingeleitet und hg. v. Laila Straume-Zimmermann, München 1990). Augustinus beruft sich in Contra Julianum IV 15, 72-76 auch allgemein auf die Stoiker. XIV 16. De civitate dei

Die Emotionen bei Augustinus

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herrschaft zu entziehen und diese phasenweise sogar ganz zu suspendieren. Auch in der Kontrolle der Körperbewegungen besitzt die libido die Macht, die Vernunftherrschaft aufzuheben. Augustinus weist darauf hin, dass Bewegungen des Kopfes, der Arme und der Beine auf Geheiß des Willens erfolgen, während die Bewegungen der Geschlechtsorgane nicht der Steuerung durch den Willen unterliegen, sondern von der libido gelenkt werden. Im sexuellen Begehren sieht Augustinus die deutlichste Manifestation des Verlustes innerer Einheit, wie der Mensch ihn zufolge der Ursünde erleiden muss. Nach Augustinus ginge Geschlechtsverkehr idealerweise vonstatten, ohne dass die concupiscentia die Herrschaft über den Menschen ergriffe. So habe es etwa im Vollkommenheitszustand des Menschen vor dem Sündenfall durchaus Sexualität gegeben, denn schließlich sei der Mensch als Mann und Frau erschaffen worden, doch sei dies eine vernunftbestimmte Angelegenheit gewesen, ähnlich dem Ausbringen des Saatgutes durch den Sämann, der über den Acker geht. Erst nach dem Sündenfall sei die Fortpflanzung unlösbar an die Herrschaft der libido gebunden. Zwar ist die phasenweise Außerkraftsetzung der Vernunft durch die libido nach Augustinus ein Übel, aber dieses Übel kann und soll in Kauf genommen werden, da der Mensch unter dem Fortpflanzungsgebot steht („Wachset und mehret euch“, Genesis 1,28) und Kinderzeugung eben nur auf diesem Weg möglich ist. Verwerflich ist Geschlechtsverkehr nach Augustinus nur dann, wenn er nicht auf die Zeugung zielt, sondern um der Lust willen vollzogen wird, denn dann handelt es sich um jene Zustimmung zur concupiscentia, die zur Gewohnheit wird und sich schließlich zur Notwendigkeit verfestigt. Offensichtlich sieht Augustinus einen Zusammenhang zwischen dem Begehren nach Selbstherrschaft des Menschen, wie es in der Ursünde zum Durchbruch kam, und dem sexuellen Begehren des gefallenen Menschen. So meint er, dass die Privatisierung der Sexualität in einem Sichschämen des Menschen über seine Selbstentzweiung wurzele, das seinerseits als Scham über die Abwendung von Gott zu deuten sei. Die Beispiele der Confessiones hatten gezeigt, wie nach Augustinus die ursprüngliche concupiscentia mit einer illegitimen Selbstzentrierung des Menschen zusammen hängt, die zur Destruktion oder zumindest zur Funktionalisierung des Anderen auf die eigenen Wünsche und Bedürfnisse hin führt. Augustinus deutet offenbar auch das sexuelle Begehren als Ausdruck dieser Selbstzentrierung. So sehr Augustinus sich hier wie auch sonst sowohl um eine metaphysische als 31

auch um eine psychologische Vertiefung überkommener Themen bemüht und dabei über frühere Autoren hinaus gelangt, so stößt seine Deutung der concupiscentia doch an eine Grenze. Diese Grenze liegt darin, dass er menschliche Sexualität einspannt in die Alternative von Nachwuchszeugung und egoistischem Luststreben und damit –

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Vgl. De civitate dei

XIV 23.

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Johannes Brachtendorf

wie die gesamte antike Philosophie – die Dimension der gegenseitigen Zuwendung, der Intimität und der besonderen Nähe zum Anderen ausblendet.

Wiebke-Marie Stock

Polypathie. Zur Theorie der Seele nach Dionysius Areopagita

In seiner Schrift De divinis nominibus verweist Dionysius Areopagita (~500 n. Chr.) auf ein Werk mit dem Titel Peri psychês.1 Überliefert ist eine solche Schrift Über die Seele nicht; sie zählt vielmehr zur Reihe seiner fiktiven oder eventuell auch verlorengegangenen Traktate.2 Die Schrift Peri psychês stellt unter diesen Schriften insofern eine Besonderheit dar, als sie ein traditionell philosophisches Thema behandelt. Dionysius war anscheinend der Auffassung, dass zu seinen philosophisch-theologischen Überlegungen eine Schrift gehören sollte, die das alte philosophische Thema behandelt, das in der gesamten antiken Philosophie eine grundlegende Rolle spielte: die Seelenlehre sollte in seinem Denken und seinem Œuvre nicht fehlen. 1

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DN 145,16f (696C; Suchla): „und noch alles andere, was wir in dem Traktat Über die Seele aufgezählt haben“. Die Schriften des Dionysius Areopagita werden im Folgenden mit den angegebenen Kürzeln nach der kritischen Ausgabe (DIONYSIUS AREOPAGITA, Corpus Dionysiacum I. De Divinis Nominibus (DN), herausgegeben von Beate Regina Suchla (Patristische Texte und Studien 33), Berlin/New York 1990; DIONYSIUS AREOPAGITA, Corpus Dionysiacum II. De coelestis hierarchia (CH), De ecclesiastica hierarchia (EH), De mystica theologia (MT), Epistulae (Ep), herausgegeben von Günter Heil und Adolf Martin Ritter (Patristische Texte und Studien 36), Berlin/New York 1991) zitiert; zur besseren Vergleichbarkeit wird auch die Paginierung der Patrologia Graeca angeben. Die Übersetzungen entstammen, wenn es sich nicht um eigene Übersetzungen handelt, den folgenden Übersetzungen (DIONYSIUS AREOPAGITA, Über die himmlische Hierarchie. Über die kirchliche Hierarchie. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Günter Heil (Bibliothek der griechischen Literatur, Bd. 22), Stuttgart 1986; DIONYSIUS AREOPAGITA, Die Namen Gottes. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Beate Regina Suchla (Bibliothek der griechischen Literatur, Bd. 26), Stuttgart 1988; DIONYSIUS AREOPAGITA, Über die mystische Theologie und Briefe. Eingeleitet, übersetzt

und mit Anmerkungen versehen von Adolf Martin Ritter (Bibliothek der griechischen Literatur Bd. 40), Stuttgart 1994); die Übersetzer werden in Klammern angegeben. Vgl. Suchla, in: DIONYSIUS AREOPAGITA (1988), S. 104, Anm. 1; LOUTH, Andrew, Denys the Areopagite

, London/New York 1989, S. 19f.

32

Wiebke-Marie Stock

Auch wenn in den überlieferten Schriften Anthropologie und Psychologie nicht die Hauptthemen darstellen und das fiktive Werk daher eine sinnvolle Ergänzung böte,3 lässt sich doch aus dem Corpus Dionysiacum die Seelenlehre des Dionysius in ihren Hauptzügen rekonstruieren; immer wieder äußert er sich zum Menschen, zur Seele, zum Körper. Die Schrift Über die kirchliche Hierarchie ist eine Fundgrube, denn im Rahmen der Überlegungen zu den Riten, ihren Teilnahmebedingungen und den Wirkungen4 der rituellen Handlungen wird immer wieder auch der Zustand der Seele diskutiert. Aber auch in anderen Schriften, insbesondere in Über die göttlichen Namen und Über die himmlische Hierarchie sowie in verschiedenen Briefen, finden sich zahlreiche Passagen, die Auskunft über sein Seelenverständnis geben. Ausgehend von diesen Textstellen soll im Folgenden die Seelenlehre des Dionysius dargelegt werden; besonderes Augenmerk gilt der Frage nach den passiones animae. 1. Seelen-Leben Die enge Verknüpfung von Seele und Leben, die Dionysius mehrfach im Corpus Dionysiacum betont, ist ein uraltes Motiv der Seelentheorie. Schon bei Homer ist die psychê das, was beim Tod den Körper verlässt, ist also das, was den Körper zu einem lebenden Körper macht;5 Platon wiederum führt in seinen Beweisen für die Unsterblichkeit der Seele an, dass die Seele Leben, Prinzip des Lebens ist, und Aristoteles definiert die Seele als „die erste Vollendung eines natürlichen Körpers, der in Möglichkeit Leben hat“.6 Auch in der christlichen Tradition fehlt die Verbindung von Seele und Leben nicht; das hebräische nefesh, das die Septuaginta oft mit psychê übersetzte, meint eben gerade auch Leben; gleiches gilt für psychê im Neuen Testament.7 3

4 5 6

7

Vgl. ROQUES, René, Denys l’Aréopagite (Le Pseudo-). I. Rappel de la question dionysienne. - II. Les écrits aréopagites. - III. La doctrine du pseudo-Denys, in: Dictionnaire des Spiritualité 3 (1957), S. 244-286, hier 259-262. Vgl. STOCK, Wiebke-Marie, Theurgisches Denken. Zur Kirchlichen Hierarchie des Dionysius Areopagita, Berlin/New York 2008.

Vgl. z.B. HOMER, Ilias. Übertragen von Hans Rupé. Mit Urtext, Anhang und Registern. 8. Auflage, Darmstadt 1983, 5, 696; 16, 505. 856; 22, 362.467. Vgl. PLATON, Phaidon 105c-e (PLATON, Werke, in acht Bänden, griechisch und deutsch, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher u.a., Darmstadt 1990, Bd. 3); ARISTOTELES, De anima 412a 27f; vgl. auch 412a 19-12 (ARISTOTELES, Über die Seele. Griechisch-deutsch. Mit Einleitung, Übersetzung (nach Willy Theiler) und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl. Griechischer Text in der Edition von Wilhelm Biehl u. Otto Apelt, Hamburg 1995). Vgl. z.B. Gen. 2, 7: Biblia Hebraica (‫ֽאָדם ְל ֶ ֥נפֶשׁ ַח ָיּ ֽה׃‬ ֖ ָ ָ‫ ;) ַויּ ִַפּ֥ח ְבּא ַָפּ֖יו נִשׁ ְַמ֣ת ַח ִיּ֑ים וַ ֽי ְִה֥י ה‬Septuaginta (καὶ ἐνεφύσησεν εἰς τὸ πρόσωπον αὐτοῦ πνοὴν ζωῆς, καὶ ἐγένετο ὁ ἄνθρωπος εἰς ψυχὴν ζῶσαν). Auch das Wort neshama – hier in der Bedeutung Lebensatem (nishmat chaim) – hat die Bedeutung von Leben. Vgl. auch Gen. 35,18; Mt 2,20, 6,25. Lk 12,20.22f. Vgl.

Polypathie. Zur Theorie der Seele nach Dionysius Areopagita

33

Dionysius beschränkt sich aber nicht auf die Vorstellung von der Seele als allgemeinem Lebensprinzip; vielmehr benennt er verschiedene Stufen von Seele oder Leben. Aus dem göttlichen Leben stammt alles Leben, schreibt Dionysius, und zählt die folgenden Stufen auf: νοερά, λογική, αἰσθητική, θρεπτική, αὐξητική (noera, logikê, aisthêtikê, threptikê, auxêtikê).8 Auch in den Überlegungen zum Gottesnamen „der Gute“ taucht eine ähnliche Reihung auf. Auf der höchsten Stufe nach dem Guten selbst stehen die Engel, die reinen Vernunftwesen (noês). Auf sie folgen die menschlichen Seelen, die geistig (noeros) sind.9 Die nächste Stufe bilden die Tiere10, die sich durch Wahrnehmung auszeichnen, sie haben αἰσθητικὴ ψυχὴ ἢ ζωή (aisthêtikê psychê ê zôê). Es folgen die Pflanzen (phyta), denen Dionysius θρεπτικὴ καὶ κινητικὴ ζωή (treptikê kai kinêtikê zôê) zuspricht,11 sowie an letzter Stelle die ἄψυχος καὶ ἄζωος οὐσία (apsychos kai azôos ousia), das12 leben- und seelenlose Wesen, das auch seinen Charakter (hexis) aus dem Guten hat. Diese Aufteilungen knüpfen an aristotelischen Einteilungen an. Nähr- und Wachs-

tumsvermögen kommen in aristotelischer Tradition den Pflanzen zu, Wahrnehmung und Bewegung den Lebewesen, der Verstand den Menschen.13 Doch es lassen sich auch Unterschiede erkennen.14 Dies betrifft vor allem die Einordnung der Menschen. Bei Aristoteles wird ihr spezifisches Seelenvermögen als noêtikon oder dianôetikon bezeichnet oder auch als nous. Bei Dionysius tauchen zwei Vermögen auf, logikê und noera, die beide dem Menschen zukommen, wobei das höherrangige intelligible Vermögen (noera) wohl auch den Engeln zugeschrieben wird.

8

9 10 11 12 13

14

hierzu SCHÖPFLIN, Karin, Seele II. Altes Testament, in: Theologische Realenzyklopädie XXX (1999), S. 737-740; DAUTZENBERG, Gerhard, Seele IV. Neues Testament, in: Theologische Realenzyklopädie XXX (1999), S. 744-748.

Vgl. DN 192,15-17 (857B). Eine ganz ähnliche Aufzählung findet sich in den Überlegungen zum Gottesnamen Kraft (dynamis); alles Sein hat an der Kraft Gottes Anteil, die von der vernunftbegabten (noera) über die verstandesbegabte Kraft (logikê), über Sinneswahrnehmung (aisthêtikê), das Leben (zôtikê) bis zum leblosen Sein (ousiôdê) reicht (DN 201,17-20 (892B)). Vgl. DN 145,10-17 (696C). Vgl. unten Anm. 51. DN 145,18-146,2 (696CD; Suchla). Vgl. DN 146,3 (696CD). Vgl. DN 146,4f (696CD). Aristoteles unterscheidet in De anima (ARISTOTELES (1995)) bisweilen drei Vermögen:

noêtikon, aisthêtikon und threptikon (415a17), bisweilen aber auch mehr, vgl. z.B. 413b12f (threptikon, aisthêtikon, dianoêtikon, kinêsis); 414a 31f (threptikon, aisthêtikon, kinêtikon kata topon, dianoêtikon); 414b19 wird auch neben dem dianôetikon auch der nous genannt. Vgl. auch insgesamt Buch II, sowie III, 9 432a15-432b7. So überrascht die Zuordnung des Bewegungsvermögens zu den Pflanzen; entweder handelt es sich um ein Versehen oder es handelt sich um eine Umschreibung für das Wachstumsvermögen.

34

Wiebke-Marie Stock

Während Dionysius an den genannten Stellen einer Variation der aristotelischen Dreiteilung der Seele den Vorzug gibt, taucht die15 platonische Dreiteilung in logistikon/nous, thymoeides/thymos und epithymêtikon an anderer Stelle auf; hier geht es um die symbolische Beschreibung der Seele. Ihr Kopf sei der Intellekt (nous), ihr Nacken die Meinung (doxa), die zwischen logos und alogia stehe, die Brust der zornmütige Seelenteil (thymos ), der Bauch die Begierde (epithymia) sowie Beine und Füße die Natur (physis).16 Der erste Unterschied zur platonischen Einteilung besteht darin, dass Dionysius die Zuordnung von Körperteilen zu Seelenteilen nicht als Lokalisationsangabe begreift, wie Platon dies tut.17 Er spricht vielmehr von Symbolen, die in der Rede von der unkörperlichen Seele verwandt werden. Es geht ihm also beispielsweise nicht um die Lokalisation des begehrlichen Seelenteils im Bauch; vielmehr geht es um die Benennung des begehrlichen Seelenteils als ‚Bauch der Seele‘, die Seele hat – bildlich gesprochen – einen Körper und Glieder. Ferner führt Dionysius zwei weitere Instanzen ein, doxa und physis. Der Meinung wird – ganz platonisch – ein Ort zwischen logos und alogia zugesprochen; ein eigener Seelenteil ist sie bei Platon allerdings nicht. Die physis, die die Basis der Seele bildet, scheint ein Oberbegriff zu sein für die unteren Seelenvermögen wie Wachstum und Ernährung. Für die Frage nach den passiones animae besonders relevant ist die Bestimmung von thymos und epithymia. Zur epithymia heißt es in Über die himmlische Hierarchie :

So sagen wir auch, dass die Begierde bei den unvernünftigen (Wesen) unbesonnene/unüberlegte aufs materielle gerichtete leidenschaftliche Liebe aus einer natürlichen Bewegung oder Gewohnheit ist, die in wechselnden Situationen unwiderstehlich entsteht, und vernunftlose Herrschaft des körperlichen Verlangens, das jedes Lebewesen zum gemäß der Wahrnehmung Begehrten drängt.18

Die Beschreibung lässt deutlich erkennen, was unter den Begierden zu verstehen ist. Dionysius hält fest, dass Begierden aus einem natürlichen Impuls heraus entstehen können oder aus Gewohnheit; die Begierden sind ein körperliches Verlangen, und hierunter lassen sich Hunger oder Durst, nicht zuletzt aber natürlich die sexuellen Begierden verstehen, auf die Dionysius auch in einer Passage aus dem 9. Brief anspielt: „die der Materie zugeneigte und buhlerische Leidenschaftsvielfalt der Lieder 19 (τὰς τῶν ᾀσμὰτων προσύλους καὶ ἑταιρικὰς πολυπαθείας)“ . 15 16 17 18

PLATON, Politeia 435a-4412d, LATON (1990), Bde. 4, 5, 7).

Vgl.

588b-e;

Phaidros

Timaios

69c-71d

Vgl. DN 210,15-19 (913A).

LATON, Timaios 69a-71d (PLATON (1990), Bd. 7).

Vgl. P

CH 14,7-11 (141D-144A; Stock): Ὡσαύτως ἐπιθυμίαν μὲν εἶναί φαμεν ἐπὶ τῶν ἀλόγων

ἢ συνηθείας ἐν τοῖς ἀλλοιωτοῖς ἀκρατῶς ἐγγινομένην προσπάθειαν καὶ τὴν ἄλογον τῆς σωματικῆς ὀρέξεως ἐπικράτειαν ἅπαν τὸ ζῷον ὠθούσης ἐπὶ τὸ κατ’αἴσθησιν ἐπιθυμητὸν. Ep. 9 196,6f (1105B; Stock). ἀπερίσκεπτόν τινα καὶ πρόσυλον ἐξ ἐμφύτου κινήσεως

19

246a-247c;

(P

35

Polypathie. Zur Theorie der Seele nach Dionysius Areopagita

In Über die himmlische Hierarchie schreibt Dionysius über den thymos: „Denn es entsteht der Zorn in den unvernünftigen (Wesen) aus einem leidenschaftlichen Trieb und ihre zornmütige Bewegung ist angefüllt mit gänzlicher Unvernunft.“20 Auch wenn Dionysius nicht in die Details geht, entspricht diese Beschreibung doch den Vorstellungen eines aufkochenden21Zorns, bei dem Blut oder Galle aufwallen und der zu irrationalen Handlungen führt. Kritisch betrachtet wird der Zorn im 8. Brief, in dem Dionysius Demophilos für sein unangebrachtes zorniges Verhalten rügt. Sanftmut (πραότης) sei angebracht, kein aufbrausender Zorn.22 Die Vernunft ( ) soll über Zorn ( 23 ) und Begierde ( ) herrschen, damit keine ungerechte Unordnung entsteht. Dionysius greift hier die platonische Vorstellung der Gerechtigkeit auf, nach der der vernünftige Seelenteil herrschen soll.24 Während diese Darstellungen den als bloße Unvernunft und Laster, als Zorn eben, geißeln, taucht an anderer Stelle der Ansatz zu einer positiveren Wertung dieser Seelenfunktion auf, die sich der platonischen Vorstellung, der zufolge der als Helfer des erzogen werden soll, zumindest annähert. Wenn man den Tieren das nähme, was als böse bezeichnet werde, und das heißt eben vor allem und , so entzöge man ihnen, was für ihre Natur notwendig ist. Die Beispiele des Löwen und des Hundes zeigen, dass es hier vor allem um den – hier eher im Sinne von Mut – geht, der zur Natur dieser Tiere hinzugehört und dessen Tugend die Tapferkeit ist.25 logos

thymos

epithymia

thymos

thymos

thymos

logistikon

epithymia

thymos

2. Vielbewegte Leidenschaften Wenn, so überlegt Dionysius, alles am Guten Anteil hat, dann lässt sich Tugend nicht mehr von Laster, Gutes nicht mehr von Bösem unterscheiden. Ein Gegenprinzip zum Guten kann es aber nicht geben, alles, was ist, muss aus dem Guten stammen.26 Die Spannung dieses Paradoxes bestimmt auch die Beurteilung der Leidenschaften: 20 21

22

23 24

25 26

CH 14,3-4 (141CD; Stock): Καὶ γὰρ ὁ θυμὸς τοῖς μὲν ἀλóγοις ἐξ ἐμπαθοῦς ὁρμῆς ἐγγίνεται καὶ πάσης ἀλογίας ἐστὶν ἀνάπλεως ἡ θυμοειδὴς αὐτῶν κίνησις.

RISTOTELES De anima RISTOTELES LOTIN IV 4 [28] 28, 37-43 (PLOTIN, Plotins Schriften, übersetzt von Richard Harder, Hamburg 1956-1967), Bd IIa. Vgl. Ep. 8 171,1-192,2 (1084A-1100D); / (171,2.10; 186,10). Dieses Bild unterstützt auch die Vision des Karpus, die Dionysius im selben Brief wiedergibt, denn mit seinem Zorn stellt dieser sich gar der göttlichen Gnade und Verzeihung entgegen (188,9192,2). Vgl. Ep. 8 182,6-183,12 (1093A-C). Vgl. ROQUES, René, univers dionysien. Structure hiérarchique du monde selon le

Vgl. A

,

403a 31 (A

(1995)); P

, Enn.

praotês praos

L’

Pseudo-Denys, Paris 1983, S. 40, Anm. 3; 85; RITTER, in: DIONYSIUS AREOPAGITA (1994), S. 132, Anm. 100. Vgl. PLATON, Politeia 441c-444a (PLATON (1990), Bd. 4). Vgl. DN 173,1-5 (728B). DN 164,4-6 (716D-717A). Vgl. hierzu u.a. SCHÄFER, Christian, The Philosophy of

36

Wiebke-Marie Stock

Wie wenn der Zügellose aufgrund seiner unvernünftigen Begierde (τὴν ἄλογον ἐπιθυμίαν) des Guten beraubt ist, so hat er dabei weder eine Existenz noch auch Verlangen nach dem Seienden, dennoch aber nimmt er zugleich am Guten teil wie an einem undeutlichen Widerhall (ἀπήχημα) der Einung und Freundschaft. Sogar der Zorn (θυμός) nimmt Anteil am Guten, indem er sich bewegt und danach strebt, das scheinbar Böse zum scheinbar Edlen aufzurichten und umzukehren. Und selbst derjenige, der nach dem schlechtesten Leben strebt, hat, weil er überhaupt nach Leben strebt, und zwar nach jenem, das ihm als bestes erscheint, eben durch jenes Streben an sich und durch sein Streben nach Leben sowie durch sein Interesse für das beste Leben Anteil am Guten (μετέχει τἀγαθοῦ).27 Grundlage dieser Idee ist die Auffassung, dass alles letztlich nach dem Guten strebt und dass niemand freiwillig Böses tut. Einen Willen zum Bösen um des Bösen willen kann es nicht geben, das Böse selbst ist Schwäche und Beraubung, es hat selbst kein Sein.28 Dennoch gibt es Böses in den Seelen; es stammt, wie Dionysius meint, „aus einer ungeordneten und fehlerhaften Bewegung“29. Zwar ist letztlich jede Bewegung „ein Streben nach dem göttlichen Frieden des Weltalls“30, doch zeichnet sich die fehlerhafte und ungeordnete Bewegung dadurch aus, dass sie dieses Ziel verfehlt, dass sie nur zu einer größeren Gottesentfernung führt.

Wenn er aber behauptet, daß jene dem Frieden und dem Gut des Friedens feindlich gesonnen sind, die sich an Streit, Zorn, Veränderung und Unstetigkeit erfreuen (τοὺς ἔρισι καὶ θυμοῖς καὶ ἀλλοιώσεσι καὶ ἀκαταστασίαις χαὶροντας), so werden dennoch auch diese von nebelhaften Traumgebilden eines Strebens nach Frieden (ἀμαυροῖς εἰδώλοις εἰρηνικῆς ἐφέσεως) beherrscht, indem sie von vielbewegten Leidenschaften gequält/beunruhigt werden (πρὸς παθῶν ἐνοχλούμενοι πολυκινήτων) und daher unverständig danach streben, diesen nachzugehen, und dabei glauben, durch die Erfüllung des stets Zerrinnenden ihren Frieden zu haben, obwohl sie doch durch die Unordnung der mächtigen Lüste nur verwirrt werden (τῇ ἀταξίᾳ τῶν κρατησασῶν ἡδονῶν ἐκταρασσομένους).31 Zwar ist auch der Streit ein nebelhaftes, verirrtes Streben nach Frieden, die Konsequenzen sind gleichwohl desaströs. Leidenschaften beunruhigen, belästigen und quälen diejenigen, die sich ihnen unverständig zugewandt haben. Statt nach dem wahren Glück streben sie nach Erfüllung von Lüsten, die zerrinnen und immer neue Lüste produzieren. Die Leidenschaften (pathê) werden hier als polykinêtos, als vielbewegt

27 28

29 30 31

Dionysius the Areopagite. An introduction to the structure and the content of the treatise of The Divine Names, Leiden/Boston 2006, S. 138. DN 167,2-10 (720BC; Suchla, leicht verändert). DN 177,10-15 (732D); Vgl. auch z.B. PLATON, Politeia 438a (PLATON (1990), Bd. 4). Vgl. PERL, Eric David, Theophany. The neoplatonic philosophy of Dionysius the Areopagite,

Albany 2007, S. 60; 128, Anm. 17 (dort auch weitere Stellenangaben). DN 175,1f (729B; Suchla): Ὤστε οὐκ ἐξ ὕλης ἐν ψυχαῖς τὸ κακόν, ἀλλ’ ἐξ ἀτάκτου καὶ πλημμελοῦς κινήσεως. DN 220,13 (952C; Suchla). DN 220,21-4 (953A; Suchla, leicht verändert).

Polypathie. Zur Theorie der Seele nach Dionysius Areopagita

37

beschrieben; sie sind als Bewegung zwar auch ein fernes Streben nach dem Guten, aber sie sind eben jene fehlerhafte und ungeordnete Bewegung, aus der Böses in den Seelen erwächst. Aus den Begierden, den „individuellen Begierden (tas meristas epithymias)“ entstehen „dem Materiellen zugeneigte (proshyloi) und leidenschaftliche (empatheis) Feindschaften gegen das, was von Natur aus gleichen Wesens ist“.32 Durch zahllose Leidenschaften bewegt zu sein, zeichnet insbesondere die unterste Ordnung der kirchlichen Hierarchie33 aus: […] daß die ganz scharfe Unterscheidung in Dingen der Hierarchie vor diesen andere kennt, die von der fluchwürdigsten Einwirkung umgetrieben werden (ἐνεργουμένους): diejenigen, die vom gottgemäßen Leben abgefallen sind und eines Sinnes und einer Art mit den verderblichen Dämonen (τοῖς ὀλεθρίοις δαίμοσι) werden und sich von dem, was wahrhaft Bestand hat, unvergänglicher Besitz ist und in Ewigkeit erfreut, abwenden aus einer letzten ihnen verderblichen Dummheit (ἀνοησία) heraus, und statt dessen die vom Materiellen und den zahllosen Leidenschaften bestimmte Veränderung (τὴν πρόσυλον δὲ καὶ πολυπαθεστάτην ἀλλοίωσιν) und die Verderben und Untergang bringenden Lüste (τὰς ὀλλυμένας καὶ φθοροποιοὺς ἡδονάς) und das unstete Wohlbefinden (εὐπάθειαν), das im Wesensfremden nicht ist, sondern zu sein scheint, begehren und betreiben (ἐπιθυμοῦντες καὶ ἐνεργοῦντες).34

Nicht nur Leidenschaften ( ), sondern eine unzählbare Vielfalt von ihnen – der Superlativ von –, ist das größte Übel, das einem Menschen zustoßen kann. Die Lust ( ) bringt Verderben, und all dies kommt einem Leben gleich, dass sich am Schein und nicht am Sein ausrichtet. Die , ein „von unzähligen Leidenschaften geschütteltes Leben (ἡ πολυπαθεστάτη ζωή)“, der „von allen Leidenschaften geschüttelte Zustand der Veränderung (τὴν πολυπαθεστάτην ἀλλοίωσιν)“ ist die Konsequenz aus dem Abfall der menschlichen Natur von den Gütern Gottes, die Konsequenz des Sündenfalls; „gedankenlos/unvernünftigerweise (ἀνοήτως)“ sei die35 „menschliche Natur“ „von den göttlichen Gütern weggeglitten (ἐξολισθήσασαν)“. pathê

polypathês

hêdonê

Polypathie

Grund für diesen Fall ist kein Wille zum Bösen, vielmehr ist Unvernunft der Grund dieses Unheils. Der Mangel an Vernunft betrifft aber nicht nur das ursprüngliche Abgleiten der menschlichen Natur in den Zustand der Veränderung. Vielmehr betrifft dies jeden Menschen, was manchen aber erst gegen Ende ihres Lebens zu Bewusstsein kommt:

Aber die voller Beschmutzungen und Flecken des nicht geheiligten Zustands, die, wenn sie wirklich einmal eine geheiligte Einweihung erfahren haben, dann aber diese von selbst aus ihrem eigenen Denken verderblicherweise verdrängt haben und auf die Seite der Untergang bringenden Begierden (τὰς φθοροποιοὺς ἐπιθυμίας) übergelaufen sind, ihnen wird, wenn sie an das Ende des irdischen Lebens kommen, die göttliche Gesetzgebung der WORTE nicht mehr in gleicher Weise als leicht zu verachten erscheinen, vielmehr betrachten sie die verderbenbringenden Freuden der 32 33 34 35

EH 88,15-18 (437A; Heil, leicht verändert). Vgl. hierzu STOCK (2008), S. 59f, 82f. EH 86,17-24 (433D-436A; Heil, leicht verändert). EH 90,16-91,8 (440C-441A; Heil, leicht verändert).

Wiebke-Marie Stock

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eigenen Leidenschaften (τὰς ὀλλυμένας δὲ τῶν οἰκείων παθῶν ἡδονάς) mit anderen Augen und preisen das geheiligte Leben, von dem sie unvernünftigerweise (ἀνοήτως) abgefallen sind, glücklich.36

Der Abfall vom geheiligten Leben ist unvernünftig, die Hinwendung zu den Begierden fatal, was manch einem gegen Ende seines Lebens bewusst wird, wenn er erkennt, dass die „Freuden der eigenen Leidenschaften“ nur Verderben bringen. Was den Abfall vom Guten angeht, so hält Dionysius fest, dass es verschiedene Stufen oder Varianten von Sündern gibt; es gibt solche, die „schwach“ sind, die „den göttlichen Willen kennen und dennoch nicht erfüllen“, die, „die zwar das richtige Wissen haben, aber hinsichtlich des Glaubens und der Ausführung des Guten Schwäche zeigen“ und diejenigen, denen „aufgrund von Verkehrtheit und Schwäche des Willens noch nicht einmal die Wahrnehmung des guten Handelns erwünscht“ ist. Denen, die meinen, dass Schwäche doch verzeihlich sei, hält Dionysius entgegen, dass die Stärke aus dem Guten stammt und dass der Abfall vom Guten böse ist; daher gibt es auch ein letztes Gericht. Dem Neuplatoniker Plotin zufolge ist das Imaginationsvermögen für die Vermittlung von Zorn und Begehren verantwortlich. Auch bei Dionysius findet sich eine enge Verknüpfung von , , und . In der Charakterisierung dessen, was „das Böse in den Dämonen“ bedeute, nennt er nicht nur den unvernünftigen Zorn (θυμὸς ἄλογος) und die unverständige Begierde (ἄνους ἐπιθυμία), sondern auch die übereilte/leidenschaftliche Einbildung (φαντασία προπετής). Er schreibt dies zwar nicht direkt, jedoch wird aus den Zusammenhängen, in denen von Bildern die Rede ist, deutlich, dass es sich hier vor allem um leidenschaftliche Bilder handeln muss. Von Bildern bedrängt zu werden, kennzeichnet vor allem die Stände der Reini37

38

39

pathos thymos epithymia

phantasia

40

gung, das heißt die41Ordnungen der Kirche, die während der Eucharistiefeier den Raum Sie sind „für Schrecknisse und Erscheinungen der Gegenkräfte“ verlassen müssen. empfänglich.42 Schreckbilder (δείματα) und Erscheinungen (φάσματα) hindern sie an der konsequenten Hinwendung zum Göttlichen, für die die Freiheit „von Phantasien 36 37 38 39

EH 122,3-9 (553D-556A; Heil, leicht verändert). DN 179,5-10 (733D-736A; Suchla). Vgl. DN 179,14-22 (736AB), wo Dionysius auf eine weitere fiktive Schrift

rechte und göttliche Gericht verweist.

LOTIN, Enn. IV 4 [28] 28, 37-43 (PLOTIN (1956-1967), Bd IIa). Vgl. hierzu STOCK,

Vgl. P

in: Imagination und [Arbeitstitel], Hg. Philipp Brüllmann/Ursula Rombach/Cornelia Wilde, Berlin/New York voraussichtlich 2013. DN 171,17f (725B). Vgl. zu den Phantasien die ausführlichere Darstellung in STOCK (2008), S. 139-143. Wiebke-Marie,

Transformation

40 41 42

Über das ge-

Plotins phantasia. Zur Theorie der Imagination,

EH 87,14f (436B) (Heil, leicht verändert): οἱ πρὸς τὰ τῶν ἐναντίων δείματά τε καὶ φάσματα δι’ ἀνανδρίαν εὐπαθεῖς.

Polypathie. Zur Theorie der Seele nach Dionysius Areopagita

39

vom früheren Leben“ Bedingung ist.43 Die Phantasien sind regressiv, es ist die imaginäre Rückkehr der Vergangenheit. Die Vergnügungen und Vielfältigkeiten, von denen jemand sich zugunsten eines einförmigen und reinen Lebens abgewandt hat, verfolgen ihn auf seinem Weg; die Abwendung lässt sich nicht in einem Schritt vollziehen; sie verlangt vielmehr eine andauernde Anstrengung gegen die Vorstellungen 44und Ängste, die immer wieder auf Abwege führen, gegen den Angriff der Phantasien. Selbst die höchsten Stufen der Hierarchie müssen sich noch um die Reinigung45ihrer Seele von den „letzten Phantasien (τὰς ἐσχάτας τῆς ψυχῆς φαντασίας)“ sorgen. All diese Bilder, die die verschiedenen Stände der ‚Hierarchie‘ heimsuchen, stellen dem Versuchten die Zerstreuungen, Vielfältigkeiten, materiellen und sinnlichen Schönheiten der Welt vor Augen und verstärken seine Tendenz zum Materiellen (πρόσυλον)46. 3. Engelgleiche Ruhe

Die vielbewegten Leidenschaften bringen Unruhe in die Seele. Die Verlockungen des Materiellen, die Phantasie- und Schreckbilder, Begierde und Zorn beunruhigen und bewegen sie; sie gewinnt keinen festen Stand, wird vielmehr hin und hergetrieben von den Leidenschaften. Damit stehen sie gegen das gottgemäße Leben, das sich durch Unbewegtheit und Ruhe auszeichnet. Wer ein solches Leben führen will, wird zu einer aktiven Haltung aufgerufen, zur wachsamen Gegenwehr gegen die Anfechtungen. Die Phantasien müssen aus der Seele vertrieben, die pathê kontrolliert werden, so dass die

Seele nicht mehr passiv den äußeren Einflüssen ausgeliefert ist. Während Tiere und Pflanzen nur ihrer Natur, ihrer Teilhabe am Guten gemäß leben können, entscheiden die Menschen wie auch die Engel über ihr Leben.47 Fallen die Engel von Gott ab, so werden sie zu Dämonen.48 Und der Mensch, der anders als Engel und Dämonen ein leibseelisches Wesen ist, hat die Wahl zwischen dem Leben der Dämonen und dem Leben der Engel:

Die nämlich anderen Unrecht oder umgekehrt Gutes anzutun versuchen, erreichen bei jenen nicht unbedingt die gewünschte Wirkung; wohl aber werden sie selbst, indem sie die Bosheit oder aber die Güte zu ihren Hausgenossen erwählen (κακίαν ἢ ἀγαθότητα συνοικίσαντες), entweder mit göttlichen Tugenden oder aber mit unbändigen Lastern erfüllt (θείων ἀρετῶν ἢ ἀτιθάσων ἔμπλεοι παθῶν ἔσονται). Die einen werden als Gefährten und Weggenossen gütiger Engel (ἀγγέλλων 43 44 45 46 47

48

EH 87,17-19 (436B) (Heil). Vgl. EH 86,12-15 (433CD). EH 89,22f (440A) (Stock). CH 13,16 (141B). Vgl. auch 16,11f (145B). Vgl. auch DN 178,11-13 (733B), wo Dionysius sich gegen die Meinung wendet, die Vorsehung (pronoia) hätten uns gegen unseren Willen (akontas hêmas) zur Tugend führen müssen. Vgl. DN 178,20-179,2 (733CD).

Wiebke-Marie Stock

40

ἀγαθῶν ὀπαδοὶ καὶ ξυνοδοιπόροι) hier wie dort (auf Erden wie im Himmel) in vollem Frieden und völlig befreit von allem Übel für alle Ewigkeit ihr Erbteil höchster Glückseligkeit erlangen und ewig bei Gott sein, was unter allen Gütern das größte ist. Die andern aber werden den Frieden mit Gott und mit sich selber verlieren und auf Erden wie nach dem Tode in der Gemeinschaft wilder Dämonen leben.49 Bei der Beurteilung menschlicher Handlungen zählt nicht die faktische Wirkung der Handlung auf diejenigen, denen jemand Gutes oder Böses antun will, denn die Wirkung entspricht nicht notwendig den Intentionen des Handelnden. Vielmehr zählt die Wirkung, die der Handelnde auf sich selbst ausübt, und die Wahl der Weggefährten – Engel oder Dämonen −, die sein weiteres Leben auf Erden wie nach dem Tod bestimmt. Der Mensch ist ein Wesen, das sich sein eigenes Leben wählt,50 und er ist aufgerufen zum Leben der Engel. Das Gute der menschlichen Seelen besteht darin, dass sie […] selbst intelligent/geistig (noeras) sind, daß sie ihr wesenartiges Leben als unvergängliches Sein selbst bewahren, daß sie, zum Leben der Engel erhoben, durch diese wie durch gute Wegweiser zur gütigen Urquelle aller Güter emporgeführt werden, ihrer Fassungskraft gemäß zur Teilnahme an den dort ausquellenden Einstrahlungen gelangen und, soweit es möglich ist, an der gutartigen Gabe teilhaben können […].51

Die Seelen der Menschen stehen auf der nächsten Stufe nach den Engeln, den reinen Geistwesen (noes). Während andere oben genannte Stellen eine Zuordnung von noeros zu den Engeln, von logistikon hingegen zu den Menschen suggerieren, bezeichnet Dionysius die menschlichen Seelen hier ganz explizit als noerai. Ferner schreibt er, dass die Menschen „zum Leben der Engel erhoben“ werden können, d.h. sie bleiben nicht notwendig auf ihrer Stufe stehen, sondern können emporgeleitet werden.

Wie wir auch schon hier einige mit Gott verbunden sehen, weil sie Liebhaber der Weisheit sind und daher sich von der leidenschaftlichen Liebe zum Materiellen abkehren (τῆς προσπαθεῖας μὲν ἀναχωροῦσιν τῶν ὑλικῶν) und in gänzlicher Freiheit von allem Bösen und in göttlicher Begeisterung für alles Gute den Frieden und die Heiligung lieben. So beginnen sie schon im gegenwärtigen Leben mit dem zukünftigen und wandeln, Engeln gleich (ἀγγελοπρεπῶς), inmitten der Menschen, frei von jeder Leidenschaft (ξὺν ἀπαθείᾳ πάσῃ) und des Gottesnamens gewürdigt, umgeben mit Heiligkeit und den anderen Gütern allen.52 Die engelgleiche Freiheit von äußeren Einflüssen, den festen Stand kann der Mensch bei entsprechender Anstrengung schon im irdischen Leben erlangen. Äußere Einflüs-

49 50

51 52

Ep. 8 187,8-188,2 (1097A; Ritter, leicht verändert). Der Mensch kann autonom das Gute wählen, aber diese Freiheit schließt auch die Möglichkeit ein, das Übel zu wählen und sich oder anderen Böses anzutun (vgl. SCHÄFER (2006), S. 156). DN 145,11-16 (696C; Suchla, leicht verändert). Ep. 10 208,12-209,4 (1117B; Ritter, leicht verändert).

Polypathie. Zur Theorie der Seele nach Dionysius Areopagita

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se, Leid und Schmerz können einem solchen Menschen nichts mehr anhaben, wie Dionysius im Brief an den Evangelisten Johannes herausstellt: Was Dich betrifft, so bin ich nicht töricht genug anzunehmen, dir vermöchte Leiden (paschein) etwas anzuhaben. Ich bin im Gegenteil gewiß, Du empfindest die Leidenschaften/Empfindungen des Körpers (ta sômatos pathê) nur insoweit, als Du sie als solche registrierst/unterscheidest (kri53 nein).

, Leidenschaftslosigkeit, zeichnet die Engelhierarchien aus, von Verlockungen, von „der Materie zugeneigten Phantasien (προσύλων […] φαντασιῶν)“54 werden sie nicht berührt, und eben dieselbe Unempfindlichkeit ist Ziel des guten menschlichen Lebens. Erstrebenswert ist „das Unbewegte und Tätige des gottförmigen Zustands“ (τὸ τῆς θεοειδοῦς ἕξεως ἀκίνητον καὶ δραστήριον)“55. Diesen Zustand bezeichnet Dionysius im Traktat mehrfach mit dem Ausdruck .56 Anders als die der Engel oder die Gottes ist die der Menschen beweglich. Hier geht es nicht um unveränderliche Wesenseigenschaften, sondern um Eigenschaften und Verhaltensweisen, die erworben werden und die auch wieder verloren gehen können, Eigenschaften, die zur zweiten Natur, zum des Menschen werden können.57 So definiert schon Aristoteles die Tugenden als Eigenschaften (εἰ οὖ μήτε πάθη εἰσὶν αἱ ἀρεταὶ μήτε δυνάμεις, λείπεται ἕξεις αὐτὰς εἶναι), „auf Grund derer wir uns zu den Leidenschaften richtig oder falsch verhalten (ἕξεις δὲ καθ’ ἃς πρὸς τὰ πάθη ἔχομεν εὖ ἢ κακῶς)“58. In der Schrift Über die kirchliche Hierarchie geht es im Allgemeinen um Eigenschaften, die die vollwertigen Mitglieder der kirchlichen Gemeinschaft auszeichnen, die aber die59 unterste Ordnung der Katechumenen, Energoumenen und Büßer vermissen lassen. Eine einmalige Anstrengung zum Erwerb dieser hexis ist nicht ausreichend, vielmehr bedarf auch ihre Erhaltung weiterer Anstrengungen und Bemühungen. Diese gottgemäße Verfassung ist Bedingung für Apathie

Über die himmlische Hierarchie

hexis

hexis

hexis

hexis

Habitus

53 54 55 56

57

58

59

Ep. 10 209,5-7 (1117BC; Ritter, leicht verändert). CH 28,24f (208B) (Stock). EH 87,16f (436B) (Stock). Vgl. CH 27,13 (205B) (τῶν θεοειδῶν αὐτῶν ἕξεων); 31,4 (209D) (τῇ καθ’ ἕξιν ἐπιστήμῃ); 31,14 (212A) (τῶν καλῶν ἕξεών τε καὶ ἐνεργειῶν); EH 101,12 (481C); EH 104,18 (501A). DN 174,2f (728D) (Suchla): Τοῦτο γάρ ἐστι καὶ νόοις καὶ ψυχαῖς καὶ σώμασι κακὸν ἡ τῆς ἕξεως τῶν οἰκείων ἀγατῶν ἀσθένεια καὶ ἀπόπτωσις. Vgl. DN 172,15f (728A); 173,7 (728B); 179,1 (733C); 179,17 (736A). Zur Verwendung von hexis in bezug auf das Gute, vgl. auch DN 146,5 (696D); 171,7 (725A). Vgl. HEIL in Dionysius Areopagita (1986), S. 82, Anm. 1 ; DE ANDIA, Ysabel, La divinisation de l’homme selon Denys, in: Diotima 23 (1995), S. 86-92, hier 89. Vgl. zum Begriff der hexis in der Kirchlichen Hierarchie STOCK (2008), S. 132-138, 150-152. ARISTOTELES, Nikomachische Ethik II,4, 1106a 11f, 1105b 25f (ARISTOTELES, Die Nikomachische Ethik. Griechisch-deutsch. Übers. von Olof Gigon, neu herausgegeben von Rainer Nickel, Düsseldorf/Zürich 2001). Vgl. z.B. EH 115,12f (532A); 115,22 (532B).

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Wiebke-Marie Stock

die Teilnahme an den verschiedenen heiligen Handlungen; erst sie ermöglicht die notwendige Empfänglichkeit für deren Wirkkraft. Zugleich wirken die heiligen Handlungen – und insbesondere die Taufe – auf die hexis.60 In der Kindertaufe spielt dieses Moment, d.h. die Einpflanzung eines gottgemäßen Habitus allein durch die körperliche Teilnahme am Ritus, die Hauptrolle, da die Kinder anders als die Erwachsenen ihre hexis noch nicht bewusst gestalten können.61 Die anzustrebende hexis ist ein „gottgemäße[r], unverdorbene[r] Zustand der geheiligten Sündlosigkeit (τῆς ἱερᾶς ἀναμαρτησίας εἰς τὴν63θεοειδῆ καὶ ἀλώβητον 62 ἕξιν)“ . Sie ist abgesetzt von den „Werke[n] des Fleisches“ , dem Drang zur Materie64, den „Verlockungen und Verwirrungen“65. Da es sich hierbei um gefährliche Gegner handelt, ist eine kämpferische Haltung notwendig. Es ist aber wohl, wie ich glaube, allen Kennern der Lehren der Hierarchie klar, daß nur durch unentwegte intensive Anstrengungen in Richtung auf das Eine und die vollständigen Abtötungen und Vernichtungen der gegenteiligen Einflüsse denkfähige Wesen den Grad der Unveränderlichkeit des gottförmigen Zustandes beibehalten können.66

Das Widrige/Gegenteilige (τῶν ἐναντίων), wie hier all das heißt, was den Menschen

von seiner Ausbildung und Bewahrung des gottförmigen Zustandes abhalten kann, muss, wie Dionysius mit großer Schärfe sagt, getötet und vernichtet und nicht bloß überwunden oder überstiegen werden. Von einem bloßen Wettkampf kann da nicht gesprochen werden, dieser Kampf zielt auf die Vernichtung seines Gegners, nämlich all jener Einflüsse, die die Ausgestaltung der gottförmigen hexis hindern. Vom Menschen67 wird also, angelehnt an paulinische Vorstellungen, ein agonales Leben gefordert. Dieser Kampf richtet sich aber nicht gegen den Körper, der als Mitkämpfer der Seele auftritt; die Körper hätten sich „mit den göttlichen Seelen […] zusammen gemüht“ und man dürfe sie daher nicht „nach ihrer Ankunft68am Ziel der göttlichen Rennen unheilig um ihre geheiligten Belohnungen bringen“. Eine Loslösung vom Körper ist nicht das letzte Ziel, Dionysius vertritt als Christ gegen pagane Neuplatoniker die Auferstehung des Leibes.69 Der Zustand der Verkörperung selbst ist für die Seele 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69

EH 68,22-69,2 (392A) (Heil). Vgl. EH 131,8-29 (568BC). EH 93,8f (444B) (Heil). EH 86,9 (433C) (Heil). CH 13,16 (141B). Vgl. auch 16,11f (145B). EH 86,5 (433C) (Heil). EH 76,22-77,3 (401BC) (Heil). Vgl. EH 86,12-15 (433CD); EH 77,11-19 (401D-404A). Vgl. zum agôn STOCK (2008), S. 138-143. EH 121,15-17 (553C) (Heil). Vgl. EH 121,1-4 (553AB) (Heil). Gegen Brons und Dillon/Klitenic Wear, die diese Passage für sekundär halten (BRONS, Bernhard, Sekundäre Textpartien im Corpus Pseudo-Dionysiacum? Literarkritische Beobachtungen zu ausgewählten Textstellen, Göttingen 1975, S. 102-110, besonders 103,

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somit kein Übel; die falsche Hinwendung zu ihm, zu den Begierden, zum Zorn, den Phantasien, ein Nachgeben gegenüber dem Drang zum Materiellen ist es hingegen schon. Gegen all diese Unruhe hat der Mensch eine feste hexis zu etablieren,70die ihm den Zustand engelgleicher Ruhe schenkt, den Zustand engelgleicher apatheia. So sehr auch der Mensch dazu aufgerufen ist, sich von den Leidenschaften zu befreien, er bedarf der göttlichen Hilfe, die „das Haus unserer Seele“ „von den fluchbeladenen Leidenschaften (enagestatôn pathôn) und verderbenbringenden Befleckungen (phthoropoiôn molysmôn )“ befreit; dieser Weg besteht in einem Aufstieg und in der 71 Mit dem „Haus der Seele“ greift Dionysius ein neutestamentAngleichung an Gott. liches Bild72 auf und verbindet so philosophische und biblische Motive. Auch die Idee, dass das erstrebte Leben dem Leben der Engel gleichkommt, entstammt dem Neuen Testament: „In göttlicherer Nachahmung der überhimmlischen Vernunftwesen werden wir ‚nämlich engelgleich sein‘, wie die Wahrheit der Schrift sagt, ‚und Söhne Gottes, weil Söhne der Auferstehung‘.“73

4. Psychagogie Der Weg zur engelgleichen Ruhe und Festigkeit erlaubt keine passive Haltung, die bloß einem Nachgeben gegenüber dem proshylon, dem zur Materie strebende Moment im Menschen gegenüber gleichkäme. Die Tendenz zum Materiellen ist nicht das einzige Bewegungsmoment der Seele, es gibt vielmehr ein zweites, das anôpheres tês 74 psychês, das nach oben strebende Moment der Seele. Die Verwendung unähnlicher Bilder in der Rede von Gott oder den Engeln arbeitet der Tendenz zum Materiellen entgegen, sie stachelt das nach oben strebende Moment der Seele an, indem sie schockierend materielle und niedrige Namen für hohe geistige Entitäten verwendet.75 Bei ähnlichen Bildern wie Sonne oder Licht könnte die Seele stehenbleiben, ein unähnliches Bild hingegen fordert die Seele auf, weiter zu suchen und zu höherer Erkenntnis

Anm. 4; DILLON,

70 71

John/KLITENIC WEAR, Sarah, Dionysius the Areopagite and the Neoplatonic Tradition. Despoiling the Hellenes, Aldershot 2007, S. 8, Anm. 34), vgl. hierzu STOCK, Wiebke-Marie, Theurgy and Aesthetics in Dionysius the Areopagite, in: Theurgy and Aesthetics in Byzantium, Hg. Sergei Mariev/Wiebke-Marie Stock, Berlin/New York voraussichtlich 2013. Vgl. z.B. CH 28,10 (205D); CH 53,16 (332A). EH 91,20-92,1 (441BC; Heil). Vgl. auch EH 93,5 (444B), wo ebenfalls von verderbenbringenden Leidenschaften die Rede ist. Zur Notwendigkeit göttlicher Einwirkung vgl. auch

72 73 74 75

DN 206,14 (897B), wo von der Befreiung von

pathê gesprochen wird.

EIL, in: Dionysius Areopagita (1986), S. 170, Anm. 60. Vgl. Mt 12,44 und Lk 11,24.

H

DN 115,3-5 (592C; Suchla, leicht verändert); vgl. Lk 20,36. Vgl. DN 114,7-115,3 (592BC). CH 13,13-21 (141BC). Vgl. auch CH 16,5-13 (145AB).

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Wiebke-Marie Stock

aufzusteigen. Wie die negative Theologie entfaltet daher auch die Verwendung unähnlicher Ähnlichkeiten eine starke anagogische Tendenz.76 Bilder treten hier somit nicht nur als zu vertreibende Phantasien auf. Vielmehr dienen Bilder auch der Seelengestaltung und der Erkenntnismittlung. Im 9. Brief, in dem es um die fiktive Schrift Symbolische Theologie geht, führt Dionysius diesen Gedanken weiter aus:

[Es war auch nötig], dass das zugleich ungeteilte und geteilte menschliche Leben auf ihm entsprechende Weise durch die göttlichen Erkenntnisse erleuchtet wird, dass der leidenschaftslose Seelenteil (τὸ μὲν ἀπαθὲς τῆς ψυχῆς) sich fest in die einfache und innere Schau der gottförmigen Bilder (τῶν θεοειδῶν ἀγαλμάτων) setzt, während ihr leidenschaftlicher Teil (τὸ δὲ παθητικὸν αὐτῆς), mit ihm fest verbunden, ihm dient und zugleich zum Göttlichsten emporstrebt, durch die im Voraus verfertigten Bildungen der formenden/geformten Symbolen (ἐπὶ τὰ θειότατα τοῖς προμεμηψανημένοις τῶν τυπωτικῶν συμβόλων ἀναπλασμοῖς), wie diese Vorhänge (παραπετάσματα), die ihm verwandt sind, auch zeigen, dass die, die die offenbare Gotteskunde auch ohne Vorhänge/Verhüllungen (προκαλυμμάτων) gehört haben, in sich selbst ein Abbild formen, das sie zur Erkenntnis der genannten Gotteskunde hinführt (χειραγωγοῦντα).77

In dieser Textpassage unterscheidet Dionysius zwei Seelenteile, das und das , einen leidenschaftslosen und einen leidenschaftlichen Seelenteil. Diese Unterscheidung erinnert an Platons 78 , wo Platon einen besseren und einen schlechteren Teil der Seele unterscheidet. Jedoch wird bei Dionysius der untere Teil keineswegs abgewertet, er ist kein niederer Seelenteil, der unter Kontrolle gehalten und richtig erzogen werden muss. Der leidenschaftliche Seelenteil steht vielmehr in enger Verbindung mit dem leidenschaftslosen Teil, und er neigt dieser Aussage zufolge nicht, wie nach vielen anderen Äußerungen zu erwarten 79wäre, dem Materiellen zu, er strebt vielmehr gleichermaßen nach oben zur Erkenntnis. Es überrascht, dass dem ein Aufwärtsstreben zugesprochen wird, obwohl sonst den Leidenschaften im Allgemeinen eine Tendenz zum Materiellen und damit eine Abwärtsneigung zukommt. Grundsätzlich haben zwar auch die Leidenschaften Anteil am Guten und streben nach ihm, jedoch ist diese Bewegung üblicherweise irregeleitet. Wie also kann der leidenschaftliche Seelenteil tatsächlich eine eigene Aufwärtsbewegung entfalten? Die Beantwortung dieser Frage verlangt einen kleinen Umweg. apathes

pathêtikon

Politeia

pathêtikon

76 77 78 79

Vgl. STOCK (2008), S. 197-202. Ep. 9 198,6-14 (1108AB, Stock). Vgl. PLATON, Politeia 431ad (PLATON (1990), Bd. 4). Anders die Deutung von Ysabel de Andia, hier handele es sich um eine „guérison de sa partie passionnelle“; diese Deutung basiert jedoch auf einer problematischen reflexiven Übersetzung von therapeuein („la partie passionelle […] se guérit“; DE ANDIA, Ysabel, Pâtir les choses divines, in: Denys l’Aréopagite. Tradition et métamorphoses, Paris 2006,

S. 17-35, hier 29). Auch Koch spricht von einer Heilung des pathêtikon (vgl. KOCH, Hugo, Pseudo-Dionysius Areopagita in seinen Beziehungen zum Neuplatonismus und Mysterienwesen. Eine litterarhistorische Untersuchung (Forschungen zur christlichen Literatur- und Dogmengeschichte), Mainz 1900, S. 220).

Polypathie. Zur Theorie der Seele nach Dionysius Areopagita

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Der Mensch bedarf einer Seelenführung, einer psychagogia.80 Ein Wesen aus Seele und Körper ist einer unmittelbaren, unvermittelten Erkenntnis Gottes nicht fähig; ohne die Vermittlung des sinnlich Wahrnehmbaren und des Körpers, ohne die Handreichung (cheiragôgia) sinnlicher Bilder kann der Mensch – anders als die Engel – nicht zur Einung und Angleichung an Gott gelangen.81 Dionysius überträgt hiermit eine platonische Idee auf alle Menschen. Im Phaidros heißt es, bunte Seelen bedürften bunter Reden.82 Dionysius zufolge brauchen alle menschlichen Seelen Bilder; wie ein83 Rhetoriker oder ein Dichter, der „die πάθη der Zuhörer wecken und lenken soll“ muss auch derjenige, der die Seelen der Menschen zum Aufstieg führen will, Bilder verwenden, die sich an den leidenschaftlichen Teil der Seele wenden. In der Heiligen Schrift werden ähnliche und unähnliche Bilder verwandt, aber auch die Liturgie verwendet Symbole, d.h. Dinge, Handlungen, Gesten. Um den „Zustand der Seligkeit“ zu erlangen, bedarf der Mensch der Handreichung durch die rituellen Handlungen, durch Bilder und Symbole.84 Lesungen und Gesänge sprechen nicht nur den Verstand der Menschen an, der ihren Inhalt versteht, vielmehr wirken sie auch 85direkt auf die hexis; die Gesänge flößen ihm eine „geheiligte Verfassung (hexis)“ ein. Die Symbole, die sich an den leidenschaftlichen Teil der Seele wenden, wenden sich an den Menschen in seiner leibseelischen Ganzheit.86 Sie wenden sich an den Verstand des Menschen, der ihre Bedeutung entschlüsselt, und zugleich an den Körper des Menschen, da sie 80 81

82 83

EH 74, 3 (397C); 81,17 (428A). Vgl. u.a. EH 68,2-4 (377A); 65,13-15 (373AB). Vgl. ROQUES (1983), S. 174; SEMMELROTH, Otto, Das ausstrahlende und emporziehende Licht. Die Theologie des

Pseudo-Dionysius in systematischer Darstellung, Dissertation, Bonn 1947, S. 230; BERNARD, Charles-André, Les formes de la Théologie chez Denys l’Aréopagite, in: Gregorianum 59 (1978), S. 39-69, hier 63; BERNARD, Charles-André, La triple forme du discours théologique dionysien au moyen âge, in: Denys l’Aréopagite et sa postériorité en Orient et en Occident. Actes du Colloque International, Paris, 21-24 septembre 1994, Hg. Ysabel de Andia, Paris 1997, S. 503-515; ROQUES, René, Introduction, in: Denys l’Aréopagite, La hiérarchie céleste, übersetzt von Maurice de Gandillac (SC 58), Paris 1958, S. V-XLVIII, hier XXI. Vgl. auch STOCK (2008), S. 171-197.

PLATON, Phaidros 277c (PLATON (1990), Bd. 5). DÖRRIE, Heinrich, Leid und Erfahrung. Die Wort- und Sinn-Verbindung παθεῖν - μαθεῖν im griechischen Denken (Abhandlungen der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen

der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse. Jahrgang 1956. Nr. 5), Wiesbaden 1956,

84 85 86

S. 331, vgl. auch 332. EH 88,24f (437B) (Heil). Zur Handreichung, vgl. S EH 98, 2-9 (477A) (Heil).

TOCK (2008), S. 171-197.

DE NDIA Symbole et mystère selon Denys l’Aréopagite, in: Studia Patristica 37 (2001), S. 421-451, hier 450: „Le symbole s’adresse au pathetikon, la partie sensible dans l’homme, ce qui indique que l’homme est saisi dans sa totalité âme – corps et qu’il y a une relation entre le sensible et l’intelligible aussi bien dans l’homme que dans le monde.“ Vgl. BERNARD (1978), S. 63; BERNARD (1997); ROQUES (1958), S. XXI.

Vgl.

A

, Ysabel,

46

Wiebke-Marie Stock

ohne die körperliche Teilnahme ihre87Wirkung nicht entfalten könnten, denn eine bloße Betrachtung der Riten genügt nicht. Wenn der Körper einbezogen ist, so wird auch der leidenschaftliche Teil der Seele mitbetroffen. Aber auch bei den Symbolen der Schrift lässt sich eine Wirkung auf den leidenschaftlichen Teil der Seele erkennen, denn die Bilder enthüllen und verhüllen, und sie sprechen hierbei nicht nur den Verstand, sondern auch andere Seelenfunktionen wie die Phantasie oder auch das Begehren an, wenn z.B. die sinnliche Schönheit eine anagogische Wirkung hin zu geistiger Schönheit entfaltet. Dem leidenschaftslosen Seelenteil schreibt Dionysius andere Bilder zu, nämlich agalmata. Da an anderen Stellen im Corpus Dionysiacum nicht von einer besonderen Funktion der agalmata die Rede ist,88 ist nicht leicht zu erkennen, um welche Art von Bildern es sich hierbei handelt. Dort, wo von agalmata der Schrift oder der Liturgie gesprochen wird, geht es jedoch vor allem um die Schau der Bilder, um Verständnis und Auslegung. In Über die göttlichen Namen spricht Dionysius von der Betrachtung der Gottesnamenbilder (theônymikôn agalmatôn); die Beispiele wie „der Große“, „der Kleine“, „der Ähnliche“, „der Unähnliche“ zeigen, dass es sich nicht um die sinnlichen Namen der Symbolischen Theologie handelt, sondern um andere, um abstraktere Namen.89 Auch bei den Bildern der Liturgie sind verschiedene Stufen zu unterscheiden; für diejenigen, die weniger tief eingeweiht sind, stellen sie eine angemessene psychagôgia dar, eine Seelenführung, die ihnen ihrem Einweihungs- und Erkenntnisgrad angemessen ein reines und tugendhaftes Leben vorführt. Die tiefer Eingeweihten jedoch sollen den Schritt von den90Bildern (eikones) zu der Wahrheit der Urbilder (tôn archetypôn alêtheia) vollziehen. Dieser Schritt gleicht dem von den „schönen Darstellungen in der Eingangshalle zum Allerheiligsten (τὰ τῶν ἀδύτων προπύλαια καλῶς διαγεγραμμένα)“ in das 91Allerheiligste selbst, zur „Schau des Geistigen“ und der „Schönheit der Urbilder“ . Die Symbole sind nur rätselhafte Hüllen, die abgelegt werden sollen, der geistige Gehalt der Bilder (agalmata) soll herausgeschält, offen dargelegt92 werden, um die darin enthaltene gottförmige Schönheit zum Vorschein zu bringen. Es geht hier also um eine geistige, innere Schau von geistigen Denkgegenständen, die – als Gegenstand der Schau – bildlichen Charakter haben. 87 88

89 90 91 92

Gegen Rorem, vgl. hierzu STOCK (2008), S. 202-210. Es bezeichnet Bilder der Schrift: DN 207,8 (909B); CH 16,3 (145A); Bilder in der Liturgie: EH 82,14 (428D), den Menschen, bzw. die Seele des Menschen (CH 18,2 (165A); EH 96,3.23 (473B, 476A). Zu Dionysius‘ Bildverständnis vgl. STOCK, Wiebke Marie, Eikonographeia. La pensée de l’image selon Denys l’Aréopagite“, in: Vasiliu, Anca/Mitalaité, K. (Hg.): L’icône dans la pensée et dans l’art [Arbeitstitel], Turnhout: Brepols, erscheint voraussichtlich 2013. DN 207, 6-9 (909B). Vgl. EH 81,15-24 (428AB). EH 82,5-9 (428C) (Heil, leicht verändert). Vgl. EH 82,9-15 (428CD).

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Wer nun diesen Weg der Gotteserkenntnis geht, formt, so Dionysius, in sich ein Abbild (typos), das ihn zu tieferer Einsicht führt. Die Seele formt sich also selbst zu einem Bild, wenn sie nach dieser Einsicht und dieser Schau der agalmata strebt, und ihre Bildwerdung ist wiederum Bedingung tieferer Erkenntnis. Dieses Motiv taucht auch im Malergleichnis der Kirchlichen Hierarchie auf. Der Mensch, der nach biblischem Verständnis nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde (Gen. 1, 26f), soll sich selbst zum Bilde Gottes gestalten. Die Bildwerdung des Menschen veranschaulicht Dionysius mit einem Malergleichnis, das die Ausbildung der Tugend, aber vor allem die Nachahmung göttlicher Schönheit hervorhebt: Unbefleckt sind nämlich die verborgenen und übergeistig wohlriechenden Schönheiten/Harmonien Gottes, und geistig erscheinen sie allein den Denkenden, gleichförmig wollen sie die durch Tugend in der Seele entstandenen unverderblichen Bilder haben. Wenn das Bild nämlich das Unbeschreibliche der gottförmigen Tugend gut nachgeahmt hat, schaut es auf jene geistige und wohlriechende Schönheit und prägt und bildet sich hin auf die schönste Nachahmung. Und gleichwie bei den sinnlichen Bildern, wenn der Maler auf das Urbild unverwandt hinsieht und sich nichts anderem Sichtbaren zuwendet oder sich auf irgend etwas hin zerstreut, er das zu malende, was es auch sei, wenn man so sagen darf, verdoppelt und das eine im anderen zeigt abgesehen vom Unterschied im Wesen, so schenkt den das Schöne liebenden Malern im Geiste die unverwandte und nicht abgelenkte Schau auf die wohlriechende und verborgene Schönheit das beständige und gottförmigste Bild (indalma).93

Die Ausbildung der hexis und der Kampf gegen die falschen Bilder sind Dionysius zufolge verknüpft. Dieser negativen Bestimmung der „Entbildung“, d.h. der Vertreibung der falschen phantasiai entspricht positiv die Ausbildung als Bild (agalma) Gottes, und bei dieser Bildwerdung spielen Bilder – symbola, agalmata, eikôna − eine grundlegende Rolle. 5. Göttliches Erleiden

Die bisherigen Ausführungen haben die pathê im Sinne von Leidenschaften behandelt, um das, was in enger Verbindung zum leidenschaftlichen Seelenteil (pathêtikon) steht. Aber schon in Aristoteles’ Schrift Über die Seele taucht die Frage auf, inwiefern nicht auch dem geistigen Erkennen ein94 passives Moment innewohnt; es ist die schwierige Frage nach dem nous pathêtikos. 93

94

EH 95,23-96,11 (473BC; Stock). Vgl. zum Malergleichnis des Dionysius, sowie zu den paganen und christlichen Vorgängern STOCK (2008), S. 143-149; STOCK, Wiebke-Marie,

Peintres et sculpteurs de l’âme dans la philosophie de l’antiquité tardive païenne et chrétienne, in: Chôra. Revue d’études anciennes et médiévales. Philosophie, théologie, sciences 9/10 (2011/2012), 149-167. Vgl. ARISTOTELES, De anima 429b22-430a25 (ARISTOTELES (1995)).

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Auch bei Dionysius taucht ein Moment der Passivität im geistigen Erkennen auf. So unterscheidet Dionysius einmal zwei Arten der Rede von Gott, die eine „philosophisch und beweisend“, die andere „symbolisch und mit Einweihung verbunden“; während erstere „überzeugt“, „wirkt“ die zweite und „lässt in Gott gegründet sein“95. Die Anspielung auf Mysterien, aber auch auf die Praxis der Liturgie, ist deutlich zu erkennen. Es geht offenbar um eine Erkenntnisweise, die jenseits philosophischer Beweisverfahren liegt. In Über die göttlichen Namen unterscheidet Dionysius einmal drei verschiedene Erkenntniswege, und auch hier spielt er auf die Mysterien an. Er spricht in diesem Zusammenhang von der Unerkennbarkeit der Inkarnation und über das, was sein Lehrer Hierotheus hierüber verfasst habe: Dieses aber wird sowohl von uns andernorts hinreichend erläutert als auch von unserem berühmten Lehrer in seinen Theologischen Grundlehren ganz außerordentlich gepriesen, was jener entweder von den geheiligten biblischen Schriftstellern gelernt oder auch infolge kundiger Erforschung der Heiligen Schrift nach vieler Beschäftigung mit ihr und Übung erkannt oder letztlich auf Grund irgendeiner göttlicheren Inspiration mystisch erfaßt hat, indem er das Göttliche nicht nur lernte, sondern auch erlitt/erfuhr (οὐ μόνον μαθὼν ἀλλὰ καὶ παθὼν τὰ θεῖα) und durch die, wenn man so sagen darf, Verbundenheit mit diesem (τῆς πρὸς αὐτὰ συμπαθεῖας) zur nicht mitteilbaren und mystischen Einung mit diesem und zur Treue vollendet wurde.96

Mit den Worten greift Dionysius nicht nur den griechischen Topos einer Erkenntnis durch Leiden auf;97 er knüpft vielmehr direkt an eine von Synesius überlieferte Formulierung98 des Aristoteles über die Mysterien an: τοὺς τελουμένους οὐ μαθεῖν δεῖ ἀλλὰ παθεῖν. Durch die Einfügung eines abschwächenden zeigt Dionysius, dass sich die beiden formen und nicht ausschließen, dass beide notwendig sind, dass aber für die höchste Gotteserkenntnis eine göttliche Inspiration oder Einwirkung unabdingbar ist.99 Mit dieser Formulierung bringt Dionysius zum Ausdruck, dass es sich bei der Einung mit dem Göttlichen um die „Unmittelbarkeit einer erlebten Erfahrung“ handelt, um eine Passivität des Menschen angesichts des Göttlichen, aber nicht um ein Erleiden im strengen Sinne.100 Dionysius greift hier zum einen die neuplatonische Idee auf, dass das Eine ou monon mathôn alla kai pathôn ta theia

monon

Erkenntnis

mathein

pathein

95 96 97 98

99 100

Ep. 9 197, 11-14 (1105D; Ritter, leicht verändert). DN 133,13-134,4 (648AB; Suchla, leicht verändert). DE ANDIA (2006), S. 17 und Anm. 1; DÖRRIE (1956). ARISTOTELES, Fragmenta selecta. Recognovit brevique adnotatione instruxit, W. E. Ross, Oxonii 1955, S. 84 (Peri philosophias, frg. 15). Olof Gigon ordnet es ein unter die Dubia; vgl. hierzu DE ANDIA (2006), S. 18, Anm. 2. Überliefert ist das Fragment bei SYNESIUS, Dion (SYNESIUS, Synesii Cyrenensis Hymni et opuscula. II. Opuscula, Rom 1944, S. 254,1113). Vgl. hierzu auch DÖRRIE (1956), S. 334-338. Vgl. DE ANDIA (2006), S. 23: „Mais il y a aussi une initiation directe par l’inspiration divine

qui accompagne l’activité de recherche ou la remplace.“ Vgl. DE ANDIA (2006), S. 25: „l’immédiaté de l’expérience vécue“; „Le παθεῖν indique ici un mode de connaissance des choses divines qui ne passe pas, comme la μάθησις par la

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gar nicht erkannt werden, sondern101nur in einer das Erkennen übersteigenden Gegenwärtigkeit erfahren werden kann. Zum anderen unterstreicht er die Anklänge an Mysterien, wie sie insbesondere im späten Neuplatonismus üblich waren.102 Zugleich könnte die Verbindung von pathein und mathein aber auch ein Anklang an eine Passage aus dem Hebräerbrief sein, wo es heißt: „So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. (καίπερ ὢν υἱός, ἔμαθεν ἀφ᾽ ὧν ἔπαθεν 103 τὴν ὑπακοήν)“ (Hebr. 5,8). Bei Dionysius ist der Denkzusammenhang der pathôn-mathôn-Stelle offenbar die Christologie. Auch die zweite Stelle, in der von einem paschein des Hierotheus die Rede ist, gehört in diesen Zusammenhang.104 Dort heißt es: „indem ganz aus sich heraustrat, die Gemeinschaft mit dem Besungenen erlebte/erlitt/erfuhr (ἐξιστάμενος ἑαυτοῦ καὶ τὴν πρὸς τὰ ὑμνούμενα κοινωνίαν πάσχων)“105. Auch hier handelt es sich wieder um eine Erfahrungsweise, die die rationale Erkenntnis übersteigt,106 eine Erkenntnis, die darin besteht, Göttliches zu erleiden. 6. Schluss In der Seelentheorie des Dionysius lassen sich Motive der philosophischen und der biblischen Tradition erkennen. Es findet sich die platonische Dreiteilung der Seele in logistikon, thymoeides und epithymêtikon, sowie eine Zweiteilung in pathêtikon und 107 apathes. Auch fehlt die aristotelische Einteilung der Seelenformen nicht.

médiation du discour; en ce sens, il marque davantage l’immédiateté de l’union ou la passivité de l’homme face à Dieu que la souffrance comme telle.“; ROQUES (1983), S. 130. 101 Vgl. z.B. PLOTIN, Enn. VI [9] 4, 1-17 (PLOTIN (1956-1967), Bd Ia). 102 Zur , vgl. DE ANDIA (2006), S. 24 und Anm. 2; DE ANDIA, Ysabel, union à Dieu chez Denys l’Aréopagite, Leiden/New York/Köln 1996, S. 241, Anm. 28. 103 Zu dieser Stelle, allerdings ohne Hinweis auf Dionysius, vgl. DÖRRIE (1956), S. 341f. 104 Die Formulierung ta hymnoumena taucht mehrfach im Kontext der Eucharistie auf; dort bezieht sie sich entweder auf die theourgiai, d.h. die Gottestaten zur Rettung der Menschen und insbesondere die Inkarnation, oder auf Brot und Wein, in denen diese Gottestaten sichtbar vor Augen gestellt werden. Vgl. hierzu STOCK (2008), S. 62, 65, 163-165, 223. 105 DN 141,11f (681D-684 A; Suchla, leicht verändert). 106 Anders als de Andia betont Louth, dass sich beide Stellen auf die Feier der Sakramente bezögen (vgl. LOUTH (1989), S. 29: „his ‚suffering divine things‘ (DN II.9), his ‚experiencing communion with the things praised‘ (DN III.2) are to be understood of his celebrating the Christian sacraments“). 107 Vgl. auch ROQUES (1983), S. 235, Anm. 3. sympatheia

L’

Henosis.

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Wiebke-Marie Stock

Wie viele Neuplatoniker vertritt Dionysius die apatheia als Ideal der höheren Lebensweise, auf der Stufe der kathartischen Tugenden.108 Es wird diskutiert, ob Dionysius eher einer Tradition der apatheia im Sinne einer Unterdrückung oder Auslöschung der pathê oder im Sinne ihrer Sublimierung zuzuordnen ist. Als Beleg für die These von der Sublimierung führt Louth an, dass Dionysius schließlich auch von der epithymia und dem thymos der Engel spreche, also von pathê auf einer höheren, geistigen Stufe.109 Hier geht es jedoch weniger um eine Sublimierung der pathê als um eine Erläuterung bildlicher Redeweisen biblischer Texte. Dass Dionysius epithymia und thymos als Nachhall eines Strebens nach Frieden oder nach dem Guten darstellt, könnte es zwar tatsächlich nahelegen, ihm eine Theorie der Sublimierung zu unterstellen. Zahlreiche Passagen, in denen Dionysius vom Kampf gegen die phantasiai und vom engelgleichen Leben der Ruhe und Leidenschaftslosigkeit spricht, sprechen aber dafür, ihn in eine Tradition einzuordnen, in der es nicht um eine Sublimierung der pathê und auch nicht um eine meriopatheia geht, sondern um eine apatheia, eine Befreiung von den Leidenschaften. Die Polypathie, die Vielfalt der Leidenschaften bringt Unruhe in die Seele, ist für die Seele gefahrvoll, lenkt sie ab vom Streben nach der göttlichen Güte. Wichtig ist hingegen die Beruhigung der Seele und die Etablierung einer festen und gottförmigen hexis, anders, d.h. in einer biblisch inspirierten Terminologie gesagt, das Leben der Engel. Eine Besonderheit ist, dass Dionysius dem Menschen nicht nur die Fähigkeit zuspricht, die Leidenschaften zu beherrschen und ein gutes tugendhaftes Leben zu führen, dass vielmehr Dionysius den Menschen als ein Wesen denkt, das nicht auf der Stufe des Menschlichen stehenbleiben muss, sondern das das Leben der geistigen Engel erreichen 110 kann, das eben nicht mehr von den phantasiai und von Leidenschaften berührt wird. Die Bewertung der pathê ist aber nicht ausschließlich negativ. Dionysius schreibt dem pathêtikon selbst eine Aufwärtsbewegung zu. Es erscheint hier nicht nur als Hort irrationaler Strebungen, sondern als Ausgangspunkt einer Bewegung, die auf Einung und Vergöttlichung zielt. Ohne eine enge Verbindung mit dem leidenschaftslosen Teil der Seele vermöchte der leidenschaftliche Teil dies nicht, aber ihm kommt doch eine zentrale Funktion im Seelenaufstieg zu, die die platonische Bewertung des thymos als Helfer des vernünftigen Seelenteils weit übersteigt. Der leidenschaftliche Seelenteil wird in die Vergöttlichung der Seele ein- und nicht ausgeschlossen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist vor allem die Bedeutung der Bilder. Sie erscheinen nicht nur als zu vertreibende Phantasien, sondern auch als Mittel des AufZu Dionysius vgl. DE ANDIA (2006), S. 26: „l’attitude de l’homme divin, comme celle des anges, est l’impassibilité“, vgl. 27. Was die Neuplatoniker angeht, vgl. z.B. PLOTIN, Enn. IV 8 [6] 2,19f; I 2 [19] 3, 19f; I 1 [53] 2,10f (PLOTIN (1956-1967)). 109 Vgl. LOUTH (1989), S. 46f. 110 Bei Dionysius handelt es sich daher um mehr als um die „elasticity“ einer Seele, die sich höheren und niederen Tätigkeiten zuwenden kann (PERL (2007), S. 83). 108

Polypathie. Zur Theorie der Seele nach Dionysius Areopagita

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stiegs und der Erkenntnis – symbola und agalmata der Liturgie und der Schrift – sowie als Ziel der menschlichen Seelenbildung. Es sind also, was die Bedeutung von pathos angeht, drei Bedeutungsmomente im Spiel: Leiden, Passivität, Leidenschaft.111 Während die Leidenschaften negativ konnotiert sind, hat das pathêtikon ein eigenes Aufwärtsstreben. Die Passivität erweist sich als ambivalent, die passive Haltung gegenüber den Leidenschaften wird verurteilt, das Erfahrungsmoment des pathôn ta theia ist jedoch positiv besetzt; Göttliches zu erleiden ist die höchste Erkenntnisform, die der Mensch erreichen kann. Das Leiden wiederum erscheint – als göttliches Erleiden, als Leiden Christi112 – gänzlich positiv; hier ist jedoch der Themenbereich der passiones animae schon überschritten.

111 112

Vgl. DE ANDIA (2006), S. 35: „Il faut distinguer dans le παθεῖν la passion et la passivité.“ Hierzu kommt als dritte Komponente die „souffrance“. Vgl. DE ANDIA (2006), S. 25. Vgl. DN 130, 5-7 (644C); Ep. 8 186,1f (1096B); 191,7-192,1 (1100BD).

Christian Schäfer

Johannes Damascenus und die Ökonomie der Leidenschaften in der Tradition hellenistischer Philosophenschulen Johannes von Damaskus verhandelt die Frage der Leidenschaften der Seele im Anschluss an seine philosophische Bestandsaufnahme des menschlichen Willens,1 diese philosophische Willensdiskussion aber anscheinend vor allem im Bezugsrahmen und als 2Konsequenz einer theologischen Streitlage,3 nämlich der Monotheletismus-Frage. Im zweiten Buch von (so insbesondere PG 94, 924 B - 980 A) trifft der „letzte der Väter“ seine berühmt gewordene Unterscheidung von qšlhsij und boÚlhsij, von umfassendem Wollen und kon4 De fide orthodoxa

kreter Willensäußerung, so könnte man vielleicht übersetzen. Die philosophische 1

Vielleicht ist hier der Ort, kurz darauf hinzuweisen, dass dieser Artikel aus den Überlegungen eines anderen hervorgegangen ist, in welchem ich die Akrasia-Frage bei Johannes Damascenus erörtert habe: SCHÄFER, Christian, Von Augustinus zu Johannes Damascenus: Das Problem der unausgesprochenen Willensschwäche bei den christlichen Neuplatonikern, in: Hoffmann, Tobias/Müller, Jörn/Perkams, Matthias (eds.), Das Problem der Wil-

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lensschwäche im mittelalterlichen Denken / The Problem of Weakness of Will in Medieval Thought, Leuven/Paris 2006, 59-87. Ich ergreife im Folgenden die Gelegenheit, einige Schwächen und den ein oder anderen Fehler meiner damaligen Wortmeldung nach Möglichkeit zu bereinigen.

Die Themen der Schrift De fide orthodoxa sind nach der Abfolge der Artikel des Glaubensbekenntnisses angeordnet. Die anthropologischen Überlegungen des Johannes Damascenus tauchen daher im Zusammenhang der Glaubensartikel über die zweite göttliche Person und im Umfeld oder der Nachfolge des homo factus und des passus et sepultus auf. Zur Einbettung der Willenspsychologie des Damaszenen in die monotheletistische Kontroverse vgl. LOUTH, Andrew, St John Damascene. Tradition and Originality in Byzantine Theology, Oxford 2002, insbesondere 166-172. Gefolgt wird hier der Zählung der Patrologia-Ausgabe von De fide orthodoxa, PG 94, 790

A - 1228 A. Einen kritischen Text neueren Datums mit alternativer Beibehaltung der PGSeitenzählung, der in Einzelfragen zu Rate gezogen wurde, bietet: KOTTER, Bonifatius, Die

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Schriften des Johannes von Damaskos II: expositio fidei, Göttingen 1973. Die folgenden Bemerkungen zur Willenstheorie von De fide orthodoxa stützen sich vor allem auf ADELMANN, Frederick J., The Theory of Will in St. John Damascene, in: Ders. (ed.), The Quest for the Absolute (= Boston College Studies in Philosophy I), Chestnut Hill/The Hague 1968, 22-46, sowie auf FREDE, Michael, John of Damascus on Human Action, the Will, and

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Christian Schäfer

und theologische Forschung hat diese kluge Differenzierung auf den verschiedensten Ebenen immer wieder aufgegriffen, nach allen Seiten hin untersucht und im Spiegel moderner Freiheits- und Willenstheorien reflektiert. Tatsächlich gleicht diese angesprochene Differenzierung in mehr als einer Hinsicht etwa der gegenwärtig in der Diskussion stehenden Unterscheidung vom Wollen erster und zweiter Ordnung nach Harry Frankfurt.

1. Ein kurzer Abriss der Willenslehre Zur Absicht einer Darstellung der Passiones-Deutung bei Johannes Damascenus mag eine kurze definitorische Zusammenfassung der Willensunterscheidung an dieser Stelle genügen: Die boÚlhsij, das konkrete Wollen, bestimmt Johannes

Damascenus als eine vernünftige Strebensbewegung auf etwas Bestimmtes hin (944 C: boÚlhsij g£r ™stin Ôrexij kaˆ œfesij tinoj pr£gmatoj logik»). Diese Strebensbewegung kann und wird auch zumeist eine vereinzelte sein und sich auf Konkretes, ein pr£gma, beziehen. Vereinzelt nicht deswegen, weil solche Strebensbewegungen selten aufträten (ganz im Gegenteil), sondern insofern sie sich nicht wesensgemäß in einen lebensumgreifenden Zusammenhang eingebunden befinden müssen. Anders gedacht und philosophisch interessanter ist demgegenüber die Auffassung von der qšlhsij, also vom Willen insgemein oder vom Willen als eines umfassenden Horizonts menschlichen Strebens. Jedes Wesen nämlich sei natürlicherweise von der Art, dass es eigentümlich darauf aus sei, seine ihm charakteristische Seinart voll und ganz zu erfüllen5 (oÙs…a [...] tÁj o„ke…aj ™fiemšnh fusikÁj, kaˆ plÁrouj ÑntothtÒj, 944 B). Dafür dient dem Menschen der Wille, also die qšlhsij. Denn dieser Wille definiert sich als „wesensgemäßes, lebendiges und vernünftiges Streben nach all dem, was das eigentliche Wesen von jemandem ausmacht“: ¹ fusik¾, zwtik» te kaˆ logik¾ Ôrexij p£ntwn tÁj fÚsewj suntatikîn ktl. (944 B). Man darf mit den meisten Inter-

, in: Ierodiakonou, Katerina (ed.), Byzantine Philosophy and its Ancient Sources, Oxford 2002, 63-95. Der Begriff der o„ke…a fÚsij, der „von Haus aus“ angestammten Natur oder Wesenszumessung, taucht an vergleichbarer systematischer Stelle auch bei Dionysius Areopagita auf (und über ihn dann bei Maximus Confessor und anderen patristischen Autoren) und bezeichnet eine innere ontologisch definierende Bestimmung eines Einzelwesens, die auch als Zielbestimmung erfüllt werden will: vgl. DIONYSIUS AREOPAGITA, De divinis nominibus PG Human Freedom

5

3, 728 C, oder auch MAXIMUS CONFESSOR, Ad Thalassium, Prolog, PG 90, 253 A. Auch bei Dionysius leitet die Verhandlung dieses Begriffs übrigens eine Willenstheorie ein, denn die Erfüllung ihrer o„ke…a fÚsij ist bei Vernunftwesen selbstaufgegeben und muss von ihnen spontan und autonom erwirkt werden, das heißt willentlich: vgl. SCHÄFER, Christian, Von Augustinus zu Johannes Damascenus, 65-67.

Johannes Damascenus und die Ökonomie der Leidenschaften

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preten und Kommentatoren dieses Passus davon ausgehen, dass Johannes Damascenus hier das Anlauten der qšlhsij an das tšloj absichtlich gesucht haben wird, und tatsächlich spricht er einmal davon wie von einer Entelechie und sagt, das willentliche Streben (gemeint ist: in der Auffassung als qšlhsij) erkläre sich nur im Sinne eines prÕj tÕ tšloj.6 Es ist durchaus bemerkenswert, dass Johannes Damascenus mit diesen Ausführungen übrigens das Ende einer Willensauffassung in der griechischen Sprachentwicklung darstellt, die in den homerischen Epen umgekehrt ihren Ausgang davon genommen hatte, dass die qšlhsij ein ungeordnetes Streben ad hoc darstellt, die boulÁ dagegen das Ergebnis distanzierter Überlegung und, wie das Wort es bereits ausdrückt, innerer Beratschlagung, in der der Handelnde tatsächlich auf das aus ist, was er bedacht hat und nach innerem Rathalten erfüllen möchte.7 Nach geläufigen philosophischen Maßstäben hat man es in De fide orthodoxa also mit einer markant „intellektualistischen“ Willensauffassung zu tun. Tatsächlich werden qšlhsij und boÚlhsij beide als Strebensweisen der Vernunft angesehen, als Ôrexij logik», und zudem behauptet Damascenus, von den nichtrationalen Seelenkräften (dÚnameij tÁj yucÁj) würden nur die unwillkürlich vital erhaltenden oder vegetativen nicht oder nicht vollends im Griff der Vernunft sein, weshalb man zum Beispiel den Schlagreiz-Reflex am Knie oder den Verdauungsvorgang nicht willentlich vollführen oder gar abstellen kann; alle übrigen ¥loga jedoch, und das sind solche des Begehrens und Aufbegehrens (des concupiscibile und des

, wie die lateinische Tradition sagt), gehorchen der Vernunft in bestimmten Graden. Was unter den ¥loga auf die Vernunft hört, lässt sich somit den beiden Großbereichen des Thymotischen und Epithymetischen zuweisen: tÕ kat»koon lÒgJ diaire‹tai e„j qumÕn kaˆ ™piqum…an (928 C). Damit ist die Argumentation bei den Leidenschaften und Trieben angelangt. Diese Leidenschaften sind folglich – im Gegensatz zum Willen als qšlhsij – zunächst einmal als wesensverfehlend, als nicht wesensgemäß einzustufen, und zwar deswegen, weil sie offenbar keine genuinen Potenzen des logistikÒn darstellen: p£qoj ™sti k…nhsij ¥logoj tÁj yucÁj, und: p£qoj dš par¦ fÚsin (941 A). Das gilt

irascibile

also zumindest für den Menschen (womöglich dann auch noch für reine Geistwesen), denn dessen Wesen hat in der Vernunftmaßgabe sein definiens. 8

6

7

8

Vgl. ADELMANN, Frederick J., The Theory of Will in St. John Damascene, 24, mit entsprechenden bibliographischen Weiterverweisen. Vgl. dazu MANNSPERGER, Brigitte/MANNSPERGER, Dietrich, Homer verstehen, Darmstadt 2006, 171. Deshalb ist par¦ fÚsin als „wesensverfehlend“ richtig übersetzt, und zwar mit Geltung für das Vernunftwesen Mensch, nicht aber als generell „naturwidrig“, denn für vernunftlose Tiere zum Beispiel sind die Leidenschaften ihres Lebensprinzips „Seele“ ganz natürlich existenzleitend. Das setzt aber Heteronomie voraus, das so geführte Leben ist nicht selbstbestimmt wie das des aÙtexoÚsioj Mensch. (Zur grammatischen Auflösung des par¦

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Christian Schäfer

Deswegen ist der Mensch auch sein eigener Herr, er ist aÙtexoÚsioj, wie Johannes Damascenus schreibt. Denn der Mensch ist frei gegenüber den nicht der planenden Vernunft verdankten Impulsen, den ¥loga, und der Wille steht in Funktion des Logos. Zwei Punkte scheinen also vorläufig und soweit aus den Grundzügen der Willenslehre abzusehen die Auffassung von den Leidenschaften und der planenden Vernunft in De fide orthodoxa zu kennzeichnen: Zum einen der Akzent darauf, dass die Leidenschaften (wie die Triebe) dem Wesentlichen des Menschseins fremd oder widerständig sind, zum anderen, dass sie dadurch dem vernünftigen Streben gegenüberstehend von diesem auch vernünftig beherrscht werden können. Das mutet recht stoisch an und ist es der Filiation 9 nach wohl auch. Doch ist auffällig, dass das alles in der Fassung, die Johan-

nes Damascenus dem Ganzen gibt, offenbar zwar einerseits den Pessimismus des Maximus Confessor aufgreift,10 der dazu tendiert, die Leidenschaften als (pädagogische) Strafe des ,postlapsalen‘ Menschen anzusehen und in seiner Leidenschaftslehre davor warnt, jede ¹don» sei nur der Beginn einer neuen fÚsin vgl. DOBLER, Emil, Zwei syrische Quellen der Theologischen Summa des Thomas

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von Aquin, Freiburg/CH 2000, 325). – Grundlage der Terminologie des Johannes Damascenus ist hier weitgehend Aristoteles in der Nikomachischen Ethik 1102ab: Die ¥loga gehorchen der Vernunft wie ein Kind dem Vater etc. Weiteres dazu unten. Vgl. DOBLER, Emil, Zwei syrische Quellen der Theologischen Summa des Thomas von Aquin, 305 und 308: „Nach Zenon ist das Pathos eine unvernünftige und naturwidrige Be-

wegung der Seele [...]. Unvernünftig ist dies vor allem, weil das Pathos naturwidrig ist: es handelt gegen die Natur des Vernunftwesens, zu dessen Natur es gehört, dem Logos zu folgen und nach der Weisung und den Geboten des Logos zu handeln“. Maximus Confessor ist – neben der peripatetischen Lehrweitergabe bei Nemesios von Emesa – eine der Quellen für die aristotelischen Versatzstücke, die sich bei Johannes Damascenus finden lassen. Das gilt insbesondere auch für die Anthropologie, in der Johannes Damascenus den Bekenner ein ums andere Mal zitiert: vgl. den Referenzautoren-Index bei KOTTER, Bonifatius, Die Schriften des Johannes von Damaskos II: expositio fidei, 256. Dabei kommt Maximus zusätzlich eine wertvolle Vermittlerrolle zwischen Nemesios und Johannes Damascenus zu: vgl. DOBLER, Emil, Zwei syrische Quellen der Theologischen Summa des Thomas von Aquin, 25 und 284, sowie GAUTHIER, René Antoine, Saint Maxime le Confesseur et la psychologie de l’acte humain, Recherches de Théologie ancienne et médiévale 21 (1954), 51-100. Die aristotelischen Grundlagen bei Maximus selbst gehen dabei wohl zum großen Teil zurück auf Leontios von Byzanz und dessen aristotelisierende Deutungen theologischer Kontroversfragen: vgl. OTTO, Stephan, Person und Subsistenz. Die philosophische Anthropologie des Leontios von Byzanz, München 1968. Richtig bemerkt dazu Catherine Kavanagh: „None of these people were what one would now call Aristotelians. […] They were continuing and extending the process of Neoplatonic philosophy by adapting Aristotle to current doctrinal needs, in particular the clarification of Christian thought“ (KAVANAGH, Catherine, The Influence of Maximus the Confessor on Eriugena, American Catholic Philosophical Quarterly 79 (2005), 567-596, hier 569-570).

Johannes Damascenus und die Ökonomie der Leidenschaften

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ÑdÚnh,11 und das führe zu dem Teufelskreis, den spätere Denker als „Hasten von Begierde zu Begierde“ charakterisiert haben; andererseits ist Johannes Damascenus mit seinen anthropologischen Grundeinschätzungen aber gleichzeitig eine Quelle für die sehr optimistische Trieblehre des Thomas von Aquin und ihren Ansatzpunkt, dass der Wille in den vernunftlosen Leidenschaften positive Antriebsmomente findet und das vor allem deswegen, weil der Wille selbst eine Potenz der Vernunft darstellt.12

2. Eigenantrieb und Willensfreiheit Das nicht willentlich unter Vernunfteinsatz Vollführte (tÕ ¢kous…on)

geschieht nach Johannes Damascenus angesichts dieser Sachlage von differenziertem Willensbegriff und wesensverfehlender Leidenschaften entweder gezwungenermaßen (kat¦ b…an), das heißt: wenn uns eine Fremddeterminante anders handeln lässt als wir vernünftigerweise möchten (so gilt: ¢rc¾ œxwqšn ™stin). Diese Fremddeterminante kommt zwar von außen (œxwqen), ist also nicht, wie es für den Willen fundamental kennzeichnend ist, spontan aus uns heraus und damit ganz und unhintergehbar uns zuzuschreiben; dass sie „von außen“ ist, heißt aber nicht, dass sie sich nicht durchaus in uns finden könnte: sie ist ja œxwqen, nicht unbedingt œxw. So ist das instinktive Treiben der Tiere zwar heteronom verursacht und gesteuert, also eher ein Getriebenwerden (von der Gesamtnatur, dem ,Genomerhaltungsdruck‘ oder dergleichen mehr), findet sich jedoch in ihnen, ohne dass es gänzlich auf sie als einzelne zurückgeführt werden könnte. – Wie noch zu sehen sein wird, haben die Leidenschaften der Seele bei Damascenus einen anderen Status und sind nicht in dieser Weise heteronom zu erklären. Oder aber das Unwillentliche entsteht, so die einzige Alternative, die Johannes Damascenus nennt, aus Unkenntnis (di' ¥gnoian), womit er die Auslegungsvariante anlauten lässt, die in der heutigen akademischen Diskussion als „Sokratisches Paradox“ bekannt ist.13 Insbesondere scheint diese ¥gnoia aber die fehlen-

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So in Ad Thalassium, Prolog, PG 90, 254 D - 256 A und 258 C sowie 260 A-D, und Ad , Frage 43, PG 90, 412 D; im Griechischen der Zeit wird das wohl ein Wortspiel ergeben haben, da sich die beiden Wörter in der Aussprache ,idoni‘ und ,odini‘ nur durch ei-ne Vokalvertauschung unterschieden. Dazu DOBLER, Emil, Zwei syrische Quellen der Theologischen Summa des Thomas von Thalassium

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Aquin, 312. Über Nemesios und Johannes Damascenus als Quellen der Handlungstheorie bei Thomas vgl. auch SOUSA-LARA, Duarte, A especificação moral dos sctos humanos segundo são Tomás de Aquino, Rom 2008, 86-93 (mit zahlreichen gut ausgewählten Belegstellen). Also die „paradoxe“ Auffassung, dass niemand wissentlich Schlechtes tue, denn wenn er erkennte, dass es schlecht ist, täte er es ja nicht. Ein locus classicus dafür ist etwa Platons

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de Selbsterkenntnis zu bedeuten, das heißt eine Unwissenheit bezüglich der Rolle und Möglichkeiten der vernünftigen Strebenskräfte qšlhsij und boÚlhsij gegenüber den ¥loga. Damit „rettet“ Johannes Damascenus schließlich die moralische Anrechenbarkeit des Fehlers di' ¥gnoian, denn diese Anrechenbarkeit bleibt im sogenannten „Sokratischen Paradox“ eher fraglich. Ähnlich wie im Fall des kat¦ b…an bleibt eine Korrekturmöglichkeit des autonomen Vernunftwesens bestehen. Kat¦ b…an und di' ¥gnoian stellen nun im Text von De fide orthodoxa 953

BC offenbar ein vollständiges Entweder-Oder dar und viele Interpreten haben daraus geschlossen, es könne also keine Überwältigung der Ôrexij logik» bei Johannes Damascenus geben, denn die fiele weder unter das Phänomen der Fremddeterminante noch unter das des Handelns aus Unkenntnis.14 Das scheint auf den ersten Blick plausibel, lässt sich aber angesichts anderer Textabschnitte von De fide orthodoxa nicht halten. Deswegen noch ein paar Worte dazu: Die eben skizzenhaft angerissene Willensdiskussion in De fide orthodoxa 924 A beginnt mit der Feststellung des Johannes Damascenus, dass Gott den Menschen mit freiem Willen begabt (qšlhsei aÙtexoÚsioj) geschaffen hat. Und der Text setzt unmittelbar hinzu: Mit Gottes Gnade (tÍ qe…v c£riti) vermöge es der so geschaffene Mensch, im Guten zu verbleiben. Aber wozu bedarf es eigentlich der Gnade Gottes, wenn der freie Mensch dank des Vermögens (so ist ™xous…a hier aufzufassen15) seiner qšlhsij konstant auf seine ontologische Normvorgabe

ausgerichtet ist und nur aufgrund äußeren Zwangs oder durch Unkenntnis von ihr abweicht, zweier Momente mithin, die nicht in den Bereich des Lobenswerten oder Tadelnswerten fallen, also nicht in den Bereich des ethisch Anrechenbaren? Die richtige Antwort darauf hat wohl Michael Frede gegeben: Der Mensch ist im wesensgemäßen Naturzustand (ein protologischer Pleonasmus) auf Sündelosigkeit angelegt (ein ¢nam£rthtoj, sagt Johannes) er ist „als sündeloser gedacht“, doch kann er durchaus schuldig werden. Es geht also – wie in jeder ernstzunehmenden Diskussion freien Handelns – um die grundsätzliche Anlage, nicht

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15

Menon 77c-87b, aber auch andere platonische Dialogpassagen wie Apologie 37a, Lysis 16c-220b, Protagoras 345d-e, Gorgias 499c oder Politeia 412e-413a spielen mit diesem Gedanken. Auch diese Auffassung hat eine lange Diskussionstradition in der Patristik. Als Beispiel sei einmal mehr Maximus Confessor genannt im Prolog zu Ad Thalassium, PG 90, 258 A - 262 C. Etwa FREDE, Michael, John of Damascus on Human Action, the Will, and Human Freedom, 93-94. Die ™xous…a tritt damit bei Johannes Damascenus systematisch ziemlich genau an die Stelle, die bei Dionysius Areopagita das dÚnasqai der geistig begabten Geschöpfe innehat. Ich erlaube mir daher zur Interpretation dieses Lehrstücks weiterzuverweisen auf SCHÄFER, Christian, Unde Malum. Die Frage nach dem Woher des Bösen bei Plotin, Augustinus und Dionysius vom Areopag, Würzburg 2002, 445-448.

Johannes Damascenus und die Ökonomie der Leidenschaften

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um die jeweilige Vollzugswirklichkeit. Der Mensch kann demnach die Vernunft missbrauchen oder missachten und damit auch den vernunftgemäßen Willen irre gehen lassen, die Verderbnis seiner Natur ist dann eigentlich das Korrelat einer missbrauchten qšlhsij.16 Somit wird das oben bereits angeführte Problem der

Anrechenbarkeit auch in seinen ontologischen Voraussetzungen richtig begriffen. Und somit ist auch das Feld für die Diskussion der Leidenschaften bei Johannes Damascenus in Vorbereitung auf das Kommende schon einmal abgesteckt: Der Mensch ist in diesem Sinne der grundsätzlichen Anlage gegenüber den Impulsen, die als ¥loga verbucht werden, frei, doch wirft die Vollzugswirklichkeit demgegenüber neue Fragen danach auf, wie sich diese Anlage durchsetzen kann. Das alles betrifft zunächst immer noch eher den bösen Willen als das Problem der Leidenschaften in ihrem Widerspiel mit der Ôrexij logik». Wie bei anderen patristischen Denkern tritt auch bei Johannes von Damaskus im Kraftfeld theologischer Grundsatzdiskussionen und platonisierender Normontologie das Interesse an Fragen der Durchführungs- oder Durchhalteschwäche des Willensvorsatzes und der punktuell ansetzenden Stärke der Leidenschaften gegenüber dem theologisch bewandtnisreicheren Problem des (zumeist ganz und gar nicht schwachen) bösen Willens zurück und verbleibt lange im Hintergrund. 3. Die Leidenschaften der Seele

Erst kurz vor Abschluss seines Willenstraktats, und auf den ersten Blick fast schon eher wie eine Nachreichung dazu, findet sich bei Johannes Damascenus in ein Hinweis auf die Schwäche des Willens gegenüber den Leidenschaften (956 AB). Tiere (beziehungsweise Kinder) verfügen nicht (beziehungsweise noch nicht ausgebildet, sondern erst anlagemäßig) über den Vernunftgebrauch, hebt das Argument dort an, und das habe zur Folge, dass sie zwar innerhalb der ihnen gegebenen natürlichen Parameter aus ungezwungenem Eigenantrieb etwas tun, aber nicht aus Überlegung handeln: [¥loga] ˜kous…wj De fide orthodoxa

poie‹, oÙ m¾n de kaˆ proairoÚmena. Das ˜kous…on, das aus Eigenantrieb Vollführte, ist eben nicht schlichtweg mit dem aÙtexoÚsion, dem Selbstbestimmten, zu identifizieren. Man könnte zunächst meinen, dass an dieser Stelle lediglich der basale Unterschied zwischen Handlungsfreiheit und Willensfreiheit zum Thema wird. Johannes von Damaskus geht aber in dem, was er anschließt, wesentlich weiter: Das sei genauso, fährt er nämlich fort, wie wenn wir als vernünftige Wesen etwas di¦ qumÒn tun, aus einer Leidenschaft des Aufbegehrens heraus also, und dabei nicht nachdenken (m¾ probouleus£menoi), das heißt zugestandener-

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Vgl. FREDE, Michael, John of Damascus on Human Action, the Will, and Human Freedom, 88-89.

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maßen aus freien Stücken (˜kous…wj), aber eben nicht aus eigener Überlegungsentscheidung (kat¦ proa…resin) handeln. Und schließlich setzt er noch die Aussage hinzu: Dass unsere Handlung dann di¦ qumÒn geschieht und nicht unserer Wahl entspricht, sei so zu verstehen, wie wir ja auch bereitwillig zustimmen, wenn wir beim Graben auf einem Acker ohne es geplant zu haben auf einen Schatz stoßen (˜kous…wj men ¹m‹n)17, und zwar weil es uns zur Lust und Freude

gereicht (di¦ tÕ ™p' aÙto‹j ¼desqai), doch haben wir uns das ja wahrlich nicht gewählt, und zwar weil es nicht aus Überlegung oder planungsgemäß geschah (diÒti oÙk ¢pÕ boulÁj). Der Eigenantrieb, über den Tiere und Kinder verfügen und der sie leitet, ohne dass sie ihn verständig fassend selbst in der Hand hätten, spielt auf die Leidenschaften der Seele in einer ihrer Funktionen an. Der Seele hier nämlich zunächst verstanden als Belebungsprinzip, nicht als Geistprinzip, denn dieses ist ja das Prinzip der Selbstbestimmung, des aÙtexoÚsion. Für Tiere ist dieser Eigenantrieb, der ungezwungen erscheint und gleichwohl seinen letzten Ursprung nicht im Handelnden hat, sondern auf ein Erklärprinzip außerhalb, auf eine ¢rc¾ œxwqen verweist, auch das Prinzip der Einfindung in ihre o„ke…a fÚsij, in ihre arteigene Vollendungsgestalt, in das, was „von Haus aus“ ihr Wesen ausmacht. – Somit ist übrigens die unbewusste Aneignung der übergeordneten Gesamtvernunft oder Natur die Grundlage für das den Tieren eigene Treiben in vollkommener Übereinstimmung mit dem Trieb, den die Natur von außen (œxwqen) vorgibt. Das stoische Grundmuster der Oikeiosis, das Johannes Damascenus durch die Vermittlung stoischen Gedankenguts bei Nemesios weiterträgt, schlägt hier spürbar durch. Leidenschaften sind bei Johannes Damascenus also auf dieser natürlichen Stufe hinreichende Antriebsprinzipien, um der eigenen Wesensanlage als Lebewesen bestmöglich nachzukommen. Was die Leidenschaften hier leisten, geschieht nicht ¢pÕ boulÁj, nicht aus überlegtem Willensentschluss des Lebewesens selbst. Das unpersönlich gebrauchte „geschehen“ ist hier nicht zufällig gewählt: Was nicht willentlich geschieht, geschieht eher mit uns als dass wir es geschehen lassen, von Handlung im qualifizierten Sinne kann da kaum die Rede sein, also etwa in dem Sinne, in dem man von „ethisch handeln“ spricht. Das Lebewesen, so sagt Johannes Damascenus, ist in diesem Fall nicht qšlhsei aÙtexoÚsioj, also nicht sein eigener Herr aufgrund der Willensbegabtheit als Vernunftwesen. Daher die Formel p£qoj ™sti k…nhsij ¥logoj tÁj yucÁj: Eine Leidenschaft ist eine vernunftlose Bewegung der Seele.

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Das Erfreuliche ist das, was wir freiwillig tun, liber quia libenter, heißt es bei Francisco Suárez (vgl. dazu die Ausführungen von CASTELLOTE CUBELLS, Salvador, Die Anthropologie des Suárez, Freiburg i.Br./München 1962, 177, mit den entsprechenden Belegstellen aus den Disputationes metaphysicae von Suárez, insbesondere aus Quaestio 19).

Johannes Damascenus und die Ökonomie der Leidenschaften

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Nichts sonst bei Johannes Damascenus scheint der philosophischen Vorstellung akratischen Handelns oder der punktuellen Willensüberwältigung durch die Unmittelbarkeit der Leidenschaftsaufwallung näher zu kommen als dieses in recht bildhafte Sprache und in ein gesucht neutestamentliches Beispiel (Mt 13,44) gefasste Szenario des qumÒj, der uns handeln lässt, ohne dass wir unserer natürlichen Willensdisposition (qšlhsij) entsprechend die Überlegung, boulÁ, als überlegenen Wollensakt, boÚlhsij, zur Ausführung kommen lassen. Wir tun es, weil es einem Eigenantrieb entwächst, der uns im Einzelfall willkommen ist (˜kous…wj ¹m‹n) und uns Vergnügen (¹don») verschafft, doch muss das gegenüber der konstanten Willensausrichtung im Sinne der qšlhsij eben auch ein Einzelfall im Sinne von zufällig, isoliert und punktuell bleiben. Sie kann dieser sogar entgegenlaufen, indem die Unmittelbarkeit und immanente Gegenwärtigkeit eines konkreten Einzelfalls, einer bestimmten Vorstellung (auch über Zukünftiges), oder der inneren Regung die Maßgaben der qšlhsij für die Dauer dieser unmittelbaren Präsenz ausblendet. Was hinter dieser Auffassung steht, ist zweifelsohne die Lehre, dass Positives einen logischen Primärstatus innehat, während Schlechtes stets sekundär zu denken ist, wie denn alles, was schadet, etwas Positives voraussetzt, dem es schaden kann. Wie Dionysius Areopagita schreibt, stammt „das Gute aus einer einzigen und aus der totalen Ursache (™k mi©j kaˆ tÁj Ólhj a„t…aj), das Böse indessen aus vielen und teilweise vorhandenen Defekten (™k pollîn kaˆ merikîn ™lle…yewn)“ (De divinis nominibus PG 3, 729 C). Ähnlich hier bei Johannes Damascenus: die qšlhsij ist ein einheitlicher Konstanzfaktor für menschliches Handeln und menschliche Selbstdefinition und als deren Horizont lebensumgreifend, die Leidenschaften dagegen als ¥loga wirken vielfältig punktuell und einbruchartig, sind jedoch anders als die qšlhsij in der Lebensanlage vernunftbegabter Wesen nicht tauglich zur wesensgemäßen Existenzführung. Man ersieht hier auch bereits, was sich später noch über den Status der Leidenschaften konkretisierend feststellen lassen wird. Das ¥-logon ist, so zeigt es das alpha privativum an, eher als die punktuelle Verneinung eines für das menschliche Leben umgreifend Primären, nämlich der (in der qšlhsij fassbaren) Vernunftmaßgabe, zu deuten, und nicht als ein Absprechen alles Vernunfthaften schlechthin.18 4. Das Fallbeispiel der Lustlehre Das bisher Gesagte lässt sich nun recht gut mit der Lehre von den Lüsten oder Vergnügungsempfindungen (¹dona…) belegen, die Johannes Damascenus in De 18

So konnte es Johannes Damascenus auch in der Lehre des Dionysius über den qumÒj finden: etwa in De divinis nominibus, PG 3, 720 C und 728 B.

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Christian Schäfer

929 B - 932 A vorlegt, ein Lehrstück, das sich als geradezu paradigmatisch, also tatsächlich wie ein Deklinationsmuster, für die Auffassung von den p£qh bei Johannes Damascenus insgesamt behandeln lässt. Als ein solches Deklinationsmuster soll diese Lehre im Nachstehenden auch behandelt werden. Die ¹dona… werden von Johannes Damascenus als eine bestimmte Art von p£qoj definiert, nämlich als ein p£qoj, das dem epithymetischen gleicht. Und zwar darin, dass beide ihre Ausrichtung auf Gutes haben, das heißt: das ¢gaqÒn als ihr Materialobjekt haben – anders als etwa Furcht und Angst, die sich durch die negative Bezugnahme auf gegenwärtiges oder zu erwartendes Schlechtes als Materialobjekt definieren. Diese Aufteilung nach dem Materialobjekt lässt sich, so sieht man daran, selbst noch einmal nach dem Aspekt der (gleichermaßen zeitlichen oder räumlichen) Unmittelbarkeit unterteilen, und diese Differenzierung ergibt dann auch die Definition der ¹don»: Diese nämlich sei ein Streben, näherhin eine k…nhsij ¥logoj, das auf Gegenwärtiges gerichtet ist. Dagegen ist die fide orthodoxa

™piqum…a ein sich Bewegen auf Nichtgegenwärtiges, meist auf das in der Vorstellung vorentworfene Gute (prosdokèmenon ¢gaqÒn): so De fide orthodoxa 929 B.19 Und da das Nichtgegenwärtige im Gegenwärtigen seinen notwendigen Vor-

gänger hat, gilt das im Anschluss über die ¹dona… Gesagte mutatis mutandis auch von der ™piqum…a. (Generell ist auffällig, dass ¹don» und ™piqum…a von Johannes Damascenus dem Eindruck beim Lesen nach gewissermaßen synekdochetisch verwendet werden können, je nach Hinsichtnahme die eine als Einschlussbegriff der anderen oder umgekehrt.) Johannes Damascenus folgt in dieser Aufteilung nach den Kriterien von zweifachem Objekt und dessen Gegenwärtigkeit oder Zukünftigkeit dem sogenannten stoischen Tetrachord der vier Affektgattungen von Trauer (oder Unlust), Freude (oder Lust), Furcht und Begierde.20 Der Interpretation wird diese Quellenlage noch sattsam Sorgen bereiten. Doch zunächst geht Johannes Damascenus auf der genannten Grundlage noch weiter und schert sogleich aus dem vorgegebenen Raster des stoischen Tetrachords aus: So spricht er in 929 B davon, es gebe ¹dona… alDe fide orthodoxa

lein der Seele, die das Lustempfinden der reinen Kontemplation und der Erkenntnis bezeichnen – an späterer Stelle (De fide orthodoxa 929 C) wird noch hinzugefügt, diese Lüste, die sich auf die diano…a bezögen, orientierten sich an Dingen der ™pist»mh und der qewr…a; sodann gebe es noch weitere ¹dona…, die gleich19

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Hierin folgt Johannes Damascenus ganz den anthropologischen Vorgaben bei Nemesios von Emesa. Ein Überblicksschema dieser Einteilung der verschiedenen Formen des p£qoj bei Nemesios mit der Beschreibung ihrer jeweiligen Provenienz aus stoischen, aristotelischen und platonischen Quellen bietet DOBLER, Emil, Zwei syrische Quellen der Theologischen Summa des Thomas von Aquin, 296. Vgl. dazu DOBLER, Emil, Zwei syrische Quellen der Theologischen Summa des Thomas von Aquin, 308-311.

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ermaßen Leidenschaften der Seele und des Leibes sind und zu denen etwa die Lust in Nahrungsaufnahme und Liebesdingen zählt – sie werden mitunter verkürzt auch schlicht als leibliche Lüste bezeichnet21 (und auch hierzu wird in 929 C angefügt: diese lassen sich dadurch identifizieren, dass sie sich an sinnlich wahrnehmbaren Dingen, kat' a‡sqhsin, ausrichten); rein körperliche Lüste hin-

gegen gebe es gar nicht. Lust taucht also nur im Zusammenhang mit der Seele auf, entweder wenn sie als geistiges Prinzip (mit Ausrichtung auf diano…a und qewr…a) betrachtet wird oder als Lebensprinzip (mit Ausrichtung auf die a‡sqhsij). Interessant erscheint hier insbesondere der Gedanke, dass also eine ¹don», obwohl selbst eine k…nhsij ¥logoj tÁj yucÁj und ein p£qoj par¦ fÚsin, dennoch ihren eigenen Beitrag zur wesensgemäßen geistigen Tätigkeit leistet, deren katastematische Erfüllung sie sinnvoll stimulierend anzeigt – was der stoischen Leidenschaftslehre gänzlich entgegensteht. Ähnlich betont Maximus Confessor trotz seiner Warnung, dass jede Lust auch als eine neue damit einhergehende Lustfrustration anzusehen ist, dass es in den p£qh einen positiven Sinn des mystischen Transports gibt und eine positive Erfahrung der leidenschaftlichen Bewegung hin zu Gott (so im neunten Ambiguum, PG 91, 1073 B). 5. Die Lustlehre zwischen Aristoteles und Epikur Johannes Damascenus ererbt die Grundlagen für diese Konstellation von Aristoteles, der in der Seelenlehre seiner Nikomachischen Ethik (1102ab22) auf den ersten Blick verwirrend, aber doch konsequent, das ¥logon eigentlich als eine Spielart des Vernünftigen selbst darstellt und damit das ¥logon als das Vernunftwiderständige vom gänzlich Unvernünftigen oder Vernunftentbehrenden trennt (1102b-1103a).23 Der Grundgedanke ist (wie bereits oben angedeutet), dass das, was dem Vernünftigen Widerstand zu leisten vermag und mit ihm in aktive Konkurrenz treten kann, eine gewisse Ebenengleichheit mit dem Vernünftigen aufweisen muss und nicht als bar jeden Vernünftigkeitsanspruchs angesehen wer21

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Eine ähnliche Grundeinteilung in „seelisch“ und „seelisch-leiblich“ hatten andere Philosophenschulen auch, wie sich etwa aus der stoischen Askese-Lehre ergibt: vgl. HADOT, Pierre, Wege zur Weisheit, Berlin 1999, 219 f. Eine durchaus hilfreiche Synopse der rationalen und irrationalen Seelenvermögen gemäß Nikomachische Ethik 1102ab bietet DOBLER, Emil, Zwei syrische Quellen der Theologischen Summa des Thomas von Aquin, 293-295. Diese ambivalente Theorie des „rational Irrationalen“ (in) der Seele bleibt in der antiken Philosophie und auch jenseits des Peripatos ein Hauptproblem der Seelenlehre. Vgl. als Be, in: leg die differenzierten Ausführungen bei OPSOMER, Jan, Perkams, Matthias/Piccione, Rosa Maria (eds.), Proklos. Methode, Seelenlehre, Metaphysik, Leiden/Boston/Köln 2006, 136-166. Was sind irrationale Seelen?

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den sollte. Und so erwägt Aristoteles auch kurz, ob es nicht richtiger wäre, das ¥logon eigentlicher unter das lÒgon œcon einzurechnen und von zwei Vernunftvermögen zu sprechen, einem hauptsächlichen und in sich selbst vernünftigen, und einem, dessen Vernünftigkeit darin besteht, sich ganz natürlich an der Vernunft orientieren zu können wie ein Kind an seinem Vater (1103a). So definiert, löst sich die seltsame Begriffsverwendung von ¥logon weitgehend auf und wird zu einer im Grunde unanstößigen sprachlichen Kuriosität, ähnlich der, dass man im Deutschen etwa das Wort „Tag“ verwenden kann, um einen Zeitraum von vierundzwanzig Stunden zu bezeichnen, die Nachtstunden dabei also mitrechnet, gleichzeitig aber dasselbe Wort „Tag“ auch als Gegensatz zu „Nacht“ gebrauchen kann.24 Die Lehre vom affectus rationalis, das heißt von der dem Vernunftplanen

entsprechenden Leidenschaft, konnte in folgenden Jahrhunderten auf den so getroffenen Überlegungen der Nikomachischen Ethik aufbauen.25 Jedenfalls aber erfüllt auch bei Aristoteles die ¹don» eine moralisch lebensleitende Aufgabe und zeigt etwas Richtiges an: Nämlich die Vollendung einer Tätigkeit (teleio‹ t¾n ™nšrgeian ¹ ¹don»; Nikomachische Ethik 1174b, ähnlich 1175a).26 Es braucht dabei an dieser Stelle noch nicht zu kümmern, dass es bei Aris-

toteles auch andere und damit schwer vereinbare Aussagen über die ¹don» gibt, die man heute gerne verschiedenen Überarbeitungsphasen des aristotelischen Textes zuschreiben möchte. Für die Tradition jedenfalls bedeutete die positive Anzeigefunktion der Lüste und ihre damit einhergehende positive Charakterisierung eine Herausforderung. Auch Thomas von Aquin folgt der eben genannten Einschätzung der ¹don» bei Aristoteles. Darüber hinaus ist er in für ihn fragloser Übereinstimmung mit seiner aristotelischen Vorlage grundsätzlich der Auffassung, dass alle Leidenschaften natürliche Grundlagenmittel der Lebensführung darstellen und als Dynamos des Lebens innerhalb sinnvoller Parameter gutzuheißen sind.27 Der Terminus „katastematisch“ in Bezug auf die rein seelische ¹don» war vorher bei der Betrachtung der ¥loga bei Johannes Damascenus jedoch nicht 24

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Nur so lassen sich Peinlichkeiten vermeiden wie diejenige, welche sich angeblich ein argentinischer Präsidentschaftskandidat geleistet hat mit dem sonderbaren Wahlversprechen: „Ich werde vierundzwanzig Stunden am Tag für mein Land arbeiten und wenn es sein muss dazu auch noch nachts“. So schreibt DOBLER, Emil, Zwei syrische Quellen der Theologischen Summa des Thomas von Aquin, 296, ganz richtig, bei Aristoteles sei auch der Bereich der ¥loga „für die Vernunft offen, zugänglich, ansprechbar und gehorsam. Das bedeutet doch wohl, dass selbst dieser irrationale Bereich doch irgendwie noch rational strukturiert sein muss, sonst könnte er auf die Frage und den Anspruch der Vernunft nicht Antwort geben“. Vgl. RICKEN, Friedo, Wert und Wesen der Lust, in: Höffe, Ottfried (ed.), Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995, 207-228, hier 225. Vgl. dazu DOBLER, Emil, Zwei syrische Quellen der Theologischen Summa des Thomas von Aquin, 312-314.

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zufällig so gewählt worden, denn in diesem spezifischen Lehrstück ist es nicht die aristotelische Tradition, die in De fide orthodoxa den Ausschlag zu geben scheint: Tatsächlich legt Johannes Damascenus hier eine Einteilung der ¹dona… vor, die er wohl von Nemesios von Emesa (De natura hominis Kapitel 18, PG 40, 677 B -

680 B) und Johannes28 Chrysostomos ( zum Johannesevangelium, PG 59, 403) übernimmt. Was darauf abgestimmt ist und im Text folgt, hat allerdings ältere Wurzeln, wie auch dem Editor des entsprechenden Bandes der aufgefallen ist.29 Denn die modellhafte Schematisierung des rechten Umgangs mit den ¹dona… (modellhaft in Hinsicht auf das Epithymetische in seiPredigt 74

Patro-

logia Graeca

ner Gesamtheit), wie sie bei Johannes Damascenus vorliegt, geht sehr deutlich zurück auf epikureische Hauptlehren – oder jedenfalls entspricht sie ihnen frappant.30 Deren Grundlage ist die Unterscheidung von kinetischen und katastematischen Lüsten (oder Begierden31), also von solchen Lustempfindungen, die unruhestiftend aus Begehrlichkeit nach in Vorstellung oder anschaulich greifbar Gegenwärtigem, aber noch Unerreichtem, auf ein Ziel hin bewegen, und solchen, deren ganz andere Lusthaftigkeit daraus entspringt, dass das Ziel erreicht und damit jede Beunruhigung eliminiert ist. Bekanntlich stehen bei Epikur die kinetischen ¹dona… dabei anzeigend und verweisend im Dienst der katastematischen, in denen allein das Glück liegt. Diese Unterscheidung baut der Text von De fide

tatsächlich im Rückgriff auf die im Vorfeld bereits entworfene Intellektlehre des Johannes von Damaskus nach. Besagt diese doch, dass in der geistigen Tätigkeit das Eigentliche des Menschseins liegt – und damit auch die eigentliche ,katastematische‘ Erfüllung, vor allem in der qewr…a, nämlich insbesondere in der Anschauung Gottes, in der alles Streben zur Ruhe kommt. Hier nähert sich das Vernunftwesen in seiner vollkommenen Vernunfttätigkeit seiner eigenen Wesensbestimmung, seiner o„ke…a fÚsij, und erfüllt sie bestenfalls ganz. Auch dieser Gedanke findet sich bereits in der Tradition, aus der Johannes Damascenus schöpft, wofür unter vielen anderen wieder einmal Maximus Confessor als Beleg dienen kann, der von der Unmöglichkeit einer Übersättigung in der Anschauung Gottes spricht und von der kontemplativen Freude, die jede denkbare Befriedigung übersteigt (neuntes , PG 91, 1089 A-D). orthodoxa

Ambiguum

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31

Dazu DOBLER, Emil, Zwei syrische Quellen der Theologischen Summe des Thomas von

Aquin, 56 et passim. Vgl. Anmerkung 81 zu PG 94, 924 C. Zur Vermittlung des epikureischen Lehrstücks durch Nemesios von Emesa vgl. DOBLER, Emil, Zwei syrische Quellen der Theologischen Summa des Thomas von Aquin, 346. Die Patrologia Graeca nennt an besagter Stelle Ciceros De finibus I 13,45; Epikur selbst hat diese schematische Einteilung vorentworfen im 127. Im 127 spricht Epikur tatsächlich von ™piqum…ai, nicht von ¹dona…. Doch ähnlich wie bei Johannes Damascenus konvergieren die kinetischen ¹dona… Epikurs ja mit den Begierden.

Brief an Menoikeus

Brief an Menoikeus

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Thematisch nähert sich der katastematische Lustbegriff hierin der aristotelischen Lustauffassung in der Nikomachischen Ethik (so 1175a). In der Anzeigefunktion der kinetischen ¹dona… für die erfüllende katastematische Lust sah Johannes Damascenus mit seinen Quellenautoren aber auch die Möglichkeit, diesen epikureischen Ansatz in der Lustlehre mit dem aristotelischen der Anzeigefunktion der ¹dona… für das Glück als Erfüllung allen Handelns zu verbinden und weitgehend zu harmonisieren, wobei gleichzeitig die aristotelische Vorgabe von der höchsten Erfüllung in der qewr…a mit eingebracht wird. Man darf aber auch nicht vergessen, dass diese aristotelische Lehre von der letzten Aufgehobenheit in der Kontemplation relativ widerstandslos in eine Tradition einmündete, die als „die“ Philosophie den Hintergrund jeder wissenschaftlichen Diskussion der ersten nachchristlichen Jahrhunderte bildete und auch bei Johannes Damascenus wie selbstverständlich den tragenden Untergrund für die Aufnahme aller 32anderen philosophischen Lehrstücke darstellt: die Tradition des Neuplatonismus. Dieser war zu Zeiten der Kirchenväter über den engeren Status einer „Schule“ im hellenistischen Sinne weit hinausgewachsen und zu einer allgemeinen philosophischen und gesamtwissenschaftlichen Ausdrucksform geworden.33 Hier war Johannes Damascenus das Modell vorgegeben, wie sich der Mensch auf der bewegenden Woge der leiblich-seelischen Leidenschaften bis zur Beruhigung der Leidenschaften in der Kontemplation emporzuschwingen vermag. Vorbild ist die Vorstellung von der „platonischen“ Liebe aus dem Symposion, die bewegend vom letztlich stets unerfüllten körperlichen Drang bis zur erfüllten Liebe des Geistigen wirkt und somit eine Art Muster etabliert, das man wohl mutatis mutandis als das von kinetischer und katastematischer Liebe bezeichnen konnte und dem Johannes Damascenus zu folgen vermochte. Und hier war ihm auch der Pfad gewiesen, wie in der Ökonomie der Leidenschaften eine Askese, die „ebenso streng ist wie bei den Stoikern“, genau dieser emporhebenden Funktion der Leidenschaften entsprechen kann und wie doch gleichzeitig „das kontemplative Leben [...] ein asketisches Leben [impliziert], das aber auch für sich genommen einen Wert hat“.34 Die epikureische Handschrift im vielschichtigen philosophischen Palimpsest des Damascenus-Textes, um vor diesem Hintergrund also auf diese zurückzukommen, scheint nun aber insbesondere in einer nochmaligen Differenzierung der kinetischen Lüste durch, die Johannes Damascenus vornimmt, das heißt in seiner Darstellung der leiblichen ¹dona…. Dadurch unterscheidet sich die Anthropologie des Damaszenen ja ganz akzentuiert von der epikureischen, dass sie den Men32 33

34

Vgl. dazu HADOT, Pierre, Wege zur Weisheit, 185-190. Vgl. SCHÄFER, Christian, The Philosophy of Dionysius the Areopagite, Leiden/Boston 2006, 4-7. HADOT, Pierre, Wege zur Weisheit, 186.

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schen nicht als rein und bloß körperliches Wesen begreift und somit die körperlichen kinetischen Lüste in eine wesensausfüllende (immer noch körperliche) katastematische Lust übergehen lassen könnte. In De fide orthodoxa 929 C - 932 A unterscheidet Johannes Damascenus aber jedenfalls, und auch das ist im Grundmuster noch ,gut epikureisch‘, die ¹dona… in (a) natürliche und zum Leben notwendige (fusikaˆ, ¤ma kaˆ ¢nagka‹ai), (b) weder natürliche noch notwendige (oÜte ¢nagka‹ai, oÜte fusika…), und schließlich (c) natürliche nichtnotwendige leibliche (fusikaˆ mšn, oÙk ¢nagka‹ai dš). Epikurs entsprechende Lehrvorgabe im handelt von (a) ™piqum…ai fusikaˆ kaˆ ¢nagka‹ai, (b) ™piqum…ai kena… (also „leeren“, „nichtigen“ Begierden), und (c) ™piqum…ai fusikaˆ mÒnon, der Epikureer Torquatus bei Cicero ( I 13,45) und Cicero selbst in seiner Entgegnung darauf sprechen von (a) , (b) und (c) . Für Johannes Damascenus ergibt sich aus dieser Einteilung eine Werteskala für den menschlichen Willenseinsatz gegenüber den somit festgestellten kinetischen Lustbereichen: Den ¹dona…, die natürlich und zum Leben notwendig sind (wie Sättigung von Hunger), kann und soll man in der Deutung des Johannes Damascenus stets nachkommen, denen, die weder natürlich sind noch notwendig dagegen nie – etwa Glücksspiel, Luxusleben oder Selbstbetäubung in Trunk und Rausch ( 931 A). Das findet man auch bei den Epikureern zumindest ähnlich. Dazwischen gibt es für Johannes Damascenus natürliche nichtnotwendige ¹dona…, wie etwa die kat¦ fÚsin m…xeij, also die Liebesdinge in ihrer natürlichen oder wesensgemäßen Ausübung. Denen solle man immer met¦ toà pros»kontoj kairoà, kaˆ tropoà, kaˆ mštrou entsprechen, wenn also Zeitpunkt, Ort und Angemessenheit dafür gegeben sind.35 (Auch dem hätte ein Brief

an

Menoikeus

De finibus

cupidita-

tes naturales et necessariae

naturales nec tamen necessariae

non

naturales nec necessariae

De fide orthodoxa

Epikureer – ganz im Gegensatz zu einem Kyniker etwa – noch zustimmen können.) Denn diese ¹dona…, diese erfreulichen Empfindungen, seien, wie im genannten Beispiel, zwar eigentlich gut, zum Beispiel im Hinblick auf die Erhaltung des Menschengeschlechts oder im Hinblick auf die erfüllenden Freuden des Familienlebens, und gehören so betrachtet durchaus zum Wesensgemäßen des Menschen (De fide orthodoxa 931 A). Sie seien jedoch leicht durch falsche Einordnung zu missbrauchen und nicht in jedem Einzelfall für jeden Menschen notwendig (zu denken ist an Keuschheitsgelübde und ähnliche Fälle). Eine akratische Handlung etwa, wenn man sie bei Johannes von Damaskus so nennen darf, entspräche also wohl dem Fall einer zufälligen natürlichen, aber nichtnotwendigen ¹don», die eine Handlung aus Leidenschaft auslöst, ohne eine boulÁ, eine rat-

35

Ein schönes Lehrstück des (christlichen) Neuplatonismus, das ganz ähnlich auch bei Augustinus in seiner Rede von ordo, modus und species auftaucht: vgl. SCHÄFER, Christian, Augustine on Mode, Form, and Natural Order, Augustinian Studies 31 (2000), 59-77.

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schlagende Überlegung, über Angemessenheit, Ort und Zeit entscheiden und somit die richtige Wahl treffen zu lassen. Worauf die boulÁ jedoch zur Entscheidungsfindung schaut, ist nicht die Leidenschaft oder die Lust, sondern die qšlhsij, die ihr den Horizont der Entscheidung und des Strebens abgibt. Diese Paränese zur richtigen Kultivierung der ¹dona… bei Johannes Damascenus zeigt damit an zumindest einer entscheidenden Stelle einen deutlichen Unterschied zu dem epikureischen Lehrstück über die ¹dona…, dessen Aufteilungen sie

eigentlich folgt: Sind bei Epikur die „leeren“ Begierden als solche der Raffinesse gekennzeichnet, die Gefahr läuft, in einer Pleonexie-Falle zu enden (ähnlich wie es das Wortspiel um ¹don» und ÑdÚnh bei Maximus Confessor ausdrückt), und die natürlichen nichtnotwendigen als eher subjektiv vorliebenverdankt anzusehen, so sind doch die natürlichen notwendigen nicht bloß zur Lebenserhaltung und zum Wohlbefinden des Menschen geeignet, sondern, wie Epikur deutlich herausstreicht, notwendig, um das Glück zu erlangen, um die Existenz als ganze glücken zu lassen.36 Bei Johannes Damascenus ist das markant anders: Das Ganze der Existenz glücken zu lassen, vermag der Mensch nur dank der Einfindung in die o„ke…a fÚsij, in die Wesensbestimmung, die ihn „von Haus aus“ ausmacht. Diese Wesensbestimmung kommt von einer höheren Vernunft und will durch deren menschlich vernünftige Nachahmung erreicht sein (soweit hätte auch ein Stoiker wohl zugestimmt), durch eine Gottangleichung oder qeîsij, so könnte man sagen, zumindest aber wie bei Aristoteles damit, dass man die Lust als die Vollendung einer Tätigkeit dadurch erlangt, dass man die vollendete Tätigkeit Gottes nachahmt und somit die höchste und wahre Lust gewinnt. Es sind die Lüste, die sich auf die diano…a beziehen, sich an Dingen der ™pist»mh und der qewr…a, insbesondere in ihrer letztgültigen und höchsten Form der Anschauung Gottes, orientieren, und deren so ganz andere natürliche Notwendigkeit sich in einem Seelenleben erschließt, dessen Art dem Epikureismus stets fremd blieb. Schlussfolgerungen Trotz vieler noch offener Fragen und Probleme sei abschließend eine Bestandsaufnahme gewagt. Sie kann leider nur in überblicksartiger Zergliederung ausfallen: Die untersuchte Passage aus De fide orthodoxa zeigt, dass es Johannes von Damaskus (wie seiner Quelle Nemesios) gar nicht vordringlich darum geht, „eigenständiges Gedankengut zu bieten, sondern nur zu sammeln und zu ordnen, was andere vor ihm gedacht haben und was ihm des Aufhebens wert erschien“.37

36 37

Brief an Menoikeus 127: prÕj eÙdaimon…an e„sˆn ¢nagka‹ai. So die Einleitung zu KOTTER, Bonifatius, Die Schriften des Johannes von Damaskos II: expositio fidei, xxvii.

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– Das vorliegende Fazit wird sich insbesondere damit beschäftigen, wie dieses Ordnen im Hinblick auf die Vorgaben hellenistischer Philosophenschulen vor sich geht und welche Absichten und Methoden sich erkennen lassen, hierbei das Überkommene gewinnbringend „aufzuheben“. Denn außer Frage steht, dass das Werk des Johannes Damascenus insgesamt betrachtet „Sinn für Ordnung, Geschick in der Harmonisierung des meist so disparaten Stoffes und eine gut gelungene Tektonik“ aufweist,38 was zur Interpretation des anthropologischen Anliegens von De fide orthodoxa und der Leidenschaftslehre sehr ernst genommen werden muss. Für die Einordnung der Leidenschaften der Seele bei Johannes von Damaskus ergibt sich somit auf der Grundlage des bisher Gesagten folgendes Bild: Johannes Damascenus bedient sich für sein Unternehmen der Einteilung der Leidenschaften als Grundlage des sogenannten stoischen Tetrachords, um die

p£qh als Furcht, Trauer, Begierde und Lust zu qualifizieren. Dem entspricht auch seine Definition von p£qoj als k…nhsij ¥logoj tÁj yucÁj und als par¦ fÚsin in De fide orthodoxa 941 A. Damit läuft Johannes Damascenus jedoch gleichzeitig Gefahr, die grundsätzliche stoische Ablehnung der Leidenschaften mit anzunehmen, die ihm ähnlich auch von anderer Seite vorgegeben war, nämlich von Maximus Confessor, der die Leidenschaften offenbar vor allem als pädagogische Strafe für das falsche und stets versuchungsoffene Leben kat' a‡sqhsin gelten lassen will.39

Dabei baut Johannes Damascenus eigentlich vor allem auf (vielleicht neuplatonisch vermittelten) aristotelischen Vorgaben auf, genauso wie Nemesios, von dem er seine anthropologischen Grundlagen (zum großen Teil wortwörtlich) übernimmt. „Dieser stoische Tetrachord wird von Nemesios quasi als fremdes Element in die ursprüngliche Einteilung der Seelenkräfte und Vermögen nach Aristoteles eingeführt“, so sieht es ein Interpret, und weiter: Das stoische „Kukuksei in der aristotelischen Affektenlehre zeigt handgreiflich, dass da den Einteilungen der Passiones ganz verschiedene Gesichtspunkte zugrunde liegen,40 die in diesem Sinne nicht zur Übereinstimmung gebracht werden können“. Und doch möchte Johannes Damascenus in der Nachfolge des Nemesios seine aristotelischen Vorgaben unter Aufbietung verschiedenster interpretativer Mittel beibehalten, wofür er beträchtliche Anstrengungen nicht scheut. Das lässt sich recht gut am Fallbeispiel der Lustlehre beobachten. Johannes Damascenus beginnt damit, dass er feststellt, es gebe neben den körperbezogenen ¹dona… auch solche der Kontemplation und der Erkenntnis,

38 39 40

KOTTER, Bonifatius, Die Schriften des Johannes von Damaskos II: expositio fidei, xxviii. Vgl. MAXIMUS CONFESSOR, neuntes Ambiguum, PG 91, 1104 BC. DOBLER, Emil, Zwei syrische Quellen der Theologischen Summa des Thomas von Aquin, 336-337.

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also solches Lustempfinden, das sich auf die diano…a bezieht und an Dingen der ™pist»mh und der qewr…a seine Ausrichtung hat statt an denen der a‡sqhsij, auf die sich die stoische Theorie versteift und die auch Maximus Confessor hauptsächlich im Blick hat. So sieht Johannes Damascenus richtig, dass es nicht unbedingt widersprüchlich sein muss, dass eine k…nhsij ¥logoj tÁj yucÁj oder generell ein p£qoj einen eigenen Beitrag zur wesensgemäßen geistigen Tätigkeit des Menschen leistet: Leidenschaften sind demnach zwar par¦ fÚsin, wenn sie alleingelassen sind und außerhalb der Vernunftmaßgabe

operieren, doch im Dienste der Vernunft können sie der wesensgemäßen Tätigkeit des geistbegabten Wesens Mensch durchaus unterstützend entsprechen. Die ursprünglich stoische Einordnung der Leidenschaften wird eingebunden in eine aristotelische Überzeugung, dass das ¥logon eher das Vernunftwiderstrebende auf der Ebene des lÒgon œcon ist und immerhin eine Vernünftigkeit darin aufweist, sich an der Vernunft ausrichten zu können wie ein ( noch) vernunftloses Kind an seinem vernünftig leitenden Vater. Besonders gut zeigt sich das nun am Fall der ¹don», die nach Aristoteles eben eine auch für geistig begabte Wesen lebensleitende Funktion hat und etwas Richtiges andeutet, nämlich die selbstbelohnende Vollendung einer Tätigkeit, auch einer geistigen. Zur Klärung der dabei immer noch vieldeutigen aristotelischen Lustlehre wird von Johannes Damascenus ab 929 B die epikureische Lustlehre herangeholt, was gelinde gesagt überraschend ist, doch wird im Textverlauf immerhin deutlich, warum gerade dieses Theoriestück zu Hilfe genommen und zu Rate gezogen wird. Denn bei Aristoteles ist Lust das, worauf das Streben oder Begehren aus ist ( 1175a) und was es auch 41 actu

De fide orthodoxa

Nikomachische Ethik

erreichen will. Der Text des Johannes Damascenus hakt hier mit einer für alles Nachfolgende grundlegenden Parallelisierung ein: Lust wird mit der epikureischen Vorlage als (1.) Lust an oder bei etwas charakterisiert, als das also, was Epikur katastematische Lust nennt, aber in einem weiteren Auffassungs41

Zur facettenreichen Auffassung vom p£qoj bei Aristoteles und den Möglichkeiten, die das den anthropologischen Lehren des Nemesios und Johannes Damascenus eröffnete, vgl. DOBLER, Emil, Zwei syrische Quellen der Theologischen Summa des Thomas von Aquin,

291, sowie 330 zur Erklärung der aristotelischen Auffassung bei THOMAS VON AQUIN,

Summa Theologiae q.25 a.1 und folgende: Das sinnliche Strebevermögen unterscheide sich

in eines, das „bei Abwesenheit des Guten, das begehrt wird“, auf das Gute hin in Bewegung setzt und concupiscentia heißt (was der kinetischen Lust entspricht) und in eines „im Besitz des Guten mit dem beruhigendem Gefühl des Erreicht-Habens“, das Thomas als gaudium bezeichnet (und das also weitgehend, wenn auch vielleicht nicht in allem, der katastematischen Lust entspricht). Vgl. genauso die aristotelische Definition von Lust aus der Rhetorik (1369b) als eine Bewegung der Seele einerseits und eine wahrnehmbare Versetzung in den zugrundeliegenden wesensgemäßen Zustand andererseits, was eine interpretative Angleichung an die Auffassung von der kinetischen und katastematischen Lust erleichtert.

Johannes Damascenus und die Ökonomie der Leidenschaften

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sinne auch als (2.) Lust auf etwas, das also, was Epikur kinetische Lust nennt. Somit sind offenbar Lust (im aristotelischen Sinne) und katastematische ¹don» (bei Epikur) einerseits und Begehren (im aristotelischen Sinne) und kinetische Lust (in der epikureischen Diktion) andererseits funktionsgleich, daher für die Leidenschaftslehre gleich behandelbar und begrifflich weitgehend „austauschbar“. Gegen Epikur und in kreativer Aufnahme der Vorlagen bei Aristoteles nimmt der Text des Johannes Damascenus im weiteren Verlauf dann an, die katastematischen ¹dona… im eigentlichen und bei strenger Betrachtung allein zulässigen Sinne entsprächen dem Bereich der theoretischen Lust. Johannes Damascenus und Nemesios stehen damit in der Patristik nicht allein da. Der berühmte Ausspruch des Augustinus vom menschlichen Herzen, das unruhig ist, bis es in Gott seine Ruhe findet (Confessiones I 1), besagt formal genommen genau das: Die lebensleitende katastematische Lusterfüllung in der vollendeten geistigen Tätigkeit, die ein getriebenes Leben zur Perfektion bringt und somit alles weitere Treiben erübrigt. Auf diese Weise ist der Bereich der katastematischen, also der erfüllten oder „angekommen“ Lust mit Hilfe verschiedener schulischer Aufteilungsmuster und Bewertungen abgesteckt. Für den Bereich der kinetischen ¹dona… ergeben sich unter Heranziehung der epikureischen Lustlehre folgende Einzellösungen: Zunächst lässt sich das Problem, das Maximus Confessor und andere gesehen hatten, dass nämlich jede Lust ein neues Leiden an Erfüllungserwartung mit sich bringt, dass also die ¹don» Ursprung einer neuen ÑdÚnh ist, so behandeln, dass dies als moralisches Problem allein in der Kategorie der leeren Lüste zu betrachten ist. Die Einteilung der kinetischen Lüste erlaubt es auch, die Leidenschaften weiterhin als par¦ fÚsin im oben angedeuteten „aristotelisch gereinigten“ Sinne zu sehen, in demselben Sinne jedoch für den Fall einiger ¹dona… die Klassifizierung als lebensleitend oder als vernunftgehorchend zu treffen, anders ausgedrückt, als fusikaˆ, ¤ma kaˆ ¢nagka‹ai. Die geistige Tätigkeit als Erfüllung der o„ke…a fÚsij des Menschen greift das stoische Anliegen der Oikeiosis auf und veredelt es in der Ausarbeitung des Gedankens bei Johannes Damascenus auf ihre eigene Weise. Aus diesem Blickwinkel lässt sich auch der stoische Tetrachord als Grundlage der Leidenschaftseinteilung beibehalten: eine strikt negative Bewertung der p£qh ist ja durch die Erweiterung und Einbindung des grundgelegten stoischen Programms in Heranziehung anderer Schulmeinungen positiv „aufgehoben“. Denn der Wert der p£qh für das Seelenleben des Menschen wird, so zeigt das Argumentationsstück über die ¹dona…, durch eine eigene Ökonomie des Umgangs mit den Leidenschaften im schwierigen – zugegebenermaßen: bisweilen allzu schwierigen und daher auch holprigen – Versuch der Verbindung verschiedener Lehrtraditionen aufgewiesen. Wer weiß, vielleicht ist auch dies ein Aufgriff der hellenistischen Schultradition bei Johannes Damascenus, dass hier eher die Konsistenz einer Lebens-

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Christian Schäfer

form und einer existenzleitenden inneren Haltung gesucht wird als ein theoretisch lückenlos erklärendes System von Lehrsätzen.42 Jedenfalls aber war das Lehrstück über die Ökonomie der Leidenschaften bei Nemesios und Johannes von Damaskus, wenn schon kein System im strengen axiomatischen Sinne der Ableitung aus einem einwandfrei integrierenden Grundgedanken, so doch ein einleuchtend geordnetes Sortiment anthropologischer Traditionsdaten, das der nachfolgenden Philosophie unschätzbare Dienste erwies.

42

HADOT, Pierre, , 314, schreibt, es erstaune kaum, „bei Platon, Aristoteles oder Plotin Aporien zu finden, in denen das Denken eingeschlossen scheint: Wiederaufnahmen und Wiederholungen, scheinbare Inkohärenzen, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß sie nicht Wissen übermitteln, sondern formen und üben sollen“. Ähnliches kann man wohl für die Leidenschaftslehre des Johannes Damascenus annehmen, wenn auch die Einschätzungen Hadots vielleicht hier und dort relativiert gehören. Wege zur Weisheit

Susann Lehmann

Die Leidenschaften der Seele bei Peter Abaelard

1. Einleitung Peter Abaelard (1079-1142) gilt als der bekannteste, bedeutendste aber auch umstrittenste Theologe und Philosoph des 12. Jahrhunderts. Dabei waren es nicht nur seine kritischen Schriften, die ihn allzu oft in heftige Dispute mit seinen Zeit-

genossen treten ließen. Vor allem seine „unübliche“ Lebensführung und das leidenschaftliche Verhältnis zu 1seiner Schülerin Heloisa wurde immer wieder von seinen Gegnern angeprangert und lieferte letztlich Abaelard selbst einen weiten Erfahrungshorizont von Gefühlen im Allgemeinen und den eigenen Leidenschaften wie Zorn, Neid und Hochmut im Besonderen, die er in seiner Autobiografie dem interessierten Leser zur Verfügung stellt.2 In Bezug auf die Beschäftigung mit den Leidenschaften der Seele ist jedoch an den Kontext der theologischen Ethik und dem darin fundierten Willensbegriff anzuknüpfen. Aussagen hierzu finden sich in Abaelards um 1126 entstandenen Historia Calamitatum

Philosophum, Iudaeum et Christianum (Collationes), der zwischen 1133 und 1137 verfassten Commentaria in epistolam Pauli ad Romanos und schließlich der Ethia seu Nosce teipsum von 1138/39.3 Die in diesen Werken fundierte abaelardische Ethik basiert auf der Annahme, dass Handlungen grundsätzlich indifferent seien und erst in der Absicht (intentio) des Handelnden ihre sittliche Qualität von gut oder schlecht erhalten. Die Absicht selbst kann dabei

Dialogus inter

1

2

3

BERNHARD VON CLAIRVAUX, Epistola 332, I: Habemus in Francia monachum sine regula, sine sollictitudine praelatum, sine disciplina abbatem, Petrum Abaelardum, disputantem cum pueris, conversantem cum mulierculis. S. Bernardi Opera, hrsg. v. Jean Leclerque / Henri M. Rochais, VIII, Rom 1977, S. 568, Z. 9-11. Eine erste Darstellung der Leidenschaften von Zorn, Hochmut und Neid erarbeitete KLITSCH, Ingo, Persönliche Erfahrung und theologische Reflexion. „Zorn“, „Wut“, „Empörung“ in der sogenannten ‚Historia Calamitatum‘ des Petrus Abaelardus, in: Das Mittelalter, hrsg. v. Gerlinde Huber-Rebenich, Bd. 14, Berlin 2009, S. 98-119. ERNST, Stephan, Ethische Vernunft und christlicher Glaube. Der Prozess ihrer wechselseitigen Freisetzung, Münster 1996, S. 122.

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Susann Lehmann

auf einen Willensentschluss in Form der bewussten Zustimmung (consensus) zurückgeführt werden. Hierbei spielen die Leidenschaften des Menschen eine große Rolle, da sie Einfluss auf den handlungsleitenden Willen des Menschen nehmen können. Entsprechend wundert es nicht, dass Abaelard auf die traditionelle Terminologie von passiones, perturbatio und affectio/ affectus nur selten zurückgreift, sondern Leidenschaften im Allgemeinen unter den Begriff des appetitiven Wollens subsumiert, obgleich seine grundsätzlich variierende terminologische Verwendung des Willensbegriffs (voluntas) eine ausführlichere Betrachtung einfordert. Aufgrund dessen soll in einem ersten Schritt auf den Willensbegriff Abaelards eingegangen werden, mit dem Ziel eine erste Eingrenzung und daraus resultierende Verortung der Leidenschaften vorzunehmen. In einem zweiten Schritt ist es notwendig, die anthropologische Voraussetzung der Leidenschaften zu untersuchen, da sich hieraus der funktionelle Kontext dieser ableiten lässt, der letztlich in einem letzten Schritt innerhalb der Tugendethik Abaelards zu situieren und aufzuzeigen sein wird. 2. Die terminologische Bestimmung der Leidenschaften im Willenskonzept Abaelards

In der heutigen Forschung gibt es einen breiten Konsens hinsichtlich der abaelardischen Ausgestaltung des Willensbegriffs.4 Den Ausgangspunkt bilden die ethi-

schen Überlegungen Abaelards in der Expositio in Epistolam ad Romanos, innerhalb derer er sich mehrfach zum Willen (voluntas) äußert. Ohne auf die einzelnen Textstellen gesondert eingehen zu können, zeigt sich in toto, dass Abaelard den Willen als grundsätzliches Streben nach Glückseligkeit (beatitudo) beziehungsweise Ruhe (quies) begreift.5 Dieser Wille wird von Abaelard in zwei Wollensar4

5

Vgl.: MÜLLER, Jörn, Willensschwäche in Antike und Mittelalter. Eine Problemgeschichte von Sokrates bis Johannes Duns Scotus, Leuven 2009, S. 413-449; PERKAMS, Matthias, Liebe als Zentralbegriff der Ethik nach Peter Abaelard, 2001, S. 100ff.; MARENBON, John, The Philosophy of Peter Abelard, Cambridge 1997, S. 258-264.

PETER ABAELARD, Römerbriefkommentar, übers. und eingeleitet von Rolf Peppermüller (Fontes Christiani) lateinisch-deutsch, Buch V, 15, 3: Voluntas quippe hominis ea proprie dicitur, quae ex infirmitate uel passibilitate carnis Expositio

in

epistolam

ad

Romanos.

illata, eam naturaliter quietem appetit quae nullis affligatur molestiis sed ab omni penitus poena sit immunis, sicut et in primis parentibus ante peccatum concessum est et in futura uita plenius nobis concedendum est. [...] Talis itaque appetitus humana in nobis uoluntas dicitur; quam quidem uoluntatem quisque obediendo sequitur. Siehe auch: MARENBON, John und ORLANDI, Giovanni, Peter Abelard - Collationes, Oxford 2002, II, 87, S. 108; Vgl.: AURELIUS AUGUSTINUS, Opera, Band 9, De libero arbitrio, zweisprachige Ausgabe,

hrsg., eingeleitet und übersetzt von Johannes Brachtendorf, Schöningh, Paderborn 2006, I,

Die Leidenschaften der Seele bei Peter Abaelard

75

ten ausdifferenziert, die er im Rahmen seiner Kommentierung von Röm 7, 16 „Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich hasse, tue ich“6 expliziert: Zum einen bietet Abaelard eine rationale und moralische Auslegung dieses Alltagsphänomens an, indem er das Wollen im Sinne einer rationalen Billigung (approbare) deutet. Das darin deduzierte evaluative Wollen begründet sich in der rationalen Bewertung der Handlung und des eigenen moralischen7 Bewusstseins, welches Abaelard an den Gewissensbegriff (conscientia) bindet. Zum anderen erarbeitet Abaelard den Begriff des appetitiven Wollens, das sich in der Unterscheidung von Gefallen (placere) und Missfallen (displicere) auf einer einfachen sinnlichen Ebene befindet. Das appetitive Wollen gründet sich folglich nicht in der moralischen Beurteilung der Handlung,8 sondern in der zweckorientierten sinnlichen Erfahrung von Lust und Unlust . Es zeigt sich entsprechend, dass während das evaluative Wollen, das rationale Streben nach einem moralisch als gut zu beurteilenden Objekt wiedergibt, sich das appetitive Wollen auf lustvolle Objekte bezieht, die Abaelard zumeist in Verbindung mit Begierden (concupiscientiae) oder anderen körperlichen Lüsten (voluptates), das heißt, Leiden10 bestätigt die schaften setzt.9 Auch eine Stelle im Commentarius Cantabrigiensis

vorgenommene Subsumierung der Leidenschaften unter den Begriff des appetitiven Wollens. So heißt es im Kommentar, dass die Seele des Menschen einmal durch die Vernunft strebt und ein anderes Mal durch fleischliche Begierden, wobei beide Strebensbewegungen einander widersprechen können.11

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9 10

11

12, 26. Vgl.: BLOMME, Robert, La doctrine du péché dans les écoles théologiques de la première moitié du XIIe siècle, Louvain/ Gembloux 1954, S. 170ff. Expositio in epistolam ad Romanos, III, 7, 15 (Alle Übersetzungen nach Rolf Peppermül-

ler).

Expositio in epistolam ad Romanos, III, 7, 15: Non enim quod. Probat se male agere contra

propriam conscientiam, quia et quod bonum esse recognoscit, dimittit, et quod non dubitat esse malum, facit. Et hic est quod dicit: Non ago, id est non facio, bonum quod volo, id est quod approbo debere fieri et cui per rationem consentio, sed malum quod odi, hoc est quod, ut dictum est, non volo, sed rationis iudicio reprobo atque damno. (Peppermüller, S. 528) Expositio in epistolam ad Romanos, III, 7, 16: ‚Non quod volo ago, sed quod nolo‘, nihil

obest, si nolle et velle proprio et usitato modo suamus, pro placere scilicet atque displicere, quia frequenter, ut dicimus est, in eodem actu et quod placet et quod displicet invenimus, sicut in ipso coitu carnalis voluptas et adulterii culpa. (Peppermüller, S. 532) Expositio in epistolam ad Romanos, III, 7, 17 (Peppermüller, S. 532) Commentarius Cantabrigienisis in epistolas Pauli e schola Petri Abaelardi 1-1, 4 Bde.,

Notre Dame 1937-1945. Der nach dem Aufbewahrungsort benannte Kommentar zu den Paulusbriefen ist eine reportatio seiner Vorlesungen und der referierten Diskussionen, wobei die Autorenschaft Abaelards selbst umstritten ist. Commentarius Cantabrigienisis in epistolas Pauli e schola Petri Abaelardi 1, S. 100f.

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Der von Abaelard beschriebene Gegensatz zwischen Vernunft und Begierden, indem der Geist gegen das Fleisch und das Fleisch gegen den Geist aufbegehrt12, stellt jedoch nur eine Konfliktsituation dar. Zum anderen kann auch allein auf der Ebene des appetitiven Wollens ein Gegensatz entstehen, wenn es um die Berücksichtigung der beiläufigen Folgen einer gewollten Handlung geht. Dies erläutert Abaelard am Beispiel des Ehebrechers. So gefällt dem Ehebrecher die fleischliche Lust im Beischlaf und missfällt zugleich die mit Schuld verbundene Tatsache des Ehebrechens.13 Entsprechend kann auf der Ebene des appetitiven Wollens zwischen dem angestrebten, gefallenden Gut und der nichtgewollten, missfallenden Nachteile unterschieden werden. Ist dieser Konflikt auf der Ebene der Willensneigungen, das heißt, ohne die Realisierung der Handlungsabsicht, noch durch ein Nichtwollen der beiläufigen Konsequenzen charakterisiert, stellt sich dies für einen handlungsleitenden Willen anders dar und bietet Abaelard die Möglichkeit, eine zweite Perspektive auf den Willen einzunehmen. Das dargelegte Phänomen des wider-dem-Willen Wollens ( ) wurde bereits bei Augustinus (354-430) problematisiert und beispielsweise von Anselm von Canterbury (1033-1109) aufgenommen.14 Während jedoch Augustinus als auch Anselm dieses Nichtwollen als einen Modus des Willens begreifen, indem jede Form des Wollens, also auch das „Wider dem Willen“ ( ) auf einen Willen zurückgeführt werden kann15, grenzt sich Abaelard diesbezüglich ab. Am Beispiel eines Kranken, der die Gesundheit willentlich erstrebt, aber dafür Schmerzen in Kauf nehmen muss, erläutert Abaelard sein Verständnis von ungewollten Nachteilen und resümiert, dass invitus velle

invitus

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Expositio in epistolam ad Romanos III, 7, 17: […] dum spiritus scilicet adversus carnem et caro adversus spiritum concupiscit. (Peppermüller S. 534) Expositio in epistolam ad Romanos, III, 7, 16: […] sicut in ipso coitus carnalis voluptas et adulerii culpa. (Peppermüller S. 532) Eine Darstellung beider Autoren und ihrer Argumente siehe: SAARINEN, Risto, Weakness of the Will in Medieval Thought. From Augustin to Buridan, Helsinki 1993, S. 38-60. Vgl. KNUUTTILA, Simo, Emotions in Ancient and Medieval Philosophy, New York 2004, S. 177211. Vgl.: AUGUSTINUS, De spiritu et littera, 31, 53, in [Migne]: Patrologia Latina 44, Sp. 234: Quanquam, si subtilius advertamus, etiam quod quisque invitus facere cogitur, si facit, voluntate facit: sed quia mallet aliud, ideo invitus, hoc est, nolens facere dicitur. […] Ac per hoc, si facit; non quidem plena et libera voluntate: quam voluntatem quia effectus consequitur, non possumus dicere potestatem defuisse facienti; ANSELM VON CANTERBURY, De libertate arbitrii V: […] occidi potest inuitus, quia nolens potest occidi; uelle autem non potest inuitus, quia uelle non potest nolens uelle. Nam omnis uolens ipsum suum uelle uult (Hansjürgen Verweyen (Hg.), Freiheitsschriften, lateinisch-deutsch, Anselm von Canterbury. übers. und eingeleitet von Hansjürgen Verweyen, in: Fontes Christiani, Bd. 13, Freiburg im Breisgau, Basel u.a. 1994, S. 84).

Die Leidenschaften der Seele bei Peter Abaelard

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jemand alles, was er erzwungenermaßen erträgt, [nicht] wolle, sondern eher, dass er es erdulde. Nichts belastet ja jemanden dadurch, daß es ihn verletzt, außer dem, was gegen seinen Willen geschieht. Und bei nichts leidet jemand außer bei dem, was seinem Willen entgegengesetzt ist.16

Das oben benannte Beispiel aufnehmend, sind folglich die Schmerzen, die bei der gewollten Genesung eines Kranken auftreten, nicht Gegenstand eines Willens, sondern Begleiterscheinungen, die der Wille in Kauf nehmen muss, um sein gewolltes Ziel realisieren zu können. Über die Termini des Erduldens (tolerat) und Ertragens (patitur) trennt Abaelard damit den Willen in seiner Ausrichtung auf ein angestrebtes Gut von dessen Eigenschaft17, auch nichtgewollte Umstände zu ertragen. Das charakteristische Merkmal des Erduldens ist hierbei die implizite konträre Ausrichtung im Bezug auf den Willen (contra voluntas), die Abaelard letztlich dazu veranlasst, das in Kauf nehmen negativer Begleitumstände nicht unter einen Willensbegriff, sondern unter den Begriff des Erleidens (passio) zu subsumieren. So schreibt Abaelard in der Ethica wie folgt: Einen solchen sogenannten ‚Willen‘, der in einem großen persönlichen Schmerz besteht, soll man nicht ‚Wille‘, sondern eher ‚Leiden‘ nennen. […] Denn ein Leiden kann alleine da vorliegen, wo etwas gegen den Willen geschieht und niemand leidet daran, worin sich sein Wille erfüllt und worüber er sich freut, dass es geschieht.18

Neben der terminologischen Differenzierung von Erleiden (passio) und Wille (voluntas) geht Abaelard aber auch auf das asymmetrische Verhältnis beider ein. So verweist Abaelard mehrfach auf den Umstand, dass kein Erleiden ohne einen Willen vorliegen kann. Begründet ist diese implizierte Abhängigkeit in der passiven Deutung des Leidensbegriffs (passio), da das Erleiden von Etwas eine gewollte Handlung voraussetzt. Interessanter Weise zeichnen sich in der dargeleg16

17

18

Expositio in epistolam ad Romanos, II, 6, 9: Quaecumque autem coactus quis sustinet, non utique uelle sed magis tolerare dicendus est. Nihil quippe affligendo grauat aliquem nisi quod contra eius geritur uoluntatem. Et in nullo quis patitur nisi quod eius uoluntati aduersatur. (Peppermüller, S. 448) Über die Akzeptanz ungewollter Übel siehe: PERKAMS, Matthias, Liebe als Zentralbegriff der Ethik nach Peter Abaelard, Münster 2001, S. 81-85; S. 104f.

Unter dem Begriff der Eigenschaft sei an dieser Stelle eine Akzidenz zweiter Klasse verstanden, die eine Eigenschaft beschreibt, die nur solange besteht, wie die Verursachung sie erhält. Ethica: Non utique talis, ut ita dicam, voluntas, quae in magno animi dolore consistit,

dicenda estvoluntas, set pocius passio.[…] Nusquam enim passio esse potest, nisi ubi contra voluntatem aliquid fit, nec quisquam in eo patitur, ubi suam implet voluntatem et quod eum fieri oblectat. Peter Abaelards Ethica, edition with introduction, English transla-

tion and notes by D. E. Luscombe, Oxford 1971, S. 10. (Übersetzung nach: PETER

ABAELARD, Scito te ipsum [Ethica]. Erkenne dich selbst, übersetzt und herausgegeben von Philipp Steger, lateinisch–deutsch, Hamburg 2006.)

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ten Argumentation klare Parallelen zur kategorialen Unterscheidung von Tätigkeit (actio) und Leiden (passio) in seiner Glossae super Aristotelis Categorias ab, auf die an dieser Stelle nur verwiesen werden kann.19 Auf Grund dieser einseitigen Bedingtheit geht mit dem Erleiden (passio) auch meist eine Form des Zwangs (coactus qui sustinet) einher. So muss ein Kranker Schmerzen erleiden, um zu genesen und der Ehebrecher muss die Ehe brechen, um seinem Willen realisieren zu können. Bei diesem Zwang handelt es sich jedoch nicht um eine Eingrenzung der Freiheit des Willens, die in der freien Entscheidung (liberum arbitrium) besteht, sondern um die kausale Verknüpfung des angestrebten Ziels mit negativen Begleitumständen, auf Grund dessen der Wille gezwungenermaßen diese miterstreben muss, auch wenn er sie selbst nicht will. Diese Form des Zwangs beinhaltet zum Teil auch einen Gewaltaspekt, wie ihn Abaelard in der Expositio in Epistolam ad Romanos anführt. Darin nimmt er den von Paulus definierten Leidensbegriff20 auf, der in der schändlichen Verunreinigung durch unnatürliche Lust besteht und verweist auf den Umstand, dass „jede Substanz leide und gleichsam eine gewisse Gewalt erfahre, sooft in ihr etwas gegen die Natur ausgeübt wird.“21 Anhand dieser Textstelle zeigt sich, dass der Leidensbegriff für Abaelard nicht nur im Spannungsfeld von willentlich intendiertem Wollen und den damit auftretenden Nachteilen zum Tragen kommt, sondern grundsätzlich für jede Form des Erleidens steht. Nicht nur, dass Abaelard sich damit deutlichen an die antike terminologische Bestimmung von πάθος anlehnt, zugleich erklärt sich Abaelards Widerstreben, die passio als aktive, sich selbst begründende Willensneigung aufzufassen.22 Besonders deutlich hebt Abaelard die Deutung der passio als passives Erleiden in seinen erkenntnistheoretischen Schriften, das heißt, in der Editio super Aristotelem de interpretatione, der Glossae super Periermeneias oder dem

19

20

21 22

An dieser Stelle sei in aller Kürze auf Abaelards Kommentierung der Kategorienschrift des Aristoteles eingegangen. Darin insistiert Abaelard auf die bestehende Unterscheidung der Kategorie der Tätigkeit (actio) und der Kategorie des Leidens (passio) mit dem Verweis, dass diese Kategorien nicht zwei Aspekte einer Sache sondern zwei kategorial verschiedene Sachen bezeichnen. Auf Grund dieser Unterscheidung verneint Abaelard zwar eine relative Bedingtheit beider Kategorien, räumt jedoch ein einseitiges Verhältnis des Erleidens zur Tätigkeit ein, da Leiden eine Tätigkeit voraussetze. Siehe hierzu: PETER ABAELARD, Glossae super Aristotelis Categorias, De facere et pati, in: Geyer Bernhard (Hg.), Peter Abaelards Philosophische Schriften, in: Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, 21(2), Münster 1927, S. 251-255, hier: S. 252, 17-27. Expositio in epistolam ad Romanos I, 1, 26: PASSIONES ignominiosas dicit pollutiones non naturalis libidinis. (Peppermüller, S. 160) Ebd.: Pati merito dicitur quaelibet substantia et quasi quamdam sustinere uiolentiam, quotiens contra naturam aliquid in ea agitur. (Peppermüller, S. 160) Zur passiven Deutung des passio-Begriffs siehe: AUERBACH, Erich, Passio als Leiden, in: Gesammelte Aufsätze zur Romanischen Philologie, Bern/München 1967, S. 161-

schaft

175.

Die Leidenschaften der Seele bei Peter Abaelard

79

heraus.23 In der Kommentierung der bereits vorhandenen aristotelischen Schriften und den hierzu von Boethius und Porphyrius angefertigten24 Kommentaren setzt Abaelard passio mit intellectus (Begriff/Gedanke) gleich. Begründet wird diese Gleichsetzung auf zwei Weisen: Einerseits verweist Abaelard auf den Umstand, dass passio eben keinen Gemütszustand der Seele wie Trauer, Freude oder Lust bezeichnet, sondern einen Begriff der Seele.25 Zum anderen erklärt Abaelard, dass die terminologische Gleichsetzung von passio und intellectus deshalb richtig sei, „weil die denkende Seele gleich jemanden, der eine Last trägt, etwas erleidet.“26 So wie beispielsweise der Begriff oder Gedanke (intellectus) auch erst beim Hörer erzeugt werden muss und entsprechend der Hörer etwas erleidet.27 Indem Abaelard folglich die passiones animae als 28 perzipierende Seelenzustände auffasst , folgt er damit dem aristotelischen GeTractatus de Intellectibus

brauch von πάθος (passio), worunter Aristoteles alles, was passiv aufgenommen, empfangen oder erlitten wird, subsumiert.29 23

ETER

Vgl.: P Scitti

di

A

BAELARD, Editio super Aristotelem de interpretatione, in: Pietro Abelardo, ed. von M. Dal Pra, S. 69-253; PETER ABAELARD, Glossae super

logica,

Periermeneias,

in: Geyer Bernhard (Hg.), Peter Abaelards Philosophische Schriften, in:

Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, 21(2), Münster 1927, S. 307-503,

ETER ABAELARD, Tractatus de intellectibus,

P

24

25

26

27 28

29

in: Morin Patrick: Abélard, Des intellections,

Paris 1994.

ICKLIN, Thomas, Der Traum der Philosophie im 12. Jahrhundert. Traumtheorien zwischen Constantinus Africanus und Aristoteles, Leiden, 1998, S. 55. Glossae super Periermeneias, S. 323: Quippe Andronicus in hoc nomine quod est ‚passio animae‘ deceptus erat et cum uideret Aristotelem ibi agere de intellectibus quos ipse Aristoteles hic uocat passiones animae, negabat tamen eum agere de passionibus animae, quia scilicet ignorabat quod intellectus passiones animae dicuntur et quia potius passions animae existimabat dici affectiones uel commotiones animae ex tristitia uel gaudio, de quibus ibi nil conscriptum reperiebat.; Vgl.: JACOBI, Klaus/ KING, Peter / STRUB, Christian, From intellectus verus / falsus to the dictum propositionis. The semantics of Peter Abelard and his Circle, in: Vivarium 34 (1996), S. 15-40. PETER ABAELARD, Editio super Aristotelem de interpretatione, in: Pietro Abelardo, Scitti di logica, ed. von M. Dal Pra, S. 69-253, hier: S. 73: Intellectus dicuntur passiones animae quia sicut aliquis patitur propter onus sic anima in intelligendo. Ebd., S. 76. PETER ABAELARD, Tractatus de Intellectibus: De speculationibus itaque, hoc est intellectibus, disserturi, statuimus, ad diligentius eorum documentum, ipsos primum a caeteris animae passionibus siue affectionibus disiugere […]; deinde ipsos quoque ab inuicem propriis separare differentiis, prout necessarium doctrinae sermonum existimamus esse. Sunt autem quinque a quibus diligenter eos disiungi conuenit: sensus uidelicet, imaginatio, existimatio, scientia, ratio. MORIN, Patrick, Abélard, Des intellections, Paris 1994, S. 25f.) ARISTOTELES: Über die Seele, griechisch-deutsch, eingeleitet übersetzt und kommentiert von Horst Seidel, Hamburg 1995, 1, 402b9-403a4; Vgl.: PETER ABAELARD, Glossae super Periermeneias, S. 312: Cum enim dicit voces esse notas passionum animae, id est Vgl.: R

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Susann Lehmann

Auch findet die passio in der Erörterung der Leidensgeschichte Christi im Allgemeinen und hinsichtlich30der Erklärung körperlichen Leiden des Menschen im Besonderen Verwendung. So handelt es sich bei dem Schmerz (dolor), den Christus empfand, als er ans Kreuz genagelt wurde, oder auch der Mensch, wenn er körperlich verletzt wird, eindeutig um eine passio, da es sich hierbei um eine äußerlich verursache Veränderung des Körpers handelt, die in Form eines kognitiven Prozesses erfasst und perzipiert wird. Dieses körperliche Leiden, so erklärt Abaelard in den Collationes, ist jedoch nur an den irdischen Körper31gebunden, während der wiederauferstandene Körper von derartige Leiden frei ist. So wenig wie demzufolge das Erleiden eine eigenursächliche Aktivität des32Menschen ist, so wenig gehört das Erleiden zur Grundkonstitution des Menschen. Letztlich sei auch noch auf den durch Passivität bestimmten Leidensbegriff in den Collationes Abaelards eingegangen, den er wie folgt darlegt: „Wir sehen ja, dass viele Leiden der Seele, während sie noch in ihrem Körper bleibt, entweder von außen zugefügt werden oder von innen33 aus irgendeiner Erregung oder Unpäßlichkeit des Körpers entspringen […].“ So gebraucht Abaelard auch in diesem Kontext passiones im Sinne des passiven Erleidens, da die Seele nicht selbst Ursache einer Regung oder Bewegung ist, sondern ihr ein inneres oder äußeres Leiden zugefügt wird. Entsprechend konnte gezeigt werden, dass Abaelard entgegen der zeitgenössischen frühscholastischen Tradition34 unter passiones animae eher die passiven

30 31

32

33

34

intellectuum, id quod valde necessarium erat, nos scire facit, quod videlicet per voces nostros intellectus manifestare possimus et aliorum percipere, ut supra quoque meminimus; S. 319: Ea quae praemissa sunt, scilicet nomen, verbum, oratio, etc., quae sunt in voce, id est quae sunt voces, sunt notae, id est significativae earum passionum, quae sunt in anima, id est intellectuum. Quae ideo passiones dicuntur esse, quia dum aliquid intelligimus, quandam passionem animus habet, dum se ad rem coarctat et afficitur vel per ipsam rem vel per imaginem eius, ut dictum est. Vgl.: Expositio in epistolam ad Romanos II, 3, 26; III, 8, 18 Collationes II, 160: Quo enim illa prius inferiora et passioni cognovimus obnoxia, tanto postmodum magis Deum glorificandum ostendent; et cum sic ea videlicet solidata et indissolubilia videbimus facta, ut nulla ex eis passio nobis provenire, nulla in eis dissolutio possit contingere. (MARENBON, John und ORLANDI, Giovanni, Peter Abelard - Collationes, Oxford 2002, S.170) SIANO, Frank de, Of God and Man: Consequences of Abelard’s Ethic, in: The Thomist, Vol. 35 (1971), S. 631-660, hier: S. 633. Collationes II, 193: Multas quipped passiones animae adhuc in corpore manenti vel extrinsecus inferri vel intrinsecus ex aliqua perturbation vel corporis inaequalitate videmus […]. (MARENBON, John, Collationes, S. 198) Vgl.: HENGELBROCK, Jürgen, Art. Affekt, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.

1, Basel/ Darmstadt 1971, Sp. 89-93.; Vgl.: BODEI, Remo, Art. , in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie 2; überarbeitete und erweiterte Auflage, Meiner, Hamburg 2010. Leidenschaften

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Eindrücke der Seele diskutiert. Dabei wurde einerseits anhand der erkenntnistheoretischen Schriften gezeigt, dass Abaelard passio im Rekurs auf die aristotelische Terminologie im Sinne von Eindrücken/ Gedanken/ Begriffen der Seele gebraucht. Abaelard verweist dabei auf einen apprehensiven Vorgang, der in der sinnlichen Aufnahme und Wahrnehmung besteht. Die darin inhärierende Passivität stimmt zum anderen auch mit dem terminologischen Gebrauch der passio in seiner Willenskonzeption überein. In dieser subsumiert Abaelard das in Kauf nehmen eines Nachteils, das heißt, das Erdulden der negativen Begleitumstände einer gewollten Handlung unter den Leidensbegriff. Die Leidenschaften im Sinne aktiver Einflussnahme beziehungsweise eines sinnlich- appetitiven Zustandes bindet Abaelard an das appetitive Wollen. Dieses Wollen kann sich nach Maßgabe von Gefallen und Missfallen auf der rein sinnlichen Ebene gegen ein vernünftiges Urteil auf sinnlich lustvolle Objekte richten. In diesem Sinn rekurriert Abaelard auf die stoische Bestimmung der Leidenschaften als irrationales Streben des Menschen und folgt der von Augustinus35 ausgewiesenen Tradition, Leidenschaften als Willensbewegungen aufzufassen. Der Umstand, dass die Leidenschaften immer wieder dazu führen, dass sich der Mensch nicht gemäß seiner Vernunft verhält, sondern den Begierden unterliegt, sieht Abaelard in der postlapsarischen Natur des Menschen begründet. Die damit verbundene anthropologische Bestimmung des Menschen soll im Folgenden einen Einblick geben, warum Leidenschaften Einfluss nehmen können und damit eine tragende Rolle im Alltagsleben spielen. 3. Von der Schwäche des Menschen Bereits am Beginn der Ethica skizziert Abaelard am Beispiel eines zornigen Menschen sowohl die Einflussnahme der Leidenschaft auf das menschliche Handeln als auch deren anthropologische Positionierung. So konstatiert Abaelard wie folgt: jähzornig sein, nämlich geneigt oder leicht bereit sein zum wirren Zorn, ist ein Laster (vitium) und verleitet die Seele, etwas in aufbrausender und unüberlegter Weise zu tun, was sich am wenigsten gehört. Dieses Laster sitzt in der Seele, sodass sie leicht in Zorn gerät auch dann, wenn sie gerade nicht zum Zorn gereizt wird. […] Daher setzt entweder die Natur selbst oder die Konstitution des Körpers viele Menschen in die Lage, zur Genusssucht oder zum Zorn geneigt zu sein.36 35

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Vgl.: KING, Peter, Emotions in the Medieval Thought, in: Peter Goldie (Hg.), Oxford Handbook of Philosophy of Emotions, Oxford 2010, S. 167-188, hier: S. 173f. Ethica: […] iracundum esse, hoc est, pronum uel facilem ad irae perturbationem, uitium est et mentem inclinat ad aliquid impetuose et irrationabiliter gerendum, quod minime conuenit. Hoc autem uitium in anima est, ut uidelicet facilis sit ad irascendum, etiam cum

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Das Bild, welches Abaelard an dieser Stelle von den Leidenschaften entwirft, ist das eines triebhaften, unüberlegten Verlangens, das sowohl in der Natur des Menschen als auch in seiner körperlichen Verfasstheit begründet ist. Die stoisch anmutende Vorstellung der Leidenschaften als irrationales Streben fundiert Abaelards Sicht auf die anthropologische Konstitution des Menschen. Diese ist stark vom Sündenfall Adams und Evas geprägt und der daraus resultierenden Unfähigkeit des Menschen, sich gegen äußere und innere der eigenen Vernunft widerstreitenden Regungen zu erwehren. Das Unvermögen, welches Abaelard im Begriff der Schwäche (infirmitas) fokussiert, hat folglich ihre Wurzel in der Erbsünde (peccatum originale). Nach Abaelard liegt die Konsequenz aus der Erbsünde in der Ausprägung zweier menschlicher Naturen. Zu der vor der Sünde bestehenden Vernunftnatur des Menschen tritt nach37dieser eine zweite sinnliche Natur hinzu, die oftmals der Vernunft widerstreitet. Die damit einsetzende innere Ambivalenz wird von Abaelard vermehrt aufgegriffen, um zwischen dem vernünftig - seelischen und dem sinnlich - körperlichen Teil des Menschen zu unterscheiden. Die antithetische38Gegenüberstellung vom „Gesetz des Geistes“ und dem „Gesetz der Glieder“ als auch dem homo interior und dem homo exterior zeigt sich ebenso in der oben skizzierten Unterscheidung des evaluativen und appetitiven Wollens. Die damit einhergehende Abwertung des Körpers als geistfeindlicher, schuld39 hafter Bereich des Menschen und der bei Paulus postulierten Knechtschaft der Seele durch den Körper40, nimmt Abaelard auf, indem er die Schwäche des Men-

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non mouetur ad iram […]. Sic et multos ad luxuriam sicut ad iram natura ipsa uel complexio corporis pronos efficit. (Luscombe, S. 2; Übersetzung nach Philipp Steger leicht abgewandelt.) Expositio in epistolam ad Romanos, III, 7, 17: […] non ad hoc ex natura sed ex uitio naturae iam ei dominante pertrahor. (Peppermüller S. 534) Expositio in epistolam ad Romanos, III, 7, 22: legi secundum interiorem hominem, id est placere ei quod lex praecipit et se illud per rationem appetere quam hoc loco interiorem hominem appellat. […] in qua factus est homo secundum animam dum rationalis creatus est et per hoc caeteris praelatus creaturis et rursus dicens se uidere aliam legem in membris suis etc. […] legem illam concupiscentiae dico repugnatem, id est contrariam legi naturali meae menis, id est rationi quae me quasi lex regere debet. Per rationem quippe bonum, per concupiscentiam appeto malum. (Peppermüller S. 538) ZEIMENTZ, Hans, Ehe nach der Lehre der Frühscholastik, Eine moralgeschichtliche Untersuchung zur Anthropologie und Theologie der Ehe in der Schule Anselms von Laon und Wilhelms von Champeaux, bei Hugo von St. Viktor, Walther von Mortagne und Petrus Lombardus (= Moraltheologische Studien. Historische Abteilung 1), Düsseldorf 1973, S. 97f. Expositio in epistolam ad Romanos, III, 7, 14: Ego autem carnalis sum, id est carnalibus uoluptatibus et terrenis inhians desideriis. (Peppermüller, S. 526). Siehe auch: Collationes II, 87: […] et anima terreni corporis mole gravata et quasi carcere quodam conclusa […]. (Luscombe, S. 108)

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schen auf eine fleischliche Schwäche (infirmitas carnis) dessen zurückführt.41 Die Schwäche selbst besteht im Folgen der Sinnlichkeit, die unabhängig der geistigen Vernunft ein Streben generiert, welches als appetitives Wollen den Begierden und Leidenschaften Form verleiht. Immer wieder nimmt Abaelard Leidenschaften wie Begierde, Neid oder Zorn als Ausgangspunkt des sündigen Handelns, indem diese den menschlichen Willen zu einem scheinbar42gefallenden Gut ziehen und damit von einem vernünftigen Handeln wegleiten. Das bei Abaelard wiederkehrende Motiv des Ziehens (trahere) zur Leidenschaft, welches nichts anderes besagt, als dass die Leidenschaften den Menschen zu einer verkehrten Zustimmung bewegen43, basiert vor allem auf dem relationalen Verhältnis von Körper und Seele und der stets stattfindenden 44 Interaktion zwischen diesen. Zum Teil wird dieses „Ziehen der Leidenschaften“ auch als Zwang formuliert45, indem der Mensch notwendigerweise den Begierden ausgesetzt ist und von Natur aus Schwäche zeigt.46 Mit dem Begriff der Notwendigkeit (necessaria) rekurriert Abaelard folglich auf die natürliche Implementierung der Leidenschaften, die ihrerseits ihren Ausdruck in der Bedürfnisnatur des Menschen finden. So schlussfolgert Abaelard, dass Begierden und Leidenschaften wie Zorn (ira), Neid (odium) und Hass (invidia) der Mensch47 nun einmal besitzt auch wenn sie vom Willen (voluntas) nicht gewollt werden. Darüber hinausgehend betont Abaelard, dass die Leidenschaften nicht auf den Körper beschränkt bleiben, sondern in Form des appetitiven Wollens auch die Seele des Menschen betreffen. So schreibt Abaelard, dass es allein Sache der Seele ist, nicht des Körpers, Schmerz oder Gefühle zu empfinden […]. Daß aber die fünf Sinne der Seele körperlich genannt werden [...]. Daß darf aber nicht

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Vgl.: Ethica: […] quaedam carnalia dicuntur, hoc est, quaedam ex uitiis animae, quaedam ex carnis infirmitate prouenientia. (Luscombe, S. 40, Z. 24f.) Ethica: Sunt quos omnino piget in consensum concupiscentiae uel malam uoluntatem trahi, et hoc ex infirmitate carnis uelle coguntur quod nequaquam uellent uelle. (Luscombe, S. 16, Z. 22-24) Ethica: Certauerit, inquam, non tam hominibus quam uitiis resistendo, ne nos uidelicet in consensum pertrahant prauum. (Luscombe S. 4, Z. 13-15) Vgl.: MÜLLER, Jörn, Willensschwäche, S. 434ff.

Ethica: […] coactus tandem et nolens occidit eum ne occidatur ab eo. (Luscombe, S. 6, Z. 26-28)

Collationes, II, 144f.: Ipsos quoque homines naturaliter ex elementorum complexione in ipsa sua creatione nonnulla vitia contrahere constat, ut iracundi scilicet vel luxuriosi vel aliis irretiti vitiis naturaliter fiant. […] Quorum etiam aliqui, cum aegrotativi vel stulti naturaliter fiant et diversis tam animi quam corporis vitiis occupati nascantur et omnes communiter homines creentur mortales (Marenbon, S. 154) Vgl.: Collationes, II, 196, Marenbon, S. 202) Expositio in epistolam ad Romanos, III, 7, 16: Quam etiam nolentes habemus, quia profecto concupiscere nollemus, licet, quod concupiscimus, volentes et cum delectatione peragamus. (Peppermüller, S. 530)

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so aufgefasst werden, dass der Körper selbst entweder empfinde oder sündige, sondern daß durch ihn entweder die Sinne betätigt oder die Willensregungen ausgeführt werden […].48

Der Körper bildet zwar die anthropologische Grundlage der Leidenschaften, jedoch werden diese erst in der Seele durch einen handlungsleitenden Willen realisiert. Auf Grund dessen spricht Abaelard auch von den seelischen Schwächen, die er als das Unvermögen auffasst „den Lastern zu widerstehen […], die den Menschen nachlässig machen, und […]49 die uns in ekelhafte Vergnügungen oder schändliche Begierden abgleiten lässt.“ Die Fragen, wie Leidenschaften in Form des appetitiven Wollens auf einen handlungsleitenden Willen Einfluss nehmen und inwiefern Leidenschaften entsprechend ethisch bewertet werden müssen, knüpft an Abaelards Konzept der moralischen Bewertung von Handlungen an, welches im Diskurs zu den Sünden ( ) und über den Begriff der Absicht ( ) ausführlich, wenn auch nicht immer klar von ihm expliziert wird, im Rahmen dieses Beitrages jedoch nur zusammenfassend referiert werden kann. peccatum

intentio

4. Die moralische Bewertung der Leidenschaften Den Ausgangspunkt bildet Abaelards detaillierte Untersuchung des Sündenbegriffs und die kritische Auseinandersetzung mit der von Augustinus diskutierten Frage, ob die Sünde selbst Wille beziehungsweise willentlich sei50. An verschiedenen Beispielen in der Ethica erörtert Abaelard das Verhältnis zwischen einer gewollten Handlung und dem Begehen einer Sünde und kommt zu dem Ergebnis, dass ein Laster der Seele nicht dasselbe sei, wie eine Sünde und die Sünde nicht dasselbe sei, wie eine böse Handlung.51 Die klare Trennung von willentlichen Handlungen und der Sünde basiert zum einen auf der psychologischen Grundannahme, dass Sünde in einer persönlichen Schuld besteht, die durch Zustimmung (consensus) zu einem vorher als schlecht erkannten Objekt realisiert wird. Dieser folgend bestimmt Abaelard die Sünde als eine Missachtung Gottes, indem der 48

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Expositio in epistolam ad Romanos, I, 2, 9: Quia solius animae est, non corporis, dolere siue sentire et contristari uel delectari, irasci uel gaudere. […] Quod autem quinque animae sensus corporei dicuntur, […], non ita est accipiendum ut corpus ipsum uel sentiat uel peccet, sed quia per ipsum uel sensus excercentur uel uoluntates implentur ut inglnuies gula, libido genitalibus. (Peppermüller, S. 182) Collationes II, 121: […] quedam infirmitates animi et impotentie uitiis resistendi recte nominatur, ut ingnauia sive pusillanimitas, que remissum hominem reddunt, et intemperantia, que nos in obscena voluptates vel turpia desideria resoluit. (Marenbon, S. 136)

Ethica (Luscombe S. 6, Z. 11-15) Ethica: Non est autem huiusmodi animi uitium idem quod peccatum, nec peccatum idem quod actio mala. (Luscombe S. 2, Z. 21f.)

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Mensch nicht das tut, was getan werden muss, sondern der Sünde zustimmt.52 Zum anderen basiert sie auf dem unterschiedlichen ontologischen Status. Während der Wille als Streben ein Sein impliziert, wird die Sünde als Nicht-Seiendes bestimmt, weshalb schließlich Sünde und Wille nicht dasselbe sein können.53 Auch eine Verknüpfung von Sünde und Wille ist im abaelardischen Denken nicht vorgesehen. So verdeutlicht Abaelard anhand zweier Beispiele, dass die Sünde keinen schlechten Willen (mala voluntas) impliziert noch, dass aus einem schlechten Willen notwendigerweise Sünde evoziert wird. Als erstes führt Abaelard das Beispiel eines Knechtes an, der von seinem wütenden Herrn verfolgt und mit dem Tode bedroht wird. Letztlich tötet der Knecht den Herrn aus Notwehr. Das Töten des Herrn selbst ist insofern eine Sünde, als dass der Knecht seine Zustimmung zu Töten des Herrn gegeben hat. Dabei lag jedoch kein schlechter Wille vor, da der Wille des Knechts darin bestand, sein Leben zu retten.54 Umgekehrt ist es ein schlechter Wille, der bei Überfluss/Gier (luxuria) oder Genusssucht (gula) vorhanden ist, ohne dass bereits eine Sünde in Form der Zustimmung vorliegt.55 Entsprechend resümiert Abaelard: „Manchmal wird eine Sünde ohne schlechten Willen begangen und daraus folgt, dass das, was Sünde ist nicht Wille heißt.“56 Die terminologische Trennung von Zustimmung (consensus) und Wille (voluntas) wird folglich dem Ziel Abaelards gerecht, allein im Täter und nicht in der Tat Verantwortung und Schuld festzusetzen.

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Ethica: Hunc uero consensum proprie peccatum nominamus, hoc est, culpam animae qua damnationem meretur, uel apud deum rea statuitur. Quid est enim iste consensus nisi Dei contemptus et offensa ipsius? Non enim Deus ex damno sed ex contemptu offendi potest. Ipse quippe est summa illa potestas quae damno aliquo non minuitur, sed contemptum sui ulciscitur. Peccatum itaque nostrum contemptus creatoris est, et peccare est creatorem contempnere, hoc est, id nequaquam facere propter ipsum quod credimus propter ipsum a nobis esse faciendum, uel non dimittere propter ipsum quod credimus esse dimittendum.

(Luscombe, S. 4, Z. 29 – S. 6, Z. 6) Ethica: Sed fortassis inquies, quia et uoluntas mali operis peccatum est, quae nos apud

Deum reos constituit, sicut uoluntas boni operis iustos facit, ut quemadmodum uirtus in bona uoluntate, ita peccatum in mala uoluntate consistat, nec in non esse tantum, uerum etiam in esse sicut et illa. (Luscombe, S. 6, Z. 11-15) Ethica: […] sed, ut iam dictum est, nequaquam uoluntas ista tamquam mala est improbanda, per quam ille, ut dicis, mortem euadere, non dominum uoluit occidere, et tamen deliquit consentiendo, quamuis coactus timore mortis, iniustae interfectioni quam eum potius ferre quam inferre oportuit. (Luscombe, S. 8, Z. 8-12) Ethica: […] iuxta ortum alterius, et conspectis delectabilibus fructibus in concupiscentiam eorum incidit, nec tamen concupiscentiae suae consentit, ut inde aliquid furto uel rapina auferat, quamquam delectatione cibi in magnum desiderium mens eius sit accensa. (Lus-

combe, S. 14, Z. 5-8) Ethica (Luscombe, S. 10, Z. 25-27)

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Entgegen der augustinischen als auch anselmischen Sündenkonzeption57, worin Sünde bereits in der Trias von suggestio (Verführung) – delectatio (Erregung) – consensus (Zustimmung) besteht und auf den gesamten Handlungsverlauf bezogen ist, fokussiert Abaelard das Moment der58Sünde auf den individuellen, situationsabhängigen, freien Akt der Zustimmung. Darin allein sieht Abaelard sowohl die moralische Bewertung der Handlung gegründet, als auch die moralische59 Verantwortung und die damit verknüpfte Schuld des handelnden Subjektes. Entsprechend schlussfolgert Abaelard, dass keine natürliche Begierde zur Sünde gerechnet werden darf und, dass es keine60 persönliche Schuld impliziert, in diesen Lüsten eine Befriedigung zu verspüren. Da die moralische Bewertung allein an den Begriff der Zustimmung (consensus) gebunden wird, zeigt sich folglich, dass Leidenschaften in Form appetitiven Wollens weder eine Sünde darstellen noch überhaupt moralisch bewertet werden können. Die in der von Abaelard vertretenden reduktionistischen Position implizierte Negation der qualitativen Bewertung eines Wollens umfasst damit jegliche Formen des Handelns. Folglich kommt Abaelard zu dem Ergebnis, dass die Taten, die den bösen wie auch guten Menschen gemeinsam sind, in sich ganz und gar indifferent seien und entsprechend nicht als gut oder schlecht bezeichnet werden dürften; allein die Absicht (intentio) des Handelnden lasse eine sittliche Charakterisierung der Handlung zu.61 Den Begriff der Absicht und die damit verbundene sittliche Qualität, das heißt, die Unterscheidung zwischen einer guten Absicht und einer schlechten, erörtert Abaelard ausführlich in den Collationes. So integriert er in den Dialog

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Vgl.: AUGUSTINUS, De sermone Domini in monte, I, 12, n. 34, in Patrologia Latina 34, Sp.

1246f.; Siehe auch: LOTTIN, Odon D., Psychologie et moral aux aux XIIe et XIIIe Siecles, Tome V, L’ecole d’Anselme de Laon et de Guillaume de Champeaux, Gembloux 1959, Nr.73. Jede einzelne Zustimmung des Menschen resultiert aus seiner freien Entscheidung (liberum arbitrium). Ethica: Hunc uero consensum proprie peccatum nominamus, hoc est, culpam animae qua damnationem meretur, uel apud deum rea statuitur. (Luscombe, S. 4, Z. 29-31) Letztlich

begrenzt Abaelard den Bereich der Schuld auf das einzelne Individuum, was auch der Neuinterpretation der Erbsünde als Erbschuld zugrunde liegt. Ethica: Ex his, ut arbitror, liquidum est nullam naturalem carnis delectationem peccato

asscribendam esse, nec culpae tribuendum in eo nos delectari, quo cum peruentum sit delectationem necesse est sentiri. (Luscombe, S. 20, Z. 12-15) Siehe auch Ethica: […] Quam difficile, immo impossibile, nostrae infirmitati uideatur immunes omnino a peccato manere neminem latere reor, ita, inquam, si peccati uocabulum large, ut diximus, accipientes illa etiam uocemus peccata quaecumque non conuenienter facimus. Si autem proprie peccatum intelligentes solum Dei contemptum dicamus peccatum, potest reuera sine hoc uita ista transigi, quamuis cum maxima difficultate. (Luscombe, S. 68, Z. 15-21) Ethica: Quippe quae, ut praediximus, aeque reprobis ut electis communia sunt, omnia in se indifferentia sunt nec nisi pro intentione agentis bona uel mala dicenda sunt […].

(Luscombe, S. 44, Z. 30f.)

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zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christen die Frage nach dem sittlichen Gut und kommt zu dem Ergebnis, „dass oft bonum gesagt wird, und dennoch nicht bene, das heißt, in guter Absicht,62so scheint auch bonum geschehen zu können, obwohl es nicht bene geschieht.“ Die aufgezeigte Distinktion von guter (bona intentio) und schlechter Absicht (mala intentio) basiert nicht auf den faktischen Ablauf einer Handlung oder der sittlichen Qualität des angestrebten Handlungsobjektes, sondern63auf der inhaltlich bestimmten Handlung und ihren Bezug auf ein normiertes Ziel. Obwohl der Terminus intentio keine klare Begriffsdefinition bei Abaelard erfährt, kann er jedoch in toto als eine rationale, innere Bindung an Etwas, welches als normkonform oder diesem entgegengesetzt erkannt wurde, bestimmt werden. Entsprechend wird die Absicht (intentio) selbst 64 als subjektive Handlungsnorm aufgefasst. Im Bezug auf die Leidenschaften gesteht nun Abaelard eine Einflussnahme dieser auf die Absicht des Handelnden zu.65 So geht Abaelard davon aus, dass der menschliche Wille zunächst ein grundsätzlich objektorientiertes Streben bezeichnet, das moralisch neutral zu bewerten ist66 und von den Leidenschaften, wie die fleischliche Begierde, dazu verführt oder verleitet wird, einen schlechten Willen (mala voluntas) auszubilden, indem er etwas erstrebt, was von der Vernunft als schlecht erkannt und beurteilt wurde. So „strebt die Seele aus Lust, die sie im Fleisch empfindet, zu dem hin, was sie bei vernünftiger Überlegung ablehnt oder als nicht erstrebenswert beurteilt. Passend zu dem […] [mustert Gott] die Intentionen und die daraus hervorgehenden Zustimmungen.“67 Die Absicht des Subjektes umfasst schließlich den inneren Prozess der rationalen Bezugnahme auf ein gewolltes Objekt und der sich daran anschließenden Positionierung dessen, welches sich in der Ausprägung eines guten oder schlechten Willens (bona vel mala voluntas), einer guten oder schlechten Absicht widerspiegelt. In diesem Prozess 62

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Collationes, II, 212: Sicut enim „bonum“ saepe dicitur, nec tamen „bene“, id est bona intentione, ita et „bonum“ fieri posse uidetur, cum tamen bene non fiat. (Marenbon, S.

210) Vgl.: ERNST, Stephan, Ethische Vernunft, S. 126f. Vgl.: SCHROETER-REINHARD, Alexander, Die Ethica des Peter Abaelard. Übersetzung,

Hinführung und Deutung, Freiburg Schweiz 1999, S. 334ff. Ethica: Probator et cognitor cordis et renum dicitur Deus, hoc est, quarumlibet intentionum ex affectione animae uel infirmitate seu delectatione carnis prouenientium. (Luscombe, S. 40, Z. 17f.) Vgl.: SAARINEN, Risto, Weakness, S. 51f. Siehe auch: BLOMME, Robert, La doctrine du péché, S. 174f.: Expositio in epistolam ad Romanos, V, 15, 3: Voluntas quippe hominis ea proprie dicitur, quae ex infirmitate uel passibilitate carnis illata, eam naturaliter quietem appetit quae nullis affligatur molestiis sed ab omni penitus poena sit immunis, sicut et in primis parentibus ante peccatum concessum est et in futura uita plenius nobis concedendum est. Ethica: (Luscombe, S. 40, Z. 30ff.)

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sind es vor allem die Leidenschaften, auf Grund derer sich das Subjekt gegen die Vernunft positioniert. Auf der Grundlage des eben skizzierten Moralentwurfs Abaelards wurde klar gezeigt, dass die gesamte Antriebstruktur des Menschen sittlich neutral gewertet werden muss und allein die Zustimmung zu einem durch Leidenschaften verführten schlechten Willen als Sünde bezeichnet werden kann. Die Leidenschaften sind folglich keine, obgleich ihrer negativen Konnotation, moralisch schlechten Eigenschaften oder Willensneigungen. Es ergibt sich abschließend die Frage, welche Aufgabe Abaelard den Leidenschaften einräumt und wie mit diesen umzugehen ist. 4. Die Leidenschaften im tugendethischen Konzept Abaelards

Ein erster Einstieg sei über einen Brief Heloisas an Abaelard gewonnen, in dem sie sich mit ihren eigenen Leidenschaften auseinandersetzt und diese wie folgt charakterisiert: […] Denn nichts haben wir so wenig in der Gewalt als unser Herz, und eher als ihm gebieten zu können, werden wir gezwungen ihm zu gehorchen, Darum, wenn uns seine Leidenschaften aufstacheln, mag niemand seine ungestümen Triebe so dämpfen, daß sie nicht leicht zu Taten hinausdrängen und noch leichter in Worte ausbrechen, welche stets offenkundigere Kennzeichen der Leidenschaften sind […].68

Heloisa formuliert an dieser Stelle die zeitgenössische, christliche Vorstellung von Leidenschaften als sinnliche Erregungen, die schwer zu zügeln sind und manchmal auch außerhalb der menschlichen Lenkung zu stehen scheinen. Auch sie nimmt das Motiv des Ziehens beziehungsweise Drängens der Leidenschaften auf, die den Menschen zu Taten anstacheln ( ); ihn auch teilweise zu Taten zwingen ( ). Auf die Frage, wie mit diesen Leidenschaften zu Verfahren sei, antwortet ihr Abaelard wie folgt: „Für eure Schwachheit ist die Einsamkeit daher notwendig, weil wir hier den Angriffen fleischlicher Versuchungen weniger ausgesetzt sind und unseren Sinnen weniger Gelegenheit gebostimulant

obedire cogimur

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Epistula 6, S. 241: Nihil enim minus in nostra est potestate quam animus eique magis obedire cogimur quam imperare possimus, Unde et cum nos eius affectiones stimulant, nemo earum subitos impulsus ita repulerit ut non in effecta facile prorumpant et se per uerba facilius effluant quae promptiores animi passionum sunt notae secundum quod scriptum est: Ex abundantia enim cordis os loquitur. MUCKLE, Joseph T., The Letter of Heloise on Religious Life and Abelards First Reply, in: Medieval Studies 17 (1955), S. 240-281. (Übersetzung nach: PETER ABAELARD, Der Briefwechsel mit Heloisa, übersetzt und hrsg. von Hans-Wolfgang Krautz, Stuttgart 2001, S. 116.)

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ten ist uns zum Stofflichen hinabzuziehen.“69 Die von Abaelard postulierte Einsamkeit oder auch Flucht vor den Verlockungen ist jedoch nur eine Präventivmaßnahme, um Leidenschaften gar nicht erst zu entwickeln und damit die Realisierung eines handlungsleitenden appetitiven Willens zu verhindern. Beim bereits stattgefundenen leidenschaftlichen Befall des Menschen gilt es jedoch diese zu erdulden oder zu bekämpfen. So wird bereits in den Collationes aber besonders in der Ethica das Anliegen Abaelards deutlich, in der inneren Ambivalenz des Menschen die Grundlage eines stetigen Ringens und Kämpfens zu sehen. Dieses Kämpfen spezifiziert Abaelard als ein Widerstand leisten (resistendo), das heißt, die Mängel der menschlichen Natur durch Fähigkeiten wie Vernunft und Tugenden zu überwinden und an diesem Kampf zu wachsen.70 Der ethische Auftrag Abaelards liegt folglich im Kampf71 gegen die Leidenschaften, weshalb Abaelard dem stoischen apatheia- Konzept ablehnend gegenübersteht. Denn es ist nicht Abaelards Ziel die Leidenschaften auszulöschen, sondern im Kampf mit ihnen, die eigene Sittlichkeit zu testen und zu bewahren. Die Sittlichkeit ist dabei eng an den Begriff der Tugend gebunden, da sie sich im sittlich richtigen Handeln beziehungsweise Verhalten offenbart. Die Tugenden (Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Tapferkeit) selbst bestimmt Abaelard als habituelle Vermögen des Menschen, die sich erst durch stetiges Einüben aktualisieren.72 Dieses Einüben ist nur möglich, wenn der Mensch zu Gegenteiligem verführt wird und sich auf seine Vernunft berufend, für die Sittlichkeit entscheidet. So konstatiert Abaelard wie folgt: „Damit es sich wirklich um einen Kampf handelt, muss es einen73Gegner geben, der Widerstand leistet, nicht einen der völlig zu Grunde geht.“ Entsprechend haben die Leidenschaften vor allem eine pädagogische Funktion, indem sie den Menschen zu schlechten Handeln und zur Ausbildung eines schlechten Willens ( mala voluntas) verleiten sollen, um darauf

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Epistula 8: Vestrae uero infirmitati tanto magis est solitudo neeessaria, quanto carnalium tentationum bellis minus hic infestamur et minus ad corporalia per sensus euagamur. C AUGHLIN, T.P.: Abelards Rule of Religious Women, in: Medieval Studies 18

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(1956), S. 241-292; Übersetzung nach Krautz, H-W, S. 279f.) Ethica: Certauerit, inquam, non tam hominibus quam uitiis resistendo, ne nos uidelicet in

consensum pertrahant prauum. Quae, et si homines cessent, impugnare nos non cessant, ut tanto periculosior eorum pugna sit quanto frequentior, et tanto uictoria clarior quanto difficilior. (Luscombe, S. 4, Z. 13-17) Siehe hierzu: GILL, Christopher, Stoicism and Epicureanism, in: Peter Goldie (Hg.), Oxford Handbook of Philosophy of Emotions, Oxford 2010, S. 143-166. Collationes, II, 111: ‚Virtus‘, inquiunt, ‚est habitus animi optimus‘[…]. Est igitur habitus qualitas rei non naturaliter insita, sed studio ac deliberatione conquisita et difficile mobilis (Marenbon S. 128); Vgl.: Ethica: Tunc autem insuper hanc ipsam temptationem nobis conuertit ad commodum, dum per eam sic nos exercet ut deinceps cum occurrerit minus grauare possit, et iam minus impetum hostis timeamus de quo iam triumphauimus et perferre nouimus. (Luscombe, S. 36, Z. 4-11) Vgl.: Collationes, II, 112 (Marenbon, S. 128f.)

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aufbauend im Widerstand Tugenden zu erwerben und auszubilden. Sich darauf beziehend rekapituliert Abaelard, dass „der böse Wille selbst […] nicht ausgelöscht wird, [und] denen, die ihm widerstehen, den Siegespreis gibt und ihnen die Gelegenheit zum Kampf und die Krone des Ruhm liefert, […] so soll man den bösen Willen selbst […] eine notwendige Schwäche nennen“74. Die klare Positionierung der Leidenschaften als eine beinahe natürlich und schon notwendig gewordene75 Instanz sittlicher Qualifikation ist eine deutliche Absage an das stoische, redundanztheoretische Leidenschaftskonzept. Nicht das Auslöschen der Leidenschaften ist nunmehr das Ziel des sittlichen Lebens, sondern Herr seiner selbst zu sein ( )76, indem man sich seiner naturalisierten Leidenschaften entgegen stellt und diese mit Hilfe der eigenen Vernunft und Tugenden besiegt. In diesem Zusammenhang bejaht Abaelard die allgemeine Bedürfnisnatur des Menschen sowie die damit einhergehenden Leidenschaften und macht sie zum Ausgangspunkt seines ethischen Entwurf. dominatur animo suo

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Ethica: Cum enim nonnunquam peccemus absque omni mala uoluntate, et cum ipsa mala uoluntas refrenata, non extincta, palmam resistentibus pariat, et materiam pugnae et gloriae coronam conferat, non tam ipsa peccatum quam infirmitas quaedam iam necessaria dici debet. (Luscombe, S. 6, Z. 20-24) Ethica: […] concupiscentiarum quae quasi naturales ac necessariae iam factae sunt […].

(Luscombe, S. 34, Z. 28f.) Ethica: Melior est patiens uiro forti et qui dominatur animo suo expugnatore urbium. (Luscombe, S. 4, Z. 8f.)

Ulrich Köpf

Die Leidenschaften der Seele im Werk Bernhards von Clairvaux

1. Der historische Kontext

Die Beschäftigung mit Bernhard von Clairvaux führt gegenüber Autoren wie Bonaventura und Thomas von Aquin um hundert Jahre zurück zu einem noch eindeutig vorscholastischen Denken. Der vorscholastische Charakter dieses Denkens ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Zum einen fehlt ihm noch der systematische Einsatz jener Zugänge zu den Problemen und Methoden der Problemlösung, die in den Kathedralschulen des 12. und den Universitäten des 13. Jahrhunderts entwickelt worden sind. Zum andern ist es noch weitgehend unberührt von der im 12. Jahrhundert einsetzenden Aristotelesrezeption, die der Schul- und Universitätstheologie methodisch und inhaltlich so viele Anregungen bieten sollte. Dass Bernhard nicht nur ein glänzender Schriftsteller, sondern – trotz seines noch ganz unscholastischen Umgangs mit dem Stoff – auch ein durchaus anspruchsvoller theologischer Denker ist, der einen von der Scholastik klar unterschiedenen Typus von Theologie, den der monastischen Theologie, repräsentiert, ist längst nachgewiesen worden. Obgleich der Abt von Clairvaux nicht schulmäßig argumentiert, erörtert er doch in großer Eindringlichkeit theologische und philosophische Sachverhalte. Das gilt auch von seinen Aussagen über das Seelenleben. Die Quellen seiner anthropologischen und psychologischen Einsichten sind neben einer breiten, im Umgang mit seinen Mitbrüdern wie mit Angehörigen aller Stände bis zu den Spitzen der weltlichen und kirchlichen Hierarchie erworbenen Menschenkenntnis und einer scharfen, in der monastischen Tradition unablässiger Selbstprüfung gewonnenen Selbsterkenntnis die vorchristlich-lateinische Literatur der Antike und die christlichen, zumal die asketisch-monastischen Überlieferungen der Alten Kirche sowie die darin verarbeiteten Elemente der griechischen Philosophie. 1

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Vgl. Ulrich KÖPF, Monastische und scholastische Theologie, in: Bernhard von Clairvaux und der Beginn der Moderne, hg. von Dieter R. Bauer / Gotthard Fuchs, Innsbruck / Wien 1996, S. 96-135.

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Auf die Frage nach literarisch fassbaren Quellen soll im Folgenden allerdings nicht näher eingegangen werden. Ich werde mich vielmehr ganz auf Bernhards Umgang mit unserem Thema konzentrieren. Jedem, der von der scholastischen Philosophie und Theologie herkommt, fällt auf, dass der Zisterzienser nirgends eine zusammenhängend ausgearbeitete Lehre von den „Leidenschaften der Seele“ vorträgt – weder in einer geschlossenen Abhandlung noch in einem Abschnitt einer seiner Schriften, in dem umfassend darüber gehandelt würde. Höchstens rudimentäre Bemühungen, gewisse Sachverhalte systematisch darzustellen, liegen vor – besonders in kurzen Entwürfen, die etwa die Lenkung der „Leidenschaften“ (Div. 50) oder ihre Rolle im Gebet (Div. 107) behandeln. Am Fehlen schulmäßiger Methoden liegt es auch, dass der an der Scholastik orientierte Betrachter zunächst Mühe hat, bei Bernhard theoretische Einsichten und systematische Zusammenhänge zu erkennen. Nur einer umfassenden Beschäftigung mit seinem gesamten Werk, das die Eigenart seines schriftstellerischen Wirkens vor dem Hintergrund seiner monastischen Lebensform beachtet, erschließt sich sein Denken in angemessener Weise. Psychologische Ausführungen durchziehen Bernhards gesamtes Werk. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um drei Gruppen von Texten: um mehr als 500 Briefe, um acht thematische Abhandlungen und um zahlreiche Predigten sowie Predigtfragmente (oder Versatzstücke für Predigten), die den größeren Teil seiner schriftlichen Hinterlassenschaft ausmachen. Die jeweiligen Anlässe der Predigten und die biblischen Texte, die ihnen zu Grunde liegen, bieten Bernhard überreichen Stoff, sich über „Leidenschaften der Seele“ zu äußern. Sein umfangreichstes Werk, die zusammenhängende, aber unvollendete Reihe der 86 Hoheliedpredigten (über Cant. 1,1 bis 3,1), ist einem Buch des Alten Testaments gewidmet, das in seinem ganzen Umfang von der für Bernhard höchsten „Leidenschaft“ handelt: von der Liebe. Die Predigten über dieses Buch haben deshalb in unterschiedlichsten Zusammenhängen vor allem die religiös gedeutete Liebe zwischen Bräutigam und Braut zum Gegenstand. Eine eigene Abhandlung, in die der Abt von Clairvaux seinen 11. Brief an die Kartäuser der Grande Chartreuse eingefügt hat, handelt vom Thema der Gottesliebe (De diligendo Deo). Ausdruck der brüderlichen Liebe ist die Hoheliedpredigt 26, in der Bernhard den Tod seines leiblichen Bruders und Mitbruders in Clairvaux Gerhard beklagt. Aber das eigentliche Thema dieser Predigt bilden 2

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Das gilt natürlich für alle vorscholastischen monastischen Autoren. Aus ihrem Kreis werde ich im Folgenden gelegentlich auch Wilhelm von St. Thierry berücksichtigen, der in engem Gedankenaustausch mit Bernhard stand. Auf die noch längst nicht geklärten und in unserem Kontext auch nicht lösbaren Fragen der Abhängigkeit beider voneinander gehe ich freilich nicht ein. Dazu Dorette SABERSKY, „Affectum Confessus sum, et non Negavi“. Reflections on the Expression of Affect in the 26 Sermon on the Song of Songs of Bernard of Clairvaux, in: The Joy of Learning and the Love of God. Studies in Honor of Jean Leclercq, hg. von th

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doch sein Schmerz und seine Trauer um den Verstorbenen. Es ist bezeichnend, dass sich in dieser einzigen Predigt nicht weniger als fünfzehnmal – substantivisch und verbal – der Affekt-Begriff findet. Der Predigttext Ordinavit me in caritatem (Cant. 2,4) bietet Bernhard Gelegenheit, in den Hoheliedpredigten 49 und 50 über die Lenkung der „Leidenschaften“ nachzudenken. Die genannten Motive weisen aber doch nur auf den äußerlichen Anlass für Bernhards Reden von den „Leidenschaften“ hin. In Wirklichkeit geht die Bedeutung des Themas in seinem gesamten Werk viel tiefer. Die „Leidenschaften“ spielen in seinem theologischen Denken, das sehr stark auf das religiöse Subjekt ausgerichtet ist, aus sachlichen Gründen eine zentrale Rolle. Das ließe sich in der eingehenden Interpretation der einzelnen Predigten und Schriften zeigen. Angesichts des begrenzten Umfangs dieses Beitrags wähle ich einen anderen Weg: Aus einer Fülle von Aussagen werde ich zusammenfassend eine Reihe von Beobachtungen und Ergebnissen vorstellen. Dabei werde ich aber nicht versuchen, eine geschlossene Lehre Bernhards von den „Leidenschaften der Seele“ zu rekonstruieren, sondern die wichtigsten Aspekte seines Umgangs mit dem Thema behandeln, ohne gewisse Brüche und Unstimmigkeiten zu verschweigen. Der deutsche Sammelbegriff „Leidenschaften“ bezeichnet nicht ganz adäquat zwei zwar gegensätzlich gerichtete, aber eng miteinander verbundene Arten seelischer Vorgänge: einerseits solche, die sich – gleichsam spontan in der Seele entstehend oder von außen angeregt und dadurch vom Menschen in einer gewissen Passivität empfangen – allein innerhalb der Seele abspielen, andererseits solche Regungen, die in irgendeiner Weise nach außen gerichtet sind und zu einem Handeln hinstreben. In den einzelnen „Leidenschaften“ sind Erleiden und Streben in einer oft sehr verwickelten Weise miteinander verbunden. Im Folgenden werde ich Bernhards Auffassung dieser Sachverhalte möglichst genau aus seinem Sprachgebrauch erheben und werde dabei weitgehend seine eigenen Begriffe gebrauchen. Wenn die Untersuchung nicht uferlos werden soll, muss ich mich auf 4

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E. Rozanne Elder, Kalamazoo, Mich./Spencer, Mass. 1995 (Cistercian Studies Series 160), S.187-216. Aus der Literatur zum Thema nenne ich nur Étienne GILSON, La théologie mystique de saint Bernard, Paris 1934 (³1969) (Études de philosophie médiévale 20), der in seiner für

Bernhards Würdigung als Theologe grundlegenden Arbeit einige erste Hinweise auf die systematische Funktion der Affekte in Bernhards Werk gibt, ferner Wilhelm H , Die Anthropologie Bernhards von Clairvaux, Berlin 1964 (Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie 7), der bereits materialreich und verständnisvoll über Bernhards Auffassung der Affekte berichtet (S. 97-110), und Ulrich K , Religiöse Erfahrung in der Theologie Bernhards von Clairvaux, Tübingen 1980 (Beiträge zur historischen Theologie 61), wo die Affekte vor allem als Organ des religiösen Erfahrens vorgestellt werden (besonders S. 135143). Iß

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die Gattungsbegriffe konzentrieren und kann auf die einzelnen Arten von „Leidenschaft“ nur so weit eingehen, als Bernhard sie in Verbindung mit dem Gattungsbegriff erwähnt.

2. Zu Bernhards Terminologie5 In einer bekannten Aussage hat Augustinus die zu seiner Zeit gängigen lateinischen Übersetzungen des griechischen Wortes für Leiden und Leidenschaft, p£qoj, aufgezählt.6 Bernhard kennt alle drei hier durch sive als gleichbedeutend nebeneinander gestellten Wörter, verwendet sie aber in unterschiedlicher Weise.

2.1 Perturbatio Nur an etwa 20 Stellen gebraucht Bernhard das einst von Cicero bevorzugte7 Wort perturbatio. Bei Bernhard ist das Wort eindeutig negativ besetzt, weil das damit bezeichnete Geschehen die seelische Gesundheit zerstört.8 Gerne nennt er perturbatio zusammen mit anderen schlechten Vorgängen oder Stimmungen in der Seele, wie Irrtum,9 Sorgen, Schuldgefühlen, Ängsten, Unruhe, Verdruss, Ärger,10 er sieht 5

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Bernhards Werke zitiere ich im Folgenden nach der kritischen Ausgabe: S. Bernardi Opera, hg. von J. Leclercq / C.H. Talbot / H.M. Rochais, 8 in 9 Bänden, Rom 1957-1977 (Band, Seite, Zeile). Diese Edition ist mit Corrigenda, Übersetzungen, Einleitungen und Anmerkungen, jedoch in veränderter Abfolge der Werke, abgedruckt in: BERNHARD VON CLAIRVAUX, Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, hg. von Gerhard B. Winkler, 10 Bde., Innsbruck 1990-1999. Die zuweilen irreführende Zeichensetzung der Edition wird stillschweigend korrigiert. Die Abkürzungen der Werktitel Bernhards werden in einer Liste am Ende des Beitrages aufgeschlüsselt; sie entsprechen den Abkürzungen in: Ulrich KÖPF, Re-

ligiöse Erfahrung in der Theologie Bernhards von Clairvaux, Tübingen 1980 (Beiträge zur historischen Theologie 61), S. 238-240, sowie in der lateinisch-deutschen Ausgabe (Bd. 1, S. 842-844). De civitate Dei 9,4,1: Duae sunt sententiae philosophorum de his animi motibus, quae Graeci p£qh, nostri autem quidam, sicut Cicero, perturbationes, quidam affectiones vel affectus, quidam vero, sicut iste, de Graeco expressius passiones vocant. Has ergo perturbationes sive affectiones sive passiones quidam philosophi dicunt etiam in sapientem cadere [...]. Vgl. besonders Tusculanae disputationes 3,4,7, dazu das ganze 3. und 4. Buch.

Sent. III 86 (6/2,124,24f.): accipimus quattuor perturbationes, quibus animarum sanitas subvertitur. Cons. 5,10 (3,475,2). SC 12,1 (1,60,13-15): de necessitatibus pauperum, de anxietatibus oppressorum, de per-

turbationibus tristium, de culpis delinquentium, et postremo de omnibus quorumlibet miserorum aerumnis; 73,5 (2,236,18): in tanta trepidatione et perturbatione malorum; Ep. 1,7 (7,6,15): scandala, perturbationes, molestias; 247,15f.: in scandalo et animi perturbatione.

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ihren Grund geradezu in Lastern11 und stellt sie in eine Kausalreihe schädlicher Seelenverfassungen.12 Als ihren Gegensatz bezeichnet er Ruhe,13 Frieden14 und Freude15. Heilung von dieser Verfassung erwartet er von einem ordnenden Geschehen, dessen Rolle später noch zur Sprache kommen wird.16

2.2 Passio Anders als die Mehrzahl der mittelalterlichen Autoren,17 darunter auch Wilhelm von St. Thierry,18 gebraucht Bernhard für das griechische p£qoj im Sinne von „Leidenschaft“ nur sehr selten lateinisch passio. In der Regel bezeichnet passio

bei ihm das (primär körperliche) Leiden und die Krankheit, die auch dem seelischen Leiden entgegengesetzt werden können. Am häufigsten gebraucht er dieses Wort für das Leiden und die Leidensgeschichte Jesu, daneben auch für das Martyrium von Heiligen und gelegentlich für das irdische Leiden anderer Menschen, wobei er meist eine Beziehung zum Leiden Christi herstellt. In den vier Fällen, in denen er von spricht, meint er – ähnlich wie bei – nicht so sehr eine Disposition der Seele im Allge19

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passio (passiones) animae

perturbatio

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SC 55,2 (2,112,22f.): vitam in perturbatione vitiorum scelerumque confusione vastantes. Ep. 32 (7,87,9-11): sic damnandis et reprobis tribulatio parit e contrario pusillanimitatem, pusillanimitas perturbationem, perturbatio desperationem. Ep. 198,1 (8,54,10). Ep. 29 (7,83,19). Ep. 213 (8,172,15f.). Unten Abschnitt III 5. Vgl. Jürgen HENGELBROCK, Art. Affekt I., Historisches Wörterbuch der Philosophie 1,

Basel/Darmstadt 1971, Spalte 89-93, hier Spalte 91: „Die A.-Lehre stellt eine Zusammenfassung und abschließende Diskussion der antiken Traditionen auf der Basis der Aristotelischen Wertung dar. Allgemein setzt sich der Terminus »passio« durch, der in derselben Bedeutungsbreite zu finden ist wie das griechische Wort p£qoj “ Vgl. De natura corporis et animae 88 (GUILLAUME DE SAINT-THIERRY, De la nature du corps et de l’âme, hg. von Michel Lemoine, Paris 1988) S. 175: anima [...] administrationem rationalem quatuor exercet passionibus, spe scilicet et gaudio, timore et tristitia. Palm. 3,3 (5,53,21f.): Neque enim corporalis passio, sed tentatio spiritualis instabat; Andr. 1,6 (5,431,3f.): Aut non longe gloriosius fuit, quando quidem totum propter nos agebatur, ut non modo passio corporis, sed etiam cordis affectio pro nobis faciat. mittelalterliche

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Meist direkt auf das körperliche Leiden bezogen, so SC 33,5 (1,237,2f.): iuxta omnes nimirum nostri corporis passiones, ita ut neque amara mors nec crux probrosa defuerit; QH 9,4 (4,438,19f.): Apostolus dicat implere se quae desunt passionum Christi in corpore suo; Humb. 5 (5,444,16-18): Crucifixus est ille [sc. Iesus], et iste [sc. Humbertus von Clairvaux] multis et magnis crucibus affixus stigmata Iesu tulit in corpore suo, adimplens ea, quae deerant passionum Christi etiam in carne sua.

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meinen als ihr Leiden oder ihre Krankheit. In der Auslegung von Sap. 9,15 interpretiert er die Seele als die Affekte (affectiones), denen der verderbte Körper Leiden (passiones) zufügt. Gelegentlich werden durch passiones bestimmte Laster bezeichnet; dabei legt der Gebrauch von passio die Gegenüberstellung zum positiv besetzten Begriff compassio (Mitleiden) nahe. Dabei zeigt sich auch, dass sich für Bernhard die passio primär auf den Körper bezieht, während sich die compassio im Innern des Menschen abspielt. So war der Märtyrer Stephanus in der Stunde seines Todes mehr um seine Verfolger als um sich selbst besorgt, da in ihm der Affekt seines inneren Mitleidens die Empfindung seines körperlichen Leidens besiegte. Auch in Maria, der Mutter Jesu, hat der Affekt des Mitleidens das Empfinden des geradezu körperlichen Leidens übertroffen, das vom Leiden ihres Sohnes hervorgerufen wurde. 21

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2.3 Affectio, affectus In den vorangehenden Ausführungen ist uns bereits wiederholt jener Begriff begegnet, mit dem Bernhard ganz überwiegend die Leidenschaften der Seele bezeichnet: der des Affekts. Bernhard kann die Leidenschaft (affectus) des Herzens geradezu dem Leiden des Körpers gegenüberstellen.27 An anderer Stelle spricht er 21

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SC 1,9 (1,7,10f.): annosa et inveterata quaecumque animae passio semel perfecteque sanatur; SC 10,9 (1,53,13-15): antiquas animi passiones necdum in se emortuas sentit, et necesse perinde habens resecandis intendere de cordis hortulo spinis iniquitatum et urticis cupiditatum; Div. 34,4 (6/1,231,13-15): Quia enim veram humanae carnis et animae substantiam veram suscepit, utriusque naturam, nec corporis illi defuerunt, nec animae passiones; Ep. 405 (8,386,8f.) über den Gesundheitszustand eines Mitbruders: Certum enim sit vobis non esse corporis aegritudinem, sed animae passionem. Asc. 3,1 (5,131,19f.): Animam vero hic existimo dici affectiones, quae corrupto corpore diversis passionibus afficiuntur. Div. 65,1 (6/1,298,9f.): Ager est corpus. Huic dum adhuc dominantur passiones desideriorum, iacet incultus et obnoxius maledicto, spinas et tribulos germinat. Div. 70 (6/1,305,3-6): Ita plane, et malis et bonis pariter. Illos enim sollicitat invidiae passio, istos compassio misericordiae, ut in nos incessanter intendant, illi quidem defectum nostrum, isti profectum desiderantes. Innoc. 2 (4,271,26-272,2): Sit ergo Stephanus martyr apud homines, cuius voluntaria passio evidenter apparuit in eo vel maxime, quod in ipso mortis articulo pro persequentibus quam pro se ipso sollicitudinem gereret ampliorem, vinceretque in eo sensum corporeae passionis internae compassionis affectus, ut illorum magis scelera quam sua vulnera plangeret. Oct. Ass. 14 (5,273,20-22): ipsius [sc. Iesu] plane non attigit animam crudelis lancea, quae ipsius [...] aperuit latus, sed tuam utique animam pertransivit. Tuam ergo transivit animam vis doloris, ut plus quam martyrem non immerito praedicemus, in qua nimirum corporeae sensum passionis excesserit compassionis affectus.

Andr. 1,6 (5,431,3f.); oben Anm. 19.

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von derjenigen der Seele als den Affekten (affectiones), die von einem verderbten Körper durch verschiedene Leiden (passiones) beeinträchtigt werden (afficiuntur).28 Er gebraucht für den Affekt-Begriff also zwei Wörter, die schon Augustinus als gleichermaßen geeignete lateinische Äquivalente des griechischen Wortes p£qoj für die Bewegungen der Seele (animi motus) oder für ihre Erschütterungen (perturbationes) genannt hatte: affectus und affectio.29 Das Substantiv affectus begegnet in Bernhards Werken gut 450mal, affectio gut 200mal. Es gibt

immer wieder Versuche, zwischen beiden Wörtern begrifflich zu unterscheiden, wie es Wilhelm von St. Thierry getan hat. Nach Wilhelm bezeichnet der das, was die Seele durch Gnade aus einem gewissen allgemeinen Vermögen heraus und beständig besitzt, während die durch wechselnde Anlässe zu wechselnden Zeiten verursacht werden. Eine vergleichbare, womöglich definitorische Unterscheidung fehlt jedoch bei Bernhard. Es mag möglich sein, durch bemühte Interpretation in seinem Sprachgebrauch gelegentlich gewisse Nuancen herauszuarbeiten – etwa in den Charakter eines zu erkennen. Doch in der Regel verwendet Bernhard und ohne erkennbare Unterscheidung. Ich verzichte darauf, hier im Allgemeinen auf die Wiedergabe dieser Begriffe im Deutschen zu reflektieren. Ob man sie als „Leidenschaften“, „Empfindungen“, „Emotionen“, „Gefühle“, „Stimmungen“ oder anders übersetzt, hängt vom jeweiligen Kontext und auch vom Verständnis dieser deutschen oder eingedeutschten Termini ab, die jeweils ihre eigene Geschichte haben. Um Probleme zu vermeiden, die aus der Verwendung solcher Übersetzungswörter entstehen könnten, werde ich im Folgenden in der Regel das Fremdwort „Affekte“ gebrauchen. Bei einer Untersuchung des lateinischen Sprachgebrauchs sollte man übrigens nicht nur die Substantive beachten, sondern auch die Verben, von denen sie hergeleitet sind: und . Das Deponens bildet am unmittelbarsten und deshalb am deutlichsten den Sinn der „Leidenschaft“ als den eines Erleidens ab. Der entsprechende Sinn von und geht auf das Passivum zurück, während das aktiv gebrauchte eine Tätigkeit („Affizieren“) meint, die sich in den Substantiven seltener niedergeschlagen hat. Bezeichnenderweise gebraucht Bernhard die aktiven Formen von überwiegend für – oft vom

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Asc. 3,1 (5,131,19f.); oben Anm. 22. Oben Anm. 6: affectiones vel affectus. De natura et dignitate amoris c. 17 (GUILLAUME DE SAINT-THIERRY, Deux traités de l’amour de Dieu. De la contemplation de Dieu. De la nature et de la dignité de l’amour, hg. von M.-M. Davy, Paris 1953, S. 92,8-11): Aliud quippe est affectus, aliud affectio. Affectus est qui generali quadam potentia et perpetua quadam virtute firma et stabili mentem possidet, quam per gratiam obtinuit. Affectiones vero sunt quas varias varius rerum et temporum affert eventus. Vgl. die Beispiele in Anm. 110.

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Körper vermittelte – seelische Vorgänge, wie etwa die Erzeugung von Furcht oder die Wirkung von Scham. Zentrale religiöse Erfahrungen, wie die der Liebe zu Gott, kann er zugleich substantivisch und verbal als ein Affiziertwerden ausdrücken: O amor sanctus et castus! O dulcis et suavis affectio! [...] Sic affici deificari est. Gelegentlich ist das seltene Adjektiv affectuosus aufschlussreich, das auch im Superlativ affectuosissimus und als Adverb gebraucht wird. Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass einige von Bernhard erwähnte Affekte nach der herkömmlichen Redeweise auch Tugenden (virtutes) oder Laster (vitia) bezeichnen. Daran zeigt sich, wie wir noch an einzelnen Fällen sehen werden, wie sehr seit der Antike die Affektenlehre einerseits in die ethische Prinzipienlehre, andererseits in die Pädagogik und Psychagogik hineinreicht. 32

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3. Bernhards Auffassung von den Affekten 3.1 Eine Eigentümlichkeit des Menschen? Zunächst halten wir den Eindruck fest, dass für Bernhard der Besitz der Affekte eine Eigentümlichkeit des Menschen bildet. Mit der Tradition definiert er die Affekte als eine innere Bewegung (motus animi), das heißt ein inneres Angerührt- und Bewegtwerden (affici), dessen verschiedene Ausprägungen dem Menschen von Natur aus innewohnen: als Zusammenziehung oder Weitung, Flucht oder Hinstreben des Inneren. Sie sind ein Ausfluss der menschlichen Sterblichkeit, der erst durch den Gebrauch seine besondere Qualität empfängt.36

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Z.B. Sent. III,73 (6/2,110,6f.): [odoratus] licet haustus per corpus, animam tamen afficit,

non corpus.

Z.B. SC 23,14 (1,148,5f.): tunc primum animae Deus sapit, cum eam afficit ad timendum, non cum instruit ad sciendum. Z.B. Div. 104,2 (6/1,375,11): pudor afficit. Dil. 28 (3,143,12-15). Sent. III,86 (6/2,124,25-31): Insunt enim naturaliter homini quattuor affectiones, scilicet tristitia, gaudium, metus et spes, quae sic diffiniuntur. Tristitia est animi contractio; laetitia animi diffusio; metus animi fuga; spes sive cupiditas animi progressio. Contraheris animo, cum molestaris; diffundis animo, cum laetaris; fugis animo, cum metuis; progrederis animo, cum speras vel appetis. Et quidem ex mortalitatis condicione isti motus animi, id est affectiones, insunt nobis [...].

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Konsequenterweise betont Bernhard in einer zentralen, ausführlichen Reflexion auf das Wesen Gottes, dieser bestehe weder aus Teilen, wie ein Körper, noch sei er durch Affekte aufgespalten, wie die Seele; er sei so wenig dem Einfluss von Leidenschaften unterworfen, wie er geformt oder zusammengesetzt sei. Gott sei vielmehr selbst das reine Affizieren, das heißt der Inbegriff des Tätigseins. Diesem Gottesbegriff, der in der Tradition der aristotelischen Lehre vom Unbewegten Beweger und des stoischen Axioms der Apathie Gottes steht, widersprechen aber die bekannten anthropomorphen alt- und neutestamentlichen Aussagen über Gott, die Bernhard in seiner biblischen Redeweise vielfach aufnimmt. Er redet von der Liebe Gottes immer wieder an zentralen Stellen. Gerne zitiert er die johanneischen Worte „Gott ist Liebe“ (1. Joh. 4,8. 16), „er hat uns zuerst geliebt“ (1. Joh. 4,10), „also hat Gott die Welt geliebt“ (Joh. 3,16) und ähnliche Aussagen. Gelegentlich verwendet er den Affektbegriff auch, wenn er von der Liebe Gottes spricht. So sagt er, der Vater liebe den Sohn (Joh. 5,20) mit einem göttlichen und keinem Geschöpf durch Erfahrung bekannten Affekt. Die Liebe Gottes zum Menschen kann ebenfalls als bezeichnet werden. Doch diese Verbindung des Affektbegriffs mit Gott begegnet nur dort, wo der Begriff die spezielle Bedeutung von „Liebe“ annimmt, die sonst in der Regel auf Menschen angewandt wird. Gott ist zwar leidensunfähig; aber er ist zum Mitleiden fähig, da es zu seinem Wesen gehört, sich zu erbarmen und nachsichtig zu sein. So verwendet Bernhard gelegentlich in einer Beschreibung der Wirkung der Taufe, der göttlichen Güte oder des göttlichen Kusses, wie in einer Prosopopoiie der Tugenden das anthropomorphe Bild von der väterlichen Liebe Gottes zu den Menschen. Diese Formulierung kann auch auf Christus als den eingeborenen Sohn übertragen 37

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Cons. 5,16f. (3,480,8f. 22-24): [...] anima.

Non partibus constat, ut corpus; non affectibus distat, ut

Non est formatus Deus: forma est. Non est affectus Deus: affectio est. Non est

compositus Deus: merum simplex est.

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Z.B. SC 19,6 (1,112,8); 83,4 (2,300,13f.); Dil. 35 (3,149,26); Cons. 5,28 (3,491,14f.). Z.B. SC 20,2 (1,115,14); 39,26 (2,23,26); 57,6 (2,123,13). Z.B. Dil. 1 (3,120,19). Quadr. 1,3 (4,355,20f.): ATER ENIM DILIGIT ILIUM affectu utique divino et inexperto omni creaturae.

P

F

,

SC 68,7 (2,201,3f.): [voces] quae divinum quendam affectum ac singularem favorem erga aliquid similiter exprimere videantur. SC 26,5 (1,173,16f.): impassibilis est Deus, sed non incompassibilis, cui proprium misereri semper et parcere. Div. 11,1 (6/1,124,10). Ep. 107,6 (7,271,27f.). SC 8,9 (1,41,19). In einer Textvariante von Ann. 1,9f. (5,22,25f.; 24,28).

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werden, der uns selbst die Barmherzigkeit des Vaters entgegenbringt. Im Übrigen ist die in verschiedenen Schriftworten hervorgehobene Barmherzigkeit Gottes der wichtigste Ausdruck seiner Liebe gegenüber den Menschen. Als charakteristischen negativen Affekt Gottes erwähnt Bernhard immer wieder seinen Zorn. Die Rede von Gottes Affekten bleibt allerdings weitgehend auf den Kreis der durch biblische Aussagen angeregten Formulierungen beschränkt. Dass die Affekte in ihrer Vielfalt nicht so sehr mit der göttlichen Natur, sondern mit dem Menschsein zusammenhängen, beweist auch ihr Zusammenhang mit der menschlichen Natur Christi. Bernhard kann davon sprechen, dass in der Verbindung von Gottheit und Menschheit in Christus nicht die Substanz verwandelt, sondern der Affekt vergöttlicht werde. Andererseits schreibt er Christus als wahrem Menschen menschliche Wahrnehmungen und Affekte im vollen Sinne zu, durch die er die Erfahrung aller menschlichen Nöte gemacht habe. Die gelegentliche Anwendung des Affektbegriffs auf Gott und seine häufige Verbindung mit dem konkreten Affekt der Liebe (caritas) sprechen also nicht dagegen, dass die Affekte ursprünglich etwas zutiefst Menschliches sind. Sie werden auch klar von der Sphäre des Göttlichen geschieden. So kann die menschliche Neigung (affectus) im Gegensatz zum göttlichen Plan stehen. Wenn Bernhard die seltene, kurze und flüchtige Erfahrung der Einung mit Gott beschreibt, bei der sich der Mensch gleichsam selbst verliert, sich selbst nicht mehr wahrnimmt, von sich selbst entleert und beinahe zunichte wird, so bezeichnet er sie als eine Beziehung zu Gott, die dem menschlichen Affekt eigentlich unverzichtbar 48

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Circ. 3,2 (4,282,15-17): Videmus gloriam eius, gloriam quasi Unigeniti a Patre, gloriam misericordiae et affectus vere paterni, gloriam procedentis ex corde Patris et paterna plane viscera exhibentis. Z.B. SC 6,7f. (1,29,21f. 27) nach Ps. 24,10; 84,11; 146,11. Z.B. nach Ps. 6,2: SC 69,2 (2,203,13-15); Ps. 26,9: SC 54,8 (2,107,23); 56,4 (2,116,2325): Peccatoribus [...] semper valdeque longe est, atque in ira hoc et non in misericordia; Ps. 55,8 und Is. 63,3: SC 73,6 (2,237,6. 10f.): cum in ira populos confringet [...]; CALCAVI EOS IN FURORE MEO ET CONCULCAVI EOS IN IRA MEA. Oct. Ass. 1 (5,262,15-17): Absorpta videtur in deitatem humanitas, non quod sit mutata substantia, sed affectio deificata. SC 56,1 (2,114,21-115,2) zu Cant. 2,10: Porro cancellos et fenestras, per quas respicere perhibetur, sensus, ut opinor, carnis et humanos dicit affectus, per quos experimentum cepit omnium humanarum necessitatum. [...] Humanis ergo affectionibus sensibusque corporeis pro foraminibus usus est et fenestris, ut miserias hominum homo factus experimento sciret et misericors fieret. SC 20,5 (1,117,26f.): Non sapienter diligis, humanum sequens affectum contra divinum consilium.

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Dass Bernhard dennoch Möglichkeiten einer Verbindung mit Gott auch für den menschlichen Affekt kennt, wird sich noch zeigen. Im Übrigen ist deutlich, dass der Affektbegriff aus der Sphäre des Menschlichen stammt. Bezeichnenderweise gebraucht Bernhard ihn besonders gerne, wenn er von den natürlichen menschlichen Verwandtschaftsverhältnissen spricht. So redet er von affectus (oder affectio) parentum55 und parentis,56 matris57 und maternus,58 patris,59 paternus60 und paternitatis,61 filialis,62 fraternus,63 in sponsis64 und coniugis,65 necessitudinis,66 propinquorum67 und propinquitatis.68 In allen diesen Fällen handelt es sich um den durch natürliche Zusammengehörigkeit begründeten typisch menschlichen Affekt der Zuneigung und Liebe. ist.

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3.2 Zahl und Arten der Affekte Dass Bernhard mit der traditionellen philosophisch-theologischen Affektenlehre vertraut ist, zeigt sich nicht nur an seiner Kenntnis der verschiedenen lateinischen Termini und an der Definition der Affekte als motus animi, sondern auch an seiner Nennung der wohlbekannten, auf Platon und die Stoa zurückgehenden Vierzahl der Hauptaffekte: Liebe und Freude, Furcht und Trauer.69 Bernhard sieht ihre Vierzahl als naturgegeben an; es sind quattuor animi affectiones notissimae – die natürlichen Affekte der Seele, die so bekannt sind, dass man 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63

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Dil. 27 (3,142,9-18); unten Anm. 237. Sent. III 73 (6/2,109,5). SC 12,4 (1,62,27). SC 12,4 (1,63,7); 29,3 (1,204,12f.); Cons. Praef. (3,393,16f.); Vig. Nat. 6,11 (4,243,18). SC 10,1 (1,48,23); Div. 96,3 (6/1,357,25) u.ö. Ep. 72,4 (7,178,8f.). Ebd. (7,178,10); Ep. 107,4 (7,279,16). Sent. III 127 (6/2,248,2). Lab. mess. 1,1 (5,217,13f.); Ep. 179 (7,401,6); 227 (8,97,8). Ep. 145 (7,347,9); daneben Sent. III 73 (6/2,109,22f.): affectus fraternae caritatis; Epiph. 3,8 (4,309,22f.): fraternae compassionis affectu. SC 83,3 (2,300,10f.): Vides, affectus iste quam sit in sponsis, non ceteris tantum affectibus, sed etiam seipso potentior. Div. 66,2 (6/1,300,21). Sent. III 73 (6/2,110,14); daneben Div. 41,2 (6/1,246,1f.): omnium necessitudinum. Ep. 385,4 (8,353,23). Ep. 313,3 (8,244,28). Div. 50,2 (6/1,271,16f.): Sunt autem affectiones istae quattuor notissimae: amor et laetitia, timor et tristitia; ebenso 72,4 (6/1,310,14f.); ähnlich Sent. III 114 (6/2,205,17f.): Hos pretiosos lapides dicimus quattuor notas et principales animi affectiones, quae sunt gaudium, amor, tristitia et timor; verbal Cons. 5,9 (3,473,30-474,2); Quadr. 2,3 (4,361,9-11); unter

Ersetzung von Liebe durch Hoffnung und von Trauer durch Zorn Sent. III 120 (6/2,222,15f.): quattuor animi affectiones, quae sunt timor, spes, ira, gaudium.

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sie gar nicht ausdrücklich zu nennen braucht. Wie selbstverständlich ihre Vierzahl ist, zeigt sich auch daran, dass Bernhard sie mit den vier Rädern eines Wagens vergleicht. Die vier natürlichen Hauptaffekte können nach ihrer Stellung zu Gegenwart und Zukunft unterschieden werden, aber auch nach dem Fehlen oder Vorhandensein eines Bezugs nach außen: Freude und Trauer ruhen in sich selbst, während Liebe und Furcht auf ein Gegenüber gerichtet sind. Nicht immer bewertet Bernhard die genannten Affekte. Innerhalb der Vierzahl trennt er aber stets klar zwischen Liebe und Freude, die Lust vermitteln, und Furcht und Trauer, die Unlust hervorrufen. Er kann die Affekte ebenso nach Güte und Bosheit der Menschen einteilen, die sich ihnen hingeben, wie nach den mit ihnen verbundenen angenehmen und unangenehmen Empfindungen. Dabei dürfen die erwähnten Empfindungsqualitäten von Lust und Unlust nicht als etwas Negatives missverstanden werden; sie werden von Bernhard vielmehr selbst auf den Umgang mit Gott bezogen. 70

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Dil. 23 (3, 138,6f.): Amor est affectio naturalis una de quatuor. Notae sunt: non opus est

nominare.

Div. 72,4 (6/1, 310,14f.): Habet etiam currus ille quattuor rotas, illas scilicet quattuor animi affectiones notissimas, amorem et laetitiam, timorem et tristitiam; mit etwas anderen Begriffen SC 85,5 (2,310,24-26): iram, metum, cupiditatem et gaudium, veluti quemdam animi currum, bonus auriga reget, et in captivitatem rediget omnem carnalem affectum, et carnis sensum ad nutum rationis in obsequium virtutis. Mit zwei Reihen von Begriffen,

aber ohne den Gattungsbegriff, und ausführlicher, mit Hinweis auf das Auseinanderstreben der Räder bald nach oben, bald nach unten, und unter Deutung der beiden Zugpferde als Drohung und Verheißung Sent. III 21 (6/2,79,16-21): Sedet igitur filius regis in quadriga,

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cuius quattuor rotae sunt modo alta modo ima petentes: amor et timor, laetitia et tristitia: amor cum habet, timor ne perdat, laetitia de habitis, tristitia de perditis. Vel: spes habendorum, gaudium habitorum, timor perdendorum et dolor perditorum. Intellige etiam duos equos ipsam quadrigam cum taedio et labore trahentes, labore attritos et taedio pene deficientes, scilicet comminationem et promissionem. Sent. III 86 (6/2,124,25-125,2): Insunt enim naturaliter homini quattuor affectiones, scilicet tristitia, gaudium, metus et spes [...]. Harum quidem affectionum duae de praesenti sibique contrariae, duae de futuro mutuo dissidentes. De praesenti, tristitia et gaudium; de futuro, metus et spes. Div. 50,3 (6/1,272,15-19): Duae affectiones, laetitia et tristitia, non se extendunt ad alia; in nobis enim laetamur et in nobis tristamur. Amor et timor ad alia se extendunt: timor enim affectio est naturalis, quae nos coniungit superiori per inferiorem partem et habet se ad solum Deum; amor affectio est, quae nos coniungit superiori et inferiori et pari et habet se ad Deum et proximum. SC 85,9 (2,313,12f.): Qui autem transierunt in affectum cordis, aut sapientes sunt et ipso delectantur sapore boni; aut maligni sunt et in ipsa complacent sibi malitia. QH 8,11 (4,433,23f.): colligens pisces, id est affectus iucundos pariter et molestos.

Vgl. z.B. über das irdische Dasein, in dem Lust und Unlust erfahren werden, Mal. 5 (5,421,3-8): Est enim deorsum nos locus, quem sibi totum vindicat ignis [...]. Est et sursum civitas Dei, quam laetificat fluminis impetus, voluptatis torrens [...]. In hoc sane medio

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Neben einer fest umrissenen Vierzahl von Hauptaffekten kennt Bernhard ebenso andere Gruppierungen von zwei bis zu fünf Affekten, kann aber auch unbestimmt von einer Vielzahl unserer Affekte gemäß dem Zustand unserer Seele sprechen, die Ursache dafür sind, dass wir den von Natur aus unwandelbaren Gott mit verschiedenen Namen bezeichnen. Fünf Affekte zählt er auf, um das Verhältnis der Seele zu Gott zu charakterisieren: Furcht, Hoffnung, Gehorsam, Ehrerbietigkeit und Liebe. Unabhängig von der Tradition formuliert er vier Haltungen oder Stimmungen (affectus), in denen gebetet werden soll: in Ehrfurcht, innerer Reinheit, Weitherzigkeit und Hingebung. Ebenso frei formuliert er drei Arten des Affekts (affectio): jene, welche das Fleisch hervorbringt, die Vernunft lenkt und die Weisheit schafft. Wenn er von drei Affekten redet, durch die der menschliche Geist zur Liebe angeregt wird, meint er das Gebot, Gott von ganzem Herzen, aus ganzer Seele und mit ganzer Kraft zu lieben. Den drei Stufen des geistlichen Aufstiegs, die in den drei Arten von Küssen (Fußkuss, Handkuss, 77

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Mundkuss) abgebildet sind, entsprechen drei Affekte oder Fortschritte der Seele, die allerdings nur denen bekannt sind, die sie erfahren haben.82 Zuweilen stellt Bernhard zwei konkrete Affekte unter dem Gattungsbegriff nebeneinander – seien es gleichgerichtete, wie Trauer und Schmerz,83 seien es einander ergänzen-

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boni et mali scientia continetur, et voluptatis et tribulationis hic capere est experimentum. Infelix Eva in has vicissitudines nos induxit. Gratia 11 (3,173,27f.) kennt neben dem Urteilen (iudicium) und Planen (consilium) das Gefallen und Missfallen (complacitum): complaciti quoque [est] experiri quid libeat vel non libeat. Div. 8,1 (6/1,111,8-11): Quod diversis nominibus Deum nunc quidem Patrem, nunc Magistrum vocamus aut Dominum, non illius simplicissimae et omnino invariabilis naturae diversitas ulla in causa est, sed affectionum nostrarum multiplex variatio secundum diversos profectus animae vel defectus. SC 7,2 (1,31,18-21): pono diversas affectiones, ut ea, quae proprie sponsae congruit, distinctius elucescat. Si servus est, timet a facie domini; si mercenarius, sperat de manu domini; si discipulus, aurem parat magistro; si filius, honorat patrem: quae vero osculum postulat, amat. Div. 107,1 (6/1,379,9. 15. 19; 380,2): vercundo, puro, amplo, devoto affectu. SC 50,4 (2,80,11f.): est affectio quam caro gignit, et est quam ratio regit, et est quam condit sapientia. Div. 96,6 (6/1,360,8-10): Et notandum, quod ad illud excitatur mens humana specialiter tribus affectionibus ac provehitur, unde et Deum diligere toto corde, tota anima, tota virtute iubetur. Et prima quidem dulcis, secunda prudens, tertia fortis est. SC 4,1 (1,19,1-5): Sunt ergo hi tres animarum affectus sive profectus, expertis dumtaxat satis noti et manifesti, cum aut de actis malis indulgentiam, aut de bonis agendis gratiam, aut ipsius etiam indultoris et benefactoris sui praesentiam, eo quidem modo quo in corpore fragili possibile est, obtinet intueri. Z.B. Vita Mal. 5 (3,313,17): plangere et dolere.

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de, wie Enthaltsamkeit und Liebe, seien es gegensätzliche, wie Furcht und Liebe, Zorn und allzu große Nachsicht. Besonders aufschlussreich sind jene Stellen, an denen er solche Affekte nicht schematisch oder alternativ aneinander reiht, sondern innerlich miteinander verbindet. An diesen Stellen wird erkennbar, wie das Zusammenspiel verschiedener Affekte abläuft. So kann Bernhard die beiden Affekte von Mitleiden (compassio) und Mitfreude (congratulatio) als Voraussetzungen für Seelsorge und Predigt bezeichnen, kann Scham (pudor) und Furcht (timor) als die grundlegenden Affekte der Bußgesinnung nennen. Die Zahl der Stellen, an denen Bernhard in seinem Werk auf Affekte eingeht, und die Bedeutung der verschiedenen Affekte für sein theologisches Denken sind so groß, dass ihre umfassende Behandlung ein Buch füllen würde. Ich werde mich deshalb auf eine lückenhafte Nennung solcher Äußerungen beschränken müssen, an denen Bernhard einzelne Affekte ausdrücklich mit dem Gattungsbegriff verbindet, und werde selbst dabei nur eine Auswahl von Belegen angeben können. In der bisherigen Darstellung wurden einige von ihnen schon erwähnt; im Folgenden sollen wenigstens die von Bernhard mit dem Affektbegriff bezeichneten vollständig zusammengestellt werden. Relativ selten verbindet Bernhard entschieden negative Affekte mit dem Gattungsbegriff: in Aussagen über Schmerz und Trauer, über Zorn und Bosheit, schließlich über die Furcht, der er allerdings sogleich die Hoffnung auf die göttlichen Verheißungen an die Seite stellt. Weit überwiegend verknüpft Bernhard den Affektbegriff dagegen mit positiv gewerteten Einzelaffekten. Der Übergang von der einen Gruppe zur anderen erscheint auch in dem von Bernhard an etwa 84

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Parab. 6 (6/2,290,14-17): Dedit etiam Christus paschali tempore sponsae suae cordubanos [Lederschuhe, wie sie in Cordoba gefertigt wurden] duos, qui significant duo Testamenta,

quibus affectus sponsae, ne terram tangant, muniuntur, vel continentiam et caritatem, quae duos affectus, quorum alterum ad carnem suam, alterum ad vitia olim sponsa habuit, calciant. Gratia 16 (3,178,5-7): timere, amare. Cons. 2,20 (3,428,20-22): Porro caliginis duae sunt causae, ira et mollior affectus; is iudicii censuram enervat, illa praecipitat.

SC 10,1 (1,48f.). SC 16,4ff. (1,91ff.). Vita Mal. 5 (oben Anm. 83); SC 26,12 (1,180,7): dolentis affectum (über den Tod des Lazarus). Vgl. oben Anm. 86. SC 24,3 (1,153,12f. = 25f.): Conciliant inter se inimicissimas amicitias, et pari consentaneae malignitatis affectu celebratur odiosa collatio. IV p. Pent. 5 (5,205,5-7): Quoties ergo vanitatis cogitatio mentem pulsat, si ex intimo cordis affectu divinas expavescere coeperis comminationes seu promissiones eius desiderare; in Gratia 16 (Anm. 85) wird die Furcht mit der Liebe verbunden.

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drei Dutzend Stellen erwähnten, für ihn theologisch überaus wichtigen Affekt des Mitleidens (condolere, compati, compassio). So kann er die beiden Brüste der Braut des Hohenlieds im Anschluss an das Pauluswort Röm. 12,15 als die beiden Affekte des mütterlichen Herzens deuten: als Mitleid und Mitfreude. Die Haltung des Apostels gegenüber der Welt wird in hohem Maße durch die Nachfolge des Gekreuzigten geprägt. Er, der in den dritten Himmel entrückt wurde, ist durch den Affekt seines Mitleidens der Welt gekreuzigt worden. Beim Reden vom Affekt des Mitleidens verkennt Bernhard keineswegs, dass es erheucheltes Mitgefühl gibt. In einer ausführlichen Analyse der in der religiösen Gemeinschaft aus Schmähsucht und Neid hervorgehenden Verleumdung beschreibt er wirklichkeitsnah und anschaulich die offenen und verdeckten Formen solchen Fehlverhaltens, zu dem das durch Verstellung erzeigte Mitleid gehört. Es wird deutlich, wie dabei alle Ausdrucksweisen von Schmerz und Trauer heuchlerisch aufgeboten werden, um ein Mitleiden vorzutäuschen, das angeblich dem eigenen Schmerz entspringt. Es gibt aber auch wahres menschliches Mitleiden dessen, der selbst nicht leidet, wenn er nur dem Bei93

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SC 10,1 (1,48,23-49,3): Materni breviter exprimuntur affectus, quia nec dolere parvuli, nec valere queunt absque illa quae genuit: utrobique necesse est suis eam conformari visceribus. Igitur, iuxta Pauli sapientiam, duas illas affectiones duobus sponsae uberibus assignabo, compassionem uni, et congratulationem alteri. Zu Bernhards Aufnahme der Paulusworte Gal. 6,14 (siebzehnmal) und 1. Kor. 2,2 (fünfzehnmal) vgl. Ulrich KÖPF, Schriftauslegung als Ort der Kreuzestheologie Bernhards von Clairvaux, in: Bernhard von Clairvaux und der Beginn der Moderne, hg. von Dieter R. Bauer/Gotthard Fuchs, Innsbruck / Wien 1996, S. 194-213.

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Omnia quae mundus amat, crux mihi sunt [...]. Quae vero mundus reputat crucem, illis affixus sum, illis adhaero, illa toto amplector affectu. [...] Qui vero raptus est usque ad tertium caelum, crux illi est omne cui mundus inhaeret, et his adhaeret quae mundo crux esse videntur. Quamvis in his verbis Apostoli illud quoque non incongrue possit intelligi, crucifixum ei mundum reputatione, ipsum vero mundo crucifixum compassione. Crucifixum enim videbat mundum obligationibus vitiorum, et ipse crucifigebatur ei per compassionis affectum. SC 24,3f. (1,153,12f.; 155,10-156,4): Conciliant inter se inimicissimas amicitias, et pari consentaneae malignitatis affectu celebratur odiosa collatio. [...] Et sunt species pestis huius, dum alii quidem nude atque irreverenter, uti in buccam venerit, virus evomant detractionis, alii autem quodam simulatae verecundiae fuco conceptam malitiam, quam retinere non possunt, adumbrare conentur. Videas alta praemitti suspiria, sicque quadam cum gravitate et tarditate, vultu maesto, demissis superciliis et voce plangenti, egredi maledictionem, et quidem tanto persuabiliorem, quanto creditur, ab his qui audiunt, corde invito et magis etiam condolenti affectu quam malitiose proferri. „Doleo“, inquit, „vehementer, pro eo quod diligo eum satis, et numquam potui eum de hac re corrigere.“ Et alius: „Mihi quidem“, ait, „bene compertum fuerat de illo istud; sed per me numquam innotuisset. At quoniam per alterum patefacta est res, veritatem negare non possum: dolens dico, revera ita est.“

Quadr. 6,3 (4,379,7-19):

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spiel des liebenden und barmherzigen Gottes folgt und dadurch eine Wandlung seines Affekts erlebt. Eine weitere Quelle menschlichen Mitleids ist die Selbstbeobachtung, die aus der Einsicht in die eigene Schwäche und Fehlbarkeit zur Nachsicht gegenüber den Schwächen anderer Menschen gelangt. Aus den innersten menschlichen Regungen entsteht nämlich die brüderliche Liebe, und aus einer dem Menschen von Natur eingepflanzten Neigung zu sich selbst zieht sie die Kraft, die unter der Einwirkung göttlicher Gnade Früchte der Güte hervorbringt. In zahlreichen Predigten schildert Bernhard das Mitleiden im Zusammenhang eines christlichen Lebens. Die höchste Form des Mitleidens ist allerdings jenes Leiden, das Jesus Christus angesichts der Menschen empfunden hat. Am Tage seiner Passion hat er nämlich nicht nur seinen Leib Qualen ausgesetzt, sondern auch seine Seele dem Affekt eines zweifachen Mitleidens – des Mitleidens mit der tiefen Trauer der ihn begleitenden Frauen und mit der Verzweiflung seiner Jünger. Ein mit dem Mitleid eng verwandter Affekt, in dem das negative Moment des Leidens stärker in den Hintergrund tritt, ist das Erbarmen 97

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, von dem Bernhard an etwa zwei Dutzend Stellen spricht. Erbarmen oder Barmherzigkeit wird gerne Christus zugeschrieben. Der Bräutigam des Hohenliedes kommt mit dem eifrigen Wunsch, sich zu erbarmen, eilt zu Hilfe und nähert sich uns, indem er sich selbst erniedrigt.100 Auch die Apostel und ihresgleichen stehen uns durch ihre Zuneigung und ihr Erbarmen umso näher, je enger sie miseratio)

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SC 26,5 (1,173,15-21): Deus autem caritas est, et quanto quis coniunctior Deo, tanto plenior caritate. Porro impassibilis est Deus, sed non incompassibilis, cui proprium misereri semper et parcere. Ergo et te necesse est esse misericordem, qui inhaeres misericordi, quamvis iam minime miser sis, et qui non pateris, compateris tamen. Affectus proinde tuus non est imminutus, sed immutatus; nec, quando Deum induisti, nostri cura te exuisti: et ipsi enim cura est de nobis. SC 44,4 (2,46,18-29): si peccanti homini homo peccator minime indignatur, sed magis quasi quemdam ei suavissimi balsami rorem sudans, pium exhibet compassionis affectum, hoc scimus unde venit [...]. Dictum namque est quod ex consideratione suiipsius cuique veniat mansuetum esse ad omnes, dum homo, consilio sapientissimi Pauli [2. Tim. 2,24], ut pie condescendere sciat praeoccupatis in peccato, considerat seipsum, ne et ipse tentetur. Annon hinc denique amor proximi radicem trahit [...]? Ex intimis sane humanis affectibus primordia ducit sui ortus fraterna dilectio, et de insita homini ad seipsum naturali quadam dulcedine, tamquam de humore terreno, sumit procul dubio vegetationem et vim, per quam, spirante quidem gratia desuper, fructus parturit pietatis [...]. Palm. 3,5 (5,55,6-9): animam vero [exponens] geminae cuiusdam humanissimae compassionis affectui: hinc quidem super maerore inconsolabili sanctarum feminarum, inde super desperatione et dispersione discipulorum. In his quattuor crux Dominica fuit, et haec omnia propter nos passus est, qui tanta caritate compassus est nobis. SC 57,1 (2,119,17f.): venit affectu et studio miserendi, accelerat subveniendi zelo, appropiat humiliando seipsum.

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von Natur aus mit uns verbunden sind. Doch zwischen heutigen Menschen kann der Affekt des Erbarmens ebenfalls wirksam sein. Die Wege der Barmherzigkeit und der Wahrheit sind für den Menschen Wege des Herrn, Wege des Lebens, an deren Ende das Heil dessen steht, der auf ihnen geht. Als positive Affekte werden vereinzelt noch Dankbarkeit oder geistliche Freuden genannt. Der wichtigste und am häufigsten erwähnte Affekt ist aber die Liebe (ohne Unterschied als amor, caritas und dilectio bezeichnet). Unter allen Geschenken der Natur ragt der Affekt der Liebe hervor – zumal wenn er sich auf Gott als seinen Ursprung richtet. Wie das Sehen der wichtigste Sinn ist, so nimmt die Gottesliebe unter allen Affekten den ersten Rang ein. Das Gebot, Gott aus ganzem Herzen, ganzer Seele und mit aller Kraft zu lieben, weist auf drei Spielarten (affectiones) einer einzigen Liebe hin, und auch die aus reiner Zuneigung (affectus) geübte Liebe zum Nächsten mündet in die Gottesliebe ein. Die Liebe ist jener Affekt, der aus sich selbst überströmt, der alle anderen Affekte in sich überführt und in seine Gewalt bringt. Sie hat eine so große Nähe zum 101

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Gattungsbegriff „Affekt“, dass eine große Bandbreite von Empfindungen von der freundschaftlichen Gesinnung, der inneren Zuneigung und seelischen Wärme bis hin zur Liebe im Vollsinn an mehr als drei Dutzend Stellen allein durch die Wörter affectus oder affectio ausgedrückt wird. Affectus und affectio können allerdings als Ausdruck einer meist durch Liebe motivierten Aktivität auch das Suchen, Verlangen und Bemühen in den verschiedensten Kontexten meinen.110 Be-

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SC 77,4 (2,263,23-25):

affectu autem et misericordia eo nobis forsan germaniores exsistunt, quo natura coniunctiores. Z.B. Grad. 19 (3,31,2-4): zur zweiten Stufe der Wahrheit steigen wir per affectum compassionis, führt uns der affectus, quo aliis miseremur. QH 11,9 (4,455,13-15): Sic ingreditur homo vias misericordiae et veritatis, vias utique Domini, vias vitae; et fructus viarum salus est viatoris. Oct. Epiph. 2,2 (4,321,8-10): Vos [...] toto affectu in gratiarum actione versamini; ähnlich

Quadr. 5,7 (4,376,1). SC 13,7 (1,74,8f.): excedamus per inusitatas quasdam affectiones, spirituales laetitias. SC 7,2 (1,31,21-23): Excellit in naturae donis affectio haec amoris, praesertim cum ad suum recurrit principium, quod est Deus. Sent. III 73 (6/2,110,19f.): Visus enim principalis sensus est: sicut inter omnes affectiones principatum obtinet amor divinus. Div. 96,6 (6/1,360, 8-10): oben Anm. 81; (360,18-22): Erga caritatem proximi quoque exercemur tripliciter [...]. Quisquis autem hanc puro affectu erga proximum operatur, illam procul dubio, quae Dei est, uberius promeretur. SC 83,3 (2,300,3f.): Amor sibi abundat; amor, ubi venerit, ceteros in se omnes traducit et captivat affectus. Vgl. z.B. SC 2,1 (1,9,1f.): desiderium flagrans et piae exspectationis affectum spirat mihi vox ista; Div. 8,8 (6/1,117,5f. 9-11): qui paternae inhiat hereditati eamque toto affectu expetit et exspectat [...]. Invenitur tamen et alter gradus sublimior et affectus dignior isto,

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zeichnenderweise verbindet Bernhard in der Auslegung von Cant. 3,1 („Auf meinem Bett suchte ich in der Nacht ihn, den meine Seele liebt“) das Wachsen der Sehnsucht, die Erprobung des Affekts und die Ausübung der Liebe miteinander. Bernhards zahlreiche Äußerungen über den Affekt der Liebe verdienten eine umfassende Interpretation, die allerdings eine Einbeziehung seines gesamten Redens über Phänomene der Liebe im Allgemeinen und ausführliche Analysen der Abhandlung De diligendo Deo und der Sermones super Cantica Canticorum im Ganzen erforderlich machte – eine Aufgabe, die weit über den Rahmen des vorliegenden Beitrags hinausführte. Eine zentrale Rolle spielen in Bernhards Denken die spezifisch religiösen Affekte. Die Gottesliebe ist bereits genannt worden. Bernhard nennt aber noch eine Reihe anderer religiöser Affekte. Dass der Affektbegriff auch eine besondere Affinität zur Frömmigkeit hat, zeigt sich daran, dass er ohne weiteren Zusatz die fromme Haltung (Andacht) bezeichnen kann. In seiner Kritik an den Kirchen der Cluniazenser behauptet Bernhard, dass die Größe und prächtige Ausstattung dieser Gebäude beim Gebet, der wichtigsten Tätigkeit in einem Gotteshaus, nicht nur den Blick der Betenden ablenke, sondern ebenso die innere Konzentration behindere. Vereinzelt spricht er unter Verwendung des allgemeinen Religionsbegriffs von den auf Gott gerichteten Affekten (circa Deum religionis affectus), durch die 111

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der Geistliche in seinem Inneren bewegt wird.113 Häufiger gebraucht er für diese religiösen Affekte die Formulierungen affectus devotionis114 und affectus pieta-

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cum, penitus castigato corde, nihil aliud desiderat anima, nihil a Deo quaerit aliud quam Deum ipsum; 25,5 (6/1,190,21f.): quae toto affectu et omni tempore sunt quaerenda; (191,12f.): Haec autem sunt toto affectu et omni tempore postulanda; 26,4 (6/1,196,19): non de concupiscentiis desideriorum, non de affectionibus dico; 107,2 (6/1,380,15f.): duo debet attendere, ut secundum Deum sit quod postulat, et ut hoc ipsum in summo affectu et desiderio habeat; Abb. 4 (5,291,10-12): non quidem divitias, sed ea ipsa quae paupertatis sunt, tanto affectu desideres; Ep. 144,2 (7,345,17): toto affectu desidero; 499 (8,456,6f.): honorem vestrum toto desideramus affectu; 78,2 (7,202,11f.): quo affectu, quo studio, quibus pietatis visceribus irritantibus subvenit; SC 20,4 (1,116,27-29): Mihi videtur [...], amor quidem cordis ad zelum quemdam pertinere affectionis; Ep. 200,1 (8,57,16f.): faciam satis [...] zelo et affectui qui loquitur. SC 75,1 (1,7f.): Ut desiderium crescat, ut probetur affectus, ut exerceatur amoris negotium. Apol. 28 (3,104,12-14): Omitto oratoriorum immensas altitudines, immoderatas longitudines, supervacuas latitudines, sumptuosas depolitiones, curiosas depictiones, quae dum in se orantium retorquent aspectum, impediunt et affectum.

SC 58,3 (2,128,29-130,1). SC 79,5 (2,275,12) von der Braut (der Seele) in Parallele zum Glauben: Tenet fidei firmitate, tenet devotionis affectu; Innoc. 1 (4,271,9) von Johannes als Nachfolger Jesu promptae devotionis affectu; Ass. 1,4 (5,230,21) von den himmlischen Heerscharen, die Maria folgen, und (231,15) von dem beim Gedächtnis Mariae geweckten affectus devotionis; 4,5

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tis115 sowie entsprechende adjektivische Verbindungen.116 Mögen die Affekte der devotio und vor allem der pietas auch Mitleid, Erbarmen und Nachsicht gegenüber Menschen bedeuten können,117 so erklärt Bernhard doch einmal definierend pietas, das Gegenstück zur Neugier (curiositas), als affectus ad Deum.118 Weisheit (sapientia), die weder Neugier noch Eitelkeit ist, sondern Wissen, um Gott zu lieben und das eigene Leben zu gestalten, wird nicht mit Hilfe der Heiligen Schrift oder des Gedächtnisses festgehalten, sondern piae mentis affectu und durch ein gutes Gewissen.119 An anderer Stelle empfiehlt Bernhard, der eigenen Bemühung und den eigenen Verdiensten zu misstrauen und sich allein dem Schutz Gottes anzuvertrauen: mit frommem Herzen und in frommer Ausrichtung auf ihn.120

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(5,248,3f.) von den Gläubigen, die Maria tanto [...] devotionis affectu amplectuntur, honorant, suscipiunt; Nat. BM 6 (5,278,24f.) von der Ehrung, die Maria gebührt; vgl. auch Adv. 3,2 (4,176,12) vom Begehen des Advents sine devotione et affectione. Ep. 366 (8,323,11f.) empfiehlt Bernhard Hildegard von Bingen, sich zu bemühen, der in ihr offenbarten Gnade Gottes toto [...] humilitatis et devotionis affectu zu entsprechen. SC 44,8 (2,49,8f.), wo die Braut des Hohenliedes spricht: amor Dilecti mei mihi in affectibus pietatis; Conv. 23 (4,96,4f.) von dem, der zur Sinnesänderung bereit ist: Lugeat, sed non sine pietatis affectu et obtentu consolationis; Div. 20,5 (6/1,167,19f.) von dem, der sich selbst demütigt: Dico autem ut adhaereat humilianti se veritati, nec dissimulet, sed cooperetur ei devotae pietatis affectu. SV Vict. 3 (6/1,31,5): Aemulemur in viro sobrium victum, devotumque affectum; Div. 107,1 (6/1,380,10f.): gratiarum actiones fiunt affectu devoto; 62 (6/1,295,14f.): [Christum]

Sequuntur et consequuntur, qui viam humilitatis eius devoto mentis affectu perseveranter imitantur; vom Gebet devoto affectu 107,1 (6/1,380,2); Sent. III 101 (6/2,169,15); vom Verlangen nach dem Martyrium Mart. 16 (5,410,18f.): toties martyr fuit affectu devotissimae voluntatis. SC 62,2 (2,155,21-24) von der Barmherzigkeit des Himmels: sunt caeli sancti, vivi, rationabiles, qui enarrant gloriam Dei, qui favorabili quadam pietate nostris se votis libenter inclinant, et sinuatis ad tactum nostrae devotionis affectibus in sua nos recipiunt viscera, quoties digna ad eos intentione pulsamus; QH 8,11 (4,434,2): von Regungen des Mitleids mit dem Sünder: coercendus huiusmodi pietatis affectus; Ded. eccl. 5,5 (5,391,2f.) vom Erbarmen Gottes gegen die Elenden: Sic in iudicio veritatis tuae, sed non sic in affectu pietatis tuae; Ep. 510 (8,469,8f.) in der Aufforderung um Nachsicht gegenüber Klosterfrauen: Induimini affectu pietatis, porrigite manum. Sent. III 4 (6/2,66,5): [Spiritus sanctus opponit] Curiositati pietatem, id est affectum ad Deum, quae, sicut dicit Apostolus, AD OMNE OPUS BONUM UTILIS EST [1. Tim. 4,8] et omnino contraria curiositati. Vgl. auch Div. 125,3 (6/1,406,17f.): Pietas enim Dei cultus est et in corde colitur, qui in corde cognoscitur habitare. Sent. III 57 (6/2,97,14-17). Petr. Paul. 2,7 (5,196,23-25): pio quodam mentis affectu et effectu piae intentionis in ipsum.

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3.3 Ort und Wesen der Affekte a) Seele und Körper Durch die wiederholt zitierte Definition der Affekte als motus animi ist ihr Ort im Menschen bereits in allgemeiner Weise angegeben: Sie sind Leidenschaften im menschlichen Inneren. Freilich sind sie nicht unbeeinflusst vom Körper. Bernhard spricht nicht selten auch von fleischlichen Affekten (carnales, carnis). So vergleicht er die unter der Bedrängnis des Todes vertrocknende fleischliche Leidenschaft mit dem Wein, der nach dem Auspressen der Traube versiegt.121 In seiner großen Schilderung

der Wirkungen des göttlichen Wortes im Menschen kann er davon reden, dass die Gegenwart des Wortes in uns nur aus der Bewegung unseres Herzens, die Macht seines Wirkens nur aus dem Weichen der Laster und der Verdrängung der fleischlichen Affekte erkannt werde. Er fordert in einem Atemzug dazu auf, die fleischlichen Leidenschaften aufzugeben, die Sitten der Welt zu verlernen, sich der früheren Laster zu enthalten und die schädlichen Gewohnheiten zu vergessen. Im Evangelium sieht er das Verlangen, den Affekt des Fleisches um Christi willen zu beseitigen, und wünscht, jenes Feuer, das Christus von oben in seine Gläubigen gesandt hat, möchte auch in ihm und in seinen Hörern verzehren und verbrennen, was an fleischlicher Begierde in ihnen ist. Solche Äußerungen können die Vermutung nahe legen, Bernhard betrachte die Affekte als allgemein als die Einflusssphäre des negativ beurteilten Körpers. Dieser Gedanke wird durch Aussagen bestätigt, wonach jeder fleischliche Affekt durch Ordnen unterworfen und das Sinnen des Fleisches auf Weisung der Vernunft der Tugend gehorsam gemacht werden soll. Einerseits spricht Bernhard in einer platonisierenden Interpretation der paulinischen Anthropologie davon, der fleischliche Affekt und das Leben, das er dem Körper verleiht, seien ein Teil der Seele. Wenig später unterscheidet er in der Auslegung von Cant. 1,6 klar zwischen der geistlichen Liebe und dem Affekt des Fleisches. Aller122

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SC 9 (1,47,24-27). SC 74,6 (2,243,19-21): tantum ex motu cordis [...] intellexi praesentiam eius; et ex fuga vitiorum, carnaliumque compressione affectuum, adverti potentiam virtutis eius. Oct. Epiph. 2,3 (4,321,24f.). Ep. 313,4 (8,245,4f.). Vig. Andr. 3 (5,425,23f.). Z.B. SC 85,5 (2,310,24-26); oben Anm. 71. SC 30,9 (1,216,12f.): Revera enim animae portio est carnalis affectio eius et vita quam administrat corpori. SC 33,2 (1,234,14-17): Et primo adverte quam eleganter amorem spiritus a carnis discernat affectu, dum dilectum exprimere magis ipsa affectione quam nomine volens, non sim-

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dings sieht er den eigentlichen Sitz der Affekte nicht im Körper, sondern nimmt an, fleischliche Affekte entstünden durch den Einfluss des Körpers oder des Fleisches auf die Seele – allgemein durch den Einfluss der irdischen Dinge auf jenen Teil des Menschen, der ihn seinem Wesen nach mit der göttlichen Sphäre verbindet. Die Affekte können nämlich durch den Einfluss des Körpers korrumpiert werden. In der Auslegung von Sap. 9,15 bezeichnet Bernhard die Seele als die Affekte, die durch einen verderbten Körper mit verschiedenen Leiden beeinträchtigt werden. Seiner platonisierenden Interpretation der paulinischen Anthropologie entsprechend sieht er die Ursache für die Verderbnis der Seele in der fleischlichen Begierde. Der von Gott ursprünglich gut geschaffene Wille verirrt sich unter dem Einfluss der verderbten Affekte in die Gottesferne. Obwohl die Seele ursprünglich Gott nahe steht und in ihrer Substanz aus Vernunft, Gedächtnis, Einsicht, Urteil und ähnlichen Fähigkeiten besteht, kann sie unter der Einwirkung der fleischlichen Affekte und der Gewöhnung an den Körper so weit in die Irre gehen, dass sie sich selbst schließlich nur noch als einen Teil des Körpers denken kann. Für die verderbten Affekte steht Bernhard ein umfangreiches Vokabular zur Verfügung: Er nennt sie schlecht, boshaft, 129

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pliciter: „quem diligo“, sed: O, inquit, QUEM DILIGIT ANIMA MEA, spiritualem designans dilectionem. SV Epiph. 7 (6/1,26,19) stellt er carnales affectus et saeculares desideria nebeneinander. Z.B. Asc. 3,1 (5,131,14f.): CORPUS QUOD CORRUMPITUR AGGRAVAT ANIMAM. Ebd. (131,19f.): Animam vero hic existimo dici affectiones, quae corrupto corpore diversis passionibus afficiuntur. Asc. 1,3 (5,125,16-18): Quid tamen agendum, si qua forte radix pullulat, quae tam velociter nequeat exstirpari, sed stimulat animum concupiscentia carnis? Sent. III 21 (6/2,78,17): per affectionum corruptiones errans a Deo in regione dissimilitudinis. Das von Bernhard wiederholt gebrauchte Bild einer „Gegend der Unähnlichkeit“ stammt von Augustinus (Confessiones VII, 10,16): et reverberasti infirmitatem aspectus mei radians in me vehementer, et contremui amore et horrore: et inveni longe me esse a te in regione dissimilitudinis. Vgl. besonders Div. 42,2f. (6/1,256,14-258,15) im Rahmen ei-

nes Bildes vom Erlösungswerk Christi als Handelsgeschäft, das die Seelen als Kaufleute Christi durch fünf Gegenden führt: Regiones tuae quinque sunt, quas perambulant ad

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negotiandum institores tui, ubi te quaerunt electi tui et inveniunt dilecti tui. Prima regio est regio dissimilitudinis. Nobilis illa creatura in regione similitudinis fabricata, quia ad imaginem Dei facta, CUM IN HONORE ESSET, NON INTELLEXIT [Ps. 49,13] et de similitudine ad dissimilitudinem descendit. Magna prorsus dissimilitudo, de paradiso ad infernum, de angelo ad iumentum, de Deo ad diabolum! [...]. Div. 86,2 (6/1,328,15-329,4): Sed ex affectione carnali et consuetudine corporum sic errat anima, ut seipsam nesciat nisi corpoream cogitare. Ubi enim est thesaurus eius, ibi et cor, et hoc sapit quod diligit. Affectionibus siquidem obligata et velut illita terrenis, suam ipsius faciem considerare non potest. Infixa est in limo profundi, et seipsam non videns putat formam suam esse luteam illam quam portat imaginem. Sed omnino aliter est [...]. Substantia vero animae in ratione, in memoria, in concilio, in iudicio ceterisque similibus est.

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grausam, widersetzlich, unwürdig, schamlos, unrein, krank, schädlich und giftig wie eine Schlange. 135

b) Die Innerlichkeit der Affekte So sehr die Affekte auch vom Körper beeinflusst und korrumpiert sein mögen – ihr Ort ist doch das Innere des Menschen, als dessen Glieder Bernhard die Affekte bezeichnen kann. Wiederholt grenzt er die Seele oder das Herz als den Ort der Affekte vom Körper ab. Auch der höchste Himmel, von dem der Prophet spricht (Ps. 67,33f.), ist geistig, und er ist nicht wie eine Decke im Raum ausgespannt, sondern in den Affekten der Seelen. In vielfältiger Weise charakterisiert Bernhard die innerlichen Affekte aus dem Gegensatz zu äußerlichem Handeln: Nicht durch Gehen mit den Füßen suchen wir Gott, sondern durch unser Verlangen. Das Paradies der inneren Lust ist kein körperlicher Ort; man betritt es nicht mit den Füßen, sondern mit den Affekten. Die Mönche suchen das himmlische Jerusalem nicht mit den Füßen auf, sondern durch den Fortschritt in ihren Affekten. Den Weg des Gesetzes geht man nicht in körperlichem Schreiten, sondern mit dem Affekt des Geistes. Aber die Seligen folgen Jesus sowohl mit ihren Füßen als auch mit ihren Herzen. 136

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Wenigstens für die zuletzt genannte Wertung soll ein Beleg gegeben werden: SC 60,4 (2,144,8f.) über die Ablehnung Jesu durch die Juden: O grossum vipereum affectum, odire hominem, qui hominum et corpora sanat et salvat animas!

Ann. 2,4 (5,33,15f.): [...] ne ipsius interioris hominis artubus, id est affectibus [...]. Cons. 5,16 (3,480,8f.; oben Anm. 37); Andr. 1,6 (5,431,4) von Jesus: non modo passio corporis, sed etiam cordis affectio pro nobis facit; Div. 12,1 (6/1,127,15): non modo in necessitatibus corporis, sed etiam in affectibus cordis. Adv. 3,4 (4,178,6-9) über das richtige Verhalten gegenüber dem Oberen: Redde, inquam, reverentiam praelato et oboedientiam,

quarum altera cordis, altera corporis est. Nec enim sufficit exterius obtemperare maioribus nostris, nisi ex intimo cordis affectu sublimiter sentiamus de eis. SC 27,4f. (1,184,13-15. 22-24): Sed est caelum caeli [...]. Et hoc caelum intellectuale ac spirituale [...]. Prorsus de hoc caelo minime sibi indignum ducit ducere similitudinem. Hoc extentum sicut pellis, non spatiis tamen locorum, sed affectibus animorum. SC 84,1 (2,303,12): Non pedum passibus, sed desideriis quaeritur Deus. Conv. 25 (4,98,12f.): Nec vero locum reputes corporalem paradisum hunc voluptatis internae. Non pedibus in hunc hortum, sed affectibus introitur. Ep. 399 (8,379,18-380,2): Neque enim terrenam, sed caelestem requirere Ierusalem monachorum propositum est, et hoc non pedibus proficiscendo, sed affectibus proficiendo. Div. 72,4 (6/1,310,4f.): haec via agitur non gressu corporis, sed affectu mentis. SC 21,2 (1,123,19): ibant post te et pedibus et affectibus.

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So wenig wie die Füße können die Hände erreichen, was allein dem Affekt zugänglich ist. Dieser steht aber auch im Gegensatz zum gesprochenen Wort. Im Hohenlied geht es nicht um äußere Worte, sondern um Affekte. Das göttliche Wort ist nicht ein solches, das tönt, das geschwätzig ist und die Ohren betäubt, sondern eines, das durchdringend und wirksam ist und den Affekten gefällt. Der Unterschied zwischen Reden und Affekt zeigt sich besonders beim Beten; denn der lang anhaltende Affekt ist etwas anderes als eine wortreiche Rede. 144

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c) Der Sitz der Affekte In den bisherigen Ausführungen ist immer wieder auch der konkrete Ort der Affekte zur Sprache gekommen, so dass ich hier nur noch zusammenfassen und ergänzen muss. In ihrer traditionellen Definition als ist der als ihr Sitz bezeichnet. Bernhard nimmt diesen Begriff gelegentlich auf. Daneben spricht er aber weit häufiger von der . In ihr sieht er geradezu den Inbegriff der , die er auch als „Glieder der Seele“ bezeichnen kann. Er stellt Geist und Affekt gottsuchender Seelen ebenso nebeneinander wie die Bewegungen, Sinne und Affekte in der Seele. motus animi

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SC 28,9 (1,198,13f.) von der Ergründung des Unsichtbaren: Et utique [tangi] poterit, sed affectu, non manu; voto, non oculo; fide, non sensibus. SC 79,1 (2,272,16f.): in epithalamio hoc non verba pensanda sunt, sed affectus. Vgl. SC 33,2 (1,234,14f.): In der Formulierung Cant. 1,6 (quem diligit anima mea) ist die Unter-

scheidung zwischen der Bezeichnung des Geliebten durch den Affekt und der durch den Namen beabsichtigt. Vig. Andr. 4 (5,426,14): Der Märtyrer grüßt das Kreuz magis affectione quam voce. SC 31,6 (1,223,14-16): Verbum nempe est non sonans, sed penetrans; non loquax, sed efficax; non obstrepens auribus, sed affectibus blandiens. Sent. 97 (6/2,158,11f.): Plus autem constat oratio in puritate et desiderio cordis quam in multiplicitate sermonis. Aliud est autem sermo multus, aliud diuturnus affectus. Dil. 27 (3,142,9-12): Quando huiuscemodi experitur affectum, ut divino debriatus amore

animus, oblitus sui factusque sibi ipsi tamquam vas perditum, totus pergat in Deum et, adhaerens Deo, unus cum eo spiritus fiat; Sent. III 114 (6/2,205,17f.): quattuor notas et principales animi affectiones. Z.B. Sent. III 73 (6/2,109,9f.): Sicut [...] corpus tuus non potest esse sine tactu, sic nec anima sine hoc affectu [scil. amore]; 116 (6/2,212,7f.): Moralis [intellectus] occultior est; eius affectus in anima operatur.

Asc. 3,1 (5,131,19f.; oben Anm. 22). Div. 10 (6/1,123,25): velut quaedam animae membra. SC 75,2 (2,248,8): animarum quaerentium Dominum mentibus et affectibus. SC 83,4 (2,300,28f.): Solus est amor ex omnibus animae motibus, sensibus atque affectibus, in quo potest creatura, etsi non ex aequo, respondere Auctori.

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Als zweiten Ort neben der Seele nennt Bernhard mehrfach den Geist (mens). Der mens werden in einem Gleichnis „verschiedene Affekte“ von negativem Charakter zugeschrieben, die in dem rudimentären Text nicht näher bezeichnet sind. Sie wird aber vor allem durch drei Affekte der Gottesliebe angetrieben und vorangebracht. Nähere Ausführungen bekräftigen, dass die mens für Bernhard nicht nur der Sitz rationaler Seelenkräfte ist. Er spricht von einer Nachfolge devoto mentis affectu, von der Weisheit, die piae mentis affectu festgehalten wird, und dem Verhältnis zu Gott pio quodam mentis affectu et effectu piae intentionis in ipsum. Maria wird per ipsum sincerissimae tuae mentis affectum als Mittlerin angerufen. Bei weitem am häufigsten (an mehr als zwei Dutzend Stellen) lokalisiert Bernhard die Affekte jedoch im Herzen (cor). Nachdem er mit kritischem Blick auf das Mönchsleben von Liebe, Furcht, Freude und Traurigkeit gesprochen hat, betont er, das Herz sei von diesen vier Affekten erfüllt, in denen die Hinwendung zu Gott bestehe. Das Gebot der Gottesliebe erfüllen wir nur toto et pleno cordis affectu. Im Umgang mit dem Wort-Bräutigam ruft die bräutliche Seele aus dem Innersten ihres Herzens mit den Stimmen der innersten Affekte nach Liebe. Und auf der dritten Stufe des geistlichen Aufstiegs singt der Geist, der sich in himmlischem Verlangen und geistlicher Liebe nach der Begegnung mit Gott

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Sent. II 115 (6/2,46,10). Div. 96,6 (6/1,360,8f.); oben Anm. 81. An anderer Stelle wird die Verbindung der mens mit dem rationalen Bereich als Grund einer Unterscheidung von den Affekten festgestellt; etwa Div. 113 (6/1,391,4-6): Prava operatio inquinat memoriam, dolosa intentio rationem vel mentem, impudica affectio voluntatem. Mundatur memoria per confessionem, mens per lectionem, affectio vel voluntas per orationem; Sent. III 127 (6/2,251,1f.): Mens subtilitas est intelligentiae, cor affectio inanis gloriae.

Div. 62 (6/1,295,15). Sent. III 57 (6/2,97,16). Petr. Paul. 2,7 (5,196,23f.). Oct. Ass. 15 (5,274,11). Vgl. dazu auch Anm. 137 und 156. Quadr. 2,3 (4,361,9-13): Attende sollerter quid diligas, quid metuas, unde gaudeas aut contristeris, et sub habitu religionis animum saecularem, sub pannis conversionis invenies cor perversum. Totum enim cor in his quattuor affectionibus est, et de eis accipiendum puto quod dicitur, ut in toto corde tuo convertaris ad Dominum.

SC 20,4 (1,117,1). SC 45,8 (2,54,30-55,2): Medullis proinde cordis et intimarum vocibus affectionum tanto amplius atque ardentius clamitat sibi diligendum, quanto id prius sensit diligens quam dilectum.

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sehnt, aus dem frommen Affekt seines Herzens: „Dein Angesicht, Herr, will ich suchen.“ (Ps. 26,8). Das Herz ist freilich der Sitz nicht nur guter, sondern ebenso schlechter Affekte. Die Erfahrung des Bösen erzeugt in dem Menschen, in dem sie die Oberhand gewonnen hat, eine Begierde, die zum Affekt des Herzens wird: Verachtung des Gesetzes und andere Laster. Wer dem Laster der Überheblichkeit frönt, glaubt intimo cordis affectu, heiliger zu sein als alle anderen. Die Abwendung vom Laster muss sich deshalb zunächst im Herzen vollziehen. Wenn die vollkommene Gerechtigkeit in den Affekt des Herzens übergeht, wird sie mit den anderen Tugenden Tapferkeit, Klugheit und Mäßigung identisch. Wie Bernhard meint, sollte ein solcher innerer Vorgang allerdings Folgen in der Lebensführung nach sich ziehen. Im Übrigen stellen die Ortsangaben animus, anima, mens und cor in Bernhards nicht schulmäßig definierenden und differenzierenden Ausführungen keine Gegensätze dar, bezeichnen vielleicht nicht einmal unterschiedliche Aspekte des Sitzes der Affekte. Bernhard stellt sie nicht selten einfach nebeneinander und neben den Gattungsbegriff „Affekt“. In ihrer Häufung haben sie vor allem die Funktion, die Innerlichkeit der Affekte zu betonen, weniger die Aufgabe einer Unterscheidung verschiedener Seelenvermögen. 165

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Div. 87,1 (6/1,330,4-8): At vero tertium osculum tunc fit, cum, iam consumpto luctu paenitentiae, iam acceptis virtutum donis, mens, caelesti desiderio inspirata, ad secreta interioris cubiculi gaudia, impatiens amoris, introduci desiderat, cum dulcibus suspiriis, vocem animi interrumpentibus, pio cordis affectu decantat: VULTUM TUUM, DOMINE, REQUIRAM. SC 85,9 (2,313,12-14): Qui autem transierunt in affectum cordis, aut sapientes sunt et ipso delectantur sapore boni; aut maligni sunt et in ipsa complacent sibi malitia, etiam nulla spe alterius commodi blandiente. Vgl. auch Div. 29,1 (6/1,210,15-211,1): Siquidem amor cordis simile quiddam habet carnalis amoris; nam affectiones proprie cordis esse dicuntur. Div. 14,3 Textvariante (6/1,136,15-17): Si vero praevaluerit experientia [scil. mali], generat concupiscentiam, ut transeat iam in affectum cordis. Dico autem in affectu cordis transisse qui legem sprevit, transiliit honestatem, nec ratione regitur, nec inhibetur omnino pudore [...]. Ähnlich Div. 125,3 (6/1,406,20f.). Vgl. noch Div. 41,9 (6/1,250,15f.) vom Übergang der superbia [...] in affectum cordis. Grad. 43 (3,50,2). IV p. Pent. 5 (5,205,5-7): Quoties ergo vanitatis cogitatio mentem pulsat, si ex intimo cordis affectu divinas expavescere coeperis comminationes seu promissiones eius [scil. Dei] desiderare, non sustinet Golias utriuslibet lapidis ictum, sed reprimitur illico tumor omnis. Div. 72,2 (6/1,309,2-4): Postquam vero perfecta est iustitia et transit in affectum cordis, idem est quod illa tria, quia fortis est, prudens, temperata. Mal. 8 (5,423,8f.) vom Dank an Gott: et affectu cordis et profectu conversationis devotas omnipotenti misericordiae gratias referentes.

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3.4 Die Affekte und die anderen Seelenvermögen

Da Bernhard noch keine schulmäßige Psychologie in geschlossener, auf Vollständigkeit bedachter Darstellung bietet, ist es problematisch, seine Auffassungen als eine Lehre von den Kräften oder Vermögen der Seele mit Hilfe scholastischer Kategorien darzustellen. Immerhin lassen sich einige allgemeine Feststellungen treffen. a) Die Affekte und die rationalen Vermögen der Seele Aus dem Gebrauch der besonders häufig belegten Oppositionsbegriffe ratio und aber auch aus Äußerungen über cognitio, cogitatio, instructio und andere geistige Tätigkeiten geht hervor, dass Bernhard die Affekte grundsätzlich im Gegensatz zum rationalen Bereich des Seelenlebens sieht. Aufschlussreich ist nun, wie er die verschiedenen Bereiche einander gegenüberstellt und wie er sie miteinander in Beziehung setzt. Im Folgenden können wieder nur ausgewählte Aussagen behandelt werden. Bernhard charakterisiert die Affekte immer wieder dadurch, dass er sie dem rationalen Bereich gegenüberstellt. Die Vernunft belehrt, der Affekt bewegt. intellectus,

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Genauer lässt sich darüber sagen, dass wir durch rationale Unterrichtung bloß belehrt werden, während uns affektive Beeinflussung das Gewusste zum Besitz und damit zur Grundlage unseres weiteren Verhaltens macht. Erkenntnis und Wissen allein machen nicht weise; zur Weisheit führt erst ihre Verbindung mit den Affekten.174 Deshalb bildet nach Ps. 110,10 die Gottesfurcht den Anfang der Weisheit (sapientia), weil jetzt erstmals Gott der Seele zur Erfahrung wird (sa172

Allerdings können beide auch nebeneinander genannt werden, ohne dass dabei ein Gegensatz angedeutet wird, z.B. Cons. 28 (3,491,99); Div. 16,1 (6/1,145,8f.); 110 (6/1,384,11f.); Ep. 4,1 (7,26,2).

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quid debet homo homini, quem et ratio docet et trahit affectio? Vera misericordia non iudicat, sed afficit; non nititur discussione, occasione contenta. Non enim exspectatur ratio, ubi affectio trahit. SC 23,14 (1,147,24-148,1): Instructio doctos reddit, affectio sapientes. Sol non omnes, quibus lucet, etiam calefacit: sic Sapientia multos, quos docet, quid sit faciendum, non continuo etiam accendit ad faciendum. Aliud est multas divitias scire, aliud et possidere: nec notitia divitem facit, sed possessio. Sic prorsus, sic aliud est nosse Deum et aliud timere; nec cognitio sapientem, sed timor facit, qui afficit. Vgl. auch Sent. III 4 (6/2,66,23) über die gnadenhafte Vollendung der Einsicht in der Weisheit: [Spiritus Sanctus subinfert] Intellectui sapientiam, ut quod hactenus consilio vel intellectu discebat, iam ei transeat in affectum, ut per semetipsam ex Dei gratia sapiat sapidumque ei fiat et dulce, quidquid hactenus durum videbatur et intolerabile. Div. 16,3 (6/1,146,14f.):

Vgl. auch Ep. 12 (7,61,14-16):

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wenn er zur Furcht hinführt (afficit) und nicht lediglich durch Unterweisung Wissen vermittelt. An der Liebe zeigt Bernhard den Unterschied der beiden Ordungen: jener der Weisheit, nach der jedes Ding seinem natürlichen Sein entsprechend affektiv gewertet und eingeordnet wird, was zur Bevorzugung des Höherstehenden führt, und jener der Wahrheit, die nach dem Urteil der Vernunft die Bedürftigen bevorzugt. Auch die Demut hat eine zweifache Gestalt: in der Erkenntnis aus der Wahrheit und im Affekt aus der Liebe. Am Geistempfang der Apostel, von dem Joh. 20,22 spricht, unterscheidet Bernhard ebenso zwischen einer affektiven und einer rationalen Komponente. In diesem Vorgang, der zunächst zu Glauben und Einsicht führte, war die Vernunft wirksam; erst in einer späteren Phase goss das göttliche Feuer in die bereits gereinigten Gefäße seine Gnadengaben und verwandelte ihre Liebe in eine geistliche Liebe. An anderer Stelle weist Bernhard ausdrücklich den Intellekt dem Bereich der Natur zu, wäh176

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Wörtlich: „schmeckt“, das heißt eine Geschmacksempfindung vermittelt. Zur Metapher des Schmeckens vgl. SC 50,6 (2,81,22f.): Est enim sapientia, per quam utique quaeque res sapiunt prout sunt; Div. 18,1 (6/1,157,19f.): Est enim sapiens, cui quaeque res sapiunt prout sunt; ferner folgende Anm. Ebd. (1,148,4-8): Et bene INITIUM SAPIENTIAE TIMOR DOMINI [PS. 110,10], quia tunc primum

animae Deus sapit, cum eam afficit ad timendum, non cum instruit ad sciendum. Times Dei iustitiam, times potentiam; et sapit tibi iustus et potens Deus, quia timor sapor est. Porro sapor sapientem facit, sicut scientia scientem, sicut divitiae divitem. SC 50,6 (2,81,19-28): Agit ergo suum actualis caritas ordinem iuxta patrisfamilias iussionem, incipiens a novissimis, pia certe et iusta, quae non sit acceptrix personarum nec pretia consideret rerum, sed hominum necessitate. At non ita affectualis; nam a primis ipsa ducit ordinem. Est enim sapientia, per quam utique quaeque res sapiunt prout sunt, ut, verbi gratia, quae pluris natura habet, pluris quoque ipsa affectio sentiat, minora minus, minima minime. Et illum quidem ordinem caritatis veritas facit, hunc autem veritatis caritas vindicat sibi. Nam et vera in hoc est caritas, ut qui indigent amplius, accipiant prius; et rursum in eo cara apparet veritas, si ordinem tenemus affectu, quem illa ratione. SC 42,6 (2,36,26-28): est humilitas, quam caritas format, et inflammat; et est humilitas, quam nobis veritas parit, et non habet colorem. Atque haec quidem in cognitione, illa consistit in affectu. Adv. 4,4 (4,184,15-18): humilitas duplex est: altera cognitionis, altera affectionis, quae hic dicitur cordis. Priore cognoscimus quam nihil sumus, et hanc discimus a nobis ipsis et ab infirmitate propria; posteriore calcamus gloriam mundi, et hanc ab illo discimus, qui exinanivit seipsum, formam servi accipiens. Asc. 6,15 (5,159,13-19): [...] cum videlicet insufflavit eis et dixit: ACCIPITE SPIRITUM SANCTUM, sed spiritum plane fidei et intelligentiae, non fervoris, quo magis illuminaretur ratio quam inflammaretur affectio, quod duplicati utique spiritus opus fuit. Quos enim Verbum Patris disciplinam et sapientiam ante docuerat et intellectu adimpleverat corda eorum, adveniens utique postmodum ignis divinus et inveniens iam receptacula munda, infudit uberius dona charismatum et in spiritalem omnino mutavit amorem, ut accensa in eis caritas fortis ut mors.

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rend er den Affekt auf die Gnade zurückführt. Ganz allgemein kann er ausführen: Wer die Heilige Schrift liest, der hat es mit Affekten zu tun, zu denen man keinen Zugang durch die findet, sondern nur durch affektive Gleichgestimmtheit. In anderem Zusammenhang kann er aber auch einmal sagen, der Herr habe seinen Jüngern, als er ihnen das Verständnis der Heiligen Schrift erschloss, eher den Intellekt unterwiesen als den Affekt gereinigt. Intellekt und Affekt, die beiden Hauptkräfte des Herzens, stehen sich oft feindselig gegenüber, so dass die eine nach dem Höchsten, die andere nach dem Niedersten zu streben scheint. Bernhard findet dieses Phänomen eines inneren Widerstreits in manchen Mitgliedern der Mönchsgemeinde auffällig ausgeprägt; ihr Leben scheint der Hölle nahe, wenn Affekt und Intellekt miteinander im Kampfe liegen. Heilung des Zwiespalts erhofft er davon, dass beim Streben zu Gott hin beide Kräfte gleichermaßen in Anspruch genommen werden. Intellekt und Affekt unterscheiden sich auch in der Weise, wie sie auf dem Weg zu Gott behindert oder gefördert werden. Die dualistische Tendenz seiner Anthropologie lässt Bernhard das Hindernis primär im Körper und allgemein im Stofflichen sehen. Die Aufnahme des göttlichen Wortes wird vorbereitet durch 180

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I Nov. 5,8 (5,323,5-8) weist er zwei Flügel der Seraphim (Jes. 6,2) der Natur und der Gnade zu: Vivaci siquidem per naturam intellectu et ferventi nihilominus affectu per gratiam in eum, qui supra ipsos est, extenti iugiter et intenti. SC 67,8 (2,193,29f.): Res est in affectibus, nec ratione ad eam pertingitur, sed conformitate. Asc. 6,10 (5,156,1-4): Nec modo ante passionem, sed et post resurrectionem [...], quando

et sensum eis, ut Scripturas intelligerent, legitur aperuisse, intellectum potius informabat quam purgabat affectum. Asc. 6,5 (5,153,2-5): Ecce enim, ut tamquam principalia cordis ipsius membra distinguam, est intellectus in nobis, est et affectus, et hi quoque saepius sibi invicem adversantes, ut alter summa petere, alter appetere infima videatur. Ebd. 6 (5,153,20-22): Utinam autem haec, ut intellectum admonent, moveant et affectum, ne sit intus amarissima contradictio et divisio molestissima, dum hinc quidem sursum trahimur, sed retrahimur inde deorsum! Ebd. 7 (5,154,7): intellectu affectui et affectu intellectui repugnante. Ebd. 8 (5,154,15-18): Forte enim poterit intellectui et affectui non inconvenienter aptari, quod et quaerere, quae sursum sunt, et sapere admonemur, ut in principalibus [...] membris suis corda nostra manibus quibusdam pii conatus et exercitii spiritualis levare studeamus ad Deum. Asc. 6,9 (5,155,6-11): Felices plane, qui soli iam Deo vivunt, soli vacant intelligendo, diligendo, fruendo. Neque enim corpora, quae corrumpuntur, illas aggravant animas, aut terrena inhabitatio sensus eorum, tamquam multa cogitantes, deprimit, qui cum Deo ambulasse noscuntur. Factum est impedimentum omne de medio, occasio universa sublata, materies nulla relicta est, quae eorum affectum aggravet vel deprimat intellectum.

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die Erleuchtung des Intellekts und die Reinigung des Affekts. Bernhard redet auch von der Reinigung beider mit dem unterschiedlichen Ziel, den Intellekt zum Wissen, den Affekt aber zum Wollen zu führen. Der Intellekt soll erleuchtet, der Affekt entflammt werden. Es ist sogar möglich, dass geistlicher Intellekt und geistlicher Affekt sich miteinander verbinden, wie bei der Himmelfahrt im Erblicken des scheidenden Jesus. Über das Angeführte hinaus hängen der affektive und der rationale Bereich in vielfältiger Weise miteinander zusammen. Im Kontext des geistlichen Aufstiegs lassen sich drei Stufen der Wahrheit unterscheiden. Zu ihrer ersten, die wir durch Demut erreichen, führt die Vernunft, zur zweiten der Affekt des Mitleidens mit anderen Menschen, zur dritten die Reinheit, die uns in der Ekstase der Kontemplation zum Unsichtbaren emporreißt. Aber auch die Ekstase selbst vollzieht sich in beiden Bereichen: im rationalen und im affektiven. Freilich ist die Rolle des Affekts beim Aufstieg wichtiger als die des Intellekts, und wenn der letztere dabei versagt, ist der erstere umso stärker. Wenn in den Hoheliedpredigten die Braut ihre Beziehung zum Bräutigam beschreibt, dann spricht daraus der Affekt, nicht der Intellekt, und deshalb richtet sich ihre Rede auch nicht an den Intellekt. 187

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Asc. 3,9 (5,136,22f.): et intellectu clarificato et affectu purificato [Sponsus] veniat ad nos et apud nos faciat mansionem. Asc. 3,2 (5,132,3f.): Duo ergo sunt quae in nobis purganda sunt, intellectus et affectus: intellectus, ut noverit; affectus, ut velit. Asc. 6,10 (5,155,15f.): Putas erit qui intellectum illuminet, qui inflammet affectum? Asc. 6,14 (5,159,3f.): Duplicavit spiritum visio abeuntis, ut intellectui spirituali spiritualis iungeretur affectus. Grad. 19 (3,30,28-31-5): Cum sint itaque tres gradus seu status veritatis, ad primum ascendimus per laborem humilitatis, ad secundum per affectum compassionis, ad tertium per excessum contemplationis. In primo veritas reperitur severa, in secundo pia, in tertio pura. Ad primum ratio ducit, qua nos discutimus; ad secundum affectus perducit, quo aliis miseremur; ad tertium puritas rapit, qua ad invisibilia sublevamur. SC 49,4 (2,75,20-22): Cum enim duo sint beatae contemplationis excessus, in intellectu unus et alter in affectu, unus in lumine, alter in fervore, unus in agnitione, alter in devotione [...]; vollständig unten Anm. 235. Asc. 3,14 (5,148,20-22): Desideramus hanc [scil. ascensionem], fratres mei, suspiremus ad eam iugiter; et eo magis affectus vigeat, quo deficit intellectus. SC 67,3 (2,190,3f.): Ita est: affectus locutus est, non intellectus, et ideo non ad intellectum.

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b) Die Affekte und der Wille Bernhard erwähnt die Affekte wiederholt neben anderen Vermögen der Seele, etwa zusammen mit dem Denken und der Willensrichtung. Das Vermögen der Seele, dem die Affekte nach seiner Auffassung am nächsten stehen, ist der Wille. An einer bereits zitierten Stelle vergleicht er intellectus und affectus. Beide müssen gereinigt werden: der Intellekt, um zu wissen, der Affekt, um zu wollen. In diesem Zusammenhang kann Bernhard den Affekt geradezu mit dem Willen gleichsetzen: affectus, id est voluntas. Dadurch fügt er den affektiven Bereich in eine gleichsam trichotomische Sicht der Seele ein – allerdings unter Annahme von zwei grundsätzlich gleichberechtigten werthaltigen Seelenkräften, von denen er den dem Guten abgewandten Bereich der concupiscentia oder der fleischlichen Affekte grundsätzlich abgrenzt. In der dreigeteilten Seele haben die Affekte eigentlich keinen traditionellen Ort. Bernhard erklärt aber, wie sie aus dem unteren und dem mittleren Seelenvermögen hervorgehen: aus der vis concupiscibilis entstehen Freude und Zorn, aus der vis irascibilis Begierde und Abneigung. Andererseits kann er betonen, dass die Affekte unwillkürlich und unbewusst sind: Das Erbarmen zum Beispiel ist ein Affekt, der weder vom Willen hervorgerufen oder in Schranken gehalten wird, noch der Vernunft unterworfen ist, und dessen Wirkung zwar von diesen beiden verhindert werden, der aber nicht von ihnen unterdrückt werden kann. Es 195

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Z.B. Div. 6,1 (6/1,105,13f.): Ponamus itaque velut quamdam animae cutem cogitationem, carnem affectionem, ut consequenter os eius intentionem possimus accipere; (106,1f.): Sicut enim peccati cogitatio decolorat, affectio vulnerat, sic consensus omnino animam necat. Asc. 3,2 (5,132,3f.): oben Anm. 188. So Asc. 3,7 (5,135,11); unten Anm. 199; SC 42,7 (2,37,24f.) in der Auslegung von Mt. 11,29: DISCITE A ME, QUIA MITIS SUM ET HUMILIS CORDE. „Corde“, dixit, cordis affectu, id est voluntate; Div. 113 (6/1,391,6f.): affectio vel voluntas (oben Anm. 156).

Vgl. Div. 74 (6/1,11f.): corpus quidem constat ex quattuor elementis, anima vero in triplici vi subsistit. Est enim rationalis, concupiscibilis, irascibilis. Asc. 3,7 (5,135,11-12): Inde autem tam perniciosa tepiditas emanat, quia affectus, id est voluntas eorum, nondum purgata est, nec bonum sic volunt sicut noverunt, a propria concupiscentia abstracti graviter et illecti. SC 85,5 (2,310,25f.); vgl. Anm. 71. OS 4,5 (5,358,18-23): Constat enim animarum triplicem esse naturam. Unde et sapientes mundi huius animam humanam rationalem, irascibilem, concupiscibilem esse tradiderunt, quam utique triplicem vim animae ipsa quoque natura et quotidiana experimenta nos docent. Porro quemadmodum circa rationale nostrum et scientia et ignorantia constat, tamquam habitus et privatio, sic et circa concupiscibile desiderium et contemptus; et circa id quod dicitur irascibile et laetitia pariter et ira versatur.

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entsteht gleichsam von selbst aus einer zwingenden, nicht unterdrückbaren Bewegung des Innersten heraus.202

3.5 Die Affekte und das Handeln

Beim Lesen seiner Werke fällt auf, dass Bernhard, der , der die lateinische Sprache mit größter Virtuosität gebraucht und aufmerksam auf den Klang der Wörter achtet, gerne zu und zu in Beziehung setzt. Damit erfasst er aber auch das sachliche Problem, dass die Verbindung der Affekte, eines Phänomens der Innerlichkeit, mit der Außenwelt erklärt werden muss. Das religiöse Leben und der geistliche Aufstieg mit seinem Höhepunkt in der Kontemplation haben zwar das religiöse Subjekt zu ihrem Mittelpunkt. Doch selbst der Zisterzienser, der sein Leben in der räumlichen Abgeschiedenheit seines Klosters in weitgehendem Schweigen verbringt, existiert nicht als Einsiedler, sondern in einer Gemeinschaft, und ist fortwährend auf Verständigung mit ihr angewiesen. Bernhards Werk ist voll von Hinweisen darauf, dass sich im stillen Leben des Zisterzienserklosters gemeinschaftsbezogene Affekte und Verhaltensweisen ebenso intensiv entwickeln wie in der Welt. Die spezifisch monastischen Aspekte seines Redens von den Affekten umfassend aufzuzeigen wäre eine eigene Aufgabe, die ich in meinen knappen, auf das Allgemeine abzielenden Ausführungen nicht leisten kann. Auf jeden Fall zeigt sich auf Schritt und Tritt, dass Bernhard auch in Predigten vor seinen Mönchen nicht nur über ein individuelles, innerliches Leben spricht, sondern ebenso über ein Handeln im Zusammensein mit Menschen, das geradezu eine monastische Ethik einschließt. Der affektive Bereich berührt sich mit dem Handeln am engsten in der Liebe, die ja nach 1. Kor. 13,13 zu den drei theologischen Tugenden gezählt wird. Dabei trifft Bernhard eine grundlegende Unterscheidung zwischen der tätigen Liebe, die sich zuerst dem unteren Bereich zuwendet: der Welt der Geschöpfe und besonDoctor mellifluus

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So Ep. 70 (7,172,8-14) im Blick auf einen Mönch, der sein Kloster verlassen hat und dessen Abt Bernhard eine nachsichtige Behandlung des Gefallenen empfiehlt: In quam utique misericordiam non propria utilitas inclinavit, sed intimis eam visceribus proximi miseria et fraternus dolor inflixit. Misericordia quippe affectio est, quae nec voluntate coercetur nec rationi subicitur, quando non eam quisque in se pertrahit voluntario motu, sed ipsa pias mentes ad compassionem dolentium necessario cogit affectu, ita ut etiam si peccatum esset misereri, etsi multum vellem, non possem non misereri. Potest quidem ratio vel voluntas affectui effectum subtrahere, sed numquid ipsum affectum evellere?

Besonders kunstvoll ist das Wortspiel unter Einbeziehung von Verben in einem kurzen Brief, in dem Bernhard den Empfänger um Wohlwollen gegenüber einem Bittsteller ersucht (Ep. 542; 8,509,10f.): Multo magis ergo te nostrum facies, si effeceris ut eius affectus mancipetur effectum.

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ders dem Menschen, und der affektiven Liebe, die sich zunächst auf das Höchste richtet und von hier nach unten geht. Natürlich können die Regungen eines Affekts auch auf Erfüllung abzielen. So kann etwa die Zerknirschung eine Neigung zum Guten auslösen, die sich in der Liebe auswirkt. Aber eigentlich haben die Affekte ihre Bedeutung in sich selbst. Ein Affekt kann auch dann schuldig machen, wenn das von ihm angestoßene böse Vorhaben nicht ausgeführt wird. Das Wort Jesu: „Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden“ (Mt. 23,12), trifft ebenfalls nicht so sehr eine Handlungsweise, sondern bereits den törichten Affekt der Überheblichkeit. Im Übrigen kann eine Handlung zwar eine andere Handlung verhindern, aber nicht einen Affekt. Wichtiger noch als die Unterscheidung von und ist für Bernhard der Gedanke, dass Affekte einer Bearbeitung bedürftig und fähig sind, die ihnen eine höhere sittliche und religiöse Qualität verleiht. Wenn wir bedenken, dass die Affekte ein Bereich menschlichen, natürlichen, oft genug vom Körper und seinen niederen Anlagen („Fleisch“) beschwerten und korrumpierten Lebens sind, so wird leicht verständlich, dass sich Bernhard immer wieder Gedanken über ihre Verbesserung macht. Diese Überlegungen betreffen in grundlegender Weise das Verhältnis von Affekten und Tugenden. Furcht und Liebe sind zunächst natürliche Affekte, die gleichsam aus uns selbst hervorgehen. Nicht durch ihren Besitz, sondern durch ihren falschen Gebrauch gehen wir fehl: Ein guter Gebrauch macht aus ihnen Tugenden, ein schlechter „Leidenschaften“ im Sinne 204

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SC 50,2 (2,79,4): Est caritas in actu, est in affectu; 5f. (2,81,19-22): Agit ergo suum actualis caritas ordinem iuxta patrisfamilias iussionem, incipiens a novissimis, pia certe et iusta, quae non sit acceptrix personarum nec pretia consideret rerum, sed hominum necessitates. At non ita affectualis; nam a primis ipsa ducit ordinem. Vgl. Sent. III 2 (6/2,62,22f.) von der ratio: ortus est sol iustitiae [...] illuminansque rationem per contemplationem eam introducit in paradisum spiritualem [...]. Ingreditur [ratio], id est esurit affectum; residet, id est satiatur effectu. Sent. III 120 (6/2,219,9-13): Labor compunctionis est de quo dicitur: LABORAVI IN GEMITU MEO et cetera (Ps. 6,7). Qui quidem est affectuosus, quia qui paenitere incipit, bonum quidem concipit affectum, qui perducit ad effectum. Labor caritatis effectuosus dicitur, quia efficit, quod compunctio suggerit. Ep. 2,3 (7,14,9-11): Nam qui manum non retinetur a malo, quod potest, licet quandoque frustretur effectus, non minus culpatur affectus. – Es erinnert an Abaelards Hochschätzung der intentio gegenüber dem ausgeführten Werk (vgl. Peter Abaelard’s Ethics, ed. D. E. Lu-

scombe, Oxford 1971, z.B. S. 40,9-11; 44,26-30), wenn Bernhard Lab. mess. 1,2 (5,218,46) betont, in Röm. 8,28 bezeichne Paulus Menschen heilig non secundum meritum, sed secundum propositum, non secundum affectionem [hier offenbar bereits ein konkreter Liebeserweis], sed secundum intentionem. Div. 20,3 (6/1,167,3f.). Ep. 201,1 (8,59,17): Actum sane excludat vel impediat actus; sed numquid affectum?

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Den Vorgang, der aus Affekten Tugenden macht, nennt Bernhard unter Berufung auf Augustinus „ordnen“ . Wenn die zuvor ungeordneten Affekte, die von Natur aus, als ein Geschenk der Schöpfung, in uns sind, unter der Einwirkung der göttlichen Gnade geordnet werden, dann werden sie zu Tugenden; denn Tugenden sind nichts anderes als geordnete Affekte . Der Ordnung der Affekte hat Bernhard eine ausführliche Darstellung in einer seiner Predigten gewidmet. Er nennt hier als „vier wohlbekannte Affekte“ Liebe und Freude, Furcht und Trauer. Diese vier können in grundverschiedenem Zustand sein: Sind sie ungeordnet, so bilden sie und machen die Seele durch ihre Verworrenheit verworfen und schändlich; sind sie dagegen gereinigt und geordnet, so krönen sie die Seele mit Tugenden. Wenn nämlich der Affekt der Furcht Traurigkeit nach sich zieht, dann erzeugt er schließlich Verzweiflung. Wenn Liebe Freude hervorbringt, dann führt sie schließlich zur sittlichen Auflösung. Gereinigt werden die Affekte dadurch, dass sie sich auf ihr Objekt in dem Maße richten, in dem dieses solche Zuwendung verdient hat. Geordnet werden sie zu den vier Tugenden in der Weise, dass aus Furcht und Freude die Klugheit hervorgeht, aus Freude und Trauer Mäßigung, aus Trauer und Liebe Tapferkeit und aus Liebe und Furcht Gerechtigkeit. Wie dieses Ordnen von perturbationes.210

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Sent. III 86 (6/2,124,29-33 in Fortführung des Zitats oben Anm. 36): Et quidem ex mortalitatis condicione isti motus animi, id est affectiones, insunt nobis et eas non habendo, sed eis male utendo delinquimus, ac si hi motus, qui in hominibus affectiones sunt, id est ipsi in bene utentibus virtutes, in male utentibus passiones sive perturbationes sunt. Sent. III 114 (6/2,205,15-20): Maria hat ihren Sohn mit der corona iustitiae gekrönt, die aus vier kostbaren Steinen besteht; wir nennen sie die quattuor notas et principales animi affectiones, quae sunt gaudium, amor, tristitia et timor. Has affectiones animi habuit Christus, sed ordinatas. Unde dicuntur congrue CORONA IUSTITIAE, quia, ut ait Augustinus [De Genesi contra Manichaeos 2,14]: „Nihil est iustitia, nisi affectio ordinata.“ Zum Thema vgl. Maur STANDAERT, Le principe de l’ordination dans la théologie spirituelle de saint Bernard, in: Collectanea Ordinis Cisterciensium Reformatorum 8 (1946), S. 178-216. Gratia 16f. (3,178,6-11): timere quippe et amare, simpliciter quidem prolata, affectiones, cum additamento autem virtutes significant [...]. Simplices namque affectiones insunt naturaliter nobis, tamquam ex nobis, additamenta ex gratia. Nec aliud profecto est, nisi quod gratia ordinat, quas donavit creatio, ut nil aliud sint virtutes nisi ordinatae affectiones. Div. 50,2f. (6/1,271,16-272,6): Sunt autem affectiones istae quattuor notissimae: amor et laetitia, timor et tristitia. Absque his non subsistit humana anima, sed quibusdam sunt in coronam, quibusdam in confusionem. Purgatae enim et ordinatae gloriosam in virtutum corona reddunt animam, inordinatae per confusionem deiectam et ignominiosam. Purgantur autem sic. Si amamus quae amanda sunt, si magis amamus quae magis amanda sunt, si non amamus quae amanda non sunt, amor purgatus erit. Sic et de ceteris. Ordinantur autem sic: in initio timor, deinde laetitia, post hanc tristitia, in consummatione amor. Compositio quarum talis est: ex timore et laetitia nascitur prudentia, et est timor causa prudentiae, laetitia fructus; de laetitia et tristitia nascitur temperantia, et est tristitia causa temperantiae, laetitia fructus; de tristitia et amore nascitur fortitudo, et est tristitia

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vor sich geht, kann Bernhard noch genauer erklären: Die Anhäufung gleichgerichteter Affekte schafft ein Übermaß, das am Ende ins Negative umschlägt. Die rechte Mischung, das rechte Maß, stellt sich dann ein, wenn sich lustvolle mit unlusterzeugenden Affekten verbinden. So mäßigt etwa Trauer die Freude und hindert sie daran, ins Ungemessene und deshalb Schädliche umzuschlagen. Durch Trauer gemäßigte Freude ist nichts anderes als Besonnenheit. Andererseits ordnet und mäßigt Liebe die Furcht. Durch Liebe geordnete Furcht ist Gerechtigkeit. In dieser Anschauung von der ausgleichenden Wirkung einer Affektenmischung lebt der auch im antiken Christentum verbreitete antistoische Gedanke der Metriopathie fort. In seinen Hoheliedpredigten erklärt Bernhard den Vorgang der Ordnung der Affekte gleich zweimal in etwas anderer Weise. In der Auslegung von Cant. 2,4 (Ordinavit in me caritatem) spricht er davon, dass die Unterscheidungs- und Urteilsfähigkeit (discretio), nach der Benediktsregel die Mutter der Tugenden und vor allem eine der wichtigsten Fähigkeiten des Abts, jeder Tugend ihre Ordnung schaffe, während die Ordnung ihr wiederum Maß, Schönheit und Dauer verleihe. Er hält die discretio selbst nicht so sehr für eine Tugend als für die Leiterin und Lenkerin des Viergespanns der Tugenden, eine Ordnerin der Affekte und Lehrerin der Sitten. Ohne sie werden die Affekte in perturbationes verkehrt und fällt die Tugend auf die Stufe des Lasters zurück. Auch in seiner vorletzten Hoheliedpredigt beschreibt er diese Rolle der Seele: Als ein guter Wagenlenker werde sie Zorn, Furcht, Begehren und Freude regieren, jeden fleischlichen Affekt gefangen nehmen und das Sinnen des Fleisches auf Weisung der Vernunft unter den Gehorsam der Tugend bringen. 214

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causa fortitudinis, amor fructus. Clauditur circulus coronae. De amore et timore nascitur iustitia, et est timor causa iustitiae, amor fructus. Considera ergo quomodo istae affectiones ordinatae virtutes sunt; inordinatae perturbationes. Si timorem sequatur tristitia, desperationem generat; si amorem laetitia, dissolutionem. Div. 50,3 (6/1,272,6-15). Besonders Regula Benedicti 64,17-19. SC 49,5 (2,76,6-10): Discretio quippe omni virtuti ponit ordinem, ordo modum tribuit et decorem, etiam et perpetuitatem. [...] Est ergo discretio non tam virtus, quam quaedam moderatrix et auriga virtutum, ordinatrixque affectuum et morum doctrix. Tolle hanc, et virtus vitium erit, ipsaque affectio naturalis in perturbationem magis convertetur exterminiumque naturae. SC 85,5 (SC 2,310,24-26): (anima) iram, metum, cupiditatem et gaudium, veluti quemdam animi currum, bonus auriga reget et in captivitatem rediget omnem carnalem affectum et carnis sensum ad nutum rationis in obsequium virtutis.

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3.6 Die Affekte im Zusammenhang des religiösen Lebens

a) Affektive Zuwendung zu Gott Bernhards ganzes Werk ist der Deutung und Formung des religiösen, insbesondere des monastischen Lebens mit Hilfe einer kunstvollen, weitgehend allegorischen Auslegung der Heiligen Schrift gewidmet. Deshalb stehen alle bisher vorgestellten Aussagen des Zisterziensers mehr oder weniger deutlich in einem religiösen Kontext. Innerhalb des dreigestuften Wegs zu Gott von der Reinigung über die Erleuchtung zur Vollendung in der Kontemplation, den Bernhard in allegorischer Auslegung von Cant. 1,1 aus den drei Arten des Kusses entwickelt, führt die Reinigung der Affekte auf der ersten Stufe nicht nur zur Ausbildung der Tugenden. Sie schafft ebenso die Voraussetzung für den weiteren Aufstieg, an dessen Ende, der Begegnung mit Gott in Beschauung und Ekstase, die Affekte wieder eine führende Rolle spielen. Die grundlegende Reinigung der Affekte wird bezeichnenderweise in Bernhards Himmelfahrtspredigten immer wieder thematisiert. Dabei wird sie der Unterweisung und Erleuchtung des Intellekts sowie der Erneuerung des Willens an die Seite gestellt. Während Christus den Intellekt erleuchtet, reinigt der Heilige Geist den Affekt. Die Reinheit des Affekts spielt auch im Gebet eine Rolle. Es versteht sich nach allem Angeführten von selbst, dass der Mensch sich nicht bloß mit seinem Glauben und seiner Vernunft, sondern insbesondere mit dem Affekt zu Gott hinwenden soll. Gott liebt das Geschenk einer vollen affektiven Zuwendung, selbst wenn sie ihm in der Gestalt der Gottesfurcht dargebracht wird. Wenn die Menschen ihren Affekt nur selten und unfrei auf Gott richten, so ist das eine Folge ihres natürlichen Hangens am Irdischen. Dennoch kann Bernhard – wie wir in vielfältigen Äußerungen gesehen haben – immer wieder von affektiver Zuwendung an Gott sprechen – bis hin zu 218

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SC 3 (1,14-17); dazu 4,1 (1,18,5f.):

Triplicem quemdam animae profectum sub nomine trium osculorum sermo hesternus complexus est; (1,19,1f.): Sunt ergo hi tres animarum affectus sive profectus, expertis dumtaxat satis noti et manifesti.

Vgl. oben Anm. 192f. Asc. 3,4 (5,133,11f.); 5 (5,134,8); 6 (5,134,20f.); 8 (5,136,7); 9 (5,136,22); 6,10 (5,156,4). Asc. 3,2 (5,132,10): Christus intellectum illuminat, Spiritus Sanctus affectum purgat. Z.B. Div. 25,6 (6/1,192,3); 107,1 (6/1,379,15f.): Secunda oratio fit puro affectu, quando scilicet peccator iam per seipsum accedit [ad Deum] et ore proprio confitetur. Z.B. SC 54,12 (2,110,18f.) im Kontext von Ausführungen über die Gottesfurcht (nach Ps. 110,10 u.a.): Amat Deus integrum munus, affectum plenum, perfectum sacrificium. Vgl. z.B. Asc. 3,7 (5,135,15f.): raro affectiones suas dirigunt in Deum; OS 3,2 (5,350,1719): Adeo siquidem viget in eis desiderium hoc naturale, ut necdum tota earum affectio libere pergat in Deum, sed contrahatur quodammodo et rugam faciat, dum inclinantur desiderio tui.

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einer Umwandlung der menschlichen in eine göttliche Seelenverfassung (affectus), die sich unter dem Einfluss Gottes mit Liebe und Erbarmen füllt. An anderer Stelle spricht Bernhard am Beispiel des Propheten (Ps. 70,19) von der inneren Verbindung mit Gott, durch die der Mensch frei wird von den Schwächen des Fleisches und seine menschlichen sich in göttliche Affekte verwandeln. 225

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b) Die Affekte und die Erfahrung In vielen bisher zitierten Äußerungen war schon von Erfahrung die Rede. Der wichtigste Beitrag Bernhards in seinem Umgang mit den Affekten besteht darin, dass er sie zum Verständnis der religiösen Erfahrung heranzieht. Intensiver als je ein Theologe vor ihm hat Bernhard über religiöse Erfahrung nachgedacht – nicht nur in der scharfsinnigen Analyse von Phänomenen der Erfahrung, sondern auch unter konsequenter Benutzung eines sehr klar durchdachten, prägnanten Begriffs religiöser Erfahrung. In der Theologie keines Autors vor Bernhard spielt die religiöse Erfahrung eine so zentrale, ja geradezu konstitutive Rolle wie bei ihm. Damit führte er in ganz neuartigem Zugriff auf Phänomene und sprachlichen Ausdruck Ansätze in der monastischen Tradition fort, während die werdende Scholastik den aristotelischen Erfahrungsbegriff rezipierte. Aristoteles versteht unter Erfahrung das Ergebnis rationaler Verarbeitung einer im Gedächtnis gespeicherten Mehrzahl von Wahrnehmungen der äußeren Sinne. Sein Erfahrungsbegriff bewährt sich gewiss beim Umgang mit der materiellen Welt. Er ist aber nicht dazu geeignet, das religiöse Leben zu erfassen. Der Erfahrungsbegriff konnte nur dadurch eine wichtige Rolle in der Theologie übernehmen, dass er konkrete Erfahrungen im religiösen Leben tatsächlich angemessen charakterisierte. Religiöse Erfahrungen sind vor allem Erfahrungen der Anfechtung, des Versagens, der Schuld, der Verstrickung in eine

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SC 26,5 (1,173,13-15): Ceterum qui adhaeret Deo unus spiritus est, et in divinum quemdam totus mutatur affectum; nec potest iam sentire aut sapere nisi Deum, et quod sentit et sapit Deus, plenus Deo. Fortsetzung des Zitats oben Anm. 97. Dil. 39f. (3,153,12-21): Sciebat profecto, cum introiret in spirituales potentias Domini, exutum se iri universis infirmitatibus carnis, ut iam nil de carne habet cogitare, sed totus in spiritu memoraretur iustitiae Dei solius. [...] Non quod carnis illic substantia futura non sit, sed quod carnalis omnis necessitudo sit defutura carnisque amor amore spiritus absorbendus et infirmae, quae nunc sunt, humanae affectiones in divinas quasdam habeant commutari. In dem Brief, aus dem diese Aussage stammt (Ep. 11,9; 6/1,59,13-16), hatte Bernhard den letzten Satzteil noch so formuliert: humanae affectiones in divinas quasdam potentias habeant commutari. Dazu ausführlich KÖPF, Religiöse Erfahrung (wie Anm. 4); knapp: Ders., Ein Modell religiöser Erfahrung in der monastischen Theologie: Bernhard von Clairvaux, in: Religiöse Erfahrung. Historische Modelle in christlicher Tradition, hg. von Walter Haug / Dietmar Mieth, München 1992, S. 109-123.

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Die Leidenschaften der Seele im Werk Bernhards von Clairvaux

Unfähigkeit, die Forderungen Gottes zu erfüllen, die geradezu als Zwang erlebt werden kann; es sind ebenso Erfahrungen der Bewährung, göttlicher Einwirkungen auf das menschliche Leben, der Stärkung und Hilfe in der Anfechtung, der Bewahrung auf dem Weg zu Gott, der Wirkungen des göttlichen Wortes an dem, der mit ihm umgeht, der Annäherung an dieses göttliche Wort und der unmittelbaren Begegnung mit ihm, der Kürze des Beisammenseins und der Enttäuschung über seine Flüchtigkeit, der Sehnsucht nach erneuter Begegnung und der Beglückung über ihre Wiederholung. Alle genannten Erfahrungen werden von Bernhard ausführlich beschrieben und zum Teil sogar analysiert. Ihre Spitze haben diese religiösen Erfahrungen in solchen, die wir heute als „mystisch“ zu bezeichnen pflegen. Bernhards Leistung besteht nun darin, dass er im Umgang mit diesen Phänomenen einen Erfahrungsbegriff ausgearbeitet und gebraucht hat, der ihrem religiösen Erfahrungscharakter wirklich gerecht wurde. Zunächst betont er immer wieder, dass sich diese Erfahrungen im Unterschied zu äußerem Wahrnehmen, Reden und Handeln im Innern des religiösen Subjekts vollziehen. Er unternimmt es aber auch, ihren Ort im Innern des Subjekts näher zu bestimmen. Das geschieht auf zweifache Weise: Zum einen nennt er als Vollzugsorgan den Affekt oder die Affekte, zum andern versucht er, dieses Organ geradezu anatomisch zu beschreiben. Dabei bezeichnet er ganz allgemein das Herz als den Sitz der Affekte. Allerdings hat das Herz zwei hauptsächliche Glieder: Intellekt und Affekt. Natürlich hat bereits diese Rede vom Herzen bildlichen Charakter. Wenn Bernhard den Sitz der Erfahrung noch genauer bestimmen möchte, dann kann er das nur, indem er auf biblisch-antike Metaphern der inneren Sinne zurückgreift und sie ausweitet. Dem Herzen oder der Seele ( , , und werden ohne Unterschied gebraucht) – diesem Zentrum der Person – schreibt er bestimmte Organe zu. So redet er zum Beispiel vom Mund des Herzens, der die geistliche Speise aufnimmt, von seinen Zähnen, die sie zerkleinern, von seinem Gaumen, der ihren Geschmack wahrnimmt, von seinem Magen, der sie verdaut und einen ihnen entsprechenden Geruch wiedergibt: in der Sprache des Psalters. Auf die Metaphorik der inneren Sinne kann ich jetzt nicht weiter eingehen, so reizvoll sie ist. Ich beschränke mich vielmehr auf das Thema der Affekte, und konzentriere mich dabei auf einige zentrale Stellen in den Hoheliedpredigten. In Predigt 31 behandelt Bernhard die verschiedenen Arten der Gotteserkenntnis. Er unterscheidet dabei die Erkenntnis Gottes des Schöpfers 228

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Div. 29,1 (6/1,210,16f.): affectiones proprie cordis esse dicuntur. Asc. 6,5 (5,153,2f.): Ecce enim, ut tamquam principalia cordis ipsius membra distinguam, est intellectus in nobis, est et affectus. Vgl. KÖPF, Religiöse Erfahrung (wie Anm. 4), S. 143-161.

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aus den Verweisen in den vielfältigen Phänomenen der Schöpfung, zweitens die offenbarende Mitteilung, wie sie einst die Väter auf vielfältige Weise durch äußere Bilder und tönende Worte (also in Visionen und Auditionen) empfangen haben, und drittens die göttliche Schau (divina inspectio), die sich innerlich vollzieht, wenn Gott selbst sich herablässt, eine Seele aufzusuchen, die mit ganzer Sehnsucht und Liebe nach ihm verlangt. Diese dritte Weise der Gotteserkenntnis vollzieht sich als Erfahrung, deren Wesen Bernhard noch genauer bestimmt. Das Hinaustreten der reinen Seele in die göttliche Sphäre oder, anders gesagt, das Hinabsteigen des gnädigen Gottes in die Seele vollzieht sich im geistlichen Bereich. Die Seele, die so von Gott angerührt und so geliebt ist, wird weder mit der Offenbarung zufrieden sein, die vielen Menschen aus der Schöpfung zuteil wird, noch mit jener, die wenige in Visionen und Träumen empfangen haben. Sie empfängt den Bräutigam, das Wort Gottes, durch ein besonderes Vorrecht in den innersten Affekten und im Mittelpunkt ihres Herzens, in das dieses Wort gleichsam aus dem Himmel hineinfällt – nicht gestalthaft und als Erscheinung, sondern eingegossen und wirkend, die Affekte angenehm bewegend. An anderer Stelle geht Bernhard in der Auslegung von Cant. 2,4 näher auf die Entrückung des Betenden in das göttliche Geheimnis ein, auf einen Vorgang, der ihn in 231

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SC 31,3 (1,221,8-10): Interim vero tanta haec formarum varietas atque numerositas

specierum in rebus conditis quid nisi quidam sunt radii Deitatis monstrantes quidem quia vere sit a quo sunt, non tamen quid sit prorsus diffinientes? SC 31,4 (1,221,16-18. 20-22): Alius procul dubio ille modus, quo quondam Patribus crebra illa atque ambitiosa divinae praesentiae familiaritas dignanter indulta est, quamquam nec ipsis sicuti est, sed sicut dignata est. [...] Et haec demonstratio non quidem communis, sed tamen foris facta est, nimirum exhibita per imagines extrinsecus apparentes seu voces sonantes. SC 31,4 (1,221,22-222,2): Sed est divina inspectio eo differentior ab his, quo interior, cum per seipsum dignatur invisere Deus animam quaerentem se, quae tamen ad quaerendum toto se desiderio et amore devovit. Et hoc signum istiusmodi adventus eius, sicut ab eo, qui expertus est, edocemur: IGNIS ANTE IPSUM PRAECEDET ET INFLAMMABIT IN CIRCUITU INIMICOS EIUS. Oportet namque, ut sancti desiderii ardor praeveniat faciem eius ad omnem animam, ad quam est ipse venturus, qui omnem consumat rubiginem vitiorum et sic praeparet locum Domino. Et tunc scit anima, quoniam iuxta est Dominus, cum se senserit illo igne succensam [...]. SC 31,6 (1,223,9-16): Non ergo sic affecta et sic dilecta [anima] contenta erit omnino vel illa, quae multis per ea, quae facta sunt, vel illa, quae paucis per visa et somnia facta est manifestatio sponsi, nisi et speciali praerogativa intimis illum affectibus atque ipsis medullis cordis caelitus illapsum suscipiat habeatque praesto, quem desiderat, non figuratum, sed infusum, non apparentem, sed afficientem; nec dubium, quin eo iucundiorem, quo intus, non foris. Verbum nempe est non sonans, sed penetrans; non loquax, sed efficax; non obstrepens auribus, sed affectibus blandiens.

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glühender Liebe, in Eifer für die Gerechtigkeit und in allen geistlichen Bestrebungen entbrennen lässt. Von den zwei Weisen einer Ekstase in der beseligenden Schau – der im Intellekt und der im Affekt – ist die affektive Überschreitung der Schwelle zu Gott im Gebet die höhere. Auch wenn Bernhard an dieser Stelle nicht den Erfahrungsbegriff gebraucht, stehen seine Ausführungen unter der vom Kontext gesetzten Voraussetzung, dass er religiöse Erfahrungen durch Aussagen der Heiligen Schrift interpretiert. In einer folgenden Predigt zeigt er dann unter wiederholter Verwendung seines gehaltvollen Erfahrungbegriffs, wie sich die lustvollste Erfahrung der Verbindung Gottes mit der im Exil befindlichen Seele, die Erfahrung eines beseligenden Geheimnisses, in den menschlichen Affekten vollzieht. In der zuletzt vorgestellten Äußerung sieht Bernhard bereits im irdischen Leben vorweggenommen, was von der Heiligen Schrift über die Verbindung Gottes mit der in der Fremde befindlichen Seele für das künftige, jenseitige Leben vorhergesagt ist. Dennoch räumt er die Möglichkeit ein, dass einzelne Menschen eine solche Erfahrung des Einsseins mit Gott schon in diesem Leben machen können – allerdings selten oder vielleicht nur einmal und auf jeden Fall nur während ganz kurzer Dauer. Sich selbst zu verlieren und gar nicht mehr zu empfinden, ist eigentliche eine Sache des Wandels im Himmel und nicht menschlichen Affekts. Wer aber so mit seinem Affekt und Willen in den Willen Gottes eingeht, dass er allen eigenen Willen verliert, der wird geradezu vergöttlicht. 235

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SC 49,4 (2,75,14-26): Sed si quis orando obtineat mente excedere in id divini arcani, unde

mox redeat divino amore vehentissime flagrans et aestuans iustitiae zelo necnon et in cunctis spiritualibus studiis atque officiis pernimium fervens, itu ut possit dicere: CONCALUIT COR MEUM INTRA ME, ET IN MEDITATIONE EXARDESCIT IGNIS [Ps. 38,4], is plane, cum ex caritatis abundantia bonam et salutarem vini laetitiae ructare crapulam coeperit, in cellam non immerito perhibetur vinariam introisse. Cum enim duo sint beatae contemplationis excessus, in intellectu unus et alter in affectu, unus in lumine, alter in fervore, unus in agnitione, alter in devotione, pius sane affectus et pectus amore calens et sanctae devotionis infusio etiam et vehemens spiritus repletus zelo non plane aliunde quam e cella vinaria reportantur; et cuicumque cum horum copia surgere ab oratione donatur, potest in veritate loqui quia INTRODUXIT ME REX IN CELLAM VINARIAM [Cant. 2,4]. SC 52,1f. (2,90,22f.; 91,4-14): Quid namque tu, homo, in humanis umquam affectibus expertus es dulcius, quam modo tibi exprimitur de corde Altissimi? [...] Denique nec deest in nostro genere, qui hoc munere felix laetificari meruerit et sic in semetipso suavissimi arcani huius habuerit experimentum [...]. Non me capio prae laetitia, quod illa maiestas tam familiari dulcique consortio nostrae se inclinare infirmitati minime dedignatur et superna Deitas animae exsulantis inire connubia eique sponsi ardentissimo amore capti exhibere affectum non despicit. Sic, sic in caelo esse non ambigo, ut lego in terra, sentietque pro certo anima, quod continet pagina. Dil. 27 (3,142,9-18): Quando huiuscemodi experitur affectum, ut divino debriatus amore animus, oblitus sui factusque sibi ipsi tamquam vas perditum, totus pergat in Deum et, adhaerens Deo, unus cum eo spiritus fiat [...]? Beatum dixerim et sanctum, cui tale aliquid

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In den letzten Äußerungen wurde der Affekt (das Affiziertwerden) geradezu zum Synonym für die religiöse Erfahrung. Dabei wurde ein Aspekt deutlich, den Bernhard immer wieder besonders nachdrücklich hervorhebt. Während die rationalen Vermögen der Seele durch Aktivität und Spontaneität gekennzeichnet sind, ist der Affekt ein Erleiden – wie das Erfahren für Bernhard ja nie ein aktives Experimentieren ist, sondern immer ein Widerfahrnis. Das drückt sich etwa in den Bildern von der Ankunft des göttlichen Wortes aus, von seinem Herabfallen aus dem Himmel ins menschliche Herz, und das ließe sich an vielen anderen Äußerungen zeigen. Es wird besonders deutlich an der verbalen Form des AffektBegriffs. Wie passio zu pati gehört, so affectus und affectio zu affici. Noch stärker als pati ist affici bei Bernhard immer wieder ein Indiz für die Passivität des Subjekts im Vorgang religiöser Erfahrung. Die Verbindung der Affekte mit der religiösen Erfahrung hat schließlich auch zentrale Bedeutung für Bernhards Hermeneutik. Da seine Theologie ebenso sehr Schrifttheologie wie Erfahrungstheologie ist, spielen hermeneutische Aussagen darin eine grundlegende Rolle. Das Verstehen ist für Bernhard nicht rationale Aufnahme und Nachvollzug von Geschriebenem und von Lebensäußerungen im Allgemeinen. Wenn der Affekt redet, wie das in der Religion in der Regel der Fall ist, dann redet er nicht primär zum Intellekt, sondern zum Affekt. Wo es um Affekte geht, da hat die Vernunft keinen Zugang, sondern nur innere Gleichgestimmtheit. Deshalb ist eigene Erfahrenheit die unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis jener Erfahrungen, die in der Heiligen Schrift gesammelt sind. Menschliches Leben lässt sich überhaupt nur verstehen, wenn man sich 239

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in hac mortali vita raro interdum aut vel semel, et hoc ipsum raptim atque unius vix momenti spatio, experiri donatum est. Te enim quodammodo perdere, tamquam qui non sis, et omnino non sentire teipsum et a teipso exinaniri et paene annullari, caelestis est conversationis, non humanae affectionis. Dil. 28 (3,143,5-15): Oportet proinde in eumdem nos affectum quandocumque transire, ut quomodo Deus omnia esse voluit propter semetipsum, sic nos quoque nec nosipsos nec aliud aliquid fuisse vel esse velimus, nisi aeque propter ipsum, ob solam ipsius videlicet voluntatem, non nostram voluptatem. [...] O amor sanctus et castus! O dulcis et suavis affectio! O pura et defaecata intentio voluntatis, eo certe defaecatior et purior, quo in ea de proprio nil iam admixtum relinquitur, eo suavior et dulcior, quo totum divinum est, quod sentitur. Sic affici deificri est. Vgl. auch SC 3,1 (1,14,10-12): OSCULETUR ME OSCULO ORIS SUI. [Cant. 1,1]. Non est enim cuiusvis hominum ex affectu hoc dicere; sed si quis ex ore Christi spirituale osculum vel semel accepit, hunc proprium experimentum profecto sollicitat, et repetit libens. Z.B. SC 67,3 (2,190,3f.); oben Anm. 194. SC 67,8 (2,193,29f.); oben Anm. 181. Z.B. SC 1,11 (1,7,28-8,5) über das Hohelied: Istiusmodi canticum sola unctio docet, sola addiscit experientia. Experti recognoscant, inexperti inardescant desiderio non tam cognoscendi quam experiendi. Non est strepitus oris, sed iubilus cordis; non sonus labio-

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Die Leidenschaften der Seele im Werk Bernhards von Clairvaux

affektiv in die Affekte anderer Menschen versenkt, sich ihnen liebend angleicht und ihre Affekte wie eigene nachvollzieht – also durch Einfühlung, Empathie. Das bedeutendste Beispiel dafür ist Jesus, der leiden wollte, um mitleiden zu können, der erbärmlich wurde, um Erbarmen zu lernen. 243

c) Die Äußerung des Affekts im Wort So sehr das Subjekt Empfänger von Erfahrung im Affekt ist, so sehr wird allerdings die religiöse Erfahrung auch wieder zur Quelle äußerster Aktivität. Zwar können die Affekte, wie wir gesehen haben, durch ordnendes Einwirken der göttlichen Gnade zu Tugenden geformt werden, die das menschliche Handeln lenken. Doch gibt es noch eine andere Aktivität, die unmittelbar aus der affektiven Erfahrung des im Erfahrungsvorgang passiven Subjekts hervorgeht: das affektive Reden. Dafür gebraucht Bernhard gerne das schon erwähnte, aus dem Psalter stammende und die Nahrungsmetaphorik vollendende Verb ructare oder eructare. Es besagt mit Ps. 144,7 und Mt. 12,34, dass aus der Fülle oder Überfülle des Innern der Drang zur sprachlichen Äußerung geradezu unwiderstehlich aufsteigt. Dabei handelt es sich meist um mündliche Aussagen. Bernhard als ein sehr reflektierter Schriftsteller äußert sich aber wiederholt auch darüber, dass und wie sich in einem Text Affekte äußern, etwa in Briefen die Zuneigung des Schreibers, die den Affekt des Empfängers bewegt. Er kann feststellen, dass der Stil eines Briefes den Affekt des Schreibers zum Ausdruck bringe. Abschließend soll seine Beobachtung erwähnt werden, dass sich der Affekt in der Wiederholung ausdrückt: Der Bräutigam des Hohenliedes bringt seine große Liebe zur Braut 244

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rum, sed motus gaudiorum; voluntatum, non vocum consonantia. Non auditur foris, nec enim in publico personat; sola quae cantat audit, et cui cantatur, id est sponsus et sponsa. Est quippe nuptiale carmen, exprimens castos iucundosque complexus animorum, morum concordiam, affectuumque consentaneam ad alterutrum caritatem. Grad. 6 (3,20f.); hier 3,21,11f. vom Heiland: qui pati voluit, ut compati sciret, miser fieri, ut misereri disceret. Näheres bei KÖPF, Religiöse Erfahrung (wie Anm. 4), S. 179-181. Vgl. etwa SC 67,3 (2,190,3-10) vom Reden der Liebe: Ita est: affectus locutus est, non intellectus, et ideo non ad intellectum. [...] Ex abundantia cordis os locutum est, sed non pro abundantia. Habent suas voces affectus, per quas se, etiam cum nolunt, produnt: timor, verbi causa, meticulosas, dolor gemebundas, amor iucundas. Ep. 201,1 (8,59,11): Epistola, quam misisti, affectum tuum redolet, movet meum. 389 (8,357,2f.): Redolebant illae litterae affectum vestrum, movebant meum. Ep. 105 (7,264,9f.): si veraciter stilus expressit affectum, efficaciter opus stilum testificetur; 96 (7,247,3f.): plenum affectum exili cogor designare stilo.

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dadurch zum Ausdruck, dass er die Worte der Liebe wiederholt.247 An Bernhards eigenem Stil lässt sich aufzeigen, wie sehr in seinen Briefen, Predigten und Schriften seine eigene Erfahrung und der stark affektbezogene Charakter seiner Theologie zum Ausdruck kommen.248

Siglenverzeichnis Abb. Adv. Andr. Ann. Apol. Asc. Ass. Circ. Cons. Conv. Ded. eccl. Dil. Div. Ep. Epiph. Grad. Gratia Humb. I Nov. Innoc. IV p. Pent. Lab. mess. Laud. v. m. Mart. Nat. BM Oct. Ass. Oct. Epiph. OS Palm. 247

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Sermo ad Abbates In adventu Domini In natali S. Andreae In annuntiatione dominica Apologia ad Guillelmum abbatem In ascensione Domini In assumptione Beatae Mariae In circumcisione Domini De consideratione Ad clericos de conversione In dedicatione ecclesiae De diligendo Deo De diversis Epistolae In epiphania Domini De gradibus humilitatis et superbiae De gratia et libero arbitrio In obitu domini Humberti Dominica in Kalendis Novembris De festivitatibus S. Stephani, S. Ioannis et SS. Innocentium Dominca IV Post Pentecostem In labore messis In laudibus virginis matris homiliae In festivitate S. Martini episcopi In nativitate Beatae Mariae Dominica infra octavam assumptionis Beatae Mariae In octava epiphaniae In festivitate omnium sanctorum In ramis palmarum

SC 61,1 (2,148,12-14): Commendat Sponsus multam dilectionem suam iterando amoris voces. Nam iteratio affectionis expressio est. Vgl. dazu auch die Beobachtungen von Dorette SABERSKY, Nam iteratio, affectionis expressio est. Zum Stil Bernhards von Clairvaux, in: Cîteaux 36 (1985), S. 5-20.

Die Leidenschaften der Seele im Werk Bernhards von Clairvaux Parab. Petr. Paul. Quadr. QH SC Sent. SV Epiph. SV Vict. Vig. Andr. Vig. Nat. Vita Mal.

Parabolae In sollemnitate apostolorum Petri et Pauli In Quadragesima In Quadragesima de psalmo „Qui habitat“ Super Cantica Canticorum Sententiae Sermo varius: In Epiphania Sermo varius: In natali S. Victoris In vigila S. Andreae Apostoli In vigilia nativitatis domini Vita S. Malachiae episcopi

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Die passiones animae im Speculum universale des Radulfus Ardens

Das Speculum universale des Radulfus Ardens ist die umfangreichste und ausführlichste systematische Gesamtdarstellung der theologischen Ethik im 12. Jahrhundert.1 Seine Entstehungszeit lässt sich nicht exakt festlegen und umgrenzen. Sicher ist lediglich der Zeitraum zwischen dem dritten und vierten Laterankonzil, also zwischen 1179 und 1215. Wahrscheinlich aber sind große Teile, wenn nicht2 sogar das gesamte Werk, im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts entstanden. Eingeteilt ist das Speculum universale mit seinen über tausend Kapiteln in 14 Bücher, von denen die Bücher I–V eine allgemeine Tugendlehre enthalten, während die Bücher VII–XIV die einzelnen Tugenden inhaltlich näher entfalten. Buch VI, das vom Gebet handeln sollte, fehlt in allen Handschriften; einer späte1

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Das Speculum universale (SpU) ist in neun Handschriften zugänglich, von denen vier den vollständigen Text enthalten, eine Handschrift fast vollständig ist, eine nur die Bücher IX– XIV bietet und drei Handschriften lediglich neu zusammengestellte Exzerpte enthalten. – Eine kritische Edition der ersten fünf Bücher liegt inzwischen vor: Radulfi Ardentis Speculum universale, Ed.: Claudia Heimann/Stephan Ernst (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 241), Turnhout 2011. Dieser Edition wurde als Leithandschrift die Handschrift P zu Grunde gelegt. Sie besteht aus den beiden Codices Paris Nat. lat. 3229 und 3240, von denen der erste die Bücher I–VIII (ohne Buch VI) und der zweite die Bücher IX–XIV enthält. – In der Einleitung der Edition der ersten fünf Bücher (XXXVIII– CVIII) findet sich auch eine ausführliche Beschreibung der Hss. – Die Herausgabe der weiteren Bücher des Speculum universale (VII–XIV) wird derzeit am Lehrstuhl für Moraltheologie an der Universität Würzburg vorbereitet. Damian VAN DEN EYNDE, Précisions chronologiques sur quelques ouvrages théologiques du XII siècle, in: Antonianum 26 (1951) 241–243, geht – zum einen auf der Grundlage, dass Radulfus Ardens das 1192 abgeschlossene Verbum abbreviatum des Petrus Cantor benutzt habe, zum anderen auf der Grundlage der Angabe von Marie-Thérèse D’ALVERNY, L’obit de Raoul Ardent, in: Archives d’Histoire Doctrinale et Littéraire du Moyen Age 15– 17 (1940–42) 405, dass Radulfus Ardens im Jahre 1200 gestorben sei – von einem Entstehungszeitraum des Speculum universale zwischen 1193 und 1200 aus. – Zur genaueren Begründung und Auseinandersetzung mit dieser bisherigen Datierung vgl. die Einleitung zur Edition, XXX–XXXVII. e

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ren Notiz am Ende von Buch V zu Folge ist es aber auch nie geschrieben worden. Radulfus Ardens habe – wie es hier heißt – die Abfassung dieses Buches bis zur Vollendung des „Übrigen“ (cetera) verschoben, weil er sich rasch Wichtigerem zuwandte (quia festinabat ad maiora), er habe dann aber das Buch nicht mehr verwirklichen können, weil er vorher gestorben sei (morte interveniente).3 Auch ist Buch XIV – geht man von der zu Beginn von Buch XIII vorgestellten Konzeption aus – unvollendet geblieben. Über den Autor selbst, Radulfus, dessen Beiname „Ardens“ erst in Handschriften aus dem späten 14. und 15. Jahrhundert auftaucht und gewöhnlich auf die leidenschaftliche Art seiner Predigt zurückgeführt wird, ist kaum Sicheres greifbar. Jedenfalls lässt sich die Auskunft, er stamme aus Beaulieu-sous-Bressuire in der Nähe von Poitiers, ebenso wenig als sicher erweisen wie die verbreiteten Angaben, dass er Kaplan König Richards I. Löwenherz, Archidiakon in Poitiers und schließlich auch Magister in Paris gewesen sei.4 1. Das Speculum universale – Seine Bedeutung im Rahmen der theologischen Ethik des 12. Jahrhunderts Die besondere Bedeutung des Textes, die bereits von Martin Grabmann5 und Bernhard Geyer6 erkannt wurde, die aber erst Johannes Gründel7 im einzelnen herausgearbeitet hat, zeichnet sich ab, wenn man die Konzeption des Speculum universale vor dem Hintergrund der Entfaltung ethischer Reflexion in der Zeit der 3

Vgl. SpU V,78 (Ed., 451,3192–3195): Hinc deest liber sextus in quo proposuerat magister

Radulfus se de oratione tractaturum, quem quia ad maiora festinabat, quousque cetera consummasset, distulit, sed postea morte interueniente perficere non potuit. – Johannes GRÜNDEL, Die Lehre des Radulfus Ardens von den Verstandestugenden auf dem Hintergrund seiner Seelenlehre (Veröffentlichungen des Grabmann-Instituts 27), München/Paderborn/Wien 1976, 39f geht davon aus, dass mit den maiora nicht wichtigere, hö-

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herrangige Aufgaben gemeint sind, die Radulfus Ardens zuvor erfüllen musste, sondern die Abfassung der nachfolgenden speziellen Tugendlehre in Buch VII–XIV und mit dem Rest, den „cetera“, der übrige Teil des Gesamtwerks.

Vgl. dazu Einleitung zur Edition, XXI–XXXVII. Vgl. Martin GRABMANN, Die Geschichte der scholastischen Methode, Bd. I, Freiburg 1909 (ND: Darmstadt 1988), 248. Vgl. Bernhard GEYER, Radulfus Ardens und das Speculum Universale. Eine kritische Untersuchung zu Grabmanns Geschichte der scholastischen Methode, in: Theologische Quar-

talsschrift 93 (1911) 63–89. Ihm zufolge ist das Speculum universale „ohne Zweifel die umfangreichste und beste Darstellung der Ethik im 12. Jahrhundert, die ein kunstvoll gegliedertes, alle Pflichtenkreise umfassendes System bietet und mit Geist und Kritik geschrieben ist“ (89). Johannes GRÜNDEL, (vgl. Anm. 3). Verstandestugenden

Die passiones animae im Speculum universale des Radulfus Ardens

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Frühscholastik betrachtet. Denn bereits vor der vollständigen Übersetzung und der damit beginnenden breiten Rezeption der Nikomachischen Ethik zu Beginn des 13. Jahrhunderts lässt sich im 12. Jahrhundert ein komplexer Prozess der Herausbildung und Differenzierung theologischer Ethik nachzeichnen8, der durch die Rezeption antiker philosophischer Ethik und durch die Auseinandersetzung mit dieser bereichert und gefördert wurde. 1. Die Rezeption antiker philosophischer Ethik wird zu9 Beginn des 12. Jahrhunderts, 10das entsprechend auch als eine „Renaissance“ oder als „erste Aufklärung“ bezeichnet wurde, in verschiedenen Florilegiensammlungen greifbar. In ihnen wurden, nach grundsätzlichen Aussagen zum Begriff der Tugend und des Lasters, die ethisch wertvollen Haltungen und Verhaltensweisen nach dem Einteilungsschema der Kardinaltugenden – vor allem Cicero oder Macrobius folgend – zusammengestellt und definiert. Zu nennen sind 11hier das Wilhelm von Conches zugeschriebene Moralium dogma philosophorum , die Explicatio aphorismatum 8

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Vgl. dazu Stephan ERNST, Ethische Vernunft und christlicher Glaube. Der Prozess ihrer wechselseitigen Freisetzung in der Zeit von Anselm von Canterbury bis Wilhelm von Auxerre (Beiträge zur Geschichte der Theologie und Philosophie des Mittelalters N.F. 46), Münster 1996; ebenso: Georg WIELAND, Ethica – scientia practica. Die Anfänge der philosophischen Ethik in 13. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte der Theologie und Philosophie des Mittelalters N.F. 21), Münster 1981. Vgl. dazu Charles H. HASKINS, The Renaissance of the 12th Century, New York 1927; Urban T. HOLMES, The Idea of a Twelfth-Century Renaissance, in: Speculum 26 (1951)

643–651; Maurice DE GANDILLAC/Eduard JEAUNEAU, Entretiens sur la renaissance du XIIe siècle, Paris 1968.

Richard W. SOUTHERN, Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Das Abendland im 11. und 12. Jahrhundert, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 21980; Karl BOSL, Die Grundlagen der modernen Gesellschaft im Mittelalter, 2 Bde., Stuttgart 1972; Marshall CLARGETT u.a. (Hgg.), Twelfth Century Europe and the Foundations of Modern Society, Madison/Wisconsin 1961; Jacques LEGOFF, La civilisation de l’Occident Médiévale, Paris 1964;

Kurt FLASCH/Udo Reinhold JECK (Hg.), Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter, München 1997.

Ed.: John Holmberg, Uppsala 1929. – Zur umstrittenen Verfasserschaft vgl. neben den entsprechenden Ausführungen von Holmberg vor allem: John R. WILLIAMS, The Autorship of the Moralium Dogma Philosophorum, in: Speculum 6 (1931) 392–411; Theodore SILVERSTEIN, The „Tertia Philosophia“ of Guillaume de Conches, London 1937, 23–33; Philippe DELHAYE, Une adaption du De Officiis au XIIe siècle, in: Miscellanea moralia in honorem eximii, D. Arthur Janssen, Louvain 1948, 29–44; DERS., Gauthier de Châtillon est-il l’auteur du Moralium dogma?, in: Analecta Mediaevalia Namurcensia 3, Namur 1953; Klaus-Dieter NOTHDURFT, Studien zum Einfluss Senecas auf die Philosophie und Theologie des Zwölften Jahrhunderts (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 7), Leiden/Köln 1963, 94f.

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philosophicorum des Wilhelm von Doncaster12 sowie das Florilegium Morale Oxoniense13. Das, was Tugend ist, wird hier ausschließlich philosophisch be-

stimmt unter Bezug auf die allgemeine Vernunft. Dabei findet sich auch schon die Charakterisierung als erworbener habitus14 und als Mitte zwischen Fehlern15. Hinsichtlich ihrer Herkunft verweisen diese Sammlungen in das Umfeld der sog. „Schule“ von Chartres16, die sich in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung durch eine Loslösung vom biblischen und traditionsgeleiteten Blick auf die Wirklichkeit und durch die Entdeckung der Natur in ihrer Eigenständigkeit als Natur auszeichnete. So wurde Naturphilosophie auf der Grundlage des platonischen Timaios betrieben, die – auch bei sich ergebenden Widersprüche mit dem biblischen Sechstagewerk – als Kriterium der Wahrheit galt.17 Entsprechend wundert es nicht – und 12 13 14

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Ed.: Olga Weijers, Leiden/Köln 1976. In ihrer Einleitung (2–8) weist O. Weijers auf die Verbindung zwischen Wilhelm von Doncaster und Wilhelm von Conches hin. Bd. I, Ed.: Philippe Delhaye, Lovain/Lille 1955; Bd. II, Ed.: Charles H. Talbot, Louvain/Lille 1956. So begegnet im Moralium Dogma Philosophorum (Ed. Holmberg, 7,11–12) die Definition Ciceros, der die Tugend als habitus in modum naturae rationi consentaneus bestimmt, und im Florilegium Morale Oxoniense (Ed. Delhaye, 77,4–5;8–9) die Tugenddefinition des Boethius als bene constitutae mentis habitus. Im Florilegium Morale Oxoniense (Ed. Delhaye, 91,7) findet sich die Definition des Horaz, der die Tugend als medium uiciorum utrimque reductum bezeichnet. Zuvor findet sich die ausführlichere Bestimmung (ebd., 91,1–6): Vitia de diuersis habundantia inopiaque constare asseruit, uirtutes uero habundantia in egestate carentes, in quodam meditullio site sunt uitiorum. Quod genus, fortitudo circumsistitur hinc audatia, hinc timore. Audatia quidem confidentie fit habundantia; timiditas est uitium deficientis fidutie. – Weiterhin fin-

det sich hier auch die Definition Ciceros, der darauf hinweist, dass es zu jeder Tugend ein finitimum uitium gibt, das in einem Übermaß der Tugend besteht (ebd., 76,5–10): Sic uni-

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cuique uirtuti finitimum uitium reperietur, aut iam certo nomine appellatum, ut audatia que fidentie, pertinatia que perseuerantie finitima est, supersticio que religioni propinqua est: aut sine ullo certo nomine. Que omnia item ut contraria rerum bonarum, in rebus uitandis reponemus. Vgl. dazu grundlegend: Richard W. SOUTHERN, Humanism and the School of Chartres, in: DERS., Medieval Humanism and other Studies, Oxford 1970, 61–85; DERS., Platonism, Scholastic Method and the School of Chartres, Reading 1979; DERS., The Schools of Paris and the School of Chartres, in: Renaissance and Renewal in the Twelfth Century, ed. by

Robert L. Benson and Giles Constable, Oxford 1982, 113–137. Die Magister von Chartres gehen nicht vom Text der Bibel aus, um daraus Erkenntnisse

über die weltliche Wirklichkeit zu gewinnen. Sie gehen vielmehr von säkularer Weltbetrachtung aus, um daraufhin die Aussagen der Schöpfungsgeschichte auszulegen und zu erläutern. Die Erkenntnis säkularer Wissenschaft hat nicht an den Aussagen der Bibel das Maß ihrer Wahrheit, sondern die Auslegung der Heiligen Schrift hat das Maß ihrer Wahrheit an der eigenständigen naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Welt. Ihr dürfen die Aussagen des Glaubens und der Theologie nicht widersprechen. Für die Chartreser im 12. Jahrhundert hat das bemerkenswerte Folgen. In ihrer Sicht lässt sich die

Die passiones animae im Speculum universale des Radulfus Ardens

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die Aussage Bernhards von Chartres, dass es im Timaios um das ius naturale gehe, während sich Platons Politeia mit dem ius positivum befasse, mag dies unterstreichen –, dass auch für den Bereich des sittlichen Handelns auf antikes Gedankengut zurückgegriffen wurde. Im Ganzen gehört die Schule von Chartres hinein in den Aufbruch des 12. Jahrhunderts, in dem – wozu auch die Rezeption der antiken und arabischen Medizin einen Beitrag leistet – die Natur als Natur entdeckt (découverte de la nature)18 und die Eigenwirklichkeit der Welt und des Menschen zunehmend zur Geltung gebracht wurde. Diese Form einer paganen, also säkularen und vernunftbasierten Ethik stieß freilich auf Misstrauen, weil sie das durch Offenbarung begründete und durch die Tradition vermittelte christliche Ethos in Frage zu stellen schien. So erklärt es sich, dass die entsprechenden Florilegientexte zunächst auch nicht im Rahmen der „Ethica“ als eigener Disziplin, sondern im Rahmen des Grammatik-Unterrichts als Übungstexte gelesen wurden.19 Erst in Peter Abaelards Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum begegnet eine ähnliche Gestalt der Ethik wieder mit ihrer philosophischen Definition der Tugend20 und mit ihren Einteilungen und Charakterisierungen der Kardinaltugenden (wobei er die Klugheit nicht zu den Kardinaltugenden zählt) einschließlich ihrer Untertugenden21, diesmal allerdings ausdrücklich im Rahmen einer Abhandlung zur Ethik, die der Dialogus dar-

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Entstehung aller Dinge und Lebewesen durchgängig mechanistisch aus den Eigenschaften der vier Grundelemente und den der Natur innewohnenden Keimkräften erklären, ganz im Sinne einer Evolution (vgl. dazu WILHELM VON CONCHES, Philosophia mundi 22, Ed.: Gregor Maurach, Pretoria 1974, 30,530–33,611). In deren Verlauf geht auch der Mensch, so sehr er Bild Gottes ist, bruchlos aus dem Tierreich hervor (vgl. THIERRY VON CHARTRES, De sex dierum operibus 14, Ed.: Nikolaus M. HÄRING, Commentaries on Boethius by Thierry of Chartres and his School [PIMS, Studies and texts 20], 561,74–82). Wilhelm von Conches bietet sogar eine naturphilosophische Erklärung der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen. Die Erschaffung Evas aus der Rippe Adams verweist er dagegen in den Bereich der nicht wörtlich zu nehmenden Allegorie (vgl. WILHELM VON CONCHES, Philosophia mundi 22 [Ed.: G. Maurach] 31,562–564).

Marie-Dominique CHENU, La théologie au douzième siècle (Études de philosophie médiévale 45), Paris 1957, 21ff, spricht von der „découverte de la nature“. Vgl. ebenso: Marie-Dominique CHENU, Découverte de la nature et philosophie de l’homme à l’école de Chartres au XIIe siècle, in: Cahiers d’histoire mondiale 2 (1954) 313–325. Vgl. Philippe DELHAYE, „Grammatica“ et „Ethica“ au XIIe siècle, in: Recherches de théologie ancienne et médiévale 25 (1958) 71. Vgl. PETRUS ABAELARDUS, Dialogus inter Philosophum, Judaeum et Christianum (Ed. Rudolf Thomas, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1970), 115,1986–116,1992: Virtus, inquiunt, est habitus animi optimus; sic e contrario vitium arbitror esse habitum animi pessimum; habitum vero hunc dicimus, quem Aristotiles in Categoriis distinxit, cum in habitu et dispositione primam qualitatis speciem comprehendit. Est igitur habitus qualitas rei non naturaliter insita, sed studio ac deliberatione conquisita et difficile mobilis. Vgl. dazu ebd., 118,2065–127,2290.

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stellt.22 Die Tugendlehre findet sich hier in den Ausführungen des Philosophen, worin seiner Meinung nach das sittliche Leben besteht. Im Vergleich mit der christlichen Sicht der Sittlichkeit, mit dem Streben des Menschen nach dem summum bonum, wird die säkulare Ethik dann jedoch im weiteren Verlauf des Dialogs durch den Christen relativiert, obwohl sie – als Stufe – unkorrigiert stehen bleibt und damit anerkannt wird. Eine ganz andere Gestalt der Ethik begegnet demgegenüber in den zeitgleich entstehenden heilsgeschichtlich aufgebauten Summen, in denen versucht wird, den gesamten Glaubensinhalt in konsistenter Weise darzustellen, etwa in den ersten Sentenzensummen aus der Schule von Laôn, in der Summa Sententiarum, im großen heilgeschichtlichen Entwurf De sacramentis christianae fidei des Hugo von St. Viktor sowie schließlich in den vier Büchern der Sentenzen des Petrus Lombardus und in den darauf aufbauenden Summen seiner Schüler. Der entscheidende Gesichtspunkt, unter dem hier das sittliche Handeln des Menschen thematisiert wird, ist nun nicht mehr eine Darstellung der Eigenwirklichkeit menschlicher Sittlichkeit, sondern der Verlust der Möglichkeit wahrer Sittlichkeit nach dem Sündenfall sowie die Wiederherstellung dieser Möglichkeit durch die Gnade Gottes und den Glauben. Entsprechend beschränkt sich die Tugendlehre Hugos von St. Viktor in De sacramentis II,13 (De vitiis et virtutibus)23 vor allem auf Ausführungen zur caritas, durch die erst wahrhaft gute Werke möglich werden, eine Entfaltung der Kardinaltugenden findet sich dagegen nicht. Und Petrus Lombardus, der die Tugend – in Gegensatz zur philosophischen Tugenddefinition 24 – wesentlich theologisch, nämlich von Gott her bestimmt , nennt die Kardinaltugenden nur ganz kurz25 und behandelt sie dann vor allem unter der Fragestellung, ob sie in Jesus Christus verwirklicht waren26 und wie sie in der eschatologischen Vollendung im Menschen verwirklicht sein werden27. Eine inhaltliche Entfaltung dieser Tugenden wird jedoch durch die Konzentration auf die durch die Gnade und den Heiligen Geist gewirkten Haltungen des Glaubens, der Hoffnung und vor

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25 26 27

Eine Weiterführung dieses Ansatzes bietet aus der Schule Abaelards die Ysagoge in theologiam (Ed. Artur M. Landgraf, Écrits théologiques de l’école d’Abélard (Spicilegium sacrum Lovaniense 14), Louvain 1934, 63–285. Vgl. PL 176,525–550. Vgl. PETRUS LOMBARDUS, Sententiae in IV libris distinctae, lib. II, dist. 27, cap. 1 (Ed. Spicilegium Bonaventurianum IV, 480,8–10): Virtus est bona qualitas mentis, qua recte

vivitur et qua nullus male utitur, quam Deus solus in homine operatur. Vgl. PETRUS LOMBARDUS, Sententiae in IV libris distinctae, lib. III, dist. 33, cap. 1 (Ed. Spicilegium Bonaventurianum V, 187,21–188,9). Vgl. ebd., cap. 2 (Ed., 188,11–13). Vgl. ebd., cap. 3 (Ed., 188,15–189,30).

Die passiones animae im Speculum universale des Radulfus Ardens

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allem der durch Jesus Christus vermittelten Liebe (caritas) als Inbegriff und Grund aller Tugenden28 geradezu absorbiert.

2. Die säkulare Tugendethik der Florilegiensammlungen, die die Sittlichkeit des Menschen gegenüber den heilsgeschichtlichen Summen in ihrer Eigenwirklichkeit sehen, wird jedoch in der in Kontinuität mit der „Schule“ von Chartres stehenden Schule der Porretaner weitergeführt. Gilbert von Poitiers (Porreta) war selbst Schüler Bernhards von Chartres und ab 1126 auch Kanzler und Leiter der Kathedralschule von Chartres. Als herausragendes Beispiel für die Fortführung der Tugendethik der Florilegien ist hier zunächst der um 1160 entstandene Traktat De virtutibus et de vitiis et de donis Spiritus Sancti des Alanus von Lille zu 2 nennen , in dem dieser – ähnlich wie in den Florilegiensammlungen – zunächst eine philosophische Definition der Tugenden und Laster entwickelt und die verschiedenen sittlichen Grundhaltungen nach dem Schema der Kardinaltugenden präsentiert, dann aber noch weitere Überlegungen zum Verhältnis zwischen den – als eigenständig vorausgesetzten – politischen und den theologischen bzw. zwischen den erworbenen und geschenkten Tugenden sowie zu den Gaben des Heiligen Geistes anschließt. Vor allem aber ist es Radulfus Ardens, der – ebenfalls stark beeinflusst vom porretanischen Gedankengut – im Speculum universale diese Gestalt der Ethik, wie sie sich im Tugendtraktat des Alanus findet, aufgreift und weiterentwickelt. Bezeichnenderweise wird der Titel dieses Werkes in der Leithandschrift P (Paris Nat. lat. 3240, fol. 1 ) auch mit Liber de vitiis et virtutibus angegeben. Radulfus aber entwickelt diese Grundstruktur eigenständig weiter. Anders als Alanus von Lille nämlich, der Glaubenslehre (theologia rationalis) und Moraltheologie (theologia moralis) trennt, ordnet er in die Grundstruktur der Tugendlehre an unterschiedlichen Stellen alle wichtigen Themen der dogmatischen Glaubenslehre ein. So entsteht eine theologische Gesamtdarstellung des christlichen Glaubens, orientiert allerdings an der Grundlage der Tugendlehre und Ethik. Radulfus Ardens konzipiert damit die Theologie primär als praktische und weniger als theoretische Wissenschaft. Es geht in der Theologie nicht primär um die spekulative Entfaltung der Glaubensinhalte im Sinne objektiver Sachverhalte, aus denen sich dann praktische Konsequenzen für das ethische Handeln ableiten lassen. Vielmehr werden die Inhalte des Glaubens von vornherein in ihrer Hinordnung auf das 9

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r

28 29 30

Vgl. ebd., dist. 23–32 (Ed., 141–187,18). Ed. in: Odo LOTTIN, Psychologie et morale aux XIIe et XIIIe siècles,

Bd. VI, Gembloux 1960, 45–92. Der „magister Gilebertus Pictaviensis“ ist bezeichnenderweise der einzige zeitgenössische Autor, den Radulfus in seinem namentlich zitiert. – Vgl. SpU, lib. VIII, cap. 92 über die Frage, ob das Sakrament der letzten Ölung ( ) heilsnotwendig sei (vgl. Hs. P = Paris Nat. lat. 3229, fol. 123vb). Speculum universale

extrema unctio

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ethische Handeln des Menschen und in ihrer Bedeutung für diese Praxis verstanden. Die Entfaltung der Tugenden und die Verwirklichung eines guten und verantwortlichen Lebens bildet den Bezugspunkt, im Blick auf den die Inhalte des Glaubens ausgesagt und überhaupt erst in ihrer Relevanz verständlich werden. Offenbar wird für Radulfus Ardens erst so ein sachgemäßes Reden über den Glauben an Gott, also Theologie, möglich. Entsprechend führt Radulfus Ardens von vornherein als Bestimmung dessen, was er unter Tugend und Laster versteht, auch nicht nur – wie die Florilegiensammlungen und Alanus von Lille – die philosophischen Definitionen als habitus mentis bene constitutae und als Mitte zwischen zwei zurückgewiesenen Lastern, als medium vitiorum utrimque reductum32, an31, sondern auch die theologische Tugenddefinition des Petrus Lombardus . Allerdings betont er dabei ihre pädagogische und pastorale Bedeutung.33 Vor allem aber ist das Speculum universale sehr viel ausführlicher als die bisherigen Tugend- und Lastertraktate sowohl in der allgemeinen Tugendlehre und der hier entfalteten Anthropologie und Seelenlehre als auch in der Entfaltung der einzelnen Tugenden, die nach einer eigenen, aus der Seelenlehre abgeleiteten Systematik dargestellt und die mit zahlreichen konkreten Fragen der Ethik und Anweisungen zur guten Lebensführung angefüllt werden. Während sich also die heilsgeschichtlichen Summen, vor allem die Sentenzen des Petrus Lombardus, auf die Entfaltung der Glaubensinhalte und des Heilsgeschehens konzentrieren und den Menschen primär unter diesem Gesichtspunkt der Bestimmung durch die Gnade Gottes in den Blick nehmen, bringen die Porretaner – und unter ihnen Radulfus Ardens in herausragender Weise – auch die Eigenwirklichkeit des Menschen zur Geltung. Anders etwa als Anselm von Canterbury, der die Freiheit des Menschen in ihrer reinen, von allem Beiwerk des Körperlichen und Endlichen losgelösten Form reflektieren will34, richtet Radulfus 31 32 33

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Vgl. SpU I,19 (Ed., 28, 536f); SpU I,21 (Ed., 31,608f). Vgl. SpU I,22 (Ed., 31,620–622). Vgl. SpU I,22 (Ed., 32,631–644): Solus Deus operatur illam in nobis. Ceterum cum uni-

uersaliter sit uerum quod solus Deus operatur tam subiecta formarum quam formas subiectorum, quare hoc precipue de forma uirtutis hic dicitur? Vt causa superbie remoueatur, quia enim ex uehementi longa laboriosaque liberi arbitrii applicatione uix tandem ad uirtutem peruenitur. Visum est philosophis quod humanus labor et industria mentis uirtutes operetur. Vnde Flaccus ait: Equum animum ipse parabo. Que superba opinio ut penitus a cordibus fidelium excludatur, descripta uirtute subiecit uir quoniam solus Deus uirtutem in nobis operatur. Quamuis enim laboret et serat colonus, quamuis quoque plantet et riget ortolanus, tamen per se Deus sine illis incrementum prestat. Sed et nos quamuis studium nostrum ad uirtutem applicemus, tamen Deus per se sine nobis in nobis uirtutem creat. Vgl. ANSELM VON CANTERBURY, De casu diaboli, c. 21 und 23 (Ed. Franciscus Salesius Schmitt/Hansjürgen Verweyen, in: Fontes Christiani 13, Freiburg u.a. 1994, 219–224; 228–231). – Vgl. dazu auch Engelbert RECKTENWALD, Die ethische Struktur des Denkens

Die passiones animae im Speculum universale des Radulfus Ardens

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Ardens den Blick gerade auf die vielfältigen Bedingtheiten des menschlichen Wollens und der Freiheit. Als Beispiel mag genügen, dass Radulfus im Zusammenhang der Frage nach der Entstehung der Tugenden und Laster u.a. eine Fülle von Anlässen (occasiones) beschreibt35: So können die persönliche Veranlagung

eines Menschen, die Zeit, in der er lebt, der Ort, an dem er aufgewachsen ist und wohnt, aber auch das Elternhaus, die Volkszugehörigkeit, der Umgang, den man pflegt, oder auch die Erziehung und vieles andere mehr die moralische Entwicklung eines Menschen fördern oder behindern. Aufgrund dieser Besonderheit der Porretaner, insbesondere auch des Speculum universale, den Menschen nicht nur vom Erlösungshandeln Gottes, sondern von sich selbst her, in seiner Eigenwirklichkeit, zur Sprache zu bringen, ist es nicht verwunderlich, dass Radulfus Ardens auch die passiones animae als Grundlage der Tugenden und Laster eingehend bedenkt. Im Folgenden soll deshalb in einem ersten Schritt gezeigt werden, wie er – ausgehend von der Frage nach dem Guten und Bösen, den Tugenden und Lastern und ihrer Entstehung – in Buch I des Speculum universale im Rahmen der Seelenlehre die passiones animae verankert und entfaltet (2). In einem zweiten Schritt soll die Bedeutung aufgewiesen werden, die – dem Buch V folgend – die passiones animae bei der Entstehung der Tugenden und Laster haben (3). In einem dritten Schritt soll schließlich auf den von Radulfus entwickelten Gedanken der Komplementärtugenden, die er in seiner speziellen Tugendlehre in den Büchern VII–XIV entfaltet, aufmerksam gemacht und die spezifische Rolle, die dabei die passiones animae spielen, herausgestellt werden (4). 2. Passiones animae – Die Grundlegung der verschiedenen Affekte in der Seele des Menschen In der allgemeinen Tugendlehre der ersten fünf Bücher des Speculum universale kommt der Ausdruck „passiones animae“ im Sinne der Leidenschaften der Seele lediglich an einer einzigen Stelle vor, nämlich im Rahmen der Seelenlehre in Buch I.36 Hier heißt es: 35 36

von Anselm von Canterbury, Heidelberg 1998, 27. Vgl. SpU II,22–41 (Ed., 102,655–140,1518). In SpU I,52 (Ed., 61,1338) steht passio in Gegensatz zu voluptas und meint „Leiden“ im Gegensatz zur „Lust“. In SpU II,24 (Ed., 106,736) meint passio die Leidenschaftlichkeit der Jugend, in II,28 (Ed., 114,938) dagegen das Leiden Christi. In SpU IV,10 (Ed., 245,415) meint passio das Leiden und die Mühsal, denen der Mensch nach dem Sündenfall unterworfen ist. In SpU V,31 (Ed., 369,1317) meint passio Leiden beim Martyrium. – In SpU V,67 (Ed., 431,2731f) ist allerdings von den passiones als den schlechten cogitationes

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Diese aber, das Begehren und der Hass mit den aus ihnen folgenden Strebungen, haben die Philosophen natürliche Leidenschaften ( ) oder Affekte ( ) oder Erregungen der Seele ( ) genannt: Leidenschaften, weil sie tatsächlich der Art nach ein Leiden der Seele sind und beide der Seele Leiden zufügen, diese aber weniger, weil sie gefallen, jene dagegen mehr, weil sie missfallen; Affekte, weil sie den Geist bedrängen und verändern; Erregungen, weil sie den Geist erregen, so dass er nicht in rechter Weise unterscheiden kann; natürlich, weil sie uns vom ersten Moment der Schöpfung an eingegeben sind und sich bei den Guten ebenso wie bei den Bösen finden. Den Schlechten aber, die sie auf schlechte Weise gebrauchen, verkehren sie sich in Laster, den Guten dagegen, die sie auf rechte Weise verwenden, werden sie in Tugenden verwandelt. Deshalb hat sie auch Christus besessen, der nur Gutes gehabt hat.37 passiones

affectiones

perturbationes animae

An dieser Stelle fasst Radulfus Ardens seine Überlegungen zu den Leidenschaften der Seele, die er sonst im übrigen Text affectus bzw. affectiones nennt, zusammen und bringt sie mit dem von den Philosophen gebrauchten Ausdruck passiones animae zusammen. Wie in einem Brennspiegel bündeln sich an dieser Stelle die entscheidenden Bestimmungen, mit denen er die Leidenschaften im Rahmen seiner Seelenlehre charakterisiert. Welche Bestimmungen sind dies? 1. Radulfus unterscheidet zwei Grund-Leidenschaften oder Grund-Strebungen im Menschen, nämlich ein begehrendes Streben und ein abwehrendes bzw. zurückweisendes Streben. Diese Grund-Leidenschaften – Radulfus spricht von due ex-

– lassen sich ihrerseits jeweils in verschiedene aus ihnen folgende Konkretisierungen bzw. Unterarten ( ) aufgliedern. Für die beiden Grundstrebungen verwendet Radulfus dabei meistens die Bezeichnungen, die er in der philosophischen Tradition vorgefunden hat, nämlich für das begehrende und für das abwehrende und zurückweisende Streben, wobei die präzisere, weil das Vermögen klarer bezeichnende, substantivische Formulierung mit der Endung „...tas“ im Unterschied zum sonst gebräuchlichen und als charakteristisch für die Porretanerschule gelten

treme aptitudines

38

sequela

concupiscibilitas

irascibilitas

concupiscibile

37

38

irascibile

die Rede, die einen – im Sinne von Versuchungen – verführen; ebenso in SpU V,70 (Ed., 440,2926); V,71 (Ed., 440,2938) und SpU V,78 (Ed., 450,3167f). SpU I,45 (Ed., 53,1133–1144): Porro has uidelicet cupiditatem et odium cum sequelis suis nuncupauerunt philosophi naturales passiones siue affectiones siue perturbationes anime: passiones, quoniam reuera genere passiones anime sunt et utreque animam affligunt, sed hec minus, quoniam placent, ille uero magis, quoniam displicent; affectiones, quoniam mentem affligunt et immutant; perturbationes, quoniam mentem perturbant, ne recte possit discernere; naturales, quoniam a prima creatione nobis sunt insite et tam bonorum quam malorum sunt. Sed malis qui male utuntur eis, uertuntur in uitia, bonis uero qui eis recte funguntur, in uirtutes conuertuntur. Vnde et Christus qui nichil nisi bonum habuit, eas habuit. Vgl. SpU I,41 (Ed., 47,993f).

Die passiones animae im Speculum universale des Radulfus Ardens

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Die concupiscibilitas definiert Radulfus dann als Eigenschaft der Seele, durch die sie natürlicherweise zum Begehren befähigt ist40, die bzw. als Eigenschaft des Geistes, durch die er zum Hassen befähigt ist41. Es entspricht dem Interesse der Schule von Chartres und der Porretaner und damit des Radulfus Ardens an einer geradezu humanwissenschaftlich fundierte Anthropologie, wenn er erwähnt, dass die Philosophen den Sitz der in der Leber und der in der Galle sahen.42 Mit der Bezeichnung , die Radulfus der Bezeichnung stets hinzufügt, deutet sich aber schon an, dass ihm die traditionellen Bezeichnungen als unzureichend erscheinen. Die Philosophen hätten – so Radulfus43– mit diesen Bezeichnungen der beiden äußersten Befähigungen der Seele geirrt. Statt von müsse eigentlich von die Rede sein. nämlich bezeichnet ein grundlegenderes, umfassenderes Vermögen als . Während sich nämlich das Begehren nur auf die Dinge richtet, die wir nicht haben, bezieht sich die Liebe sowohl auf die Dinge, die wir nicht haben, als auch auf die Dinge, die wir haben. Ebenso begehren wir nur Gegenwärtiges und Zukünftiges, während wir nicht nur Gegenwärtiges und Zukünftiges, sondern auch Vergangenes lieben können. Mit der Fähigkeit zu lieben ist so das fundamentalere Vermögen erfasst. Wenn die Philosophen dagegen von statt von sprechen, hätten sie die Art an die Stelle der Gattung kann.

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irascibilitas

odibilitas

concupiscibilitas

odibilitas

odibilitas

concupiscibilitas

irascibilitas

amabilitas

Amabilitas

concupi-

scibilitas

concupiscibili-

tas

39 40 41 42

amabilitas

Vgl. dazu Johannes GRÜNDEL, Verstandestugenden (vgl. Anm 3),116. Vgl. SpU I,44 (Ed., 52,1108f): Concupiscibilitas uero est quedam qualitas anime per quam naturaliter apta est ad concupiscendum […]. Vgl. SpU I,45 (Ed., 52, 1123f): Irsacibilitas quoque siue odibilitas est quedam qualitas spiritus per quam naturaliter aptus est ad odiendum […]. Vgl. SpU I,44 (Ed., 52,1110) und I,45 (Ed., 52, 1125). – Für den Ursprung dieses Gedankens kann verwiesen werden auf: ISIDOR VON SEVILLA, Etymologiarum sive originum libri XX, lib. XI,1, (Ed. Wallace M. Lindsay, t. II, Oxford 1985), nn. 125 und 127. – In ähnlicher Weise berichtet Radulfus, dass die Philosophen den intellectus im Vorderhirn (sinciput) lokalisierten; vgl. SpU I,43 (Ed., 50,1059–1063). – Vgl. dazu als Quelle: ADELARD VON BATH, (Ed.: Adelard of Bath, Conversations with his Nephew, On the Same and the Different, Questions on Natural Science, and On Birds, ed. and transl. by Charles Burnett, Cambridge 1998, 124). Quaestiones naturales XVIII

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Vgl. zum Folgenden SpU I,41 (Ed., 47,993–48,1004): Sed in appellatione duarum extremarum aptitudinum errauerunt. Anima quippe creata est apta naturaliter ratiocinari, apta naturaliter amare, apta naturaliter odire, ut uidelicet naturaliter sit rationalis, amabilis et odibilis his nominibus actiue intellectis. Qui ergo posuerunt concupiscibilitatem pro amabilitatem, speciem pro genere posuerunt. Nam omnis concupiscibilitas est amabilitas, non autem econuerso. Concupiscimus enim tantum nondum habita, amamus uero tam non habita quam habita. Concupiscimus quoque tantum presentia uel future, amamus uero preterita et presentia et futura. Amo siquidem et me benefecisse et me benefacere et me benefacturum esse. Amabilitati autem ex opposito respondet obibilitas […].

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gesetzt, denn jede concupiscibilitas sei auch amabilitas, nicht aber umgekehrt. Es geht Radulfus Ardens also in seiner Analyse der Seele darum, die Grundstrebungen (die äußersten Befähigungen der Seele) aufzudecken. Entsprechend möchte er auch an Stelle des Ausdrucks irascibilitas, den die Philosophen für das der concupiscibilitas entgegengesetzte Streben verwenden, den Ausdruck odibilitas gebrauchen, weil diese Bezeichnung besser der amabilitas als ihrem Gegenstück entspricht. Der Fähigkeit zu lieben entspricht die Fähigkeit zu hassen. Dass jedoch in der Tradition der Ausdruck irascibilitas verwendet wird, erklärt sich Radulfus so, dass der Ausdruck 44odibilitas gewöhnlich mehr in passiver als in aktiver Bedeutung gebraucht wird. Diese beiden Grund-Strebungen im Menschen – für die Radulfus im weiteren Text doch nicht konsequent seine Bezeichnungen amabilitas und odibilitas verwendet, sondern mit der Tradition die Ausdrücke concupiscibilitas und irascibilitas beibehält – können sich in verschiedenen Ausprägungen konkretisieren. Sie lassen sich in verschiedene Einzelstrebungen als den aus ihnen folgenden Manifestationen und Erscheinungsweisen (sequela) aufgliedern. So entstehen aus dem liebenden Grundstreben (amabilitas bzw. concupiscibilitas) als Einzelaffekte die Begierde (cupiditas), die Hoffnung (spes), das Wetteifern (aemulatio), die Freude (gaudium), die Fröhlichkeit (laetitia) und die Ruhmrederei (gloriatio)45, aus dem hassenden bzw. zurückweisenden Grundstreben (odibilitas bzw. irascibilitas) dagegen der Hass (odium), die Furcht (timor), das Erschrecken (deterritatio), der Zorn (ira), die Traurigkeit (tristitia) und die Reue (paenitentia)46. Radulfus Ardens versucht dabei in der näheren Erläuterung der einzelnen Affekte deren inneren Zusammenhang und ihre Vollständigkeit einsichtig zu machen. 2. In seiner Darstellung der Leidenschaften der Seele ist es Radulfus also wichtig, die verschiedenen Leidenschaften auf zwei entgegengesetzte umfassende Grundformen (due extreme aptitudines) zurückzuführen. Im Rahmen der weiteren Überlegungen macht er einsichtig, warum sich gerade diese beiden Grund-Affekte im Menschen finden und warum sie sich nicht wieder auf den einen oder anderen reduzieren lassen. Entscheidend dafür ist, dass Radulfus Ardens im Speculum universale seine Seelenlehre, in deren Rahmen er die Grundlegung der Lehre von den Affekten bzw. passiones vornimmt, nicht – wie andere Autoren seiner Zeit – für sich 47in einem Einzeltraktat oder in naturwissenschaftlichen Abhandlungen vorlegt , 44 45 46 47

Vgl. SpU I,41 (Ed. 48,1004–1006): […] sed quia odibilitate et odibili magis in passiua quam in actiua significatione solemus uti, ideo pro odibilitate irascibilitatem posuere. Vgl. SpU I,44 (Ed., 52,1110–1114). Vgl. SpU I,45 (Ed., 52,1125–53,1129). Vgl. dazu die Hinweise bei Johannes GRÜNDEL, Verstandestugenden (vgl. Anm. 3), 106 auf Autoren wie Wilhelm von Conches mit seiner Philosophia mundi und Wilhelm von St.

Die passiones animae im Speculum universale des Radulfus Ardens

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sondern von vornherein unter der ethischen Fragestellung nach dem Guten und Bösen, nach Tugend und Laster und nach ihrer Entstehung anlegt. So geht der Seelenlehre in Buch I, 39–54, die er mit einem zusammenfassenden Baumdiagramm abschließt, eine Bestimmung der Ethik im Rahmen der Wissenschaften (Kap. 1–8) sowie der Begriffe von Gut und Böse (Kap. 9–18), der Tugend und des Lasters (Kap. 19–38) voraus, während ihr Ausführungen zur Ur- und Erbsünde und der durch sie verursachten Schädigung der menschlichen Natur (Kap. 55– 59) folgen. In dieser – von vornherein von der Ethik geleiteten – Sicht aber bestimmen sich Tugend- und Seelenlehre wechselseitig. So muss einerseits, um den Prozess der Entstehung und der Entfaltung der einzelnen Tugenden und Laster darstellen sowie ihre Systematik und Vollständigkeit einsichtig machen zu können, zuerst als anthropologische Grundlage die Struktur der menschlichen Seele offengelegt werden.48 Denn obwohl die Seele ihrer Substanz nach eine und einfach ist und

nur einen einzigen Affekt besitzt, nämlich das Streben zurück zu ihrem Schöpfer, so ist sie doch in ihren Wirkungen und Affekten vielfältig.49 Andererseits konzipiert Radulfus Ardens die einzelnen Seelenteile und ihre Funktion und Bedeutung von vornherein im Blick auf das moralische Leben, auf die Entfaltung der Tugenden und Laster. Weil die Seele von Gott dazu geschaffen ist, zwischen gut und böse zu unterscheiden, um auf diese Weise das höchste Gut zu erkennen, das Erkannte zu lieben, das Geliebte durch Verdienste zu suchen, das Gesuchte schließlich zu erlangen und das Erlangte zu genießen und sich ewig zu freuen50, ist sie mit der natürlichen Vernunft (naturalis ratio), mit dem Vermögen zu Begehren (concupiscibilitas) und zu Hassen (irascibilitas bzw. odibilitas) sowie mit

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Thierry in De natura corporis et animae, die ausgehend von Übersetzungen arabischmedizinischer Schriften die Wechselbeziehung zwischen Körper und Seele untersucht haben, auf Alexander von Neckham, der in einer naturwissenschaftlichen Abhandlung De naturis rerum auch über die Seele handelt oder auf Autoren, die einen Einzeltraktat De anima vorgelegt haben. Vgl. SpU I,38 (Ed., 38,949–955). Vgl. dazu SpU I,39 und 40 (Ed., 46,957–959.962f.971–973): Est igitur anima substantia rationalis et immortalis, motu ignea, organum membrorum uiuificando corpori et mouendis auide sensibus attributa. […] Anima uero ad instar ignis semper sursum ad suum principium tendit affectu […] Cum autem anima in substantia sit unica et simplex, tamen in effectibus et affectibus est multiplex, ex quorum multiplicitate multiplices sortitur appellationes. Vgl. SpU I,40 (Ed., 46,976–47,981): Voluit quippe Deus talem creare animam que inter bonum malumque discerneret, summum bonum intelligeret, intellectum uero aut amaret, amatum bonis meritis quereret, quesitum tandem adipisceretur, adepto frueretur, fruens perenniter letaretur aut, si spreto bono malum eligeret, in eternam dampnationem caderet, cadens in eternum doleret.

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Macht (potestas) und Freiheit (libertas) ausgestattet51. Radulfus unterstreicht dabei die Angewiesenheit der einzelnen Seelenkräfte auf einander. So ist im Blick auf tugendhaftes Handeln zunächst die Vernunft notwendig, mit deren Hilfe der Mensch zwischen gut und böse, zwischen mehr und weniger gut sowie zwischen mehr und weniger böse unterscheiden kann52; ohne diese Tätigkeit der Vernunft könnte er das Gute nicht erkennen, damit aber auch nicht suchen und schließlich auch kein Verdienst haben. Andererseits reicht die Vernunft allein nicht für das tugendhafte Handeln aus: Denn der Mensch könnte weder Gutes noch Böses tun noch Lohn oder Strafe empfangen, wenn er nicht die concupiscibilitas und die irsacibilitas bzw. odibilitas zusammen mit der potestas und der libertas besäße. Er könnte kein Verdienst haben, wenn er nicht das Gute oder Böse, das er erkannt hat, auch wollen und erstreben bzw. nicht wollen und zurückweisen könnte, und er könnte keinen Lohn empfangen, wenn er nicht die Möglichkeit hätte, Freude und Traurigkeit zu empfinden.53 Entsprechend ist für Radulfus die concupiscibilitas dazu da, das von der Vernunft als gut Beurteilte zu erstreben, die irascibilitas bzw. odibilitas dazu, das Schlechte abzuwehren.54 Die potestas ist dazu da, das Streben zur Auswirkung kommen zu lassen, die libertas arbitrii dazu, durch die eigene Entscheidung Lohn und Strafe zu verdienen. Wenn nämlich die concupiscibilitas und die potestas mit Notwendigkeit dazu gezwungen wären, das zu begehren und zu tun, was die Vernunft vorschreibt, und die odibilitas mit Notwendigkeit das abwehren würde, was die Vernunft 55verurteilt, würde diese Notwendigkeit die Möglichkeit des Verdienstes aufheben. 51

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SpU I,41 (Ed., 47,985–987): Eapropter dedit ei naturalem rationem cum comitibus suis, concupiscibilitatem quoque et irascibilitatem siue odibilitatem cum sequelis suis, potestatem quoque et libertatem. Vgl. SpU I,42 (Ed., 48,1020f): […] uidelicet rationem qua inter bonum et malum, inter magis minusque bonum, inter magis minusque malum discerneret […]. Vgl. SpU I,42 (Ed.,48,1009–1017): Creata est igitur anima rationalis, concupiscibilis siue amabilis, irascibilis siue odibilis. Enimuero nisi anima ratione predita esset, nequaquam bonum discernere aut queritare posset; nisi quoque cum ratione etiam concupiscibilitatem et odibilitatem ceterasque affectiones cum potestate et libertate possideret, nec bonum nec malum promereri nec premio nec pena remunerari ualeret. Quomodo enim promereri ualeret que neque bene uelle nec male posset? Quomodo quoque remunerari ualeret que nec gaudere nec tristari posset? Vgl. SpU I, (Ed., 48,1022f): […] concupiscibilitatem qua discretum appeteret, odibilitatem qua contrarium abiceret. Superuacua quippe foret discretio rationis, nisi pariter adesset et appetitus discrete et fuga contrarii. Vgl: SpU I,42 (Ed., 48,1024–49,1031): Potestatem quoque subiunxit per quam appetitum ducere posset ad effectum, libertatem etiam arbitrii siue electionis ei simul contulit per quam scilicet apta fieret ad premium siue penam promerendum. Si enim astricta esset necessitate et concupiscibilitas ad concupiscendum et potestas ad faciendum, quod ratio

Die passiones animae im Speculum universale des Radulfus Ardens

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All diesen Überlegungen lässt sich zusammenfassend im Blick auf die Grundaffekte bzw. Grundleidenschaften im Menschen entnehmen, dass ihre irreduzible Dualität in der irreduziblen Dualität von Gut und Böse begründet ist und darin ihr Fundament hat. Radulfus Ardens schließt aber im Rahmen seiner Seelenlehre noch weitere, gegenüber der Tradition eigenständige Überlegungen an. 3. So ergänzt er seine Auffassung von der irreduziblen Dualität der beiden GrundLeidenschaften dahingehend, dass aus der Zurückhaltung der beiden GrundAffekte (ex remotione duarum predictarum affectionum) ein weiterer affectus entsteht, nämlich der contemptus.56 Radulfus kommt dazu, einen solchen weiteren Grund-Affekt zu postulieren, weil unter allen Dingen, die existieren, nicht nur einige nützlich und andere schädlich sind, sondern weil es auch Dinge gibt, die sich weder als nützlich noch als schädlich (nec utilia nec nociua) erweisen. Während die Vernunft die nützlichen Dinge billigt und die concupiscibilitas sie liebt, die schädlichen Dinge aber zurückweist und die odibilitas sie hasst, werden die weder nützlichen noch schädlichen Dinge von der Vernunft für nichtig erachtet (nihilpendit), von der concupiscibilitas nicht begehrt und von der odibilitas nicht gehasst, sondern einfach nicht beachtet und vernachlässigt, es wird ihnen keine Aufmerksamkeit und Sorge gewidmet (contempnuntur, negliguntur et non curantur). Zwar räumt Radulfus ein, dass das Vernachlässigen kein eigenständiger, positiver Affekt sei, weil nichts gesetzt, sondern eher etwas weggenommen wird; der contemptus entsteht aus der Mitte der beiden anderen Affekte durch deren Negation. Dennoch möchte Radulfus den contemptus als eigenen Affekt verstehen, weil er dazu anzuregen scheint, eine verachtenswerte Sache zu verhöhnen, vor allem dann, wenn diese Sache mehr die displacentia und odibilitas als die concupiscibilitas hervorruft. Und wie bei den beiden anderen Affekten entstehen auch aus dem contemptus als Grund-Leidenschaft verschiedene konkrete EinzelAffekte, nämlich die Verhöhnung (subsannatio), die Gleichgültigkeit (incuria), das Vergessen (oblivio), die Gemütsruhe (securitas), die Sorglosigkeit (socordia) sowie die Schläfrigkeit (somnolentia). Eine weitere Besonderheit in der Seelenlehre des Radulfus Ardens besteht darin, dass er zwischen innerem und äußerem Menschen (exterior et interior homo) unterscheidet.57 Entsprechend differenziert er auch zwischen zwei concupiscibilitates und zwei irsacibilitates bzw. odibilitates der Seele. Die bisher beschriebenen Vermögen sind diejenigen, die dem Menschen als rationalen Wesen eigen sind und die er mit den Engeln gemeinsam hat. Darüber hinaus aber hat die decreuisset, et odibilitas ad odiendum, quod ratio dampnasset, utraque necessitas facul-

. Vgl. ebenso zur begrifflichen Bestimmung der potestas in SpU I,48 (Ed., 56,1205–1218) und der libertas arbitrii in SpU I,50 (Ed., 57,1228–1243). Vgl. zum Folgenden SpU I,45 (Ed., 59, 53,1148–54,1162). Vgl. SpU I,54 (Ed., 64,1385f). tatem promerendi remoueret

56 57

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menschliche Seele zwei Kräfte mit den Tieren gemeinsam, nämlich die vegetatio und die sensualitas. Durch58 sie ist die Seele dem Körper geeint und handelt durch ihn wie durch ein Organ. Unter der vegetabilitas versteht Radulfus die Kraft der Seele, durch die sie geeignet ist, den Körper zu beleben, unter der sensualitas dagegen die Kraft, durch die die Seele geeignet ist, vermittels 59des Körpers die Dinge durch die fünf Sinne wahrzunehmen und zu beurteilen. Wie aber die Vernunft begleitet ist durch Einsicht und Erinnerung, so ist auch die sensualitas begleitet durch ihre imaginatio und memoria. Unter imaginatio versteht Radulfus die innere Vorstellungskraft, eine Art geistiges Auge also, durch die man körperliche Formen ohne irgendeinen körperlichen Sinn wahrnehmen, beurteilen und dann auch einem sinnlichen Gedächtnis anvertrauen kann.60 Mit dem sinnlichen Urteilen sind aber – wie mit dem rationalen Urteilen – eigene Affekte oder passiones verbunden, eine eigene concupiscibilitas und eine eigene irascibilitas oder odibilitas des äußeren Menschen.61 Unter concupiscibilitas sensualis bzw. appetitus sensualis versteht Radulfus die natürliche Kraft, das den Sinnen Angenehme zu begehren, während die sinnliche irascibilitas die natürliche Kraft im Beseelten ist, das den Sinnen Unangenehme zu fliehen.62 Wie die concupiscibilitas und irascibilitas des inneren Menschen haben aber auch diese63 Affekte des äußeren Menschen begleitende konkretisierende Affekte (comites) : Der appetitus sensualis gliedert sich – wie die concupiscibilitas des inneren Menschen – in voluntas, spes, aemulatio, gaudium, laetitia und gloriatio auf, die irascibilitas sensualis – wie ihre Entsprechung im inneren Menschen – in odium, timor, exterritatio, ira, tristitia, paenitentia. Radulfus Ardens geht also – aufgrund seiner Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen – von einer doppelten und parallelen Struktur der Leidenschaften aus, für die er als Bestätigung auf die Stelle Gal 5,17 64verweist: „Das Fleisch begehrt gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch“. 58 59

Vgl. SpU I,52 (Ed., 59,1284–1289). Vgl. SpU I,52 (Ed., 1293–1295): Porro uegetabilitas est uis anime per quam apta est

corpus uiuificare. Sensualitas uero est uis anime per quam apta est mediante corpore res quinque sensibus sentire et diiudicare. – Das Urteil der sensualitas durch die fünf Sinne

60 61 62 63 64

bezieht sich dabei auf die Unterscheidung von Schönem und Hässlichem, Harmonischem und Dissonantem, Süßem und Bitterem, Wohlriechendem und Stinkendem, Weichem und Hartem. Vgl. dazu SpU I,52 (Ed., 60,1319–1323). Vgl. SpU I,52 (Ed., 59,1300–1302): […] imaginatio est uisio spiritualis per quam forme corporum absque aliquo sensu corporeo comprehenduntur […]. Vgl. SpU I,52 (Ed., 60,1325–1327): Habet quoque discretio sensualis hinc concupiscibilitatem siue appetitum suum, inde uero irascibilitatem siue odibilitatem suam […]. Vgl. SpU I,52 (Ed., 60,1329–1331; 61,1334–1336). Vgl. SpU I,52 (Ed., 60,1327f): […] sibi cum comitibus suis collateraliter assistentes […]. Vgl. SpU I,54 (Ed., 63,1372–1378): Ex eadem rursus aduertis duas esse in homine concupiscibilitates, duas uoluntates, duas spes, dua gaudia duasque letitias, et econtrario duas

Die passiones animae im Speculum universale des Radulfus Ardens

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3. Materia virtutum et vitiorum – Die Bedeutung der Affekte im Entstehungsprozess der Tugenden und Laster In den bisher dargestellten Überlegungen hat Radulfus Ardens die passiones ani65 mae in der Struktur der Seele, ihrer Vermögen und Strebungen, verortet. Im Speculum universale fasst er all dies in einer umfassenden Überblicksskizze zusammen.66 Zugleich sind damit die Ansatzpunkte für die Erläuterung der Entste-

hung der Tugenden und Laster sowie für die Einteilung und Unterscheidung der Einzeltugenden gewonnen.

1. Im Blick auf die Frage, welche Bedeutung für Radulfus Ardens die Leidenschaften bei der Entstehung von Tugenden und Lastern spielen, ist in einem ersten Zugang hervorzuheben, dass er die als solche für sittlich neutral hält. Bereits in dem oben angeführten Ausgangszitat betonte er, dass die Leidenschaften der Seele natürlich seien, weil sie dem Menschen vom Beginn der Schöpfung an eingegeben sind. Sie sind nicht erst – im Sinne der Konkupiszenz bei Augustinus – das Resultat einer durch die Sünde desintegrierten Natur des Menschen, sondern natürliche Vorgegebenheiten, die sich in den guten Menschen ebenso wie in den schlechten finden lassen. Als Beleg führt Radulfus an, dass auch Christus selbst, der doch nur gut war, diese Leidenschaften hatte. Weder das Begehren mit seinen verschiedenen Konkretisierungen wie Wetteifer, Freude oder Fröhlichkeit noch der Hass bzw. Zorn mit seinen einzelnen Erscheinungsformen wie Furcht, Erschrecken oder Trauer sind also von sich her sittlich schlecht. Ihre ursprüngliche Bestimmung besteht vielmehr darin, dass die natürlicherweise67 nach dem Guten strebt, die dagegen natürlicherweise das Böse flieht. Andererseits können die Leidenschaften, je nach der Art, wie sie gebraucht werden, zu sittlich Gutem, aber auch zu sittlich Schlechtem68 dienen. Sie können sich zu sittlichen Tugenden oder auch zu Lastern ausbilden. So erklärt Radulfus passiones animae

concupiscibilitas

odibilitas

65

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irascibilitates siue odibilitates, duos quoque timores, duas iras, duas quoque tristitias. Porro quod due concupiscibilitates in homine sint, ostendit Apostolus dicens: Caro concupiscit aduersus spiritum et spiritus aduersus carnem. Vgl. Johannes GRÜNDEL, Verstandestugenden (vgl. Anm. 3), vor allem 116–145; ebenso: Pierre MICHAUD-QUANTIN, Die Psychologie bei Radulfus Ardens, einem Theologen des ausgehenden 12. Jahrhunderts, in: Münchener Theologische Zeitschrift 9 (1958) 81–96. Vgl. SpU I, 53 (Ed., 62). Vgl. SpU I, 42 (Ed., 49,1032-1036): Sic igitur creauit Deus hominem et angelum quod ante eum apposuit bonum et malum, dexteram et sinistram, dans ei rationem discernendi inter utrumque et concupiscibilitatem naturaliter boni appetitiuam et odibilitatem naturaliter mali fugatiuam […]. Vgl. SpU I,45 (Ed., 53,1141–1143): Sed malis qui male utuntur eis, uertuntur in uitia,

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Ardens, dass aus den Vermögen und Affekten der Seele, wenn sie auf rechte Weise gebraucht werden, die Tugenden, wenn sie dagegen missbraucht werden, die Laster entstehen. Und er fügt hinzu, dass weder aus den Vermögen (ratio, potestas, libertas) die entsprechenden Tugenden und Laster ohne den Antrieb der Leidenschaften (affectiones) noch aus den Leidenschaften die entsprechenden Tugenden und Laster ohne die Herrschaft der Vermögen hervorgehen können. Beide sind – wie bereits in der Analyse der Seelenkräfte deutlich wurde – wechselseitig auf einander angewiesen: Die Vermögen brauchen die Leidenschaften, damit sie von ihnen stimuliert werden, die69 Leidenschaften brauchen die Vermögen, damit sie von ihnen geleitet werden. Ähnlich formuliert Radulfus Ardens im Blick auf die sinnliche concupiscibilitas und irascibilitas. So entspringen aus dem appetitus sensualis die verschiedenen körperlichen Lüste, die, wenn sie durch die Bremse der Besonnenheit (sobrietas) zurückgehalten werden, die Grundlage der Tugenden (materia uirtutum) bilden, andernfalls die Grundlage der Laster (materia uitiorum).70 Aus der irascibilitas sensualis entspringen dagegen die körperlichen Leiden, die, wenn sie um Gottes willen freiwillig und bescheiden angenommen und geduldig ertragen werden, zur Grundlage der Tugenden (materia uirtutum), andernfalls zum Anfang der Laster wie der Qualen (uitiorum initium tanquam tormentorum) werden.71 Die Leidenschaften sind also – so lässt sich zusammenfassen – von sich her noch nicht bereits die sittlichen Tugenden und Laster, sondern sittlich neutrale Antriebskräfte, die der Mensch in sich vorfindet. Aber sie sind die Basis und die notwendige Voraussetzung von Tugenden und Lastern, ihre „Materie“. Ohne die Antriebskräfte der Leidenschaften gäbe es überhaupt keine Tugenden und Laster. Ob sie allerdings zu Tugenden oder zu Lastern werden, hängt von ihrem Gebrauch und ihrer Ausrichtung, ihrer Formung durch die Vernunft sowie vom freien Willen und von der Handlungsmächtigkeit des Menschen ab. 69

70 71

bonis uero qui eis recte funguntur, in uirtutes conuertuntur. Vgl. SpU I,47 (Ed.,55,1184–1186;1197–1203): Ex prefatis igitur potentiis et affectionibus

tam uitia quam uirtutes oriuntur. Et uirtutes quedam oriuntur ex recto earum usu, uitia uero ex earum abusu uel defectu. […] Verum animaduertendum est quoniam nec de potentiis sue uirtutes uel uitia sine stimulis affectionum nec de affectionibus sue uirtutes uel uitia sine regimine potentiarum procedere possunt. Vtreque siquidem utrisque indigent et potentie, ut ab affectionibus stimulentur, et affectiones, ut a potentiis regantur. Nec etiam uitiis ualent affectiones deseruire, nisi ad eorum consecutionem ipsa perperam abutantur ratione. Vgl. SpU I,52 (Ed., 60,1332–61,1334): Ex quorum fonte corporales oriuntur uoluptates que, si cum freno sobrietatis restringantur, materia fiunt uirtutum, alioquin uitiorum. Vgl. SpU I,52 (Ed., 61,1337–1341): Ex quorum fonte corporales oriuntur passiones quas si propter Deum sponte modesteque nobismet irrogamus aut irrogatas nobis aliunde patienter toleramus, materia fiunt nobis uirtutum, alias uitiorum initium tanquam tormentorum.

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Allerdings kommt für Radulfus als weiterer Aspekt in der Entstehung der Tugenden und Laster hinzu, dass die Natur des Menschen, die ursprünglich in der angedeuteten Ordnung geschaffen war72, durch den Sündenfall korrumpiert ist.73

Der Mensch ist in Folge der Sünde verletzt, hinsichtlich Vernunft, Einsicht und Gedächtnis durch den Fehler der Unwissenheit, hinsichtlich der und der mit ihren Begleitern durch die Notwendigkeit zu sündigen, hinsichtlich der Sinnlichkeit bzw. 74des äußeren Menschen durch die Notwendigkeit des Leidens und des Sterbens. Dadurch ist auch der freie Wille beeinträchtigt: Er kann nicht immer richtig75 unterscheiden und ist nicht frei, das Gute zu wählen und das Böse zu fliehen. Weil die Vernunft durch Ungehorsam gesündigt hat, gehorchen auch ihr die ihr untergeordneten Vermögen nicht mehr, ja diese beherrschen sie. Die , und verwirren die Vernunft, die „zum Rat der Unfrommen“ wird, sie nehmen sie gefangen und bedrängen sie, ihren schlechten Vorschlägen zuzustimmen.76 Ausgehend von dieser Situation entstehen die sittlichen Tugenden nicht nur aus den natürlichen 77Vorgegebenheiten der Seele ( bzw. ) als der Materialursache ( ), sondern auch aus der Gnade Gottes als Wirkursache ( ).78 Insgesamt zählt Radulfus deshalb schließlich zu den Ursachen, aus denen die Tugenden und Laster entstehen, neben dem grundlegenden schöpferischen und alles Seiende überhaupt erst ermöglichenden Wirken Gottes (1) die Vermögen (2) und Leidenschaften der Seele (3), die Anstrengung der Vernunft (4) und die Hilfe der Leidenschaften (5), aber auch die entsprechenden äußeren Bedingungen und das Milieu, in dem der Handelnde lebt (6), sowie schließlich die Formung durch 79die aus der gnädigen Zuwendung Gottes in Jesus Christus geschenkte (7). concupiscibilitas

irascibilitas

concupiscibilitas

odibilitas

sensualitas

ex naturis

proprietatibus anime

anime

ex

causa materialis

causa efficiens

caritas

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75 76 77 78

79

Vgl. dazu SpU I,46 (Ed., 54,1165–55,1181). Vgl. SpU I,55 (Ed., 65,1420–1422): […] uterque peccando suam corrumpit naturam, angelus per superbiam, homo per inobedientiam. Vgl. SpU I,55 (Ed., 66,1428–1431): Vulneratus est quippe in ratione, intellectu et memoria uitio ignorantie, in concupiscibilitate et irascibilitate et comitibus earum necessitate peccandi, in sensualitate uero siue exteriori homine necessitate patiendi et moriendi.

Vgl. ebd. (Ed., 66,1443–1448). Vgl. SpU I,55 (Ed., 67,1450–1456). Vgl. SpU I,38 (Ed., 45,949). Vgl. SpU II,21 (Ed., 102,643–645;649–654): Ex predictis manifestum est quoniam ex Dei

gratia et ex naturis anime uitia et uirtutes oriuntur: ex corruptione et abusu earum uitia, ex reparatione rectoque usu earum uirtutes. […] Oriuntur igitur uirtutes ex naturis anime, oriuntur et ex gratia: oriuntur ex anime naturis tanquam ex causa materiali, oriuntur ex Dei gratia tanquam ex causa efficienti. Sed quod ex illis oritur, hoc etiam ex gratia Dei est, non autem econuerso. Quare nichil nobis, nichil nature, sed totum diuine gratie est attribuendum. Vgl. SpU I,37 (Ed., 45,940–943): Sic et uirtus oritur ex Deo auctore, ex potentiarum uel

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2. Hat Radulfus Ardens mit diesen Überlegungen die Leidenschaften der Seele als notwendige Voraussetzung und Grundlage der Tugenden und Laster, als materia virtutum et vitium, bestimmt, die allerdings erst durch den jeweiligen Gebrauch zu Tugenden und Lastern geformt werden, so zeichnet er den genaueren Entstehungsprozess der Tugenden und Laster in seinen einzelnen Schritten sowie die spezifische Rolle, die dabei den Leidenschaften der Seele zukommt, in Buch V des Speculum universale nach. Er arbeitet eine Theorie der menschlichen Handlung aus, die diese und den ihr zugrunde liegenden Willen aufbauend auf den basalen Strebungen und Wünschen – den Affekten bzw. Leidenschaften der Seele – im Menschen erläutert. Ausgangspunkt und Ursprung dieses Prozesses, den Radulfus als eine über 80 sieben Stufen führende Entwicklung beschreibt , sind für ihn die guten und bösen Gedanken (cogitationes).81 Sie können aus göttlicher Eingebung (ex divina inspiratione), durch Einflüsterung (ex suggestione) der eigenen Antriebe, der guten oder bösen Engel und der guten oder bösen Menschen, aber auch durch äußere Anlässen (ex occasione) oder schließlich spontan aus dem eigenen Herzen selbst (ex ipso corde) entstehen.82 Mit der Erwähnung der Beeinflussung durch die guten und bösen Engel, durch gute und böse Menschen sowie schließlich durch die unterschiedlichsten Lebensbedingungen und Anlässe (occasiones) nimmt Radulfus noch einmal Bezug auf all jene Einflüsse auf das sittliche Wollen und Handeln, die er in Buch II–IV eingehend entfaltet hat. Damit sich die cogitationes zu Tugenden oder Lastern weiterentwickeln, müssen aber erst noch die Affekte hinzukommen, die den Mensche bewegen, nämlich – entsprechend den drei Grund-Leidenschaften der Seele – das Begehren, der Hass oder die Verachtung. Radulfus betont, dass nur die cogitationes infectae, die affektiv besetzten Gedanken, sittlich gut oder böse werden und sich zu Tugenden oder Lastern weiterentwickeln können, während die cogitationes non infectae, die affektiv unbesetzten Gedanken, sittlich neutral bleiben.83 Radulfus unterscheidet 80 81

82 83

affectuum origine, ex rationis industria et ex affectuum auxilio, ex occasione quoque ut ex conuictu, ex informatione ut ex caritate.

Die gesamte Entwicklung über die sieben Stufen von den Gedanken bis zu den Tugenden und Lastern erläutert Radulfus vorblickend in SpU V,19–21 (Ed., 349,825–352,898). Vgl. SpU V,1 (Ed., 320,89–92): Quomodo oriuntur in nobis uitia uel uirtutes? Cogitando. Enimuero sicut ex semine germinant bone uel male arbores, sic ex cogitatione uitia uel uirtutes: ex cogitationibus malis uitia, ex bonis uirtutes.

Vgl. SpU V,14 (Ed., 341,630–635). Vgl. SpU V,18 (Ed., 348,790–796; 349,809–811;814–818):

Post hec autem ex quibus cogitationibus oriantur uel non oriantur uitia uel uirtutes et que ex quibus oriantur, considerandum est. Ad hoc preuidendum quoniam cogitationum alia est infecta, alia non: infecta est que aliquo mouetur affectu, non infecta uero est que nullo. Infectarum autem cogitationum alia inficitur fusco concupiscibilitatis, alia fusco odibilitatis, alia fusco contemptibilitatis. […] Porro sole cogitationes infecte sunt meritorie, quia sole bone uel male.

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dabei drei verschiedene Affekte, mit denen ein Gedanke besetzt werden kann: Er kann entweder gefallen (placet) oder missfallen (displicet) oder weder gefallen noch missfallen, sondern lediglich nicht gefallen (nec placet nec displicet, sed tantum non placet). Dementsprechend können sich aus dem Gefallen (placentia) die Tugenden und Laster des Begehrens bzw. der Liebe (cupiditatis siue amoris) entwickeln, aus dem Missfallen (displacentia) die Tugenden und Laster der odibilitas bzw. der irascibilitas und aus dem Nicht-Gefallen (nonplacentia) die Tugenden und Laster der contemptibilitas, jeweils mit all ihren Unterarten.84 Innerhalb der affektiven Besetzung der Gedanken lassen sich noch einmal zwei Stufen unterscheiden, die Radulfus mit den primi motus und den secundi motus – einer zu seiner Zeit sich herausbildenden Unterscheidung, die eine Abstufung im Schweregrad der Sünde begründen sollte – gleichsetzt. Nachdem der Gegenstand des Gedankens im Herzen erfasst ist (res in corde concipitur), kommt es nämlich zuerst zu einem – noch distanzierten – Gefallen (placentia) und dann erst zu einem – haben wollenden – Begehren (concupiscentia), es kommt zuerst zu einem Missfallen (displicentia) und dann zu einem anfanghaften Hass (incipit odiri), oder es kommt zum Nicht-Gefallen (nonplacentia), das sich dann zur eigentlichen Verachtung weiterentwickelt (incipimus contemnere). Diese ersten drei Schritte der affektbesetzen Gedanken fasst Radulfus schließlich zu einer Einheit zusammen, die er cogitationes im weiteren Sinne, also die bereits affektbesetzten Gedanken, nennt.85 Ein weiterer, vierter Schritt der Entwicklung besteht darin, dass das Begehren zum Genießen (delectatio), der beginnende Hass zum Zorn (ira) bzw. zur Erschütterung durch den Gedanken an eine missfallende oder verhasste Sache (anxietudo ) und die beginnende Verachtung zur Unbekümmertheit (nihilipensio) wird.86 Schließlich kommt als fünfter Schritt die Zustimmung (consensus) hinzu, sei es zur delectatio, sei es zur ira, sei es zur nihilipensio. Und wieder fasst

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Rudes uero cogitationes, quia sine affectu sunt, non sunt meritorie, quia nec bone nec male […] Ex his igitur, quia sine affectu sunt, nec uitia nec uirtutes oriuntur. Ex infectis uero cogitationibus uirtutes uel uitia diuersa nascuntur […]. Vgl. SpU V,18 (Ed., 349,815–824): Ex infectis uero cogitationibus uirtutes uel uitia diuersa nascuntur et hoc modo res per cogitationem in corde concepta aut placet aut displicet aut nec placet nec displicet, sed tantum non placet. Itaque tres res sunt: placentia, displicentia et nonplacentia. Porro ex his tribus tria genera uirtutum uel uitiorum oriuntur. Nam ex placentia cogitationis oriuntur uirtutes uel uitia cupiditatis siue amoris cum sequelis suis, ex displicentia uero cogitationis oriuntur uirtutes et uitia odibilitatis siue irascibilitatis cum sequelis suis, ex nonplacentia quoque cogitationis oriuntur uirtutes et uitia contemptibilitatis cum comitibus suis. Vgl. SpU V,22 (Ed., 352,900–902): Itaque prima tria ‚cogitatio‘ nuncupantur que sic potest describi: cogitatio est perceptio rei in corde cum primo secundoque motu affectionis.

Vgl. SpU V,23 (Ed., 354,946–358,1037).

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Radulfus Ardens alle genannten Schritte, nämlich die die ersten drei Schritte umfassenden cogitationes und die beiden weiteren Schritte der delectatio / ira / nihilipensio sowie des consensus zu einer integralen Einheit zusammen: Durch den consensus nämlich und den damit gegebenen eigenen Entschluss des Subjekts ist das erreicht, was im Ganzen als „Wille“ bezeichnet wird, sei es – und auch hier wirkt die Unterscheidung der drei Grundaffekte der Seele nach – in Form der voluntas, der noluntas oder der non-voluntas.87 Aus vorhandenen Wünschen hat sich ein wirklicher Wille formiert. Ist mit diesen fünf Schritten die innere Entwicklung von den ersten Gedanken über die Wünsche bis hin zum Willen beschrieben, so folgt als sechster Schritt die Umsetzung des Willens in die äußere Handlung (actus). Der Zusammenhang zwischen Wille und Handlung in der Begründung der ethischen Qualität der Handlung steht dabei im Mittelpunkt. Den siebten Schritt schließlich beschreibt Radulfus als per consuetudinem senescimus88, wobei er die Gewohnheit (consuetudo) als appropriatio accidentalis erläutert, die ex usu longiori entsteht und eine zweite Natur (altera natura) ausbildet. Durch sie entstehen allgemein die Sitten (mores) und schließlich im Blick auf das moralische Handeln die Tugenden (virtutes) oder Laster (vitii).89 4. Virtutes collaterales – Die Bedeutung der Affekte und ihrer Polarität für die Konzeption und Ausgestaltung der Komplementärtugenden Im Zusammenhang mit der Verortung der passiones anime in der Seele und ihren Vermögen und Strebungen sowie im Zusammenhang mit den Nachzeichnung der Entstehung der Tugenden und Laster in ihren sieben Schritten wurden implizit

bereits die Prinzipien angesprochen, nach denen Radulfus Ardens in der speziellen Tugendlehre der Bücher VII–XIV des Speculum universale die vielen verschiedenen Einzeltugenden begründet und systematisiert. Grundlegend sind für ihn die unterschiedlichen Kräfte, Vermögen und Strebungen der Seele, aus denen – je nach ihrem rechten oder falschen Gebrauch – die Tugenden und Laster hervorgehen und an denen entlang er seine Tugend- und Lasterlehre konzipiert. Dabei kommt Radulfus zu einer – im Vergleich mit den im 12. Jahrhundert gängigen Tugendschemata, die zumeist am Schema der vier Kardinaltugenden orientiert sind – völlig eigenständigen Systematik, der gemäß er fünf Tugendgruppen unterscheidet. So kennt er im Blick auf das rationale Unterscheidungs87

88 89

Vgl. SpU V,25 (Ed., 361,1122–1125): Ex cogitatione igitur, delectatione et consensu integratur uoluntas, ex cogitatione aut anxietudine et consensu noluntas, ex cogitatione uero nichilipensione et consensu nonuoluntas siue contemptus.

Vgl. SpU V,19 (Ed., 350,831). Vgl. SpU V,52 (Ed., 405,2179–407,2223).

Die passiones animae im Speculum universale des Radulfus Ardens

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vermögen die Verstandestugenden (virtutes discretivae / rationativae), zu denen er neben dem Glauben auch alle vier Kardinaltugenden zählt. Im Blick auf die beiden Grund-Leidenschaften (concupiscibilitas und odibilitas / irascibilitas) unterscheidet er als zweite und dritte Gruppe die Tugenden des liebenden und des hassenden Strebevermögens (virtutes amativae und die virtutes oditivae) wie etwa dilectio, spes, aemulatio, gaudium etc. sowie deren Gegenteile odium, timor, ira, tristitia, paenitentia etc.90 Darüber hinaus kennt er – ausgehend vom contemptus – als vierte Gruppe die kontemptiven Tugenden (virtutes contemptivae) und als fünfte Gruppe schließlich die Tugenden des äußeren Menschen (virtutes exterioris hominis), in denen es um die custodia oris, die custodia sensuum sowie um die rectitudo operum geht.91

Als zentrales Charakteristikum der speziellen Tugendlehre entwickelt Radulfus Ardens dabei, ausgehend vom Verständnis der Tugend als Mitte zwischen zwei Lastern, die für ihn kennzeichnende Lehre von den Komplementärtugenden, in der die Polarität der passiones animae, des liebenden und des hassenden Affekts, eine entscheidende Bedeutung92erhält. Zur Erläuterung soll zunächst das Konzept der Komplementärtugenden und anschließend seine Anwendung im Bereich der amativen und oditiven Tugenden dargestellt werden.

1. Nach der philosophischen Definition, die die Tugend als erworbenen habitus versteht, und vor der theologischen Definition führt Radulfus die Bestimmung der Tugend als Mitte zwischen zwei Lastern in der Formulierung von Horaz an93: Virtus est medium uitiorum utrimque redactum, id est uirtus in medio uitiorum ita se coercet et colligit, quod nequaquam usque ad collateralia uitia semet extendit.94 Dabei bezeichnet er die Extreme des Zuviel und des Zuwenig als Grenzen (termini) der jeweiligen Tugend, ab denen das Laster beginnt.95 Auf dieser

Grundlage entwickelt er dann den Gedanken der Komplementärtugenden, wonach in der Mitte zwischen zwei Lastern nicht nur eine Tugend steht, sondern

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Vgl. SpU I,47 (Ed., 55,1186–1196). Faktisch sind in Buch XIV jedoch nur die beiden ersten Aspekte ausgeführt. Vgl. dazu den ausführlichen Überblick bei Stephan ERNST, Klug wie die Schlangen und ehrlich wie die Tauben. Die Lehre von den Komplementärtugenden als Strukturprinzip der Tugendlehre des Radulfus Ardens, in: Münchener Theologische Zeitschrift 61 (2010) 43– 60. Johannes GRÜNDEL, Verstandestugenden (vgl. Anm. 3), 251–253, weist darauf hin, dass

diese Definition des Horaz zusammen mit der philosophischen Tugenddefinition, die Radulfus zitiert, in der gleichen Zusammenstellung im Florilegium Morale Oxoniense begegnet, so dass hier möglicherweise die Quelle liegen könnte, die Radulfus Ardens vorgelegen hat. SpU I,21 (Ed., 31,608–611). Vgl. ebd. (Ed., 31,616–618): Ceterum utrum omnes uirtutes habeant utrumque terminum scilicet minoritatis et nimietatis, sequentia demonstrabunt.

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Stephan Ernst

jeweils zwei Tugenden sich gegenseitig in der Mitte zwischen den beiden Lastern halten. Radulfus bezeichnet diese jeweils zusammengehörigen Tugenden als virtutes collaterales, als einander ergänzende Komplementärtugenden, die sich wechselseitig zur Seite stehen, sich unterstützen und mäßigen. Das grundlegende Prinzip – die Wesensnatur – dieser virtutes collaterales macht Radulfus Ardens gleich an der Klugheit deutlich. Im Blick auf die prudentia führt er – unter Bezugnahme auf Mt 10,16 Estote prudentes sicut serpentes et simplices sicut columbae96 – die simplicitas als virtus collateralis an. Ausgehend von diesem Beispiel erläutert Radulfus, die Komplementärtugenden gehörten in der Weise zusammen, dass sie sich jeweils gegenseitig mäßigen und davor bewahren, in eines der Extreme des97 Zuviel oder Zuwenig (termini ) abzugleiten und 98 so zu einem Laster zu werden. So mäßige die simplicitas die prudentia und bewahre sie davor, zur versutia, also zu listiger Schlauheit und Verschlagenheit zu werden. Und umgekehrt mäßige die prudentia die simplicitas und bewahre sie davor, zur stultitia, zur Dummheit, zu werden. Dagegen wird jede der beiden Komplementärtugenden für sich allein, ohne die sie ergänzende und ihr zur Seite stehende (collateralis) Tugend, zum Laster. Je mehr sie aber beide in gleichem Maß verwirklicht werden, desto mehr halten sie sich im Gleichgewicht und im rechten Maß, sobald sie dagegen in ungleichem Maß verwirklicht sind, geraten sie aus dem Gleichgewicht. Sind sie aber im gleichen Maß verwirklicht, bilden beide zusammen gleichsam eine Tugend, die sich mit einem gemeinsamen Namen als prudentia simplex bzw. simplicitas prudens bezeichnen lässt. Erst das jeweilige Paar der99Komplementärtugenden bildet die vollkommene und unverminderte Tugend. Während man jede einzelne Tugend für sich immer auch 96 97

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Vgl. SpU IX,53 (P = Paris, Nat. lat. 3240, fol. 20ra). Vgl. SpU IX,52 (P, fol. 19va–b): Est autem prudentie uirtus collateralis simplicitas. Porro

collateralium uirtutum hec natura est, quod altera temperet alteram et quod altera sine altera non uirtus sed uitium est et quod quantomagis equaliter connectuntur tantomagis uirtutes temperantiores efficiuntur et quanto(19vb)magis inequaliter coniunguntur, tantomagis a libra uirtutum alienantur. Simplicitas quippe temperat prudentiam, prudentia quoque simplicitatem, et simplicitas sine prudentia fit stultitia et prudentia sine simplicitate fit uersutia. Si uero equilibrate connectantur, utraque moderatissima miraque uirtus efficitur, uidelicet et prudentia simplex et simplicitas prudens. Radulfus Ardens leitet dieses Wort von sine plica bzw. von sine duplicitate ab und wäre

nicht mit Einfalt, sondern mit Einfachheit im Sinne von Aufrichtigkeit bzw. Eindeutigkeit zu übersetzen. – Vgl. ebd. (P, fol. 19vb): Dicitur autem simplicitas quasi ,sine plica‘ i.e. ,sine duplicitate‘ quoniam sine duplicitate et meditatur et loquitur et operatur. Vgl. SpU X,27 (P, fol. 33ra): Ceterum neutra sine altera uirtus esse potest. Sed utraque cum altera uirtus est, uel potius ambe coniuncte unam faciunt perfectam et integram uirtutem. – Vgl. ebenso SpU X,58 (P, fol. 41vb): Itaque neutra sine altera uirtus est, sed utraque alteri coniuncta uirtus ueracissima est. Vel potius ambe simul mixte una sunt perfecta et integra uirtus.

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übertreiben kann – so kann man etwa Gerechtigkeit in einem solchen Maß und in solcher Radikalität verfolgen, dass sie grausam und inhuman wird –, so ist dies im Blick auf das Paar der zusammengehörenden und sich gegenseitig mäßigenden Komplementärtugenden nicht der Fall. Die Tugend, die durch das jeweilige Paar der virtutes collaterales gebildet wird – etwa die prudentia simplex bzw. die simplicitas prudens –, kann nicht mehr übertrieben und deshalb auch nicht missbraucht werden. Damit aber erfüllt sie – so ließe sich interpretierend hinzufügen – in der theologischen Tugenddefinition des Petrus Lombardus genau die Bestimmung: qua nullus male utitur. Das Grundprinzip, das hinter dem Gedanken der Komplementärtugenden steht, deutet Radulfus im Rahmen seiner Erläuterung der iustitia evangelii an. Grundbedingung dafür, dass eine Tugend und tugendhaftes Handeln vorliegt, ist danach zunächst, dass man positiv etwas Gutes erstrebt und verwirklicht. Tugendhaftes Handeln ist noch nicht dann gegeben, wenn man lediglich nichts Schlechtes oder kein Übel verursacht. Andererseits reicht es nicht aus, nur etwas Gutes zu erstreben und zu verwirklichen, wenn man nicht zugleich100auch darauf achtet, dass dabei Schlechtes und Übel möglichst vermieden werden. Insgesamt geht es bei den Komplementärtugenden darum, möglichst viel Gutes zu erreichen und gleichzeitig möglichst viel Schlechtes zu vermeiden. Umgekehrt ließe sich das Zuviel und das Zuwenig jeweils dadurch begründen, dass man so viel Schlechtes verursacht, dass man das eigentlich gewollte Gut gerade nicht erreicht. Wer gerecht sein will, aber nicht auch zur manchmal auch harten Durchsetzung des Rechts bereit ist, wird keine Gerechtigkeit verwirklichen. Wer dagegen die Gerechtigkeit um jeden Preis verwirklichen will, ohne auch barmherzig zu sein, wird sie ebenfalls nicht erreichen, sondern zerstören. Der Gedanke, dass zwei Tugenden als zusammengehören und sich gegenseitig davor bewahren, zum Laster zu werden, findet sich in der speziellen Tugendlehre des Radulfus Ardens aber nicht nur zufällig und vereinzelt, sondern durchgängig, er prägt die gesamte Systematik der Tugendlehre. Für praktisch jede der in fünf Gruppen eingeteilten Haupttugenden, die meist noch in weitere Unterarten aufgegliedert werden, gibt er jeweils eine Komplementärtugend101an. Dabei bietet die Sprache – gemäß der bereits zitierten Bestimmung Ciceros – nicht für jede der Komplementärtugenden und auch nicht für jedes der Laster eine bestimmte Bezeichnung ( ). Vielfach muss man sich mit Umschreibungen begnügen. virtutes collaterales

certum nomen

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Vgl. SpU X,27 (P, fol. 33ra): Neque enim sufficit non facere malum nisi et faciamus bonum. Neque sufficit facere bonum nisi caueamus et malum. Sed facere bonum cum euitatione mali uirtus est. Euitare quoque malum cum operatione boni uirtus est, uel potius euitare malum et facere bonum una uirtus integra et perfecta est. Vgl. oben den Text in Anm. 15.

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2. Welche Bedeutung erlangen nun die passiones animae – also amabilitas und und mit ihnen der comtemptus – im Rahmen dieser Konzeption der Komplementärtugenden? Es wurde bereits angedeutet, dass Radulfus Ardens als zweite und dritte Gruppe von Tugenden die virtutes amativae und die virtutes oditivae nennt, denen die Affekte des liebenden und des hassenden Strebevermögens (concupiscibilitas und odibilitas / irascibilitas) mit den aus ihnen folgenden Konkretisierungen zu Grunde liegen. Auf Seiten der concupiscibilitas sind dies amor, spes, aemulatio, gaudium, laetitia und gloriatio, auf Seiten der irascibilitas sind es odium, timor, deterritatio, ira, tristitia und paenitentia. Der entscheidende Gedanke des Radulfus Ardens besteht nun darin, dass sich die beiden Grundaffekte sowie ihre verschiedenen Konkretisierungen komplementär ergänzen und mäßigen können, so dass sie in der Mitte zwischen den Lastern gehalten und selbst zu Tugenden werden, indem sie sich wechselseitig davor bewahren, in ein Zuviel des jeweiligen Affekts und damit in das in ihrer jeweiligen Richtung liegende Laster abzugleiten. So entstehen im Bereich der virtutes amativae und oditivae folgende virtutes collaterales, die Radulfus in Buch XI des Speculum universale entfaltet: Dem amor bzw. der dilectio entspricht ein bonum odium, der die Liebe davor bewahrt zur schlechten Liebe (mala dilectio) zu werden, in der man das liebt, was man nicht lieben soll; und umgekehrt bewahrt die Liebe den guten Hass davor, zum schlechten, zerstörerischen Hass (malum odium) zu werden. Auch zwei Unterarten des amor ordnet Radulfus jeweils eine Komplementärtugend zu: Der beneficentiae largitas ordnet er die parsimonia zu, damit weder die Freigiebigkeit zur Verschwendung (prodigalitas) noch die Sparsamkeit zu Habgier und Geiz (avaritia) ausartet; der concordia ordnet er eine bona discordia zu, damit die Eintracht nicht zum faulen Frieden (mala concordia) und die discordia nicht zum Streit (mala discordia) wird. Der spes ist der timor zugeordnet, damit aus der Hoffnung kein anmaßender Anspruch (praesumptio) und aus der Furcht keine Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit (desperatio) wird. Der aemulatio wird die exterritatio zur Seite gestellt, damit es einerseits nicht dazu kommt, dass man den Lastern anderer nacheifert (vitia aemulari), noch dazu, dass man die guten Sitten verachtet (detestari bonos mores). Zum gaudium müssen ira und zelus hinzukommen, damit die Freude nicht eitel und schlecht (gaudium malum et vanum) wird und damit man nicht in einen schlechten, zerstörerischen Zorn (ira mala) hineingerät. Weiterhin müssen sich die laetitia spiritualis und die tristitia spiritualis gegenseitig ergänzen, damit weder die Fröhlichkeit noch die Traurigkeit schlecht werden. Ebenso muss zur serenatio ein gewisses Maß an pudor bonus kommen, damit es weder zur Albernheit (serenatio mala) noch zur Verschämtheit (pudor mala) kommt. Und die gloriatio muss durch die paenitentia ergänzt werden, damit die Ruhmrederei nicht zur überheblichen Angeberei (gloriatio superbiens) und die Reue als Eingeständnis eigener Fehler nicht in eine verzweifelte Selbstodibilitas

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bezichtigung (paenitentia desperans) führt. Auch führt Radulfus die mansuetudo an, die durch eine severitas bzw. einen rigor ergänzt werden muss, damit die Sanftmut nicht zu übertriebener Weichheit (mollities nimia) und die Strenge nicht zu übertriebener Härte (asperitas nimia) wird. Schließlich nennt Radulfus noch eine Komplementärtugend, die sich auf generelle Weise zu allen affekthaften Tugenden verhält, nämlich die discretio. Ohne discretio werden alle affekthaften Tugenden zu Lastern, und ohne die affekthaften Tugenden ist die discretio nutzlos.102 Die discretio ist es, die das Gleichgewicht zwischen den sich ergänzenden Affekten herstellt. mala dilectio largitas / prodigalitas mala concordia praesumptio vitia emulari

gaudium malum / vanum mala laetitia serenatio mala / vana mala gloriatio / gloriatio superbiens mollities nimia

affectuose uirtutes amor / dilectio beneficentiae

discretio bonum odium parsimonia

concordia spes bona emulatio

bona discordia timor exterritatio bona

bonum gaudium

serenatio

bona ira / bonus zelus spiritualis tristitia pudor bonus

bona gloriatio

penitentia

mansuetudo

severitas / rigor

laetitia spiritualis

malum odium avaritia mala discordia desperatio detestari bonos mores exterritatio mala/ vana ira mala / vana mala tristitia pudor malus / vanus mala penitentia / penitentia desperans asperitas nimia

Mit dieser Konzeption der virtutes amativae und oditivae haben die passiones animae für Radulfus Ardens eine etwas andere Bedeutung als dies beispielsweise in der Begründung der Kardinaltugenden bei Thomas von Aquin der Fall ist. Während es bei Thomas der Tugend der Tapferkeit und der Maßhaltung bedarf, 102

Vgl. SpU XI,15 (P, fol. 67ra): Est autem generaliter collateralis uirtus non tantum dilec-

tionis sed etiam omnium affectuosarum uirtutum discretio, que omnes affectuosas uirtutes moderatur, ostendens cunctis quid, quantum et quomodo debeant affectare. Unde omnes affectuose uirtutes si sine discretione sint, uitia fiunt. Discretio quoque sine affectuosis uirtutibus inutilis efficitur.

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um die Affekte des Begehrens und des Abwehrens so zu gestalten, dass sie den Menschen nicht daran hindern, das auszuführen, was die rechte Ordnung der Vernunft durch Klugheit und Gerechtigkeit vorgibt103, sind es bei Radulfus Ardens die Affekte bzw. die Leidenschaften der Seele selbst, die, wenn sie sich wechselseitig ergänzen und mäßigen, zu Tugenden werden. 3. Eine solche wechselseitige Ergänzung und Korrektur der beiden GrundLeidenschaften, des amativen und des oditiven Affekts, ist beim contemptus, den Radulfus Ardens ebenfalls – wenn er auch aus der Negation der beiden anderen Affekte hervorgeht – doch als Affekt versteht, nicht möglich. Es gibt keinen weiteren komplementären Affekt. Dennoch führt er als vierte Gruppe der Tugenden, die er in Buch XII des Speculum universale behandelt, die kontemptiven Tugenden (virtutes contemptivae) an und auch hier ordnet er jeder Haupttugend eine Komplementärtugend zu. So muss der contemptus laudis durch eine infamiae fuga ergänzt werden, damit man durch den bescheidenen Verzicht auf Lob nicht in schlechten Ruf (infamia) gerät und andererseits die Vermeidung des schlechten Rufs nicht zum eitlen Ruhm (vana gloria) ausartet. Dem contemptus voluptatis muss die refectio corporis zur Seite gestellt werden, weil ohne die Erholung des Körpers die Verachtung der Lust zur Grausamkeit (crudelitas) und umgekehrt ohne Verzicht auf die Lust die Erholung des Körpers zu überflüssiger Bequemlichkeit (superfluitas) führt. Und schließlich muss der humilitas die honorantia sui entsprechen, damit die 103

Vgl. dazu THOMAS VON AQUIN, Summa Theologiae I-II, q. 61, a. 2: Ordinem enim rationis necesse est ponere circa passiones, considerata repugnantia ipsarum ad rationem.Quae quidem potest esse dupliciter. Uno modo secundum quod passio impellit ad aliquid contrarium rationi: et sic necesse est quod passio reprimatur, et ab hoc denominatur temperantia. Alio modo, secundum quod passio retrahit ab eo quod ratio dictat, sicut timor periculorum vel laborum: et sic necesse est quod homo firmetur in eo quod est rationis, ne recedat; et ab hoc denominatur fortitudo. – Vgl. dazu auch DERS., Summa Theologiae II-II, q. 123, a. 1: Tertio secundum quod tolluntur impedimenta huius rectitudinis in rebus humanis ponendae. – Dupliciter autem impeditur voluntas humana ne rectitudinem rationis sequatur. Uno modo per hoc quod attrahitur ab aliquo delectabili ad aliud quam rectitudo rationis requirat: et hoc impedimentum tollit virtus temperantiae. Alio modo per hoc quod voluntatem repellit ab eo quod est secundam rationem, propter aliquid difficile quod incumbit. Et ad hoc impedimentum tollendum requiritur fortitudo mentis, qua scilicet huiusmodi difficultatibus resistat. – Im weiteren Text von DERS., Summa Theologiae I-II, q. 61, a. 2 weist Thomas aber weiterführend auch darauf hin, dass die passiones selbst auch die Träger von Tugenden sind: Quadruplex enim invenitur subiectum huius virtutis de qua nunc loquimur: scilicet rationale per essentiam, quod prudentia perficit; et rationale per participationem, quod dividitur in tria; idest in voluntatem, quae est subiectum iustitiae; et in concupiscibilem, quae est subiectum temperantiae; et in irascibilem, quae est subiectum fortitudinis.

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Demut nicht zu Kleinmütigkeit, Mutlosigkeit und Verzweiflung (pusillanimitas, abiectio, desperatio) führt und umgekehrt die Wertschätzung seiner selbst nicht zur eitlen Ruhmsucht, zur Überheblichkeit und zum Hochmut (vana gloria, arrogantia, superbia) wird. infamia crudelitas pusillanimitas mala / abiectio / desperatio

contemptus laudis contemptus voluptatis humilitas

infamiae fuga refectio corporis honorantia sui

vana gloria vicium superfluitatis vana gloria / arrogantia / superbia

Fragt man angesichts dieser Auflistung, woher sich die angegebenen Komplementärtugenden erklären, wenn Radulfus Ardens doch dem Affekt des contemptus selbst keinen weiteren eigenen Komplementäraffekt gegenüberstellt, so könnte eine Antwort von der Beobachtung ausgehen, dass Radulfus selbst den contemptus zwar als Negation der beiden Grundaffekte, des amativen und oditiven Strebens, versteht, ihn aber doch in größerer Nähe zum oditiven, abwehrenden Affekt sieht. Entsprechend weisen die komplementären Affekte, die er der Verachtung des Lobes und der Lust sowie der Demut gegenüberstellt, den Charakter der Selbstbejahung auf: der Bejahung des eigenen Ansehens, des eigenen Körpers und der eigenen Ehre. So scheint auch hier die tugendhafte Mitte dadurch gehalten zu werden, dass dem eher oditiven Affekt der Verachtung bzw. Vernachlässigung ein amativer Affekte – nämlich die Bejahung und Achtung seiner selbst – ergänzend zur Seite tritt und sie sich gegenseitig vor dem Abgleiten in das jeweils nahe liegende Laster bewahren. 5. Fazit

Aus den vorausgegangenen Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, in welchem – für seine Zeit ungewöhnlichen – Umfang und in welcher Detailliertheit Radulfus Ardens am Ende des 12. Jahrhunderts die fundierende und ermöglichende Bedeutung der passiones bzw. affectus oder affectiones animae für das sittliche Handeln und die Ausbildung der Tugenden und der Laster untersucht und herausarbeitet: Die Leidenschaften der Seele sind nicht in enge Grenzen zu verbannen, nicht zu übergehen oder gar abzutöten, sondern in ein inneres Gleichgewicht zu bringen. Sie müssen sich wechselseitig ergänzen und korrigieren, so dass sie möglichst viel Gutes verwirklichen und zugleich möglichst viel Schlechtes vermeiden. Zugleich wurde damit an einem Aspekt beispielhaft deutlich, wie sehr sich Radulfus Ardens gerade für die Eigenwirklichkeit des Menschen, seine condition humaine, interessiert und sie in die theologisch-ethische Reflexion ein-

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Stephan Ernst

bringt, ja wie ihn die ethische Reflexion gerade auf diese Eigenwirklichkeit des Menschen aufmerksam werden lässt. Die heute selbstverständliche Einsicht in die Unverzichtbarkeit einer breiten anthropologischen und humanwissenschaftlichen Grundlegung für eine wissenschaftliche, also allgemein nachvollziehbare und kommunikable Ethik ist hier, auch wenn manches noch in einer „Naivität“ des ersten Zugangs verbleibt, vom Prinzip her in aller Klarheit vorgezeichnet.

Marianne Schlosser

Die Leidenschaften der Seele bei David von Augsburg

Was ist eine ‚Leidenschaft‘? Die Definition fällt vielleicht weniger leicht, als man auf den ersten Anschein meint. Dass der Begriff der ‚Leidenschaft‘ vielfältige Implikationen hat, wird bereits offenbar, wenn man nur einen raschen Blick auf die verschiedenen Dimensionen seiner alltagssprachlichen Verwendung wirft. Das deutsche Wort ‚Leidenschaft‘, das ab dem 17. Jahrhundert belegt ist,1 leitet sich vom lateinischen passio bzw. dem griechischen pathos (pathe, pathemata) her und lässt – ebenso wie in weiteren modernen Sprachen – aufgrund der Etymologie zunächst an ein Erleiden denken: Eine Leidenschaft ist etwas, was einem in einer bestimmten Weise (zumindest auch) ‚widerfährt‘,2 was als widerständig oder weitgehend unabhängig vom besonnenen Urteil erfahren werden kann, ja die Freiheit des Subjekts einschränkt. In einem gewissen Gegensatz dazu verbindet man mit ‚Leidenschaft‘ auch einen recht ‚aktiven‘, dynamischen Sinn: So spricht man etwa von einem passionierten Sammler, einem leidenschaftlichen Schachspieler oder einem Politiker aus Leidenschaft. Der ‚Leidenschaftliche‘ in diesem Sinn ist begeistert von einer Sache, ‚Feuer und Flamme‘ für eine Tätigkeit. Gerade insofern ‚Leidenschaft‘ die Relation und Re-aktion einer Person – zu einer anderen Person, zu einer Sache, einer Idee, einem Ereignis – bezeichnet, tritt die Verbindung der aktiven Komponente mit der ‚empfangenden‘ zutage.3 Nach einem Wort Hegels, das sich letztlich auf Platon zurückführen lässt, wird nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft verwirklicht. Leidenschaft kann Kräfte des Subjekts freisetzen oder konzentrieren, aber auch verblenden und fixieren, ja die Entwicklung einer Person blockieren. 1

2

3

Genau: 1647; siehe dazu den sehr instruktiven Artikel von LANZ, Jakob, Affekt (pathos, passio, Leidenschaft), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie I, Sp. 89-99, hier 95.

LANZ (Anm.1), 89: „In seiner philosophischen Bedeutungsentwicklung bezeichnet der Begriff zunächst den Zustand des Empfangens einer äußeren Einwirkung – nach Aristoteles eine der zehn Kategorien des Seienden [De cat. IV, 1 b 27; Met. V 1022 b 15-21] – dann ‚Zustand‘ oder ‚Eigenschaft‘ ganz allgemein, schließlich ‚Erleiden‘ oder ‚Zustand der Seele‘ [De anima I 402 a 9f.; 403 a 2].“ SOLIGNAC, Aimé, , in: Dictionnaire de Spiritualité au Moyen Age XII/1, Sp. 339-357, hier 339. Passions et vie spirituelle

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Marianne Schlosser

Eine weitere Spannung im Begriff ergibt sich daraus, dass ‚Leidenschaft‘ einerseits einen ‚Habitus‘ bezeichnen kann, das heißt, eine tief sitzende Ausrichtung oder dauernden Zustand, der unter Umständen das gesamte Verhalten einer Person prägt. Andererseits schwingt in der ‚Leidenschaftlichkeit‘ die Konnotation der Heftigkeit eines Gefühls oder einer Gemütsbewegung mit. Die Unterscheidung zwischen plötzlichen heftigen Gemütsbewegungen einerseits, im negativen Fall: gewissermaßen ‚akuten Erkrankungen‘, und habituellen Neigungen4 oder Ängsten andererseits, ‚chronischen Krankheiten‘, geht auf die Stoa zurück, wird in der Patristik und im Mittelalter übernommen und führt 5schließlich, „besonders bei Kant, zu einer schärferen Scheidung der Phänomene“. Damit geht auch eine Differenzierung der Begrifflichkeit einher.6 Diese verschiedenen Dimensionen, die Breite des Bedeutungsspektrums und, davon abhängig, der Bewertung von ‚Leidenschaft‘, spiegeln sich in der komplexen Geschichte des Begriffs, die sich von den Vorsokratikern über Platon, Aristoteles und die Stoa, die Patristik und Scholastik bis in die Neuzeit zieht. Für die christliche Theologie konnte die Thematik der ‚Leidenschaften‘ aus mehrerlei Gründen nicht aus dem Focus des Interesses ausgeblendet werden. Zum einen erscheint Gott selbst, so wie er sich in den inspirierten Texten des Alten und des Neuen Testamentes offenbart, nicht als einfachhin ‚leidenschaftslos‘. Insbesondere bilden die ‚Affekte Jesu‘ – Trauer, Todesangst, Zorn, Mitleid – seit den patristischen Auseinandersetzungen um die wahre Menschheit Jesu und seinen menschlichen Willen ein wichtiges Thema innerhalb der Christologie und besonders der Soteriologie. Dass das seelische Leiden Christi als heilsbedeutsam geglaubt wird, konnte nicht ohne Auswirkungen für die christliche Anthropologie bleiben. So wird im Neuen Testament an mehreren Stellen die Ambivalenz von Affekten deutlich, etwa der tief greifende Unterschied zwischen der „Traurigkeit dieser Welt“ und derjenigen Trauer, die dem Willen Gottes konform ist und selig 7 gepriesen wird (Mt 5,4). 4

Im Lateinischen spiegelt sich dies in den Begriffen animae.

5 6

7

(per-)turbatio

, morbus oder aegritudo

LANZ (Anm.1), 93; 95. LANZ (Anm.1), 94: Die habituellen Begierden (griechisch: nosemata, lateinisch: vitia, französisch: passions) werden von den (eruptiven) Gemütsbewegungen (pathe, passiones) unterschieden und als ‚Emotionen‘ (französisch: émotions) bezeichnet: ein Wort, „das vor dem 18. Jh. meist den Aufruhr nicht der Gefühle, sondern des Volkes bezeichnet“. Kant differenziert zwischen ‚Affekt‘ (als momentanes Gefühl der Lust oder Unlust) und ‚Leidenschaft‘ („durch die Vernunft des Subjekts schwer oder gar nicht zu bezwingende Neigung“): LANZ, 95. SOLIGNAC (Anm. 3), 342: In den Texten des Neuen Testaments kann im Sinn von Unzucht (1 Thess 4,5; Röm 1,26; Kol 3,15) oder allgemeiner als sündhafte Begierde (Röm 7,5; Gal 5,24) verwendet werden; häufig steht dafür auch (Gal 5,24). meint dagegen zumeist die Leiden Christi und der Christen (2 Kor 1,5-6). pathos

epithymia

Pathemata

Die Leidenschaften der Seele bei David von Augsburg

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Zum Zweiten – dies kann hier nur kurz angedeutet werden – ist ‚erleiden‘ oder passiv ‚ergriffen werden‘ keineswegs immer negativ zu sehen. In einem Fall zumindest gilt geradezu das Gegenteil: Von Gott ergriffen zu werden, „Gott zu leiden“ (pati divina), ist das Beste, was einem Menschen geschehen kann, wie Thomas 8von Aquin im Anschluss an eine Stelle aus Dionysios Ps.-Areopagita bemerkt. Denn auf diese Weise wird der Mensch von einem weit besseren Antrieb gelenkt, als seine eigene 9Vernunft es ist (melius intellectu): vom Heiligen Geist (instinctu spiritus Sancti). Im Folgenden soll das Augenmerk nur auf einen dritten Aspekt gerichtet werden: die Bedeutung von „Affekten“ im geistlichen Leben des Christen, und dies am konkreten Beispiel eines Handbuchs zur Persönlichkeitsbildung des 13. Jahrhunderts. Verständlicherweise beansprucht gerade diese Dimension in der aszetisch-mystischen Theologie besondere Aufmerksamkeit; denn in der Frage des Umgangs mit Leidenschaften geht es um die Freiheit des Menschen auf Gott hin, seine geistliche Reifung. Es liegt nahe, hier sogleich an die von den Mönchsvätern angestrebte a-patheia zu denken. Doch obwohl die gesuchte ‚Leidenschaftslosigkeit‘ manche Anklänge an das Ideal des stoischen Weisen zeigt und von der stoischen Philosophie inspiriert sein mag, ist bei genauerem Hinsehen die Zielsetzung recht verschieden.10 Obwohl die sprachliche Form der Negation dies nahelegen könnte, wird nicht nur die Freiheit von Leidenschaften angestrebt, die ähnlich wie bei Platon und Cicero schlicht als „Krankheiten der Seele“ bezeichnet werden. Das angestrebte Ziel ist vielmehr die agape, im Sinne des neutestamentlichen Doppelgebotes, welche die „Gesundheit der Seele“ ausmacht.11 Gesundsein ist mehr als keine Krankheit zu haben. Sehr deutlich wird diese Auffassung in Johannes Cassians programmatischer Collatio I: Über skopos und telos des monastischen Lebens. Die agape-caritas wird hier in eins gesetzt mit jener Reinheit des Herzens, die dazu befähigt, Gott zu schauen: „Selig, die ein reines Herz haben, sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8). Mit anderen Worten: Die contemplatio 8

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Summa theologiae II-II 45, 2: Sicut Dionysius dicit, in 2 cap. De Divinis Nominibus, quod Hierotheus est perfectus in divinis ‚non solum discens sed et patiens divina‘. Huiusmodi autem compassio sive connaturalitas ad res divinas fit per caritatem, quae quidem unit nos Deo. Das gleiche Zitat bringt Thomas auch Summa theologiae I 1, 6 ad 3. Summa theologiae I-II 68, 1. Dazu HORST, Ulrich, Die Gaben des Heiligen Geistes nach Thomas von Aquin (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes 46), Berlin 2001, S. 71-

79. Dazu: EVAGRIOS PONTIKOS, Praktikos oder Der Mönch. Hundert Kapitel über das geistliche Leben, Hg. Gabriel Bunge, Köln 1989, v.a. das Vorwort von Alois M. HAAS S. 12, sowie den Kommentar G. BUNGES zu Kapitel 89, S. 246-248. EVAGRIOS PONTIKOS, Praktikos 56 (Anm. 10), S. 187 und 81, S. 231. SOLIGNAC (Anm. 3), 343, verweist darauf, dass Evagrios hier offenbar von Klemens von Alexandrien inspiriert ist, der die apatheia mit der Fähigkeit zur vollkommenen Liebe in eins gesetzt hatte.

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– sei es im Himmel oder auf Erden – setzt die caritas voraus; denn nur durch sie wird der Mensch Gott ähnlich.12 Darum ist die „Reinigung der Seele“ von Leidenschaften, welche die caritas behindern, die erste Aufgabe des geistlichen und besonders des monastischen Lebens, das ein Leben in der Gegenwart Gottes sein will. Der geistliche Mensch muss an sich arbeiten (praktike) beziehungsweise Gott 13an sich arbeiten lassen, bevor er zur contemplatio (theoretike) gelangen kann. Dabei geht es nicht einfach um ‚Moral‘ im Sinne einer äußeren Vorbedingung der kontemplativen Gottesbegegnung, sondern um eine Transformation der innersten Kräfte des Menschen. Nach der Überzeugung der Mönchsväter gibt es keine contemplatio ohne transformatio, wie es kein „Gott schauen“ ohne „Sterben“ gibt (Ex 33,20). Die der agape-caritas widerstehenden Leidenschaften sind in der klassischen Achtzahl von Evagrius Pontikus vorgestellt worden,14 für ihre Rezeption in der mittelalterlichen Theologie wurden die Collationes und Institutiones des Johannes Cassian15 und vor allem die Darlegung in den Moralia Gregors d. Gr. maßge-

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Evagrios Pontikos nennt die caritas-agape die Mutter der Kontemplation; die agape wiederum wird ausgeprägt, indem entgegengesetzte Leidenschaften, vor allem Zorn und Begierde, überwunden werden. Diese grundlegende Zweigliederung begegnet auch bei David von Augsburg: FRATRIS DAVID AB AUGUSTA De exterioris et interioris hominis compositione secundum triplicem statum incipientium, proficientium et perfectorum, libri tres, castigati et denuo editi a pp. Collegii S. Bonaventurae, Quaracchi 1899, hier aus dem 2. Widmungsbrief, S. 59: „Alles

wahre Ordensleben ist auf zwei Dinge besonders ausgerichtet: die Übung der Tugenden (exercitium virtutis) und die Hingabe an Gott (affectus internae devotionis). Das eine bezieht sich auf die vita activa, das andere auf die vita contemplativa. Das sind die beiden Frauen Jakobs: Lea war fruchtbarer, Rachel schöner. So sind die Taten der Tugend viele, die Erfahrung der Gnade im Gebet aber ist süßer“. Im Folgenden wird mit der angegebenen Seitenzahl auf den lateinischen Text Bezug genommen; eine vollständige Übersetzung ist im Druck: DAVID VON AUGSBURG, Vom äußeren und inneren Menschen, St. Ottilien 2009.

EVAGRIOS PONTIKOS, Über die acht Gedanken, eingeleitet und übersetzt von Gabriel Bunge, Würzburg 1992: superbia / hyperephania, vana gloria / kenodoxia, akedia, ira / orge, tristitia / lype, avaritia / philargyria, luxuria-fornicatio / porneia, gula / gastrimargia. JOHANNES CASSIAN, De institutis coenobiorum et de octo principalium vitiorum remediis, in: Jean Cassien, Institutiones cénobitiques, Hg. Jean Claude Guy (Sources Chrétiennes 109), Paris 1965, hier S. 186ff.; Collationes V, 2, in: Jean Cassien, Conférences I-VII, Hg. E. Pichery (Sources Chrétiennes 42), Paris 1955, S. 190.

Die Leidenschaften der Seele bei David von Augsburg

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Früh findet man bereits Ratschläge, wie man auch an sich negative Leidenschaften positiv wenden und dem geistlichen Leben nutzbar machen kann.17

bend.16

De compositione exterioris et interioris hominis

In dieser Tradition geistlicher Theologie steht David von Augsburg (1200/1210– 1272). Zwar ist sein Name nicht so bekannt wie der des Bernhard von Clairvaux oder Bonaventura, doch hat sein Hauptwerk immerhin verdient, unter deren Namen Verbreitung zu finden: De compositione exterioris et interioris hominis lief häufig unter dem Namen Bonaventuras, zuweilen auch Bernhards. Die Zuschreibung an Bonaventura ist nicht völlig aus der Luft gegriffen; bestimmte anthropologische Grundpositionen sind David und Bonaventura gemeinsam, die Nähe der Gedanken zu bestimmten Passagen aus dem Itinerarium mentis in Deum und der Triplex via ist offenkundig, auch wenn De compositione nicht die Stringenz der Durchführung und die terminologische Klarheit Bonaventuras erreicht. Über Jahrhunderte hinweg war De compositione eines der einflussreichsten Handbücher zur Persönlichkeitsbildung, ein Lehrbuch des monastischen Lebens, rezipiert von den Autoren der Devotio moderna bis zu Giovanni Scaramelli SJ. Die Herausgeber des Textes nennen 370 lateinische Textzeugen, von denen ein Teil den Text jedoch nicht vollständig enthält. Dazu kommen Übersetzungen 18in die Volkssprachen, vor allem im deutschen und niederländischen Sprachraum. David benennt in den Widmungsbriefen, die den I. und II. Teil des Werkes einleiten, seine Absicht: Sie liegt nicht in einer umfassenden systematischen Dar19 stellung um ihrer selbst willen, sondern in Hinweisen für die Praxis des religiösen Lebens. Ihm geht es darum, das Ziel des geistlichen Lebens vor Augen zu stellen und auf Probleme und Fragen einzugehen, die sich ergeben können. David 16

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18 19

GREGORIUS MAGNUS,

Moralia sive Expositio in Job

XXXI, XLV, 87, Hg. Marcus Adriaen

(Corpus Christianorum Series Latina 143B), Turnhout 1985, S. 1610. Gregor nennt sieben Hauptlaster, deren „Herrin“ die superbia ist: inanis gloria, invidia (als selbständiges Laster), ira, tristitia (unter welche auch die acedia fällt), avaritia, ventris ingluvies, luxuria. Zur Rezeption: JEHL, Rainer, Die Geschichte des Lasterschemas und seiner Funktion. Von der Väterzeit bis zur karolingischen Erneuerung, in: Franziskanische Studien 64 (1982), S. 261-359. Hier ist vor allem Laktanz zu nennen; zwischen seiner und Davids Konzeption besteht augenfällige Ähnlichkeit: Laktanz rechnet die Affectus zur schöpfungsmäßigen Ausstattung des Menschen; sie müssen allerdings im jetzigen Zustand kultiviert werden, dann bringen sie nicht Dornen, sondern Früchte: Divinae Institutiones VI, 15-19; besonders 15, 8-9, Hg. Samuel Brandt (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum XIX), hier S. 337f. RUH, Kurt, David von Augsburg, in: Verfasserlexikon II, S. 47-58, hier 49. Vgl. auch III, 28 n.3 (Anm. 13), S. 217: „Kunstvolle Einteilungen“ wolle er anderen überlassen.

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schöpft aus seinen Erfahrungen als Novizenmeister und Visitator von Klöstern,20 den geistliche Vorträge (collationes) in verschiedene Ordenshäuser auch anderer Gemeinschaften führten.21 Wie der schwer ins Deutsche zu übertragende Titel sagt, geht es darum, den Menschen in die rechte Ordnung zu bringen. Dies vollzieht sich schrittweise, von außen nach innen. Mit der Einteilung seines Werkes in drei Bücher, welche auf die besonderen Erfordernisse der Anfänger im geistlichen Leben, der Fortgeschrittenen und der (nahezu) Vollendeten (incipientes – proficientes – perfecti) eingehen, greift David eine Dreistufung auf, die auf Gregor den Großen zurückgeht.22 Ausdrücklich Bezug nimmt er jedoch auf die dazu parallel stehende Gliederung des Goldenen Briefs von Wilhelm von St. Thierry, die ihrerseits in der 23 monastischen Tradition verwurzelt ist: Die geistliche Formung beginnt bei dem Menschen, der erst ‚natürlich‘ denkt und für Gottes Dinge noch kein rechtes Gespür hat (homo animalis), sie schreitet fort, wenn der Mensch seinem „edelsten Teil“, dem geistigen Erkennen, die Herrschaft gibt und danach handelt (homo rationalis), und wird vollendet, wenn der Mensch gänzlich vom Geist Gottes geführt wird (homo spiritalis).24 Der I. Teil: De compositione hominis exterioris, behandelt in einem ersten großen Abschnitt (Kapitel 1-26) die grundsätzliche Zielrichtung des Ordenslebens und die wichtigsten alltäglichen Vollzüge im Klosterleben, an deren Regeln sich der Novize gewöhnen muss: Essen, Schlafen, Chorgebet, Schweigen, Schuldkapitel, Handarbeit, Dienste außer Haus und anderes. Nach einem eindrucksvollen Kapitel über die Betrachtung des Verhaltens Christi in seinem irdischen Leben, der Vorbild und Freund ist, nimmt David in einem zweiten großen Abschnitt feinere Gefährdungen aufs Korn, die sich nach einer gewissen Zeit des Ordenslebens einzustellen pflegen: Der Novize kennt sich bereits aus, bestimmte Vollzüge sind zur Gewohnheit geworden. Leicht kann sich da aufgrund der Gewöhnung Nachlässigkeit einschleichen, so dass Verpflichtungen, die der Anfänger sehr 20

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Regensburger Minoritenkloster ein, das 1226 gegründet worden war (Augsburg erst 1243); denn er ist bereits 1240 als Novizenmeister bezeugt. Zusammen mit Berthold von Regensburg nahm er Visiationsaufgaben wahr. II. Buch, Prolog (Anm. 13), S. 63. GREGORIUS MAGNUS, Moralia XXIV, 28 (Anm. 16), S. 1207f.; GREGORIUS MAGNUS, Homiliae in Hiezechielem prophetam II, 3, 3-5, Hg. Marcus Adriaen (Corpus Christianorum Series Latina 142), Turnhout 1971, S. 238f.; auch bei RICHARD VON ST. VICTOR, Benjamin maior III, 11 (Patrologia Latina 196, 121). WILHELM VON ST. THIERRY, Epistola aurea 41-45: Lettre aux frères du Mont-Dieu (Lettre d’or), Hg. Jean-Marie Déchanet (Sources Chrétiennes 223), Paris 1975, S. 176-180. Die im Grunde paulinische Trias soma – psyche – pneuma erscheint vor allem bei syrischen Autoren (Isaak von Ninive, Johannes von Apameia, Jausep Hazzaya) als Stufung der geistlichen Entwicklung: SOLIGNAC (Anm. 3), 345. II, 84 (Anm. 13), S. 84. David trat vermutlich ins

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ernst genommen hat, nun an Wichtigkeit verlieren. Man beginnt, den unangenehmen Pflichten auszuweichen – „Schlupfwinkel für den Eigenwillen“ zu suchen – und möglicherweise auch das wenig vorbildliche Verhalten anderer nachzuahmen. Denn der Novize kennt mittlerweile auch seine Mitbrüder und Vorgesetzten schon gut genug, dass ihm deren Fehler und Schwächen auffallen. So lauert auf ihn die Versuchung, ein rasches Urteil über das Verhalten und die Gesinnung anderer abzugeben, sich selbst aber nur noch ungern eine Zurechtweisung gefallen zu lassen.25 Der II. Teil: De compositione hominis interioris, enthält die für das Thema ‚Leidenschaften der Seele‘ wichtigsten Passagen. Die „innere Formung“ bedeutet eine „Erneuerung“ (reformatio) des durch die Sünde geschädigten Menschen. Sie besteht „in der Vertreibung der Laster und der schrittweisen Einwurzelung der Tugenden, so dass das gesamte sittliche Verhalten, alle Neigungen und alles innere Empfinden – soweit irgend möglich – in Einklang mit Gott kommen“ (vitiorum

expugnatione et virtutum assuefactione, ut et mores et omnes affectus et sensus interiores, prout est possibile, Deo conformantur).26 David legt zunächst die

Grundlinien seiner Anthropologie bzw. seiner geistlichen Psychologie dar: die Bestimmung des Menschen, seine geistigen Kräfte und Fähigkeiten (Kap. 5-9). Gewissermaßen innerhalb dieses Rahmens gängiger augustinischer Lehre geht er der Frage nach, warum überhaupt Affekte wie Hochmut, Neid, Zorn, Scham und Furcht im Menschen sind, und ob in den zugrundeliegenden Strebungen eventuell ein positiver Sinn entdeckt werden könne (10-28). In einem zweiten großen Abschnitt (29-50) werden die verschiedenen Laster im engeren Sinn in ihrem Phänotyp und ihren Graden beschrieben und spezifische Ratschläge zu ihrer Überwindung gegeben. Der III. Teil ist eigentlich der „Vollendung“ des geistlichen Lebens gewidmet: den inneren Tugenden und Fragen des Gebetslebens. Doch bieten die „Sieben Stufen des Ordenslebens“ – , wie die Überschrift lautet, zugleich die Quintessenz verschiedener Aspekte, die im I. und II. Buch bereits vorgestellt wurden. Denn auf jeder Ebene des geistlichen Fortschritts kehren bestimmte Erfahrungen wie auch Kämpfe in neuer27Form wieder. Daher ist auch im III. Teil noch einmal von den Affekten die Rede. De septem processibus Religiosorum

25

26 27

Sehr deutlich I, 33f., S. 42-47 sowie II, 1 nn. 3.4, S. 68f.: „Der Anfänger soll sich hüten, sich durch das schlechte Vorbild Laugewordener zur Nachahmung verleiten zu lassen. ...“ II, Prolog, S. 63. III, 27. 28, S. 214-218.

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1. Anthropologische Grundlagen Mit Augustinus, Bonaventura und der Vielzahl weiterer Theologen sieht David die Grundstruktur des menschlichen Geistes in den drei Seelenkräften Erkenntnis (ratio), Wille bzw. Strebevermögen (voluntas, affectus) und Bewusstsein oder Gedächtnis (memoria).28 Im Zueinander dieser Fähigkeiten (potentiae animae)

spiegelt die Seele abbildhaft die Einheit und Dreifaltigkeit des Schöpfers wider. Doch erschöpft sich die Gottebenbildlichkeit nicht in der Struktur, sondern hat eine dynamische Komponente: Jede einzelne dieser Fähigkeiten ist dazu bestimmt, den Schöpfer jeweils unter einer besonderen Hinsicht aufzunehmen Die Erkenntniskraft ist auf die Weisheit Gottes bezogen, das Bewusstsein auf seine Macht und Ewigkeit, der Wille auf seine Güte. Jedoch wurde diese ursprüngliche, von der Schöpfung her gegebene Bestimmung durch die Sünde pervertiert. Die drei Potenzen selbst und ihre wesenhafte29 Zielrichtung blieben erhalten, doch geschwächt und in ihrer Betätigung entstellt. Jede dieser Kräfte wird, so David, im geistlichen Leben schrittweise vervollkommnet. Er unterscheidet drei Stufen oder „Zustände“ der fortschreitenden Erneuerung,30die wiederum die Dreiheit von „Anfang, Fortschritt und Vollendung“ spiegeln. Gerade der zweite Status – der Mensch steht nicht mehr am (capere Deum).

(status)

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II, 5-9, S. 85-92. II, 5, S. 85: „Das vernunftbegabte geistige Geschöpf ist Abbild der Höchsten Dreifaltigkeit. Wie Gott dreifaltig-einer ist, so hat auch die Seele, obwohl sie eine ist, drei Fähigkeiten, durch die sie ‚Gottes fähig‘ ist (capax Dei): Erkenntniskraft, Gedächtnis bzw. Bewusstsein und Wille. Durch die Erkenntniskraft vermag sie die Weisheit Gottes aufzunehmen (capere), durch das Gedächtnis die machtvolle Ewigkeit Gottes, so dass sie in Ewigkeit nicht mehr von ihm getrennt werden kann; durch den Willen kann sie die Gutheit Gottes aufnehmen. Damit eine solche Ähnlichkeit zu Gott und Aufnahmefähigkeit in der Seele nicht nutzlos und unfruchtbar sei, sollte sie sich mit allen Kräften bemühen, ihn zu erfassen, um ihn festzuhalten und darin selig zu werden.“ – II, 6 (88): „Wie gesagt hat die Seele drei Fähigkeiten, Vernunft und Willen, Gedächtnis bzw. Bewusstsein. Die Vernunft war ihr gegeben, um Gott zu erkennen, der Wille, um ihn zu lieben, das Gedächtnis, um in ihm zu ruhen. Doch durch die Sünde erblindete die Vernunft, der Wille verkrümmte sich und wurde hässlich, das Bewusstsein verlor seine Mitte und wurde unstet. Nun nimmt die Vernunft oft etwas Falsches für wahr, der Wille das Schlechtere anstelle des Guten, das Gedächtnis beschäftigt sich mit Dingen, die es in ständige Unruhe versetzen; denn es hat das Eine Höchste Gut verlassen, in dem es alle Güter hätte besitzen können. Bekehrt sich der Mensch zu Gott, so beginnt er, danach zu suchen, was er verloren hat. Er beginnt zu sehen, dass seine vom Schöpfer gegebene Gestalt entstellt ist, und er müht sich, den ursprünglichen Zustand und die verlorene Schönheit wiederzugewinnen; denn der Zustand der Unähnlichkeit hindert den Zugang zu Gott.“ Dieses Konzept zeigt unverkennbar Verwandtschaft mit den Ausführungen Bonaventuras in De triplici via und im Itinerarium III und IV: BONAVENTURA, Itinerarium mentis in Deum – Der Pilgerweg des Menschen zu Gott, lateinisch-deutsch, übersetzt und erläutert von

Die Leidenschaften der Seele bei David von Augsburg

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Anfang, ist aber gut auf dem Weg, jedoch noch nicht am letztlich gnadenhaft geschenkten Ziel – beansprucht das besondere Interesse des geistlichen Lehrers; denn das ist der status probatorum Religiosorum.31 Demgemäß wird die ratio-Erkenntniskraft zunächst durch den Habitus des Glaubens (fides) überformt, schreitet fort in der Glaubenseinsicht (rationes fidei intelligere) und gelangt zu ihrer letzten Bestimmung, bzw. zur höchsten Vollkommenheit auf Erden, in der Contemplatio,32 wenn sich die Vernunft nicht mehr auf sinnenhafte Abbilder oder Gleichnisse, noch auf diskursive Argumente zu stützen braucht, sondern über ihre Möglichkeiten hinausgehoben wird.33 Das Bewusstsein (memoria) ist Quelle der geistigen Tätigkeiten, als Selbsthabe und Bei-sich-Sein der geistigen Person, als Ort, wo der Mensch Gottes eingedenk sein soll. Wie der eigentümliche Akt der ratio das „Denken“ bzw. die „Gedanken“ (cogitationes) sind, derjenige des Willens aber das Streben bzw. „Neigungen“ (affectiones), so ist der eigentümliche Vollzug der memoria die intentio, was man in diesem Zusammenhang mit „Ausrichtung“, „bewusste Hinordnung“, übersetzen kann.34 Diese Fähigkeit, sich bewusst an etwas zu halten – im Gegensatz zur Zerstreuung (distentio) –, wird zunächst geformt durch bewusste Erinnerung an Gott: „Beten, lesen, sich an Gott erinnern oder wenigstens oberflächlich an 35ihn denken“ – orando, legendo, recolendo vel saltem superficialiter cogitando. Der Mensch geht aktiv gegen die vielfältigen Zerstreuungen vor. Die zweite Stufe ist das Gesammelt-Sein (intentum esse), so dass der Blick habituell auf Gott gerichtet ist. Der vollendete Zustand der memoria aber besteht in einer besonderen Art der „Selbstvergessenheit“, wenn der Mensch in Gott „ruhen“ darf.36 Der Wille ist der Ort der Liebe, der eigentliche Ort der Tugenden, und der Ort der Vereinigung mit Gott, welche eine Einheit des Willens und der Liebe ist. Der 31 32

Marianne Schlosser (Theologie der Spiritualität. Quellentexte 3) Hamburg 2004, S. 51-79, 146-167. II, 9 (Anm. 13), S. 91. Der aufsteigende Dreiklang: findet sich u.a. bei HUGO VON ST. VICTOR, I, 10, 4 (Patrologia Latina 176, 332f.). BONAVENTURA verwendet diese Dreistufung als Gliederungsprinzip z.B. im Sermo theologicus IV ‚Christus unus omnium magister‘, Sancti Bonaventurae Opera omnia, Quaracchi 1889-1902, Band V, S. 567574. Im excessus mentis: II, 7 (Anm. 13), S. 89. David denkt den Begriff der intentio wie Bonaventura vom Verbum tenere her. Der eigentliche Akt der memoria – weswegen die ihr zugeordnete theologische Tugend die Hoffnung ist – besteht im „Fest-Halten“. Dementsprechend steht die memoria, obwohl als potentia animae dem kognitiven Vermögen zugeordnet, dem affektiven Vermögen nahe. II, 9, S. 91. II, 9, S. 91: Perfectio est, ita in Deum esse absorptum per mentis excessum, ut et sui ipsius Fides, ratio, contemplatio

De sacramentis

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et omnium, quae sunt, obliviscatur homo et in solo Deo absque omni strepitu volubilium cogitationum et imaginationum suaviter quiescat.

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Weg der Vervollkommnung des Willens beginnt mit dem entschiedenen Widerstand gegen Laster und der Bereitschaft, sich mit Ausdauer guten Werken zu widmen. Ein fortgeschrittener Zustand ist erreicht, wenn „alle Gefühle und Strebungen in Ordnung gekommen sind“ – omnes affectiones ordinatas habere. Die Vollendungsgestalt des Willens aber besteht darin, „eines Geistes mit Gott zu sein“ – unum cum Deo spiritum esse (vgl. 1 Kor 6,17). Daher steht der Wille im Zentrum der Aufmerksamkeit: Wir widmen uns zuerst den Ausführungen über die Erneuerung des Willens; denn Tugend wie Laster und Verdienst hängen vom Willen ab, und ebenso die Neigungen (affectiones), die sowohl zu Lastern wie zu Tugenden tendieren können. [...] Der Wille ist in der Seele gleichsam der Herrscher (quasi imperans), die Erkenntniskraft der Lehrer (docens), das Gedächtnis ist beiden zu Diensten (ministrans), dem einen stellt es zur Verfügung, was er befiehlt, der andern, was sie lehrt.37

Der Begriff oder , den David ebenso wie Bonaventura bevorzugt verwendet,38 besitzt den Vorteil einer großen Bandbreite: Er bezeichnet jede Art von Verhalten des Strebevermögens. Er 39kann daher sowohl für negative wie für positive Neigungen und Gefühle stehen); er kann sowohl für dauerhafte Haltungen wie für momentane Regungen von mehr oder minderer Heftigkeit gebraucht werden. Zudem ist der Begriff nicht auf die rein passive oder irrationale Seite des menschlichen Seelenlebens festgelegt. In ihm ist sowohl die Dimension des Gefühls und Empfindens, wie auch des aktiven40 Strebens und Wollens enthalten. Auch wenn David – anders als Bonaventura – keine ausgeformte Theorie des affectus

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affectio

primo de reformatione voluntatis; quia virtus et vitium et meritum dependent ab ea et affectiones, quae tam ad vitia quam ad virtutes inclinantur. [...] Voluntas est in anima quasi imperans, ratio vero quasi docens, memoria quasi ministrans utrique, illi quid iubeat, isti quid doceat. AUGUSTINUS, De Civitate Dei IX, 4, Hg. B. Dombart/ A. Kalb (Corpus Christianorum II, 9, S. 91f.: ...

Series Latina 47), Turnhout 1955, S. 251: Duae sunt sententiae philosophorum de his animae motibus, quae Graeci πάθη, nostri autem quidam sicut Cicero, perturbationes, quidam affectiones uel affectus (so Laktanz), quidam vero, sicut iste (gemeint ist der Platoniker Apuleius), de Graeco expressius passiones uocant. – Während BONAVENTURA sich um eine angemessene Definition von Passio (contra rationem) und Propassio (praeter rationem) bemüht (III. Sententiarum dubium 4: Opera omnia III, 342b; distinctio 16, 2, 1 ad 5: Opera omnia III 354b-355b; II Sententiarum distinctio 36, 1, 2: Opera omnia II, 846a-847a), tritt die Verwendung von passio bei David ganz zurück; zuweilen verwendet er vitium und turbatio zur näheren Qualifizierung habitueller bzw. heftiger negativer Affekte. Die Tugend ist definiert als affectus mentis ordinatus secundum iudicium veritatis: III, 27, S. 215. Wenn die affectiones des Menschen geordnet sind, ist er tugendhaft (virtuosus).Vom affectus internae devotionis zu sprechen qualifiziert die liebende Hingabe an Gott als „herzlich“ oder „innig“. Vgl. dazu DREYER, Elizabeth Ann, Affectus in St. Bonaventure’s Theology, in: Franciscan Studies 42 (1982), S. 5-20; DIES., Affectus in St. Bonaventure’s Description of the Journey

Die Leidenschaften der Seele bei David von Augsburg

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affectus vorlegt, ist nicht zu übersehen, dass voluntas und affectus von ihm austauschbar gebraucht werden können. Anzustreben ist die Freiheit von allen affectiones, welche die Begegnung mit Gott behindern, sei es aufgrund ihres vehementen Charakters, wie er bei Zorn oder Trunksucht manifest wird, oder ihrer lähmenden Wirkung, wie im Fall der Akedia, der falschen Scham oder ähnlichem; denn auch solche leisen und zähen Dispositionen können den Menschen ein Gutteil seiner Freiheit kosten. Zu den schädlichen affectiones zählt David nicht nur die klassische Zahl der Wurzelsünden (vitia capitalia) – bei ihm sieben an der Zahl41 –, sondern alle Fehlhaltungen im affektiven Bereich, auch „Stimmungen“ und „Anwandlungen“ wie Verzagtheit, oder deren Gegenteil: leichtsinnige Selbstsicherheit und Ausgelassenheit, Bitterkeit oder Ungeduld.42 Ihre Heilung setzt voraus, zunächst ihre Herkunft zu erkennen.

2. Die Heilung der Affekte Der Mensch war ursprünglich gut geschaffen und vom Schöpfer dazu bestimmt, ewiger Herrlichkeit und ewiger Wonne teilhaftig zu werden.43 Dieses Ziel sollte der Mensch „mit Leidenschaft“ ersehnen und begehren; dazu war ihm das begehrende Vermögen gegeben (concupiscibilis vis). Umgekehrt sollte er auch mit aller of the Soul to God, Dissertation Marquette University 1983 (University Microfilms International); SCHLOSSER, Marianne, Cognitio et amor. Zum kognitiven und voluntativen Grund der Gotteserfahrung bei Bonaventura (Veröffentlichungen des Grabmann-Instituts 35), Paderborn 1990, S. 37-55 und 73-75: Affectus bezeichnet nicht einfach ein passives Affiziertwerden, Mitgerissenwerden (affectus-passio), sondern eine Ausrichtung (affectus ut habitus) oder ein Verhalten (auch als affectio bezeichnet) des Strebevermögens (potentia affectiva). Bonaventura geht von zwei Ebenen des affektiven Vermögens aus, die aufgrund

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des Gegenstands unterschieden werden, auf den sie sich beziehen: dem sinnenhaften oder gefühlsmäßigen Streben (affectus sensibilis), welches das Pendant zur sinnlichen Wahrnehmung bildet, und dem voluntativen, d.h. mit der Erkenntnis verbundenen und frei gewählten Streben (affectus rationalis), das auf der gleichen ontologischen Ebene wie die Erkenntnis (intellectus) steht. Zugleich unterscheidet er zwei Betätigungsweisen des Strebevermögens, ein natürliches Streben (voluntas naturalis) und ein wählendes (deliberativa). Die zweite Unterscheidung steht nicht parallel zur ersten. In der Reihe der Laster ist bei David die vana gloria/kenodoxia unter die superbia subsumiert, dafür führt er (zum Beispiel in Kap. 38) den Hass (odium) eigens auf, der sonst meist mit der invidia verknüpft wird. David zählt einige derartige Anfechtungen auf in seiner Auslegung des Paternoster, 7. Bitte: Et ne nos inducas in tentationem: http://etext.virginia.edu/cgi-local/german/ (Stand 03.06.2007). II, 10 n.2 (Anm. 13), S. 92f.

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Kraft und Entschiedenheit abwehren, was diesem Gut im Wege stehen könnte, und zugleich alles festhalten, was dazu förderlich sein könnte; dies sollte die vis irascibilis leisten. Der Wille sollte sich also auf zwei Weisen betätigen: begehrend und kämpferisch-behauptend. Der appetitus honoris/gloriae ist ein Streben nach der höchsten vorstellbaren Ehre, nämlich Gott zu gefallen, Gottes Freund, Kind und Erbe zu werden, ihm ähnlich zu sein und mit ihm zu herrschen. Die Herrschaft, nach welcher der Mensch zu Recht verlangt, ist gebunden an die Ähnlichkeit mit Gott, und das heißt: an das Gut-Sein. Die höchste Ehre und Herrlichkeit eines Menschen besteht darin, niemandem unterworfen zu sein als Gott allein. Daraus folgt die Abwehr und leidenschaftliche Abscheu vor allem, was diesen Adel beeinträchtigen könnte: Haec erat sancta superbia omne indecens despicere et sola bona appetere et diligere (10, n.4). Stattdessen trat durch das falsche „Sein-Wollen wie Gott“ eine tief greifende Verkehrung ein: Die Sucht, Menschen zu gefallen und von ihnen Ehre zu erhalten, Mitmenschen gering zu schätzen und sie sich unterwerfen zu wollen, um selbst größer zu erscheinen, und aus völlig nichtigen und zufälligen Vorzügen, wie Reichtum, eine hohe Stellung zu beanspruchen. David kommentiert diese Pervertierung des „Hohen Mutes“ zum „Hochmut“ mit einem Psalmvers, der auf das Goldene Kalb anspielt: Die Israeliten tauschten ihre Ehre – nämlich die alleinige Abhängigkeit von Gott – für das Bild eines Kalbes ein, das Gras frisst: Et sic homines mutaverunt gloriam suam in similitudinem vituli comedentis foenum. Später (Kap. 35) wird David noch auf einzelne Spielarten des Hochmuts eingehen. Je objektiv höher das Gut (Können, Wissen, Tugenden, Gnadengaben), auf das sich der Mensch etwas einbildet, desto gefährlicher der Hochmut. Der appetitus delectationis44 war und ist dem Menschen gegeben, damit er sich nach der umfassenden Seligkeit (beatitudo) ausstrecke, für die er bestimmt

ist. Seligkeit, Glück und Freude zu genießen bedeutet, dem Leiden für immer entzogen zu sein (impassibilitas), im Glück zu ruhen (quies). Eine berechtigte Sehnsucht. Um Glück genießen zu können, muss man es ersehnen. Dazu sollte auch die sinnenhafte Freude beitragen: Durch das Entzücken der Sinne sollte der Mensch die geistigen Güter um so mehr zu schätzen lernen, die leiblichen Güter sollten ihm als Leiter zu den geistlichen dienen: Concesserat Deus homini delectari etiam in sensibilibus, sed ordinate et moderate et honeste, ut per sensuum delectationem sursum moveretur et promoveretur ad spiritalium cognitionem, delectationem et fruitionem.45 Stattdessen wurde durch die Abkehr von Gott die Wertigkeit umgekehrt: Der Mensch sucht seine Seligkeit nicht mehr primär in Gott, sondern in Gütern, die 44 45

II, 13, S. 99. II, 14, n.2, S. 100.

Die Leidenschaften der Seele bei David von Augsburg

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begrenzt sind. Das hat zum einen zur Folge, dass er Konkurrenten ausschalten muss; denn begrenzte Güter werden naturgemäß geringer, wenn sie von mehreren besessen werden. Zum andern bringen derartige Güter aufgrund ihres partikulären, vorläufigen und unsicheren Charakters die Versuchung mit sich, sie quantitativ anzuhäufen. Der Mensch verfällt der avaritia, um sich möglichst viel und „alles“ leisten zu können. Die inneren Folgen solchen Glückstrebens sind alles andere als beseligend: Den Menschen plagen Hass und Neid auf mögliche Konkurrenten, Bitterkeit, Zorn und schlechte Laune, Angst und Verzagtheit, dazu noch Überdruss und Ekel. Die affectiones, als von der Schöpfung her gegebene Möglichkeiten der Neigung und des Strebens, sind somit „deformiert“, aus der Ordnung gebracht, verkehrt – nicht aber weggenommen: deordinatae et quasi subversae, non autem subtractae. Die affektiven Kräfte des Menschen gleichen einem Musikinstrument, das zwar nicht zerstört, aber dessen Saiten völlig verstimmt sind: Statt Wohlklang bringt es schauderhafte Töne (horrendum stridorem) hervor, die Laster:

ist Liebe zur eigenen Vorrangstellung; der Hochmütige begehrt hoch hinaus, er hält sich selbst für großartig, will von anderen auch so geschätzt werden, und er will andere überragen. Neid ist Hass auf das Wohlergehen des Anderen. Der neidische Mensch empfindet es als Schmerz, dass ein anderer ihm gleich oder höher gestellt wird, er wünscht ihm Böses und ärgert sich über das Gut des Anderen. Zorn ist eine heftige Bewegung (commotio turbulenta) aus empörtem Widerwillen (indignantis animi). Der Zornige tobt und schäumt, wenn ihm etwas widerfährt, was seinem Willen entgegengesetzt ist.46 Akedia ist Überdruss am Guten, der aus einer Erstarrung (torpor) des Geistes kommt. Es kann vorkommen, dass dann grundlose Traurigkeit den Geist niederdrückt, oder aber die Unstete des Herzens den Menschen zu irgendwelchen Nichtigkeiten antreibt. Habgier ist das Verlangen, mehr zeitliche Güter zu besitzen als nötig. Essgier ist ungeordneter oder zügelloser Appetit. Unkeuschheit ist die unerlaubte Glut der Begierde oder die unerlaubte Ausübung geschlechtlicher Lust, sei es in der vollzogenen Tat, sei es im Verweilen der Gedanken. Auch wenn das – so wie sie sind – Laster und Sünden sind, so sind doch die Strebungen, insofern sie natürlich sind, von Gott gegeben. Sie sind gegeben als Regungen des Verlangens zum Guten hin, als Antrieb zur Tugend. Denn Gott erschafft nichts Schlechtes, vielHochmut

mehr ist ,alles sehr gut‘ (Gen 1,31).47

Die Überwindung dieser Fehlhaltungen ist demgemäß „nichts anderes als die Erneuerung der Affekte und Regungen, wie sie vom Schöpfer her gedacht und 46

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David führt aus, dass es sehr verschiedene Arten gibt: Zorn kann auch verborgen bleiben, oder sich ganz im Inneren des Menschen festsetzen, so dass es zum habituellen Groll (rancor) kommt. II, 16 n.3, S. 103f.

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eingerichtet waren“,48 nämlich als kräftige Unterstützung, um das Gute gern und leicht zu ergreifen und das Böse sofort abzuwehren.49 Daher stellt David zunächst die Frage nach der jeweils zugrundeliegenden, ursprünglich guten Form dessen, was jetzt zur Fehlhaltung geworden50 ist. Er versucht, jedem Laster gewissermaßen eine positive Seite abzugewinnen; denn in diese Richtung muss auch die Überwindung unternommen werden.51 Vom „heiligen Hochmut“, mit dem der Mensch sich seines gottgegebenen Adels bewusst sein soll, war schon die Rede. Mit ihm ist der affectus pudoris verbunden, die Scham, etwas zu tun, was dem eigenen tiefsten Wesen zuwider ist.52 Dass der affectus spei und der affectus timoris jeweils eine geglückte Gestalt annehmen können, aber ihre Zielrichtung auch verfehlen können, liegt auf der Hand. Die von Natur aus dem Menschen mitgegebene Kraft53der Hoffnung gelangt in der theologischen Tugend der Hoffnung zur Erfüllung. Der affectus spei ist aber auch gefährdet von zwei Extremen, deren Wurzel eine falsche Vorstel-54 lung von Gott ist, nämlich durch Vermessenheit und Argwohn gegenüber Gott. Ebenso hat auch der affectus timoris eine vollendete Gestalt in der Geistesgabe des timor Domini; dennoch macht auch dem Gläubigen die falsche Furchtsamkeit immer noch zu schaffen.55 Auch hinsichtlich der Affekte, die mehr mit der leiblichen Konstitution des Menschen zu tun haben, dem affectus dilectionis, der zum Laster der Unzucht abgeglitten ist, und dem appetitus victualium, der als Laster der Völlerei statt der Erhaltung der Gesundheit dem Gegenteil dient, finden sich in De compositione 48

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II, 17, S. 104: Expugnatio ergo vitiorum non est aliud nisi reformatio naturalium affectionum et motuum ad statum a Conditore dispositum. III, 27 n.2, S. 215: ... datae sunt ei in adiutorium affectiones ad fugam mali et apprehensionem boni ... Die hier gemeinten Affectiones sind Hoffnung und Furcht, Freude und Trauer, Liebe und Abscheu, sowie Scham. II, 17-28, S. 104-114. II, 29-50, S. 114-160: Beschreibung der Erscheinungsformen und Grade der einzelnen negativen affectiones, sowie der Heilmittel. II, 28, S. 113f. In verkehrter Scham dagegen gibt man zu viel auf den Eindruck, den man bei Menschen macht; man schämt sich wegen eines Missgeschicks, wegen eines falschen Tones beim Chorgesang etwa, oder man schämt sich gar der evangelischen Armut. II, 26, S. 111f.: Die Hoffnung, die sich auf Gott richtet, erwartet von ihm Gnade im jetzigen Leben, und die Verherrlichung im ewigen Leben; die Vergebung der Sünden, die Erhaltung im Lebensnotwendigen, die Befreiung vom Bösen und die Bewahrung im Guten. David denkt hier offenkundig an Gläubige, die so wenig Vertrauen in Gottes Güte haben, „als würde Gott seine Freunde und alle, die Buße tun und sich zu ihm kehren, ungnädig behandeln, verlassen und vor Hunger zugrunde gehen lassen“: II, 26, S. 112. II, 27, S. 112f. Das Heilmittel wäre, sich die Allmacht Gottes – und die Vergänglichkeit alles anderen – vor Augen zu halten.

Die Leidenschaften der Seele bei David von Augsburg

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detaillierte Ausführungen.56 Im Folgenden soll jedoch auf jene drei affectiones ein Blick geworfen werden, die im eigentlichen Sinn ‚Leidenschaften der Seele‘ sind: invidia/odium, tristitia/acedia und ira.57 Der ursprüngliche affectus invidiae soll sich gegen den Widersacher der Menschen richten, dem man keinen Erfolg, auch nicht eine Handbreit gönnen soll.58 Parallel und ergänzend zu diesem „heiligen Neid“ steht eine „heilige Habgier“, die man als geistliche Gewinnsucht umschreiben könnte. Diese richtet sich zum einen gegen eine falsche Selbstzufriedenheit und Bequemlichkeit im geistlichen Leben; zugleich treibt sie den Gläubigen dazu an, auch seine Mitmenschen für die Gottesliebe zu „gewinnen“: Er setzt sich nicht zur Ruhe mit dem, was er erreicht hat, sondern bemüht sich um seinen Nächsten: docendo, orando, bonum 59 exemplum dando, et iuvando ad profectum salutis. Den jetzt herrschenden affectus invidiae als Laster zeichnet David – wie etwa auch Bonaventura – als verwandt mit der Abneigung, ja als eine Form des Hasses (odium); denn er richtet sich in seiner abgründigsten Ausprägung nicht nur gegen Güter des anderen, sondern gegen dessen Person. Eine schwächere Form des Neides bzw. der Abneigung manifestiert sich bereits in der Gleichgültigkeit, der Ablehnung von Mitfreude und Mitleid: non gaudere de bono proximi, non dolere de malo proximi. Auch Gefühllosigkeit ist eine mala affectio. Der zweite Grad des Neides ist der Schmerz über das Gut des Anderen, der dritte Grad, zu dessen Nachteil und Schaden aktiv beizutragen. Als Heilmittel empfiehlt David zunächst einmal, nichts zu begehren, was durch Teilung geringer wird. Sodann führt er vor Augen, wie sinnlos diese verkehrte affectio ist, eine Leidenschaft, die wirklich Leiden schafft; denn der Neidische verzehrt sich selbst in seiner Missgunst. Es geht darum, die Wurzel der Missgunst, die Abneigung, zu überwinden. Die spezifische Tugend, die David gegen die Abneigung setzt, ist überraschenderweise nicht die Nächstenliebe, sondern die Hoffnung. Möglicherweise ist dies darauf zurückzuführen, dass er als Novizenmeister realistisch genug war, auch anzunehmen, dass es gute Gründe für die Entstehung von Abneigung gibt, die nicht sogleich zu überwinden sind. Werde man von Abneigung angefochten, dann solle 56

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II, 23, S. 109; 25, S. 110f.; 46f., S. 140-142; 49f., S. 147-160. Interessant ist etwa der Hinweis, dass die Gesundheit des Leibes durch schlichte, regelmäßig eingenommene Speisen gefördert wird, dass dagegen ständige Abwechslung von Speisen den Körper belastet. Als Heilmittel gegen Genusssucht nennt David die Einhaltung der Essenszeiten, die Armut als Gewähr für schlichte Speisen. Auch gebe es eine „innere Süßigkeit“, über der die Schmackhaftigkeit der Speisen an Wichtigkeit verliere. Manche, so bemerkt David ausdrücklich: auch Ordensleute, spotteten darüber – weil sie sie nicht kennen. II, 16 n.1, S. 102. II, 18, S. 104f. Die Analyse und Ratschläge zur Heilung finden sich in 36 und 37, S. 124126. II, 22, S. 108. Analyse und Heilmittel: 44 und 45, S. 136-140.

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man in die Zukunft denken: Wenn ein Mensch auch jetzt60 ein Gegner zu sein scheine, so könne er doch im Himmel ein Mitbürger sein. Man möge sich bemühen, dem Widerwärtigen besonders gut zu begegnen. Gewinne man ihn dadurch nicht, so gewinne man zumindest sich selbst; denn ständige Erinnerung an erlittenes Unrecht zerstört den Frieden des Herzens. „Es gibt ja sowieso so vieles, was uns belastet und zuwider ist, wenn wir uns auch noch so sehr bemühen, innerlich den Frieden zu wahren. Wenn wir uns das noch zusätzlich erschweren durch Gedanken der Abneigung61und des Grolls, werden wir eher zusammenbrechen als das alles zu verkraften.“ Die „Gott entsprechende Traurigkeit“ ist im Grunde Heimweh nach Gott, auch Schmerz über die eigenen Sünden, wie auch über die Sünden und die schlimme Lage von Mitmenschen. Diese Traurigkeit stammt aus der Liebe zum Guten und aus der Freude daran; darum ist sie niemals nur Trauer. Die böse Traurigkeit dagegen ist zunächst gekennzeichnet durch Maßlosigkeit, die „tödlich“ wirkt.62 Unter anderem Gesichtspunkt ist sie mit der acedia verwandt. David unterscheidet zwar wie Cassian und Evagrius grundsätzlich zwischen tristitia (perversa) und acedia, zeigt aber auch den Zusammenhang zwischen beiden auf: Eine bestimmte Art von Traurigkeit besteht in einer Leere oder Frustration, die gerade aus dem Überdruss am Guten kommt und sich trotz aller Bemühtheit um Ersatzbefriedigung (dissolutio) keinen Frieden zu schaffen vermag. Darüber hinaus zeigt die acedia jedoch noch andere Phänomene. Sie ist nicht nur eine verkehrte Traurigkeit, sondern vielleicht mehr noch – zumindest in einer ihrer Species – eine verkehrte Freude. Es scheint bezeichnend, dass David nicht zögert, vom „heiligen Hochmut“ und einer „gottgemäßen Trauer“ etc. zu sprechen, während er die der acedia positiv entgegengesetzte Haltung als affectus gaudii bezeich60

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II, 38 n.2, S. 127: Futuri enim domestici in domo Patris caelestis hic debent aeternae pacis foedus inchoare, quia quanto hic ferventior dilectio, tanto illic iucundior fruitio aeternae pacis. II, 38 n.3, S. 127: [...] studeas illi, qui magis est tibi contrarius, obsequiosior esse et affabilior; per enim lenis cor eius, si est intelligens, vel saltem cor tuum [...] Quid prodest homini, diu meminisse iniuriarum, nisi ut amplius inquietet et affligat seipsum. Tanta enim sunt nobis molesta, quantumcumque studemus in nobis esse pacifici; quodsi super hoc voluerimus nobis ea aggravare per odii et rancoris conservationem, citius obruemur, quam omnia resistendo vincamus. II, 20, S. 106: „Der affectus tristitiae ward dem Menschen gegeben, damit er trauere über

seine Sünden und die seiner Mitmenschen, damit er betrübt sei, dass der Himmel noch aufgeschoben ist, damit er Furcht vor der ewigen Strafe habe, über seine eigene Unvollkommenheit bekümmert sei und Mitleid empfinde mit dem Unglück und der Betrübnis anderer. So sollte er durch die Ernsthaftigkeit fruchtbarer Traurigkeit einer leichtsinnigen, gedankenlosen Lustigkeit entgehen. Doch diese gute, Gott gemäße Traurigkeit verkehrte sich in die ‚Traurigkeit der Welt, die den Tod wirkt‘ (2 Kor 7,10), in Verzweiflung, Verzagtheit voll Misstrauen, und Traurigkeit wider jede Vernunft .“ (irrationabilis moeror)

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net.63 In der „heiligen Freude“ hat ein Mensch Freude an Gott, Freude in der zuversichtlichen Hoffnung auf das ewige Leben, Freude beim Gedanken an das Gute, das ihm Gott erwiesen hat und erweisen wird, er freut sich über das Wohlergehen seines Mitmenschen, hat Freude am Lob Gottes und allen guten Werken – und Widerwillen gegen eitles und sinnloses Treiben (ut fastidiret omnia vana et inutilia). Die acedia erscheint als dessen genaues Gegenteil: Ausgelassenheit und Unernst (dissolutio, vanitas), Spaß an Überspanntheiten (insaniis falsis), an Spott und schlechten Scherzen – und Abneigung gegen „Göttliches“: Gebet, geistliche Lesung und Gottesdienst. Im zweiten Abschnitt des Buches II, wo die einzelnen Laster nach ihren Phänomenen eingehender beschrieben werden, wird die acedia in drei Typen eingeteilt. Die erste Form manifestiert sich in amaritudo mentis: Mißmut, Verbitterung, Freudlosigkeit. Als mögliche Wurzeln nennt David Ungeduld (als Charaktereigenschaft), oder Resignation64beziehungsweise Frustration, weil Bemühungen immer wieder gescheitert sind. Aber auch eine Erkrankung kann die Ursache für diese Gestimmtheit sein (melancholia); in diesem Fall bedarf es des Arztes. Eine zweite Art der acedia zeigt sich eher körperlich als starre Lustlosigkeit und Trägheit (torpor, pigritia). Die dritte Form ist Unbeweglichkeit und Widerwille gegen „Göttliches“, aber rasche Bereitschaft (agilitas) zu allem anderen. Entsprechend sind die anzuwendenden Heilmittel unterschiedlich: Der verbitterte Mensch soll seine Gedanken auf die Güte Gottes richten, der Träge bedarf der Strenge gegen sich selbst. Der zu geistlichem Fluchtverhalten Neigende darf nicht auf seinen Widerwillen achten, sondern muss sich trotzdem zu Gebet und Gottesdienst aufraffen. Der „heilige Zorn“ schließlich ist identisch mit „Eifer für die Gerechtigkeit“65 und sollte in erster Linie dazu helfen, mit angebrachter Empörung (indignatio) üble Einflüsterungen und Verführung zum Bösen abzuweisen. „Jetzt aber ist der Zorn zum Laster verkommen, zur besinnungslosen Wut und Tobsucht: Als hätte er den Verstand verloren, so wütet Mensch gegen Mensch, gegen den Freund und Nächsten, ja gegen sich selbst, manchmal auch gegen Heilige und gegen Gott, und manchmal gegen Dinge, die gar kein Empfinden oder keinen Verstand besitzen.“ David bemerkt, dass auch Aggressivität gegen sich selbst ein ZornPhänomen ist: Es kann sich in vergleichsweise harmloser Art zeigen, wenn jemand sich aus Zorn weigert, zu essen, aber auch in Selbstverletzung, oder in der Vernichtung von Dingen, die man selbst erarbeitet hat. Unbeherrschte Heftigkeit bis zur Tobsucht ist nur ein Phänomen des „Zornes“, ein anderes der rasche Ausbruch aus geringfügigem Anlass. Doch gehört dazu auch der nicht minder gefähr63 64

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II, 21, S. 106f. Inwieweit auch Ungeduld und Enttäuschung im geistlichen Leben zu solcher Bitterkeit führen können, beschreibt III, 4-8, S. 172-180. II, 19, S. 105f.

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liche Groll, der sich unter Umständen nach außen überhaupt nicht zeigt, sondern im Verborgenen schwärt. Jede Art von Zorn – und hier stimmt David wiederum66 ganz mit dem alten Mönchtum überein – ist eine Verblendung des Geistes. Nicht weniger detailliert als die Erscheinungsformen werden die empfohlenen Heilmittel beschrieben. Zuerst soll der durch ein zorniges Temperament Gefährdete sich daran gewöhnen, auf herausfordernde Situationen gefasst zu sein: primum provida praemeditatio illorum, quae possunt occurrere [...] ut ante pugnam se homo ad patientiam praeparet et hostem quasi in insidiis paratus exspectet.67

Denn wenn jemand erst dann zu den Waffen greifen wolle, wenn der Feind schon über ihm sei, werde ihm dafür weder genug Zeit bleiben, noch werde er, derart überrumpelt, auch nur einen vernünftigen Gedanken fassen können, wie er aus der Situation entkommen könne. Zweitens soll man sich bemühen, eine Eskalation zu vermeiden, indem man den aufkommenden Zornesausbruch zurückdrängt und den Mund hält, damit nicht andere mitgerissen werden. Zum Dritten rät David zur Ablenkung: Man beschäftige sich mit anderen Dingen, „die das Herz in Anspruch nehmen“, um die Aufregung zu vergessen. Viertens kann der Gedanke helfen, dass es doch schmachvoll ist, die Beherrschung zu verlieren. Dieses Motiv muss man freilich als unvollkommen bewerten, sofern man sich nur schämt, vor Menschen einen schlechten Eindruck zu machen. Wenn jemand aus Liebe zu Gott beherrscht bleiben will, dann ist das Motiv vollkommen.68 Fünftens schließ66

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II, 39, S. 128f. Die Beschreibung des Zornes ist sehr ausführlich: „Es gibt drei Arten von Zorn: Die erste besteht darin, sich sofort und aus belanglosem Grund aufzuregen – wegen eines leichthin gesprochenen Wortes oder einer solchen Handlung oder auch nur auf Verdacht hin. Manchmal zürnen wir sogar unvernünftigen Wesen, Tieren, oder einem Stein oder einem Stück Holz oder dem Schreibgriffel! – Die zweite Art ist der glühende, heftige Zorn. Manchmal entsteht er nur im Herzen, manchmal rötet sich auch das Gesicht und verzerrt sich, manchmal folgen wilde Gesten, in denen sich die innere Erregung widerspiegelt: Man schnaubt durch die Nase, das Gesicht wird bald blass, bald rot, die Augenbrauen ziehen sich zusammen, die Lippen beben, der ganze Körper ist unruhig. Manchmal bricht der Zornige in Worte aus, schreit, stößt Schmähungen und Schimpfworte aus, Flüche, Drohungen, Verwünschungen und Lästerungen. Manchmal zittert der Leib, als durchliefen ihn Fieberschauer, oder es ergreife ein Anfall von Wahnsinn den Geist. Manchmal erhebt sich die Hand, um einen anderen oder sich selbst zu verletzen, so dass jemand Hand an sich legt; oder dass er wegwirft oder zerstört, woran er gearbeitet hat. Manchmal lässt der Zornige nichts zu, was ihm gut täte, zum Beispiel Speise oder sonst etwas Nützliches. Der Zorn hat viele derartige Wirkungen; er bringt das Herz um den Frieden, vernebelt den Verstand und verwirrt das Gedächtnis. Und ebenso wie Rauch einen Gast aus dem Haus vertreibt, so vertreibt Zorn den Heiligen Geist, der nach einem ruhigen Herzen als seiner Wohnung verlangt, wie es im Psalm (76,2) heißt: Im Frieden ist sein Wohnsitz. – Die dritte Art von Zorn ist eine lang andauernde Erregung, die innerlich den Groll hegt und pflegt.“ II, 40 n. 1, S. 129. Dies wäre die Wirkung des rechten . affectus pudoris

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lich soll der Zornmütige sich angewöhnen, beim Aufflammen des Zornes vernünftige Gedanken zu fassen: etwa, dass der Zorn vielerlei Schaden bringt, aber meist nichts besser macht. Auch solle man sich klar sein, dass niemand auf dieser Welt allen Widerwärtigkeiten entgehen kann, auch nicht die Menschen, die der Welt dienen: sie haben oft noch Ärgeres zu ertragen. Denken wir daran, wieviel die Heiligen ertragen haben, und mehr als alle unser Herr Jesu Christus. Und wenn er so viel für uns ertragen hat, dann ist es doch nicht zu verschmähen, auch etwas für ihn zu ertragen [...]69

David von Augsburg war kein Theoretiker. Ihn interessierten die „Leidenschaften der Seele“ unter praktisch-spiritueller Hinsicht: Die Affekte, Gefühl und Temperament spielen im geistlichen Leben, einschließlich seiner zwischenmenschlichen Dimension, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Was wäre ein Mönch oder eine Nonne ohne fervor, ohne Leidenschaft für Gott? ‚Begeisterung‘ steht am Beginn des Ordenslebens und soll das ganze Leben hindurch vor dem Erkalten gehütet werden.70 Doch selbst diese notwendige Leidenschaft bedarf der Formung, damit sie nicht zum Beispiel durch Überforderung der körperlichen Kräfte ihr Ziel verfehlt.71 Die vollendete Gestalt des fervor schließt den apostolischen Eifer ein:72 zelus animarum et ordinatus iustitiae fervor, quo cupit omnes homines salvari.

Aber auch dieses Verlangen muss reifen: Predigen oder Beichtehören hält David erst nach verschiedenen Phasen geistlichen Wachstums für angebracht, damit die73 Begeisterung nicht durch Selbstüberschätzung um ihre Früchte gebracht wird. Ausgehend von der Überzeugung, dass die verschiedenen Affekte zur schöpfungsgemäßen Ausstattung des Menschen gehören und ihn auf dem Weg zu Gott kraftvoll unterstützen sollen, kommt es David darauf an, die ursprüngliche Gestalt unter den Verkrümmungen des postlapsarischen Zustandes aufzuweisen und konkrete Ratschläge für den Weg der Heilung der Affekte zu geben: ein im besten Sinn optimistisches Konzept, dem es dennoch nicht an Realismus gebricht. Denn dass es dem Autor von De compositione weder an Beobachtungsgabe noch an Erfahrung fehlte, wird nahezu auf jeder Seite deutlich. Nicht zuletzt darin dürfte die Stärke und Faszination seines Novizen(meister)handbuches liegen.

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II, 40 n.5, S. 132. II, 1 n.1, S. 66f. III, 1, S. 161-163. 2. Widmungsbrief, S. 61. I, 13 n.3, S. 18.

Rainer Jehl

Leidenschaft und Sünde. Zur Stellung der passiones animae in Psychologie, Sünden- und Lasterlehre sowie ErlösungslehreBonaventuras Schon ein erster Blick in die beiden allgemein zugänglichen Lexika, die Auskunft über mittelalterliche Begrifflichkeit und ihre Herleitung aus der Antike geben, lässt uns verwirrt zurück. Im großen „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ findet sich unter dem Stichwort passiones animae kein Eintrag, und man muss schon von sich aus darauf kommen, unter dem Stichwort „Affekt“ nachzuschauen, um fündig zu werden. Bei der Lektüre dieses Artikels wird einem spätestens nach einem angeführten Augustinuszitat aus De civitate Dei deutlich, mit welcher begrifflichen Vielfalt wir es im Mittelalter zu tun haben, wenn wir nach dem suchen, was wir seit der Renaissancezeit im Deutschen „Leidenschaften“ nennen: quae Graeci pathe, nostri autem quidam, ut Cicero, perturbationes, quidam affectiones vel affectus, quidam vero de Graeco expressius passiones vocant.1

Nach dieser Information stellt man dann aber fest, dass Bonaventura, der große Franziskaner, im Artikel gar nicht erwähnt wird, legt enttäuscht das Wörterbuch beiseite und greift zum „Lexikon des Mittelalters“. Man wird sofort unter passiones animae fündig, erfährt aber wiederum nichts über Bonaventura. Immerhin wird Johannes Duns Scotus als Vertreter der Franziskanerschule genannt.2 Dieser zweifache Befund verwundert angesichts der Bedeutung der voluntas affectiva bei Bonaventura und so soll hier versucht werden, diese Lücke in den folgenden vier Kapiteln zu schließen.3 1

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Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hg. Joachim Ritter, Band I, Basel/Stuttgart 1971, Spalte 91. Das Augustinuszitat ist De civitate Dei IX, 4 entnommen. Lexikon des Mittelalters, Band VI, München/Zürich 1993, Spalten 1769-1771. Hierzu besonders Franz SIROVIC, Der Begriff „Affectus“ und die Willenslehre beim Hl. Bonaventura. Eine analytisch-synthetische Untersuchung, Mödling 1965. Vgl. hierzu das

Kapitel „Das affektive Vermögen im vernünftigen Seelenteil des Menschen“ in: Rainer JEHL, Melancholie und Acedia. Ein Beitrag zu Anthropologie und Ethik Bonaventuras (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes, Neue Folge 32), Paderborn/München/Wien/Zürich 1984, S. 136 ff.

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Zuvor muss hier aber noch einführend über Bonaventura selbst kurz etwas gesagt werden: geboren im Jahre 1217 in der Nähe von Orvieto und Viterbo, also noch zu Lebzeiten des Heiligen Franziskus (+1226), kommt er gegen 1236 als Student der Artes nach Paris, tritt dort 1243 in den Franziskanerorden ein und studiert ab 1245 unter seinem Magister Alexander von Hales Theologie. Von 1253 bis 1257 nimmt er seine eigene Lehrtätigkeit auf. Dabei entsteht u. a. sein Sentenzenkommentar. 1257 wird er sowohl zum Generalminister des Franziskanerordens gewählt wie auch als Magister regens an der Universität von Paris anerkannt. Es gelingt Bonaventura die Einheit des Ordens zu wahren und dessen Spiritualität zu prägen. Mehrfach greift er mit Vorträgen (Collationes) in die Lehrstreitigkeiten um die Aristotelesrezeption an der Universität Paris ein. 1273 wird er zum Kardinalbischof erhoben und stirbt4 1274 während des Konzils von Lyon, das er maßgeblich mit vorbereitet hat. Als Generalminister war es Bonaventura kaum noch vergönnt wissenschaftlich zu arbeiten. So ist sein großer Sentenzenkommentar sein theologisch-philosophisches5 Hauptwerk geblieben, das auch der folgenden Analyse zugrunde gelegt wird. 1. Das Konzept der Leidenschaften der Seele und seine Herkunft im Sentenzenkommentar Bonaventuras Kommen wir also zum Lehrstück von den passiones animae, das Bonaventura vertraut ist, wenn er auch nur an wenigen Stellen seines Sentenzenkommentars explizit darauf eingeht. Indirekt ist dieses Erbstück aus der Antike aber immer wieder präsent, so zum Beispiel im Rahmen der Lehre von der Ursünde und den Folgen des Sündenfalls im Menschen;6 in der Lehre von der Zielgerichtetheit des Willens,7 vom Gewissen8 und der Synderesis;9

Nach: Jacques Guy. BOUGEROL, St. Bonaventure et la sagesse chrétienne (Collection microcosme: maîtres spirituels 30), Paris 1963. Doctoris Seraphici S. Bonaventurae Opera omnia, studio et cura PP. Collegii a S. Bonaventura, vol. I-IV, Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1882 sqq. In II Sententiarum d 36 a 1 q 2 (II, 845a-847b): Utrum passiones animae poenae tantum

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sint, an poenae simul et peccata. In II Sententiarum d 38 a 2 q 2 (II, 891a-984b): Utrum intentio in rationalibus se tenet ex parte intellectus, vel ex parte affectus. In II Sententiarum d 39 a 1 q 1 (II, 898a-900b): Utrum conscientia teneat se ex parte intellectus an ex parte affectus. In II Sententiarum d 39 a 2 q 1 (II, 908a-911b): Utrum synderesis sit in genere cognitionis vel affectionis.

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in der Christologie, wenn es um die Leidensfähigkeit Christi geht;10 im Rahmen der Behandlung der theologischen Tugenden11 sowie der Kardinaltugenden12 und des Dekalogs;13 und letztlich bei der Behandlung des Bußsakramentes hinsichtlich der Buße14 sowie der Zerknirschung des Herzens.15

Auch die letzten Dinge dürfen hier nicht fehlen, so besonders die Diskussion um die Höllenstrafe des Feuers und ihrer Wirkung auf Körper und Geist.16 Dabei spricht Bonaventura sowohl von passiones animae,17 wie von affectiones animae18 oder affectiones animi.19 Am klarsten kommt Bonaventura auf die Leidenschaften der Seele, animi affectiones, zu sprechen im dritten Band des Sentenzenkommentars bei der Abhandlung über die Hoffnung als einer der drei theologischen Tugenden: philosophi et sancti dicunt quatuor esse animi affectiones, videlicet gaudium et dolorem, spem et timorem, übersetzt: Philosophen und Heilige sprechen von vier Leidenschaften der Seele, nämlich von Freude und Schmerz, Hoffnung und Furcht.20 Als Quelle für diesen Quarternar haben die Herausgeber der Quaracchi-Ausgabe unter den Heiligen den Kirchenvater Hieronymus mit seinem Ezechielkommentar ausgemacht.21 Als philosophischen Gewährsmann führt Bonaventura selbst Boe-

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In III Sententiarum d 15 (III, 327a-342b): De passibilitate et defectibus a Christo assumtis in generali und In III Sententiarum d 16 (III, 345a-361b): De passione doloris et passibilitate specialiter. In III Sententiarum d 26 a 1 q 1 (III, 555a-558b): Utrum spes sit virtus gratuita; In III Sententiarum d 26 a 2 q 1 (III, 568a-571b): Utrum spes et timor sint unus et idem habitus an diversi und In III Sententiarum d 26 a 2 q 5 (III, 578a-581b): Utrum spes sit in parte animae cognitiae an affectiva. In III Sententiarum d 33 a unicus q 4 (III, 719a-721b): Utrum virtutes cardinales debeant esse tantum quatuor, an plures. In III Sententiarum d 40 a unicus q 1 (III, 884a-887b): De differentia utriusque legis penes radicem. In IV Sententiarum d 14 p 1 a 1 (IV, 317a-322b): De virtute poenitentiae absolute und In IV Sententiarum d 14 p 1 a 2 (IV, 322a-330b): De poenitentia in comparatione. In IV Sententiarum d 16 a 1 q 1 (IV, 383a-386b): De contritione qantum ad quidditatem. In IV Sententiarum d 44 p 2 a 3 q 1 (IV, 928a-930b): Utrum ignis inferni consumat corpora damnatorum und In IV Sententiarum d 44 p 2 a 3 q 2 (IV, 931a-935b): Utrum ignis inferni affligat spiritum. Zum Beispiel In II Sententiarum d 36 a 1 q 2 (II, 845a-847b) passim. Ebenda. In III Sententiarum d 26 a 1 q 1 concl (III, 556b). In III Sententiarum d 26 a 1 q 1 concl (III, 556a-b); vergleiche In III Sententiarum d 26 a 2 q 1 sed contra 1 (III, 569a) und In III Sententiarum d 26 a 2 q 5 concl (III, 580a). In III Sententiarum d 26 a 1 q 1 concl (III, 556a) Anmerkung 3.

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thius mit seiner Schrift über den „Trost der Philosophie“ an,22 wo es im siebenten Gedicht des ersten Buches heißt: Gaudia pelle Pelle timorem Spemque fugato Nec dolor adsit.23

scheuche die Freuden, jage die Ängste, wehre die Hoffnung, Schmerz sei verbannt!

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Man kann bei Bonaventura Versuche finden, das Wesen dieser vier Leidenschaften der Seele aus ihren Akten und diese wiederum aus den Gegenständen, auf die diese Akte grundsätzlich ausgerichtet sind, zu definieren. Er unterscheidet, ob es sich um etwas Zukünftiges oder Gegenwärtiges handelt, und so unterscheiden sich dann Hoffnung und Furcht von Freude und Schmerz. Geht man aber davon aus, dass das affizierende Objekt angenehm (conveniens) oder unangenehm (disconveniens) sein kann, so unterscheiden sich die beiden genannten Paare wiederum untereinander und es ergibt sich eine hinreichende Einteilung des Quarternars.25 Abgeleitet von den zuordenbaren Gegenständen ergeben sich dann die hauptsächlichen Akte der Leidenschaften: bei der Hoffnung etwa die vertrauensvolle Ausrichtung (confidentia, erectio) auf ein Erhofftes und bei der Furcht das Fliehen und Zurückweichen (fuga, resilitio) vor einem zu Fürchtenden, weil dieses nur unter Schwierigkeiten zu erreichen ist.26 Daran anschließend ergibt sich dann die Frage, wie dieser phänomenale Grundbestand der Leidenschaften in den sie überformenden habituellen Tugenden oder Gnadengaben sich durchhält. So kann der Begriff der „Hoffnung“ durchaus doppeldeutig sein: einmal bezeichnet er den theologischen Tugendhabitus der Hoffnung im Ternar mit Glaube (fides) und Liebe (caritas), ein anderes Mal aber die bloße Leidenschaft der Seele, wobei die Seele im letzteren Falle mehr unter dem Aspekt des auf die Seele zukommenden Leidens (passio), im ersteren eher als Ausgangspunkt der leidenschaftlichen Regung, ja Bewegung (motus) gesehen wird, welche von dem zuordenbaren Tugendhabitus oder aber auch einem entsprechenden Lasterhabitus (vitium) auf ein Gut oder Übel27hin gelenkt wird je nach der Maßgabe des freien Willens und seiner Entscheidung. Ähnliches läßt sich auch für die anderen Leidenschaften nachweisen, so zum Beispiel für die Leidenschaft der Furcht 22 23

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In III Sententiarum d 26 a1 q 1 sed contra 1 (III, 556a). Anicius Manlius Severinus BOETHIUS, Philosophiae consolationis libri quinque, Hg. Karl Büchner (Editiones heidelbergenses 11) liber 1, metrum 7, Heidelberg ³1977, S. 20. Übersetzung von Karl Büchner: BOETHIUS, Trost der Philosophie, übersetzt und herausgegeben von Karl Büchner, mit einer Einführung von Karl Klinger, Stuttgart 1978, S. 59. Vergleiche In III Sententiarum d 26 Dub 4 (III, 584b). In III Sententiarum d 26 a 2 q 1 concl (III, 569b). Vergleiche In III Sententiarum d 26 a 1 q 1 ad 1 (III, 556b).

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(timor) im Verhältnis zur Gnadengabe gleichen Namens, die zu den sieben Gaben des Heiligen Geistes gezählt wird.28 Entscheidend für Bonaventura ist aber nicht die Beschreibung der Leidenschaften gemäß ihrer Akte und Objekte, entscheidend für ihn ist vielmehr der Blick auf das Subjekt der leidenschaftlichen Regungen, das ihnen zugrunde liegende psychische Potential. 2. Die Eingliederung der affectiones animi in die Willenspsychologie Bonaventuras

Immer wieder stoßen wir in den Schriften Bonaventuras im Zusammenhang mit den Ausführungen zu den auf den Ternar der Seelenkräfte oder Seelenvermögen, das heißt auf das begehrende ( ), das zornmütige ( ) und das vernünftige ( ) Vermögen der Seele. Die beiden ersteren fasst er dann im affektiven oder appetitiven Vermögen ( ) der Seele zusammen und stellt dieses dem vernünftigen Vermögen gegenüber. In der Quaestio im dritten Buch des Sentenzenkommentars, ob die theologische Tugend der Hoffnung eher dem vernünftigen als dem affektiven Vermögen als ihrem psychischen Substrat zuzuordnen sei, weist Bonaventura die Leidenschaften der Seele ganz allgemein den beiden affektiven Seelenkräften zu. So ordnet er Furcht und Hoffnung als Leidenschaften dem zornmütigen Vermögen zu, dem begehrenden Vermögen entsprechend Freude und Schmerz. Das hat seinen Grund in der Ausrichtung der drei Seelenkräfte. Das vernünftige nämlich strebt nach Klarheit, das begehrende sucht die lustbetonte Erfüllung, wohingegen das zornmütige Vermögen 29auf sicheren Besitz und dauerhaftes Festhalten des zukünftigen Gutes aus ist. Bonaventuras Beschreibung der Ausrichtung der Seelenkräfte, über die wir zu einer Art Phänomenologie gelangen, wird noch untermauert, wenn er ihnen die ihnen zukommenden Gaben der Erfüllung zuordnet, so der die Schau ( ), der das Ergötzen30 ( ) und der das vollkommene Besitzen ( ). Ohne das hier weiter auszumalen, gilt es festzuhalten, dass die Leidenschaften der Seele stark durch die ihnen zugrunde liegenden seelischen Kräfte in ihrer Eigenart bedingt sind. Bis hierher dürfte Bonaventura relativ stark im allgemeinen Trend der Lehrmeinungen seiner Zeit liegen. Interessant wird die Zuordnung der Leidenschaften zu den Seelenkräften aber, wenn man genauer den Status der affektiven Seelenaffectiones animi

vis concupiscibilis

vis irascibilis

vis rationalis

vis affec-

tiva, appetitus

in pat-

ria

vis rationalis

delectatio

vis irascibilis

visio

vis concupiscibilis

perfecta

tentio

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Vergleiche In III Sententiarum d 34 p 1 Dub 1 resp (III, 752b). Hierzu Bonaventuras Ausführungen in: In III Sententiarum d 26 a 2 q 5 concl (III, 579b580a). In III Sententiarum d 26 a 1 q 3 concl (III, 562a).

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kräfte im Gefüge und in der Struktur der Seele und ihrer Vermögen betrachtet. Im Gegensatz zu Platon und Aristoteles, und damit auch zu Thomas von Aquin, setzt Bonaventura die beiden affektiven Seelenkräfte nicht nur im sinnlichen Teil der Seele an, sondern reklamiert sie auch für den rationalen Teil der Seele. Bonaventura ist sich der Sonderstellung seiner Meinung bewusst, beansprucht aber für sich das höhere Recht des Theologen gegenüber den Philosophen.31 Die Bezeichnung “Seelenteil“ suggeriert dabei ein allzu statisches Bild. Dabei handelt es sich eher um Einteilungen und Zuordnungen unter verschiedenen Gesichtspunkten. Entscheidend für die Rede Bonaventuras von einem affectus ratiocinatus oder rationalis ist die Zugehörigkeit zum Willen wie er von der Vernunft geleitet und gesteuert wird. Als solcher können die beiden affektiven Kräfte auch überhaupt „Wille“ genannt werden und damit jene Schubkraft bezeichnen, mit der der vernunftgesteuerte Wille als freier Wille seinem Ziel zustrebt. Unter diesem Gesichtspunkt kann dann noch der Begriff des appetitus rationalis oder ratiocinativus als synonym angeführt werden. Auch er umfasst die vis concupiscibilis und die vis irascibilis und32 ist natürlich hier als ein geistiges Strebephänomen im engeren Sinne zu sehen. Dieser appetitus ratiocinativus als vernunftgelenktes Streben kann in zwei Formen auftreten: einmal als ein naturhaft auf das Gute im allgemeinen (bonum honestum) ausgerichtetes Streben, das wir auch mit der Synderesisfunktion gleichsetzen können und einem appetitus deliberativus, den wir auch vernunftgesteuerten Willen (voluntas deliberativa ) nennen können, der sich für das Gute und das Böse entscheiden kann.33 Bonaventura nimmt hier die Zweiteilung der Willenskonzeption des Johannes Damaszenus in De fide orthodoxa auf mit dem Begriffspaar von thelesis und bulesis.34 Überhaupt könnte man aufzeigen, wie sehr die ganze Begrifflichkeit der Seelenkräfte bei Bonaventura einem synkretistischen Bestreben entspringt,35 platonische, aristotelische und augustinische Vorgaben in Einklang zu bringen. Im Zusammenhang mit unserem Thema ist es letztlich von Bedeutung, dass Bonaventura nicht wie die genannten Philosophen bei der Zweiteilung in einen vernünftigen und einen unvernünftigen Seelenteil stehen bleibt, wobei ausschließlich letzterem die beiden affektiven Kräfte zuzuordnen wären. Vielmehr sprengt er diese Zweiteilung und schiebt ein drittes Element ein, nämlich das affektive Vermögen, das Teil der freien Entscheidungsfähigkeit ist, als solches „freier Wille“ genannt wird, und insofern mit der Vernunftkraft partizipierend verbunden ist. 31

32 33 34

35

d 33 a unic q 3 concl (III, 717a). Vergleiche auch: In II d 25 p 1 a 1 q 6 ad 2 (II, 605b). In II Sententiarum d 24 p1 a 2 q 1 ad 2 (II, 561a). In II Sententiarum d 24 p1 a 2 q 3 concl (II, 566a-b). In II Sententiarum d 24 p 1 a 2 q 3 obj 1 (II, 565a). Vergleiche auch: In III d 17 a 1 q 2 arg 3 pro 2 parte (III, 366a). Siehe hierzu die Zusammenstellung in: JEHL (Anm. 3), S. 119. In III Sententiarum

Sententiarum

Sententiarum

Leidenschaft und Sünde

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So ist der Wille ein vernünftiges Streben. Was aber für das vernünftige Strebevermögen als ganzes gilt, das gilt auch für seine Kräfte: sie sind „vernünftig“ als Teile der freien Entscheidungsfähigkeit. Daher können sie Träger aller verdienstvollen Tugenden sein, der theologischen Tugenden wie der Kardinaltugenden als auch, wie wir gesehen haben, der Gaben des Heiligen Geistes. Beide Tugendgruppen und die Geistgaben haben den Ternar der Seelenkräfte concupiscibilis, irascibilis, rationalis in ihrer am Verstand teilhabenden Weise zum Subjekt. Dieses Subjekt kann aber dann auch Träger und Antrieb sündiger Entscheidungen sowie daraus resultierender Laster-habitus sein. Bei der Betrachtung des durch die Sünde fehlgeleiteten Strebens, Willens oder Affekts wird uns dann noch deutlicher werden, wie die Zuordnung der passiones animi zu den zwei affektiven Seelenkräften36 angesichts der Zweiteilung in sinnliche und vernünftige Affekte zu verorten ist. 3. Die passiones animae im Zusammenspiel mit den konstitutiven Elementen der Sünde Aus dem bisher Gesagten können wir verstehen, warum Bonaventura die Synderesis dem affektiven Vermögen zuweist. Sie ist jene dauerhafte dynamische Ausrichtung unseres Geistes im Sinne des Strebens auf das bonum honestum und des Fliehens

vor dem Bösen, die dem Gewissensurteil zu einer echten Dynamik verhilft, das heißt einer Bewegung auf ein erkanntes Gut hin oder einer Abwendung vom Bösen. Die Synderesis in ihrer Strebekraft steht im Verhältnis zum Willen als dem von37der Vernunft gesteuertem affektiven Streben oder Fliehen wie der Habitus zum Akt. Diesem naturhaften Anreiz zum Guten vergleicht nun Bonaventura auf der Ebene der anima sensitiva einen Drang zum Bösen in der sinnlichen Strebekraft.38 Als solcher ist dieser Drang nur böse durch einen exzessiven Gebrauch des zugrunde liegenden affektiven Vermögens, das ohne diesen Exzess als von Gott geschaffen gut ist. Was also mit der sündigen Konkupiszenz an der vis concupiscibilis auftritt, kommt nicht aus der Natur oder von Gott, sondern ist eine über das Maß hinausschießende Begierde, welche ihre Ursache nach Bonaventura eher in einer schuldhaften Verfehlung des freien Willens oder gar in einer Anstachelung des Teufels begehrt, was er hat.39 Das Ergebnis ist ein amor inordinatus, der entweder etwas nicht soll, oder das, was er begehrt, mehr begehrt als er soll.40 Er entfaltet sich im 36 37 38 39 40

Vergleiche hierzu: JEHL (Anm. 3), S. 92-174, hier besonders S. 173. Vergleiche: In II Sententiarum d 39 a 2 q 1 concl (II, 909b-910b). In II Sententiarum d 39 a 2 q 1 f 3 (II, 908a). In II Sententiarum d 32 a 2 q 2 concl (II, 768a-b). In II Sententiarum d 35 dub 2 (II, 836b).

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Ternar der concupiscentia carnis, der concupiscentia oculorum und der superbia

vitae.41

Unter dem unsere Untersuchung leitenden Gesichtspunkt fällt aber auf, dass uns hier das erste Duo der passiones animae, gaudium und dolor, nicht explizit begegnet. Das wird anders, wenn wir uns der irasziblen Kraft zuwenden mit dem ihr eigenen Akt des timor mali, des Zurückweichens vor einem Übel und zwar nicht als einem Übel an sich, sondern als einem mühevoll zu erreichenden Gegenstand (arduum). Diese Bewegung kann als Flucht vor einem wirklichen Übel im Sinne einer echten Mühe aber auch als ehrfürchtiges Zurückweichen vor einem als edel erkannten Guten auftreten.42 Die daraus resultierende Regung kann entweder als timor mundanus oder als timor humanus erscheinen, wobei es um die Angst vor dem Verlust irdischer Güter oder des irdischen Wohlergehens geht.43 Wichtig für uns bei diesen Beschreibungen ist, dass sie als initium, radix oder fomentum peccati, als Anfang, Wurzel oder Zunder zwar im Vorfeld des sündigen Aktes konstitutiv für dessen Entstehen sind, der sündige Akt letztlich aber in seinem Kern von der Zustimmung der Vernunft abhängt44und damit auch alle sündigen Habitus oder Laster, welche die Sünde voraussetzen. Es wird auf dem Hintergrund dieses Befundes Vorsicht geboten sein, wenn es um eine wertende Einordnung der passiones animae geht. Man wird sie nicht einfach als abzulehnende und zu meidende Regungen ansetzen können. Von ihrem psychischen Substrat her, den beiden affektiven Kräften der Seele, gehören sie zur naturhaften Grundausstattung des Menschen. Dass der Mensch sich freut, dass er Schmerz und zwar als sinnliches und psychisches Phänomen empfindet und dass er sich sehnsuchtsvoller Hoffnung hingibt und ängstliche Furcht empfindet, ist natürlich. Erst wenn diese Erfahrungen willentlich erfasst werden und so einer vernünftigen Beurteilung zugeführt waren, können daraus ungeordnete Regungen werden, sei es durch eine Ausrichtung auf das falsche Objekt, sei es durch einen Exzess des zuviel oder des zuwenig. Daraus können sich dann die habituellen Laster als Folgen entwickeln. Und diese Beobachtung gilt noch vor der Einteilung der Sünden in Erbsünde, Haupt- und Folgesünden. 4. Zur besonderen Stellung der passio doloris bei Bonaventura Hier ist natürlich das stoische Ideal der apathia in Frage gestellt. So ist es vielleicht von Interesse, wenn Bonaventura bei der Frage, ob in Christus die passio 41 42 43 44

d 15 p 2 a 1 q 4 concl (IV, 368b). d 34 p 2 dub 1 resp (III, 768a). d 34 p 2 a 1 q 2 a 4 (III, 758b). Vergleiche hierzu die Darstellung mit entsprechenden Belegen in dem Kapitel „Anfang, Wurzel und Zunder der Sünde“ in: JEHL (Anm. 3), S. 183-192. In IV Sententiarum

In III Sententiarum In III Sententiarum

Leidenschaft und Sünde

193

tristitiae gewesen sei, die ja gewiss zu den schmerzlichen Affekten der Seele gehört, auf Seneca zu sprechen kommt. Es geht dabei um das Adagium, quod tristitia non cadit in sapientem, demgemäß man Christus die Weisheit absprechen müsste, hätte er Traurigkeit empfunden.

Seneca aber wollte nicht beweisen, dass in der Seele des Weisen überhaupt keine Unruhe ( ) durch die Traurigkeit sein könne, sondern dass in ihr keine allzu starke Beunruhigung durch Traurigkeit stattfinden könne. Starke Beunruhigung ) heißt eine Abweichung der Vernunft von der Ruhe ( ). Und auf diese Weise leidet der Weise weder an Traurigkeit noch an übermäßiger Beunruhigung. Seneca wollte auch nicht zeigen, dass der Weise überhaupt keine Unruhe kennt. Das kann man nämlich überhaupt nicht bei jemandem finden. Außerdem ist es nicht ein Zeichen von Weisheit, keinerlei Unruhe oder Traurigkeit über jemanden anderen zu empfinden, eher wäre es ein Zeichen von Seelenverhärtung, weshalb der Apostel im Römerbrief 12,15 sagt: ‚freut euch mit den sich Freuenden und weint mit den Weinenden‘ 45 turbatio

(perturbatio

aequitas

.

Es gibt also eine Traurigkeit, die bereits vor der Herrschaft der Vernunft besteht und die einer gewissen Not ( ) und Bedürftigkeit oder einem Mangel ( ) entspringt als einer ursprünglichen Regung ( ). Als solche unterliegen ihr weise Menschen, gute und böse.46 Ob Bonaventura mit dieser Auslegung Seneca gerecht wird, sei hier dahingestellt. Auf dem Hintergrund des bisher Gesagten zur Abstufung der Affekte in einen sinnlichen, vorwillentlichen affektiven Bestand und einen als freiem Willen durch die Vernunft gesteuerten Affekt, leuchtet hier eine positive Sicht der sinnlichen Ausstattung der menschlichen Seele mit spontanen Regungen auf. In ihr zeigt sich eine Bejahung der Natürlichkeit des Menschen und seiner sinnlichen Erscheinungsweise, die ein typischer Ausdruck franziskanischen Geistes zu sein scheint. Dass dies bei der Empfindung so schmerzlicher Regungen wie der Traurigkeit exemplarisch aufgezeigt wird, zeigt übrigens die Verbindung zur franziskanischen Passionsmystik bei dem Franziskaner Bonaventura. Diese Verbindung wird deutlicher an einer Stelle in der Christologie, an der Bonaventura aufzeigt, dass Christus wirklich heftigste körperliche und sinnliche Schmerzen gelitten hat, und er so seine Menschwerdung in aller Gänze demonstriert und vollendet hat. necessitas

surreptio

motus primus

noch

45

46

In III Sententiarum d 15 a 2 q 2 ad obiecta 1-3 (III, 339a-b): Seneca enim non vult quod tristitia turbans non sit in sapiente, sed quod non est in sapiente tristitia perturbans. Perturbatio autem dicit deflexionem rationis ab aequitate; et hoc modo sapiens nec tristatur nec perturbatur. Non vult autem ostendere Seneca quod sapiens nullo modo turbetur; hoc enim est quasi impossibile in aliquo reperiri; et praeterea, nec turbari vel non tristari de quibus homo debet, id non est sapientiae, sed potius duritiae, cum dicat Apostulus ad Romanos 12,15: ‚Gaudere cum gaudentibus, et flere cum flentibus‘. In III Sententiarum d 15 a 2 d 2 concl (III, 338b).

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Wenn man nämlich die Art des Leidens betrachtet, war in ihm bitterster Schmerz einmal ganz allgemein, weil er an allen Gliedern gepeinigt wurde, dann aber auch wegen der anhaltenden Dauer seiner Pein. Ununterbrochen dauerte sein Hängen am Kreuz und die Nägel peinigten den Hängenden als seine Hände und Füße durchbohrt wurden. In diesen war die größte Pein wegen des Zusammenspiels der Muskeln und Nerven und weil dort die sinnliche Erfahrung am stärksten ist.47 Warum Bonaventura so großen Wert auf die passio doloris gerade in ihrer körperlichen und sinnlichen Ausprägung legt, wird in einem weiteren Text deutlich, mit dem Bonaventura jede Beschränkung des Leidens Christi auf ein bloß geistiges Geschehen, als Scheinleiden und damit als Angriff gegen die wahre Menschwerdung Christi anprangert. Zuletzt sei auch dieser Text in seiner Gänze zitiert, weil in ihm nicht nur noch einmal die Bedeutung der passiones animae für das Denken Bonaventuras aufscheint, sondern auch etwas von der Leidenschaftlichkeit erkennbar wird, mit der Bonaventura sein theologisches Denken im franziskanischen Geiste betreibt. Schlaglichtartig wird hier auch die Stellung Bonaventuras im gesellschaftlichen Kontext seiner Zeit sichtbar, der gekennzeichnet war durch die Herausforderungen der Katharer und anderer dualistischer Bewegungen an die Amtskirche, welchen die franziskanische Armutsbewegung gegensteuern wollte.

Ohne Zweifel war in Christus gemäß dem Evangelium und dem katholischen Glauben eine wirkliche Schmerzempfindung ( ). Er hatte nämlich einen Körper aus Fleisch, der leiden konnte und durchbohrt werden konnte und er hatte ein sinnliches Vermögen durch welches die Seele mit dem verletzten Körper mitleiden konnte. Denn diese beiden machen in Wahrheit den Schmerz aus, die echte körperliche Verletzung und die wahre Empfindung des Schmerzes. Beide waren wirklich in Christus und daher unzweifelhaft auch eine echte Schmerzempfindung. Wenn nun jemand etwas anderes behauptet, wie zum Beispiel einige Häretiker, so ist das der alte Irrtum der Sarazenen, dass Christus, auch wenn er zu leiden scheint und Schmerz zu empfinden scheint, dennoch nicht wirklich einen Schmerz hat und die Empfindung eines Schmerzes. Dann entleert jener nicht nur den christlichen Glauben und das Evangelium, sondern auch unsere Erlösung ihres Sinnes und sagt, dass Christus nicht Christus sei. Wenn er nämlich behauptet, dass er nicht wirkliche gelitten habe, dass er nicht Genugtuung geleistet habe und damit das Menschengeschlecht nicht erlöst sei. Wenn er schließlich sagt, er habe nur vorgegeben zu leiden, nennt er ihn einen Lügner. Dann kann er nicht Gottes Sohn und auch nicht Gottes Gesandter sein, damit aber auch nicht Mittler sondern eher ein Betrüger. Und daher wird jeder, der behauptet, dass Christus nicht vera passio doloris

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d 16 a 1 q 2 concl (III, 349a): Si autem consideretur modus patiendi, fuit in eo passio doloris acerbior, tum propter generalitatem, quia in omnibus membris affligebatur; tum etiam propter continuitatem, quia suspendium eius continuabatur et clavi adeo affligebant pendentem sicut afflixerunt quando manus eius et pedes confodiebantur, in quibus maxima erat afflictio propter nervos et musculos ibidem concurrentes, in quibus praecipue viget sensus.

In III Sententiarum

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wirklich Schmerz erlitten und empfunden habe, auch wenn er ihn äußerlich verehrt, ihn auf frevelhafteste Weise beleidigen.48

Auch wenn dieser Abschnitt nicht unbedingt ein Beitrag zum interkulturellen Dialog ist, so macht er doch an der passio doloris das inkarnatorische und antidualistische Grundanliegen der franziskanischen Frömmigkeit deutlich, das ja durchaus eine Bejahung des ganzen Menschen mit seiner Körperlichkeit und Sinnlichkeit aber auch mit seiner freien affektiven Bewegung zu Gott hin zum Ziel hat. Gott wird Mensch und das schließt die geistige, sinnliche und körperli-49 che Dimension des Menschen ein. Nur so wird der Sohn Gottes wahrer Mensch. Abschließend ist festzustellen, dass uns die Frage nach den passiones animae bei Bonaventura in das Herzstück seiner Theologie, nämlich in die inkarnatorische Christologie geführt hat. Gerade hier erweist sich Bonaventura als echter Nachfolger seines Ordensgründers Franziskus von Assisi. Es wird deutlich, dass die Frage nach der Stellung der passiones animae und die von Bonaventura gelieferten Antworten nicht nur ein literarisches Randstück seiner Theologie sind, dass sie vielmehr mitten in die grundlegenden Fragen nach der Stellung des Menschen in der Schöpfung und nach der Bedeutung der Erlösungstat des Gottessohnes durch seine Menschwerdung hineinführen.

48

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In III Sententiarum d 16 a 1 q 1 concl (III, 346b): […] absque dubio, sicut Evangelium dicit et fides catholica sentit, vera doloris passio fuit in Christo. In ipso enim fuit caro passibilis perforabilis, fuit etiam virtus sentiendi, secundum quam anima compatitur corpori laeso. Quoniam ergo haec duo verum dolorem faciunt, scilicet vera laesio et verus laesionis sensus, et haec duo vere fuerunt in Christo, indubitander tenendum est quod in Christo fuit vera doloris passio. – Nam, si aliquis aliter dicat, secundum quod quidam haeretici dicunt, et est error antiquus Saracenorum, quod Christus, etsi videretur pati et dolore, non tamen veraciter habuit dolorem et passionis sensum, non solum evacuat fidem Christi et Christi Evangelium, sed etiam evacuat redemptionem nostram et dicit Christum non esse Christum. Dum enim dicit ipsum non fuisse veraciter passum, dicit ipsum non satisfecisse, ac per hoc non genus humanum esse redemptum. Dum vero dicit ipsum simulasse se pati, dicit ipsum esse mendacem, et it nec vere fuisse Dei filium nec Dei nuntium, et ita nec mediatorem, sed potius deceptorem. Et propterea qui dicunt Christum non veraciter doluisse vel passum fuisse, etsi videantur ipsum exterius honorare, secundum veritatem blasphemant ipsum impiissime. In III Sententiarum d 2 a 2 q 2 concl (III, 46b-47a). Vergleiche hierzu: JEHL (Anm 3), S. 107-108.

Irmgard Rüsenberg

Erfüllung und Entsagung. Die Leidenschaft der Gottesminne bei Mechthild von Magdeburg 1. Gottsuche zwischen Gottesnähe und Gottesferne

Mechthilds von Magdeburg ‚Fließendes Licht der Gottheit‘ verfügt über eine ganz besondere Qualität. Wenn man von der Lektüre aufschaut, ist die Welt farbiger und frischer geworden, ihr Geruch intensiver, ihr Geschmack köstlicher. Eine enorme sinnliche Plastizität verleiht Mechthilds Himmel und Hölle ausmessender Prosa ihre charakteristische Erdung. Neben der bilderreichen Sprache ist es dabei vor allem eine markante affektive Bewegung, die diesem mystischen Text sein unverwechselbares Antlitz gibt. An die Brautmystik Bernhards von Clairvaux und Wilhelms von St. Thierry anknüpfend ist die Seele als Braut auf der leidenschaftlichen Suche nach ihrem göttlichen Bräutigam – und dieser seinerseits nach der menschlichen Seele. Beide verbindet eine extraordinäre Sehnsucht, die nur in der Vereinigung geistlicher gestillt werden kann, welche mit kühnen erotischen Metaphern umschrieben wird. Aber diese Vereinigung bildet mitnichten den Endpunkt von Mechthilds brautmystischem Entwurf. Vielmehr folgen Sehnsucht und Vereinigung aus der Perspektive der Braut immer wieder die unvermeidliche Trennung, neuerliches Warten und schließlich gar die vollständige Entsagung allen Genusses in der , der Gottesferne. Diese außerordentlich komplexe und weitgespannte emotionale Minnebewegung, welche die Seele auf ihrer Gottsuche mitmacht, wirft die Frage nach der spezifischen emotionalen Qualität der mystischen Erfahrung bei Mechthild auf, die Frage nach regressiven oder progressiven Tendenzen in der erfahrenen Gottesnähe und Gottesferne. Um diesen emotiven Bogen angemessen würdigen zu können, sollen an den mittelalterlichen Text die Horizonte einer neueren Emotionstheorie angelegt werden, die, in der Tradition abendländischer Affektdeutung stehend, in besonderer Weise um die Integration kognitiver und affektiver Aspek1

minne

gotzvroemdunge

1

Im Folgenden wird zitiert nach: MECHTHILD VON MAGDEBURG, Das fließende Licht der Gottheit, Hg. Gisela Vollmann-Profe (Bibliothek des Mittelalters, 19), Frankfurt a. M. 2003.

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te bemüht ist. In einem kurzen Abriss soll vorab dieser Deutungshorizont vorgestellt werden. Die herkömmliche Polarität von Affekt und Ratio mag man dabei heutzutage in den begrifflichen Prägungen von Primär- und Sekundäremotionen bzw. Basisund Distanzgefühlen wiedererkennen. Unter Primärgefühlen werden instinktgeleitete Emotionen verstanden, in denen Empfindung und Handeln weitgehend zusammenfallen, etwa in der Einheit von Angst und Flucht oder Begehren und Besitzergreifen. In ihnen agiert das Individuum auf hohem energetischem Niveau gleichsam als Medium seiner Triebkraft. Hiervon unterschieden werden die stärker kognitiv beeinflussten sogenannten Sekundäremotionen. Die diesen zukommende Symbolisierungsfähigkeit legt eine Distanz zwischen Impuls und Handeln und eröffnet neue Entscheidungs- und Handlungsspielräume. Eine moderne Emotionstheorie möchte die aufgezeigte Polarität zwischen Primär- und Sekundäremotionen, Instinkt und Kognition jedoch keineswegs als eine unilineare Aufstiegsbewegung verstanden wissen. Vielmehr stellt man sich eine intensive Hinund Herbewegung zwischen den Polen vor, in denen ein instinkthafter Urgrund gleichsam die Lebendigkeit bereitstellt, von dem stärker kognitiv bestimmte Strukturen notwendigerweise abhängig bleiben. Einen teilweise integrativen Ansatz zwischen rationalen und irrationalen Seelenanteilen vertritt auch bereits Aristoteles, wenn er im ‚Strebevermögen‘ die Bereitschaft eines irrationalen Seelenanteils verortet, auf die Vernunft hinzuhören und ihr als der sittlich Überlegene2

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2

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4

Vgl. u. a. BÜHL, Walter L., Zum Aufbau und zur Dynamik der Gefühle. Versuch einer katastrophentheoretischen Darstellung, in: Soziologie der Gefühle, Hg. Roswitha Schumann/Franz Stimmer (Soziologenkorrespondenz N. F. 12), München 1987, S. 106-138. Ins Auge fällt bei der gängigen Konstruktion von vier Grundgefühlen (Freude und Trauer, Angst und Wut) die nahezu identische Konstruktion mit den vier Hauptaffekten der Stoa. Bei Chrysipp sind es Begierde und Furcht, Lust und Schmerz: Stoicorum veterum fragmenta, Hg. Johannes von Arnim, Bd. 3, Leipzig 1903, S. 110 (456).Von Cicero übernimmt sie noch Augustinus als ‚cupiditas‘ und ‚timor‘, ‚laetitia‘ und ‚tristitia‘ (vgl. u. a. AURELIUS AUGUSTINUS, Die Bekenntnisse [Confessiones], Übertr., Einl. u. Anm. von Hans Urs von Balthasar, 2. Aufl., Einsiedeln, Trier 1988, S. 254: 10. Buch, XIV, 22). Max Weber hat hierfür den Begriff des affektuellen Handelns geprägt. Er führt im Rahmen seiner Handlungslehre die Kategorie des ‚affektuellen Handelns‘ ein, die sich im Gegensatz zu den anderen Handlungskategorien des ‚zweckrationalen‘, ‚wertrationalen‘ und ‚traditionalen‘ Handelns durch eine unmittelbare affektuelle Bedürfnisbefriedigung auszeichne: „Affektuell handelt, wer sein Bedürfnis nach aktueller Rache, aktuellem Genuß, aktueller Hingabe, aktueller kontemplativer Seligkeit oder nach Abreaktion aktueller Affekte (gleichviel wie massiver oder wie sublimer Art) befriedigt“: WEBER, Max, , 5., rev. Aufl. bes. von Johannes Winckelmann, Studienausg., Tübingen 1980, S. 12.

Wirtschaft und

Gesellschaft

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Erfüllung und Entsagung

ren zu gehorchen. An diesem Punkt mag man jedoch auch eine signifikante Akzentverschiebung im modernen Denken erkennen. Hier interessiert nunmehr vorrangig eine Abhängigkeit kognitiver Anteile von irrationalen Schichten. In den Blick gerät bei diesen emotionstheoretischen Ansätzen auch das subjektive Erleben von Freiheit und Zwang. Hingabe an den Triebimpuls mag zwar mit einem rauschhaften Einheitserleben verbunden sein, sie unterwirft den Betroffenen aber auch einem Handlungszwang, in dem er sich als fremdbestimmt erlebt. Diesem entrinnt er nur, wenn er es vermag, zwischen sich und den affektiven Impuls eine Distanz zu legen, in der sich kognitive Funktionen der Symbolisierung entfalten können, wobei ein solcher Prozess in der Regel nicht ohne negative Leidensgefühle abläuft. Für die emotive Bewegung unter dem Vorzeichen der Triebgefühle, in dem das Individuum von gegensätzlichen Emotionen, etwa Freude und Trauer, hinund hergeworfen wird, hält die moderne Theorie den Begriff des ‚katastrophischen Wechsels‘ bereit. An dessen Stelle tritt erst unter dem Vorzeichen von gleichsam gezähmten Sekundäremotionen mit vermindertem Affektausschlag mentale Beruhigung und Kontinuität, eine Denkbewegung, die ebenfalls bereits bei Aristoteles zu finden ist, der die Beziehung zwischen irrationalen und rationalen Seelenanteilen als die Beziehung zwischen einem Bewegten und einem Festen ansieht. Auch Mechthilds emotionale mystische Vorstellungswelt umreißt einen weiten Spannungsbogen zwischen Affekt und Selbstkontrolle, Genuss und Leiden, Nähe und Distanz. An dessen einem Ende steht die beseligende Einheit, die einunge, am anderen Ende leidvolle Gottesferne, die vroemedunge. Beide Zustände stehen, wie zu zeigen sein wird, in einer dialektischen Wechselbeziehung, welche die charakteristische Dynamik von Mechthilds Gottessuche ausmacht. Beiden Erfahrungen, und dies steht im Fokus unserer Aufmerksamkeit, gilt Mechthilds spirituelle Hingabe. Diese dynamische Bewegung soll anhand einiger ausgewählter Kapitel vorgeführt werden. 5

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2. Dramatischer Wechsel: Ekstatische Einheitserfahrung und leidvolle Trennung Im zweiten Kapitel des ersten Buches: Von drin personen und von drin gaben wird die geistliche Aufstiegsbewegung der Seele als ein Verlassen des Körpers 5

6 7

ARISTOTELES, , Übers. u. Nachw. Franz Dirlmeier, Stuttgart 1992, S. 29-33: Buch I, 13. Vgl. BÜHL, Walter L. (Anm. 2). Irrationales entspricht einem Bewegtwerden, Rational-Sittliches einem Dauerzustand oder einer festen Grundhaltung: ARISTOTELES, (Anm. 5), S. 42: Buch II,4. Nikomachische Ethik

Nikomachische Ethik

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geschildert. Die Emanation des Göttlichen in die Seele erfährt diese als einen Gruß der fliessenden drivaltekeit (20,26), der dem lichamen (20,27), dem Körper, seine Kraft raubt. Mit höfischem Gebaren empfängt und grüßt dann in diesem Bild der dreifaltige Gott die Seele, kleidet sie in vornehme Kleider und gibt, wie es heißt, sich selbst in ihre Gewalt (22,5), denn Minnebewegung und Hingabe zwischen Gott und Seele sind zutiefst wechselseitig. Diese, beide Personen überschreitende Bewegung, die sich im Raum der Minne ereignet, mündet dann in eine Aufhebung aller Unterschiede, eingebettet in ein geistlicherotisches Spiel in einem intimen Raum der Heimlichkeit und Exklusivität: ...wan er wil alleine mit ir spilen ein spil, das der lichame nút weis... (22,9/10). Dann heißt es jedoch bald: Wenne das spil allerbest ist, so muos man es lassen (22,18), und Gott spricht: ‚Juncfrou, ir muessent úch neigen‘, ‚ihr müsst niedersteigen‘ (22,19). Die Trennung geht dabei, anders als die Vereinigung, stets von der männlichen göttlichen Person aus, und die Seele erleidet die neuerliche Rückkehr in den irdischen Körper in Demut: ‚Lieber herre, es muos sin als der wirt gebútet‘ (22,26/27). Allerdings vermittelt diese Aussage vor dem Hintergrund, dass die göttliche Person unmittelbar vorher noch ihr Wohlgefallen an der Sehnsucht der Seele geäußert hat (22,23-25), auch eine aktive Bekräftigung der Trennung seitens der Seele. Der Körper beklagt sich nun bei der Rückkehr der Seele über seine Entkräftung, während die Seele ihrerseits den Körper als ihren Mörder und Feind anspricht, der die Grenzen markiert, in die sie sich neuerlich zu schicken hat. Zum Schluss des Kapitels heißt es dann: Disen gruos mag noch muos nieman 8

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enpfan, er si denne úberkomen und ze nihte worden. In disem gruosse will ich lebendig sterben (24,6-8).10 Der Gruß ist hier also das Geschehen, von dem ein

Ich gänzlich überwältigt wird, in dem es sich selbst aufgibt, und das Subjekt einen Tod bei lebendigem Leib erlebt. Ein halbes Jahrhundert später wird dieser zentrale Gedanke abendländischer Mystik bei Meister Eckhart als der Gedanke des Lassens philosophisch-spekulativ entfaltet werden. In ihm ist die Möglichkeit der Aufhebung aller Dualität grundgelegt, sofern der Mensch bereit ist, all sein selbstbezügliches Trachten zu lassen. Bei Mechthild vollzieht sich diese Einswerdung nun auf der Basis einer starken affektiven Bewegung, der gerunge, der Sehnsucht zwischen Gott und der 11

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Diese Vorstellung geht zurück auf die neuplatonische Emanationslehre des Dionysius Areopagita (vgl. Stellenkommentar 20,25 in MECHTHILD VON MAGDEBURG, Anm. 1, S. 706). ‚Lieber Herr, es muß geschehen, wie der Hausherr befiehlt‘ (23,30/31). Diesen Gruß kann und wird niemand empfangen, er sei denn überwältigt und zunichte geworden. In diesem Gruß will ich lebendig sterben (25,11/12). Zum Thema des Sterbens in der Minne und des Selbstverlustes vgl. u.a. S. 23,30/31; 25,11/12; 26,21/22; 38,4; 48,15/16; 76,14; 576,9/10.

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Seele, welche die einunge, die Einheit sozusagen als Geschenk mit sich bringt. Eine Differenz zwischen Subjekt und Objekt verschwindet schließlich auf dem Höhepunkt der Minnebegegnung, weil ein Subjekt, das ein Objekt noch begehren und wahrnehmen könnte, sich im hingebenden Genuss, der lust, gebruchunge und süesse, wie es bei Mechthild heißt, gänzlich aufgibt. Als eine ekstatische brautmystische Begegnung wird die Vereinigung von Seele und Gott auch in dem viel beachteten 44. Kapitel des ersten Buches geschildert. Der göttliche Bräutigam befiehlt dort der Seele sich auszuziehen und diese spricht: 12

‚Herre, nu bin ich ein nakent sele und du in dir selben ein wolgezieret got. Únser zweiger gemeinschaft ist das ewige lip ane tot‘. So geschihet da ein selig stilli nach ir beider willen. Er gibet sich ir und si git sich ime. Was ir nu geschehe, das weis si, und des getroeste ich mich. Nu dis mag nit lange stan; wa zwoei geliebe verholen zesamen koment, si muessent dike ungescheiden von einander gan (64,17-24).13

Die ist demnach bei Mechthild ein durchaus zwiespältiges Ereignis, weil sie nicht ohne Trennung erfahrbar ist. Allerdings wird die schmerzhafte Trennung bei Mechthild durch eine untergründig präsent bleibende Ungeschiedenheit der Liebenden wieder relativiert. Die ‚unio‘ ist zwar nicht ohne Trennung denkbar, aber umgekehrt die Trennung auch nicht ohne eine tiefgründige Einheit. In Mechthilds Brautmystik greifen die Vorstellung einer neuplatonischen Aufstiegsbewegung, in der sich die Seele Gott als der allein bewegenden Kraft aufsteigend nähert bzw. dieser wieder entsinkt und eine qualitativ anders gelagerte Vorstellung von zwei ebenbürtigen Liebespartnern ineinander. Die Vorstellung zweier Liebender, die sich wechselseitig begehren, aber treibt notwendigerweise das Moment der Trennung aus sich hervor, denn ohne ein getrenntes Gegenüber kann es auch keine Bewegung aufeinander zu geben. Die beseligende unio aber hat in diesem Modell einen stark regressiven Charakter, weil sie der als Person gedachten Seele zwar die Wonne der Einheit schenkt, aber auch etwas nimmt, nämlich personale Integrität. Leidend und aufbegehrend sehnt sich die in ihren Körper zurückgekehrte Seele nach einer erneuten Entunio mystica

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Von der minne weg an siben dingen, von drin kleiden der brúte und von tantzen (58). ‚Herr, nun bin ich eine nackte Seele und du in dir selbst ein Gott in großer Herrlichkeit. Unser beider Gemeinschaft ist das ewige Leben ohne Tod.‘ Darauf tritt da eine selige Stille ein, wie es beide wollen. Er schenkt sich ihr, und sie schenkt sich ihm. Was ihr jetzt geschieht, das weiß sie – und dies ist mein Trost. Nun kann dies nicht lange währen; wo zwei Liebende heimlich zusammenkommen, müssen sie immer wieder auseinandergehen, ohne sich doch zu trennen (65,28-36). Vgl. SIMMEL, Georg, Die Persönlichkeit Gottes, in: Simmel, Georg, Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais, mit einem Nachwort von Jürgen Habermas, Berlin 1983 (1923), S. 154-168, hier S. 161.

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grenzung. In der Ablehnung bzw. dem Hadern mit seiner Körperlichkeit spiegelt sich dabei, wenn man so will, eine Selbstentfremdung des Subjekts wider, das ein beseligendes Ganzheitserlebnis mit einer diesseitigen Entzweiung, mit einer Dissoziierung seiner selbst und einem harten Aufschlag bezahlt. Die beseligende Gottesnähe stellt nur den einen Pol einer umfassenderen Spannung dar. Insofern verfügt die unio, indem sie die unvermeidliche Trennung mit sich bringt, gleichsam über eine negative Kehrseite. Eine spezifische Leidensbereitschaft nimmt aber diese Gottesferne bereitwillig auf sich, um daran zu wachsen.

3. Perspektive der Integration: Distanzierte Gottesnähe, selige Gottesferne In besonderer Weise setzt sich das zwölfte Kapitel des vierten Buches15 mit der Thematik der gotzvroemdunge, der Gottesferne, auseinander.16 Das Kapitel nimmt

die Situation der bräutlichen Seele nach erfahrener Vereinigung und Trennung zum Ausgangspunkt, in der diese sich ihre Untröstlichkeit nicht durch die Angebote eines Trostes aus zweiter Hand nehmen lässt, weder durch die Schönheiten dieser Welt, noch durch das Himmelreich oder die Heiligen. Allein Gott selbst in der Gestalt von Gottes Sohn kann ihr Trost spenden: Mir smekket nit wan alleine got... (258,33). Auf eben jenes innige Schmecken Gottes ist die Seele allerdings bereit zu verzichten, um Gottes Lob zu mehren. Wenn sie sich selbst nicht dazu in der Lage sieht, will sie allen Geschöpfen auftragen, Gott an ihrer Stelle zu preisen. Im Anblick dieses großen Lobpreises verschwindet dann all ihr Weh (260,6). Die Seele wandelt ihre Entfremdung und Sehnsucht nach der Nähe Gottes also in eine Bewegung um, in die alle Geschöpfe dieser Welt einbezogen werden und die in einen großen Lobpreis Gottes mündet. Es wird jetzt nicht mehr das Bild der Verschmelzung zweier Liebender, das keinen Beobachter zulässt, geboten, sondern ein orchestraler Gleichklang aller Geschöpfe, den Gott genießt. Aus einer exklusiven Liebesbeziehung ist eine includierende kosmische Umarmung geworden, in der die Seele selbst ihr Vermögen an andere abgegeben hat (258,35-260,1). 15

16

Wie die brut, die vereinet ist mit gotte, verwirfet aller creaturen trost sunder alleine gotz, und wie si sinket von der pine (258). Zur Thematik der gotzvroemdunge vgl. auch STADLER, Helena, Konfrontation und Nachfolge. Die metaphorische und narrative Ausgestaltung der unio mystica im Fliessenden Licht der Gottheit von Mechthild von Magdeburg (Deutsche Literatur von den Anfängen

bis 1700, Bd. 35), Bern u. a. 2001, S. 156-173. – Seelhorst nimmt das Phänomen unter der Perspektive der ‚compassio‘ in den Blick: SEELHORST, Jörg, Autoreferentialität und Transformation. Zur Funktion mystischen Sprechens bei Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart und Heinrich Seuse, Tübingen, Basel 2003, S. 107-115.

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Nach Ablauf von acht Jahren des Trostes in dieser Art einer qualitativ andersartigen, distanzierteren Gottesnähe, aber wartet in diesem Kapitel auf die Seele eine weitergehende Prüfung (260,13 ff.). Nach dem Muster der ‚sinkenden Minne‘ fällt sie jetzt ab unter die büßenden und verlorenen Seelen in qualvolle Finsternis. Der Herr fragt sie: ‚Wie lange wilt du hie wesen?‘ Die brut: ‚Eya, entwich mir, lieber herre, und la mich fúrbas sinken durch din ere‘ (260,2830). Damit wird die Entfernung zu Gott in einer Bewegung des Sinkens weiter vergrößert, aber nicht etwa als ein unfreiwilliges Erleiden, sondern vielmehr als ein aktiver Wunsch der Seele: Die Seele ist hier selbst die treibende Kraft ihres Abstiegs. In der Finsternis verliert sie dann alle Erkenntnis, Licht und Liebe und verfällt in Unglauben. Jetzt spricht die Seele: ‚Wa sint ir nu, vro stetekeit? Heissent den waren glouben zuo mir gan‘ (262,5-6). Über diesen wahren Glauben aber hört die Seele Folgendes: Gottvater fordert sie auf, sich dessen zu erinnern, was geschehen war, als es nichts zwischen ihm und ihr gab. Gott-Sohn fordert sie auf, sich ihrer durchlittenen Qualen zu erinnern und der heilige Geist spricht: ‚Gedenk, was du geschriben hast‘ (262,10/11). In einem Moment größter Gottesferne und Selbstentfremdung ergeht also der Appell an die Seele, sich gleichsam erinnernd wieder zusammenzufügen, sich erfahrener Freuden und Leiden zu vergewissern und darüber hinaus ihres Schreibens. Gott lenkt den Blick der Seele auf sie selbst zurück und veranlasst sie, sich einen neuen symbolischen Raum aufzuschließen, der den Zwang der Gefühle in einer selbstreflexiven Distanz übersteigt und transferiert. Der dreifaltige Gott, der mit sich selbst im Austausch steht, indem er sich in verschiedene Instanzen teilt und doch eins bleibt, der als Vater die Einheit des Alls verkörpert, als menschgewordener Sohn Trennung und Begrenzung durchleidet und als Heiliger Geist das vermittelnde Wort verkörpert, spricht zu der Seele und liefert ihr den Spiegel, in dem sie sich selbst in einer neuen Subjekthaftigkeit erblicken kann. Entsprechend heißt die Seele im Folgenden nun eine selige Gottesferne (262,17) willkommen und feiert diese mit den Worten: ‚du galle ist honig worden in dem guome miner sele‘ (262,23-24), ‚die Galle ist zu Honig geworden im Gaumen meiner Seele‘. Als die Seele alle Geschöpfe erneut bittet, den Herrn zu loben, kehren diese ihr nunmehr den Rücken zu, was die Seele jedoch unendlich froh macht: ‚Nu ergat an mir sin ere, wan nu ist got wunderlich mit mir, nu mir sine vroemedunge bekemer ist denne er selber‘ (262,29-31). Nun, 17

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‚Wie lange willst du hier bleiben?‘ Die Braut: ‚Ach, verlaß mich, lieber Herr, und erlaube mir, tiefer zu sinken, um deiner Ehre willen‘ (261,37-263,2). ‚Wo seid ihr nun, edle Beständigkeit? Bittet den wahren Glauben, zu mir zu kommen‘ (263,15/16). ‚Nun erweist sich seine Ehre an mir, denn jetzt, da mir Gottes Ferne heilsamer ist als er selbst, ist er auf unbegreifliche Weise mit mir‘ (265,3-5).

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da ihr neben der Gottesnähe auch die Gemeinschaft mit den Geschöpfen genommen ist, da sie endgültig haltlos geworden nur noch in sich selbst Halt findet, ist Gott mehr denn je ‚wunderlich mit ihr‘, wie es im Text heißt. In dieser neuen Verlassenheit vollzieht die Seele aber noch einen weiteren Schritt. Die Seele antizipiert, dass Gott sie trösten will und bittet ihn von daher, ihr fern zu bleiben. Auch als Gott nun seinerseits sein ungestilltes Begehren an sie heranträgt, kann sie dies nur annehmen unter der Bedingung, dass allein ihm dabei wohl sei. Das Subjekt verteidigt gleichsam einen neuen Raum der Unabhängigkeit, indem es sich verweigert und selbst neue Bedingungen vorgibt. Danach aber fällt die bräutliche Seele in noch tiefere Finsternis, in der sie ihren Leib vor Qual krümmt. Die aufsteigende pine, der Schmerz, aber, der Einlass ins Himmelreich erbittet, wird abgewiesen, er darf nur der Bote der Seele sein. Von dieser aber wird als Bedingung für den Einlass erwartet, dass sie steteklich und wise (264,14), ‚beständig‘ und ‚weise‘ sei. Der katastrophische Wechsel von ‚unio‘ und Trennung, um den emotionstheoretischen Terminus aufzunehmen, wird also abgelöst durch ein neues Ideal der Beständigkeit. Gott ist damit nicht mehr der Gott der süessekeit, er ist aber auch nicht die pine, der Schmerz, sondern er wird jetzt von der Seele am Grunde ihrer stetekeit, ihrer Beständigkeit erfahren. Dieser Gotteserfahrung liegt nicht mehr die affektive Bewegung der gerunge, der brennenden Sehnsucht, zu Grunde, sondern das Beharrungsvermögen der Seele, das eine neue Einheit in der Imagination und im Glauben findet. Wo die affektive Bewegung einen Wechsel von Glück und Entbehrung mit sich bringt, wo eine beseligende Selbstentgrenzung mit einer schmerzhaften Verlusterfahrung auf dem Boden der Realität bezahlt wird, bleibt das Subjekt in der kontrollierten Gottesferne gleichsam Herr im eigenen Haus. Weil ihm erinnernd und imaginierend seine Lust und sein Leid zur Verfügung stehen, kann es die Gottesferne als einen Zustand annehmen, der so relativ ist, wie die unio-Erfahrung selbst. Einheit stiftet jetzt das Bewusstsein, das beide Pole integriert. Das Subjekt versucht nicht mehr der Dualität des Daseins in der Selbstauslieferung an einen der beiden Pole zu entkommen, sondern findet eine neue Einheit in der imaginativen Zusammenschau beider. Und indem es beide Pole aus der Distanz in ihrer Bezogenheit erkennen kann, findet es seine Freiheit in der Wahl der Entsagung wieder. Der ‚wahre Glauben‘ appelliert also an die sich vom aktuellen Genuss oder Schmerz lösende Vorstellungskraft und an die denkende Zusammenschau. Gott ist nunmehr ein Entwurf von Einheit, in dem sich das Subjekt von den Wechselfällen seines Begehrens emanzipiert. Aber auch bei Mechthild triumphiert nicht einfach der Logos über den Affekt, geht es nicht einfach um Selbstbeherrschung als Ziel: Die feurige Sehnsucht nach Gott bleibt bis zum Ende für Mechthild zentral. In ihrem letzten, 7. Buch heißt es: Owe leider, min alter stat mir nu sere ze scheltende, wan es ist unnútze an schinenden werken und ist leidor kalt an gna-

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den. Es ist ouch unmehtig, das es der jugent nit hat, da es die vúrigen gotz minne mitte tragen mag (536,19-22).20 Die relative Absenz einer vormals leidenschaft-

lich beseelten Gottesbegegnung gibt ihr im Alter Anlass zur Klage und bleibt damit bis zum Schluss ein wesentlicher Bezugspunkt ihres Denkens. Einer regressiven Einheitserfahrung wird also keineswegs ihr Rang streitig gemacht, vielmehr stellt diese den Grundtonus ihrer religiösen Existenz bereit. Die Seele, die als Alter Ego Mechthilds auftritt, wächst jedoch an der damit verbundenen Verlusterfahrung. Passiv erlittene Trennung münzt sie in freiwillige Entsagung um, das Hadern mit dem Verlust überführt sie in ein demütig angenommenes Leiden und öffnet damit das Tor für ein qualitativ neues Gotteserlebnis. In der nunmehr erworbenen stetekeit vermag sie auch noch am Grunde von Einsamkeit und Schmerz Gott zu spüren. Gott ist ihr gleichsam noch einmal größer und weiter geworden – und damit auch sie sich selbst. In der mentalen Distanzierung lernt sie die Spannung zwischen Erfüllung und Verzweiflung auszuhalten und damit eine ins Unbewusste reichende Entgrenzungserfahrung in ihr Bewusstsein zu integrieren. Indem sie sich selbst zum Objekt nimmt, erschafft sie sich als autonomes Subjekt neu; eine Erfahrung der Entgrenzung beantwortet sie mit einer bewussten Grenzziehung – und stellt sich damit im christlichen Horizont in die Nachfolge der Passion Christi, in der Gott menschwerdend sich selbst Grenzen auferlegt hat. Mechthilds weltzugewandte Minnemystik mag man auch in Beziehung zu sich wandelnden Motiven in der profanen Minnedichtung des 12. und 13. Jahrhunderts sehen, an der sich ebenfalls mentale Distanzierungen ablesen lassen. So wird beispielsweise im Minnesang die Dramatik von Vereinigung und Trennung in besonders markanter Weise in der Gattung des Tagelieds durchgespielt, in der die Anforderungen des lichten Tages unvereinbar neben den Wonnen der Nacht stehen und die Liebenden immer wieder aufs Neue auseinander treiben. Davon heben sich nun etwa bei Walther von der Vogelweide Protagonisten ab, die neue mentale und erotische Spielräume gewinnen. Anstelle alles verzehrender Leidenschaft und erzwungener Trennung tritt bei diesen ein rationaler Grundzug der Selbstdistanzierung und 21

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O weh, zu meinem Leidwesen gibt mir mein Alter nun großen Anlaß zur Schelte, denn es ist unbrauchbar zu leuchtenden Werken, und es ist zu meinem Schmerz kalt an Gnaden. Es ist auch kraftlos, weil es der Jugend entbehrt, mit der es der feurigen Gottesliebe standhalten könnte (537,29-33). Vgl. GEPHART, Irmgard, Ichverlust und Autonomiegewinn in der Minnelyrik Walthers von der Vogelweide: ‚Minnediskurs‘ (C 44) und ‚Kranzlied‘ (C 51), in: Der achthundertjährige

Pelzrock. Walther von der Vogelweide, Wolfger von Erla, Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich), Hg. Helmut Birkhan (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 721), Wien 2005, S. 115-124.

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Ironisierung, der das Minnefatum aufbricht und neue Räume entstehen lässt, in denen sie sich autonom zu bewegen beginnen. Insofern sind auch im Werk Mechthilds, das wir gewohnt sind als Exemplum einer affektiven Erlebnismystik wahrzunehmen, deutliche Züge einer Rationalisierung und Individualisierung erkennbar. Auf der Suche nach Gott tritt das Individuum in eine neue Selbsterfahrung ein, in der es gleichsam auf den Schwingen seiner Leidenschaft neue Grenzen seiner selbst auslotet und absteckt. Die in diesem Prozess erfahrene brautmystische Vereinigung mit dem göttlichen Gegenüber trägt dabei insofern regressive Züge, als sich das Individuum in ihr gleichsam an der Quelle seiner Existenz energetisch auflädt und aus ihr seine Hoffnung schöpft, während die Erfahrung der Gottesferne das Individuum auf einen Weg der Differenzierung und Abgrenzung lenkt. Mechthild von Magdeburg spielt somit das große mystische Grundthema des Lassens auf zwei Ebenen durch: zum einen als ein Loslassen des bewussten Selbst in der erotisch-spirituellen Vereinigung und zum anderen als das Lassen jeglichen Habenwollens in der bewussten Entsagung. Für ersteres ist der ‚spirituelle Triebimpuls‘ des Begehrens Movens einer kosmischen Entgrenzungserfahrung, während es in der entsagenden Gottesferne um das Lassen des Triebes selbst geht. Diese Entsagung bleibt aber, und hierin dürfte die großartige Lebensfülle von Mechthilds Text wesentlich begründet liegen, stets gebunden an den Wert der ganzheitlich erfahrenen Einheit, denn der Gott Mechthilds schenkt der suchenden Seele beides: Erfüllung und Entsagung, Nähe und Distanz, Einheit und Vielfalt, Liebe und Freiheit. Mechthilds dichterische Gestaltung dieser menschlichen Grundspannung hat bis heute nichts an seiner Gültigkeit eingebüßt. 22

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Die nach-freudianischen Psychoanalyse bezeichnet eine Rationalität zurückbildende psychische Bewegung als ‚Regression im Dienste des Ich‘, so etwa Reimut Reiche: „Heute wissen wir, daß alle schöpferischen, kulturinnovativen Leistungen auf die vorübergehende Auflösung bislang festgefügter Ich-Grenzen angewiesen sind. Diesen Vorgang nennen wir , in: Sigmund Freud, MassenRegression im Dienste des Ichs“ (REICHE, Reimut, psychologie und Ich-Analyse. Die Zukunft einer Illusion, Frankfurt a. M. 1993, S. 7-30, hier S. 15). Einleitung

Jörg Alejandro Tellkamp

Natur- und erkenntnisphilosophische Grundlagen der passiones animae bei Albert dem Großen 1. Einleitende Bemerkungen1 Es scheint eine geradezu natürliche Neigung zu geben, mittelalterliche Lehren der Affekte (passiones animae) auf ihre moralische und theologische Dimension zu beziehen und sie aus diesem Blickwinkel zu interpretieren. Dementsprechend sind die Affekte deshalb interessant und diskussionswürdig, weil sie in die Sittlichkeit des Menschen eingreifen und sie entscheidend prägen. Dem ist nicht zu widersprechen. Dass demnach die spärlich gesäte Literatur zur Theorie der Affekte bei Albert dem Großen eine auf die Moraltheologie und Tugendlehre fixierte Deutung liefert, vermag daher nicht zu verwundern.2 Im Gegensatz dazu sollte

bedacht werden, und dies ist eine Zielsetzung dieses Beitrags, dass bei ihm der Begriff des Affekts in einem natur- und erkenntnistheoretisch verstandenen Kontext verwurzelt ist, und daher erweist es sich als erforderlich, den allgemeinen philosophischen Begriff von passio als3 Ausgangspunkt für nachfolgende Überlegungen zur Affektenlehre zu nehmen. Zunächst stößt das Unterfangen, das Thema der passiones animae bei Albert dem Großen angemessen darstellen zu können, auf mehrere Schwierigkeiten. Zum einen suggeriert die Textgrundlage selbst, dass es bei ihm keinen systematischen Zugang zum Thema gibt. Und in der Tat sind mit Ausnahme seiner Schriften De bono (um 1245) und der Summa de homine (um 1242) seine Anmerkungen diesbezüglich über mehrere Texte verschiedener Schaffensperioden un1

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Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Forschungsprojekts J49596-H des mexikanischen Rates zur Förderung der Wissenschaften – Conacyt – ausgearbeitet. So etwa der Beitrag VECCHIO, Silvana, Il discorso sulle passione nei commenti all’Etica Nicomachea: da Alberto Magno a Tommaso d’Aquino, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 17 (2006), S. 93-119. Siehe etwa MICHAUD-QUANTIN, Pierre, La psychologie de l’activité chez Albert le Grand, Paris 1966.

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gleichmäßig und mit unterschiedlicher Gewichtung verteilt. Zum anderen sind sie in sehr unterschiedlichen Diskussionszusammenhängen zu finden, sodass sowohl in naturphilosophischen als auch moraltheologischen Schriften Bezug auf sie genommen wird. Zieht man etwa Thomas von Aquins stringenten und vorbildlich konstruierten Passio-Traktat der Prima Secundae zum Vergleich heran, so verheißt die Textgrundlage bei Albert nichts Gutes.4 Auch wenn man nicht, wie es scheint, von einer durchformulierten Theorie der passiones animae bei Albert sprechen kann, so sind dennoch, wie ich zu zeigen hoffe, seine Ausführungen es allemal wert, untersucht zu werden, und dies aus zweierlei Gründen. Zum einen schlägt sich bei ihm eine aufmerksame Lektüre der philosophischen Tradition nieder, nämlich v.a. Nemesius, Johannes von Damaskus und Avicenna. Zum anderen ist in seinem Œuvre zu verfolgen, wie sich seine Theorie der Affekte mit naturphilosophischen Überlegungen bezüglich des körperlichen Wandels verschränkt und sie auf einen erkenntnistheoretischen Rahmen verweist. Dies wiederum soll Anlass zur Frage geben, ob Albert eine kognitive Theorie der passiones animae vertritt. Doch was sind eigentlich passiones animae bei Albert dem Großen? Wenn man diesen Ausdruck als Leidenschaften der Seele übersetzt, so scheint er in philosophischer Hinsicht eigentümlich überbestimmt. Denn wenn von Leidenschaften die Rede ist, so versteht man gemeinhin immer auch, dass irgendwie von Affekten die Rede ist. Im deutschen Sprachgebrauch scheint es sich aber zu erübrigen, den Begriff der Leidenschaft dahingehend zu ergänzen, dass er auf die Seele bezogen ist oder aus ihr hervorgeht. Allerdings trifft eine derartige alltagssprachliche Gleichsetzung von passio und Affekt in der Philosophie des 13. Jahr-

hunderts nur in einem abgeleiteten, näher zu bestimmenden Sinn zu. Die grundlegende Bedeutung von passio tritt dort zutage, wo Aristoteles die logischen Eigenschaften von Propositionen thematisiert. Aber der Begriff passio wird auch im Zusammenhang naturphilosophischer Erörterungen verwendet und zwar in dem Sinn, dass er dazu beiträgt, Veränderungen an materiellen Gegenständen zu beschreiben.5 Nicht zuletzt ist passio aber auch im besagten Sinn von Affekten ein Begriff, der gewisse, näher zu bestimmende Veränderungen an beseelten Körpern thematisiert.

4

5

Knuuttila ist beispielsweise der Meinung, dass Alberts Theorie der passiones animae eher eklektischer Natur ist. Dies mag auch ein Grund dafür sein, weshalb er ihm lediglich vier Seiten widmet; siehe KNUUTTILA, Simo, Emotions in Ancient and Medieval Philosophy, Oxford 2004, S. 236-239. Dies geschieht v. a. im Kommentar zur Physica VII; siehe ALBERTUS MAGNUS, Physica (Opera Omnia IV, 2), Hg. Paul Hossfeld, Münster 1993, S. 516-548. Siehe auch ALBERTUS MAGNUS, De generatione et corruptione (Opera Omnia V, 2), Hg. Paul Hossfeld, Münster 1980, S. 155-169.

Natur- und erkenntnisphilosophische Grundlagen der passiones animae

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Im Folgenden werde ich zunächst knapp, und ohne Anspruch auf Vollständigkeit, auf die begriffliche Ausdifferenzierung der passiones animae bei Albert Bezug nehmen und versuchen nachzuweisen, dass er zwei sich ergänzende Modelle verwendet, die, auf der einen Seite auf Nemesius von Emesa und Johannes von Damaskus zurückgehen, und, auf der anderen Seite, auf die avicennische Prägung iraszibler und konkupiszibler passiones. Nach dieser Andeutung des Grundvokabulars der Affekte werde ich dazu übergehen, zu erläutern, wie die passiones animae zum einen in der Physik körperlicher Veränderungen begründet liegen und zum anderen auf Sinneserkenntnis zurückgeführt werden können. Wie ich zu zeigen hoffe, legt Albert nahe, dass der philosophische Begriff der passiones animae durch eine Darlegung von Naturvorgängen erklärt werden kann. Dies bedeutet, dass eine allgemeine Theorie der Veränderungen an Körpern auch dazu dient, solche Veränderungen an beseelten Körpern zu erklären, die letzten Endes auf Tätigkeiten der Seele in Verbindung mit dem Körper zurückgehen. Aus diesem Grund werde ich den Kommentar zur Physica Buch VII aufgreifen, da dort ein Zusammenhang zwischen einer allgemeinen Theorie der Bewegung natürlicher Körper und solchen Veränderungen, die bei beseelten Wesen auftreten, hergestellt wird. Da alle sinnlich-kognitiven und appetitiven Funktionen immer auch körperliche Veränderungen anzeigen, ist es wichtig, nicht nur die Klassifizierung der passiones animae wiederzugeben, sondern auch die Grundlagen der organisch begründeten Erkenntnis zu diskutieren. Mit anderen Worten: Es soll die Frage zur Sprache kommen, ob Erkenntnis notwendig und hinreichend für das Haben von Affekten ist. Eine Antwort diesbezüglich wird davon abhängen, was als kognitive Theorie gelten kann. Ein kurzer Blick auf die entsprechenden Passagen bei Avicenna und Albert soll Aufschluss über die Verbindung von Erkenntnis und Affekten verschaffen. 2. Was sind passiones animae? Im folgenden kurzen Abriss geht es in erster Linie darum, eine allgemeine Charakterisierung der passiones animae bei Albert zu geben, indem ich von einigen der wichtigsten Quellen ausgehe, die er explizit verwendet. Hierbei stechen vor allem drei Werke hervor: Nemesius von Emesas De natura hominis (in der lateinischen Übersetzung von Burgundius von Pisa), Johannes von Damaskus’ De 6 fide orthodoxa und Avicennas De anima.

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NEMESIUS VON EMESA, Traduction de Burgundio de Pise, Hg. Gérard Verbeke und José Rafael Moncho, Leiden 1975; IOANNES DAMASCENUS, De fide orthodoxa (Patrologia Graeca 94), Paris 1864. AVICENNA LATINUS, Liber De Anima seu Sextus De naturalibus, 2 Bde., Hg. Simone van Riet, Leuven/Leiden 1968 und 1972. De natura hominis.

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Da Nemesius der Ausgangspunkt für Johannes von Damaskus ist, der dieses Thema eher epigonenhaft bearbeitet, werde ich mich ersterem zuwenden.7 Nemesius scheint von zwei Voraussetzungen auszugehen. Zum einen, dass affektive Äußerungen immer auch solche des Körpers sind, die ihren Ursprung in körperlichen Organen haben, nämlich im Gehirn und im Rückenmark.8 Zum anderen, und damit verknüpft, würden affektive Äußerungen immer auch auf einen Handlungszusammenhang verweisen, was bedeuten soll, dass Affekte grundsätzlich ein gewisses beobachtbares Verhalten nach sich ziehen. Wer sich vor etwas fürchtet, scheint damit auch die Prädisposition zu haben, davor zu fliehen. Es ist allerdings anzumerken, dass körperlich-affektive Äußerungen von solchen passiones unterschieden werden müssen, die eine rein körperliche Veränderung des Körpers bezeichnen, wie es etwa bei Krankheiten der Fall ist. Eine Krankheit, die den Körper in Mitleidenschaft zieht, verursacht zwar eine passio, sie führt aber keine Handlung mit sich; sie verursacht nur Schmerz. Dies ist der Grund, weswegen Nemesius meint, Affekte seien lediglich in einem äquivoken Sinn als passiones zu bezeichnen, da sie nicht eigentlich eine rein körperliche Veränderung bedeuten, sondern nur die Empfindung (sensus) einer solchen Veränderung.9 Diese Empfindung ist eine Bewegung der Sinnesvermögen, die dadurch zustande kommt, dass etwas unter dem Gesichtspunkt des Guten oder Schlechten betrachtet wird.10 Die Repräsentation eines Sachverhalts als guten oder schlechten, die, so Nemesius, im irrationalen Teil der Seele stattfindet, führt zu unterschiedlichen Affekten, die auf einen entweder gegenwärtigen oder zukünftigen Sachverhalt gerichtet sind. Dem daraufhin stimulierten Strebevermögen (desiderativo – epithymetikón) entsprechen vier Typen von Affekten, von denen zwei auf ein Gut gerichtet sind und zwei auf ein Übel.11 Handelt es sich um ein zu erwartendes Gut, so spricht man von Begehren (desiderium – epithymía); ist es hingegen ein gegenwärtiges, so spricht man von Lust (voluptas – hedoné). Ein zu erwartendes Übel bedingt Furcht (timor – phóbos), während ein gegenwärtiges Trauer (tristitia – lypé) erzeugt.12 7

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12

Zu Nemesius siehe KNUUTTILA (Anm. 4), S. 103-110. Siehe auch VERBEKE, Gérard und MONCHO, José Rafael, Introduction sur l’anthropologie de Némésius, in: (Anm. 6), S.

XXIIIff. NEMESIUS (Anm. 6), S. 111, 7-9: Est igitur eius secundum electionem vel secundum impe-

tum est motus, principium quidem cerebrum et spinalis medulla, cerebri pars existens et haec [...]. NEMESIUS (Anm. 6), S. 93, 3: [...] Passio aequivoce dicitur [...]. Zeile 10: Non igitur passio est dolor, sed passionis sensus. NEMESIUS (Anm. 6), S. 93, 12f: [...] Passio est motus concupiscitivae virtutis sensibilis, in imaginatione boni et mali. NEMESIUS (Anm. 6), S. 95, 45f: Rursus autem secundum alium modum desiderium divisum, quattuor secum omnes facit species. Die stoische Vierteilung der Affekte ist hierbei offenkundig. Ebd.

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Das Modell Avicennas schließt sich in gewisser Hinsicht an Nemesius’ Differenzierung gegenwärtiger und zukünftiger Güter oder Übel an, seine begriffliche Grundlage beruht aber auf der Unterscheidung begehrender und überwindender Affekte (passiones concupiscibiles et irascibiles). Zwar ist dieses Vokabular bereits zur Zeit der Übersetzung der Schriften Avicennas Mitte des 12. Jahrhunderts gängig, doch verwendet es Avicenna in einem anderen Sinn. Im Gegensatz etwa zu De spiritu et anima des Pseudo-Augustinus, zu Bernhard von Clairvaux oder Isaac de Stella, die einen Unterschied zwischen concupiscibilis und irascibilis insofern machen, als es sich um Teile der Seele handelt, stellt Avicenna die Funktion des überwindenden Strebens in erster Linie in den Dienst des Begehrens. Eine solche Zuschreibung ist bei der pseudo-augustinischen Schrift De spiritu et anima nicht festzustellen, denn dort werden die Begriffe concupiscibilis und irascibilis unterschiedlichen, voneinander getrennten Funktionen zugeordnet.13 Dementsprechend entspringt aus dem Begehren die Liebe, während der überwindende Affekt Ursache des Hasses ist. Obwohl sowohl PseudoAugustinus als auch Avicenna das Begriffspaar concupiscibilis-irascibilis verwenden, so wird deutlich, dass Albert vielmehr Avicennas Auffassung folgt. Dies kann besonders gut in der Summa de homine nachvollzogen werden, wo Albert beide Begriffe nach einer Untersuchung des Willensbegriffs (voluntas) aufgreift. Dies spiegelt Avicennas Überzeugung wider, dass concupiscibilis und irascibilis Ausformungen des Willens sind.14 13

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PS-AUGUSTINUS, De spiritu et anima (Patrologia Latina 40), S. 781: Est siquidem rationalis, concupiscibilis et irascibilis. Per rationalitatem habilis est illuminari ad aliquid cognoscendum infra se et supra se, in se et juxta se. Siehe auch S. 813: Est etiam concupiscibilis atque irascibilis, ut possit amare bonum et odire malum. De concupiscibilitate nascitur amor, et de amore desiderium et gaudium. Amor est delectatio cordis alicujus ad aliquid propter aliquid, per desiderium currens, atque per gaudium requiescens; per desiderium in appetendo, et per gaudium in perfruendo. Nec aliunde bonum est, si bonum est, cor humanum, nisi quod bene amat quod bonum est. Nec aliunde malum est, si malum est, nisi quod male amat quod bonum est. Omne enim quod est, bonum est: sed in eo quod male amatur tantum vitium est. De irascibilitate nascitur odium. Ira enim generat odium: et de odio dolor et timor. Cum enim contra peccata nostra irascimur, et ea odire incipimus, dolemus quia peccavimus, et poenas pro peccatis timemus. AVICENNA (Anm. 6), Bd. 2, S. 55-57, 96-9: Differt autem voluntas: quia quaedam est adhuc debilis, quaedam autem iam ita roborata quod non deest ei nisi effectus. Voluntas autem non est desiderium; quia aliquando roboratur voluntas sed desiderium non advenit motui aliquo modo, sicut imaginatio firma est, nec tamen optatur quod imaginatur; cum autem firmatur desiderium, oboediunt ei virtutes motivae quae non faciunt aliud nisi contrahere musculos et extendere; non est autem hoc ipsa voluntas nec ipsum desiderium: non enim quicquid prohibetur a motu, prohibetur a vehementia voluntatis vel a desiderio, nec tamen habet oboedientiam aliarum virtutum quae tantum movere solent, quae sunt in musculis. Huius autem virtutis voluntatis rami sunt virtus irascibilis et virtus concupiscibilis:

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In der Summa de homine folgt Albert diesem Schema. Das begehrende (concupiscibilis) und das überwindende (irascibilis) Vermögen äußert sich dadurch, dass es sich aktiv auf etwas ausrichtet, wenn es unter dem Aspekt des Wünschenswerten oder Schlechten aufgefasst wird. Im eigentlichen Sinn (stricte) besteht die Aktivität des Begehrens darin, etwas erlangen zu wollen, das zugleich auch sinnliche Freude bereitet.15 Dies kann aber in diesem eigentlichen Sinn auf zweierlei Weise verstanden werden; einmal in Bezug auf den Begehrenden, das Subjekt, und dann in Bezug auf den zu begehrenden Gegenstand, das Objekt, das sowohl in rein körperlicher Weise (concupiscentia carnis) verlangt werden kann als auch nur durch sinnliche Anschauung (concupiscentia oculorum).16 Das irascibilis steht dem Begehren entgegen; seine Funktion ist es, solche Hindernisse zu beseitigen, die das Begehren hindern.17 Ebenso wie die virtus concupiscibilis, ist die virtus irascibilis appetitiver Natur und deswegen müsste sie auf einen Gegenstand gerichtet sein, der unter dem Aspekt des Wünschenswerten aufgefasst wird. Dies scheint aber beim irasziblen Streben nicht der Fall zu sein, schließlich richtet es sich auf etwas zu Vermeidendes (nocivum), vor dem es das Begehren schützt. Hierbei handelt sich aber nicht um ein Übel an sich, auf das es sich richtet, sondern um ein Übel, das, sollte es überwunden werden, ein Gut hervorbringt.18

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illa autem quae vult delectabile et quod putatur utile ad conquirendum, est concupiscibilis; quae vero vult vincere et id quod putatur nocivum repellere, est irascibilis. ALBERTUS MAGNUS, Secunda pars Summae de Creaturis, Opera Omnia, ed. August Borgnet, Bd. 35, Paris 1896 (Vivès), 66, 2 sol. Ich habe den Text der Borgnet-Ausgabe mit einer

kurz vor dem Druck stehenden Version der kritischen Edition verglichen, die im Rahmen der Opera Omnia als Bd. 27, 2 bei Aschendorff in Münster erscheinen soll. Ich danke Herrn Dr. Henryk Anzulewicz sehr, sie mir zur Verfügung gestellt zu haben. ALBERTUS MAGNUS (Anm. 15) S. 66, 3 ad 3. ALBERTUS MAGNUS (Anm. 15), S. 557b: Irascibilis prout diffinitur ab Avicenna, ex [...]

diverso dividitur contra concupiscibilem, et est pars appetitus repellens nocivum insurgendo contra ipsum. ALBERTUS MAGNUS (Anm. 15), S. 558a: [...] Licet nocivum in ratione nocivi non sit appetibile, tamen in ratione ardui et alti movet animositatem et sic appetitum: et secundum hoc etiam irascibilis erit pars appetitus. Siehe auch S. 558b: [...] Arduum et altum in quantum huiusmodi proprium obiectum est irascibilis [...].

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3. Passiones im Physikkommentar19

So weit die Grundelemente einer Klassifizierung der passiones animae bei Albert dem Großen. Diese ist aber philosophisch steril, wenn sie nicht in den weiteren Zusammenhang seiner Naturphilosophie gestellt wird. Ein lohnenswerter Text, in dem sich bedeutsame Anhaltspunkte für Alberts Lehre der passiones animae finden, ist sein Kommentar zur Physica. Im Buch VII des Kommentars zur Physica geht Albert dem aristotelischen Diktum nach, dass alles was in Bewegung ist, durch etwas20anderes in Bewegung gesetzt wird (omne quod movetur, movetur ab alio). Per inductionem sucht Albert nachzuweisen, dass dieses Prinzip sowohl auf solche Bewegungen angewandt werden kann, deren Bewegungsursprung extern ist – hierbei handelt es sich um Bewegungen wider21 die Natur des Gegenstandes – als auch auf solche, deren Ursache intern ist. Dass ein Gegenstand seine eigene Bewegungsursache beinhaltet, soll aber nicht heißen, er würde sich quasi motu proprio bewegen; es soll vielmehr heißen, dass, wenn die Bewegungsursache im Gegenstand selbst liegt, er derart beschaffen sein muss, dass jeglicher Bewegungsimpuls mit seiner ihm eigentümlichen Beschaffenheit übereinstimmt und somit eine naturgemäße Bewegung hervorbringt. Dies erhellt bereits im Ansatz die Notwendigkeit, einen geeigneten Empfänger vorauszusetzen, etwa bei Vorgängen der Wahrnehmung, die ihrerseits affektive Reaktionen bedingen. Gemeint sind allgemein solche Veränderungsvorgänge, bei denen die qualitative Eigenschaft eines Gegenstandes eine Veränderung an einem anderen verursacht.22 Diese unvermittelt stattfindende Veränderung an den Sinnesvermögen, die auf die qualitativen Eigenschaften eines wahrnehmbaren Gegenstandes zurückgeht, wird als passio beziehungsweise qualitas passibilis bezeichnet; es handelt sich um solche Eigenschaften materieller Gegenstände, die Veränderungen an anderen Gegenständen hervorrufen 19

20 21

22

Der Kommentar zur Physik entstand vermutlich um 1251, also nach De bono und der Summa de homine, die beide zwischen 1242 und 1245 verfasst wurden. ALBERTUS MAGNUS (Anm. 5), S. 516. ALBERTUS MAGNUS (Anm. 5), S. 516f, 56-1: Omne enim quod movetur, aut movetur ab aliquo extrinseco sibi et distincto ab ipso, sicut moventur ea quae violenter moventur, aut habent principium et efficientem causam motus sui in se ipsis. ALBERTUS MAGNUS (Anm. 5), S. 525, 2-11: In omnibus enim modis alterationis accidit sic alteratio, quod ultimum alterantis est cum primo alterati; ergo sunt simul, et inter ea non est medium aliquod. Et ad hoc probandum sumemus unam propositionem et supponemus eam [...]. Haec autem propositio est haec, quod solum alteratur alteratione propria et physica quale, hoc est secundum qualitatem informatum, in eo quod ipsa est sensibilis qualitas secundum aliquod obiectum sensus.

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können.23 Damit diese Eigenschaften aber tatsächlich für die Erkenntnis und somit für die Theorie der Affekte bedeutsam werden, sieht sich Albert veranlasst, zwei Arten der qualitativen Veränderung einzuführen, nämlich eine, die an natürlichen Körpern stattfindet, und eine, die in gewisser Weise darüber hinauszugehen scheint, wie es etwa bei Erkenntnisprozessen der Fall ist. Indem er eine durch Averroes eingeführte Unterscheidung verwendet, stellt Albert fest, das alterans könne 24sowohl eine geistige als auch eine natürliche Veränderung im alteratum herbeiführen. Der Unterschied zwischen beiden Arten der Veränderung rührt daher, dass eine natürliche oder physische Veränderung immer dann zustande kommt, wenn die Form des alterans in der Materie des alteratum auf identische Weise verwirklicht wird, etwa wenn ein warmer Gegenstand einen anderen erwärmt. Eine geistige Veränderung hingegen kommt dann zustande, wenn es mehr der intentionale Bestandteil einer Form ist, der die Veränderung bewirkt, als die Form selbst. Dies soll heißen, dass die qualitativen Bestandteile des alterans dann eine geistige Veränderung bewirken, wenn das alteratum nicht die Form qua Form, sondern die Form qua intentio erfasst. Obwohl der Bezugspunkt für Albert bei der Unterscheidung von natürlicher und geistiger Veränderung Averroes ist, ist dennoch zu bedenken, dass die Verknüpfung25 des esse spirituale mit dem Begriff der intentio auf Avicennas Einfluss zurückgeht. Bedeutsam an der Unterscheidung geistiger und natürlicher Veränderungen ist, dass erstere nur an beseelten Wesen (animata) auftreten, während die natürliche Veränderung beseelte und unbeseelte Wesen betrifft; unbelebte Wesen können generell keinen geistigen Veränderungen unterworfen sein. So sagt Albert: Es ist wahr, dass unbeseelte Wesen von irgendwelchen Sinnesgegenständen verändert werden, die auch beseelte Wesen verändern, schließlich sind beseelte Wesen von Unbelebtem durchmischt. Umgekehrt ist aber nicht der Fall, dass all jenes, was beseelte Wesen verändert, auch unbeseelte verändert, denn, obwohl sie von Formen verändert werden, die wahrgenommen werden können, so werden sie von ihnen aber nicht geistig verändert, das heißt, dass sie ihrem geistigen Sein gemäß empfangen würden, das ja Wahr23

24

25

ALBERTUS MAGNUS (Anm. 5), S. 525, 21-23: Omnia autem haec sunt passiones vel passibiles qualitates, quae subiciuntur qualitati, sicut species subiciunt generi [...]. Siehe auch ebd. S. 526, 9-13: Et licet ista alteratio sensuum non perfectam habeat rationem alterationis, tamen etiam ipsa non fit nisi ita, quod nihil medium sit inter alterans proximum et proximum alteratum. ALBERTUS MAGNUS (Anm. 5), S. 525f, 62-4: Quod autem alterans agit dupliciter, scilicet corporaliter et spiritualiter; corporaliter quidem, quando agit per formam secundum esse physicum et corporale, quod habet in materia. Spiritualiter autem agit, quando immutat per intentionem suae formae potius quam per formam, sicut alterantur sensus in partibus animae passivis perceptivis sensibilium praesente materia. Diese Unterscheidung geht zurück auf AVERROES, Commentarium Magnum in Aristotelis De Anima Libros, Hg. F. Stuart Crawford, Cambridge (Mass.) 1953, S. 277. AVICENNA (Anm. 6), Bd. 1, S. 85f.

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nehmung hervorbringt. Der Grund dafür liegt darin, dass sie keine Wahrnehmungsvermögen haben, mit denen sie das geistige Sein der Formen empfingen, wenn sie in ihnen hervorgebracht werden. Jede Form existiert nämlich [in einem alteratum – J.T.] gemäß dem Sein, so wie es das Subjekt zulässt, in dem es ist.26

Der Hinweis auf Veränderungen gemäß dem esse spirituale ist zunächst eigenartig, da er nahe legt, es gäbe Veränderungen an natürlichen Körpern, die nicht eigentlich physischer Natur sind; solche wären ja derart, dass das alteratum eine Form in genau derselben Weise aufnimmt, wie sie im alterans bereits auftritt.27 Der Grund dafür, dass

sich die von Averroes im Zusammenhang natürlicher und kognitiver Veränderungen im Großen Kommentar zu ins Spiel gebrachte Unterscheidung eines einer Form und ihres bei Albert im Kommentar zur wiederfindet, rührt daher, dass Aristoteles selbst Erkenntnisvorgänge als Bewegungen in Begriffen der Aufnahme einer Form charakterisierte. Die begriffliche Einführung der Unterscheidung vom natürlichen und geistigen Sein von Formen ist am besten in Averroes’ Kommentar zu 421b8-12 zu sehen: De anima

naturale

esse spirituale

esse

Physica

De anima

So wie die Farbe ein zweifaches Sein hat, nämlich eines im farbigen Körper (dies ist das körperliche Sein) und eines im durchsichtigen Medium (dies ist das geistige Sein), so hat der Geruch ein zweifaches Sein, nämlich ein Sein im riechbaren Körper und ein Sein im Medium. Jenes ist ein körperliches Sein und dieses ist geistig, jenes natürlich und dieses extern.28

Die Zweiteilung von Veränderungen, die auf dem natürlichen oder dem geistigen Sein einer Form beruhen, hat die Funktion eine gewisse Unschärfe bei Aristoteles zu beseitigen, vor allem was das Ring-Wachs-Beispiel aus De anima 424a17ff angeht. Ihm geht die Überlegung voraus, dass alles Wahrnehmen durch das Empfangen einer Form ohne Materie zustande kommt. Allerdings 26

ALBERTUS MAGNUS (Anm. 5), S. 526f, 20-32: Verum enim est, quod secundum quaecum-

sensibilia alterantur ea quae non sunt animata, secundum omnia eadem alterantur etiam animata, eo quod animata sunt commixta ex illis. Non autem convertitur, quod secundum omnia illa, secundum quae alterantur animata, alterantur etiam inanimata, quia licet alterentur a formis, quae sunt sensibiles, non tamen alterantur ab illis spiritualiter, hoc est, quod recipiant eas secundum esse spirituale, quod facit sensus, et causa est, quia non habent potentias sensuum, in quibus formae illae esse spirituale recipiant, quando generantur in ipsis; omnis enim forma secundum tale esse inest, quale permittit subiectum, in quo est. ALBERTUS MAGNUS (Anm. 5), S. 423, 45f: Oportet ergo, quod in intermedio, quod est inter terminum a quo est terminum ad quem, sit motus; ergo intermedium in physicis est, in quod primum id quod movet dimittit, hoc est, extendit id quod movetur, secundum quod movetur. AVERROES (Anm. 24), S. 276f, 22-33: Sicut color habet duplex esse, scilicet esse in corpore colorato (et hoc est esse corporale) et esse in diaffono (et hoc est esse spirituale), ita odor habet duplex esse, scilicet esse in corpore odorabili et esse in medio; et illud est esse corporale et hoc spirituale, et illud naturale et hoc extraneum. que

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28

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gibt Albert, wie im übrigen auch Averroes, zu bedenken, dass ein derartiges Empfangen auf alle Vorgänge der29 natürlichen Welt zutrifft und nicht nur auf solche des sinnlichen Erkennens. Um diese Unschärfe in der formalen Kausalität beseitigen zu können, erweist es sich als nötig, nachzuweisen, dass Formen auf unterschiedliche Weise übertragen werden, nämlich auf natürliche und auf geistige Weise. Bei der Übertragung einer Form secundum esse naturale muss es eine grundlegende materielle Übereinstimmung zwischen dem agens und dem patiens geben. Nicht jeder Gegenstand kann jede beliebige Form aufnehmen, und genau dies trifft auch auf Erkenntnisvorgänge zu. Das Empfangen einer Form secundum esse spirituale ist nur dann möglich, wenn es einen geeigneten Empfänger dafür gibt. Im Gegensatz zum Empfangen einer Form secundum esse naturale, das den empfangenden Gegenstand materiell verändert – das sich aufwärmende Wasser empfängt die Form der Hitze – führt das Empfangen einer Form secundum esse spirituale zu keiner physischen30Veränderung am patiens – die gesehene Tomate färbt das Auge nicht rot ein. 4. Der erkenntnistheoretische Rahmen Alberts Kommentar zur Physica liefert die begriffliche Grundlage, Sinneserkenntnis im Kontext einer allgemeinen Theorie der Bewegung zu erklären. Hierbei sind es die so genannten passiblen Qualitäten31, die eine Veränderung 29

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31

ALBERTUS MAGNUS, De anima (Opera Omnia VII, 1), Hg. Clemens Stroick, Münster 1968,

S. 149, 6-24: Communiter autem convenientia sensibus et de sensu communi dicendum est post hoc. Primum autem, quod communiter convenit omni sensui, secundum quod est sensus, est, quod omnis est in gradu illo apprehensionis, quod accipit speciem sensibilem sine materia, materia tamen praesente, sicut cera accipit figuram sigilli solam, absque eo quod aliquid de materia sigilli cum figura defluat in ceram; accipit enim figuram anuli sive sigilli aurei vel ferrei sine auro vel ferro et tamen accipit auream sive ferream figuram, hoc est eam quae secundum esse materiae fuit et est auri vel ferri et non alterius; nihil accipit tamen de auro vel ferro. Et similiter sensus accipit uniuscuiusque sensibilis speciem, colorem scilicet et saporem et sonum, et patitur ab huiusmodi speciebus, non inquantum unaquaeque sensibilium specierum est unumquodque sensibilium secundum esse materiale, sed inquantum unumquodque illorum est in esse intentionali et secundum rationem [...]. ALBERTUS MAGNUS (Anm. 5), S. 526f, 32-41: Et cum sensus sunt partes animae et organa sensuum sunt animata, non possunt eis inesse formae illae nisi secundum esse spirituale et secundum hoc non insunt his quae non sunt animata. Et ideo non alterantur inanimata secundum omnia illa, secundum quae alterantur animata, quia alteratione sensuum non alterantur inanimata, et non percipitur, cum alterantur inanimata, quia non habent virtutes apprehensivas suarum alterationum quemadmodum animata. ALBERTUS MAGNUS (Anm. 5), S. 527f, 59.

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an einem Gegenstand auslösen können, die entweder geistig-intentional sein kann oder natürlich.32 Der Kommentar zur Physica belegt, dass es eine naturalistische Erklärung von Vorgängen geben kann, die als passiones bezeichnet werden können, die aber keine eigentliche körperliche Veränderung anzeigen. Die Verknüpfung naturphilosophischer Überlegungen mit Vorgängen der Erkenntnis ist fest mit der Theorie der Affekte verbunden. In diesem Zusammenhang hat Avicenna abermals einen bedeutenden Einfluss auf Albert ausgeübt. Seine Rolle ist deshalb von Bedeutung, weil er sowohl die kognitiven Voraussetzungen von Affekten diskutiert als auch ihre Grenzen aufzeigt. Im sechsten Teil des Liber de naturalibus, das bereits Mitte des 12. Jahrhunderts von Dominicus Gundissalinus ins Lateinische übersetzt worden war, befindet sich Avicennas so wirkmächtige Seelenlehre. Sie stellt für Autoren des 13. Jahrhunderts einen bedeutsamen Anhaltspunkt für die Interpretation von Aristoteles’ De anima dar, wobei eindeutig neuplatonische Motive im Vordergrund stehen, vor allem was die Unsterblichkeit und Transzendenz der Seele betrifft.33 Seine Theorie der Sinne zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass sie Bestandteile der galenischen Physiologie und Psychologie verwendet und sie für die Erklärung kognitiver Prozesse fruchtbar macht. In diesem Zusammenhang sticht die Einführung des Begriffs der intentio hervor, der dazu dient, solche Erkenntnisvorgänge zu thematisieren, die komplexes Wissen von individuellen Gegenständen beinhalten, im Gegensatz zu den rohen, von den äußeren Sinnesvermögen erfassten Stimuli. So sagt Avicenna: Folgender ist der Unterschied zwischen dem Erfassen einer Form und dem Erfassen einer intentio. Die Form ist, was die inneren und äußeren Sinnesvermögen zugleich erfassen [...]. Eine intentio ist dagegen, was die Seele vom wahrnehmbaren Gegenstand erfasst, obwohl es nicht zuvor von einem äußeren Sinnesvermögen erfasst worden war. Das Schaf erfasst zum Beispiel eine intentio, die es vom Wolf hat, nämlich dass es ihn fürchten und vor ihm fliehen muss, obwohl dies keinesfalls von den Sinnesvermögen erfasst wird. Das, was die äußeren Sinne zuerst und anschließend die inneren Sinne vom Wolf erfassen, wird hier eigentlich als Form bezeichnet. Das, was die verborgenen Vermögen ohne die Sinnesvermögen erfassen, wird hier eigentlich als intentio bezeichnet.34

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33

34

Zur Lehre der Wahrnehmung bei Albert siehe ANZULEWICZ, Henryk, Konzeptionen und Perspektiven der Sinneswahrnehmung im System Alberts des Grossen, in: Micrologus 10 (2002), S. 199-238. Siehe HASSE, Dag Nikolaus, Avicenna’s De anima in the Latin West. The Formation of a Peripatetic Philosophy of the Soul 1160-1300, London/Turin 2000. AVICENNA (Anm. 6), S. 86, 93-106: Differentia autem inter apprehendere formam et apprehendere intentionem est haec: quod forma est illa quam apprehendit sensus interior et sensus exterior simul […]; intentio autem est id quod apprehendit anima de sensibili, quamvis non prius apprehendat illud sensus exterior, sicut ovis apprehendit intentionem quam habet de lupo, quae scilicet est quare debeat eum timere et fugere, quamvis non hoc apprehendat sensus ullo modo. Id autem quod de lupo primo apprehendit sensus exterior

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Von Bedeutung an diesem Zitat ist, dass Avicenna explizit auf die Verschränkung von sinnlicher Erkenntnis und affektiver Reaktion aufmerksam macht, indem er den Bedeutungsaspekt wahrgenommener Information hervorhebt. Analog zum avicennischen Modell besteht für Albert die Funktion der Sinne, zumal der inneren Sinne, darin, zu erläutern, wie sensible Formen erfasst und wie mentale Repräsentationen, die einen Einzelgegenstand oder Sachverhalt bedeuten, geformt werden. Die inneren Sinne, die sie formen, sind organische, im Gehirn verankerte Vermögen. Albert unterscheidet hierbei durchgehend fünf innere Sinne: den Gemeinsinn (sensus communis), die virtus imaginativa, die phantasia, die aestimativa (ich lasse diese Begriffe unübersetzt) und das Erinnerunsgvermögen (memoria und reminiscentia). Im Mittelpunkt steht die phantasia, von der er sagt: Phantasia wird auf zweierlei Weise ausgesagt, nämlich in einem weiten und einem engen Sinn. Er ist weit, insofern er imaginatio, phantasia und aestimatio umfasst. So definiert Aristoteles in De anima, sie sei eine von den Sinnen aktualisierte Bewegung. Im engen Sinn wird sie als Vermögen verstanden, das Bilder (imagines) durch Zusammensetzung und Trennung sammelt. Und so definiert sie Al-Ghazali. Daher sagt er, einige bezeichneten sie als ein denkendes Vermögen (potentia cogitativa), wie etwa Avicenna. Aber denkend ist sie eigentlich nur beim Menschen.35

Im bezeichneten weiten Sinn (large) ist es die Funktion der inneren Sinne, materielle Dingen zu repräsentieren, die nicht anwesend sein müssen.36 Repräsentation soll hierbei bedeuten, dass etwas unter einem bedeutsamen Gesichtspunkt dargestellt wird, indem der intentionale Aspekt wahrgenommen wird. Es ist exakt dies, worauf Albert in seiner Abstraktionstheorie Bezug nimmt; deren dritte Stufe besteht darin, genau die Aspekte von Einzelgegenständen

35

36

et postea interior, vocatur hic proprie nomine formae; quod autem apprehendunt vires occultae absque sensu, vocatur in hoc loco proprie nomine intentionis. LBERTUS AGNUS : Dicimus quod phantasia dicitur duobus modis, scilicet large, et stricte. Large, secundum quod comprehendit imaginationem et phantasiam et aestimationem, et sic diffinitur a Philosopho in libro de anima, quod est ,motus a sensu secundum actum factus‘. Stricte autem accipitur pro potentia collativa imaginum per compositionem et divisionem, et sic diffinitur ab Algazele, et ideo dicit Algazel, quod quidam appellant eam potentiam cogitativam, sicut eam appellat Avicenna; sed tamen cogitativa non est proprie nisi in hominibus. LBERTUS AGNUS Dicendum quod si phantasia large accipiatur, tunc parva erit differentia inter phantasiam et imaginationem et aestimationem quantum ad actum et obiectum et organum. Et hoc modo videtur sumere Aristoteles, qui dicit phantasiam esse potentiam secundum quam phantasma nobis fit, quae est motus a sensu secundum actum factus, quod totum convenit imaginativae. Dicit etiam phantasiam esse veram et falsam, quod convenit potentiae componenti et dividenti imagines apprehensas. Dicit etiam phantasiam esse moventem per hoc quod determinat delectabile et triste et nocivum et conveniens in imaginibus apprehensis, quod videtur convenire aestimativae.

A

M

(Anm. 15), S. 331a

A

M

(Anm. 15), S. 332a:

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wahrzunehmen, die nicht eigentlich vom äußeren Sensorium erfasst werden. Was mit nicht eigentlich erfassten Objekten gemeint ist, zeigt ein Beispiel aus Aristoteles’ De anima: Wir sehen, dass sich etwas nähert, was wir als Diares’ Sohn erkennen. Die Eigenschaft dieses Gegenstandes, Diares’ Sohn zu sein, wird aber nicht vom Auge als solchem erfasst, sondern von den inneren Sinnen. Ähnliches trifft auch zu, wenn zum Beispiel ein Schaf sieht, dass der Wolf ihm feindlich gesonnen ist. Diares zu erkennen oder im Wolf einen natürlichen Feind zu sehen, heißt, die Bedeutung, die einem individuellen Gegenstand zukommt, zu ergreifen. Nun kann dieses bedeutsame, sprich intentionale Erkennen sowohl eine „rein“ kognitive als auch eine praktische Dimension haben.37 Diares’ Sohn zu sehen, könnte ein gewisses Erkenntnisinteresse stillen, das Schaf hingegen, das den Wolf sieht, wird vor ihm fliehen, weil Wölfe allgemein zu der Klasse von Gegenständen gehören, die bei Schafen Furcht auslösen. Natürlich stellt sich hierbei die Frage, was darunter zu verstehen ist, dass gewisse Repräsentationen Affekte und entsprechende Handlungen hervorrufen. Es handelt sich um die Frage, welche in der Erkenntnis komplexer Sachverhalte enthaltenen Aspekte affektive Reaktionen hervorrufen. Und abermals ist es der Begriff der intentio, der eine zentrale Rolle spielt. Ebenso wie bei Avicenna besteht bei Albert ein grundlegender Unterschied zwischen den qualitativen Aspekten materieller Gegenstände – er nennt sie forma – und jenen, die auf einen dem Gegenstand angegliederten Sinngehalt verweisen; hierbei handelt es sich um intentiones. So sagt er: Es muss auch angemerkt werden, dass die Form einer Sache von der intentio einer Sache unterschieden werden muss. Die Form ist im eigentlichen Sinn das, was, durch das Übertragen einer Form, die Materie und das compositum von Materie und Form aktualisiert. Intentio hingegen wird das genannt, durch was eine Sache gemäß unterschiedlicher Abstraktionsstufen individueller- oder universellerweise bezeichnet wird. Sie verleiht keiner Sache und keinem Sinnesvermögen Existenz [...]; aber sie bringt ein Zeichen und Erkenntnis der Sache hervor. Daher ist die intentio kein Teil einer Sache, wie die Form, sie ist vielmehr ein Hinweis (species) auf die vollständige Erkenntnis der Sache. Daher wird die intentio von einer Sache ausgesagt, weil sie vom Ganzen abstrahiert wird und das Ganze bedeutet. Die

37

M

(Anm. 29), S. 101f, 90-10:

ALBERTUS AGNUS Tertius autem gradus apprehensionis est, quo accipimus non tantum sensibilia, sed etiam quasdam intentiones quae non imprimuntur sensibus, sed tamen sine sensibilibus numquam nobis innotescunt, sicut est esse socialem et amicum et delectabilem in convictu et affabilem et his contraria, quae quidem cum sensibilibus accipimus, et tamen eorum nullum sensibus imprimitur. Et tale est, quod accipimus hunc esse filium Deonis et esse agnum vel hominem, aliud autem esse lupum vel leonem, secundum quod substantiales formae mediantibus sensibilibus et non separatae ab ipsis apprehenduntur. Et iste gradus propinquus est cognitioni et numquam est sine aestimatione et collatione.

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des farbigen Gegenstandes, die im Auge ist, lässt den gesamten Gegenstand erkennen [...].38 intentio

scheint klar zu sein, dass die schlichte Erfassung sensibler Formen (Albert nennt sie im Kontext des -Kommentars auch ) keine Erkenntnis im Sinne strukturierten Wissens darstellt. Er weist den inneren Sinnen unterschiedliche Funktionen zu, wobei v. a. die eine zentrale Rolle spielt. Ihre Funktion ist es, Gegenstände, die nicht notwendigerweise anwesend sein müssen, unter intentionalen Aspekten zu erfassen. In diesem Zusammenhang weist Albert der die Funktion zu, die sinnliche Bedeutung ( ) eines Gegenstandes gewissermaßen rein zu repräsentieren, ohne allerdings auf praktische oder affektive Folgen zu verweisen. Diese praktisch-affektive Ausrichtung kommt in der Tat einem anderen inneren Vermögen zu, nämlich der . Im Gehirn nimmt sie zwar denselben organischen Ort wie die ein, doch ist es ihre Aufgabe, die von ihr erfassten in einen praktischen Zusammenhang zu stellen, indem sie zum einen Schädliches von Zuträglichem unterscheidet und zum anderen eine entsprechende affektive Reaktion bedingt. Die scheint demnach die Funktion der insofern zu erweitern, als sie es erlaubt, einen Sachverhalt unter dem Aspekt des praktisch Guten oder Schlechten einzuordnen: „Die ist nichts anderes als die Ausweitung der auf die Praxis.“39 So wie die , bezieht sich die auf , die ja, wie bereits erwähnt, vom äußeren Sensorium nicht wahrgenommen werden. Der Unterschied zwischen beiden liegt allerdings darin begründet, dass das eine Vermögen, die , eine ausschließlich kognitive Ausrichtung hat, während die praktischer Natur ist. Diese Unterscheidung scheint auch einleuchtend zu sein. Jedes Sinnenwesen, rational oder nicht, sucht von Natur aus, das eigene Leben oder Überleben zu sichern, indem es Nahrung und Schutz nicht nur erkennt, sondern auch danach strebt. Das Schaf, das sich vor dem Wolf fürchtet und folglich vor ihm flieht, braucht nicht zu überlegen, was es zu tun hat, um nicht aufgefressen zu werden. Das praktische Sinnesurteil, wenn man es so nennen darf, stellt sich bei ihm imEs

De anima

imagines

phantasia

phantasia

in-

tentio

virtus aestimativa

phantasia

intentiones

virtus aestimativa

phantasia

aestimativa

phantasia

phantasia

virtus aestimativa

intentiones

phantasia

virtus aestimativa

38

39

ALBERTUS MAGNUS (Anm. 29), S. 102, 28-42: Adhuc autem notandum est, quod differunt

forma rei et intentio rei; forma enim proprie est, quae informando dat esse actu materiae et composite ex materia et forma. Intentio autem vocatur id per quod significatur res individualiter vel universaliter secundum diversos gradus abstractionis; et haec non dat esse alicui nec sensui [...], sed signum facit de re et notitiam. Et ideo intentio non est pars rei sicut forma, sed potius est species totius notitiae rei; et ideo intentio, quia abstrahitur de toto et est significatio totius, de re praedicatur; intentio enim colorati, quae est in oculo, totam rem notificat [...]. ALBERTUS MAGNUS (Anm. 15), S. 339: […] Aestimativa enim nihil aliud est quam extensio phantasiae in praxim.

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mer dann ein, wenn der entsprechende Sinnesreiz, bestehend aus Formen und intentiones, gegeben ist. All dies scheint zu bedeuten, dass Affekte und Handlungen aus der Erkenntnis eines Gegenstands zwangsläufig folgen. Wenn dies so wäre, so würde sich daraus ergeben, dass Albert eine kognitive Theorie der Affekte vertritt, und zwar in dem Sinn, dass sie direkt nicht nur aus Sinnesreizen folgen, sondern auch aus einer vom inneren Sensorium geleisteten Unterscheidung.

5. Vertritt Albert eine kognitive Theorie der Affekte? Bis zu diesem Punkt stand im Vordergrund, dass affektive Reaktionen in erster Linie auf Sinneserkenntnis beruhen. Dies führt geradezu zwangsläufig zur Frage, ob Albert denkt, dass Erkenntnis und Erkenntnisurteile notwendig und hinreichend für das Haben von Affekten sind. Die philosophiehistorisch einflussreichste kognitive Theorie der Affekte, die der Stoiker, geht davon aus, dass Affekte an sich Urteile sind.40 In abgeschwächter Form kann man aber auch sagen, Affekte

ergäben sich immer in einem gewissen Erkenntniskontext und in Verknüpfung mit Wahrnehmungsurteilen bezüglich der Wertigkeit von erkannten Sachverhalten. Diese Urteile müssen nicht, wie das Schaf-Wolf-Beispiel zeigt, begrifflicher Natur sein, sodass von Urteilen auch bei nicht rationalen Wesen die Rede sein kann, obwohl nichts gegen rational bedingte Affekte zu sprechen scheint. Wie ich abschließend anzudeuten versuchen werde, ist dies Alberts Standpunkt. Zunächst ist es wichtig, abermals festzuhalten, dass Sinneserkenntnis nicht ausschließlich kognitive Funktionen hat, sondern auch die, Tiere einem der Situation angemessenen Verhalten zuzuführen. Das von Avicenna angeführte SchafWolf-Beispiel zeigte, dass es für ein Schaf generell nicht möglich ist, einen Wolf zu sehen, ohne zugleich sich vor ihm zu fürchten und das entsprechende beobachtbare Verhalten an den Tag zu legen. Daraus ergibt sich, dass das sinnliche Erfassen des Wolfes demnach eine Bedingung für das Haben einer gewissen ist. Fraglich ist allerdings, ob es sich auch um eine Bedingung handelt, nämlich in dem Sinn, dass nicht jede Erkenntnis bestimmte Affekte nach sich zieht. In der Tat geben sowohl Avicenna als auch Albert zu bedenken, dass die Erkenntnis eines Gegenstandes, sei diese rational geprägt oder nicht, zwangsläufig keine bestimmten Affekte zur Folge hat. Avicenna stellt diesbezüglich fest: notwendige

passio animae

hin-

reichende

eo

ipso

Wir sagen nämlich, dass, wenn ein Tier etwas will, es wahrnimmt (percipit), dass es will, oder es stellt sich es vor. Würde es dies nicht wahrnehmen, würde es sich nicht auf 40

Dazu ANNAS, Julia, Hellenistic Philosophy S. 108ff und KNUUTTILA (Anm. 4), S. 51.

of Mind

, Berkeley/Los Angeles/London 1994,

222

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es vermittels der Bewegung richten. Allerdings hat es dieses Wollen nicht durch ein Erkenntnisvermögen. Die Erkenntnisvermögen tun nichts anderes als zu urteilen und zu erfassen (iudicare et apprehendere); wenn sie etwas durch die Sinne oder die aestimatio erfassen, dann ist es nicht notwendig, dass sie deswegen etwas wollen. Die Menschen stimmen im Erfassen des Wahrgenommenen oder Vorgestellten überein, insofern sie etwas wahrnehmen oder vorstellen. Der Unterschied liegt aber darin, das zu wollen, was man wahrnimmt oder vorstellt. Die Anlage eines Menschen unterscheidet sich diesbezüglich: Er stellt sich Essbares vor und will es auch, wenn er Hunger hat, aber er will es nicht, wenn er satt ist. Dasselbe trifft auf den Gutgesitteten zu, der sich schändliche Begehren vorstellt: Er will sie nämlich nicht; jemand anderes würde sie wollen. Diese zwei Veranlagungen (dispositiones) treten nicht nur beim Menschen auf, sondern auch bei allen Tieren.41

Das Argument scheint schlüssig zu sein. Das sinnliche und rationale Erfassen praktisch relevanter Sachverhalte ist eine Sache; diese Sachverhalte auch tatsächlich zu begehren und zu wollen eine andere. Nicht nur weil ich einen Braten sehe, möchte ich ihn auch essen. Es sei allerdings bemerkt, dass in Anbetracht der Theorie der inneren Sinne es merkwürdig anmutet, wenn Avicenna diese Unterscheidung ohne weiteres auf tierisches Verhalten ausweitet; es schien schließlich, ein Schaf könne nicht umhin, vor einem Wolf zu fliehen, wenn es einen sieht. Sollte das Schaf nun doch die Fähigkeit haben, eine urteilsvermittelte Distanz zum Wolf zu wahren? Avicenna hatte hingegen darauf gepocht, die auf Instinkten beruhende kognitive Leistung von Tieren mit ihrem affektiven Verhalten notwendig zu verbinden.42 Auch wenn Avicenna, wie das Zitat belegt, die Rolle kognitiver Prozesse insofern einzuschränken scheint, als er sie nicht als hinreichende Bedingung für Affekte ansieht, so muss dies bei Albert nicht auch so sein. Angesichts des Fehlens eindeutiger Textbelege sprechen zumindest zwei Gründe dafür, dass Albert Avicennas Auffassung folgt, Erkenntnis, selbst sinnliche, sei keine hinreichende Bedingung für das Haben von Affekten. a) Zum einen spricht die strukturelle Identität von Tieren und Menschen dafür. Eine auf physiologischen Überlegungen beruhende Erklärung sinnlicher

41

42

AVICENNA (Anm. 6), Bd. 2, S. 54f, 80-95: Dicemus igitur quod animal, cum vult aliquid, percipit se velle aut imaginatur ei: si enim non perciperet, non intenderet illud quaerere per motum. Non autem habet hoc velle ex aliqua virtutum apprehendentium; virtutes enim apprehendentes nihil aliud faciunt nisi iudicare et apprehendere; cum autem iudicant vel apprehendunt sensu aut aestimatione, non necesse est ex hoc illud velle. Homines enim conveniunt in apprehendendo quod sentiunt et imaginant, secundum hoc quod sentiunt illud et imaginant, sed differunt in velle illud quod sentiunt et imaginant; dispositio autem unius hominis etiam differt in hoc: imaginat enim cibum et vult illum in hora famis, sed non vult illum in hora satietatis; item qui est bonorum morum imaginat concupiscentias turpes, non tamen vult illas, alius autem vult. Et hae duae dispositiones non sunt solius hominis, sed etiam omnium animalium. Siehe auch MICHAUD-QUANTIN (Anm. 3), S. 93f. AVICENNA (Anm. 6), Bd. 2, S. 38f.

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Erkenntnisprozesse bei Tieren und Menschen deutet darauf hin, dass sie in organischer und funktionaler Hinsicht identisch sind. Wenn entsprechend Menschen aufgrund von Sinneserkenntnis nicht zwangsläufig etwas begehren, dann müsste dies auch zumindest auf höhere Tiere zutreffen. Freilich ergibt sich das Problem, dass trotz Strukturgleichheit bei Menschen kognitive Faktoren hinzutreten, die individuell verschieden sind. Während auch erwachsene Menschen ständigen Lernprozessen unterworfen sind und im Licht rationaler Erwägungen ihre sinnlichen Begehren regulieren können, so scheint dies bei Tieren nicht der Fall zu sein. Dies hieße auch, dass das sinnliche Urteilen und das Zuschreiben affektiver Wertigkeit durch Vermögen zweiter Ordnung, wie es die Vernunft ist, modifiziert werden. b) Für eine weitere Übereinstimmung zwischen Avicenna und Albert spricht auch eine leidlich rätselhafte Feststellung im De anima-Kommentar: Danach stellen wir bezüglich der phantasia fest, dass sie ein Vermögen ist, das aufgrund einer zweifachen Zielsetzung, die in den Einzelgegenständen ist, Bilder mit intentiones, intentiones mit Bildern, Bilder mit Bildern und intentiones mit intentiones zusammensetzt. Die eine Zielsetzung besteht in einer größeren Erkenntnis von Einzelgegenständen, die die Sinnesseele haben kann. Ihr Ziel ist ein Gedanke (sententia), dass dieses dieses und jenes jenes ist. Dies trifft auf all jenes zu, von dem ein Gedanke auf dem Weg der Bejahung oder Verneinung ausgedrückt werden kann. Das zweite Ziel ist eine Handlung (opus), die aufgrund dieser Einzelgegenstände angestrebt wird, so wie die Handlung bei rationalen Wesen das Ziel der Kunst ist.43

Es fällt auf, dass Albert den Begriff der intentio als eine mentale Repräsentation ansieht, die individuelle oder universelle Dinge so bezeichnet, dass sie auf einen Sachverhalt zutreffen und also wahr sind oder nicht.44 Auch hier besteht er darauf, dass die Fähigkeit, sich mental auf Sachverhalte in der Welt zu beziehen, durch die organische und kognitive Strukturgleichheit von Mensch und Tier ge43

44

ALBERTUS MAGNUS (Anm. 29), S. 168, 27-39: De phantasia post hoc determinantes dicimus ipsam esse potentiam componentem imagines cum intentionibus et intentiones cum imaginibus et imagines cum imaginibus et intentiones cum intentionibus ad duplicem finem, qui est in particularibus. Unus autem finis est cognitio particularium maior, quae in sensibili anima haberi potest, et illius finis est sententia de hoc, quod sit illud, et de alio, quod sit aliud; et sic de omni eo de quo sententia profertur per modum affirmationis vel negationis. Secundus autem finis est opus, quod intenditur ex huiusmodi particularibus, sicut opus in habentibus rationem est finis artis. ALBERTUS MAGNUS (Anm. 29), S. 102, 30-42: Intentio autem vocatur id per quod significatur res individualiter vel universaliter secundum diversos gradus abstractionis; et haec non dat esse alicui nec sensui, quando est in ipso, nec etiam intellectui, quando est in illo, sed signum facit de re et notitiam. Et ideo intentio non est pars rei sicut forma, sed potius est species totius notitiae rei; et ideo intentio, quia abstrahitur de toto et est significatio totius, de re praedicatur; intentio enim colorati, quae est in oculo, totam rem notificat, sicut et intentio, quae est in imaginatione particulari non praesente.

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Jörg Alejandro Tellkamp

währleistet wird.45 Das soll heißen, dass nicht nur Menschen einen wahren oder falschen Bezug auf Sachverhalte herstellen können, sondern auch Tiere. Wahrheit und Falschheit sind demnach Eigenschaften von Gedanken, wobei die Vermutung nahe liegt, dass sie propositionaler Natur sind; in diesem Sinn wären Tiere in der Lage, die Welt propositional zu repräsentieren. Die Feststellung, dass auch Tiere in der Lage sind, wahre oder falsche Repräsentationen zu haben, ist dabei von Bedeutung für die Frage nach dem kognitiven Gehalt von Affekten. Die Strukturgleichheit tierischer und menschlicher Sinneserkenntnis in Begriffen von Wahrheit oder Falschheit bringt mit sich, dass die von beiden erfassten intentiones auf tatsächliche Sachverhalte zutreffen können oder nicht. Das Schaf kann sich irren, ob es tatsächlich einen Wolf gesehen hat, und dementsprechend wird es einen entsprechenden Affekt haben oder nicht. Die Sinneswahrnehmung von rationalen und nicht rationalen Tieren ist aber auch insofern vergleichbar, als die von der phantasia und virtus aestimativa geleistete intentionale Zuordnung von Sachverhalten nur dann zu Affekten und Reaktionen führt, wenn sie unter dem Aspekt des Gut- oder Schlechtseins erfasst werden. Das Urteil der Sinne ist in der Tat entweder korrekt oder nicht, aber es ist kein Urteilen im Sinn46 begrifflichen Abwägens von Inhalten, wie es bei Menschen der Fall sein kann. Wenn ein Urteil zutrifft oder nicht zutrifft, dann führt der Inhalt, über den geurteilt wird, nicht zwangsläufig zu einem einzigen Affekt und somit zu einer einzig möglichen Reaktion. Albert der Große scheint eine kognitive Theorie der Affekte zu vertreten, wenn auch nicht in einem starken Sinn wie die Stoa; er stellt im Anschluss an Avicenna fest, dass es eine klare Verbindung von Intentionalität, propositional geartetem Denken und Affekten gibt. All dies ist vielleicht nicht besonders aufregend, und in der Tat ist man meines Erachtens am falschen Ort, wenn man in Alberts Werk nach einer ausgefeilten Psychologie – nicht Moraltheologie – der Affekte sucht. Die Bedeutung seiner Lehre rührt vielmehr daher, dass er sie aus der Physik und Erkenntnislehre heraus zu erhellen sucht und somit die kognitiven Elemente in den Vordergrund stellt.

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Dies wirft die Frage auf, ob man davon sprechen kann, dass zumindest höhere Tiere Gedanken (sententiae) haben können. Siehe auch MICHON, Cyril, Intentionality and ProtoThoughts, in: Ancient and Medieval Theories of Intentionality, Hg. Dominik Perler, Leiden/Boston/Köln 2001, S. 325-342. LBERTUS AGNUS : [...] Putare ponitur ibi pro aestimare secundum phantasiam.

A

M

(Anm. 15), S. 554b

Eberhard Schockenhoff

Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas von Aquin

Am Anfang der thomanischen Analyse der menschlichen Affekte steht eine Paradoxie: Der Mensch ist von Gott dazu bestimmt, vollkommenes, unzerstörbares Glück als die Vollendung seines Menschseins zu erlangen, doch vermag er aus eigenen Kräften dieses Ziel nicht zu erreichen. Seine natürliche Sehnsucht nach Glück bleibt in seinem irdischen Leben unerfüllbar, doch kann sie gemäß dem Axiom auch nicht für immer ins Leere gehen. Wäre der Mensch für ein Ziel geschaffen, das zu erreichen ihm auf Dauer verwehrt wäre, beruhte seine geschöpfliche Existenz auf einer Fehlkonstruktion seiner Natur, was mit der Weisheit des Schöpfers unvereinbar wäre. Die Antwort auf diese vom Menschen selbst aus unaufhebbare Paradoxie seines Wesens findet Thomas in der biblischen Hoffnung auf ewiges Leben, die für die postmortale Existenz des Menschen vollkommenes Glück in der unmittelbaren Gottesschau verheißt. In diesem Leben kann der Mensch nur ein unvollkommenes Glück erreichen, das vielfachen konstitutiven Begrenzungen unterliegt und von Thomas gleichwohl, da das moralische Leben des irdischen Menschen von Gottes Gnade getragen wird, als reale Antizipation des ewigen Glücks gedacht wird. Die bleibende Gefährdung des unvollkommenen Glücks, das der Mensch durch sein moralisches Handeln erlangt, ergibt sich für Thomas aus einer anthropologischen Einsicht, die seiner Analyse der menschlichen Antriebe voransteht. Die prekäre Situation des Menschen rührt daher, dass er als Individuum die wesensgemäßen Möglichkeiten der menschlichen Natur und der in sie eingeschriebenen Tendenz zum Guten nur in einer ihm persönlich anhaftenden Gebrochenheit verwirklichen kann. Zur Endlichkeit des Menschen als Gattungswesen tritt die konstitutive Begrenztheit seiner individuellen Natur hinzu, durch die er immer hinter dem zurückbleibt, was ihm kraft der spezifischen Bestimmung seines Menschseins möglich wäre. Im Hintergrund dieser Annahme steht die scholastische Theorie von der Individuation des Einzelwesens durch die Materie, die Thomas anhand der doppelten Verwendung des Begriffes „natürlich“ in unserer Sprache erläutert. „Natürlich“ nennen wir nicht nur das, was dem Menschen aufdesiderium naturale non potest esse inane

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Vgl. Summa theologiae I-II 95,1.

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Eberhard Sockenhoff

grund seiner wesensgemäßen Bestimmung „an sich“ zukommt, sondern auch die Korrumpierung, die seine artspezifischen Fähigkeiten durch das materielle Substrat erleiden, mit dem seine individuelle Geistseele zur substantialen Einheit verbunden ist. Diese konstitutive Schwächung betrifft alle Potenzen der Seele, die Kraft des Willens ebenso wie das Vermögen der Vernunft und die sinnlichen Strebungen. Die jeweilige Abweichung bewegt sich in der Regel jedoch innerhalb eines dem Menschen von seiner überindividuellen Wesensnatur vorgezeichneten Strukturrahmens, dessen Möglichkeiten er im Einzelfall mehr oder weniger ausschöpfen kann. Dabei ist das jeweilige Mehr oder das entsprechende Weniger durch das weite Spektrum der individuellen Dispositionen vorherbestimmt, die dem einzelnen ebenso „natürlich“ wie seine allgemeinen Gattungsmerkmale sind. Solche naturhaften Vorprägungen im zweiten, individuellen Sinn entsprechen am ehesten unserem modernen Begriff der persönlichen Charakterstruktur, mit dem Unterschied allerdings, dass Thomas darin stärker als es unserer Sicht entspricht bereits eine individuelle Präfiguration zum moralischen Verhalten auf der Ebene des eigenverantwortlichen Handelns erkennt. Er sieht in einem aufbrausenden Charaktertyp also nicht nur eine neutrale psychische Reaktionsweise, sondern auch eine ausgeprägtere Neigung zur Gewaltsamkeit und Bosheit im ethischen Sinn, sowie umgekehrt bestimmte Menschen besondere Anlagen zu einzelnen Tugenden aufweisen, wenn sie sich durch einen hervorstechenden Gerechtigkeitssinn und einen ausgeprägten Hang zur Tapferkeit auszeichnen oder sich in der Mäßigung ihrer sinnlichen Antriebe leichter tun als andere. Die individuelle Variationsbreite dieses Dispositionsfeldes ist so groß, dass auch das Maß der Tugend selbst nicht auf alle Menschen gleichermaßen angewandt wird, sondern entsprechend ihrer jeweiligen Kräfte und Fähigkeiten zu bemessen ist – mit der Konsequenz, dass für den einen noch als tugendhaft gelten kann, was für den anderen unter Umständen bereits lasterhaft ist. Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen anthropologischen Grundeinsichten für den Aufriss einer konkreten Ethik, die den Menschen dazu befähigen soll, mit seiner praktischen Vernunft verlässliche Urteile zu fällen und seine sinnlichen Antriebe auf sie hin zu lenken? Unter den Gegebenheiten der conditio humana bleibt auch das unvollkommene Glück, das sie dem Menschen in Aussicht stellt, stets gefährdet – nicht nur wegen der Zeitlichkeit seiner irdischen Existenz, die ihm die höchste Vollendung seiner geistigen Aktivität in der Kontemplation der Wahrheit nur mit Unterbrechungen gestattet, sondern auch wegen 2

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Vgl. Summa theologiae I-II 51,1 und 63,1, in denen Thomas das stoische Lehrstück von den semina virtutum aufgreift. Summa theologiae I-II 94,3 ad 3: Sic enim propter diversas hominum conditiones contingit, quod aliqui actus sunt aliquibus virtuosi, tanquam eis proportionati et convenientes, qui tamen sunt aliis vitiosi, tanquam eis non proportionati.

Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas

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seiner konstitutionellen Schwäche, aufgrund derer seine Versuche zu einer vernunftgemäßen Lebensführung immer wieder zu scheitern drohen. Es gelingt dem Menschen immer nur gebrochen, die naturhafte Tendenz seines Wollens in einem geordneten Streben zum Tragen zu bringen und seine wesensgemäße Vollendung durch den Filter der vielen Einzelgüter, auf die er sein partikuläres Wollen richten muss, im Auge zu behalten. Der Ausgangspunkt der thomanischen Analyse der menschlichen Antriebe ist deshalb nicht eine Theorie des moralischen Subjekts, die dessen Handlungskompetenz schon voraussetzt und nur noch nach den konkreten Inhalten des moralischen Gesetzes fragt, von denen her seine einzelnen Akte als sittlich richtig oder falsch zu bewerten sind. Thomas ist sich der Gebrochenheit der menschlichen Existenz und der Gefährdung des Menschen auf seinem Weg zum Guten überaus bewusst, auf dem ihm das moralische Gesetz immer nur eine äußere Hilfe sein kann. Er kennt auch das „andere Gesetz“, von dem Paulus spricht (Röm 7,23), die , die in seinen Gliedern steckt und mit dem Gesetz der Vernunft im Streit liegt. Von dieser Krise des menschlichen Geistes gegenüber dem Guten sind alle Vermögen der Seele betroffen, der Wille, dessen Ausrichtung am Guten geschwächt ist, nicht weniger als die Vernunft, deren „Waffen“ der Mensch auch dazu verwenden kann, seine Genusssucht und Grausamkeit zu befriedigen, statt sich in Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit zu üben. Vollends bedürfen seine sinnlichen Antriebe der unablässigen Indienstnahme durch die höheren Potenzen der Seele und der andauernden Überführung in ein vernunftgeleitetes Streben. Doch gilt gerade von solcher Disziplin und Regelmäßigkeit, dass der Mensch von sich aus nicht dazu imstande ist, denn „es gelingt ihm kaum, sich selbst zu genügen“ . All das zeigt: Der Mensch befindet sich aufgrund seiner Naturausstattung noch nicht auf der Höhe seiner selbst; in seinen Handlungspotentialen ist er nur äußerst mangelhaft darauf vorbereitet, seinen Lebenszielen zu entsprechen und in einer vernunftgemäßen Existenz die Vollendung seines Wesens zu erwirken. Er kann sich nicht zur Höhe seiner moralischen Bestimmung erheben, denn über weite Strecken hinweg muss sein anfängliches Bemühen darauf gerichtet bleiben, ein Gegengewicht zu den destruktiven Tendenzen seiner in Unordnung geratenen Natur einzusetzen, das ihre ursprüngliche Hinordnung auf seine wesensgemäße Vollendung wieder freilegt. So bleiben seine Lebensführung zerbrechlich und 4

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lex fomitis 6

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Vgl. Summa theologiae I-II 5, 1 ad 1; 5,7 und dazu ABBÀ, Giuseppe, Lex et virtus. Studi sull’evoluzione della dottrina morale di San Tommaso d’Aquino, Rom 1983, S. 161. Vgl. das prooemium zu Summa theologiae I-II 90. Vgl. Summa theologiae I-II 91,6. Vgl. Summa theologiae I-II 95,1 (Anm. 1). Ebd.: Ad hanc autem disciplinam non de facili invenitur homo sibi sufficiens. Vgl. dazu vor allem ABBÀ, Giuseppe, Felicità, vita buona e virtù. Saggio di filosofia morale, LAS 1995, S. 192-199.

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der Versuch, seinen Hunger nach Glück zu stillen, dem ständigen Wechselspiel mit Erfahrungen des Misslingens ausgesetzt. Modern gesprochen heißt dies: Der Mensch kommt als Orientierungswaise zur Welt, der es erst in mühevoller Disziplin und Selbsterziehung lernen muss, in wechselnden Lebenslagen die richtigen Entscheidungen zu treffen und das Chaos seiner Leidenschaften zu einem vernunftgeleiteten Streben zu ordnen. 1. Die Anatomie der menschlichen Seele

Trotz seiner Einsicht in den gefährdeten Status des Menschen und dessen mangelnde Vorbereitung auf seine moralische Lebensaufgabe versagt sich Thomas eine im geistigen Umfeld seiner Zeit überaus nahe liegende Lösung, in der augustinisch gesinnte Theologen wie sein Zeitgenosse Bonaventura (1217–1274) einen Ausweg aus dem Dilemma der conditio humana sahen. Thomas übernimmt weder einen prinzipiellen Dualismus von Vernunft und Sinnlichkeit noch die Zweiteilung der menschlichen Affekte in eine obere, vernunftbeherrschte Region, die zum Sitz der sittlichen Tugend wird, und eine darunter liegende Sphäre reiner Leidenschaftlichkeit, die durch den Abbruch ihrer Spontaneität allenfalls einen negativen Beitrag zum moralischen Handeln leisten kann. Vielmehr rechnet er damit, dass alle menschlichen Antriebskräfte, also auch die seelischen Affekte und die sinnlichen Neigungen, zur wesensgemäßen Vollendung des Menschen beitragen, sofern sie sich auf sein vernunftbestimmtes Lebensziel hinordnen lassen. Die naturale Antriebsstruktur des Menschen, die wegen seiner naturgeschichtlichen Herkunft weitgehende Analogien zum Tierreich aufweist, ist deshalb von Anfang an auf eine spezifisch humane Existenzweise ausgerichtet. In dem Aristoteleskommentar De anima fordert Thomas, dass der Mensch, der sich auf den Weg der moralischen Selbstaneignung machen und zu gültiger sittlicher Erkenntnis gelangen will, zuvor die Kräfte seiner Seele kennenlernen muss. Erziehung zur Moralität – sei es als pädagogische Hinführung zum Guten, sei es als fortschreitende Selbstinbesitznahme durch die Formung des eigenen Charakters – betrifft nämlich nicht nur die kognitiven Fähigkeiten des Menschen und seine moralische Urteilskraft. Sie beginnt damit, dass wir uns unserer seelischen Reaktionsweisen, die uns im eigenen Erleben immer schon auf vorreflexive Wei10

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Vgl. BONAVENTURA, III Sent., d. 39, q. 9, arg. 4 und dazu CHENU, Marie-Dominique, Les passions vertueuses. L’Anthropologie de S. Thomas, in: Theologie und Philosophie 72 (1974), S. 11-18. Vgl. Summa theologiae I-II 24,1 ad 1; 24,2 ad 3. De Anima I, 7 (nr. 22).

Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas

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se präsent sind, bewusst werden, und dass wir es lernen, wie Aristoteles sagt, an den rechten Dingen Freude und Schmerz zu empfinden. Entsprechend muss auch eine philosophische Ethik, die den konkreten Vollzug eines vernunftgeleiteten Handelns unter den wechselhaften Gegebenheiten des Lebens darstellen will, die Anatomie der menschlichen Seele erforschen und nach einsehbaren Gesetzmäßigkeiten fragen, die der phänomenologischen Vielfalt ihrer Reaktionsweisen zugrunde liegt. Die von einer verstehend-nachvollziehenden Aufmerksamkeit geleitete Untersuchung, die Thomas sich selbst vorschreibt, soll nicht nur deskriptiv darlegen, wie wir Menschen Freude und Schmerz, Lust und Unlust empfinden und dadurch zum Handeln bewegt werden. Diese phänomenorientierte Bestandsaufnahme muss vielmehr zur Einsicht in das Wirkgefüge der menschlichen Antriebe vordringen, damit sie Aufschluss darüber erhält, warum ein bestimmtes psychisches Geschehen nicht nur immer wieder so abläuft, sondern aufgrund einer notwendigen Gesetzmäßigkeit auch so ablaufen muss, wie wir es erleben. Entsprechend dem methodischen Ideal der zeitgenössischen Wissenskultur richtet sich die Aufmerksamkeit der thomanischen Psychologie dabei vor allem auf die formalen Aspekte unserer seelischen Reaktionsweisen, die es erlauben, die breite Skala menschlicher Antriebe auf einheitliche Wurzeln zurückzuführen. Das ganze Spektrum unserer psychischen Erlebnisweisen geht danach auf eine gemeinsame Grundstruktur des Empfindungsvermögens zurück, die seit der Frühscholastik im Anschluss an die aristotelische Zweiteilung der Seele gedeutet wird. Dabei wird der begehrende Seelenteil, das epithymetikon des Aristoteles in der lateinischen Schulterminologie zur vis concupiscibilis, während die muthaften Triebe des thymetikon wegen ihrer Nähe zum Affekt des Zornes als vis irascibilis zusammengefasst werden. Die schöpferische Leistung des Thomas liegt auch im Bereich seiner Seelenlehre weniger in den einzelnen Bauteilen des Systems, als in der Inventarisierung, die er damit vornimmt, sowie in der Begründung, die er für sie anführt. Die polare Grundstruktur, auf die er das mannigfaltige psychische Erlebnisfeld zurückführt, ergibt sich für ihn aus dem zwiespältigen Charakter unserer Welterfahrung, durch 13

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Vgl. De veritate 10,8. Vgl. ARISTOTELES, Nikomachische Ethik II,2 (1104 b 12). In seinem Kommentar zu dieser Stelle sieht Thomas darin sogar das eigentliche Ziel der sittlichen Tugend: delectatio est principalis finis omnium virtutum ... quia intentio cuiuslibet virtutis moralis est ad hoc quod aliquis recte se habeat in delectando et tristando (In Ethicorum II,3 [nr. 267]). I 87,1: ... requirit diligens et subtilis inquisitio. Zur Vorgeschichte und zur sachlichen Klärung des Begriffspaares vgl. MEIER, Matthias, Die Lehre des Thomas von Aquin „De passionibus animae“ in quellenanalytischer Darstellung, Münster 1912, S. 1-41 und PFÜRTNER, Stephan H., Triebleben und sittliche Vollendung. Eine moralpsychologische Untersuchung nach Thomas von Aquin, Freiburg/Schweiz 1958, S. 40-59.

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Eberhard Sockenhoff

den unsere Begegnung mit der äußeren Wirklichkeit nicht nur im Mechanismus einfacher Lust- und Unlusterfahrungen ablaufen kann. Wie im Tierreich dienen die unterschiedlichen Formen unserer sinnlichen Wahrnehmung der Weltorientierung, aber im Gegensatz zu den vernunftlosen Sinnenwesen verläuft diese bei Menschen nicht mehr ausschließlich instinktgesichert. Sie setzt vielmehr eine komplexere psychische Leistung voraus, die das Zusammenspiel aller menschlichen Antriebskräfte – der Vernunft, des Willens und der Affekte – erfordert. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, der durch die unendliche Mannigfaltigkeit unserer einzelnen psychischen Äußerungen leicht verstellt wird, greift Thomas zunächst auf die einfacher verfasste körperliche Gegenstandswelt zurück. Auch die materiellen Dinge sind nicht einfach „da“, sondern sie erhalten sich durch eine doppelte naturhafte Tendenz gegenüber ihrer Umwelt im Sein. Zum einen trachten sie danach, das mit ihrem Wesen Übereinstimmende zu erhalten und alles Schädliche zu meiden, zum anderen aber müssen sie sich dem Bedrohenden entgegenstellen und entgegengesetzten Kräften Widerstand leisten. In dieser zweifachen Bewegungsrichtung, durch die alle Elemente der Körperwelt aufeinander einwirken, erkennt Thomas zugleich eine doppelte Ausdrucksform unseres sinnlichen Begehrensvermögens, durch die wir Reize unserer Umwelt aufnehmen und auf sie reagieren. Die seelischen Affekte der vis concupiscibilis sind durch einfache Gefühle der Hinneigung oder Abwendung gegenüber einem als lustvoll, bzw. schädlich erlebten Objekt gekennzeichnet. Freude und Trauer, Liebe und Hass und die ihnen verwandten Reaktionsmuster kommen bei aller Unterschiedlichkeit in ihrer psychischen Stimmungslage darin überein, dass sie sich auf ein Sinnenobjekt richten, das unmittelbar als gut oder schlecht erfahren wird; ihr formaler Gegenstand ist immer ein sinnliches Gut oder Übel im einfachen Sinn. Diese konkupisziblen Empfindungen folgen dem einfachen Schema von Reiz und Erfüllung und unterscheiden sich darin nicht von den Instinktreaktionen der Tiere. Stets antworten wir auf die Gegenwart eines sinnlichen Gutes mit spontaner Lust und Freude, während seine Abwesenheit ebensolche Unlustreaktionen hervorruft. Diese sinnlichen Affekte verlaufen ungehindert in einer Bewegungsrichtung und äußern sich als Zuneigung oder emotionale Abkehr; über die spontan erfolgende Auslösung dieses in seinem Ablauf festgelegten Mechanismus hinaus bedarf es keiner besonderen Leistung des psychischen Apparates. Die Schwierigkeit, diesen Regungen zu widerstehen, liegt darin, dass sie in ihrer Struktur immer gleich ablaufen; sie stellen die einfachsten Ausdrucksformen unseres seelischen Erlebens dar und bilden die Grundlage auch für die komplexeren Reaktionsweisen der Seele. 17

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Vgl. Summa theologiae I-II 12,5. Vgl. De veritate 25,2. Summa theologiae I-II 23,1.

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Trotz ihrer Zugehörigkeit zu den konkupisziblen Strebungen kommt der Liebe innerhalb dieser Gruppe allerdings eine Sonderstellung zu, die sie über die einfachen Lustempfindungen erhebt. Während nämlich jede seelische Leidenschaft wegen ihrer Hinneigung zu ihrem spezifischen Objekt eine gewisse Art von Liebe voraussetzt, erfordert diese umgekehrt nicht notwendig den aktuellen Besitz ihres Gegenstandes: Die Einigung mit ihrem Gut, die im Begriff der Liebe (amor) notwendig gedacht werden muss, hat die Kraft, die Abwesenheit dieses Guts zu überbrücken, was in der einfachen Lusterfahrung (delectatio) gerade nicht der Fall ist. Anders als die konkupisziblen Regungen, die in spontaner Zustimmung oder Flucht, in Freude und Liebe, in Trauer und Hass auf die Begegnung mit einem sinnlichen Reiz antworten, weisen die Affekte der vis irascibilis einen vielschichtigeren Aufbau auf. Durch sie reagiert die menschliche Psyche auf die Gefahr, die mit der Erreichung eines sinnlichen Gutes verbunden ist, oder auf den Widerstand, den sie dazu überwinden muss. Kühnheit und Furchtsamkeit sind deshalb ebenso wie Hoffnung und Zuversicht seelische Affekte, die nicht mehr auf einfache Lust- oder Unlustreaktionen reduzierbar, sondern aus diesen zusammengesetzt sind. Die Strebungen der zweiten Gruppe erfordern eine höhere psychische Anspannung und die Bereitschaft zum Triebverzicht um anspruchsvoller Ziele willen; sie stehen deshalb von vornherein in einer besonderen Nähe zur vernunftgeleiteten Existenzweise des Menschen. In ihren irasziblen Regungen setzt sich die Seele gegen eine widrige äußere Güterwelt zur Wehr, deren komplexe Reize sie nicht einfach durch ein dem Lustprinzip gehorchendes Auslösungsschema beantworten kann. Insofern kommt ihnen eine besondere Schutzfunktion zu, die sie den konkupisziblen Affekten als Abwehr zur Seite stellt. Ihr Gegenstand ist nicht das unmittelbare sinnliche Erlebnisobjekt, sondern das schwierige und nur unter Anstrengung zu erreichende Gut. In den Begriffen der modernen Psychologie entsprechen diese Antriebskräfte in etwa dem Realitätsprinzip (S. Freud) oder der lebensförderlichen Aggressivität 20

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(E. Fromm), denn durch sie setzt sich der Mensch gegen Gefahren und Widerstände zur Wehr, deren Überwindung stets Einsatz und Kampf erfordert. Wie das Lustprinzip aber nicht einfach vom Realitätsprinzip abgelöst, sondern durch es ergänzt wird, steht auch die erhöhte psychische Anspannung der vis irascibilis stets im Dienst unseres einfacheren Begehrens. Wie der Zorn zugefügter Beleidigung und Traurigkeit entspringt und nach seinem Aufbrausen wieder zur Ruhe 20

21

Vgl. Summa theologiae I-II 27,4: nulla alia passio animae est quae non praesupponat aliquem amorem. Summa theologiae I-II 28,1 ad 1: Delectatio requirit unio realis sicut causam: desiderium vero est in reali absentia amati: amor vero et in absentia et in praesentia. und dazu DROST, Mark P., In the Realm of the Senses: Saint Thomas Aquinas on Sensory Love, Desire and Delight, in: The Thomist 59 (1995), S. 47-58, insbesondere 56. Vgl. Summa theologiae I-II 23,1-2.

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führt, oder wie das Tier den Kampf um die Nahrung nur um der Befriedigung seines Triebes willen aufnimmt, so gehen alle irasziblen Affekte der Seele von einem Begehren des konkupisziblen Vermögens aus, in das sie auch wieder zurückmünden. Sie verfolgen kein anderes Ziel als die einfachen sinnlichen Affekte und sichern dem Menschen die Erfahrung sinnlicher Erfüllung auch in den Formen der Weltbegegnung, die sich seinem unmittelbaren Luststreben entziehen. So sind die irasziblen Antriebe sekundäre Affekte, die erst dann auf den Plan treten, wenn sich unserem Weg zum Guten Hindernisse entgegenstellen. Im Einzelnen zählt Thomas Liebe und Hass, Begehren und Abscheu, Lust oder Freude und Schmerz oder Traurigkeit zur Gruppe der ersten Affekte, während Hoffnung und Verzweiflung, Furcht und Kühnheit sowie der Zorn die zweite bilden. Da sich unsere seelischen Antriebe zum einen danach unterscheiden, ob sie ein bereits gegenwärtiges oder zukünftiges bonum oder malum zum Gegenstand haben, sie zum anderen aber auch danach beurteilt werden können, ob sie als Reaktion eine Bewegung der Hinwendung oder Abkehr von diesem Objekt der Lust bzw. Unlust darstellen, ergibt sich aus dieser Aufzählung eine vollständige Einteilung aller psychischen Affekte. Sie lassen sich durchgängig zu polaren Gegensatzpaaren wie Liebe und Hass, Freude und Schmerz usw. zusammenstellen, mit Ausnahme des Zornes, der als Reaktion auf ein großes hereinbrechendes Übel kein affektives Gegenüber hat. Nimmt man jeweils die obersten Potenzen unseres Erkenntnis- und Strebevermögens, also Vernunft und Willen, hinzu, so vervollständigt sich das Gesamtschema seelischer Antriebe, aus deren Wechselspiel sich das moralische Handeln des Menschen aufbaut. 22

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Hinwendung

Abkehr

vis concubiscibilis

amor desiderium gaudium

odium fuga tristitia

vis irascibilis

spes timor ira

desperatio audacia ---

Das Strukturgefüge der menschlichen Antriebe befindet sich nun keineswegs in einer prästabilierten Harmonie, in der alle Handlungspotentiale von sich aus zur 22 23

Vgl. Summa theologiae I 81,2; I-II 23,1 ad 1; De veritate 25,2. Vgl. Summa theologiae I-II 23,4.

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Verwirklichung des Guten zusammenwirken. Die sinnlichen Neigungen sind zunächst auf partikuläre Güter wie Nahrung, Genuss, Macht, Besitz, Reichtum und sexuelle Lust ausgerichtet; das Maß der Vernunft (medium rationis), nach dem sie der Mensch gebrauchen soll, ist kein seiner Sinnlichkeit immanenter Maßstab. Dennoch hält Thomas den ursprünglichen Dualismus, den man vielleicht besser als eine anfängliche Fremdheit von Vernunft und Sinnlichkeit bezeichnen sollte, für überwindbar. Sein ethisches Leitbild fordert nicht die Unterdrückung der sinnlichen Antriebskräfte, sondern ihre Indienstnahme für die eigentlich humanen Lebensziele. Der Mensch soll in seinem Handeln das Licht der Vernunft zum Leuchten bringen; dazu sind ihm nicht nur seine intellektuellen Fähigkeiten – sein theoretisches Erkenntnisvermögen und seine praktische Urteilskraft – an die Hand gegeben. Auf dem Weg der Charakterbildung und Selbsterziehung soll er auch seinen Willen und seine sinnlichen Antriebe auf eine vernunftgemäße Lebensführung hin ausrichten; sie sind nicht dazu da, dass er sie unterdrückt und ihre Eigendynamik abbricht, sondern dass sie ihn auf seinem Weg zum Guten geleiten. Das Glück des Menschen ist kein Gefühl und kein sinnlicher Zustand, sondern es besteht – das hat die Betrachtung des unvollkommenen Glücks ergeben, das die Menschen in diesem Leben verfolgen – in einem vernunftgemäßen Leben in Übereinstimmung mit sich selbst und in einer erfüllenden Beziehung zur Welt. Dazu aber ist das Gutsein des ganzen Menschen erfordert, damit er auch als Sinnenwesen Ruhe und Zufriedenheit finden kann. Wenn Glücklichsein eine bestimmte Art zu leben meint, eine Ordnung menschlicher Lebensverhältnisse, in der Vernunft und Liebe aufscheinen, dann gehört es zur Vollkommenheit solchen irdischen Glücks, dass auch die sinnlichen Leidenschaften darin ihre vernunftgemäße Erfüllung finden. Erst die Kultivierung der sinnlichen Lustempfindungen bringt deshalb die letzte Vollendung menschlichen Gutseins hervor, ebenso wie umgekehrt der Mangel an Leidenschaftlichkeit zugleich ein Mangel an Gutem ist, den Thomas ausdrücklich als Fehlhaltung beklagt. 24

25

2. Präfiguration der Tugenden Thomas beschreibt diese Inführungnahme durch die Vernunft mit den politischen Kategorien der antiken Staatslehre als einen principatus regalis, wie er der rechtmäßigen Herrschaft über freie Bürger entspricht. Anders als die äußeren Gliedmaßen unseres Körpers, die dem Befehl des Willens wie Sklaven folgen, behalten die sinnlichen Antriebskräfte ihre Eigendynamik, aufgrund derer sie sich 24 25

Vgl. Summa theologiae I-II 24,3. 4 ad 2; vgl. Summa theologiae II-II 142,1.

De virtutibus

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der Führung durch die Vernunft auch verweigern können. Die Erfahrung, dass unsere sinnlichen Antriebe sich gerade an dem erfreuen, was die Vernunft verbietet, während ihre Vorschriften oft Unlust und Schmerz bereiten, wird in der thomanischen Theorie unserer Seelenkräfte nicht verdrängt. Die darin vorausgesetzte Anthropologie kennt kein totalitäres Diktat der Vernunft, das einen Ausgleich unter den divergierenden sinnlichen Interessen der Menschen verfügt, sondern nur den mühsamen Weg der vernünftigen Selbstaneignung und der freien Inbesitznahme unserer Leidenschaften durch die Vernunft, auf dem wir es allmählich lernen, unser Glück in dem zu suchen, was uns unserer wesensgemäßen Erfüllung näher bringt. Weil unsere sinnlichen Antriebe – und ebenso unser auf das eigene Gut gerichteter Wille – sich der Führung durch die Vernunft versagen und ihre desintegrativen Eigenziele verfolgen, muss Thomas nach einem Widerpart Ausschau halten, den er ihnen entgegensetzen kann. Eine aussichtsreiche Anti-Strategie der Vernunft, die ein solches Gegengewicht bilden könnte, darf nicht nur von oben befehlen. Sie muss ihre Kräfte vielmehr von unten aufbauen und in den gleichen Tiefenschichten unseres personalen Erlebens – Thomas sagt: in den gleichen Potenzen unserer Seele – verwurzelt sein, denen die selbstzerstörerischen Tendenzen unseres Wesens entspringen. Diese alternativen Handlungskräfte, die uns dem Schlechten entwöhnen und auf einen Weg bringen, auf dem die Vernunft Macht über uns gewinnen kann, bis der Vorschein ihres Lichtes unserem Leben eine feste Richtung gibt, nennt Thomas die sittlichen Tugenden. Ein Mensch, der es lernt, sich an dem zu freuen, was ihm wirklich gut tut und ein Gespür dafür entwickelt, was ihm schadet, entwickelt Fähigkeiten und Kräfte in sich, die den destruktiven Tendenzen seiner Psyche widerstehen und ihn unter der Leitung der Vernunft immer mehr mit dem Guten vertraut machen, bis es ihm am Ende fast zur Gewohnheit wird, vernunftgemäß zu leben und zu handeln. Thomas übernimmt den Tugendgedanken in seinen wesentlichen Elementen ebenso wie die Einsicht in das Wechselspiel von Freiheit und Charakter von seinem philosophischen Gewährsmann Aristoteles, doch lässt er sich in der Ausgestaltung seiner konkreten Ethik von einer stärker systematisierenden Absicht leiten. Seine eigentlich bedeutsame theologiegeschichtliche Leistung liegt jedoch nicht in der klassifikatorischen Einteilung aller 44 Einzeltugenden, die er mit erkennbarer Lust an subtilen Distinktionen aufzählt, sondern in der Verknüpfung des Schemas von den vier Kardinaltugenden mit den drei göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe, die ihm die Integration des ganzen moralischen 26

26

Vgl. I 81,3 ad 2; Summa theologiae I-II 17,7.

Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas

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Lebens in das Gottesverhältnis ermöglicht. Dadurch gelingt es ihm, das begrenzte Glück dieses Lebens, das der Mensch in der Betrachtung der Wahrheit und in einer vernünftigen Lebensführung erreicht, mit dem vollkommenen Glück zu verbinden, das ihm durch Gottes Gnade im Glauben zuteil wird. Der Mensch muss seine wesensgemäße Vollendung, das ist der auch philosophisch relevante Ertrag dieser theologischen Besinnung, am Ende nicht selbst erwirken. Sein moralisches Leben zeigt sich vielmehr als der Anfang einer Bewegung, die ihn in Glaube, Hoffnung und Liebe über sich selbst hinausführt und ihm schon jetzt das Ziel vor Augen stellt, in dem sein Streben einmal ganz und für immer, ohne dass ein Rest unerfüllter Sehnsucht zurückbleibt, zur Ruhe kommt. Die Verbindung der Kardinaltugenden mit den theologischen Tugenden sowie die komplementäre Zuordnung der mit diesen verbundenen virtutes infusae zu den erworbenen Tugenden beschreibt diese Bewegung nach einem architektonischen Gliederungsprinzip, das als materialethische Ausgestaltung des theologischen Axioms gelten kann, nach dem das göttliche Leben der Gnade die Natur nicht zerstört, sondern durchwirkt und vollendet. 27

28

3. Topik des guten Lebens Neben diesem Ausblick auf die letzte Vollendung des Menschen verfolgt Thomas seine Gedankenlinie aber auch in der anderen Richtung weiter, in der er nach dem Anknüpfungspunkt der Tugenden und ihrer Verwurzelung in den einzelnen Antriebskräften der Seele fragt. Indem er das Schema der vier Kardinaltugenden mit seiner Theorie der menschlichen Antriebe und dem Gefüge der natürlichen Neigungen des Menschen zusammenführt, erschließt sich ihm die „naturale Unbeliebigkeitslogik“ (W. Korff), die unserem moralischen Handeln zugrunde liegt.29 27

Vgl. dazu PESCH, Otto Hermann, Thomas von Aquin. Größe und Grenze mittelalterlicher Mainz 1988, S. 231-245 und (kritisch gegenüber der Unterscheidung von Einzeltugenden als pars integralis, pars subiectiva und pars potentialis übergeordneter Kardinaltugenden) YEARLEY, Lee H., Mencius and Aquinas. Theories of Virtue and Conceptions of Courage, New York 1990, S. 29-35. Theologie,

28

29

Zu dieser Interpretation, die dem suarezianisch-thomistischen Parallelismus von erworbenen und eingegossenen Tugenden ein Modell der Komplementarität in Analogie zur Einheit von Materie und Form entgegenstellt, das sowohl den Primat der göttlichen Gnade als auch die Eigenbedeutung der menschlichen Aktivität wahren kann, vgl. SCHOCKENHOFF, Eberhard, Bonum hominis. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Tugendethik des Thomas von Aquin, Mainz 1987, S. 334-349 und MIRKES, Renée, Aquinas Doctrine of Moral Virtue and its Significance for Theories of Facility, in: The Thomist 61 (1997), S. 189-218, insbesondere 191ff. und 203. Vgl. dazu KORFF, Wilhelm, Norm und Sittlichkeit. Untersuchungen zur Logik der normativen Vernunft

, Mainz 1973, S. 42-61.

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Eberhard Sockenhoff

Wenn der Tugendkanon wegen der großen kulturellen und individuellen Variationsbreite des Menschseins immer nur ein offenes Rahmengefüge bleiben kann, das sich in seinen einzelnen Zuordnungen auch anders ausfüllen lässt, als Thomas dies in der Secunda secundae durchführt, so ist er doch in seinem Grundriss keineswegs beliebig. Jede der vier Grundtugenden hat ihren Sitz in einer der seelischen Antriebskräfte, die sie dazu instand setzt, ihren Beitrag zu einer richtigen Lebensführung zu leisten. Weil auch die zerstörerischen Kräfte den Menschen immer in einem bestimmten Ausschnitt seiner Lebensführung gefährden, so dass einer seinen beruflichen Verpflichtungen penibel nachkommen und als Wissenschaftler äußerst pflichtbewusst handeln und dennoch seine Aufgaben als Ehemann sträflich vernachlässigen kann, muss auch die Gegenstrategie des Guten in den einzelnen Tätigkeitsvermögen ihren Anfang nehmen. Die konstitutionelle Schwäche des Menschen, der von Natur aus nur notdürftig dazu ausgerüstet ist, der Bestimmung zu einer vernunftgemäßen Existenz zu entsprechen, muss so durch eine hinzukommende Vervollkommnung überwunden werden, die bis in die einzelnen Handlungsvermögen hinabreicht. Dass sich der Mensch von sich aus in einem Missverhältnis zu seiner moralischen Bestimmung vorfindet, gilt ja, wie die Analyse seiner seelischen Antriebe gezeigt hat, für alle Potenzen der Seele, für das rationale Vermögen nicht anders als für den Willen und die konkupisziblen und irasziblen Leidenschaften. Der praktischen Vernunft ist im Bauplan der menschlichen Existenz die Aufgabe zugedacht, die affektiven Kräfte in Dienst zu nehmen und einer geordneten Lebensführung zu unterstellen. Sie ist dafür jedoch nur hinsichtlich ihrer universalen Prinzipien und durch einen groben Umriss ihres praktischen Wissens, nicht aber im Einzelnen vorbereitet. Kraft seiner praktischen Vernunft weiß der Mensch immer schon, nach welchen Grundsätzen er sein Leben zu ordnen hat. Die formalen Gesetze der Logik, nach denen auch seine praktische Urteilskraft ihre Denkoperationen vollzieht, genügen indes nicht zur angemessenen Erfassung des Konkreten und seiner Vielfalt, mit der wir es im Handeln zu tun haben. Die Einschätzung einer gegebenen Situation, das genaue Abwägen ihrer Möglichkeiten und ein sicheres Urteil im Einzelnen ist erst der Klugheit möglich, die den Menschen als recta ratio agibilium dazu befähigt, spontan das Rechte zu wählen. Sie beschränkt sich nicht auf die Auswahl geeigneter Mittel, die uns in die Lage versetzen, die bereits feststehenden Ziele oder Teilziele einer vernünftigen Lebenspraxis zu erreichen. Die missverständlichen und interpretationsbedürftigen Texte, die das Wirken der Klugheit auf die Aufgabe einer bloßen Mitteldisposition zu beschränken scheinen, handeln, wie der Vergleich mit anderen thomanischen Aussagen zeigt, in Wirklichkeit nur von einer Vorform der wahren Klugheit, die 30

30

Summa theologiae I-II 58,5.

Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas

237

deren Leistung von einer wesentlichen, doch in ihrem ganzen Wirkungsgefüge untergeordneten Teilfunktion her beschreibt. Der vollkommenen Klugheit kommt dagegen die Aufgabe zu, dass „sie zum guten Ziel des ganzen Lebens recht berät, urteilt und befiehlt.“31 Ihre konsiliative Funktion besteht also nicht in einem bloßen Räsonnement über einzelne Teil-

schritte und untergeordnete Mittel, sondern darin, dass sie in den Handlungsbereichen der einzelnen Tugenden die jeweilige „Mitte“ und das situationsadäquate Maß der Vernunft festsetzt. Sie „leitet“ ( ) den Menschen auf dem Weg zum Guten, sie „führt“ ( ) ihn zu seinen Lebenszielen hin, sie „befiehlt“ ( ) und „ordnet an“ ( ), um auf diese Weise in den menschlichen Handlungspotentialen eine der Vernunft konforme Bewegung hervorzurufen. Erst durch eine solche auf den Einzelfall gerichtete praktische Urteilskompetenz kann sich die Maßstäblichkeit der Vernunft über unsere gesamte Lebensführung erstrecken, so dass alle Potenzen und Affekte des Menschen in der Weise und in dem Maß entfaltet werden, wie es unserer Bestimmung zu einer vernunftgemäßen Existenz entspricht. Aufgrund ihres präzeptiven Charakters kommt der Klugheit so die eigentliche Scharnierfunktion im Verhältnis der Vernunft zu den übrigen seelischen Antriebskräften zu. Durch sie überträgt sich die Regelhaftigkeit der Vernunft auf die übrigen moralischen Tugenden, die ihre eigene Vollkommenheit nur insofern erreichen, als sie mit der Vernunft übereinstimmen. Der des Menschen, der aufgrund seiner naturhaften Tendenz das Gut der eigenen Vollendung erstrebt, wird durch die Tugend der instand gesetzt, in Übereinstimmung mit der universalen Vernunftordnung das Gut der anderen – ihr Leben, ihr Eigentum, ihren Ruf, ihren Anspruch auf Wahrheit, kurz: den Schutz ihrer Personwürde in allen sozialen Beziehungen – mit der gleichen festen Willenshaltung zu erstreben, wie sie aus naturhafter Neigung auf das eigene Gut gerichtet ist. So soll die Vernunft ihre Macht in den zwischenmenschlichen Lebensverhältnissen dadurch erweisen, dass sie das partikuläre Wollen der einzelnen zueinander entschränkt und den gerechten Anspruch der anderen als dirigere

inducere

praecipere

ordinare

32

Wille

Gerechtigkeit

33

31

32 33

Summa theologiae II-II 47,13: Tertia autem prudentia est et vera et perfecta, quae ad bonum finem totius vitae recte consiliatur, indicat et praecipit. Vgl. dagegen Summa theologiae II-II 47,6 und 15. Zur Interpretation der thomanischen prudentia-Lehre vgl. PORTER, Jean, The Recovery of Virtue, Louisville 1990, S. 156-160 und RHONHEIMER, Martin, Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis, Berlin 1994, S. 359ff. Vgl. Summa theologiae I-II 63,2; 63,4. Vgl. Summa theologiae I-II 56,6; Summa theologiae II-II 58,1. Zu den Schwierigkeiten einer Eingrenzung der Willenstendenz auf das bonum proprium, die mit der naturhaften

Ausrichtung auf das universale Gut kollidiert, das sich unter jedweder Hinsicht – also unter Einschluss der gerechten Belange aller Menschen – als vollkommen zeigt, vgl. UTZ, Arthur F., Kommentar zur Deutschen Thomas-Ausgabe, Band 11, Salzburg / Leipzig 1940, S. 547-550.

238

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Gegenstand eines vernünftigen Willens im individuellen Streben fest und dauerhaft verankert. In diesem Sinn versteht Thomas die berühmte Definition des römischen Juristen Ulpian, der die Gerechtigkeit als festen und andauernden Willen bestimmt, jedem das Seine zuzuteilen. Über diesen distributiven Aspekt hinaus geht es der thomanischen Theorie der Gerechtigkeit aber auch um einen vernünftigen Ausgleich zwischen dem Individualwohl des Handelnden und dem Gemeinwohl der staatlichen Gemeinschaft, auf die er als soziales Wesen hingeordnet ist. Anders als in der politischen Philosophie der Neuzeit sind die naturhafte Tendenz zur Selbsterhaltung und die Hinordnung auf ein Leben in sozialer und politischer Gemeinschaft von Thomas als sich wechselseitig einschließende Größen und nicht als schlechthin antagonistische Bestimmungen gedacht: Das bonum commune erfordert den Schutz des Einzelwohls wie dieses umgekehrt auf das größere Gut der Gemeinschaft hingeordnet ist. Da dieses inklusive Verhältnis jedoch keinesfalls auf einer natürlichen Harmonie zwischen Individual- und Gemeinwohl beruht, muss die Vernunft, damit die vernunftgemäße Ordnung zwischen beiden aufgerichtet und bewahrt werden kann, den individuellen Willen durch die Gerechtigkeit dazu befähigen, das Gut der anderen und das Gut der Gemeinschaft zu erstreben. Um jedem das ihm Zukommende zu gewähren und einen gerechten Ausgleich zwischen den individuellen Eigeninteressen zu schaffen, genügt es jedoch nicht, nur die äußeren Auswirkungen des menschlichen Handelns in den Blick zu nehmen. Damit die Gerechtigkeit ihr Ziel erreicht, muss die Vernunft die Hindernisse aus dem Weg räumen, die sich ihr im Inneren des Menschen von Seiten seiner affektiven und irasziblen Neigungen entgegenstellen und ihrerseits Erfüllung suchen. Die Maßstäblichkeit der Vernunft im Bereich dieser Seelenpotenzen zur Geltung zu bringen, ist die Aufgabe der Tapferkeit und des Maßes. Die in der dritten und vierten Grundtugend zu34

sammengefassten Haltungen sollen verhindern, dass der Mensch durch die Verfolgung seiner sinnlichen Eigeninteressen oder durch ängstliches Zurückweichen vor Gefahren und äußerer Gewaltandrohung von der Regel der Vernunft abweicht und in seine destruktiven Tendenzen zurückfällt. 35 Auch die Antriebskräfte der niederen Seelenpotenzen, die dem Menschen mit den Tieren gemeinsam sind, werden so zu spezifisch menschlichen Leidenschaften, indem sie durch die moralischen Tugenden von der Vernunft geleitet werden. Anders als die tierische Instinktausstattung stehen sie in einer inne34

35

Diesen Aspekt hat neuerdings PORTER, Jean (Anm. 31), S. 50f. und 127 gegenüber der Überordnung des Gemeinwohls über das Einzelinteresse in der thomistischen Sozialphilosophie betont. Vgl. I-II 61,2-3; II-II 123,1. Summa theologiae

Summa theologiae

Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas

239

ren Hinordnung auf das bonum morale, die so eng ist, dass sie bei erfolgreicher Indienstnahme durch die Vernunft auch selbst vernünftig genannt werden können. Erst im Zusammenspiel dieser vier Grundtugenden, denen die Klugheit voransteht, weil sie den Menschen direkt auf die Vernunft hinordnet, kann der Mensch seiner Bestimmung zu einer vernunftgemäßen Existenz entsprechen. Das zerbrechliche irdische Glück, das er in einem tugendhaften Leben erwirken soll, besteht ja nicht nur darin, dass sich sein Intellekt zur Schau der Wahrheit erhebt, sondern ebenso darin, dass er alle Kräfte seiner Seele in einer seiner Würde als Vernunftwesen entsprechenden Weise entfaltet und seine Handlungen auf das Ziel einer wahrhaft menschlichen Existenz hinordnen kann, in der das individuelle Gut des Einzelnen (Maß und Tapferkeit) und das Gut der Gemeinschaft (Gerechtigkeit) miteinander versöhnt sind. Die innere Koordination, in der das Schema der vier Kardinaltugenden zu dem Gesamtgefüge der menschlichen Antriebe steht, bekräftigt nochmals, dass der ganze Mensch auf das Ziel des secundum rationem vivere ausgerichtet werden soll. Erst darin erreicht die sittliche Tugend ihre Vollkommenheit, gemäß dem Psalmwort: „Mein Herz und mein Fleisch jauchzen ihm zu, ihm dem lebendigen Gott“ (84,3), wobei man das „Herz“ auf den vernünftigen Willen und das „Fleisch“ auf die Leidenschaften des Menschen beziehen kann. Durch den Aufweis der anthropologischen Kohärenz zwischen unseren Grundtugenden und unseren Grundtrieben zeigt Thomas, wie die moralischen Tugenden den Menschen auf seinem Weg zum Guten geleiten und dabei auch die sinnlichen Potenzen seiner Seele erfassen, so dass diese das Werk der Vernunft unterstützen und den Menschen als sinnliche Antriebe zum Guten führen. Damit hat er den Grundriss einer materialen Ethik, die das sittlich richtige Handeln des Menschen in seinen einzelnen Lebensbereichen beschreibt, mit dem Ausgangspunkt seiner Überlegungen hinsichtlich des dem Menschen möglichen Glücks verbunden. Die Einsicht in das gefährdete, doch gleichwohl gültige Glück dieses Lebens steht so auch über dem Abschluss seines Tugendkanons, in den das Gefüge der menschlichen Antriebe von Anfang an einbezogen ist: „Das Gut des Menschen, insofern er Mensch ist, besteht darin, dass die Vernunft zur vollkommenen Erkenntnis der 36

37

38

36

Summa theologiae I-II 24,1 ad 2: etiam inferiores vires appetitivae dicuntur rationales, secundum quod participant aliqualiter rationem. Vgl. auch In III Sententiarum d. 29, c. 1 ad 4 und dazu PINTO DE OLIVEIRA, Carlos-Josaphat, Ordo rationis, ordo amoris. La notion d’ordre au centre de l’univers éthique de S. Thomas, in: Ders. (Hg.), Ordo sapientiae et

37

amoris (= FS Torrell), Freiburg/Schweiz 1993, S. 285-302. Vgl. Summa theologiae I-II 57,5: ...oportet quod homo directe disponitur per habitum rationis; Summa theologiae I-II 57,5 ad 1: „Prudentia est necessaria homini ad bene vi-

38

Vgl. Summa theologiae I-II 24,3.

vendum, non solum ad hoc quod fiat bonus.

240

Eberhard Sockenhoff

Wahrheit gelangt, und dass die untergeordneten Strebungen gemäß der Regel der Vernunft geordnet sind.“39

4. Die besondere Aufgabe der Tugenden des konkupisziblen und irasziblen Bereichs Wie Ursula Wolf am Ende ihrer Studie über die aristotelische Mesotes-Lehre hervorhebt, hat erst Thomas von Aquin die Besonderheit der Tugendgruppe erfasst und treffsicher formuliert, die sich auf die konkupisziblen und irasziblen Affekte bezieht: Im Gegensatz zur Klugheit (Vernunft) und Gerechtigkeit (Wille), die unmittelbar auf das Ziel eines überlegten und bewussten Lebens verweisen, sind Standhaftigkeit (Tapferkeit) und Besonnenheit (Maß) Tugenden des Strebevermögens, deren Notwendigkeit sich40aus der inneren Ambivalenz menschlicher Affektivität und Emotionalität ergibt. Indem er so innerhalb des Schemas der vier Kardinaltugenden zwei Typen von Tugenden unterscheidet, stellt er die anthropologische Notwendigkeit (aufgrund der mangelhaften natürlichen Vorbereitung unserer Antriebskräfte) und die naturale Angemessenheit (aufgrund ihrer Verankerung in den einzelnen Potenzen der Seele) der Tugenden heraus. Starkmut und Tapferkeit wird die Vervollkommnung des irasziblen Strebvermögens (Mut) genannt, die zu einem vernünftigen Umgang mit (schweren) Gefahren 41 befähigt. Dies kann ein unterschiedliches, ja entgegengesetztes Verhalten bedeuten, je nach dem, wem gegenüber in welcher Situation Starkmut gefordert ist: Wo alle schweigen, ist ein offenes Wort mutig. Dagegen ist es zumeist feige, mit den Wölfen zu heulen; es kann folglich auch mutig sein, den Leuten nicht nach dem Mund zu reden. Im einen Fall soll man eine gute Sache entschlossen angehen und sich an ihre Spitze setzen, im anderen muss man sich dem Unrecht verweigern; dann ist es mutig, gerade das nicht zu tun, was unter dem Deckmantel gesellschaftlich akzeptierter Normalität scheinbar alle tun. Einmal ist entschlossenes Eingreifen richtig, um Unrecht zu verhindern, das andere Mal ist es besser, Unrecht zu erdulden als selbst Unrecht zu tun. Nicht jeder, der Gefahren nicht scheut und sogar Todesfurcht überwindet, besitzt die Tugend des Starkmutes. Ein heldenhaftes Draufgängertum gemäß dem Motto viva la muerte („es lebe der Tod“) mag dazu führen, dass vom Fanatismus irregeleitete Menschen Tod, Pest und 39 40

41

De virtutibus 9. Vgl. WOLF, Ursula, Über den Sinn der Aristotelischen Mesotes-Lehre, in: Aristoteles,

Nikomachische Ethik, Hg. Höffe, Otfried (= Reihe Klassiker Auslegen), 2. Aufl. Berlin 2006, S. 83-108, hier: S. 107. Vgl. Summa theologiae II-II 123,2 und zum Folgenden SCHOCKENHOFF, Eberhard, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg i.Br. 2007, S. 124ff.

Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas

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Cholera nicht fürchten – doch ist dies noch lange keine Tugend. Nur wer Gefahren aus Liebe zu einer guten und gerechten Sache widersteht, handelt wirklich mutig. Tapferkeit ist nämlich überall (und nur) dort gefordert, wo sich unser Wille auf ein anspruchsvolles Gut (bonum arduum) richtet, das nur unter Überwindung von Widerständen erreichbar ist; letzteres kann dabei entweder durch Standhalten und geduldiges Ausharren (resistere) oder durch Zupacken und Angreifen (aggredi) geschehen. Die charakteristische Verhaltensweise der Tapferkeit, ihr actus principalior, zeigt sich allerdings im Standhalten und nicht im Angriff, weshalb Josef Pieper ihr eigentliches Wesen42 als ein Festhalten am Guten angesichts der Übermacht des Bösen kennzeichnet. Tapferkeit ist keineswegs nur im Krieg oder bei sportlichen Auseinandersetzungen verlangt, doch hat sie immer mit der Überwindung von Furcht – im äußersten Fall eben der Todesfurcht – zu tun. Die von ihr moderierten irasziblen Strebungen stellen eine zusammengesetzte, komplexe Reaktionsweise der Psyche dar, denn durch sie setzt sich der Mensch gegen Widerstände zur Wehr, deren Überwindung Einsatz und Kampf erfordert. In den Begriffen der modernen Psychologie entspricht die Vervollkommnung dieser Antriebskräfte am ehesten dem Realitätsprinzip im Sinne Freuds (als notwendige Ergänzung zum Lustprinzip, dem das einfache Begehren der konkupisziblen Strebungen entspricht) oder dem Konzept der ursprünglich defensiven und lebenserhaltenden Aggressivität, die nach Fromm zu einem produktiven Charakter gehört.43 Unter vertrauteren Namen zeigt sich uns die Tapferkeit als Einsatzfreude, als Zivilcourage, Frustrationstoleranz oder einfach als Bereitschaft, Herausforderungen nicht auszuweichen und Bedrohungen standzuhalten. Tapferkeit und Mut sind immer dann gefordert, wenn wir uns für anspruchsvolle Lebensziele entscheiden und ihrem fordernden Anspruch nicht ausweichen. Sie sind jedoch genauso im Scheitern unserer Lebenspläne und für den rechten Umgang mit Niederlagen hilfreich. Diese annehmen zu können, ohne sie zu verdrängen, und uns an den Widerständen, die sich uns in den Weg stellen, wachsen zu lassen – das ist der eigentliche Beitrag der Tapferkeit zu einem reifen Menschsein. Die Grundhaltung des rechten Maßes oder der Besonnenheit steht im Dienst der sinnlichen Lebensfreude, die eine unverzichtbare Dimension des guten Lebens ist. Auch wenn ein solcher Satz überraschend klingt, weil wir mit dem Wort „Mäßigung“ eher die Zurückdrängung der Leidenschaft als ihre gedeihliche Förderung assoziieren, beschreibt er doch exakt die Funktion, die der letzten Grund42

43

Vgl. Summa theologiae II-II 123,6 und dazu PIEPER, Josef, Vom Sinn der Tapferkeit, in: Werke Bd. IV: Schriften zur philosophischen Anthropologie und Ethik: Das Menschenbild der Tugendlehre, Hg. Wald, Berthold/Pieper, Josef, Hamburg 1996, S. 123f. Vgl. FROMM, Erich, Anatomie der menschlichen Destruktivität (orig.: The Anatomy of Human Destructiveness), Reinbek 1977, S. 212ff. Vgl. auch FROMM, Erich, Die Revolution der Hoffnung (orig.: The Revolution of Hope), Reinbek 1976, S. 21ff.

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Eberhard Sockenhoff

haltung innerhalb der Gesamtarchitektur des Tugendkanons zukommt: Die temperantia vervollkommnet das sinnliche Begehren des konkupisziblen Strebevermögens. Entsprechend den einzelnen Körpersinnen des Menschen gibt es unterschiedliche Arten der Lustempfindung: die Lust des Sehens und Hörens, die Lust des Riechens und Schmeckens, vor allem aber, da ihre Empfindungen am stärksten sind, die Lust körperlicher Berührungen, die dem Tastsinn zugeordnet ist. Zu ihr gehört nicht allein die Befriedigung des Sexualtriebes, sondern auch das genussvolle Erleben, das mit Essen und Trinken verbunden sein kann. Nicht umsonst sprechen wir von einem „Gaumenkitzel“, um besonders erlesene Genüsse dieser Art zu bezeichnen. Aufgabe der Tugend des Maßes ist in all diesen Bereichen, das jeweilige sinnliche Streben der einzelnen Partialtriebe in ein personales Erleben von Lust, Freude und Genuss zu überführen und so in das Gesamtgefüge der leib-seelischen Einheit des Menschen zu integrieren. Das Glück des Menschen ist kein Gefühl und kein sinnlicher Zustand, sondern es besteht in einem vernunftgemäßen Leben in Übereinstimmung mit sich selbst und in einer erfüllenden Beziehung zur Welt der anderen. Dazu aber ist das Gutsein des ganzen Menschen erforderlich, damit er auch als Sinnenwesen Ruhe und Zufriedenheit finden kann. Wenn Glücklichsein eine bestimmte Art zu leben meint, eine Ordnung menschlicher Lebensverhältnisse, in der Vernunft und gegenseitiges Wohlwollen die Regie führen, dann gehört es zur Vollkommenheit solchen Glücks, dass auch die sinnlichen Leidenschaften darin ihre vernunftgemäße Erfüllung finden.44 Erst die Einordnung der sinnlichen Lustempfindungen in die Ganzheit des personalen Daseins bringt deshalb die letzte Vollendung menschlichen Gutseins hervor, die ein tugendhafter Mensch mit allen Fasern seines Wesens erstreben soll. Der Mangel an Leidenschaftlichkeit und sinnenfroher Erlebnisfähigkeit ist deshalb keineswegs ein Zeichen moralischer Willensstärke, sondern umgekehrt ein Mangel an Gutem, also eine moralische Schwäche des Menschen. Zwar verstößt der Ausschweifende und Zügellose (akolastos), der das gute Leben in der Lust erblickt, in noch stärkerem Maß gegen die Vernunft als der Willensschwache (akratês), der die Lust wider bessere Einsicht in ungeordneter Weise erstrebt (das heißt den Genüssen des Lebens so nachgeht, wie er eigentlich nicht soll, weil er weiß, dass es ihm schadet).45 Aber das Zurückdrängen von Freude und Lust ist nicht als solches von Wert; das stoische Ideal der Affektfreiheit und Leidenschaftslosigkeit der Seele widerspricht ebenso der Tugend des rechten Maßes wie ein ausschweifendes Leben. Schon Aristoteles, dem sich Thomas hier anschließt, setzt sich mit verschiedenen Einwänden gegen die Lust auseinander, die er im Einzelnen auflistet: Aufgrund ihres vorübergehenden Charakters versetzt sie die 44 45

Vgl. Summa theologiae I-II 24,3. Vgl. Nikomachische Ethik VII,11-12.

Die Lehre von den passiones animae in der Anthropologie des Thomas

243

Seele in Unruhe, aufgrund ihrer Heftigkeit behindert sie das Denken, auch Kinder und Tiere gehen der Lust nach, schließlich sei 46sie nicht das Beste im Leben, das um seiner selbst willen erstrebt werden dürfe. Keiner dieser Einwände liefert jedoch einen stichhaltigen Grund dafür, warum der tugendhafte Mensch körperliche Lust als ein Übel ansehen sollte. Zu einem solchen werden die Lustempfindungen der einzelnen Sinne erst dadurch, dass sie sich der Integration in die vernunftbestimmte Ganzheit des Lebens entziehen und verselbständigen. Dieses Übermaß zerstörerischer Leidenschaftlichkeit führt in der Tat zu einem moralischen Defekt, was von der entgegengesetzten Fehlhaltung jedoch in gleicher Weise gilt. Schließlich antwortet Aristoteles auf das Bedenken, ein ausschweifendes Leben schade der Gesundheit mit der lapidaren Feststellung, dies treffe 47 bisweilen auch auf das Denken zu. Auch im Umgang mit den körperlichen Lustempfindungen misstraut Thomas ebenso wie Aristoteles extremen Einstellungen. Er stellt ihnen das Ideal einer ausgewogenen Genussfähigkeit gegenüber, dessen Ziel die Kultivierung der sinnlichen Lustempfindungen durch die Tugend des rechten Maßes ist. Die Tugend des rechten Maßes setzt somit die Fähigkeit voraus, sich an den lustvollen Dingen des Lebens in rechter Weise freuen zu können. Sie steht nicht im Gegensatz zu Freude und Genuss, sondern bewahrt diese vor selbstzerstörerischen Abhängigkeiten. Wo die Kunst, genießen zu können, dagegen unterentwickelt ist, führt dies zu einer empfindlichen Störung. Stumpfsinn und mangelnde Empfindungsfähigkeit sind keine Tugenden, sondern Mangelerscheinungen des Lebens. Thomas kennt in seiner Sprache sogar einen eigenen Begriff für diese Fehlhaltung: Er nennt48sie vitium insensibilitatis, das Laster einer mangelnden Empfindungsfähigkeit. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt er, indem er den Unterschied zwischen bloßer Enthaltsamkeit und der Tugend des rechten Maßes erläutert. Die Unterdrückung unseres sinnlichen Begehrens durch Selbstkontrolle und auferlegte Enthaltsamkeit reicht in ihrem moralischen Wert, so notwendig sie bisweilen sein mag, nicht an die habituelle Vervollkommnung des Strebens durch die Tugend heran, die den Menschen im Ganzen gut sein lässt und alle Schichten seines Wesens erfasst: „Auf diese Weise besitzt auch die Enthaltsamkeit etwas von der Art der Tugend, insofern nämlich die Vernunft gegen die Leidenschaften gestärkt ist, damit sie nicht zu diesen hinabgezogen wird; sie erreicht aber nicht den vollkommenen Sinn der moralischen Tugend, wonach auch das sinnliche Streben der Vernunft so unterworfen ist, 49dass in ihm keine heftigen, der Vernunft entgegengesetzten Regungen aufstehen.“ 46 47 48 49

Vgl. Nikomachische Ethik VII,12; vgl. In Ethicorum VII,12 (nr. 1484-1497). Vgl. Nikomachische Ethik VII,13 (1153 a 24). Vgl. De virtutibus 4 ad 2; Summa theologiae II-II 142,1. Summa theologiae II-II 155,1.

244

Eberhard Sockenhoff

Da sich die sinnlichen Lustempfindungen nicht von sich aus nach den Maßstäben der Vernunft regen, ist der Mensch als Sinnenwesen immer wieder Reizkonstellationen ausgesetzt, in denen er schlichtweg Verzicht üben und Nein sagen muss. Insbesondere sexuelle Impulse können so dominant und selbstzerstörerisch sein, dass Vernunft und Wille sie vorerst nur zurückdrängen, kontrollieren und mäßigen können. Wenn Selbstkontrolle und Verzicht uns daran erinnern, dass wir nicht allen Wünschen und Bedürfnissen nachgeben dürfen, die wir in uns verspüren, so behält die Notwendigkeit des Neinsagens doch nicht das letzte Wort. In der Tugend des rechten Maßes geht es nicht um ein Nein, sondern – wenigstens auf lange Sicht oder als Ziel der affektiven Selbstbildung – um die Bejahung einer ganzheitlichen Ordnung des Strebens, in der sinnliche Freude und Genuss im Einklang mit der Vernunft stehen.

Marko J. Fuchs

Passio est aequivocum – passiones animae und affectiones voluntatis bei Johannes Duns Scotus Einführung

Wenn man in der Forschung über die bei Duns Scotus spricht, so versteht man darunter in der Regel diejenigen psychischen oder psychosomatischen Phänomene, die man ‚Emotionen‘ ( ) oder ‚Leidenschaften der Seele‘ nennt.1 Es geht somit um aktive seelische Regungen wie Freude und Trauer, Zorn und Hass. Mit Blick auf derartige ist für Duns Scotus herausgehoben worden, dass dieser im Gegensatz zu Thomas von Aquin Emotionen nicht nur in den sinnlichen Vermögen der Seele verankert sein lässt, sondern auch2 dem rationalen Strebevermögen des Willens eigentümliche Emotionen zuspricht. Als Hauptgründe hierfür lassen sich nennen: erstens das anthropologische Motiv, eine Dimension von Emotionen herauszustellen, die dem Menschen spezifisch ist und im Unterschied zu den bloß auf Sinnlichkeit basierenden Gefühlen auf rationaler Evaluation und Zustimmung zu bestimmten Situationen beruht; zweitens das moralphilosophische Motiv, den Konnex derartiger auf Rationalität basierender Emotionen mit gutem Handeln bzw. der Struktur von Tugenden zu betrachten. Drittens kann dieser Konnex nochmals theologisch erweitert werden hin zur Frage nach der Verknüpfung des Genusses im Moment der Gottesschau ( ) sowie der christologischen Frage nach dem Leiden Christi am Kreuz und dem dabei statthabenden Verhältnis seiner beiden Naturen zueinander.3 Besonders die passiones animae

emotions

passiones

fruitio

1

2 3

So etwa neuerdings bei PERLER, Dominik, Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270-1670, Frankfurt/Main, 2011. Ebenso KNUUTTILA, Simo, Emotions in Ancient and Medieval Philosophy, Oxford, 2004. Siehe weiterhin PERREIAH, Alan R., Scotus on Human Emotions, in: Franciscan Studies 56 (1998), S. 325-345. Im französischen Sprachraum ist dagegen eher von passions die Rede (siehe etwa BOULNOIS, Olivier, Duns Scot: Existe-t-il des passions de la volunté?, in: Les Passions Antiques et Médiévales,

Hg. Bernard Besnier/Pierre-Francois Moreau/Laurence Renault, Paris, 2003, S. 281-295). PERLER (Anm. 1), S. 122. Siehe hierzu PERLER (Anm. 1), besonders S. 148-154.

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Marko J. Fuchs

letztgenannte christologische Betrachtung hat in jüngster Zeit Dominik Perler zu luziden Ausführungen über das Verhältnis von sinnlichen und nichtsinnlichen Emotionen bei Duns Scotus zu nutzen gewusst, denen nichts hinzuzufügen ist. Indessen ist an die Hinweise zu erinnern, die bereits Erich Auerbach in seinem 1941 erschienenen, auch heute noch aufschlussreichen Aufsatz über ‚Passio als Leidenschaft‘ gegeben hat. Dieser Autor stellt nämlich fest, dass „[i]m Altertum und lange darüber hinaus [...] passio (pathos) seinem Ursprung gemäß eine rein ‚passive‘ Bedeutung [hat], während die moderne Vorstellung passionLeidenschaft wesentlich aktiv ist.“4 Deshalb verweisen die Ausdrücke passio und pathos eher auf den Aspekt des Erleidens und „entsprechen weit eher dem, was wir mit ‚Gefühl‘ oder ‚Empfindung‘, als dem, was wir mit ‚Leidenschaft‘ bezeichnen“, sofern5 letztere als „heiß, stürmisch, und damit zugleich auch aktiv“ aufgefasst wird. Zwar bildet sich, wie Auerbach weiterhin aufzeigt, eine das heutige Verständnis vorbereitende ‚aktive‘ Bedeutung in Ansätzen bereits im Mittelalter, und hier vor allen in Hinsicht auf die Nachahmung der Passion Christi, vor allem im mystischen und im franziskanischen Kontext heraus. Man kann also in dieser Hinsicht davon reden, dass es auch schon im Mittelalter Aspekte einer Theorie der Emotionen oder Leidenschaften gegeben hat.6 Es wird aber durch Auerbachs Beobachtung deutlich, dass das mit den Ausdrücken passio und/oder passio animae Gemeinte sich offenkundig nicht notwendig in dieser unserem heutigen Verständnis naheliegenden aktiv-emotiven Bedeutung erschöpft. Wenn dem aber so ist, kann vermutet werden, dass offenbar nicht alle passiones animae bei Duns Scotus schon notwendig ‚Leidenschaften der Seele‘ sein müssen. Das muss übrigens nicht bedeuten, dass in einer Einengung des passio-Begriffs auf die emotiven Leidenschaften der Seele wichtige systematische Zusammenhänge, die die ursprünglich weitere Begriffsverwendung implizierte, übersehen würden. Vielmehr ist es auch durchaus möglich, dass in einer Prüfung des umfänglicheren Begriffsfeldes eher Verwerfungen zutage treten. Dies gilt im 4

5 6

AUERBACH, Erich, Passio als Leidenschaft, in: Proceedings of the Modern Language Association 56 (1941), S. 1179-1196, hier S. 1179. Siehe auch schon LERCH, Eugen, ‚Passion‘ und ‚Gefühl‘, in: Archivum Romanicum XXII (1938), S. 320-349. AUERBACH (Anm. 5), S. 1179. Insofern also ist ein Zugriff wie der genannte Perlers, der ja, wie gesagt, gerade anhand der in Ordinatio III d. 15 q. un. von Duns Scotus entwickelten Darstellung des Leidens Christi am Kreuz die scotische Theorie der Emotionen herausarbeitet, durchaus berechtigt. – Wie üblich, werden die in kritischer Edition zugänglichen Texte von Duns Scotus entweder nach der Vatikan-Ausgabe oder der Ausgabe des Franciscan Institute zitiert, ansonsten werden die Wadding-Ausgabe sowie die Editio minor verwendet (für genauere Angaben siehe das Literaturverzeichnis). Auf die Angabe von Seitenzahlen wird verzichtet; die hinter n. angegebene Zahl bezieht sich auf die jeweilige Nummerierung am Textrand.

Passiones animae und affectiones voluntatis bei Johannes Duns Scotus

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vorliegenden Kontext umso mehr, als Duns Scotus selbst, wie das in der7 Überschrift gebrachte Zitat zeigt, den Begriff passio als äquivok aufgefasst hat. Aufgrund dieser Lage bietet es sich an, in Gestalt einer Sichtung verschiedener Textstellen der Frage nachzugehen, was Scotus unter den passiones und speziell passiones animae versteht, wobei in Ergänzung der Arbeit von Perler vor allem die nicht-emotive Bedeutungsebene im Fokus stehen soll. Die Vorgehensweise lässt sich dabei als eine Erkundung eines Begriffsfeldes beschreiben, die weder Anspruch auf Vollständigkeit8 erhebt, noch von vornherein beansprucht, eine konsistente Theorie zu liefern. Es wird sich hierbei in einem ersten Abschnitt zunächst ergeben, dass passiones animae im eigentlichen Sinne für Duns Scotus nur im nicht auf den Leib angewiesenen Teil der Seele vorkommen, also im Intellekt und im Willen. Weiterhin werden vor allem zwei Bedeutungen von passio herausgearbeitet, die eher der von Auerbach hervorgehobenen passiven Dimension dieses Begriffs entsprechen, nämlich erstens die Auffassung von passio als qualitas passibilis beziehungsweise als Qualität dritter Art im Sinne der aristotelischen Kategorien und zweitens die Bestimmung von passio als Effekt einer actio. Ein zweiter Abschnitt wendet sich auf dieser Grundlage dann der Frage zu, wie die passiones mit einem begrifflich offenbar verwandten, strukturell für Scotus’ Ethik sehr wichtigem Moment, nämlich der affectio commodi und der affectio iustitiae des Willens in Verbindung stehen. Affectio commodi bedeutet hierbei das „Angetansein“ des Willens von dem seinem Inhaber Zuträglichen und das Erstreben desselben, wohingegen unter der affectio iustitiae das Angetansein des Willens von 9dem um seiner selbst willen zu Erstrebenden oder zu Liebenden zu verstehen ist. Es wird zu untersuchen sein, inwieweit und in welchem Sinne diese affectiones sive inclinationes mit verschiedenen Facetten, die für den passio-Begriff erarbeitet worden sind, in Verbindung gebracht werden können. In diesem Zusammenhang wird auch eine Betrachtung vorzunehmen sein, wie sich Scotus das Verhältnis von Glückseligkeit, die die Vervollkommnung vor allem 7

8

9

Das Zitat stammt aus Duns Scotus’ Kommentar zur aristotelischen Kategorienschrift. Die Stelle wird im ersten Teil des vorliegenden Textes genauer untersucht werden. Als Leitfaden kann hierbei das von Mariano Fernández García herausgegebene Lexicon Scholasticum philosophico-theologicum dienen, wobei indessen auf Verweise auf nichtauthentische Scotus-Texte zu achten ist (GARCÍA FERNÁNDEZ, Mariano, Lexicon Scholasticum philosophico-theologicum, Hildesheim/New York, 1974 [Nachdruck der Ausgabe Quarac-

chi, 1910]). Die Übersetzung des Ausdrucks durch ‚Angetansein‘ entnehme ich einem Hinweis aus der von Hansjürgen Verweyen besorgten Übersetzung von Anselms , Übers. Hansjürgen Verweyen [Freiheitsschrif(ANSELM VON CANTERBURY, ten, Fontes Christiani 13], Freiburg im Breisgau, 1994, S. 339, Fußnote 33). Bekanntlich übernimmt Duns Scotus seine hier besprochene Terminologie und die damit gemeinten Grundstrukturen von Anselm. affectio

De concordia

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der affectio iustitiae darstellt, und Freude (delectatio) vorstellt. Der Sinn dieser Betrachtung liegt hierbei darin, aus der Struktur von affectio und emotiver passio Rückschlüsse zu ziehen auf den Konnex dieser affectio mit einer nicht-emotiven passio. In einem dritten und abschließenden Abschnitt wird aufbauend auf die Ergebnisse des ersten und zweiten einerseits untersucht werden, welche Funktion der Begriff der passio im Rahmen der Selbsterfassung willentlicher Aktivität innehat. Andererseits wird zu klären versucht, inwieweit bei Scotus eine systematisch befriedigende und konsistente Theorie der passiones animae vorliegt, oder inwieweit dies nicht der Fall ist.

1. Passio, nicht-emotiv

1. Ein erster Zugang zu der Frage, was Duns Scotus terminologisch unter versteht, kann in einem kurzen Vorgriff auf das weiter unten eingehender zu betrachtende Problem gewonnen werden, ob die Glückseligkeit ( ) in essentieller Weise auf der Freude ( ) besteht oder nicht. Mit Blick darauf stellt Duns Scotus heraus, dass eine einmal die des aus Leib und Seele zusammengesetzten Lebewesens sein kann ( ). Eine solche wohnt dem Lebewesen inne, sofern dieses eine Veränderung ( ) seines sinnlichen Teiles erfährt, und geht stets einher mit einer Veränderung der körperlichen Organe. Dagegen spricht man von einer im strengen Sinne, wenn diese nur den geistigen Seelenteil betrifft ( ). Die dieser Art können gänzlich ohne körperliche Veränderungen vor sich gehen.10 Nimmt man diese Textstelle als terminologisch maßgeblich, so erhellt mithin, dass man im eigentlichen Sinne tatsächlich gar nicht von sinnlichen, sondern bloß von geistigen passiones animae bei Duns Scotus reden darf. passio-

nes animae

beati-

tudo

delectatio

passio

passio coniuncti

passio

muta-

tio et alteratio

passio

animae

spiritualis

passio

passiones

2. Dies gewinnt weitere Kontur in der Betrachtung11einer Passage aus Duns Scotus’ Kommentar zu Aristoteles’ Kategorienschrift. In Quästio 36 wird die Frage gestellt, ob Aristoteles in hinreichender Weise die Arten der Qualität unterscheidet. Dass dem nicht so sei, wird unter anderem mit folgender Überlegung zu erhärten versucht: Zorn und Demenz sind Qualitäten, da aufgrund ihrer jemand als ‚so beschaffen‘ (qualis), eben als zornig oder dement, angesprochen werden könne. Damit müssten sie in die sogenannte dritte Klasse der Qualität gehören, 10

11

Ordinatio IV d. 49 q. 7 n. 5: dicendum est quod sunt passiones quaedam, quae insunt cum mutatione, & alteratione partis sensitiuae, & non fiunt sine immutatione organi, & illae sunt totius coniuncti; aliae sunt passiones tantum spirituales, & illae possunt sine omni mutatione, quae est in organo, fieri, & tales sunt animae. Super praedicamenta.

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die auch als qualitas passibilis (aufnehmbare Qualität) bezeichnet wird und sinnlich wahrnehmbare Veränderung zur Folge hat.12 Dort aber finden sich Zorn und Demenz offenbar gerade nicht, wofür als Begründung angegeben wird, dass dieser dritten Klasse gemäß ein Anderswerden (alteratio) vor sich geht, Zorn und Demenz jedoch die Seele, in der sie sind, nicht in dieser Weise verändern können. Die Seele nämlich ist nicht durch das Moment des Wieviel (quantitas) bestimmt, welches indessen für jede qualitative Veränderung vorausgesetzt werden muss.13 In seiner Bearbeitung dieser Problematik verweist Duns Scotus zunächst auf die Äquivozität des Begriffs passio, die besonders im fünften Buch der Metaphysik diskutiert wird: dicendum quod ‚passio‘ est aequivocum, secundum quod distinguitur in V Metaphysicae in multa significata.14 Als innerhalb der Kategorienschrift einschlägige Verwendung des passio-Begriffs bestimmt Duns Scotus die folgende: „Hier wird sie [ ] dahingehend aufgefasst, dass sie eine Qualität bezeichnet, der gemäß eine Veränderung vorgeht.“ Die so verstandene kann jedoch wiederum in zweifacher Weise betrachtet werden: einmal absolut ( ), ein andermal ‚mit Abtrennung‘ ( ), das heißt unter Absehung des Subjekts, in dem die auftritt. Absolut genommen, ist der Ausdruck konvertibel mit dem Begriff der . Als bestimmt Duns Scotus dabei diejenige Qualität, „von der her jemand benannt wird durch eine Benennung, die den dauerhaften Verbleib einer Form im Subjekt bezeichnet“. In absoluter Weise verstanden ist somit Duns Scotus zufolge gleichbedeutend mit dem dritten Modus der Qualität und „benennt ein Verhältnis der Qualität zum Subjekt, das dazu bestimmt ist, sich hinsichtlich dieser Qualität zu verändern, oder ein Verhältnis der Qualität zum Sinn, der eine erleidet“. In diesem absoluten Verständnis sind und also deshalb konvertibel, weil jede so aufgefasste eine ist und passio

passio

absolute

cum praecisione

passio

passio

qualitas passibilis

qualitas

passibilis

passio

passio

passio

passibilis quali-

tas

passio

qualitas

12

13

14

Die Übersetzung von passibilis qualitas entnehme ich: ALBERT VON SACHSEN: Logik. La-

teinisch-deutsch, übersetzt von Harald Berger, Hamburg 2010, S. 227. Super praedicamenta q. 36 n. 32: ira et dementia et huiusmodi sunt qualitates, quia secundum eas aliquis dicitur qualis, et in nulla alia specie sunt nisi in tertia. Sed ibi non sunt, quia secundum qualitates tertiae speciei potest fieri alteratio. Sed secundum istas non, quia istae sunt in anima, secundum ARISTOTELEM in littera. Et anima non alteratur, quia non est quanta, et omnis motus secundum qualitatem praesupponit quantitatem Der gesamte Passus aus Super praedicamenta q. 36 n. 54 lautet: dicendum quod ‚passio‘ est aequivocum, secundum quod distinguitur in V Metaphysicae in multa significata. Sed hic sumitur secundum quod significat qualitatem secundum quam est alteratio. Et tunc: vel sumitur absolute vel cum praecisione. Absolute sumptum est convertibile cum passibili qualitate, vel superius ad ipsum. Praecise sumptum distinguitur contra passibilem qualitatem, prout passibilis qualitas dicitur illa a qua aliquis denominatur denominatione significante permanentiam formae in subiecto. Absolute igitur tertius modus est passio quae dicit comparationem qualitatis ad subiectum natum alterari secundum eam; vel comparationem qualitatis ad sensum cui infert passionem.

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wir dieser entsprechend als ‚so beschaffen (quales)‘ angesprochen werden, wenn auch nur für die Dauer ihres Auftretens. Dagegen ist passio von qualitas passibilis unterschieden, wenn sie in abgetrennter Weise (praecise) genommen wird. Das Verhältnis von passio als passibilis qualitas zu ihrem Subjekt bestimmt Duns Scotus dahingehend nochmals genauer, dass streng genommen die passibilis qualitas in der Tat durch eine Veränderung in das Erleidende hineingetragen wird, indes dergestalt, dass das Erleidende zwar etwas von einem Verändernden, nicht aber von der Form, die es empfängt, erleidet. Überdies ist zu bemerken, dass es nicht zur Essenz der Qualität gehört, in den Sinn eine15passio hineinzutragen (inferre passionem sensui non est de essentia qualitatis), wie nach Aristoteles auch das Sichtbarsein nicht zur Essenz der Farbe gehört, sondern eine passio von dieser ist. Hieraus folgert Duns Scotus, dass „also […] die passio oder die passibilis qualitas, die eine Qualität benennt, sofern diese eine passio in einen Sinn hineinträgt, nicht die Essenz oder eine Art der Qualität [benennt], sondern [ihre] Modi.“16 Neben dieser Bedeutung von passio im eigentlichen Sinne gibt es nun noch eine weitere Verwendungsweise dieses Ausdrucks, die Duns Scotus jedoch mit Blick auf die Bedeutung von passio im Sinne der aristotelischen Kategorien als äquivok kennzeichnet, nämlich die Bestimmung als „Effekt einer Handlung […] und so gesehen ist sie eine Qualität, mit Blick auf die eine Veränderung vorkommt.“17 Es ist genau diese Bedeutung des passio-Begriffs, die im Weiteren eine wesentliche Rolle spielen wird. 3. Dies wird bereits deutlich anhand einer weiteren Betrachtung, die18sich in Duns Scotus’ Quästio 12 der findet. Im ZusamQuaestiones super II et III De anima

menhang mit der Frage, ob und inwieweit die Seelenvermögen bloß passiv sind, versucht Duns Scotus zu zeigen, dass die Erkenntnisvermögen der Seele aktiv sein können. In diesem Zusammenhang differenziert er zwischen einer passio realis, unter der er ein Auslöschen einer Form durch ihr Gegenteil versteht (abiectio formae a contrario), und einer passio, die eine Vervollkommnung des Erleidenden (perfectio patientis) darstellt. Während die Erste die Seelenvermögen nicht betrifft, ist das Gegenteil bei der Zweiten der Fall, wobei hier wiederum zu 15 16

17

18

Super praedicamenta q. 36 n. 60. Super praedicamenta q. 36 n. 60: Igitur passio, vel passibilis qualitas, quae nominat qualitatem in quantum infert passionem sensui, non nominat essentiam vel speciem qualitatis, sed modos. Super praedicamenta q. 36 n. 55: passio aequivoce est effectus actionis […] et secundum quod est qualitas secundum quam est alteratio. Zur Frage der Authentizität dieses Werks siehe die Einleitung der Herausgeber der kritischen Ausgabe im ersten Band der Opera philosophica, insbesondere die Conclusion auf Seite 135*.

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differenzieren ist gemäß der beiden Arten von perfectio, die diese passio bilden kann. So gibt es einerseits eine perfectio prima, nämlich den actus primus, der einer Potenz innewohnt und sie zum actus secundus hin inkliniert, andererseits eine perfectio secunda, die genau in der operatio beziehungsweise im actus secundus besteht. Entsprechend gibt es zwei Weisen, wie man die genannten Seelenvermögen als passiv ansetzen kann: Eine Weise nämlich besteht darin, dass die Potenz in unmittelbarer Weise den hervorgerufenen actus secundus aufnimmt und durch die Gestalt, die ihr von ihrem Objekt entweder durch das Organ einer sinnlichen Potenz oder in Gestalt eines Phantasma präsentiert wird, zum Wahrnehmen beziehungsweise zum Erkennen determiniert wird, wobei jedoch keineswegs diese Gestalt in der Potenz existiert. Diesen actus secundus aber bringt ebendiese Potenz aus ihrer eigenen aktiven Kraft hervor, als gleichsam durch die der Potenz präsentierte Gestalt hervorgerufen und zum Erkennen dieses Objekts, dessen Gestalt sie ist, determiniert, wobei diese [die Gestalt] indessen nicht auf irgendeine Weise der Potenz eine Form einprägt.19

Im Aufnehmen des operativen sowie im Bestimmtwerden durch das vorgestellte Objekt also ist die Potenz passiv, wohingegen sie aktiv ist, indem sie aus sich selbst diesen operativen hervorbringt. Bezieht sich diese Erläuterung an der vorliegenden Stelle auf den , sofern dieser beim Akt der Erkenntnis ( ) die erkannten Formen als soge-20 nannte vermittelt über den empfängt, so lässt sich mit Blick auf die im zweiten Abschnitt zu betrachtenden Momente des Willens fragen, ob hier nicht ähnliche Strukturen und damit eine ähnliche Verwendungsweise des -Begriffs angetroffen werden können. Denn zwar ist der Wille nicht wie der primär eine passive, sondern eine aktive Potenz. Wohl aber ist auch er empfänglich für , wie schon in obiger Einleitung bemerkt worden ist und weiter unten anhand einer Betrachtung des Konnexes von Glückseligkeit als Vervollkommnung des Willens und dem actus secundus

actus secundus

intellectus passivus

actus secundus

passiones intentionales

intellectus agens

passio

intellectus possibilis

passiones

19

20

Quaestiones super II et III De anima, q. 12 n. 27: Dicendum quod est una passio realis, quae est abiectio formae a contrario, et a passione tali non patiuntur potentiae huiusmodi, ut patet II De anima; alia est passio quae est perfectio patientis, ut patet ibidem. Et illa subdividitur, quia quaedam est perfectio prima, sicut actus primus habilitans et inclinans potentiam ad actum; alia est perfectio quae est operatio. Et secundum hoc est duplex modus ponendi dictas potentias esse passivas. Unus enim est quod potentia recipit immediate secundum actum evocatum, et determinatur a specie sibi praesentata sui obiecti in organo potentiae sensitivae ad sentiendum vel in phantasmate ad intelligendum, illa tamen specie in potentia nullatenus existente. Istum autem secundum actum elicit ipsa potentia ex virtute sua activa, sicut specie sibi praesentata ipsam potentiam evocante et determinante ad cognoscendum illud obiectum cuius est species, non tamen aliqualiter ipsam potentiam informante. Siehe hierzu einschlägig KING, Peter, Duns Scotus on Mental Content, in: Duns Scot à Paris 1302-2002, Hg. Olivier Boulnois, Turnhout, 2004, S. 65-88.

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Moment der Freude noch eingehender untersucht werden wird. Überdies stellen, wie sich ebenfalls unten zeigen wird, die beiden Grundinklinationen des Willens für diesen actus primi dar, auf deren Grundlage er erst als aktive Potenz tätig werden kann. Wichtig für das Folgende ist daher an diesem Passus nochmals hervorzuheben, dass sowohl der actus primus als auch der actus secundus in gewissem Sinne als passiones derselben Potenz angesprochen werden können. 4. Dies gewinnt eine weitere Facette mit Blick auf eine andere Quästio zu Aristoteles’ De anima. In Quästio 7 diskutiert Duns Scotus das Problem, wie das aristotelische Diktum aufzufassen sei, dass „der Akt des Wahrnehmbaren und des Wahrnehmenden dasselbe“ sein, das heißt ob man 21sagen könne, dass „actio und passio derselbe Akt oder dieselbe Bewegung sind“. Eine der Teilfragen (articulus 2) dieser quaestio dreht sich um das Verhältnis von passio und actio zum Leidenden. Um dies zu klären, unterscheidet Scotus eine actio im eigentlichen Sinne von einer solchen, die er actio acta seu producta nennt. Erstere gehört im Gegensatz zur zweiten eigentlich zur Gattung der actio und wird unmittelbar als solche angesprochen. Dagegen lassen sich als Beispiele für actiones actae seu productae, die nicht eigentlich zur Gattung der actio gehören, das Einsehen und Wollen (intelligere et velle) nennen, sofern hierunter „gewisse absolute Formen“ verstanden werden, die durch actiones intellectus et voluntatis im eigentlichen 21

Quaestiones super II et III de anima, q. 7 nn. 20-21. Der für die folgende Erörterung einschlägige Passus sei hier ganz wiedergegeben: sciendum quod est actio quaedam de genere actionis et illa est proprie dicta actio, de qua dictum est immediate, et est quaedam actio acta seu producta, quae non est de genere actionis, sicut intelligere et velle sunt quaedam formae absolutae non de genere actionis; sed sunt actiones actae vel productae per actiones intellectus et voluntatis, quae sunt de genere actionis. Istam divisioinem ponit SIMPLICIUS Super Praedicamenta, quaerens quare ‚facere ponitur praedicamentum‘ et ‚non factio‘. Et respondet quod ideo est quia factio dicitur de actione et de effectu actionis; utrumque enim dicitur factio, et actio et effectus eius. Certum est enim quod effectus actionis est actio, non quae est praedicamentum, sed factio facta. COMMENTATOR etiam III Physicorum dicit quod agens et patiens, et actio et passio, differunt, sed ‘actio facta inter illa est eadem’ secundum auctoritates; igitur illa est quaedam actio facta in patiente, quae differt ab actione, quae est praedicamentum, et de hac actione facta loquitur PHILOSOPHUS II De anima: dicit quod illud quod imprimitur a sensibili in sensum est actio; certum est autem quod non imprimitur in illo aliquid de genere actionis, sed est eius effectus quod in sensu imprimitur; igitur est aliqua actio acta praeter illam quae est de genere actionis. Sed hic potest quaeri, quare sic nominatur. Respondeo quod actio, quae est de genere actionis, est respectus in agente tantum. Et quia latet nos, quantum in se est, manifestatur per effectum qui est actio acta; et quia sic res intelligimus et nominamus, sicut per sensum apprehendimus ut communiter, igitur etc. Ponitur exemplum de caritate quae, licet sit habitus nobilis quia tamen latens est in anima, nominatur per effectum, qui est dilectio.

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Sinne (also als actus secundi) hervorgebracht worden sind.22 Wie das gemeint ist, erläutert Scotus anhand des Kommentars des Simplikios zu den aristotelischen Kategorien. Dieser hatte gefragt, weshalb Tun im verbalen Sinne (facere) eine Kategorie bilde, nicht aber Tun im verbalsubstantivischen (factio), und geantwortet, dass man den Ausdruck factio sowohl für die Handlung (actio) als für deren Wirkung (effectus actionis) verwende. In diesem Sinne sei auch Aristoteles an der Stelle in De anima III zu verstehen: Actio und passio seien zwar verschieden wie auch Handelndes und Leidendes, indessen die Handlung, die zwischen beiden letzteren hervorgebracht wird (actio facta inter illa), ist ein und dieselbe (eadem). Diese so verstandene actio facta in patiente ist mithin von der in sich selbst betrachteten, der Kategorie des Tuns zugeordneten actio des Agens verschieden. Interessant ist hier nun der Grund, den Duns Scotus dafür angibt, weshalb man die actio facta in patiente, die also vom patiens aus betrachtet eine passio darstellt, überhaupt in dieser Weise benennt. So führt Duns Scotus aus, dass sich die actio im eigentlichen Sinne nur auf das Agens bezieht, während sie für uns in Hinsicht darauf, wie sie in sich selbst ist, verborgen ist. Sie kann uns mithin nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt über ihren Effekt, eben die actio facta, gegeben werden. Als eine Illustration führt Duns Scotus die caritas und deren Effekt, die dilectio, an. Caritas sei ein in der Seele verborgener Habitus, der über das Lieben als seinen Effekt erkannt und benannt werde. Mit Blick auf Duns Scotus’ Ausführungen über das Problem der Erkenntbarkeit des Vorhandenseins der caritas in Ordinatio I dist. 17 p. 1 q. 2 nn. 126-127 wird überdem klar, dass dieser Befund nicht nur für die Erfassung der caritas23in einem anderen Menschen, sondern auch im Erfassenden selbst gelten muss. Dafür scheint auch zu sprechen, dass Duns Scotus eingangs als Beispiele die Akte des Einsehens und Wollens und deren Effekte benannt hat, die ja offenkundig in keinem anderen Seelenvermögen auftreten können als in demjenigen, womit der Einsehende oder Wollende sich selbst erfasst. In diesem Sinne erläutert Duns Scotus in der Besprechung der ursprünglichen Einwände gegen eine Gleichsetzung von actio und passio, dass es sich im Falle des intelligere und des velle um intrinsische, das heißt nicht in eine äußere Materie übergehende (transiens) actiones actae handelt, in denen sich intellectus und voluntas vervollkommnen (perfectio agentis), wobei hier „in ver24 schiedenen Hinsichten das Agens und das Empfangende dasselbe ist“. 22

23

24

Wenn

Es lässt sich also konstatieren, dass Duns Scotus in der Tat den Ausdruck passio im Bereich der rein geistigen Potenzen nicht bloß auf den intellectus passivus, sondern auch auf den Willen bezieht. Dort nämlich stellt Duns Scotus heraus, dass noch nicht einmal das Erfassen eines Akts der dilectio schon hinreichend ist, mit Sicherheit auf dessen Verursachung durch den übernatürlichen Habitus der caritas oder bloß durch den natürlichen der amicitia acquisita rückschließen zu dürfen. Quaestiones super II et III de anima, q. 7 n. 27: utraque [...] actio tam manens in agente,

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dieser Passus auf diese Weise aufgefasst werden kann, wäre die als actio facta verstandene passio von zentraler Bedeutung für die Erfassung, die einer Person von deren Willen oder Intellekt möglich ist, da beide dieser ja weder als reine Potenzen ohne Aktuierung, noch aber, nach der vorliegenden Deutung, unmittelbar als Akte an ihnen selbst zugänglich wären. 5. Fazit: Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, dass vor allem die Verwendung des Ausdrucks passio im Sinne eines effectus actionis auf ein systematisches Feld verweist, in dem sich eine Funktion dieses Begriffs im Rahmen von Problemen der Erfassung von Realisierungen von Potenzen und dem Moment von deren Perfektibilität herausgestellt haben. So gibt es eine legitime, indessen offenkundig nicht primär emotive Verwendungsweise des Ausdrucks passio zur Bezeichnung des actus primus, in dem eine Potenz zu ihrer ersten, namentlich existentiellen Vervollkommnung gelangt, sowie des actus secundus, in dem sie sich als singulärer Akt realisiert. Weiterhin bewirken sekundäre Akte des Einsehens und Wollens passiones, wobei sich der Eindruck eingestellt hat, dass es sich bei den diese passiones aufnehmenden Potenzen um Intellekt und Willen selbst handelte, die somit gleichsam durch ihre eigene Aktivität in Gestalt von diesen nicht-emotiven passiones affiziert werden, sodass hier wohl von einer Art Selbstaffektion dieser beiden geistigen Vermögen gesprochen werden kann. Dem soll wie eingangs angekündigt nunmehr mit Blick auf den Willen und dessen beiden Grundaffektionen eingehender nachgegangen werden. 2. Passiones voluntatis und affectiones/inclinationes voluntatis 1. Schon semantisch scheint sich eine gewisse Nähe der für Duns Scotus’ Moraltheorie grundlegenden Strukturen von affectio commodi und affectio iustitiae und des Begriffs der passio aufzudrängen, scheinen doch beide ein gewisses Moment der Passivität oder Rezeptivität zu implizierten.25 Zugleich impliziert der Ausdruck der affectio im vorliegenden Kontext ein Bedeutungsmoment, welches einer derartigen Rezeptivität prima vista entgegenzustehen scheint, nämlich das des Erstrebens (Inklinierens). Denn die beiden genannten Weisen des ‚Ange-

25

sicut intelligere et velle, quam transiens est actio producta. Sed differentia est quantum ad hoc: quod talium actionum quaedam est perfectio agentis – licet non secundum quod agens est sed secundum quod perfectibile est – ita quod idem secundum diversas rationes sit agens et recipiens; quaedam est perfectio extrinseci operati, sicut transiens. Siehe hierzu den Hinweis in der Einleitung des vorliegenden Aufsatzes. – Zu den beiden Grundinklinationen des Willens sowie zur scotischen Ethik überhaupt siehe einschlägig MÖHLE, Hannes, Ethik als scientia practica nach Johannes Duns Scotus. Eine philosophische Grundlegung, Münster, 1995, besonders Kapitel VII.

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tanseins‘ des Willens sind zumal als zwei diesem natürlicherweise zukommende inclinationes, mithin als inclinationes naturales voluntatis aufzufassen. Beide sind dabei26 Vollkommenheiten des freien Willens (utraque est perfectio voluntatis liberae). – Es sei vor diesem Hintergrund zunächst allgemein auf den Begriff der inclinatio naturalis bei Duns Scotus eingegangen. 2. Eine Unterscheidung von Arten natürlicher inclinationes im Allgemeinen entwickelt Duns Scotus in der Reportatio Parisiensis, wo er die Möglichkeit einer natürlichen Erkennbarkeit der Auferstehung und im Zusammenhang damit die Frage stellt, inwieweit die Seele ohne Leib bestehen kann. Hierbei differenziert er zwischen einer natürlichen Neigung der Seele hin zum Körper, die einer passiven Potenz, und einer solchen, die einer aktiven nachfolgt. In anderer Formulierung geht die erste Art von inclinatio naturalis auf das Sein (esse) beziehungsweise den actus primus, die zweite auf das Handeln (agere) beziehungsweise die Realisierung einer Potenz im Sinne des ‚zweiten Akts (actus secundus)‘.27 Dies wird an der entsprechenden Stelle der Ordinatio weiter ausgeführt: Diejenige inclinatio naturalis, die einer passiven Potenz nachfolgt und sich auf den actus primus bezieht, wird von Duns Scotus als eine Neigung des Unvollkommenen hin zum Vollkommenen gekennzeichnet. Demgegenüber bezieht sich die einer aktiven Potenz nachfolgende Inklination auf den actus secundus und ist damit die Neigung eines Vollkommenen hin zu der zu übermittelnden Vervollkommnung ([inclinatio] perfecti ad perfectionem communicandam).28 Der Wille nun ist eine aktive Potenz.29 Mithin könnte nach der eben erarbeiteten Unterscheidung vermutet werden, dass die beiden ihm natürlicherweise zukommenden Grundinklinationen oder -affektionen der affectio commodi et iustitiae nicht ad esse, sondern ad agere ausgerichtet sind. Dafür scheint auch zu sprechen, dass, wie schon oben erwähnt, die beiden Inklinationen als Vervollkommnungen des freien Willens anzusetzen sind. Dass dem jedoch nicht so ist, was der Bestimmung des Willens als einem freien Vermögen geschuldet ist, wird aus dem Folgenden klarer werden. 3. Wie Duns Scotus sich die Freiheit des Willens und deren Bezug zu diesen Grundinklinationen vorstellt, wird vor allem in Quästio 15 zum Buch IX in den 26 27

28

29

Ordinatio d. 15. q. un. n. 54. Reportatio Parisiensis IV d. 43 q. 2 n. 23: dico quod inclinatio vel appetitus naturalis est duplex: unus consequens potentiam passivam, quae est ad esse; alius consequens potentiam activam, quae est ad agere, vel ad actum secundum. Ordinatio IV d. 43 q. 2 n. 25: inclinatio naturalis duplex est, vna ad actum primum, & est imperfecti ad perfectum, & concomitatur potentiam essentialem. Alia ad actum secundum, & est perfecti ad perfectionem communicanda, & concomitatur potentiam accidentalem. Ordinatio II d. 25 q. un. n. 24.

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Quaestiones super Libros Metaphysicorum Aristotelis sowie aus verschiedenen Stellen der Ordinatio deutlich und soll hier in einem kurzen Exkurs dargestellt werden.30 In besagter Quästio stellt Duns Scotus heraus, dass es allein der Wille ist, der als ein im eigentlichen Sinne rationales Vermögen angesehen werden kann, da nur ihm das Moment zukommt, welches bereits Aristoteles als hierfür ausschlaggebend kennzeichnete: sich nämlich zugleich auf Gegensätzliches beziehen zu können. Dies betrifft in Duns Scotus’ Auslegung des aristotelischen Ansatzes indessen nicht primär die inhaltliche Bestimmtheit des Willens, sondern vielmehr dessen Wirkweise. Der Wille nämlich ist einerseits in der Lage, diesen oder jenen Gegenstand zu wollen oder nicht zu wollen bzw. zu erstreben oder zu fliehen (velle/nolle), worin seine Freiheit der Bestimmtheit (libertas specificationis) besteht; andererseits kann er sich auch in Hinsicht auf denselben Gegenstand entweder wollend oder nichtwollend (velle/non velle) verhalten, was seine Freiheit der Ausübung (libertas exercitii) ausmacht. Diese zweite Art der Freiheit unterscheidet den Willen vom Intellekt, der, sofern ihm Erkennbares gegeben wird, dieses nicht unerkannt übergehen kann, weshalb der Intellekt nicht wie der Wille ein rationales und freies, sondern vielmehr ein natürliches und notwendiges Vermögen ist. Konsequenterweise ergibt sich aus diesen Voraussetzungen für die Frage, wie der Wille bestimmt wird, in einem sekundären Akt zu wollen oder nicht zu wollen, dass er nur sich selbst hierzu bestimmen kann: Der Wille will, was er will, und zwar nur deswegen, weil er Wille ist – kein weiterer Bestimmungsgrund kann angegeben werden. Anders formuliert, ist es die dem Willen zukommende Unbestimmtheit aus sich selbst heraus ( ), die auf beide genannten Freiheitsaspekte bezogen ist. Diese ist nicht eine bloß äußerliche und heteronome Insuffizienz der Bestimmung, sondern vielmehr eine Unbegrenztheit an Aktualität ( ). Diesen Überlegungen widerspricht nicht die Bedingtheit des Willens durch die beiden und . Wie bereits eingangs erwähnt, sind beide als Weisen zu verstehen, in denen der Wille das Gute erstreben kann. Sie müssen als erste31natürliche Realisierungen des Willens, also als ververvollkommnen können. Dabei standen werden, die sich dann in indeterminatio ex se

illimitatio actualitatis

affectiones commodi

iustitiae

actus primi

actus secundi

30

31

Auf eingehendere Textarbeit kann hier anders als oben verzichtet werden, da diese Zusammenhänge einschlägig und verbindlich entwickelt worden sind bei MÖHLE (Anm. 26) sowie in knapperer Darstellung von HONNEFELDER, Ludger, Duns Scotus, München, 2005, besonders Abschnitt 4 (S. 113-131). Siehe dort auch für die entsprechenden Textbelege. Entsprechend spricht Duns Scotus in q. 17 n. 7 der Quaestiones quodlibetales davon, dass es sich bei der inclinatio naturae ad bonum, quae est coaeva ipsi naturae, nicht um einen actus elicitus handelt, sondern eher um eine Art dilectio habitualis, da sie dem Habitus darin angeglichen ist, dass sie dem Akt vorausgeht und auch ohne diesen dauerhaft bleibt (quia assimilatur habitui in hoc quod est praecedens actum et permanens sine actu).

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ist der Wille mit der affectio commodi auf ein Gutes gerichtet, das im Bereich der Vervollkommnung des Handelnden liegt, um dessen Willen es sich handelt, und das deshalb um des Handelnden willen erstrebt wird, wohingegen sich der Wille mit der affectio iustitiae auf ein Gut richtet, welches unabhängig vom Handelnden und dessen Neigungen gut ist, und es deshalb um seiner selbst willen erstrebt und liebt. Wollen im erstgenannten Sinne ist natürliches, Wollen im zweiten ist eigentlich freies Wollen. Daher besteht im willentlichen Erstreben oder Lieben gemäß der affectio iustitiae (in Gestalt der uneigennützigen Gottesliebe) die Selbstvervollkommnung des Willens. Dennoch ist der Wille nicht durch diese affectiones dazu determiniert, notwendig bestimmte Akte des Wollens zu erzeugen. Denn zwar hat der Wille in Bezug auf seine Selbstvervollkommnung keine libertas specificationis, da die Selbstvervollkommnung nicht vom Willen gehasst (nolle), sondern nur geliebt werden kann. Wohl aber hat er zu ihr ein Verhältnis der libertas exercitii, indem der Wille sich immer noch entschließen kann, seine Selbstvervollkommnung nicht zu wollen (non velle), anders gesagt: keinen dem actus primus bei Gegebensein von dessen Objekt (bonum) vervollkommnenden actus secundus zu erzeugen. Positiv gewendet, ist der Wille in Blick auf seine Selbstvervollkommnung in dem Sinne frei, dass er sich selbst etwas ‚wollen wollen‘, also ein Wollen zweiter Stufe vollziehen kann, wofür die Voraussetzung letztlich ein reflexives Selbstverhältnis des Willens ist. 4. Aus dem Gesagten wird nun klarer, weshalb Duns Scotus bei den beiden Grundstrukturen des Willens sowohl von inclinationes als auch mit Anselm von affectiones sprechen kann. Inclinationes sind sie insofern, als sie jeweilige Grundstrebungen des Willens darstellen; dagegen können sie als affectiones angesprochen werden, sofern der Wille gleichsam rezeptiv von dem Guten in jeweiliger Weise ‚angetan‘ ist beziehungsweise affiziert wird. Deshalb kann auch davon die Rede sein, dass der Wille mittels dieser beiden Inklinationsweisen das höchste Gut, das heißt Gott, unmittelbar ‚berühren‘ kann, indem der Wille durch die erste affectio unmittelbar in Gestalt eines Aktes der Begierde nach Gott hintendiert, sofern er ihn als ein Gut für ihn, d. h. für den Willen selbst, ansieht, wohingegen der Wille durch die zweite unmittelbar nach Gott in Gestalt eines Aktes der Freundschaft hintendiert, in dem Gott als ein Gut für sich selbst betrachtet wird. Beide affectiones oder inclinationes können geordnete Akte und übrigens auch einen nach Gott inklinierenden, auch theologischen Habitus (caritas ) haben, gerade indem beide sich auf Gott unmittelbar als ihr Objekt beziehen.32 32

Ordinatio III d. 26 q. un. n. 133 [26]: voluntas habet duas affectiones, secundum quarum utramque est attingens Deum immediate, – puta secundum affectionem iustitiae elicitam, tendentis in Deum immediate ut est bonum in se, et etiam secundum affectionem commodi vel concupiscentiae attingentis Deum ut est bonum mihi; et uterque actus potest esse ordi-

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Vor dem Hintergrund dieses Exkurses kann nunmehr zur Frage nach den nichtsinnlichen passiones, die dem Willen an ihm selbst auf der Grundlage seiner beiden basalen Inklinationen zukommen können, zurückgekommen werden. Dabei soll indes vor dem Einstieg in den abschließenden dritten Abschnitt zunächst untersucht werden, wie sich Duns Scotus das Verhältnis von sekundären Akten des Willens – paradigmatisch dem Akt seiner höchsten Vervollkommnung in Gestalt der fruitio Dei – zur emotiven passio der Freude vorstellt, um von hier aus dann Rückschlüsse auf das Verhältnis von Wille und nicht-emotiver passio ziehen zu können, wobei auch die Ergebnisse besonders des ersten Abschnitts wieder zum Tragen kommen werden. 5. Einschlägig lässt sich das Verhältnis von sekundärem Willensakt und emotiver, diesem Sekundärakt des Willens folgender passio anhand des Ruhens (quietare) des Willens in der Liebe beziehungsweise im Genuss (fruitio) des unendlichen Guten zeigen. In diesem Ruhen oder diesem Genuss besteht die Glückseligkeit als höchste Vervollkommnung des Willens, genauer von dessen affectio iustitiae; zugleich ist es mit einem Moment der Freude (delectatio) verbunden. Diesen Konnex von Freude und Glück diskutiert Duns Scotus in Ordinatio IV dist. 49 q. 7 nn. 4-7 in Gestalt der Frage, ob die delectatio zur Essenz von beatitudo gehöre oder nicht. Die Antwort fällt negativ aus für die Glückseligkeit im strengen Sinne (beatitudo stricte sumpta). Der Grund liegt darin, dass delectatio eine passio ist, wohingegen die Glückseligkeit in einer Aktivität (operatio) besteht. Indessen kann in einem weiteren Sinne die delectatio zur Glückseligkeit hinzugenommen werden, wenn man den Willen auf zweifache Weise betrachtet, nämlich erstens als operative Potenz (potentia operativa), zweitens als rezeptive Potenz (potentia receptiva). Glückseligkeit besteht essentiell darin, dass der Wille als operative Potenz schlechthin in Gestalt eines Aktes oder einer Handlung vervollkommnet wird, die ihn schlechthin und in äußerstem Maße mit dem schlechthin Besten verbindet (perficitur simpliciter operatione coniugente simpliciter, & ultimate optimo simpliciter). Dagegen ist der Wille als rezeptive Potenz ebenfalls in der Lage, vervollkommnet zu werden, indessen nicht in Gestalt von Handlungen, sondern von ‚übernatürlichen Leidenschaften‘ (passiones supernaturales), derer der Wille im äußersten Grade empfänglich (ultimate receptiua) ist. In dieser nicht-essentiellen Weise nun wird der Wille durch Freude (delectatio & gaudium) vervollkommnet. Somit kann gesagt werden, dass die passio supernaturalis als Vervollkommnung der affectio commodi des Willens angesehen werden kann, wohingegen die affectio iustitiae sich als Akt der fruitio vervollkommnet. natus, et habere habitum inclinantem ad ipsum et habitum theologicum, quia respicientem Deum immediate pro obiecto.

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Dieses nicht-essentielle Verhältnis beider Momente, also der als aktiver ‚Genuss‘ (fruitio) aufzufassenden Glückseligkeit des Willens und der mit dieser Aktivität verbundenen Freude und Ruhe (quietas), bestimmt Scotus als ein kausales, das heißt so, dass die passio der Freude im Willen den diese verursachenden Glückseligkeitsakten nachfolgt (beatitudo est causa quietationis, & delectationis quae consequitur actus beatificos); als passio receptiua voluntatis ist die Freude hierbei in Anlehnung an Augustinus als ein Leben (vita) anzusehen. Diese Entkopplung von beglückender Handlung und Freude ist auch mit Blick auf die Unterscheidung der beiden Grundinklinationen des Willens insofern bedeutsam, als Duns Scotus hierdurch daran festhalten kann, dass die affectio iustitiae, deren Vervollkommnung die eigentliche Glückseligkeit des Willens ausmacht, nicht auf ein Ziel ausgerichtet ist, das der Wille – wie im Fall der Freude – für sich selbst will, was zu einer Konfundierung von affectio iustitiae und affectio commodi führen würde. So ist zwar fruitio als operatio tatsächlich das intrinsische Ziel (finis intrinsecus) der affectio iustitiae, aber eben nicht delectatio, die nicht als Ziel durch die affectio iustitiae anvisiert wird, sondern deren eigentümlicher operatio, als derselben natürlicherweise später, bloß nachfolgt. In diesem Verhältnis natürlichen Nachfolgens zeigt sich ein weiterer Grund, weshalb die passio der delectatio nicht im eigentlichen Sinne die Essenz der Glückseligkeit ausmachen kann. Denn eine passio tendiert nicht hin zum Objekt (tendere in obiectum) und kann daher auch nicht die tendierende Potenz mit diesem vereinigen (unire) – in welcher Vereinigung eben die vervollkommende Handlung und damit die Glückseligkeit besteht –, sondern stammt lediglich vom Objekt ab (esse ab obiecto). Damit will Duns Scotus schlussendlich indessen nicht bestreiten, dass die Freude de facto mit der Glückseligkeit verbunden ist. Lediglich soll bestritten werden, dass deren Essenz in der Freude besteht. So tritt also tatsächlich die Freude mit der Glückseligkeit auf, könnte indessen durch die göttliche Allmacht (potestas diuina) von dieser abgelöst werden. Dabei würde Scotus sogar einräumen, dass die Glückseligkeit noch vollkommener wäre, wenn die Freude zu ihrer Essenz gehörte, was in der schon angesprochenen Unmöglichkeit liegt, dass die passio sie mit dem Objekt verbindet. 3. Schluss: Nicht-emotive passiones animae als Selbstaffektion des Willens? 1. Es ist nun an der Zeit, die Ergebnisse dieser verschiedenen Betrachtungen zusammenzuschauen und die Frage zu stellen, in welchem Sinne man zumal im Konnex mit den Grundinklinationen den passio-Begriff bei Duns Scotus verwenden kann. Es hat sich gezeigt, dass passio zunächst diese beiden Grundinklinationen selbst bezeichnen kann, die als passiones voluntatis im Sinne von verschiedenen Vervollkommnungsstufen der Potenz des Willens (actus primus und actus

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secundus) angesprochen werden können. Hierbei könnte unter passio unter ande-

rem der semantische Gehalt des Affiziertwerdens des Willens durch je verstandenes Gutes intendiert werden. Interessanter jedoch als diese Verwendungsweise des passio-Begriffs scheint diejenige zu sein, in der passio eine actio acta seu producta meint. Schon im ersten Abschnitt wurde überlegt, ob man hier nicht von einer Art Selbstaffektion des Vermögens des Willens (und auch des Intellekts) sprechen kann. Unterdessen aber scheinen sich hierfür verschiedene Ebenen aufzutun. So könnte man erstens das Affiziertwerden des Willens durch seine eigenen Akte auf der Ebene des actus secundus in Analogie zur eben untersuchten Verbindung von fruitio Dei und delectatio annehmen, wobei zu fragen wäre, ob im Falle einer nicht-emotiven, durch den sekundären Willensakt kausal verursachten passio als actio acta ein ebenso nicht-notwendiges Verhältnis zum actus secundus vorliegt wie im Falle der delectatio im Verhältnis zur fruitio. Wenn man die so verstandene passio als dasjenige epistemische Moment annimmt, in dem der Wille seines eigenen Sekundäraktes gleichsam inne wird, müsste man im Falle eines nicht-notwendigen Konnex dann die Möglichkeit gleichsam unbewusster Willensakte annehmen. Könnte man aber zweitens nach den erarbeiteten begrifflichen Vorgaben nicht auch schon für die actus primi des Willens, also dessen noch nicht zur eigentlichen Volition übergegangenen Grundstrebungen passiones als actiones actae annehmen? Wäre dem so, dann müsste man solche unmittelbaren passiones wohl als Grundmomente einer Art existenziellen Selbstgefühls des Willens oder der Seele auffassen. Damit bezöge sich der passio-Begriff auf eine der fundamentalen Ebenen jedweder Theorie des Geistes beziehungsweise der Subjektivität. 2. Es bleibt abschließend zu fragen, ob sich ein einheitlicher Fokus beziehungsweise eine einheitliche Theorie des Begriffs passio bei Duns Scotus ausmachen lässt. Nach dem Gesagten scheint die Antwort darauf eher negativ auszufallen. Vielmehr scheint die von Duns Scotus selbst markierte Äquivozität des passioBegriffs an vielen Stellen schon allein im Bereich von dessen nicht-emotiver Verwendungsweise durch, und es besteht wenig Hoffnung, dass ein Einbeziehen auch der emotiven Bedeutung diese Äquivozität nicht noch steigern würde. Hinzu kommt der Umstand, dass sich bei Duns Scotus keine wirklich in thematisch hinreichender Komplexität durchgeführte Analyse der passio findet wie etwa bei Thomas von Aquin in der Summa theologiae, sondern dieser Begriff sich vielmehr in verschiedensten und bisweilen recht verstreuten Kontexten der unterschiedlichen Fassungen des Sentenzenkommentars sowie der Quästionenkommentare zu Aristoteles findet. Immerhin aber hat sich gezeigt, dass innerhalb dieses vielschichtigen Feldes mit der Dimension der Selbsterfassung basale systematische Problembereiche der Philosophie im Begriff der passio berührt werden können.

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Tun und Leiden. Die Ambivalenz der Leidenschaft bei Meister Eckhart 1. Leidenschaft als Thema der Mystik

Bedeutungen, diese Bedeutungen aber verändern sich. Die Merkwürdigkeit des Begriffswortes „Leidenschaft“ besteht darin, dass es inzwischen sogar eher das Gegenteil von dem bedeutet, was ursprünglich damit gemeint war. Wenn etwa einem Politiker oder einem Künstler im Sinne des gegenwärtigen Sprachgebrauchs Leidenschaftlichkeit attestiert wird, dann will man damit sagen, er habe sich rückhaltlos mit einer Sache identifiziert, seine Emotionalität ohne Distanz damit verbunden. Sein Tätigsein war also kein bloß äußeres und somit äußerliches, dieses vielmehr der unmittelbarer Ausdruck seiner inneren Bewegtheit und seines ureigenen Interesses ist. Auch in der alten Bedeutung des Wortes ‚Leidenschaft‘ ist eine Bewegtheit gemeint, aber gerade eine, von welcher der leidenschaftliche Mensch betroffen, in die er hinein- und von der er mitgenommen wird, eine Bewegtheit mithin, die gerade nicht von ihm selbst ausgeht. Daher die Passivität, die in der Bedeutung der bloß quasi-äquivalenten Worte in den alten Sprachen – πάθος; passio1 – im Vordergrund steht. Man kann es freilich in diesem Falle nicht bei der semantischen Feststellung bewenden lassen. Denn diese Verschiebung, die bis zur Verkehrung ins Gegenteil geht, ist gar nicht eindeutig. Es gibt nämlich verschiedene Möglichkeiten, die hierbei eine Rolle spielen können: Was ehedem als eine Übermächtigung angesehen worden ist, kann später als des Menschen eigene Tätigkeit betrachtet worden sein. Ist Liebe eine Passion? Oder gerade der innerste Antrieb des Menschen? Diese Frage und ähnliche dieser Art sollen aber nicht suggerieren, dass Aktivität und Passivität mitunter schwer zuschreibbar sind. Vielmehr hat es den Anschein, dass im Menschen die Worte „haben“

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Die unterschiedlichen Begriffswörter hat bereits Augustinus vermerkt, De civitate Dei IX, 4 (CCSL 47, p. 251, 1‒4): […] de his animi motibus, quae Graeci πάθη, nostril autem qui-

dam, sicut Cicero, perturbations, quidam affections uel affectus, quidam uero, sicut iste, de Graeco expressius passions uocant (über die Gemütsbewegungen, die die Griechen pathe

nennen, die unsrigen aber bald wie Cicero Erregungen, bald Affektionen oder Affekte, bald wie Apuleius und im engeren Anschluss an das Griechische Passionen) (Übers. W. Thimme)].

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Dinge von sich her nicht so einfach liegen. Das Erleiden kann intensiviert oder abgeschwächt werden, das Betroffensein kann den Menschen in einem Maße in seinen Bann ziehen, dass alles andere Bewusstsein und Tun davon ergriffen wird. Das heißt: Der Mensch verhält sich zu dem, wie er sich vorfindet und wem er sich ausgesetzt sieht. Dies wiederum eröffnet die Möglichkeit, alle Aktivität gerade in dieses Sich-Verhalten zu legen. Weisheitslehren haben nicht selten genau diesen Aspekt hervorgehoben. Das Betroffensein ist erst das eine, aber wie man sich dazu stellt, ist das Entscheidende.2 Dieses liegt beim Menschen – und was bei uns liegt, macht unsere Freiheit aus. Es ist daher vielleicht gar nicht so erstaunlich, dass sowohl Aristoteles als auch Augustinus – die doch ansonsten eher gegensätzlichen Typen des Denkens angehören oder vielmehr solche ausgebildet haben – gerade darin übereinkommen, dem Tätigsein einen höheren Rang zuzuweisen als der Passivität. Beide formulieren es geradezu sentenzenartig: Bei Aristoteles liest man: „Denn stets ist das Bewirkende ranghöher als das Leidende“3; und bei Augustinus heißt es: „In jedem Fall4 ist nämlich das Wirkende der Sache überlegen, an der es seine Wirkung ausübt“ – was also einer Wirkung nur ausgesetzt ist und damit sich passiv zu dem auf ihn Wirkenden verhält. Dies in Betracht gestellt, lässt es zwar nicht als unmöglich, aber doch als eher unerwartet erscheinen, wenn diese Akzentuierung, die von Aktivität, Eigentätigkeit und damit von Freiheit ausgeht, eher umgekehrt die Passivität hervorhebt. Gibt dies einen Sinn? Wohl nur dann, wenn damit doch eine Art von Tätigkeit verbunden ist, nämlich die des Bewusstwerdens, der Vergegenwärtigung. Andernfalls wäre nur von einem Geschehen die Rede. Man kann Gleichgültigkeit oder Gelassenheit, aber nicht Passivität empfehlen. Diese Thematik des Verhältnisses von Tätigkeit und Empfangen bekommt nun in der mittelalterlichen Mystik ein besonderes Interesse.5 Dies ist freilich kein Zufall. Denn gerade hier geht es 2

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Das, was im würdigenden oder im entlarvenden Sinne mit dem Wort „Betroffenheit“ gemeint ist, fügt gerade die subjektive Seite hinzu, es ist also entgegen dem unmittelbaren Wortsinn ein Sich-Betreffen-lassen. Dieser Sprachgebrauch stammt wohl aus der Existenzphilosophie. De anima III, 5; 430 a 18‒19: "/.31%#30,*,20/#&(30+3$&,&)(30&)3$'4-&(0&!3 (Übers. O. Gigon); das Mittelalter hat das in der Übersetzung gelesen: semper enim honorabilius est agens patiente. De Genesi ad litteram XII, 16 (CSEL 28/2, p. 402, 7‒8: omni enim modo praestantior est qui facit ea re, de qua aliquid facit (Übers. C. J. Perl); im Mittelalter als das Adagium zitiert: omne agens est praestantius passo, etwa von Heinrich von Gent, Quaestiones quodlibetales 1, 14 (Opera omnia, V, ed. R. Macken, Leuven 1979, S. 85; Duns Scotus, Lect. II d. 9 q. 1‒2 n. 14 (Editio Vaticana XIX, S. 18); d. 30‒32 q. 3 n. 16 (Editio Vaticana XIX, S. 293). In den einschlägigen Lexika findet diese Richtung allerdings so gut wie kein Interesse: Jakob LANZ, Art. Affekt, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie I, 1971, Sp. 89‒100;

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nicht um die einzelne Handlung, sondern vielmehr um die Haltung des Menschen insgesamt. Gewiss kommt es auch bei Aristoteles, bekanntlich sogar in ganz zentraler Weise, auf die Haltung des Menschen an. Aristoteles versteht diese Haltung aber als Ergebnis einer Prägung durch Erziehung und Selbsterziehung. Wie stark diese Prägung ist, läßt sich daran ersehen, dass die Tradition im Rückgriff auf Aristoteles sogar von einer „zweiten Natur“6 spricht. Was dabei geprägt wird, sind die Leidenschaften. Es gehört zu seinen charakteristischen Thesen, dass Leidenschaften nicht allein, wie dies später von Spinoza über Schopenhauer zu Heidegger vielfach behauptet worden ist, durch andere Leidenschaften modifiziert werden können, sondern durch die Vernunft geprägt, also nicht nur dosiert, sondern einem Maß unterworfen werden können. Was hat es mit dieser Prägung auf sich? Wenn eine solche gedacht werden muss, dann muss irgendeine Art von Homogenität zu denken sein, denn wie sollte sich sonst eine solche Prägung einstellen können? Es muss der Leidenschaft keine pure Passivität zugrundeliegen, sondern selbst eine Art von Aktivität. Dies gilt grundsätzlich, aber es muss sich auch im Ziel eine solche Vergleichbarkeit denken lassen. Genau das ist die These des Aristoteles: Es geht um das Gute. Es ist bei den Leidenschaften ein jeweiliges Gut, im Falle der Vernunft ein universelles Gut. Denn das Gute des Menschen ist keines, wenn mit ihm eine Reue oder Selbstanklage verbunden ist. Daher können die Güter der Affekte nicht vollständig von der Reflexion abgetrennt werden. Dieses Lehrstück kommt nun an der Wende des 13. zum 14. Jahrhundert in eine Kritik, die rhetorisch zwar höchst verhalten ist, in der Sache aber gleichwohl dezidiert ist. Duns Scotus verwirft die Prägung des Willens, weil sie seine Freiheit untergräbt. Diese Freiheit schließt jedes Präjudiz aus. Die Tugenden wandern7 von den Leidenschaften in den Willen. Dort gibt es aber keinen Habitus mehr. Umgekehrt kennt Meister Eckhart nicht mehr die bloß aristotelische Konzeption einer Prägung der Leidenschaften, also das vernünftige Bewegtwerden diverser Antriebe, sondern die vollständige Ausschaltung aller Bewegtheit von außen. Dies klingt auf den ersten Blick einigermaßen stoisch, aber bevor man solche

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mit reichhaltigen Hinweisen zum Kontext: Matthias LAARMANN, Art. Passiones animae, in: Lexikon des Mittelalters, VI, 1993, Sp. 1769‒1771. Ars rhetorica I, 11; 1370 a 6‒7: )8/97$"91-5+:(3'%'9,:#1"9#104)*!9&5.9727'168+;9 „denn das Gewohnte geschieht wie vollends von Natur aus“ (Übers. Ch. Rapp); CICERO, De finibus V, 25, 74: auch die Hedonisten erklären, um die Lust als solche ginge es nur am Anfang, dann aber trete die Gewohnheit ein und dadurch entstehe quasi alteram quandam naturam; AUGUSTINUS, Contra secundam Juliani imperfectum opus, I, 69 (PL 45, 1091): secunda natura (zweite Natur). Ordinatio III d. 33 (Editio Vaticana X, S. 141‒175); man beachte aber auch ECKHART, Die rede der underscheidunge, 10 (Deutsche Werke V, S. 216, 1‒2): „diu tugent und allez guot liget in dem guoten willen“; vgl. SCHÖNBERGER, Rolf, Art. Tugend, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, X, 1998, Sp. 1551.

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Einordnungen vornimmt, muss der Gedanke selbst genauer ins Auge gefasst werden. Eckharts These scheint ziemlich eindeutig. Der mensche, der gelâzen hat und gelâzen ist und der niemermê gesihet einen ougenblik ûf daz, daz er gelâzen hat, und blîbet stæte, unbeweget in im selber und unwanderlîche, der mensche ist aleine gelâzen.8

Die Faktizität wird dadurch schon von vornherein in der Absolutheit ihres VonGott-gewollt-Seins genommen; auf den Stoizismus dieses Gedankens haben wir oben schon hingewiesen; dagegen scheint Eckhart zu schwanken, ob er auch die Lehre der Ataraxie, des Unbewegtseins, übernehmen kann; manchmal fordert er es ausdrücklich, dann wieder lehnt er es als psychologisch unmöglich und zudem unbiblisch ab.9 Es kommt eine neue Kategorie ins Spiel. Es geht nicht mehr nur um die kom-

plementären Bestimmungen von Tun und Leiden. Was nun hinzutritt, ist das Lassen. Es genügt daher auch nicht, das poetische vom praktischen Tun zu unterscheiden, weil es auch nicht mehr um die Differenz von Tun und Werk geht. Das Tun wird unterstellt, es ist aber jetzt gleichgültig, woher es in Gang kommt und ob es ein Werk in sich enthält oder aus sich heraussetzt. Ganz und gar nicht gleichgültig ist hingegen, wie der Mensch sich zu diesem Tun, das ihn selbst betrifft, stellt. Darüber hinaus geht es aber auch um die Bestrebungen, Interessen und Wünsche des Menschen. Der Mensch soll eine einzige Form der Bewegung vollziehen, und das ist die der Distanz. Also nicht nur das Gewahren von Distanz, sondern das Aufbauen einer Distanz, ist das Ziel der Bemühung. Eckhart versucht zu vergegenwärtigen, dass der Mensch ontologisch ganz anders bestimmt ist als er gemeinhin unterstellt. Die kollektive Unterstellung ist gerade die NichtUnterschiedenheit, eine allenfalls marginal modifizierte Egalität. Die geschaffenen Dinge haben durchgängig dieselben Charaktere: Sie sind vielfältig, voneinander unterschieden. Worauf es hier ankommt, ist ihre Wandelbarkeit. Dies ist der Mensch in seinem Eigentlichen nicht – oder doch nur, wenn es sich aus dieser Wandelbarkeit nicht erhebt. Wie kann er das? Schon in der Erkenntnis gewinnt er eine solche Ebene. Denn wahre Aussagen sind zeitlich wahr, Begriffe haben keine zeitliche Geltung. Er kann es aber auch in seinem Wollen, eben dann, wenn er 8

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Deutsche Werke I, S. 203): „Der Mensch, der gelassen hat und gelassen ist und der niemals nur einen Augenblick auf das sieht, was er gelassen hat, und beständig bleibt, unbewegt in sich selbst unwandelbar – der Mensch allein ist gelassen“ (Übers. J. Quint). Gefordert: Daz buoch der götlichen trœstunge [BgT] 1 (Deutsche Werke V, S. 13); Die rede der underscheidunge [RdU] 9 (Deutsche Werke V, S. 213); Predigt 21 (Deutsche Werke I, S. 358); Predigt 76 (Deutsche Werke III, S. 326); abgelehnt: Predigt 86 (Deutsche Werke III, S. 490); eher vermittelnd: Predigt 81 (Deutsche Werke III, S. 397): „Er wirt wol beweget, er enwirt aber niht entworfen.“ Predigt 12 (

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sich nicht auf das richtet, was dem Werden und Vergehen, „Rost und Motten“ ausgesetzt ist. Die Geschöpfe werden so zum Sinnbild dessen, was der Mensch nicht sein soll: Daz meinet, daz wir ein suln sîn in uns selben und gesundert von allem, und stæte unbeweget suln wir mit gote ein sîn.10

2. Vernunft und Sinnlichkeit

Keineswegs ausgeblendet werden darf natürlich, dass bei Eckhart die Sinnlichkeit unmittelbar in Verbindung, in eine gegensätzliche Relation zur Vernunft gebracht wird. Dafür gibt es nur einen einzigen Grund, dass die Sinnlichkeit nämlich die genannten Züge alles Geschöpflichen teilt. Aber der Mensch ist eben, sofern er sich von anderen Wesen spezifisch durch seine Vernunft unterscheidet, im We11 sentlichen durch eben diese Vernunft bestimmt. Sie ist diejenige Fähigkeit, durch die das Gebundensein der Sinnlichkeit zutage tritt und genau darin liegt bereits die Eröffnung einer Distanz dazu und damit Freiheit (in einem bestimmten Sinne). Zunächst aber wird erst durch die Vernunft jegliche Handlung und so auch jeglicher Affekt beurteilbar. Ohne diesen Maßstab ist die Leidenschaft einfach so wie sie ist. Für diese Bestimmung durch die Vernunft beruft sich Eckhart auf . Es sind dies zum einen Dionysius Areopagita,12 zum anderen Aristoteles: „Die Gattung Mensch aber lebt auch nach Maßgabe von Kunst und Überlegung.“13 Ob er sich damit auf zwei unterschiedliche, in belangvollen Hinsichten auch gegensätzliche, aber mitunter eben doch konvergierende Traditionen berufen wollte, lässt sich nicht eindeutig sagen. Diese Bestimmung macht also nach Ausweis zweier Autoren das Wesentliche, also das den Menschen von allen auctoritates

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Predigt 21 (Deutsche Werke I, S. 358): „Dies will besagen, daß wir Eins sein sollen in uns

selbst und gesondert von allem, und stetig unbewegt sollen wir mit Gott eins sein“ (Übers. J. Quint). Bei Eckhart wiederholt festgehalten, etwa Expositio libri Genesis n. 131 (Lateinische Werke I, S. 596); In Exodum n. 212 (Lateinische Werke II, S. 178); In Iohannis evangelium n. 51 (Lateinische Werke III, S. 42); n. 555 (Lateinische Werke III, S. 484); n. 524 (S. 453). An diesem klassischen Gedanken hat das Mittelalter in der Formulierung des Dionysius Areopagita festgehalten: THOMAS VON AQUIN, Summa theologiae I-II, 18, 5: bonum hominis est secundum rationem esse; „Das Gute für den Menschen ist, gemäß der Vernunft zu sein“ (Übers. Schönberger). Man muss vermuten, dass Eckhart dies aus Thomas übernimmt, denn wörtlich steht dieser Satz nicht an der von den Herausgebern genannten Stelle; verwiesen wird auf: De divinis nominibus IV, 32 (PG 3, 733); vgl. DURANTEL, Jean, Saint Thomas et le Pseudo-Denis, Paris 1919, S. 173 f.

Metaphysik I, 1; 980 b 27‒28: 6-:53:6*':"'0#8$/':74'&!:,92:641'%:,92:)&7.;(&+!; Übers. Th. A. Slezák.

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anderen Wesen spezifisch Unterscheidende aus. Dies ergibt sich aus zwei zu interpolierenden Argumenten, ein formales und ein inhaltliches: Zum einen kann die Beurteilung dessen, was für den Menschen gar nicht spezifisch ist,14 nur mit Bezug auf das erfolgen, was den Menschen ausmacht. Was sollte sonst der Maßstab dafür sein? Zum anderen ist die Vernunft nicht allein der Ursprung spezifisch menschlicher Tätigkeiten, sondern zugleich deren Maßstab: Etwas kann der Vernunft entsprechen oder widersprechen. Beides wird wiederum selbst von der Vernunft beurteilt. Damit ist aber noch nicht gesagt, was der Vernunft entspricht. Können Affekte überhaupt der Vernunft entsprechen oder nur unter Umständen, dann nämlich, wenn sie von der Vernunft selbst moderiert worden sind? Schon Augustinus hat in De civitate Dei festgestellt, dass es innerhalb der Philosophie hierzu zwei Ansichten gebe. Die Stoiker bestritten, dass ihr Ideal des vollkommenen Menschen „mit solchen Leidenschaften das mindeste zu schaffen habe.“15 Dem stellt Augustinus die Platoniker und Aristoteliker gegenüber, die der Auffassung gewesen seien, „diesen Erregungen, Affektionen oder Passionen sei auch der Weise ausgesetzt. Doch überschritten sie in diesem Falle nicht ein gewisses Maß und blieben der Vernunft unterworfen, so daß ihnen die Herrschaft des Geistes sozusagen Gesetze auferlege und sie dadurch in den notwendigen Schranken halte.“16 Diese Passage zitiert Eckhart mehr als einmal,17 es geht aber dabei nicht darum, dass Augustins sich im Folgenden der These Ciceros anschliesst, wonach in Wahrheit gar keine inhaltliche, sondern nur eine verbale Differenz vorliegt. Vielmehr stellt er mit Augustins Aussage aus dem folgenden Kapitel die Auffassung der Bibel gegenüber: Von Belang ist zum einen gar nicht ausschließlich, dass die Affekte dem Geist unterworfen sind, sondern auch, dass der Geist Gott unterworfen sei: „Auch geht es in der christlichen Unterweisung nicht so sehr darum, ob eine fromme Seele zürnt, sondern warum sie zürnt, nicht darum, ob, sondern warum sie trauert, nicht darum, ob, sondern wovor sie Fucht hat. Denn wie könnte vernünftige Überlegung es tadeln, wenn man dem Sünder zürnt, um ihn zu bessern?“18 Wenn somit Leidenschaften nicht einfach eine 14

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Nicht diskutiert werden kann hier die Frage, ob tatsächlich menschliche Affekte dieselben sind wie bei Tieren. De civitate Dei IX, 4 (CCSL 47, S. 251, 11‒12): Aliis autem, sicut Stoicis, cadere ullas omnino huiusce modi passiones in sapientem non placet (Übers. W. Thimme). De civitate Dei IX, 4 (CCSL 47, S. 251, 4‒8): has ergo perturbationes siue affectiones siue

passiones quidam philosophi dicunt etiam in sapientem cadere, sed moderatas rationi que subiectas, ut eis leges quodammodo, quibus ad necessarium redigantur modum, dominatio mentis inponat (Übers. W. Thimme). Expositio sancti evangelii secundum Iohannem n. 524 (Lateinische Werke III, S. 554); Sermo XVI n. 163 (Lateinische Werke IV, S. 155). De civitate Dei IX, 5 (CCSL 47, p. 254, 5‒11): denique in disciplina nostra non tam quaeritur utrum pius animus irascatur, sed quare irascatur; nec utrum sit tristis, sed unde

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Ursache, sondern einen Grund haben, ist zugleich ein Maßstab angesetzt. Ursachen sind wie sie sind, Gründe sind immer gute oder schlechte Gründe. Der Text Eckharts, der hier zur Bestimmung seiner Auffassung herangezogen wird, ist kein beliebiger Text. Er steht in seinem Johannes-Kommentar19 und zwar als Kommentar zu der Stelle, an der der Evangelist schildert, dass Jesus nach Bethanien zu Maria und Marta kommt, deren Bruder Lazarus vier Tage zuvor gestorben war. Dann heißt es in der sog. Einheitsübersetzung: „Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war er im Innersten erregt und erschüttert.“20 Der Text, der Eckhart vorliegt und den er gekürzt heranzieht, lautet: Iesus vero, ut vidit eam plorantem, fremuit spiritu et turbavit se ipsum. Eckhart lässt es – natürlich – nicht bei einer allgemeinen Diskussion der Affekte bewenden. Schon Thomas von Aquin hat diese und ähnlich Aussagen über die Trauer Jesu neben anderem als Anlass21 genommen, die stoische Lehre von der Affektfreiheit des Weisen zu korrigieren. Die Leidenschaft, die vor und also unabhängig von der Vernunft aufkommt, ist „etwas Schlechtes und Böses“22; offenkundig deswegen, weil sie sich der Be-

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sit tristis; nec utrum timeat, sed quid timeat. irasci enim peccanti ut corrigatur, contristari pro adflicto ut liberetur, timere periclitanti ne pereat, nescio utrum quisquam sana consideratione reprehendat (Übers. W. Thimme). Zu diesem Werk insgesamt: FLASCH, Kurt, Meister Eckhart: Expositio sancti Evangelii secundum Ioannem, in: Hauptwerke der Philosophie. Mittelalter, Hg. Kurt Flasch, Stuttgart 1998, S. 381-401. Joh. 11, 33: 0#*)1(+' 1%5' -E/-5' 6D;)6;1';2'.5-"76'96B'@;=,63-5'6D;A5. Walter Jens übersetzt die Stelle: „Jesus schaute sie an, sah sie weinen, erblickte die klagenden Juden, Begleiter in Trauergewändern, und eine große Traurigkeit überfiel ihn, seine Seele bebte, und er zürnte dem Tod.“ K. Berger/Ch. Nord: "Jesus sah, wie sehr sie und ihre jüdischen Freunde, die mit ihr gekommen waren, trauerten, und ihn ergriff Mitleid und Erschütterung." SCHENK, Richard, Die Gnade vollendeter Endlichkeit. Zur transzendentaltheologischen Auslegung der thomanischen Anthropologie (Freiburger theologische Studien 135), Freiburg 1989, S. 499 ff. Auch Robert SPAEMANN stellt den Bezug her, Moralische Grundbegriffe, München 1982, S. 105: „Und auch Jesus ist offenbar alles andere als ein stoischer

Weiser, wenn er in Todesangst um sein Leben bittet, um dann hinzuzufügen: ‚Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.‘“ Expositio sancti evangelii secundum Iohannem n. 524 (Lateinische Werke III, p. 453, 6): vitiosum est et malum; In Gen. I n. 228 (Lateinische Werke I, S. 373): dum passio praevenit

et movet rationem, vitium est, utpote contra ordinem naturae, inferius movet suum superius. Quando vero ratio praevenit et dictat motum passionis, virtus est; vgl. ARISTOTELES, Nikomachische Ethik II, 4; 1105 b 28‒1106 a 1: „Weder Tugend noch Schlechtigkeit sind

nun Leidenschaften. Wir gelten ja auch nicht auf Grund der Leidenschaften als gut oder gemein, sondern auf Grund von Tugend und Schlechtigkeit. Weiterhin werden wir nicht

268

Rolf Schönberger

stimmung der Vernunft durch ihr schieres Auftreten entzieht. Eckhart sieht den Widerspruch zwischen dieser menschlichen Leidenschaft einerseits und dem Entzogensein dessen, was den Menschen spezifisch kennzeichnet.23 Es ist aber nicht nur das umgekehrte Verhältnis von Vernunft und Leidenschaft, von ratio und passio, denkbar, dieses ist zugleich das eigentlich Gute: Nur dann, wenn die Leidenschaft von24der Vernunft „beherrscht“ ist, imperata ab ipsa, wenn sie also, wie oben zitiert, einen nachvollziehbaren Grund hat, handelt es sich bei der Leidenschaft um ein tugendhaften Vollzug. Vor der inhaltlichen Interpretation sei eine kurze Bemerkung zur Übersetzung gestattet: Es geht nicht allein um Beherrschung im Sinne der Moderation, die Unterwerfung unter die Vernunft und damit die Dosierung auf das rechte Maß, sondern auch um den Ursprung der Bestim25 mung. Wenn die Leidenschaft die Vernunft bestimmt, heißt das, dass die Vernunft gar nicht zum Zuge kommt, ihre Beurteilung also entweder folgenlos bleibt26 oder sogar irritiert wird, sie sich also über ihre Unvernünftigkeit hinwegtäuscht. Es geht also um die Alternative von schierer Bestimmungskraft oder Beurteilungsvermögen. Unerörtert bleibt, ob tatsächlich alles den Menschen Betreffende der Vernunft unterworfen werden kann. Dies scheint Eckhart wohl deshalb keine Frage, weil die Vernunft als Wesensbestimmung des Menschen einen Bezug auf alles haben können muss, was den Menschen selbst angeht. Zum anderen hat die Vernunft selbst einen unendlichen, somit nichts auschließenden Horizont – ihr formaler Gegenstand ist nämlich auch nach Eckhart das Seiendsein27 – und damit lässt sich nichts angeben, das außerhalb ihrer Reichweite stehen müsste. Wenn also die Alternative als vollständig betrachtet werden kann, dann ergibt sich aber noch eine zweite Frage, die Eckhart allerdings ebenfalls übergeht: Wie muss man sich die Bestimmung von Leidenschaften durch die Vernunft denken? Wenn die Leidenschaften schon als solche purer Drang oder Andrang, nichts als Bewegtheit 23 24 25

wegen der Leidenschaften gelobt oder getadelt (denn […] man tadelt nicht den Zürnenden überhaupt, sondern den in gewisser Weise Zürnenden).“ Vgl. Anm. 11. Vgl. Anm. 18. Das „Befehlen“ gehört neben dem Überlegen und Beraten, dem Wählen und Entscheiden zu den Komponenten der Handlung: vgl. THOMAS VON AQUIN, Summa theologiae

I-II, 17,

1‒9; dazu: S

CHÖNBERGER, Rolf, Thomas von Aquin: Summe der Theologie I-II, 1. Teil, in:

Klassische Werke zur philosophischen Ethik. Studienbuch für Philosophie- und Ethiklehrer, Hg. Herbert Huber, Freiburg/München 2010, S. 136‒170.

26

27

Nikomachische Ethik ‒20: „Denn nicht jedes Urteilen wird durch Lust und Schmerz verdorben oder verdreht, etwa nicht das Urteilen darüber, ob die Winkelsumme des Dreiecks zwei Rechten gleich sei oder nicht; dagegen das Urteil im Handeln. Denn die Prinzipien des Handels liegen in seinem Zwecke. Ist man aber durch Lust oder Schmerz verdorben, so sieht man sofort das Prinzip nicht mehr, daß man um seinetwillen und wegen ihm alles wählen und tun soll. Denn die Schlechtigkeit verdirbt das Prinzip.“ In Genesim I n. 97 (Lateinische Werke I, 562, 6): obiectum intellectus est ens. VI, 2; 1140 b 13

Tun und Leiden. Die Ambivalenz der Leidenschaft bei Meister Eckhart

269

sind, wieso sollen sie überhaupt der Vernunft zugänglich sein? Und darüber hinaus: Worin genau liegt die Vernunftentsprechung einer Leidenschaft? Diese alten Fragen sind bekanntlich unterschiedlich beantwortet worden und stehen ja auch in Kants Frage, wie die Vernunft praktisch werden kann, im Raum: Nach Auffassung der Stoiker haben auch Affekte einen propositionalen Charakter, so dass sie von der Vernunft bestimmt werden können. Aristoteles setzt hingegen kein homogenes Verhältnis an, sondern eine Gegensatzrelation, doch verhalten sich Vernunft und Leidenschaften nicht nur gegensätzlich. Er verwendet hierfür sogar das von ihm gar nicht als Begriff, sondern als bloße Metapher angesehene Wort ‚Teilhabe‘: Die Leidenschaften haben teil an der Vernunft.28 Er hält zunächst an dem Faktum der Bestimmbarkeit fest und kann dies deshalb tun, weil er ja auch unterschiedliche Formen der Widervernunft kennt: die Zügelosigkeit und die Unbeherrschtheit.29 Wie schon gesagt, diesen Fragen geht Eckhart nicht nach. Er beschränkt sich hier auf eine Interpretation der verwendeten Ausdrücke: fremuit spiritu, in der deutschen Übersetzung der Ausgabe: „er erschauderte im Geiste“. Dies scheint eher irreführend. Der spiritus (Geist) scheint nicht der Ort des fremitus (des Erschauerns) zu sein, sondern dessen Ursprung. Eckhart erläutert nämlich: scilicet imperante spiritu, d.h. der fremitus wird befohlen durch den Geist. Der fremitus Jesu angesichts der um den Toten Trauernden ist also, um Kants Formulierung für das Gefühl der Achtung zu variieren, ein geistgewirktes Gefühl. Die entscheidende Bedeutung des Geistes hebt Eckhart aber noch stärker am folgenden Ausdruck hervor: Der lateinische Ausdruck ist reflexiv gebaut: turbavit 30 se ipsum, „er verwirrte sich selbst“. Eckhart versteht dies zunächst als Ausschluss des Verwirrtwerden von anderem, nämlich durch den Affekt der Trauer. Wiederum ist nicht sein Anliegen zu klären, wie man sich eine solche Selbstverwirrung und ihr Verhältnis zu ihrem Anlass denken solle. Entscheidend ist allein der Selbstbezug. Es handelt sich in seiner Lesart um eine Leidenschaft, denn der Geist als solcher ist nicht Verwirrung. Es handelt sich aber nicht um etwas, was von außen kommt und auf den Geist einwirkt. Auf sich selbst wirksam zu sein vermag nur der Geist. Wenn man wenigstens einen kurzen Blick auf voraufgehende Johannes-Kommentare wirft, so trifft man bei Augustinus – nicht überraschend – auf dasselbe Interesse an dem Selbstbezug, aber – ebensowenig überra28

29 30

I, 13; 1102 b 23‒31: „Dennoch muss man wohl annehmen, dass es auch in der Seele etwas Vernunftwidriges gibt, das der Vernunft entgegengesetzt ist und ihr widerstrebt. In welcher Weise es von ihr verschieden ist, macht hier nichts aus. Es scheint aber auch dies an der Vernunft teilzuhaben […] Das Pflanzliche hat mit der Vernunft überhaupt nichts zu tun, das Begehrende und allgemein das Strebende dagegen hat einen gewissen Anteil an ihr, sofern es ihr gehorcht und fügsam ist.“ Diese beiden Haltungen werden abgehandelt im 7. Buch der . Von ist bei Johannes des Öfteren die Rede: Joh. 11, 33; 12, 27; 13, 21; 14, 1. 27; Eckhart legt aber nur den ersten Vers in seinem Kommentar aus. Nikomachische Ethik

Nikomachischen Ethik

turbatio

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Rolf Schönberger

schend – gebunden an den Willen: „Ich weiß nicht, was er uns angedeutet hat, indem er im Geiste erschauerte und sich selbst betrübte. Denn wer könnte ihn betrüben, außer er sich selbst? Darum, meine Brüder, beachtet zuerst die Macht und sodann forschet nach der Bedeutung. Du wirst ohne deinen Willen betrübt; Christus wurde betrübt, weil er wollte. Jesus hungerte, es ist wahr, aber weil er wollte; Jesus schlief, es ist wahr, aber weil er wollte; Jesus starb, es ist wahr, aber weil er wollte; es stand in seiner Macht, so oder so affiziert zu werden oder nicht affiziert zu werden.“31 Es handelt sich aber freilich nicht nur um die Sache einer einmal zu gewinnenden Einsicht, welcher der Mensch schon allein dadurch zu folgen imstande wäre. Eckhart formuliert es denn auch nicht durchweg in der abstrakten Form wie sie in der hier versuchten Rekonstruktion präsentiert wird. An konkreten Affekten und Leidenschaften zeigt er dies in immer neuen Varianten auf, aber doch so, dass unverkennbar immer derselbe Grundgedanke sichtbar wird. Dies gilt von den frühen Reden der Unterscheidung bis zu seinen späten Kölner Predigten. Wie steht es nun mit der Leidenschaft? Muss sie überwunden werden? Wenn ja, wie? Oder muss sie doch „nur“ verwandelt werden? Feststeht, das sei ausdrücklich nochmals festgehalten, dass sie im Wesentlichen in Passivität besteht. Dies kann nichts sein, was Eckhart als solches bejahen kann. Schon deshalb, weil es Passivität für sich genommen gar nicht geben kann, sie vielmehr immer im Kontext von Deutung steht. Kontext deshalb, weil es nicht einfach ein Tatbestand ist, der ganz für sich genommen werden könnte, zunächst nur festgestellt also in völliger Neutralität gegeben wäre, und dann erst gefragt würde, wie er interpretiert werden könnte oder interpretiert werden sollte. Eckhart entfaltet weder eine systematische Lehre von Affekten noch hat er einzelnen Affekten eine herausgehobene Aufmerksamkeit geschenkt. Gleichwohl lassen sich seine Äußerungen zu diesen synoptisch vergegenwärtigen. Hier spielt etwa der Zorn eine naheliegende Rolle. Es war schon davon die Rede, dass er sich auf Augustinus und seine Aussage beruft, dass es nicht32 um das faktische Auftreten von Zorn oder Trauer geht, sondern um den Grund. Das heißt: Wenn solche Affekte Gründe haben können, dann möglicherweise auch gute Gründe. Und dies ist auch der Fall. Mehrfach zitiert Eckhart aus dem Opus imperfectum in Matthaeum, das er wie das ganze Mittelalter dem Johannes Chrysostomus zuschreibt:33 „Wenn es keinen Zorn gibt, gibt es keinen Erfolg der Lehre, gelten 31

32 33

49, 18 (CCSL 36, S. 428; Übers. Th. Specht). Auch Thomas von Aquin, der im Hinblick auf die turbatio auf drei verschiedene Aspekte verweist, sagt in Zusammenhang des letzten, der postestas, Super evangelium S. Ioannis lectura XI, 5 (ed. R. Cai, Turin/Rom 1952, nr. 1535): Potestas autem, quia ipse suo imperio turbavit semetipsum […] omnis motus appetitus sensitivi fuit in eo secundum modum et imperium rationis. Vgl. Anm. 18. Es ist wohl schon im Original lateinisch geschrieben; die neuere Forschung schreibt es Tractatus in Iohannem

Tun und Leiden. Die Ambivalenz der Leidenschaft bei Meister Eckhart

271

Urteile nichts, noch werden Verbrechen unterdrückt. Zorn ist also die Mutter der Zucht.“34 Auch hier sind übrigens Eckharts Einlassungen spannungsvoll. Manches spricht ganz stoisch für die Tilgung35 und eben nicht bloß Mäßigung der Leidenschaften, anderes hingegen gibt den natürlichen Leidenschaften auch wieder ein gewisses Recht, aber nicht für sich genommen, sondern als Widerpart gegen seine obersten Seelenkräfte. Erst deren kämpfende Durchsetzung gegen solche Widerstände bildet das eigentlich Wertvolle.36

3. Der ontologische Status der Leidenschaft Nicht unerwartet ist Eckharts Interesse am ontologischen Status der Leidenschaften. Er setzt voraus, dass nur dasjenige wirklich dem Menschen zugehört und seines ist, was aus seinem Inneren kommt. Sie sind, weil von innen bestimmt, im eigentlichen Sinne lebendig. Dies ist zugleich der Ort und die Weise, wo bzw. wie Gott wirkt. Dies kann hier nicht im Einzelnen verfolgt werden.37 Dies unterstellt, ergibt, dass die Affekte jedenfalls nicht zu diesem gehören können: Passiones enim ab extra sunt, ab extra veniunt, non oriuntur ab intus nec ab intra pro38 cedunt. Eckhart bestimmt sie hiermit nicht in dem, was sie sind, sondern durch

das, woher sie stammen. Er beruft sich für diese Lehre auf Aristoteles, der gesagt hat, dass wir auf Grund der Affekte weder Lob noch Tadel verdienen.39 Auch in

34

35

36 37

38

39

einem unbekannten Arianer zu, der es um 400 geschrieben hat. Erst Erasmus von Rotterdam hat die Echtheit bestritten. Opus imperfectum, Homilia 11 (PG 56, 690); angeführt in der Übersetzung der EckhartAusgabe; Eckhart zitiert diese Passage: Expositio libri Genesis n. 28 (Lateinische Werke I, S. 373); Sermo XVI n. 163 (Lateinische Werke IV, S. 155). Predigt 60 (Deutsche Werke III, S. 27): Der geistliche Mensch soll von Ärger, Betrübnis und Zorn sich gar nicht angehen lassen; vgl. Von abegescheidenheit, Deutsche Werke V, S. 410; Predigt 81 (Deutsche Werke III, S. 398). Eckhart kennt allerdings auch verschiedene Stufen, auf denen zunächst Furcht, Hoffnung und Begehren wachsen, dann aber vollständig getilgt werden. Die rede der underscheidunge, 9 (Deutsche Werke V, S. 213). Vgl. dazu: SCHÖNBERGER Secundum rationem esse. Zur Ontologisierung der Ethik bei Meister Eckhart, in: OIKEIOSIS. Festschrift für Robert Spaemann, Hg. von R. Löw, Weinheim 1987, S. 251‒272. Expositio libri sapientiae n. 184 (Lateinische Werke II, S. 521, 2‒4): „Denn die Affekte sind von außen, kommen von außen, sie entstehen nicht von innen und gehen nicht aus dem Innern hervor“; In Sapientiam n. 227 (Lateinische Werke II, S. 562): Affekte ab extra sunt, dann aber heißt es doch: passiones ab extra in nobis sunt, die Affekte werden von außen in uns erregt. Nikomachische Ethik II, 4; 1105 b 31; zitiert In Sapientiam n. 184 (Lateinische Werke II, S. 521); n. 227 (Lateinische Werke II, S. 562). , Rolf,

272

Rolf Schönberger

dem Satz aus dem Matthäus-Evangelium, wonach der Mensch nicht durch das befleckt werde, was zum Munde eingeht, sondern was aus dem Munde, d.h. letztlich aus seinem Herzen hervorgeht.40 Die Nicht-Zugehörigkeit wird nicht am Phänomen selbst festgemacht, sondern wohl an seiner Fassung als Erleiden. „Wir41 werden“, so Aristoteles, „durch die Leidenschaften in Bewegung versetzt“. Aristoteles ist aber nicht der Auffassung, dass die Tätigkeit nicht am Bewegten stattfindet. Es ist freilich nicht seine, sondern des Tätigen Tätigkeit. Gleichwohl bleibt eine Differenz, die man nicht übergehen darf: Aristoteles will damit sagen, dass das faktische Aufkommen einer Leidenschaft noch keine moralische Qualität ist. Er will aber sicherlich nicht sagen, dass Leidenschaften deshalb außerhalb moralischer Beurteilung liegen, weil sie nicht uns zugehören. Der Mensch könnte gar nicht in Leidenschaft versetzt werden, wenn er nicht ein strebendes Wesen wäre; gerade als Lebewesen kann seine Leidenschaft geweckt werden und ist er für Angenehmes und Unangenehmes ansprechbar. Eckhart beruft sich sicherlich zu Unrecht auf Aristoteles, aber er zeigt doch damit, dass er ganz anders denkt: In seinem Sinne ist der Mensch gar nicht immer er selbst, er ist bei sich, aber unter Umständen auch nicht bei sich. Es geht aber gar nicht mehr nur um diejenigen Dinge, die die Leidenschaften erwecken oder steigern, sondern um alles, was die Ruhe der Seele beeinträchtigt. Eckhart redet vom tumultus passionum, aber es handelt sich um alle weltlichen Dinge (occupatione rerum mundialium), die den Menschen mit Beschlag belegen können.42 Der von der aristotelischen Tradition als spezifisch angesehene Unterschied verliert also an Bedeutung. Dies gilt auch in der Hinsicht, dass die Geschehnisse zwar in ihrer wohltätigen oder schädlichen Bedeutung für den Menschen genommen werden, dann aber gerade dieser Unterschied aufgehoben wird. Sie werden nicht vergleichgültigt, oder aus der Perspektive der Vernunft relativiert, sondern auf den göttlichen Willen bezogen, der für beides die Ursache ist und damit für den Menschen der Grund sein soll, sich zu beiden gleich und zwar gleich unbewegt zu verhalten. Die Bedeutungsnähe erfordert auch noch einen wenigstens kurzen Blick auf Eckharts Auffassung zum Leiden. Die Leidenschaft ist natürlich zu unterscheiden vom Leiden, dem Empfinden von körperlichem und/oder seelischem Schmerz. Hier ist es reine Passivität, während die Leidenschaft eben von Haus aus keine Fremdbestimmung als solche ist. Wenn dem so wäre, könnte sie ja auch gar nicht geprägt oder modifiziert werden. Der Leser Eckharts gewinnt allerdings den Eindruck, dass Eckhart doch zwischen beiden eine Verbindung erfasst. Auch das 40

41 42

Expositio libri sapientiae n. 184 (Lateinische Werke II, S. 521); n. 227 Werke II, S. 562);. Nikomachische Ethik II, 4; 1106 a 4‒5: (1/"2%-$2/"2!#+,2()$.'3+1)2&.0*%.+1. Expositio libri sapientiae n. 280 (Lateinische Werke II, S. 612); Die rede der underscheidunge, 16 (Deutsche Werke V, S. 244 f.).

Mt. 15, 18; zitiert (Lateinische

Tun und Leiden. Die Ambivalenz der Leidenschaft bei Meister Eckhart

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Leiden ist für ihn im Wesentlichen ein Problem des Bewusstseins. Leiden ist nämlich nicht unabhängig von dem, wie wir es verstehen, wie wir ihm begegnen. Das Buch der göttlichen Tröstung ist durchweg eine Besinnung, eine Vergegenwärtigung dessen, was das Leid nicht irgendwie mildert, sondern was es aufhebt. Kein Zuspruch, keine menschliche Anteilnahme oder dergleichen, vielmehr sind es Gründe, in deren Anerkennung nach Eckhart Trost liegt. Dies setzt freilich schon voraus, dass der Mensch solchen Gründen wieder zugänglich geworden ist, dass solche Vergegenwärtigungen ihm etwas sagen, er also bereits so weit von sich abzusehen vermag, dass er das Zurückgeworfensein auf sich selbst, das nicht selten mit schwerem Leid verbunden ist, zu überwinden vermocht hat. 4. Resümé

Was ist nur für Eckharts Konzeption der Leidenschaften kennzeichnend? An erster Stelle ist zu nennen, dass er die Vernunftbestimmtheit der Leidenschaft fordert, wenn sie eine moralische Qualität haben soll. Andernfalls handelt es sich um ein rein natürliches Vorkommnis. Er beschränkt aber das Thema der Leidenschaften nicht auf diese selbst, sondern ordnet sie ein in einen übergreifenden Zusammenhang, der bestimmt ist durch die generellen Kennzeichnungen des Mannigfaltigen und Veränderlichen. Was von dieser Art ist, kann dem Menschen nicht das vermitteln, worauf eigentlich, d.h. über die Bestimmung eines Prinzips der Sittlichkeit hinaus, ankommt: dies ist die Erkenntnis Gottes. Die Einschätzung der Leidenschaften bleibt bei Eckhart ambivalent und diese Ambivalenz wird ihrerseits in ihrem Fundament nicht wirklich durchsichtig: An manchen Stellen plädiert er für eine vollständige Unbewegtheit in einer Weise, wie es die Stoiker 43 nicht radikaler hätten formulieren können; an anderen Stellen sieht er dies nicht nur als ein Ding der Unmöglichkeit an, sondern offenbar auch als im Widerspruch zum sittlichen Bewusstsein. Zorn ist nicht für sich genommen gut oder schlecht, sondern in Relation zu seinem Grund. Leidenschaften können gerechtfertigt sein – dann aber, könnte man sagen, sind sie keine reinen Leidenschaften. Ihr Status ist ebenfalls einer, der mit der Innen-Außen-Differenz formuliert wird. Als von außen hervorgerufene Bewegungen sind nach Eckhart Leidenschaften weniger im moralischen Sinne problematisch, sie sind in gewisser Weise, nämlich sofern sie von außen kommen, gar nicht die unseren. Und eine letzte Differenzierung ist hier anzuführen: Einerseits gehört Eckhart in diejenige Tradition, in der der Mensch immer auf seine eigene Aktivität ge43

76 (Deutsche Werke III, S. 326): Man werde auch dann nicht bewegt, wenn der Vater und die Freunde vor den eigenen Augen getötet würde; der Grund ist freilich kein stoischer, er liegt an der Freude, die aus der Gottesgeburt erwächst.

Predigt

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Rolf Schönberger

wendet wird. Das einzige ethisch relevante Hindernis ist das Ich selbst. Es ist deshalb der einzige Adressat für den Appell, die Selbstblockade aufzugeben. „Diu hindernisse ist in im“44. „Wir sind sachen aller unser hindernusz. Hütt dich vor dir selb, so hest du wol gehütt.“45 Andererseits kommt es nicht auf diese – so sehr sie als Öffnung und Befreiung gemeint ist – Aktivität als solche an. Das Betroffenwerden von äußeren Gegebenheiten und Anlässen kann freilich nur mit Bewusstsein zurückgedrängt werden. Eckharts Ausführungen zur Leidenschaft und, wie schon gesagt, zu all dem, wofür die Leidenschaft nur ein Beispiel ist, ist die Voraussetzung für das Betroffensein durch Gott. Er zeigt dies an dem bekannten Beispiel des Archimedes: Diejenige Unbewegtheit, die nicht mehr ein Charakter eines Vermögens, sondern das Höchstmaß menschlicher Selbsttranszendenz darstellt, hat Eckhart immer wieder hervorgehoben und einmal folgendermaßen veranschaulicht:

„Es gab einen heidnischen Meister, der war einer Kunst hingegeben, das war die Rechenkunst. Er hatte alle seine Kräfte darauf gerichtet und saß vor der Asche und rechnete und erforschte die Kunst. Da kam einer und zog ein Schwert – der wußte nicht, daß es der Meister war – und sprach: ‚Unverzüglich sag, wie heißt du, oder ich töte dich!‘ Der Meister war so völlig in sich versunken, daß er den Feind nicht sah noch hörte noch zu achten vermochte, was er wollte. Und nachdem der Feind lange und viel geschrien hatte und er nicht antwortete, da schlug er ihm das Haupt ab. – Dies geschah, um eine natürliche Kunst zu erlangen. Wie ungleich mehr sollten wir uns allen Dingen entziehen und alle unsere Kräfte sammeln, um die einige, unermeßliche, ungeschaffene, ewige Wahrheit zu schauen und zu erkennen!“46

Da auch Eckhart in der Leidenschaft das Leiden sieht, wird es zu einer Alternative zum Erleiden Gottes. Dieses aber ist eine Einheit von Tätigkeit und Empfangen: „Er würket, und ich gewirde.“47 Oder: „Dein Erleiden ist so dein höchstes Wirken.“48

44 45

RdU 6 (Deutsche Werke V, S. 204). 5a (Deutsche Werke I, 82); RdU 7 (Deutsche Werke V, S. 207); RdU 7 (Deutsche

Predigt

V, S. 208): das Ungehindertsein ist leicht, weil der Mensch nur wollen muß; RdU 3 ( V, S. 193): „Dû bist ez in den dingen selber, daz dich hindert, wan dû heltest dich unordentlîche in den dingen.“ 102 ( IV, S. 416,85 – 417,93). 6( I, S. 110). 102 ( IV, S. 425,162). Werke

Deutsche Werke

46 47 48

Predigt

Predigt

Predigt

Deutsche Werke

Deutsche Werke

Deutsche Werke

Gerhard Leibold

Die passiones animae bei Ockham

Vorbemerkung

Wer in den Sachindices, die den Bänden der kritischen Edition der philosophischen und theologischen Werke Wilhelms von Ockham beigegeben sind, die Stichwörter passio und passio animae aufschlägt, wird bereits auf den ersten Blick feststellen, dass es bei Ockham zwei ganz verschiedene Bereiche gibt, in denen diese Wörter ihren Platz und ihre Verwendung haben. Der erste, weitaus dominierende Bereich umfasst die Erkenntnis- und Universalienlehre, also solche Lehrstücke, die am meisten das Bild Ockhams in der Geschichte der Philosophie und Theologie geprägt und ihn mit dem Nominalismus des späten Mittelalters in Verbindung gebracht haben. Die loci classici für diese Bedeutung von passio finden sich im 1. Buch des Sentenzenkommentars , im Kommentar zu den Kategorien des Aristoteles und im Kommentar zu Perihermenias von Aristoteles , wo Ockham im Prooemium verschiedene Meinungen über die Natur des allgemeinen Begriffs diskutiert. Hier steht der Begriff der passio im Zusammenhang mit Termini wie conceptus, idolum, fictum, qualitas, intellectio und intentio, also passio animae als „praedicabilis de aliquo“. Demgegenüber nehmen sich Ockhams Ausführungen über die passio bzw. passio animaeim Zusammenhang mit seiner psychologischen Anthropologie, der Rolle der Emotionen bei Handlungen und Entscheidungsprozessen, also Ethik und Tugendlehre, eher bescheiden aus. Es gibt da einige Quaestiones vor allem im 3. Buch seines Sentenzenkommentars, einer Reportatio, und in den Quodlibeta. Aber von der Ausarbeitung einer Theorie der menschlichen Antriebe im Rahmen einer Tugendethik wie etwa bei Thomas von Aquin kann m. E. bei Ockham nicht die Rede sein. 1

2

3

1

2 3 4

4

GUILLELMI DE OCKHAM, Opera Philosophica et Theologica, Editiones Instituti Franciscani Universitatis S. Bonaventurae, St. Bonaventure, N. Y. 1967-1988. (Ich zitiere die Opera Philosophica mit OP, die Opera Theologica mit OT). Scriptum in I Sent., d. 2, q. 4 (OT II 99-152) und q. 8 (OT II 266-292). Expositio in librum praedicamentorum Aristotelis, cap. 14, § 7 (OP II 277s.). Expositio in librum perihermenias Aristotelis, I, prooemium, §§ 3-12 (OP II 348-376).

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Gerhard Leibold

1. Die passiones animae auf der sinnlichen Ebene 1.1 Die passiones im eigentlichen Sinn

„Ich sage mit Aristoteles, dass es in der Seele nur drei Dinge gibt: Passiones (Emotionen), potentiae (Vermögen), habitus (Eigenschaften), und dass die passiones im sinnlichen (sensitiven) Teil der Seele sind und dass Aristoteles unter passio einen Akt versteht.“5 Mit diesen Worten beginnt Ockham seine responsio der Frage: Utrum omnis6 habitus virtuosus generetur ex actibus im 3. Buch seines Sentenzenkommentars. Dass die passio ein Akt des sinnlichen Strebens ist, wird so bewiesen:7 Jede passio ist entweder eine Lust (delectatio) oder ein Schmerz (tristitia) oder etwas, das diesen vorausgeht. Nun aber kann eine passio nicht in Lust oder Schmerz bestehen, denn nach Aristoteles folgen Lust und Schmerz der passio. Sie sind demnach nicht die passio selbst, also gibt es etwas anderes, das Lust und Schmerz vorausgeht. Diesen vorausgehen können aber nur Akte. Also ist die passio ein Akt. Es gibt daher keinen Unterschied zwischen Akt und passio, wenn man von passio im eigentlichen Sinn spricht. 5

6

7

Quaestiones in III Sent., q. 12 (OT VI 400): Ideo dico cum Philosopho quod in anima non sunt nisi tantum passiones, potentiae et habitus, et quod passiones sunt ipsimet actus partis sensitivae, et per passionem Philosophus intelligit actum. Ockham greift hier die aristoteli-

sche Aussage aus EN II 4 (1105b 20) auf. Ibid., q. 12 (OT VI 391). Ich ziehe es vor, ,passio‘ unübersetzt zu lassen. Das ist nicht unumstritten. Aber man muss sagen, dass in der Fachwelt der Terminus ‚passiones animae‘ seine Übersetzung nicht zur Ruhe kommen lässt: Mit ‚Leidenschaften der Seele‘, ‚Affekte‘, ‚Gefühle‘, ‚Antriebe‘ oder ‚Emotionen‘ seien nur die gebräuchlichsten Übersetzungsmöglichkeiten genannt. Jede Übersetzung hat ihre Stärken und Schwächen. So könnte man erwägen, wegen des leichteren Anschlusses an die gegenwärtigen Diskussionen in den Kognitionswissenschaften sich für ‚Emotionen‘ zu entscheiden. Aber wie gesagt, ich ziehe bis auf weiteres ‚passio‘ vor. Ibid., q. 12 (OT VI 400-401): Probatur, quia omnis passio vel est delectatio vel tristitia vel aliquid praevium alteri eorum. Sed non est delectatio nec tristitia. Nam secundum Philosophum delectatio et tristitia consequuntur passionem; igitur non sunt ipsa passio. Igitur est aliquid praevium delectationi et tristitiae. Sed nihil est praevium istis nisi actus. Igitur passio proprie est actus, et sic intelligit Philosophus. Nec est differentia aliqua inter actum et passionem proprie loquendo de passione. Für meine Darstellung der passiones auf der sinnlichen Ebene verdanke ich viele Anregungen der Monographie von FUCHS, Oswald, The Psychology of Habit according to William Ockham (Franciscan Institute Publications, Philosophy Series 8), St. Bonaventure, N. Y. 1952, S. 49-64. Ebenso: LEFF, Gordon, William of Ockham, The Metamorphosis of Scholastic Discourse, Manchester 1975, S. 528-560. HIRVONEN, Vesa, Passions in William Ockham’s Philosophical Psychology, Dordrecht u.a. 2004, S. 23-184.

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Die passiones animae bei Ockham

In den Quodlibeta8 definiert Ockham die folgendermaßen: „Ich sage, dass ich unter – erstens – jede Form verstehe, die im strebenden Vermögen existiert und – zweitens – so beschaffen ist, dass sie durch die rechte Vernunft geleitet wird, damit sie recht ist. Sie erfordert – drittens – für ihre Existenz eine aktuale Erkenntnis. Kurz gesagt: Die ist eine Form, die von der Erkenntnis verschieden ist, die im Strebevermögen als ihrem Zugrundeliegenden existiert und eine aktuale Erkenntnis für ihre Existenz erfordert. Durch die erste Bestimmung wird jede aktuale Erkenntnis ausgeschlossen, diese ist keine . Durch die zweite Bestimmung sollen alle intellektuellen und vegetativen Tätigkeiten fern gehalten werden. Durch die dritte Bestimmung schließlich werden die im Willen ausgeschlossen. Denn diese können auch ohne aktuale Erkenntnis existieren, wie das Beispiel des Schlafenden zeigt.“ Auch die bekannte Liste der elf aristotelischen Beispiele aus der Nikomachischen heran:10 BeEthik9 zieht Ockham als Argument für den Akt-Charakter der gierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Liebe, Hass, Sehnsucht, Missgunst, Mitleid. Die können nach Ockham in zwei Hauptgruppen eingeteilt werden. Die erste umfasst die im eigentlichen Sinn, die Erfahrungen, die mit den Akten des Strebevermögens identisch sind. Als Akte sind dann durch Intensität und Heftigkeit charakterisierbar. Fasst man die so auf, ist wichtig zu bemerken, dass die sinnliche Erkenntnis eine Teilwirkursache im Hinblick auf den hervorgebrachten Akt ist und nicht die sinnlich wahrnehmbare Sache außerhalb der Seele in der Wirklichkeit. In der zweiten Gruppe sind die im nichteigentlichen Sinn enthalten: Es11 sind diese Lust und Schmerz, die den im eigentlichen Sinn nachfolgen. passio

passio

passio

passio

habitus

habitus

passiones

passiones

passiones

passiones

passio

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passiones

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9 10

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II q. 17 (OT IX 186-187): […] dico quod per passionem intelligo omnem formam existentem in potentia appetitiva natam regulari ratione recta ad hoc quod sit recta, quae requirit actualem cognitionem ad suum esse existere. Vel breviter, passio est forma aliqua distincta a cognitione, existens subiective in potentia appetitiva, requirens cognitionem actualem ad suum esse existere. Per primum excluditur cognitio actualis, quia illa non est passio; per secundum, habitus omnes intellectuales et operationes vegetativae; per tertium excluduntur habitus in voluntate, quia possunt esse sine actuali cognitione, sicut patet in dormiente. EN II 4 (1105b 21-23). Quaestiones in III Sent., q. 12 (OT VI 400): Item, quod per ,passiones‘ intelligit (i. e. Aristoteles) actum, patet per exempla sua. Ait enim: „Dico autem passiones quidem concupiscentiam, iram, timorem, audaciam, invidiam, gaudium, amicitiam, odium, desiderium, zelum, iustitiam“. Et omnes isti sunt actus potentiae appetitivae. (Anstelle von ,iustitiam‘ hat Aristoteles ,misericordiam‘). Ibid., q. 12 (OT VI 401-402): Sciendum tamen quod passio tripliciter accipitur. Uno modo proprie, et sic accipitur pro ipso actu elicito a potentia appetitiva sensitiva, qui actus causatur effective ab apprehensione sive cognitione sensitiva, intuitiva vel abstractiva, sicut a causa partiali una, et a potentia appetitiva sicut ab alia causa partiali. Et nota hic

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Gerhard Leibold

Aus diesen terminologischen Bestimmungen folgt, dass die im eigentlichen Sinn nicht Objekte der im sensitiven Seelenteil zugrunde gelegten Tugenden sind, sondern Akte, die hervorbringen und umgekehrt auch von 12 den hervorgebracht werden können. Ein Einwand13 gegen die Identifizierung von und Akt des sinnlichen Strebevermögens ist wert, kurz erwähnt zu werden, weil seine Zurückweisung den Unterschied zwischen psychologischer und grammatischer Unterscheidung beleuchtet. Grammatisch gesehen sind z. B. ,Zorn‘ und ,zornig sein‘ nicht identisch. ,Zorn‘ ist eine Passivität, ,zornig sein‘ eine Aktivität. Aber diese Gegenüberstellung resultiert aus der Möglichkeit, Wörter in verschiedenen Funktionen in Sätzen zu gebrauchen. Es ist eine rein grammatische Unterscheidung. Das heißt aber nicht, dass ein zweifacher Zorn anzunehmen wäre, der eine als Passivität und der andere als Akt. Um eine überflüssige Entität zu vermeiden, fasst Ockham die als14Akt auf. Weitere Beispiele sind ,Hass‘ und ,hassen‘, ,Begierde‘ und ,begehren‘. Auf diese Weise hält Ockham an der Identität von im eigentlichen Sinn und Akt des sensitiven Strebevermögens fest. Durch die Identifizierung der im sensitiven Strebevermögen mit dem Akt desselben Vermögens bahnt sich Ockham den Weg zu einer leichteren Anwendung seiner Prinzipien, um zu bilden. Immer wenn wir eine im Sinn eines Aktes vor uns haben, gibt es auch die Möglichkeit, einen zu passiones

habitus

habitus

passio

passio

passio

passio

passiones

habitus

passio

habitus

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14

quod talis habitus potest generari in appetitu sensitivo cuiuslibet sensus interioris et exterioris, et tunc ipsa apprehensio sive cognitio sensitiva – sive sit intuitiva siva abstractiva – erit causa efficiens partialis respectu primi actus eliciti ab appetitu sensitivo et non sensibile extra. Et ille primus actus appetitus vocatur a Philosopho passio et est generativus habitus in tali appetitu modo praedicto. Alio modo accipitur passio improprie pro delectatione vel tristitia consequente passionem primo modo dictam. Sed sic accipere est improprie accipere. Primo modo accipiendo passionem potest adhuc accipi large, et sic accipitur pro omni actu appetitus sensitivi. Alio modo stricte, et sic accipitur pro actu intenso et vehemente, vehementer impellente ad actum exteriorem. Et sic isti duo modi distinguuntur tantum sicut actus intensus et remissus. Ibid., q. 12 (OT VI 402): Et ex istis sequitur quod passiones non sunt obiecta, nec habitus respiciunt passiones sicut obiecta vel materiam virtutum quae sunt in parte sensitiva. Sed sunt actus generativi habituum et etiam eliciti effective ab ipsis habititus sive virtutibus, quia illa virtus partis sensitivae non potest habere alios actus elicitos. Ibid., q. 12 (OT VI 405): […] videtur quod passio et actus appetitus sensitivi non sunt idem, quia propter actus laudamur et vituperamur. Sed propter passiones nec laudamur nec vituperamur, II Ethicorum. Igitur etc. Ibid., q. 12 (OT VI 409): Per exempla: ira enim ponitur passio et irasci actus appetitus sensitivi. Et non videtur quod ira et irasci in aliquo distinguuntur. Similiter, secundum Philosophum, odium est passio partis sensitivae, et tamen ibi non est ponere duplex odium, unum passionem et aliud actum. Et similiter est de concupiscentia quod non est ibi duplex concupiscentia, una passio et alia actus.

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Die passiones animae bei Ockham

bilden. Dies war tatsächlich Ockhams Auffassung in der Periode, als er an seinem Sentenzenkommentar arbeitete.15 Wir werden gleich sehen, dass er in den Quodlibeta seine Auffassung geändert hat. Auf der Grundlage der Überzeugung, dass die Bildung von habitus auf der sensitiven Ebene möglich ist als Resultat der Identifizierung von Akt und passio, hat Ockham die Ursachen dieses Zusammenhangs bestimmt. Die passio als Akt beruht auf dem sinnlichen Strebevermögen als der einen Teilursache und auf dem sinnlichen Erkenntnisakt (intuitive und abstraktive Erkenntnis) als der anderen Teilursache. Die Beteiligung dieser Erkenntnis an der Hervorbringung von habitus erfordert einige Überlegung. Ockham betont den Punkt, dass die passio als Akt direkt verbunden ist mit dem kognitiven Akt und nicht mit dem äußeren Erkenntnisobjekt. Die Bedeutung dieser Konklusion ist klar. Wenn das Objekt die direkte Ursache der passio wäre, dann müssten alle Personen in16gleicher Weise von diesem affiziert sein, was offenkundig nicht der Fall ist. In textkritischer Hinsicht ist bemerkenswert, dass einige Abschnitte später in derselben Quaestio (q. 12) des 3. Buches des Sentenzenkommentars die Position, die intuitive Erkenntnis sei beteiligt an der Hervorbringung der , ausdrücklich verneint wird. Diese Beteiligung sei der Vorstellung (phantasia) und den inneren Sinnen vorbehalten. Eine definitive Hinneigung zur Hervorbringung von und sei erst möglich, nachdem initiierende Akte gesetzt seien. In den äußeren Sinnen werde keine Erfahrung der Hinneigung gemacht. Nach der intuitiven Erkenntnis eines Objekts durch äußere Sinne werde kein Verlangen verspürt, dieses Objekt in einer anderen Weise als in der ersten zu erkennen. Die Präsenz eines Objekts ist immer gefordert für die Erkenntnis in den äußeren Sinnen. Dazu ist kein notwendig.17 passio

passiones

habitus

habitus

15

16 17

Ibid., q. 12 (OT VI 401): Et ille primus actus appetitus vocatur a Philosopho passio et est generativus habitus in tali appetitu modo praedicto. Siehe oben Anm. 11. Quaestiones in III Sent., q. 12 (OT VI 409-410): Si quaeras cuius sensus appetitus est generativus illorum habituum, respondeo: phantasiae et sensus interioris, non exterioris. Cuius ratio est, quia in illo appetitu tantum ponuntur isti habitus qui magis inclinantur post actum elicitum quam ante. Sed huiusmodi est appetitus phantasiae sive sequens phantasiam. Nam apprehenso obiecto per phantasiam et elicito actu appetendi frequenter in appetitu sequente phantasiam – sive obiectum existat sive non, sive sit praesens sive non – magis inclinatur talis appetitus ad actum consimilem quam ante actum. Et per consequens in appetitu sequente phantasiam oportet ponere talem habitum generatum ex actibus, et hoc circa obiectum cuiuslibet sensus quatenus phantasiatur. Sed ex hoc quod aliquis semel appetit aliquod visibile apprehensum a visu, non sentit se magis inclinatum ad appetendum illud visibile alias apprehensum quam primo apprehensum, sicut quilibet experitur in se. Ideo in tali appetitu non generatur qualitas sive habitus ex actibus; et sicut non in uno, ita

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Gerhard Leibold

Eine erneute Untersuchung des Problems der strebenden auf der sinnlichen Ebene findet sich in den . Dort wird die Frage gestellt, ob tugendhafte in etwas aufbewahrt werden, das vom Willen verschieden ist.18 Der Ausgangspunkt ist hier derselbe wie im Sentenzenkommentar. Ockham hält daran fest, dass ein Vermögen im sinnlichen Streben nach der Wiederholung von Willensakten erfahren wird, das vorher noch nicht existiert hat. Zur Begründung führt er den Fall eines tugendhaften Menschen an, der dement geworden ist und seinen freien Willen verloren hat. Ockham behauptet nun, dass eine solche Person in der Lage ist, Akte fortzusetzen, an die sie gewöhnt war, als sie noch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte war. Dies könnte die Person nicht tun, wenn es keine zurückgebliebenen Wirkungen im sinnlichen Streben gäbe als Resultat der tugendhaften Akte außerhalb des Willens. Die Frage nach der Natur dieser zurückgebliebenen Wirkungen wird aber nicht zugunsten der Existenz von entschieden, wie das im Sentenzenkommentar der Fall war.19 Pointiert gestellt, lautet die Frage: Was ist die zurückgebliebene Wirkung, die außerhalb des Willens existiert? Ockham stellt heraus, dass es nicht bewiesen ist, dass sie im sinnlichen Strebevermögen als ihrer Grundlage bleibt. Andererseits scheint klar, dass diese Wirkung nicht mehr als eine Qualität ist. Der Beweis für diese Überzeugung beruht auf der Beobachtung der Wirkungen medizinischer Behandlung. Eine solche, meint Ockham, kann Wirkungen hervorrufen, die ähnlich denen sind, die tugendhafte Akte im Willen verursachen. Ockham glaubt also, dass die medizinische Wissenschaft so verfasst ist, dass sie die Fähigkeit besitzt, etwa die Begierde zu mäßigen und Wirkungen hervorzurufen, die ein Leben in Keuschheit begünstigen.20 habitus

Quodlibeta

habitus

habitus

nec in alio. Et ex hoc apparet quod actus appetitus sensitivi causatur mediante cognitione sensitiva abstractiva non intuitiva, licet forte non sit in appetitu intellectivo. Man könnte auf Grund dieser Stelle die Frage aufwerfen, ob diese Uneinheitlichkeit des Textes auf den Reportatio-Charakter des 3. Sentenzenbuches zurückzuführen ist.

18 19

20

Quodlibeta II q.16 (OT IX 182): Utrum in alio a voluntate sit habitus virtuosus. Secundam conclusionem probo, quia quilibet post frequentiam actuum in appetitu sensitivo experitur se magis inclinatum ad consimiles actus quam ante; igitur oportet quod aliquid sit in illo appetitu quod prius non fuit, vel saltem exra voluntatem oportet aliquid ponere. Item quando primo est aliquis exercitatus in actibus virtuosis, si postea careat usu rationis et fiat furiosus vel stultus, manifeste patet quod talis inclinatur ad consimiles actus quod prius exercebat; sed hoc non potest esse sine habitu derelicto extra voluntatem, vel sine omni alia re derelicta post actus laudabiles. Ibid. (OT IX 183): Sed tunc est dubium quid est illud quod remanet post actus. Respondeo quod non potest sufficienter probari quod sit aliquid existens in appetitu sensitivo, saltem quantum est multos actus virtuosus; quia potest poni sufficienter quod sit aliqua qualitas vel qualitates corporales inclinantes ad tales actus. Quod probo: illud quod potest induci sine omni actu appetitus sensitivi, non est necessario ponendum subiective in appetitu sen-

Ibid. (OT IX 183):

Die passiones animae bei Ockham

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Zusätzlich verweist Ockham auf die Tatsache, dass mäßigende Wirkungen auf die Lustempfindung durch natürliche physiologische Faktoren wie etwa Wärme und Kälte hervorgerufen werden können. Wenn das eintritt, ist kein Akt auf Seiten des sensitiven Strebens erforderlich.21 Aus diesen Beobachtungen schließt Ockham, dass die zurückbleibenden Wirkungen, mit denen wir uns hier befassen, nicht den Beschreibungen von realen habitus im sinnlichen Streben entsprechen. Die Hinneigung, die aus den Akten des sinnlichen Strebens resultiert, ist daher nicht unmittelbar von diesen hervorgebracht, wie das bei den habitus geschieht, sondern nur indirekt. Es sind nicht die Akte des Verlangens nach Nahrung und Trank, selbst wenn sie wiederholt werden, die direkt die Begierde wecken, sondern eher die physiologischen Be22 dingungen, die zu Stande kommen durch die Aufnahme von Nahrung. In dieser Gruppe von Umständen wird also die Existenz von habitus im sinnlichen Streben von Ockham verneint. Beachten wir die Umstände, wie etwa die Tugend der Mäßigung und die Zurückdrängung der Begierde, so können wir feststellen, dass Ockham seine Position über die Existenz von strebenden habitus auf der sinnlichen Ebene neu fasst. Er postuliert solche habitus nicht mehr.23 Die Ablehnung von habitus im sinnlichen Strebevermögen zieht sich durch die gesamten Quodlibeta.24 Diese Position markiert einen Bruch mit den Ausführungen im Sentenzenkommentar. So viel zur Behandlung der passiones im eigentlichen Sinn.

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sitivo; sed omne quod possumus experiri in nobis, potest esse in nobis sine omni actu appetitus sensitivi; igitur etc. Maior est manifesta. Minor probatur, quia omnis talis inclinatio potest induci per artem medicinae et per alias vias. Nam medici per artem medinicae diminunt concupiscentiam, et sic disponunt ad actus castos. Ibid. (OT IX 183-184): Patet etiam quod tales inclinationes auferuntur et generantur per transmutationem corporalem, puta per generationem vel corruptionem caloris et frigoris, sine omni actu appetitus sensitivi; igitur etc. Ibid. (OT IX 184): Et ideo dico quod ex actibus appetitus sensitivi nullus habitus generatur immediate subiective existens in appetitu sensitivo, quamvis ex actibus apprehensivis multi habitus immediate generentur. Nec post multos actus appetitivos experitur quis se magis inclinatum ad consimiles actus immediate per habitus, sed solum mediate; puta quando appetit comedere et bibere, tunc post comestionem alicuius calidi experitur se magis inclinatum ad actus concupiscentiae quam ante actum appetendi. Ibid. (OT IX 185-186): Illud totum maxime habet veritatem in virtute temperantiae et in actibus eius, quia eius actus suscitantur et impediuntur per transmutationem corporalem, puta per comestionem vel abstinentiam. Utrum autem consimiliter sit de aliis virtutibus, et quomodo ita est, non est modo dicendum propter prolixitatem. Credo tamen quod eodem modo est in aliis virtutibus; nec video aliquam necessitatem ponendi quemcumque habitum immediate generatum ex actibus appetitivis et inclinantem ad consimiles actus. Cf. Quodlibeta II, q. 17 (OT IX 186-188) und III, q. 17 (OT IX 268-272).

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1.2 Die passiones im uneigentlichen Sinn Die zweite Gruppe von passiones auf der sinnlichen Ebene bilden die passiones im uneigentlichen Sinn.25 Uneigentlich deshalb, weil sie etwas bezeichnen, das den

eigentlichen passiones nachfolgt. Ich wiederhole noch einmal die Definition: „Passio im uneigentlichen Sinn wird als Lust oder Schmerz aufgefasst und folgt der passio im eigentlichen Sinn.“26 Die uneigentlichen passiones nennt Ockham auch Qualitäten des sinnlichen Strebens. Als solche sind sie bestenfalls passiv in der sinnlichen Form, aber es ist nicht notwendig, dem Streben eine positive oder wir27 kende Ursächlichkeit in Bezug auf diese Qualitäten zuzusprechen. Wenn das Streben der passive Empfänger der uneigentlichen passiones ist, dann kann es keine Frage sein, eine vorhergehende passio im eigentlichen Sinn, also als Akt, auf Seiten des Strebens als Ursache der uneigentlichen passio anzunehmen. Die einzige aktive Ursache, die Ockham in der Hervorbringung der Lust-Schmerz Reaktion anerkennen würde, wäre der sinnliche Erkenntnisakt und die Erste Ursache, also Gott. Ein externes Objekt würde er nicht als unmittelbare Ursache anerkennen.28 Die Empfindungen von Lust und Unlust werden direkt von der sinnlichen Erkenntnis hervorgebracht. Ockham betont diesen Punkt, indem er zeigt, dass es im Streben keine dazwischentretende passio im Sinn eines Akts gibt, die sich auf dasselbe Objekt bezieht. Wenn eine Akt-passio existiert, die sich auf dasselbe Objekt bezieht, dann wird das Objekt als abwesend angesehen. Das ist z. B. der Fall, wenn ein Objekt erwünscht wird. Diese Empfindung ist eine wirkliche passio im Sinn eines Akts. Aber das abwesende Objekt kann nicht gleichzeitig Lust oder Unlust im empfindenden Subjekt erzeugen, das vermag nur ein präsentes Objekt. Andererseits können passiones im eigentlichen Sinn im sinnlichen Streben gleichzeitig mit Lust- und Unlustreaktionen existieren. Hier nimmt Ockham also eine ursächliche Beziehung zwischen zwei Arten von Empfindungen an. Daher hält er aufrecht, dass der sinnliche Erkenntnisakt die einzige unmittelbare Ursache der uneigentlichen passiones29 ist, mit Ausnahme natürlich der notwendigen konkurrierenden Ersten Ursache, Gott. 25 26

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29

Siehe oben Anm. 11 und 16. Quaestiones in III Sent., q. 12 (OT VI 401): Accipitur ‚passio‘ improprie pro delectatione vel tristitia consequente passionem primo modo dictam. Quaestiones variae, q. 6, art. 9 (OT VIII 251): Circa delectationes et dolores et tristitias sciendum primo quod dolor qui proprie est passio et qualitas appetitus sensitivi […] Si tamen appetitus habeat aliquam efficientiam respectu illius passionis, hoc non videtur necessarium ponere. Ibid. (OT VIII 251): […] dolor […] ab apprehensione sensitiva causatur et non ab obiecto apprehenso sensu nec ab actu appetitus, sed solummodo ab apprehensione et potentia appetitiva et Deo. Quodlibeta III, q. 17 (OT IX 268-269): […] tamen appetitus sensitivus non habet simul actus distinctos a dolore sensus et delectatione, sed isti actus immediate sequuntur appre-

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Die passiones animae bei Ockham

Wenn das sinnliche Streben vollständig passiv in seiner Relation zu den uneigentlichen ist, wie Ockham es als mehr als wahrscheinlich annimmt, dann steht die Leugnung der Möglichkeit zur Bildung von von vornherein fest. Zusätzlich kann die Nicht-Existenz von im sinnlichen Streben als ein Ergebnis der uneigentlichen aus ihrer Abhängigkeit von einem aktual existierenden Erkenntnisakt eines präsenten Objekts abgeleitet werden. Wenn es nach dem ersten Vorkommen einer partikulären Art von Lustund Schmerzreaktion eine -Bildung gäbe, dann könnte man von nachfolgenden Vorkommnissen dieser Erfahrung erwarten, dass sie weniger von der Erkenntnis und der Objektpräsenz abhängig wären. Aber das ist nicht der Fall. Es scheint, dass für Ockham die Nicht-Existenz von im sinnlichen Streben als Resultat der Erfahrungen von Lust und Schmerz so selbstverständlich war, dass er die Diskussion darüber nicht weiterführte. Bezüglich der höheren Bereiche von intellektuellem Streben, dem Willen, machte er klare Äußerungen. A fortiori gehen im Willen die eigentlichen den uneigentlichen voraus. Hier postuliert Ockham keine für die uneigentlichen , die verschieden wären von denen der eigentlichen.30 Diese negative Antwort auf die Frage der , die verbunden sind mit der Lust- und Schmerzreaktion, hat Ockham stets aufrechterhalten. Dennoch schließt dies nicht die Möglichkeit aus, sich an einzelne Lust- oder Unlustempfindungen des sinnlichen Strebens zu erinnern. Im Gegenteil: Dies schließt alle vergangenen Erfahrungen des Intellekts,31 des Willens, der sinnlichen Erkenntnis und der sinnlichen Strebevermögen ein. passiones

habitus

habitus

passiones

habitus

habitus

passiones

habitus

passiones

habitus

30

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hensionem sensitivam, quia nec per experientiam nec per rationem potest probari quod sit ibi talis multitudo actuum; quia si aliqui actus simul essent cum istis, illi essent actus desiderandi et fugiendi, quia alii non apparent in appetitu sensitivo praevii dolori et delectationi. Sed isti non manent cum eis, quia istud est generaliter verum quod dolor sensus et delectatio numquam sunt respectu rei absentis, sed respectu rei praesentialiter habitae. Actus autem desiderandi et fugiendi in appetitu sensitivo sunt semper respectu absentium. Igitur isti actus non manent simul cum dolore et delectatione sensus respectu eiusdem obiecti, licet respectu diversorum possunt forte. Ordinatio I, d. 17, q. 2 (OT III 474): Ad aliud quod innuitur dico quod delectatio potest esse sine omni habitu. Unde si primus actus ex quo generatur habitus, potest esse delectabilis, et ita si semper eliceretur sine habitu, posset esse delectabilis, et ita propter delectationem non oportet ponere habitum talem. – Cf. auch Quaestiones in III Sent., q. 7 (OT VI 216): Ad aliud dico quod non ponitur habitus propter delectationem plus quam propter tristitiam. Quaestiones in IV Sent., q. 14 (OT VII 295): Obiectum partiale est actus recordantis praeteritus, et hoc potest esse actus intuitivus vel abstractivus in intellectu vel in potentia sensitiva, vel actus appetendi in voluntate vel in appetitu sensitivo.

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2. Die passiones animae auf der Willensebene 2.1 Akte, passiones, Hinneigungen

Die Willensebene bildet nach Ockham gegenüber der sinnlichen Ebene einen distinkten Bereich der menschlichen Erfahrung. Die intellekiven Strebeerfahrungen auf dieser höheren Ebene entstammen einem distinkten Strebevermögen, nämlich dem Willen. Dieses Vermögen ist jedoch nicht real distinkt von der Seele, der intellektiven Form. Die Seele ist die Quelle des Strebevermögens. Beobachtbare Erfahrungen, die mit dem Willen zusammenhängen, sind Akte, und Hinneigungen. Eine ist definiert, so habe ich oben gesagt, als eine bestimmte akzidentelle Form, verschieden von der Erkenntnis und im Strebevermögen als ihrem Zugrundeliegenden existierend. Sie bedarf für ihre Existenz der aktualen Präsenz eines Ermöglich ist, kenntnisakts.32 Andererseits gesteht Ockham zu, dass kein Willensakt ohne dass ihm ein Objekt durch einen Erkenntnisakt präsentiert wird.33 Die Liste von im Willen schließt erstens solche Erfahrungen ein wie Liebe, Hoffnung, Furcht, Freude etc. und 34zweitens die uneigentlichen Lust und Schmerz ( und ). Es gibt im Willen, die nicht real distinkt sind von Akten des Willens. Das sind die gerade genannten Liebe, Hoffnung etc. Diese sind reale Akte, direkt hervorgebracht vom Willen.35 Die uneigentlichen Akte, also Lust- und Schmerzreaktionen, sind distinkt von Willensakten. Der Beweis dafür liegt nach Ockham in der Tatsache, dass die Akte im Willen zugrunde liegen, ohne dass sie von Lust oder Schmerz begleitet passiones

passio

passiones

passiones

delectatio

tristitia

passiones

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35

Siehe oben Anm. 8. Quodlibeta III, q. 20 (OT IX 284): [...] quia voluntas non potest aliquid velle nisi cognitum nec sine cognitione. Quodlibeta II, q. 17 (OT IX 187): Circa secundum dico primo quod passiones sunt in voluntate, quia amor et spes, timor et gaudium sunt in voluntate, quae tamen communiter ponuntur passiones. Similiter delectatio et tristitia sunt in voluntate, quae etiam sunt passiones. Ibid. (OT IX 187): Secundo dico quod quaedam passiones voluntatis non distinguuntur ab actibus, et quaedam distinguuntur. Amor enim et spes non distinguuntur ab actibus, quod patet per inseparabilitatem illorum ab actibus, sed sunt actus immediate eliciti a voluntate et ab habitibus voluntatis.

Die passiones animae bei Ockham

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sind. Als Beispiel führt er den Teufel an, der sich selbst liebt, aber keine Lust daran findet.36 Obwohl die Lust- Schmerzreaktionen im Willen distinkt von den Akten sind, d. h. von den eigentlichen passiones, können sie nicht ohne diese existieren. Die uneigentlichen passiones werden von den eigentlichen sowohl verursacht als auch in ihrer Existenz gehalten.37 Ob die eigentlichen passiones, also diejenigen, die Akte sind, habitus im Willen erzeugen, ist für Ockham ein ernstes Problem. Wenngleich er niemals die Existenz von habitus im Willen geleugnet hat, weist er mehrere Argumente zurück, die diese Existenz beweisen sollen. Im Sentenzenkommentar leitet sich das erste zurückgewiesene Argument von der Willensfreiheit ab. Diese vorausgesetzt kann man nicht schließen, dass der Wille habitus benötigt, um zu einem bestimmten Akt hingeneigt zu sein. Der Wille ist frei und unbestimmt, sagt Ockham, d. h. er ist im Stande, zwischen einer guten und bösen Handlung zu wählen, gleichgültig ob38 mehrere Handlungen vorausgehen oder nicht, er braucht dafür keinen habitus. Zweitens leugnet Ockham, dass das Argument, nach dem habitus im Intellekt anzunehmen sind, auch für den Willen gilt. Habitus gibt es im Intellekt, weil dieser, wenn er ein Objekt erkannt hat, die Erkenntnis dieses Objekts reproduzieren kann, wenn das Objekt nicht mehr präsent ist. Diese Fähigkeit könnte der Intellekt nicht besitzen, wenn er nicht die erste Erkenntnis des Objekts gehabt hätte. Im Willen jedoch gibt es eine solche Fähigkeit nicht. Dieser verlangt die Präsenz des Objekts, d. h. die Repräsentation des Objekts durch einen Erkenntnisakt, und zwar nicht nur für den ersten Akt, sondern für alle nachfolgenden Akte derselben Art. Daher gibt es keine gemeinsame Basis für die habitus im Intellekt und Willen.39 36

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Ibid. (OT IX 187): Sed delectatio et tristitia distinguuntur ab actibus, quod patet ex hoc quod actus voluntatis possunt remanere sine delectatione et tristitia, sicut patet de daemone qui intensissime diligit se et tamen in hoc nullo modo delectatur. Ibid. (OT IX 188): Sed delectatio et tristitia non possunt esse sine actibus naturaliter, quia ab illis causantur et conservantur; igitur istae formae sunt passiones et non actus. Quaestiones in III Sent., q. 11 (OT VI 363): Non propter primum, quia quando arguit sic quod voluntas potest elicere actum bene et male ita quod ad neutrum determinatur, igitur indiget habitu determinante – non valet – quia sicut voluntas potest elicere primum actum suum propter libertatem suam bene et male quia propter finem laudabilem vel vituperabilem sine omni habitu praevio, quia ante primum actum voluntatis non est habitus in voluntate, ita potest elicere secundum, tertium, quartum et sic deinceps. Ibid. (OT VI 363-364): Nec oportet ponere habitum in voluntate propter similitudinem de intellectu quia oportet ponere habitum in intellectu. […] sed propter hoc quod intellectus post ostensionem obiecti, ipso amoto vel destructo, potest in aliquos actus in quos non potuit ante praesentiam, nec semper requiritur praesentia obiecti quando intellectus intelligit. [...] Sed voluntas ita indiget ostensione obiecti in tertio et quarto actu, et sic deinceps

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Trotz dieser ablehnenden Überlegungen sieht Ockham Gründe, die zeigen, dass es eine habitus-Bildung im Willen gibt. Wenn der Einfluss von äußeren Faktoren, wie etwa die sinnlichen passiones, konstant gehalten wird, bringt eine einzige Wiederholung von Willensakten eine bestimmte Neigung hervor, die gleichen Akte wieder auszuführen. Mit anderen Worten, ceteris paribus führt eine einzige Wiederholung von Willensakten zu einer größeren Vollkommenheit und Intensität von Akten.40 Aus diesem Grund wird Ockham dazu geführt, habitus im Willen anzunehmen. Dieses positive Argument für die Existenz von habitus im Willen, das man im Sentenzenkommentar findet, kehrt in den Quodlibeta wieder, vielleicht noch etwas klarer. Es gibt drei Faktoren, die die Existenz von habitus begründen: größere Leichtigkeit im Handeln, größeres Geneigtsein zum Handeln und größere Hemmungen, bestimmten Handlungen zuwiderzuhandeln. Jedoch macht Ockham keine übertriebenen Ansprüche auf die Geltung dieser Überlegung: Man kann ihr vernünftigerweise folgen oder sich auch nur von ihr überreden lassen.41 Wir sehen demnach, dass Ockham stets an der These festgehalten hat, dass die passiones im eigentlichen Sinn, also diejenigen, die Akte sind, fähig sind, habitus hervorzubringen, im Unterschied zu den uneigentlichen passiones, Lust und Schmerz. 2.2 Willensneigungen und sinnliches Streben Wille, also intellektives Streben, und sinnliches Streben spielen nicht einfach auf zwei voneinander unabhängigen Ebenen von Erfahrungen. Ein Beispiel, wie sie zusammenhängen, kann man an dem Einfluss des sinnlichen Strebens auf den Willen feststellen. Dieser Einfluss ist groß genug, um behaupten zu können, dass das sinnliche Streben als eine Teilursache gewisser Willensakte anzusehen ist. Die Ursachen, die einen Willensakt zu Stande bringen, sind nach Ockham: der Wille selbst, der habitus, das äußere Objekt, der Erkenntnisakt und eben auch das sinnliche Streben.42

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sicut in primo, quia numquam potest actualiter aliquid velle vel nolle nisi actualiter cognitum. Ibid. (OT VI 365): Ideo dico quod habitus est ponendus in voluntate propter maiorem perfectionem actus et maiorem inclinationem et facilitatem ad eliciendum actum, ceteris paribus. Et tunc potest sic argui: quaecumque potentia, ceteris paribus in omnibus aliis, magis inclinatur post actum quam ante et ad intensiorem actum, ex illis adquirit habitum. Sed voluntas est huiusmodi, quia omnibus existentibus paribus in parte sensitiva, magis inclinatur ad actum nunc quam prius. Quodlibeta III, q. 20 (OT IX 284). Quaestiones in III Sent., q. 5 (OT VI 157-158): Ad primum istorum dico quod non est generaliter verum quod omne inclinans ad actum est obiectum, potentia vel habitus. Nam cognitio actualis in intellectu quodammodo inclinat voluntatem ut causa partialis respectu

Die passiones animae bei Ockham

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Der Terminus ‚sinnliches Streben‘ ist hier im weiteren Sinn zu verstehen und umfasst sinnliche passiones im eigentlichen und uneigentlichen Sinn. Es scheint aber doch so zu sein, dass Ockham den kausalen Einfluss mehr den uneigentlichen passiones zuordnet. Es sind43gerade Lust und Schmerz, die er als Bestimmungsgrößen des Willens ansieht. Das Ausmaß des kausalen Einflusses des sinnlichen Strebens auf den Willen ist jedoch niemals so, dass es den Willensakt vollständig determiniert. Der Wille ist immer frei, Neigungen zuzustimmen oder abzulehnen. Aber die sinnlichen Strebungen können so intensiv werden, dass sie den Willensakt erschweren.44 Indirekt können die Neigungen des sinnlichen Strebens jedoch vollständig 45 den Willen überwältigen und das Urteil der Vernunft verhindern. Trotz dieser Einschätzung hält Ockham die Freiheit des Willens aufrecht und verweist auf die Natur des Willens.46 Obwohl also die sinnlichen Neigungen die naturhafte Freiheit des Willens nicht beeinträchtigen können, stellen sie die Willensaus-

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sui actus. Actus etiam appetitus sensitivi inclinat quodammodo voluntatem sicut causa partialis. Wiederum verweise ich auf FUCHS, Oswald (Anm. 7), S. 64-79. Quaestiones variae, q. 8 (OT VIII 447): Secundo dico quod potest reddi aliqua causa quare causatur actus volendi respectu obiecti quod causat delectationem in appetitu sensitivo, et actus nolendi respectu obiecti quod causat dolorem in eodem. Quia potest dici quod actus appetitus sensitivi sive melius ipsa delectatio in appetitu sensitivo est causa effectiva partialis immediate concurrens cum voluntate et cognitione talis obiecti ad causandum talem volitionem. Et similiter dolor est causa effectiva partialis ad causandum actum nolendi respectu talis obiecti. Quodlibeta III, q. 22 (OT IX 290): Ad aliud dico quod habitus et passiones sensitivae proprie loquendo non inclinant voluntatem nisi quando voluntas consentit eis mediante volitione; et ita, si voluntas nolit illas passiones et nolit elicere actum secundum habitum, tunc non inclinabunt voluntatem. Et ista est inclinatio quam homo difficulter vincit, quia cum difficultate potest non consentire talibus passionibus. Quaestiones variae, q. 7, art. 3 (OT VIII 369-370): Praeterea appetitus sensitivus potest impedire iudicium, sicut aliquae passiones possunt esse ita vehementes in appetitu sensitivo quod totaliter impedient iudicium rationis. Ibid., q. 8 (OT VIII 448): Sed istis non obstantibus non redditur causa quare voluntas plus vel minus inclinatur positis talibus passionibus in appetitu sensitivo. Quia quantumcumque ponatur delectatio vehemens in appetitu sensitivo et cognitio dictativa in intellectu et alia concurrentia ad actum, adhuc est in potestate voluntatis elicere actum volendi respectu illius obiecti vel nolendi vel nullum actum elicere. Et ideo respectu illius inclinationis voluntatis non videtur posse reddi aliqua causa nisi quia natura rei talis est, et hoc innotescit nobis per experientiam.

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Gerhard Leibold

übung vor Probleme. Diese können wiederum dadurch gemildert werden, dass ein noch erstrebenswerteres Gut das andere verdrängt.47 Den Einfluss der sinnlichen Strebensakte auf den Willens kann man so zusammenfassen: Ockham zeigt einen gewissen Widerwillen, die Freiheit des menschlichen Willens zu theoretisieren. Das sinnliche Streben hat einen kausalen Einfluss auf die Willensakte. Aber die sinnlichen Akte können den Willen seiner Freiheit nicht berauben.

2.3 Das moralische Handeln

Das letzte Zugrundeliegende (subiectum) der Moral ist nach Ockham der Wille. Ohne Beteiligung des Willens gibt es keine Moral, keine Tugend, keine , keine Handlungen. Nur die Handlungen des Willens sind lobens- oder tadelnswert. Ockham zitiert hier Aristoteles, der sagt, dass nur die Handlungen, die in unserer Macht stehen, tadelnswert sind.48 Dass die Tätigkeit des Willens bei der Hervorbringung von moralischen Handlungen wesentlich ist, wird von Ockham durch den Vergleich mit der Partizipation der Vernunft an der moralischen Handlung illustriert. Die Vernunft ist kein grundlegendes Element der Handlung, wohl aber der Wille: Wenn Gott in meinem Willen einen Akt hervorrufen würde, der im Einklang mit der rechten Vernunft stünde ohne Beteiligung meines Willens, wäre dieser Akt weder verdienstlich noch tugendhaft.49 Der Wille besitzt nach Ockham die Fähigkeit zur Wahl, unabhängig von der rechten Vernunft. Wenn man die Wahl als wesentlich für die Moral ansieht, stärkt das die Position des Willens als Basis der Moral. Alles, was für den Willen psychologisch notwendig ist, um einen Willensakt hervorzubringen, ist die repräsenhabitus

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Ockham beruft sich für dieses Argument auf DUNS SCOTUS, Quaestiones in III Sent., q. 5 (OT VI 159): Et dicit Ioannes hic quod voluntas non videtur seipsam posse retrahere sine difficultate quin condelectet appetitui sensitivo. Et ideo ad delectabiliter retrahendum se oportet aliquid delectabilius causari in eo quam sit delectatio appetitus sensitivi quo finis sit sibi delectabilior. EN III 1 (1109b 30-31). Quaestiones in III Sent., q. 11 (OT VI 366): Quarta conclusio probatur, quia habitus ille proprie est solum virtus cuius actus est solum virtuosus; sed solus actus voluntatis est virtuosus. Probatur: quia solus actus voluntatis est laudabilis vel vituperabilis; igitur solus ille est virtuosus. Igitur solum habitus generatus ex tali actu est virtus. Confirmatur per Philosophum III Ethicorum ubi dicit quod nullus actus est vituperabilis nisi sit in potestate nostra. Nullus enim culpat caecum natum quia est caecus. Sed si sit caecus per peccatum proprium, tunc est culpabilis. Ibid., q. 11 (OT VI 389): Ad aliud dico quod ex hoc quod praecise est conformis rationi rectae non est virtuosus, quia si Deus faceret in voluntate mea actum conformem rationi rectae, voluntate nihil agente, non est ille actus meritorius nec virtuosus. Et ideo requiritur ad bonitatem actus quod sit in potestate voluntatis habentis illum actum.

Die passiones animae bei Ockham

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tative Präsenz eines Objekts in einem kognitiven Akt. In dieser Hinsicht ist der Wille vergleichbar mit dem sinnlichen Streben. Kein Urteil der Vernunft braucht vorauszugehen.50 Die letzte subjektive Bedingung dafür, dass eine Handlung moralisch ist, besteht darin, dass die Handlung in der Macht des Willens liegt.

2.3.1 Die moralische Bedeutung der passiones Die sinnlichen passiones sind Objekte der tugendhaften Willensakte. Sie sind es vor allem deshalb, weil sie durch den Willen zur Existenz gebracht werden, zumindest indirekt. Jede passio kann durch den Willen erzeugt und daher als Objekt angesehen werden im Sinne einer Wirkung, und zwar nicht nur als Wirkung eines Willensakts, sondern auch der Tugenden, die diesen im Willen entsprechen. Ein tugendhafter Akt bezüglich einer passio enthält daher einen doppelten Akt: erstens, den unmittelbaren Willensakt, direkt hervorgebracht durch den tugendhaften habitus im Willen; und zweitens den Akt bzw. die passio des sinnlichen Strebens, der durch den Willensakt beherrscht wird.51 Der Einfluss des Willens bei der Hervorbringung der passiones ist indirekt. Er umfasst direkt die sinnliche Wahrnehmung, aus der die passio im Strebevermögen resultiert. Der Wille ist causa causae in Bezug auf die passio. Dies reicht nach Ockham aus, um die Behauptung zu rechtfertigen, dass alle passiones durch den Willen beherrscht werden. Allerdings sind noch mehr Faktoren als der Wille nötig, um den Wahrnehmungsakt hervorzubringen, von dem die pas52 sio stammt. Indirekt jedoch hat die Macht des Willens und der Tugend über die passiones des sinnlichen Strebens eine große Auswirkung auf die moralische Bedeutung dieser passiones. Die innere Balance des Menschen hängt zu einem

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Ibid., q. 5 (OT VI 161): Item, contra hoc quod ponit quod electio in voluntate non potest esse nisi praecedat iudicium in ratione, quia non maior ostensio obiecti requiritur a parte voluntatis quam a parte sensitivi. Sed ad hoc quod appetitus sensitivus habeat actum suum, non requiritur nisi sola apprehensio obiecti, sine omni iudicio, sicut quilibet experitur. Igitur ad hoc quod voluntas habeat actum suum, requiritur ostensio obiecti praecedens, sine omni iudicio rationis. Quodlibeta III, q. 18 (OT IX 275): Dico quod quaelibet passio potest esse obiectum voluntatis et alicuius virtutis, quia quaelibet potest imperari a voluntate. [...] Sic dico ergo quod habitus virtuosus voluntatis habet duplicem actum, unum elicitum ab habitu et aliud actum in appetitu sensitivo qui est obiectum habitus sicut est obiectum actus eliciti ab habitu. Quaestiones in III Sent., q. 12 (OT VI 411): Vel forte ipse actus voluntatis est causa mediata respectu illarum passionum, quia est causa causae. Est enim causa immediata partialis apprehensionis praecedentis talem actum qui vocatur passio.

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beträchtlichen Ausmaß davon ab, dass er in der Lage ist, passiones hervorzubringen, wenn sie nützlich, und zu besänftigen, wenn sie schädlich sind.53 Die Wirkung der Tugend auf die passiones besteht demnach zuweilen im Erregen und zuweilen im Besänftigen von passiones. Heißt das, dass ein und dieselbe Tugend auf der Ebene des sinnlichen Strebens konträre Wirkungen haben kann? Zur Beantwortung dieser Frage erinnert Ockham daran, dass die unmittelbare Wirkung einer jeden Tugend ein Willensakt ist. Dieser Akt kann als sein Objekt einander gegensätzliche Elemente auf der sinnlichen Ebene haben: einen bestimmten Grad von Furcht oder von Wagemut. Beide sind Objekte desselben Willensaktes. Dieser Akt selbst ist jedoch einfach und entspricht dem an der Tugend, was ihn hervorruft. Ockham illustriert dies durch den Vergleich mit einem ähnlichen Phänomen auf der kognitiven Ebene. Ein einzelner Akt des Intellekts umfasst die Kenntnis dessen, was unter gewissen Umständen zu fürchten und was unter anderen Umständen zu wagen ist. Ebenso kann ein Willensakt mehrere gegensätzliche Elemente auf der Sinnesebene hervorrufen oder zurückdrängen.54 Um seine Art der Erklärung zu illustrieren, wie gegensätzliche Wirkungen auf der sinnlichen Ebene aus der individuellen Tugend im Willen resultieren, untersucht Ockham eine Reihe von Tugenden im Einzelnen. Tapferkeit bzw. Mut ist sein erstes Beispiel. Diese Tugend macht den Willen geneigt, die passiones Furcht und Tollkühnheit zu beherrschen. Aber keine von diesen extremen Formen wird erzeugt in diesem Fall. Die passio, die erzeugt wird, hält die Mitte zwischen den Extremen und lehnt beide Extreme als dem tugendhaften Akt des Willens entgegengesetzt ab. In diesem Fall sind die entgegengesetzten passiones nicht wirklich präsent als Objekte des Willensaktes, sondern nur mitbedeutet (konnotiert) durch das Wort, das die passio bezeichnet, die aktuell präsent ist und die Mitte darstellt.55 53

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Ibid., q. 12 (OT VI 417): Ad aliud dico quod virtutis est excitare passiones quando oportet et ubi oportet etc. [...] Sed virtutis est sedare et refrenare passiones vitiosas, sive superabundantes sive deficientes, et reducere eas ad medium secundum debitas circumstantias. Et tales passiones consistentes in medio, virtus habet excitare. Ibid., q. 12 (OT VI 413-414): Ad aliud dico quod virtus moralis in voluntate, quae est proprie virtus, non inclinat ad actus contrarios tamquam principium effectivum et elicitivum. Inclinat tamen ad actum qui respicit contraria sicut obiecta partialia et communia. Et ideo actus voluntatis virtuosus potest terminari ad timores et audacias qui sunt actus partis sensitivae et non eliciti a virtute in voluntate. Nam sicut intellectus potest per unum actum formaliter dictare quod est timendum pro loco et tempore et aliis circumstantiis, et quod est audendum alio tempore et secundum determinatas circumstantias, ita potest voluntas velle timere per unum actum et audere cum eisdem circumstantiis, ita quod tam actus intellectus quam voluntatis terminantur ad timores et audacias tamquam ad obiecta communia istorum actuum. Ibid., q. 12 (OT VI 414): Quantum tamen ad modum loquendi Philosophi dico quod intelligit quod fortitudo inclinat ad aliquem actum voluntatis qui nec terminatur ad timores nec

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Als Beispiele für Tugenden im Willen, die negative Wirkungen auf die pashaben, zieht Ockham temperantia und continentia (Mäßigung und Enthaltsamkeit) heran. Beide, sagt er, beziehen sich auf die concupiscentia, die Begierde, die erste auf eine mildere Form als die zweite. Mäßigung, die sich mit der milderen Begierde befasst, ist in der Lage, diese passio vollständig zu zügeln, und der daraus resultierende tugendhafte Akt verursacht ein angenehmes Gefühl (delectatio) im Willen, welches den Reiz der passio übertrifft. Enthaltsamkeit hat zu kämpfen mit einem vehementen Grad desselben Typs von passio. Dieser widersetzt sich und lässt sich nicht vollständig beruhigen. Der daraus resultierende tugendhafte Akt im Willen ist schwach und verursacht möglicherweise tristitia, Leiden, Schmerz und Traurigkeit.56 Sinnliche passiones haben daher keine moralische Bedeutung in sich selbst, sondern erhalten sie von den Willensakten, deren Funktion darin besteht, sie zu beherrschen in dem Sinne, dass die einen hervorgebracht und gestärkt, die anderen gezügelt werden. Beide Extreme eines Typs von passio können einer einzigen Tugend zugeordnet werden. Mut ist das Beispiel einer Tugend, die eine positive passio hervorbringen kann, die entweder die Mitte zwischen Furcht und Tollkühnheit sein siones

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audacias, sed inclinat ad actum qui terminatur vel qui imperat actum appetitus sensitivi a quo istae passiones negantur. Et ideo inclinat ad negationem utriusque actus tam timoris quam audaciae, quia istae passiones sunt extremae et connotant vitium in actu. Sed inclinat ad actum partis sensitivae modo praedicto, qui actus nec debet dici timor nec audacia, sed debet habere denominationem mediam sicut actus debet esse medius et repugnare extremis sicut medium extremis. Ibid., q. 12 (OT VI 417-418): Ad aliud dico quod temperantia et continentia non differunt nisi secundum magis et minus, quia sunt eiusdem speciei. Quia temperatus habet virtutem perfectam et continens imperfectam, et tam temperatus quam continens habet pravas concupiscentias in parte sensitiva et neuter sequitur eas. Sed differentia est in hoc quod temperatus non habet concupiscentias superabundantes et vehementes quasi invincibiles, sed remissas. Continens autem habet concupiscentias pravas excellentes et quasi invincibiles, sed non sequitur eas sicut nec temperatus. Alia differentia est quod temperatus, quia habet concupiscentias remissas et tepidas in appetitu sensitivo, ideo potest elicere actum virtuosum secundum habitum virtutis – actum, inquam, intensum – et cum magna delectatione in voluntate quae excellit delectationem consequentem concupiscentiam in appetitu sensitivo, ita quod non tantum vincit concupiscentiam, sed elicit actum virtuosum intensum cum vehementi delectatione. Sed continens, habens concupiscentias superabundantes, bene respectu virtutis imperfectae sequitur iudicium rationis et non concupiscentias, immo respuit concupiscentias, ita quod propter illas non est culpabilis quia resistit. Et propter talem resistentiam potest mereri quatenus vult solum sequi iudicium rationis dictantis tales concupiscentias respuendas, licet non sequatur iudicium rationis dictantis actum oppositum virtuosum eliciendum. Sed vel non potest elicere actum virtuosum oppositum actui perfecte vitioso propter vehementiam passionum in parte sensitiva quas non potest omnino sedare, vel si potest, ille actus elicietur cum modica vel nulla delectatione, immo quasi cum tristitia, et erit actus remissus valde.

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Gerhard Leibold

kann, oder irgendwelche Abstufungen je nach Umständen. Mäßigung und Enthaltsamkeit sind Beispiele für Tugenden, die mit der Zügelung von existierenden passiones im sinnlichen Strebevermögen zu tun haben, wobei die eine sich auf eine mildere Form der Begierde bezieht, die andere auf eine vehementere.

2.3.2 Dauerhafte Wirkungen der Tugenden auf die passiones

Im Blick auf die Kontrolle, die die Tugenden über die ausüben, kann man fragen, ob diese Wirkung vorübergehender oder dauerhafter Art ist. Mit anderen Worten: Werden im sinnlichen Strebevermögen oder -ähnliche Dinge als Ergebnis der Kontrolle durch die Tugenden gebildet? Bei der Beantwortung dieser Frage legt Ockham zunächst ein negatives Prinzip fest: Eine dauerhafte Wirkung in den ist für die Existenz der Tugenden im Willen absolut nicht erforderlich. Geht man davon aus, dass die Wirkung der Tugenden günstig ist für das Entstehen dauerhafter Wirkungen oder quasi, kann der Widerstand gegen ein solches Entstehen auf Seiten des sinnlichen Strebevermögens so groß werden, dass das Entstehen vollständig verhindert wird.57 passiones

habitus

habitus

passiones

habitus

Obwohl sie nicht notwendig sind, sind dauerhafte Wirkungen im sinnlichen Strebevermögen als Ergebnis der Tugenden hervorbringbar und können nützlichen Zwecken dienen. Ockham zieht als Beispiel die Tugend der Mäßigung heran. Eine dauerhafte Wirkung kann die Zerstörung bzw. dauernde Schwächung der passio sein, die dieser Tugend gegenübersteht. Oder es kann eine positive Hinneigung zur Tugend sein, ausgehend von physiologischen Zuständen.58 Dauerhafte Wirkungen bzw. quasi-habitus sind daher als Ergebnis der Tugenden im Bereich des sinnlichen Strebevermögens möglich. Zusätzlich stellt Ockham fest, dass diese Wirkungen selbst dann bestehen bleiben können, wenn eine Tugend des Willens ersetzt worden ist durch ihren entsprechenden schlechten habitus. So kann die Neigung, gemäßigt zu essen, auf der sinnlichen Ebene als

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Quaestiones variae, q. 7, art. 3 (OT VIII 360): Sit haec prima conclusio quod nulla virtus moralis necessario exigit habitum consimilem in parte sensitiva. Hoc patet, quia quantumcumque actus eliciantur in appetitu sensitivo generativi habituum, tamen potest esse tanta rebellio carnis ad spiritum quod causatio talis habitus potest omnino impediri. Ibid., q. 7, art. 3 (OT VIII 361): Non videtur inconveniens quod voluntas causet et conservet aliquem habitum in parte sensitiva […] sicut patet de actibus temperantiae et aliis virtutibus qui requirunt actus in parte sensitiva. Ebenso ibid., q. 6, art. 10 (OT VIII 270): Temperatus, secundo modo loquendo ut prius, non solum fugit actum nolendi concupiscentias inhaerentes sed occasiones talium, et ideo per actus temperantiae possunt illi actus totaliter destrui.

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Die passiones animae bei Ockham

Wirkung der Tugend im Willen hervorgebracht, bestehen bleiben, nachdem der Wille seinen tugendhaften habitus, gemäßigt zu essen, verloren hat.59

3. Zusammenfassung

In Ockhams Darlegung der intellektuellen und sinnlichen Seelenteile können wir sehen, dass der Wille weder ein Sklave der Intellekts noch des Strebens ist. Der Grundgedanke ist, dass der Mensch das Vermögen besitzt, frei zu handeln, also ein Ziel eher als ein anderes zu wählen oder die Tugend eher als das Laster. Für Ockham ist das eine Sache der Erfahrung, die die Grundlage ist für das, was wir wissen und was wir tun können. Aber in keinem Fall ist die Erfahrung auf sinnliche Daten oder externe Stimuli beschränkt. Beide, der Intellekt und das sinnliche Streben, existieren kraft eigenen Rechts. Der Hauptgrund dafür ist das Vorhandensein von und Neigungen. Sehen wir uns vor allem die noch einmal etwas genauer an. Die Bedeutung von in Ockhams Erklärung der menschlichen Handlungen braucht nicht betont zu werden. Der erklärt alles Wissen und Wollen, welches nicht unmittelbar von externen Objekten ermöglicht ist. Der ist daher die Ursache allen Erkennens und Wollens von dem, was gegenwärtig nicht existiert, also Ursache der abstraktiven, nicht-intuitiven Erkenntnis und des Gedächtnisses. Der ersetzt die und in der Begriffsbildung und konstituiert Wissenschaft. Denken wir an die Definition von Wissenschaft als im Prolog zum Physikkommentar.60 Auch im Willen ist der überall dort präsent, wo von Tugenden und Lastern die Rede ist. Die sind erworben und befähigen den Willen, natürlicher Weise Akte hervorzubringen. sind eine Angelegenheit der Erfahrung und führen dazu, dass etwas getan werden kann, was vorher nicht getan werden konnte, oder etwas leichter als vorher getan werden konnte, und dass diese Veränderung nicht auf einen Unterschied bei den Objekten zurückgeführt werden kann. Das gilt für die Erkenntnis, die Tugend und jegliche körperliche Fähigkeit. Der ist die Wirkursache des Akts, der Akt hängt in seiner Existenz vom ab. Bevor jemand einen erworben hat, kann er bei der Absenz eines Objekts nicht handeln. habitus

habitus

habitus

habitus

habitus

habitus

species

ficta

collectio multorum habituum

habitus

habitus

Habitus

habitus

habitus

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habitus

Ibid., q. 7, art. 3 (OT VIII 361): Secunda conclusio est quod quicumque habitus partis sensitivae inclinans ad opera bona ex genere, sicut habitus partis sensitivae inclinans ad temperate comedendum, compatitur secum quodcumque vitium in voluntate, etiam contrarium virtuti voluntatis respectu illius obiecti. Expositio in libros Physicorum Aristotelis, prologus, § 2 (OP IV 6).

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Gerhard Leibold

Dem Einwand, dass es bei wesentlichen Ursachen eine unveränderbare Reihenfolge gebe, so dass, wenn ein Akt die Ursache eines ist, der Akt eben nicht die Wirkung eines sein kann, stimmt Ockham zu, wenn es sich um individuelle Akte handelt. Ein und derselbe Akt kann nicht zuerst die Ursache eines sein und dann durch den verursacht sein. Aber bei Akten derselben Art kann das so sein. Auf der Ebene der Art kann61 derselbe Akt beides, Ursache und Wirkung des sein, ohne Widerspruch. Der im strengen Sinn hat eine Neigung zum Vermögen. Das gilt für den Intellekt, den Willen und die Sinne. Der ist in diesen Vermögen als akzidentelle Form oder Qualität und vervollkommnet sie als Teilursache eines Akts.62 Als Teilursache der Disposition eines Vermögens zu handeln kann die Existenz eines aus der Erfahrung gewusst werden. Anders als ein Objekt als Teilursache eines Aktes bewirkt ein in einem Vermögen, oft zu handeln, und manchmal auch bei Abwesenheit des Objekts.63 Aufgrund des Gesagten ist klar, dass erworben sind und nicht angeboren. Das sagt Aristoteles ebenso wie die Erfahrung.64 Wären sie nicht erworben, dann könnten die Tugenden als Teile der Natur nicht zu dem hinneigen, was gegen die Natur ist, wozu sie aber in der Lage sind. Auch könnte Aristoteles den Intellekt nicht mit einer vergleichen. Wie unterscheidet sich ein von einer Hinneigung? Der Hauptunterschied besteht nach Ockham darin, dass eine Hinneigung etwas aktuell Erfahrenes ist. Die Hinneigung ist selbst ein Akt, der dem Vermögen oder der Form, die 65 die Hinneigung hat, hinzugefügt wird oder dem , der zu ihr führt. Schwieriger als im Intellekt ist die Präsenz von im Willen zu beweisen. Der Wille als ein freies Vermögen kann fortfahren, frei zu handeln, ebenso wie er es am Anfang tut. Aber er kann den ersten Akt wählen ohne . Von daher gibt es keinen Grund, warum er nicht seine zweiten und dritten und alle nachfolgenden Akte ohne frei wählen könnte. Die Freiheit des Willens liefert demnach kein Argument für . Das tut auch der Intellekt nicht, wenn man argumentiert, dass der Intellekt zur Wahrheit neigt wie der Wille zum Guten. Hier gibt es keinen Grund dafür, dass ein im Intellekt ist. Wohl aber kann der Intellekt, wenn er habitus

habitus

habitus

habitus

habitus

habitus

habitus

habitus

habitus

habitus

tabula rasa

habitus

habitus

habitus

habitus

habitus

habitus

habitus

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Quodlibeta III, q. 21 (OT IX 268-269); ebenso Quaestiones in III Sent., q. 7 (OT VI 205) und q. 12 (OT VI 397-398). Quaestiones in III Sent., q. 7 (OT VI 208): Tamen habitus proprie inclinat potentiam, quia est forma perficiens potentiam, et cum hac ut causa partialis inclinans ad actum. Quaestiones in III Sent., q. 7 (OT VI 200): [...] et ita faciliter exire in actum in absentia

obiecti sicut in praesentia [...]. Quaestiones in III Sent., q. 12 (OT VI 392-393): Quantum ad primum est una opinio quae ponit quod virtutes insunt in nobis a natura. [...] Sed ista opinio est contra Philosophum II Ethicorum. Quodlibeta III, q. 22 (OT IX 290-291); Quaestiones in III Sent., q. 7 (OT VI 206-207).

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Die passiones animae bei Ockham

einmal ein Objekt erkannt hat, dieses Objekt in Abwesenheit erkennen: Das konnte er nicht vor der ersten Erkenntnis. Dagegen kann der Wille nur dasjenige wollen, was aktuell erkannt ist. Er benötigt demzufolge die Präsenz eines Objekts für jeden Willensakt, gleichgültig, wie viele vorausgegangen sind.66 Dennoch kann man sagen, dass ein im Willen anzusetzen ist aus dem Grund, dass er in der Folge besser im Stande ist oder mehr geneigt ist, den gleichen Akt auszuführen, nachdem er ihn ausgeführt hat, als vorher. Dem wird in den Quodlibeta der negative Grund hinzugefügt, dass nach wiederholten Willensakten derselben Art der Wille größere Schwierigkeiten hat und mehr Widerstand aufbringen muss, um gegenteilige Akte hervorzubringen.67 Es gibt einen kausalen Zusammenhang zwischen Objekt, Akt und . Der ist das Mittel, den Akt von einer ontologischen Abhängigkeit vom Objekt zu befreien. Das gilt für Intellekt und Wille. Der ist daher die Garantie der Unabhängigkeit des Menschen im Erkennen und Streben von den physischen Objekten außerhalb seiner Seele. Der verbindet im Intellekt Erkenntnis und Gedächtnis, und im Willen die Tugenden, mit denen er seine zügelt und das Gute erstrebt. habitus

habitus

habitus

habitus

habitus

passiones

Nachbemerkung Wer die Darlegungen Ockhams zu den passiones animae verfolgt und etwa mit denen des Thomas von Aquin vergleicht, muss unvermeidlich enttäuscht sein. Schon die Textgrundlagen sind bedenklich: Die Quaestiones aus dem Sentenzenkommentar sind reportationes und tragen nicht die Qualitäten einer Ausarbeitung „von letzter Hand“. Sie sind eher sporadisch. Die Quaestiones aus den Quodlibeta sind nach meinem Dafürhalten eher dubios, teilweise sehr kurz und bruchstückhaft. Man hatte immer Schwierigkeiten, die Quodlibeta in Ockhams Biographie unterzubringen: Ockham war nie Magister, wann und wo hätte er disputieren sollen?68 Überdies sind die Jahre zwischen dem Sentenzenkommentar und seiner Abreise nach Avignon reichlich angefüllt mit seinen Kommentaren zu Aristoteles. Inhaltlich fehlt in den Quaestiones, in denen die passiones animae abgehandelt werden, eine klare Architektonik der Affekte. Erst recht ist keine umfassende anthropologische Fragestellung mit einem Beitrag zur richtigen Lebensführung im Blick auf die letzte Vollendung des Menschen entwickelt. Der bescheidene Gewinn, den man aus dem Studium der passiones bei Ockham ziehen kann, ist allenfalls eine Vermehrung unseres historischen Wissens. Ockhams Verdienste liegen woanders. 66 67 68

Quaestiones in III Sent., q. 11 (OT VI 363). Quodlibeta III, q. 20 (OT IX 284).

Freilich hat sich der Editor der Quodlibeta zu diesen Fragen geäußert: Quodlibeta septem, introductio II (OT IX 30*-38*), er hat aber meine Zweifel nicht beseitigen können.

Martin Thurner

Nikolaus Cusanus als Denker der Freude

Einleitung: Die „passiones“ als Thema und Ursprung der Philosophie

Spätestens seit Aristoteles bilden die „Leidenschaften der Seele“ einen systematisch erfassten und eingegrenzten Themenbereich des philosophischen Denkens: „Unter Affekten ( ) verstehe ich Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Liebe, Hass, Sehnsucht, Missgunst, Mitleid, allgemein alles, was von Lust oder Schmerz begleitet wird.“ In einer Weiterentfaltung der aristotelischen Ansätze widmet Thomas von Aquin in seiner theologischen Summe den einen ausführlichen Traktat. Bereits mit Descartes’ gleichnamigem Werk halten die Einzug in den Themenkatalog des neuzeitlichen Denkens. Älter als diese kontinuierliche Tradition der Leidenschaften als Objekte philosophischen Nachdenkens und Lehrens ist jedoch ein Verständnis, das jene „von Lust oder Unlust begleiteten Affekte“ nicht primär als möglichen Gegenstandsbereich der Philosophie betrachtet, dem sich ein Denker mehr oder weniger intensiv zuwenden kann. In einem ursprünglicheren Sinn erscheint das vielmehr als eine notwendig vorausliegende Bedingung dafür, dass das philosophische Denken überhaupt anfänglich hervorgehen kann. Ein Rest dieses Verständnisses findet sich noch in der (dann kanonisch gewordenen) Aussage des Aristoteles, dass „aufgrund des Erstaunens die Menschen sowohl jetzt wie auch zu allererst mit dem Philosophieren begannen“. Geht man in der Philosophiegeschichte nur einen Schritt weiter zurück, dann findet man bei Aristoteles’ Lehrer Platon die ausdrückliche Bestimmung dieses denkursprünglichen „Staunens“ als : „Es ist gar sehr einem Philosophen zu eigen jenes Erleiden ( ), das Erstaunen; es páthe

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passiones animae

passions de l’âme

páthos

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páthos

páthos

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ARISTOTELES, Nikomachische Ethik II 4, 1105 b 21-23; vgl. auch De anima II 5, 417 b 216. THOMAS VON AQUIN, Summa theologiae I/II q. 22-48 ; vgl. schon: Quaestiones disputatae de veritate q. 25-26. ARISTOTELES, Metaphysik 982 b 10-18.

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Martin Thurner

gibt nämlich überhaupt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen.“ Unmissverständlich sagt Platon hier, dass eine (bestimmte) Leidenschaft nicht nur möglicherweise ein Gegenstand philosophischen Denkens werden kann oder soll, sondern dass der Vollzug des Philosophierens insgesamt ursprünglich von einem solchen páthos getragen ist. Die passiones animae wohnen dem philosophischen Denken also immer schon bedingend inne, auch dann, wenn sie (in dieser begründenden Funktion) nicht ausdrücklich zum Thema des Nachdenkens gemacht werden. Es war vor allem Martin Heidegger, der aus seiner Intention heraus, einen „anderen Anfang“ des Denkens im Rückgang auf seine ersten Ursprünge zu gewinnen, die anfängliche páthos-Bestimmtheit des Denkens neu zu Bewusstsein bringen wollte. In seinem späten Vortrag Was ist das – die Philosophie? deutet Heidegger im Rückgriff auf die Terminologie von Sein und Zeit das platonische páthos als „Stimmung“. Den Ursprungszusammenhang zwischen páthos und philosophischem Denken lässt sich Heidegger dann in der für ihn charakteristischen Weise vom etymologischen Ein-Klang der Sprache selbst sagen: Die Stimmung des Erstaunens be-stimmt das Denken, indem es dieses durch eine GeStimmtheit auf eine Weise ab-stimmt, in der es der Stimme (dem Zu-Spruch) des ,Seins‘ selbst ant-wortend ent-spricht. Seinem ,seinsgeschichtlichen‘ Gedanken gemäß folgert Heidegger, dass sich das Sein im Laufe der Philosophiegeschichte dem Denken durch jeweils andere Grundstimmungen zugesprochen habe: Die Stimmung, die das „erstanfängliche“ Denken bei den frühgriechischen (,vorsokratischen‘) Philosophen hervorbringt, ist das „Er-staunen“. Demgegenüber geht das „andersanfängliche“ Denken der späteren Zeit aus einer anderen Gestimmtheit hervor: Es ist be-stimmt von der Erfahrung äußerster Seinsvergessenheit des Denkens und Seinsverlassenheit der Seienden und entspringt einer sich als das „Erschrecken“ zuschickenden „Verhaltenheit“ und „Scheu“. Zweifelsohne hat Heidegger mit seiner Analyse der Stimmungen als bleibend innerlicher Ursprungsgrund des Denkens eine tiefere, seit der aristotelischen Systematisierung vergessene Sinnbedeutung der passiones wiederentdeckt (was auch jene überzeugen mag, die mit seiner etymologisierenden Herangehensweise wenig anfangen können). Doch gerade ein Vergleich mit dem aristotelischen pátheKonzept macht deutlich, dass Heideggers Ergebnis ebenso genial wie einseitig ist. 4

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Nicht nur in seiner Wirkungsgeschichte (extrem etwa in Sartres Analyse des „Ekels“ als Grundstimmung der Existenz), sondern schon bei Heidegger selbst zeigt sich in der Auswahl der konkret analysierten Stimmungen ein Schwerge-

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PLATON, Theaitetos 155 d 2f. HEIDEGGER, Martin, Was ist das – die Philosophie?, Pfullingen 1956. HEIDEGGER, Martin, Grundfragen der Philosophie, Hg. Friedrich-Wilhelm von Hermann (Gesamtausgabe Bd. 45), Frankfurt/M. 1992, S. 153f. Ebd. S. 2.

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Nikolaus Cusanus als Denker der Freude

wicht auf Phänomenen, die eher als lebensnegierend erfahren werden. Erst durch die Begegnung mit Meister Eckharts „Gelassenheit“ weicht beim (sehr) späten Heidegger die dunkle Grundfärbung der „Existenzialien“ von Sein und Zeit (Geworfenheit, Sorge, Angst, Sein-zum-Tode) einer per definitionem und paradoxerweise weder positiv noch negativ, sondern ohne Willensempfindungen zu erleidenden Stimmung (das „gelassene Denken“). Die sich bei Aristoteles noch mit den UnlustAffekten die Waage haltenden positiven Stimmungen sind vom nachmetaphysischen Überwinder der Seinsvergessenheit wohl ihrerseits vergessen worden… Wenn man Heideggers Gedanken der Stimmungen im Hinblick auf seine Vorzüge und Mängel zugleich betrachtet, so ergibt sich die Frage nach einem philosophischen Wurf, der die denkursprüngliche Bedeutung der passiones bewusst macht, ohne dabei ihren lebensfördernd-positiven Grundzug zu vernachlässigen. Aus dieser von Heidegger eröffneten Perspektive des Suchens zeigt sich die Bedeutung eines Denkers in bisher unentdeckter Weise, der zwar ebenso wenig wie Platon und Heidegger eine systematische Passionenlehre vorgelegt hat, aber sein Denken ausdrücklich als Entsprechung zu einer ursprünglich positiv gestimmten Erfahrung hervorbringt. Im Folgenden gilt es, Nikolaus Cusanus (1401–1464) als Denker der Freude vorzustellen. 8

1. De venatione sapientiae: Rückblick und Einfügung in den Ursprung

Die Frage, worin die Intention und damit das ursprüngliche Movens eines Denkens besteht, kann oft nur durch einen sekundären Interpretationsversuch annäherungsweise rekonstruiert werden. Im Falle des Cusanus liegt aber ein Denken von so hohem Grad an Selbstbewusstheit vor, dass wir in der glücklichen Lage sind, vom Autor persönlich in Form einer Selbstinterpretation eine Antwort auf diese Ursprungsfrage seines Denkens zu haben. In fortgeschrittenem Alter und in Anbetracht seines herannahenden Todes (1464) verfasste Cusanus im Jahr 1462 das Werk (Die Jagd nach Weisheit) als rückblickende Zusammenfassung seiner verschiedenen Schriften, Begriffe und philosophischen De venatione sapientiae

8

Freilich werden in der Cusanus-Literatur die affektiven Momente seines Denkens immer wieder thematisiert, doch – so weit ich sehe – ohne deren inneren systematischen Begründungszusammenhang mit der philosophischen Reflexion herauszuarbeiten. Merkwürdigerweise hat dabei die passio der Freude bisher keine eigenständige Berücksichtigung erfahren. Immerhin spricht Kurt FLASCH (Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung, Frankfurt/M. 1998, S. 539) von den „Freude-Motiven“ bei Cusanus, gebraucht diesen Ausdruck aber offensichtlich im Sinne eines immer wiederkehrenden Themas (,Leitmotiv‘) und nicht als Movens im Sinne eines ursprünglichen Beweggrundes. – Die Cusanus-Schriften werden nach folgender Edition zitiert: NICOLAI DE CUSA, Opera omnia / iussu et auctoritate Academiae Litterarum Heidelbergensis ad codicum fidem edita, Leipzig-Hamburg 1932ff [abgekürzt = h. (mit Band-, Paragraphen- und Zeilenangabe)].

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Gedankengänge. Wichtig für das Verständnis der Bedeutung dieses Werkes ist die Tatsache, dass er zur äußeren und inneren Form des Werkes durch eine Lektüre der antiken Philosophen-Viten des Diogenes Laertios mit angeregt wurde, die der ihm befreundete Florentiner Kamaldulenser-General Ambrogio Traversari neu aus dem Griechischen übersetzt hatte. Der späte Rückblick auf sein eigenes Schaffen gestaltet sich so als Rückbezug seines Denkens auf die (geschichtlichen) Ursprünge der Philosophie. Entscheidend ist nun, unter welcher summierenden Überschrift Cusanus diese Ursprungssynthese seines Denkens und der Philosophiegeschichte überhaupt durchführt. Er bedient sich dabei der aenigmatischen Metapher der Jagd, die er folgendermaßen begründet: „Ein natürliches Verlangen lässt uns nicht nur nach dem Besitz von Wissen, sondern nach dem Besitz von Weisheit oder köstlichem Wissen streben.“ Cusanus geht davon aus, dass der Mensch im Denken eine nicht bloß theoretisch zu erfassende, sondern affektiv zu empfindende Qualität sucht. Als dementsprechend definierte „Nahrung des Intellekts“ ist die Weisheit Quelle eines geistigen „Lebens“. Die Lebendigkeit des Geistes ihrerseits wird von Cusanus auf eine affektive Grunderfahrung zurückgeführt, die er damit als Ursprungsstimmung des Denkens überhaupt entdeckt: „Die Lebenskraft regt sich zur eigenen Freude, eine Bewegung, die man Leben nennt.“ Die Freude erweist sich als Ursprung, Mitte und Ziel aller ,Jagdzüge‘ des Geistes. Die philosophische Jagdbewegung sei , auf ihr „erjage 9

10

11

12

laeta valde iocundaque

der Intellekt ein wunderbares und schmackhaftestes Wissen“13, die „blumenreichen und freudvollen Felder“ seien „außergewöhnlich liebreizend.“14 Die Entdeckung der Freude als Anfangserfahrung des Denkens bezieht Cusanus nicht nur 9

10

Das ist ein Grundzug, der durchaus mit dem „andersanfänglichen“ Denken des späten Heidegger nach der sogenannten „Kehre“ vergleichbar ist. Zur Geschichte der Jagdmetapher vor und nach Cusanus (Platon, Lullus, Ficino, Bruno) vgl. die 1 in h. XII, pp. 147-149 und darüber hinaus: TARABOCHIA CANAVERO, Alessandra, Nicola Cusano e Marsilio Ficino a caccia della sapienza, in: Nicolaus Cusanus zwischen Deutschland und Italien. Beiträge eines deutsch-italienischen Symposions in der Villa Vigoni 28.3. - 1.4.2001 (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes, Neue Folge 48), Hg. Martin Thurner, Berlin 2002, S. 481-510. BOMBASSARO, Luis Carlos, Im Schatten der Diana. Die Jagdmetapher im Werk von Giordano Bruno, Frankfurt/M. et al. 2002 [Cusanus: S. 156-182]. NICOLA CUSANO, La caccia della sapienza. Traduzione, introduzione e note a cura di Graziella Federici Vescovini, Casale Monferrato 1993. Zum Verständnis der aenigmatischen Denkbilder bei Cusanus: THURNER, Martin, Die Sinnlichkeit als Selbstdarstellung des Geistes: die ,Aenigmata‘ des Cusanus, in: Recherches de Théologie et Philosophie médiévales 71 (2004), S. 372-391. Adnotatio

11 12 13 14

, Prol.: h. XII, nr. 1, lin. 18f. 1: h. XII, nr. 2, lin. 2. De venatione sapientiae 15: h. XII, nr. 42, lin. 5 und nr. 44, lin. 5. De venatione sapientiae 18: h. XII, nr. 51, lin. 4-8.

De venatione sapientiae

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Nikolaus Cusanus als Denker der Freude

auf sein eigenes Werk, sondern auf die Philosophie, ja die Wissenschaften insgesamt, wobei er bezeichnenderweise mit der Mathematik die ,trockenste‘ aller Wissenschaften ausdrücklich benennt: „Welche Erfüllung (sufficientia) die Jagd des Geistes aufweist, wenn sie immer weiter bei sich einkehrt und ohne Unterlass sich vertieft, das zeigen die Entdeckungen der Theologen, Philosophen und Mathematiker, die uns in ihren Schriften in großer Zahl vorliegen.“ Die im Vollzug des Denkens erlebte Freude erweist sich schließlich als Quellgrund einer unendlich zunehmenden Fülle von allen möglichen theoretischen und affektiven Qualitäten: 15

Gaudet intellectus in hac venatione laetissima. Nam haec venatio bona, magna, vera, pulchra, sapida, delectabilis, perfecta, clara, aequa et sufficiens est.16

2. De docta ignorantia und De coniecturis: Limitierung als Selbsttranszendenz des Intellekts

Die Entdeckung und Steigerung der Freudenempfindung als Grunderfahrung des Denkens ist ein Charakteristikum besonders des cusanischen Spätwerkes. Wie die Subsumierung auch seines Frühwerkes unter den Titel der nahelegt, sieht Cusanus darin den verborgenen Beweggrund seines Denkens von Anfang an. In ihrer chronologischen Aufeinanderfolge lassen sich die cusanischen Schriften daher als der Versuch lesen, die ihnen zugrundeliegende Freudenerfahrung immer besser und intensiver zum Durchbruch kommen zu lassen. Dies gilt bereits für die beiden ersten Hauptwerke des Cusanus, (Das belehrte Nichtwissen, 1440) und (Die Mutmaßungen, 1444). Das mag zunächst verwunderlich klingen, da bereits in den Titeln dieser Schriften offenkundig keine positive Affekterfahrung, sondern eine negative Selbstlimitierung des Denkens im Mittelpunkt steht. Aber zwischen diesen beiden auf den ersten Blick so gegensätzlichen Polen gibt es einen verborgenen Zusammenhang. Die Feststellung der Begrenztheit der intellektuellen Kapazitäten des Menschen mag deshalb am Anfang des cusanischen Denkweges stehen, weil sie als Bedingung dafür zu begreifen ist, dass sich der Intellekt gerade im Moment der Erkenntnis seiner Fassenskapazität selbst transzendieren kann. Die Dimension, die dabei erreicht wird, kann nicht mehr Gegenstand des intellektuellen Begreifens sein, sondern besteht in einer affektiven Erfahrung. Spätestens in (Die Schau Gottes, 1453) deutet Cusanus selbst seinen Koinzidenzgedanken aus der früheren Schrift venatio sapientiae

De docta igno-

rantia

De coniecturis

De visione dei

De docta ignoran-

15

17: h. XII, nr. 50, lin. 16-19. Vgl. zur Freudenempfindung an der Mathematik auch: : h. X/2, nr. 2, lin. 2-5: „Wer einmal die Geometrie genossen hat, der hängt ihr in wunderbarer Liebe an, als enthielte sie das Futter intellektuellen Lebens schlechthin.“ 16: h. XII, nr. 46, lin. 3-5. De venatione sapientiae

De theologicis complementis

16

De venatione sapientiae

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Martin Thurner

in diesem (traditionell) mystischen Sinne: Jenseits der „Mauer des Zusammenfalls der Widersprüche“ ,erkennt‘ der Geist das Antlitz des (christlichen) Gottes der Liebe im Akt einer affektiven Schau. Das maximum [absolutum], cum quo minimum coincidit der docta ignorantia erweist sich als „Ursprung aller Freuden, die wir ersehnen können, […] die absolute Erfüllung alles wesensmäßigen Verlangens, über die hinaus es keine größere geben kann“. tia

17

18

19

3. Idiota de sapientia: Die Wahrheit als schmackhafte Speise

Wenn die affektive Empfindungsqualität der Freude der ursprüngliche Beweggrund des Denkens ist, so bedeutet das für Cusanus, dass die intellektuelle Theorie sowohl als Ausdruck dieser Erfahrung hervorgeht, als auch, dass die vollendete Freude darin gesucht und gefunden wird. Diese doppelte Bestimmung der Freude als Ursprung und Ziel des Philosophierens bringt Cusanus vor allem in seinen Reflexionen über die Wesensbestimmung der (philosophischen) zum Ausdruck, die ihn chronologisch ab der Mitte seines schriftstellerischen Wirkens intensiv beschäftigt, allem voran und grundlegend in der Schrift (Der Laie über die Weisheit, 1450). Das bestimmende Merkmal der Wahrheit findet Cusanus mit seiner Differenzierung zwischen Wissen ( ) und Weisheit ( ). Die Weisheit sei dadurch ausgezeichnet, dass in ihr die affektive Qualität der Wahrheit ausdrücklich mitempfunden wird. Zu diesem Gedanken inspirieren lässt sich Cusanus von der etymologischen Ableitung der von , wie sie in Wahrheit

Idiota

de sapientia

scientia

sapientia

20

sapientia

17 18 19

20

sapida scientia

De visione dei 9: h. VI, nr. 36, lin. 1 - nr. 37, lin. 12. De docta ignorantia I, 4: h. I, p. 10, lin. 1 - p. 11, lin. 22 (nr. 11-12). De visione dei 4: h. VI, nr. 11, lin. 9 - nr. 12, lin. 16. – Wichtig für das richtige Verständnis

der Bedeutung des Freudenaffektes bei Cusanus bleibt die Tatsache, dass die Transzendenz des Intellekts in die mystische Erlebensdimension ausdrücklich als (letzter möglicher) Akt des Geistes selbst gedeutet wird. Die Freudenempfindung ist nichts Irrationales, sondern als Rückgang in den Ursprung des Denkens die Spitze aller intellektuellen Fähigkeiten. Nach Cusanus kann dieser affektive apex theoriae (vgl. das gleichnamige Werk aus dem Todesjahr 1464) freilich nur erreicht werden, wenn man die aristotelische, an das Nichtwiderspruchsprinzip gebundene Logik zugunsten einer coincidentia oppositorum übersteigt. Aus dem Blick der späteren Werke erweist sich die Intention, die Freude als Spitzen- und Grunderfahrung des Denkens zu vermitteln, als verborgenes Movens für die Konzeption der neuen Koinzidenzlogik des Cusanus. De venatione sapientiae, Prol.: h. XII, nr. 1, lin. 18f. Zum Verständnis von Wissen und Weisheit bei Cusanus: Weisheit und Wissenschaft. Cusanus im Blick auf die Gegenwart (Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 20), Hg. Rudolf Haubst, Trier 1992.

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Nikolaus Cusanus als Denker der Freude

den Etymologiae des Isidor von Sevilla überliefert ist: Weisheit ist „schmackhaftes Wissen“. Die Metaphorisierung der Wahrheit als Speise für das geistige Leben findet ihren eigentlichen Sinn darin, dass durch den Genuss der Weisheit schließlich die Empfindung der Freude hervorgerufen wird: „Die Weisheit ist die schmackhafteste Speise, die im Sättigen den Wunsch, mehr zu nehmen, nicht mindert, so dass der Geist in der ewigen Speisung niemals aufhört, erfreut zu werden“. Weil die Freudenerfahrung das im Mittel des Denkens erreichte Ziel ist, wird das (nach Aristoteles naturgegebene) Streben des Menschen nach der Wahrheit von Cusanus ausdrücklich als ein Verlangen nach affektiver Erfüllung begriffen, nämlich als (in Vorahnung ihrer Bestimmung selbst schon freudigste) Sehnsucht: „Immer nämlich hält die Bewegung des Geistes in freudigster Sehnsucht an, um das zu berühren, dessen sie niemals überdrüssig wird, wenn sie vom Genuss berührt worden ist.“ Die traditionelle Identifikation Gottes mit der Wahrheit wird mit der Entdeckung der Weisheit als Freudenspeise des Geistes von Cusanus durch die Bestimmung Gottes als laetitia omnium gaudiorum übertroffen: Der als Wahrheit des Geistes gesuchte Gott erweist sich schließlich als nicht nur den Intellekt, sondern den ganzen Menschen mit all seinen ,Sinnen‘ erfüllende „Freude aller Genüsse, die mit den Augen, den Ohren, dem Geschmack, dem Tasten, dem Geruch, dem Sinn, dem Leben, der Bewegung, dem Verstand und der Vernunft aufge21

22

23

21

Idiota de sapientia I: h. 2V, nr. 10, lin. 7f. und nr. 12, lin. 15-17; vgl. ISIDOR VON SEVILLA, Etymologiarum sive originum libri XX, Hg. W.M. Lindsay, vol. I, Oxford 21962, lib. X, nr. 240. Die Einbettung des cusanischen Gedankens einer affektiven Bestimmtheit der

Wahrheit in die Tradition mystischer Literatur wird im Anmerkungsapparat der folgenden Übersetzungs-Edition ausführlich dokumentiert (bis hin zu Texten der Bach-Kantaten), allerdings ohne auf den philosophisch-systematischen Sinn dieser Betrachtungsweise einzu. Auf der Grundlage des Textes der gehen: NIKOLAUS VON KUES, kritischen Ausgabe neu übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen hg. von Renate Steiger (Schriften des Nikolaus von Kues in deutscher Übersetzung, Heft 1; Philosophische Bibliothek Meiner Bd. 411), Hamburg 1988. Idiota de sapientia I: h. 2V, nr. 18, lin. 12-14. Bereits in seiner Schrift Über die Gottessohnschaft hatte Cusanus festgestellt, dass der Intellekt am Ziel des geistigen „Aufstieges“ in der „Betrachtung des wahren, gerechten und freudvollen Lebens ruht“: „Es ist die Freude Gottes, die niemand nehmen kann, wenn wir begreifen, dass wir in einem geistigen Schmecken das unzerstörbare Leben berühren. Und das ist nämlich das höchste Erfreuen selbst, gleichsam wie wenn wir mit gesundestem Sinn die Nahrung des Lebens kosten, die wir hungrig erstreben“ (De filiatione dei 2: h. IV, nr. 61, lin. 6-24). Vgl. dazu BEIERWALTES, Werner, Deus est veritas. Zur Rezeption des griechischen WahrDer Laie über die Weisheit

22

23

heitsbegriffes in der frühchristlichen Theologie, in: Pietas. Festschrift für Bernhard Kötting. Jahrbuch für Antike und Christentum, Erg.-Bd. 8 (1980), S. 15-29.

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nommen werden, die unendliche Freude, göttlich und unaussprechlich, und das Ruheziel jeder Freude und jedes Genusses“.24

4. De visione dei: Die mystische Erfahrung der unendlichen Freude als Ziel des Denkens

Die Entstehung der mystischen Hauptschrift des Cusanus, De visione dei (Die Schau Gottes, 1453), verdankt sich der kontroversen Diskussion einer Frage, die das hier verhandelte Thema der ursprünglichen Bezogenheit des Denkens auf die affektive Erfahrung gleichsam vom anderen Ende her aufgreift. Im 15. Jahrhundert verschärfte sich die Auseinandersetzung um das Problem, ob die als Zielerfüllung des Menschen angesehene mystische Gottesschau als rein emotionales Ereignis unter ausdrücklicher Ausklammerung des intellektuellen Denkens oder als das Ergebnis einer vom Intellekt auf der Spitze seiner Fähigkeiten vollzogenen Selbsttranszendenz zu erreichen sei. Anknüpfungspunkt war die Frage nach dem richtigen Verständnis einer zentralen Aussage der größten Autorität der christlichen Mystik: Was genau meint Dionysius Areopagita, wenn er in seiner Mystica theologia den gottsuchenden Menschen auffordert, „nichtwissend zur mystischen Theologie aufzusteigen“ (ignote ascendere ad mysticam theologiam – griech.: agnostos anatatheti)? Die Benediktiner vom Kloster Tegernsee, 25

allen voran deren Prior Bernhard von Waging (1400–1472), baten nun Cusanus,

24

De quaerendo deum 1: h. IV, nr. 31, lin. 7-9. Vgl. zur Integration aller Sinne in die geistige Freudenempfindung: SCHNARR, Hermann, „Ibi est laetitia omnium gaudiorum, quae oculis,

auribus, gustu, tactu, odoratu, sensu hauriuntur.“ Zur Wertschätzung der sinnlichen Wahrnehmung bei Nikolaus von Kues, in: „Mit allen Sinnen.“ Kunst im REHA-Zentrum

25

Bernkastel-Kues, Bernkastel-Kues 1999, S. 20-27. PS.-DIONYSIUS AREOPAGITA, De mystica theologia

I, 1; ediert in: Corpus Dionysiacum Bd. 2 (Patristische Texte und Studien 36), Hg. Günter Heil und Adolf Martin Ritter, BerlinNew York 1991, S. 142, Z. 8. Vgl. NIKOLAUS VON KUES, Brief vom 14. September 1453 an den Abt und die Mönche von Tegernsee; ediert in: Autour de la docte ignorance. Une controverse sur la théologie mystique au XV siècle (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters XIV, 2-4), Hg. Edmond Vansteenberghe, Münster 1915, S. 113-117 (Nr.5), hier 113; deutsche Übersetzung in: OEHL, Wilhelm, Deutsche Mystikerbriefe des Mittelalters, München 1931, S. 551-555. Vgl. zur Kontroverse außer der bei NIKOLAUS VON KUES, e

Briefe und Dokumente zum Brixner Streit. Kontroverse um die Mystik und Anfänge in Brixen 1450-1455, Hg. Wilhelm Baum und Raimund Senoner, Wien 1998 angegebenen Literatur vor allem auch: HAAS, Alois Maria, Deum mistice videre ... in caligine coincidencie. Zum Verhältnis Nikolaus’ von Kues zur Mystik (24. Vorlesung der Aeneas-Silvius-Stiftung an der Universität Basel), Basel-Frankfurt/M. 1989. SENGER, Hans Gerhard, Mystik als Theorie bei Nikolaus von Kues, in: Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie,

Hg. Peter Koslowski, Zürich-München 1998, S. 111-134.

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305

der im Rahmen seiner Reformtätigkeit als Kardinallegat auch in eine enge spirituell-geistige Verbindung zu den Benediktinerklöstern im süddeutschen Raum gekommen war, um eine grundlegende Stellungnahme zu dieser für die Gestaltung des geistlichen Lebens zentralen Problematik. Seine bisherigen Überlegungen aufgreifend behandelt Cusanus diese Frage in De visione dei, indem er die mystische Erfahrung als jene Empfindung der absoluten Lebens-Freude bestimmt, in die hinein sich die philosophische Wahrheitserkenntnis selbst transzendiert. Die Freude, die zu suchen das Denken sehnsüchtig bewegt wird, entspringt der personalen Liebeszuwendung des christlichen Gottes, die in der mystischen Glaubenserfahrung gefunden wird: All dein [sc. Gottes] Bemühen ist mir zugewandt, wenn ich dich allein mit ganzer Aufmerksamkeit betrachte und meine Augen nie abwende, weil du mich in ständiger Schau umfängst, wenn ich meine Liebe allein auf dich richte, da du, der du die Liebe bist, allein mir zugewandt bist. Und was ist, Herr, mein Leben, wenn nicht jene Umarmung, in der die süße Freude deiner Liebe mich so liebevoll umschließt? Aufs höchste liebe ich mein Leben, da du die Süßigkeit meines Lebens bist. Ich betrachte nun in Spiegel, Bild und Gleichnis das ewige Leben, das nichts anderes ist als die selige Schau, in der du mich ohne Unterlass in voller Liebe bis ins Innerste meiner Seele anblickst. Und nichts anderes ist dein Sehen als Lebendigmachen, es ist nichts anderes, als deine süße Liebe ständig in mich einströmen zu lassen, und durch dieses Einströmenlassen der Liebe die Liebe zu dir zu entflammen und durch dieses Entflammen zu nähren; durch dieses Nähren meine Sehnsucht zu entzünden, im Entzünden mich mit dem Tau der Freude zu tränken und damit den Quell des Lebens mit einströmen zu lassen, und in diesem Einfließen zu vergrößern und ewig zu machen. […] Es ist der Ursprung aller Freuden, die wir ersehnen können, […] die absolute Erfüllung alles wesensmäßigen Verlangens, über die hinaus es keine größere geben kann.26

Die Erfüllung alles theoretischen Bemühens besteht darin, in ein glückhaftes emotionales Erleben einzumünden, denn „die Süßigkeit Gottes zu kosten, bedeutet, in erfahrungshafter Berührung die Wonne alles Ergötzlichen in ihrem Ursprung zu erfassen“. Die Tatsache, dass das Denken im Anblick der absoluten Freudenfülle seines göttlichen Ursprungs an die Grenze seiner Fassenskapazität gelangt, versteht Cusanus nicht als einen Anlass zu resignativer Stagnation, sondern vielmehr als unerschöpflichen Grund für immer neue Lebensbewegungen des Geistes. Nur weil der affektive Ursprung des Denkens nie begrifflich erfasst werden kann, kommt das Denken nie an ein Ende und kann sich daraus unendlich erneuern. Die Grunderfahrung der Freude erweist sich damit als unendlicher Lebensquell des Geistes. Als die absolute intellektbegründende Wahrheit ist Gott ein thesaurus inexplicabilis gaudiosissimae laetitiae, denn wie „weitaus größere Freude jemanden erfüllt, der einen Schatz findet, von dem 27

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26 27 28

4: h. VI, nr. 11, lin. 9 - nr. 12, lin. 16. 5: h. VI, nr. 13, lin. 5-7. De visione dei 5: h. VI, nr. 13, lin. 4. De visione dei De visione dei

306

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er weiß, dass er unzählbar und unendlich ist, als jemanden, der einen zählbaren und endlichen findet, so ist es auch umso erfreulicher, das honiggleiche Geschenk der unfassbaren Süßigkeit der Liebe Gottes zu kosten, je unendlicher sie erscheint“. Die vom Denken in der unmittelbaren Erfahrung seines Ursprungs erlebte Freude kann Cusanus also im Bewusstsein intensivieren, dass sie wegen ihrer Unendlichkeit niemals wird begriffen werden können. „Und so geschieht es, dass die Unzugänglichkeit oder Unbegreiflichkeit der Unendlichkeit seines Lebens das ihm ersehnteste Begreifen ist [...] und dies ist die freudenreichste Begreifbarkeit der Unbegreifbarkeit.“ 29

30

31

5. De aequalitate und De non aliud: Das Leben der Freude als Wesensursprung der Wahrheit

hat Cusanus erklärt, die intellektbegründende Wahrheit als Erfüllung der affektiven Sehnsucht erfahren wird, aber noch nicht, . Dies geschieht erst in einer grundlegenden Reflexion auf den Wesensursprung der Wahrheit, die Cusanus in seinen Spätschriften (Die Gleichheit, 1459) und (Das Nicht-Andere, 1462) vornimmt. In denkt Cusanus das Wesen der Wahrheit als absolute Gleichheit, die ihre Selbstübereinstimmung durch einen Akt zeitfrei beständiger Selbstreflexion hervorbringt. In Kontinuität zur Begriffsgeschichte der In Idiota de sapientia und De visione dei

dass

warum

De aequalita-

te

De non aliud

De aequalitate

32

29 30

31 32

aequalitas

33

16: h. VI, nr. 67, lin. 10-15; vgl. auch nr. 70, lin. 7-14. Vgl. 12: h. XII, nr. 33, lin. 5-11: „Der Geist freut sich daran, eine solche Nahrung zu besitzen, die sich vervollkommnet und niemals aufgezehrt werden kann, und zu sehen, dass er durch sie unsterblich und unaufhörlich genährt wird, glücklich leben und stets an Weisheit zunehmen, wachsen und sich in ihr vollenden kann. Ebenso freut sich der, welcher einen unbegrenzten und unzählbaren, unfassbaren und unerschöpflichen Schatz findet, mehr als jener, der einen begrenzbaren, zählbaren und fassbaren Schatz entdeckt.“ I: h. 2V, nr. 11, lin. 9-11 und 23. : h. X, 2/1, nr. 24, lin. 2-18. Die Sekundärliteratur zum Aequalitas-Gedanken ist im Editionsband h. X, 2/1, S. 76 verzeichnet; vgl. daraus v.a. die einzige monographische Darstellung: SCHWAETZER, Harald, Aequalitas. Erkenntnistheoretische und soziale De visione dei

De venatione sapientiae

Idiota de sapientia

De aequalitate

Implikationen eines christologischen Begriffs bei Nikolaus von Kues. Eine Studie zu seiner Schrift De aequalitate (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie 56), Hildesheim-Zürich-New York 2000; zum hier akzentuierten Aspekt: THURNER, Martin, Die Wahrheit als der Weg zum göttlichen Leben nach Nikolaus von Kues. Eine Studie anhand von ,De aequalitate‘, in: Herbst des Mittelalters? Fragen zur Bewertung des 14. und 15.

33

Jahrhunderts. 33. Kölner Mediävistentagung vom 10.-13. September 2002 (Miscellanea Maedievalia 31), Hg. Jan A. Aertsen, Berlin-New York 2004, S. 406-432.

Vgl. z.B. AUGUSTINUS, De doctrina christiana I, 5 (Corpus Christianorum Series Latina XXXII 9); THIERRY VON CHARTRES, Lectiones in Boethii librum De trinitate V, 16, Hg.

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Nikolaus Cusanus als Denker der Freude

identifiziert er diese die Wahrheit im absoluten Sinn konstituierende Selbstübereinstimmungsbewegung des absoluten Geistes mit der trinitarischen Wesenswirklichkeit des christlichen Gottes: „Die Gleichheit zeugt aus sich das Wort (generans verbum), welches ihre Gleichheit ist; aus diesen geht die Verbindung hervor (procedit nexus), die wiederum Gleichheit ist.“ Dabei handelt es sich keineswegs um eine dem philosophischen Gedanken äußerlich bleibende theologische Adaption, sondern vielmehr um eine tiefreichende Einsicht in den Wesensursprung der theoretischen Wahrheit selbst. Indem Cusanus die absolute Selbstreflexion mit dem (biblisch von Gott geoffenbarten) Vollzug der ewigen Zeugung gleichsetzt, kann er entdecken, dass die intellektuelle Wahrheit ihrerseits selbst in einem affektiv-emotionalen Akt begründet ist. Vermittelt über den ebenfalls biblisch inspirierten Gedanken einer „göttlichen Fruchtbarkeit“ denkt Cusanus in De non aliud die affektiv empfundene Freude und Lust der ewigen Zeugung als inneren Beweg-Grund für den Hervorgang der absoluten Selbstidentität der Wahrheit, die sich in der trinitarisch-tautologischen Selbst-Gleichheit des non aliud est non aliud quam non aliud selbst definiert. Durch die spekulative Identifikation der absoluten Wahrheit der Philosophie mit dem trinitarischen Gott des christlichen Glaubens kann Cusanus also zur Einsicht gelangen, dass die Empfindung der Freude deshalb Ursprungsgrund und Sehnsuchtsziel des Denkens ist, weil die theoretische Wahrheit ihrerseits in einem affektiven Vollzug begründet ist, der absolut und damit von höchster Intensität ist. Wenn der Mensch denkend die Wahrheit sucht, gewinnt er Anteil an der absoluten Freudenfülle des dreieinigen Gottes: 34

35

36

Nikolaus M. Haring, in: Archives d’Histoire Doctrinale et Littéraire du Moyen Age 33

aequalitas in der cusanischen TrinitätsTrinität als Grund-Erfahrung des Menschen nach

(1958), S. 124-225, hier 215. Zur Bedeutung der spekulation vgl. auch: T

Nikolaus von Kues,

HURNER,

in:

Martin,

Münchener

Theologische

Zeitschrift 47 (1996),

S. 345-363,

insbes. 352.

34 35

36

De aequalitate: h. X, 2/1, nr. 24, lin. 18-20. De non aliud 5: h. XIII, p. 12, lin. 31. Zu den

Implikationen des non aliud als Kurzformel der cusanischen Spekulation im Sinne (s)einer theologia brevis et facilis: THURNER, Martin, Gott als das offenbare Geheimnis nach Nikolaus von Kues (Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes, Neue Folge 45), Berlin 2001, S. 459-484; zur Begründung des non aliud in der Affektivität des göttlichen Freudenlebens ebd. S. 478-480. Zur absoluta foecunditas auch De aequalitate: h. X, 2/1, nr. 8, lin. 4-25 und Cribratio Alkorani II, 5: h. VIII, nr. 99 nr. 108. Wenn die Erkenntnis der Wahrheit der Weg zur Erfahrung des Liebes-Lebens der göttlichen Freude ist, so ist es konsequent, wenn Cusanus in seiner Beschreibung des gaudium altissimum intellectuale (vgl. De filiatione dei 3: h. IV, nr. 64, lin. 2-12) davon spricht, dass die Wahrheit nicht nur begriffen, erkannt, gedacht, sondern in einem höheren affektiven Sinn erfahren wird: „Cum autem omne nostrum studium in hoc ferventissimum sit, ut veri notitiam in nobis ipsis experiamur“ (De coniecturis II, Prologus: h. III, nr. 70, lin. 8-

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Die Einheit, die von Gott ausgesagt wird, ist keine mathematische, sondern die wahre und lebendige, alles einfaltende. Und auch die Dreiheit ist nicht eine mathematisch gedachte, sondern auf lebendige Weise wechselbezüglich. Dreieinheitlich nämlich ist das Leben, ohne das es keine ewige Freude und höchste Vollkommenheit gibt. Daher gehört es zum Wesen des vollkommensten Lebens, dass es auf vollkommenste Weise dreieinig ist, so dass das Lebenkönnen in dem Maße allmächtig ist, dass es aus sich Leben seinesgleichen zeugt. Und aus diesen beiden geht der Geist der Liebe und die ewige Freude hervor.37

Mit seiner Entdeckung des göttlichen Freuden-Lebens als absoluter Ursprung der intellektbegründenden Wahrheit kann Cusanus schließlich auch zu den inneren Wesensbestimmungen der Freudenempfindung selbst vorstoßen. In seinen Werken bis zu De aequalitate und De non aliud spricht Cusanus zwar viel über die Freude und kostet den unerschöpflichen Reichtum von deren Erfahrung(smöglichkeiten) aus, definiert sie aber niemals begrifflich. Das geschieht zwar auch nicht in den beiden genannten Spätschriften, die aber dennoch einen Ansatz zu einer Wesensbeschreibung der Freude beinhalten. Wenn Cusanus hier die Freudenempfindung mit dem trinitarischen Liebes-Leben Gottes identifiziert, so gelten jene begrifflichen Bestimmungen, mit denen er im Laufe seines Denkens die Trinität umschreibt, auch für diese affektive Grunderfahrung der Philosophie. Bereits in De docta ignorantia fasste Cusanus die Trinität als principium sine principio, als Ursprung ohne Ursprung, als grundlosen Grund. Wenn nun das trinitarische Leben Gottes aus der Freudenempfindung der absoluten Zeugung hervorgeht, so folgt daraus, dass das Wesen der Freude gerade in dieser Grundlosigkeit besteht. Die Freude erweist sich darin als die grundlos-affektive Bejahung des Seins-Lebens um seiner selbst willen. 38

37 38

10). Die vollendete Wahrheitserkenntnis des Intellekts koinzidiert mit der höchstmöglichen Fülle eines affektiven „Genießens“, in welcher der Mensch die emotional-intellektuelle ultima vitalis felicitas intellectus erreicht (De filiatione dei 3: h. IV, nr. 62, lin. 8-10). Besonders in seinen Predigten bezieht Cusanus diese Gedanken als Schriftauslegung auf zentrale Aussagen des Johannes-Evangeliums zurück, die sich somit als deren biblische Quelle erweisen (vgl. Joh 1,4 und 14,6): „Achte darauf, dass jener Weg, der das Leben ist, auch die Wahrheit ist. Denn der lebendige Pilger ist der Vernunftgeist, der in seiner Bewegung ein lebendiges Erfreuen hat“ (Sermo 216: h. XIX, nr. 10, lin. 1-4). De possest: h. XI/2, nr. 50, lin. 4-12. De docta ignorantia I, 10: h. I, p. 21, lin. 7 (nr. 29). Zu diesem (Un-)Grundgedanken als Zentrum der cusanischen Trinitätsspekulation: THURNER, Martin, Trinität als GrundErfahrung des Menschen nach Nikolaus von Kues, in: Münchener Theologische Zeitschrift 47 (1996), S. 345-363.

Nikolaus Cusanus als Denker der Freude

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Letzter Gedanke: Die Erfüllung der Freude – Denken als Spiel (De ludo globi)

Die bisherigen Ausführungen verfolgten das Anliegen, inspiriert von der rückblickenden Selbstinterpretation in , das Motiv der Freude im Denkweg des Cusanus als verborgenen Beweggrund seines Philosophierens aufzudecken. Dabei zeigte sich, dass dem Autor selbst im Laufe seiner schriftstellerischen Tätigkeit diese Ursprungsbedeutung der Freudenempfindung zunehmend reicher erfahrbar, heller bewusst und stringenter begründbar wurde. In der kurzen Zeitspanne zwischen der Abfassung von und seinem Tod 1464 war es Cusanus nochmals vergönnt, die Freudenbestimmtheit seines Denkens ausgiebig zu verkosten und vollendet zur Darstellung zu bringen. In seiner Schrift (Das Globusspiel, 1462/63) begreift er die affektiv empfundene Freude des Spieles definitiv als Grunderfahrung und Sinnziel der intellektuellen Wahrheitssuche. Referenzpunkt des Gedankenganges ist die Erfindung und Beschreibung eines konkreten Spieles, dessen Regeln die folgenden sind: Ein spielender Mensch muss es versuchen, eine leicht eingedellte und darum spiralförmig rollende Kugel dem Mittelpunkt eines Spielfeldes möglichst nahezubringen, das aus zehn konzentrischen Kreisen besteht. Das Globusspiel lässt sich leicht als aenigmatische Selbstvermittlung des geistigen Prozesses menschlicher Intellektualität deuten: Der unsichtbare und unerreichbare Mittelpunkt steht für die Unendlichkeit Gottes. Die Kugelwürfe stellen die Versuche des menschlichen Geistes dar, den unendlichen Gott zu erreichen. Der Ort auf dem Spielfeld, wo die Kugel zum Stehen kommt, stellt den jeweils der individuell unterschiedlich begrenzten menschlichen Fassenskapazität entsprechenden Grad der Einschränkung der Unendlichkeit Gottes dar, durch den eine jeweils neue Welt(sicht) entsteht. De venatione sapientiae

De venatione sapientiae

De ludo globi

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De ludo globi I: h. IX, nr. 4, lin. 1-12 und nr. 50, lin. 6-11. Für eine ausführlichere Interpretation des Globusspiel-Aenigmas: THURNER, Martin, Theologische Unendlichkeitsspeku-

lation als endlicher Weltentwurf. Der menschliche Selbstvollzug im Aenigma des Globusspiels bei Nikolaus von Kues, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-

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Gesellschaft 26 (2001), S. 81-128; Literatur zu dieser Schrift ist angegeben im Anhang der kritischen Edition h. IX, S. 204-207; außerdem zum Vergleich mit Jacob Böhmes und Nietzsches ebenso die affektiven Dimensionen betonender Philosophie des Spieles: THURNER, Martin, „Die Welt ein Spiel“ – Nietzsches Provokation und die christliche Antwort (Cusanus, Jacob Böhme), in: Edith-Stein-Jahrbuch 7 (2001), S. 192-210 (Teil 1) und Edith-Stein-Jahrbuch 9 (2003), S. 177-197 (Teil 2). De ludo globi II: h. IX, nr. 103, lin. 12-20. De ludo globi I: h. IX, nr. 32, lin. 5-7. De ludo globi I: h. IX, nr. 4, lin. 12-14; nr. 51, lin. 8-11; nr. 42, lin. 15-21.

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Martin Thurner

Als tiefster Grund für die Wahl des Spielaenigmas zur Versinnbildlichung des Denkens erweist sich die bei seinem Vollzug empfundene Freude, denn vom Globusspiel ist zuerst zu sagen, dass es „gerne gespielt wird“. Wie vom Spiel so gilt auch beim Denken, dass es demjenigen umso mehr Freude bereitet, der darin „virtuos“ geübt ist und für den so auch das Schwierige immer leichter wird. Der im Denk-Spiel empfundene „Zusammenfall des Erfreuens mit der Schwierigkeit“ ergibt sich daraus, dass „keine leichtere Schwierigkeit denkbar ist, als die göttlichen Dinge zu spekulieren“. Nach einem Leben voller experientia in der dulcis speculatio kann Cusanus seine Denk-Freude schließlich zur Leichtigkeit des Spieles steigern, denn „wer in diesen theologischen Spekulationen zu wenig versiert ist, hält das für äußerst schwierig, aber mir scheint nichts leichter und erfreulicher zu sein“. Bezeichnenderweise erfährt das Motiv der Freude am Denken in den Spätschriften des Cusanus eine Intensivierung, denn je tiefer Cusanus im Laufe seines Lebens in das Wesen der intellektbegründenden Wahrheit vordringt, desto intensiver kann er deren Freuden-Leben empfinden. Weil das Denken der Wahrheit in den Ursprung der Lebensfreude zurückführt, fühlt sich der alte Cusanus beim Philosophieren wieder jung: „Du erweist dich darin als unermüdlich auch in deinem zunehmenden Alter, und wenn du davon getrieben über die Wahrheit selbst sprichst, scheinst du zu verjüngen.“ Und noch in seiner letzten, im Todesjahr 1464 verfassten Schrift De apice theoriae (Die höchste Spitze der Betrachtung) lässt sich Cusanus von seinem Sekretär und Gesprächspartner „frohgemut antreffen, als hätte er in seinen österlichen Meditationen irgendetwas Großartiges entdeckt“, worauf ihn Cusanus wissen lässt, dass er sich „mit dieser Theorie während der Festtage mit überaus großer Freude beschäftigt habe“. Die in intensiven Meditationen zeitlebens immer mehr erfasste Bedeutung der Freude als ursprünglicher Grunderfahrung und Zielbestimmung des Denkens kulminiert schließlich in der Entdeckung, dass sich die freudige Leichtigkeit gerade nicht, 43

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Vgl.

I: h. IX, nr. 50, lin. 4. I: h. IX, nr. 54, lin. 3. II: h. 2V, nr. 28, lin. 10f. II: h. IX, nr. 110, lin. 18. II: h. 2V, nr. 39, lin. 3-5. Die Zunahme des Freude-Motivs in den Schriften der Reifezeit des Cusanus steht in auffallendem Kontrast zum Scheitern seiner kirchenpolitischen Ideen und Aktivitäten, das Cusanus in den letzten Jahren seines Lebens hinnehmen musste. Darin zeigt sich, dass die im Denken geschenkte Freude eine ungetrübte und sogar gesteigerte Positivität auch in widrigen Lebensumständen vermitteln kann. Zur Biographie des Cusanus in der Spätphase vgl. MEUTHEN, Erich, Die letzten Jahre des Nikolaus von Kues. Biographische Untersuchungen De ludo globi

De ludo globi

Idiota de sapientia

De ludo globi

Idiota de sapientia

nach neuen Quellen (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 3), Köln-Opladen 1958. De non aliud 1: h. XIII, p. 3, lin. 17-19. De apice theoriae: h. XII, nr. 1, lin. 8 - nr. 2, lin. 2 und nr. 4, lin. 12f.

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Nikolaus Cusanus als Denker der Freude

wie man oberflächlich meinen könnte, als Gegensatz zum Ernst der Philosophie erweist, sondern als die eigentliche Tiefendimension des Denkens: „Bedenke diese Dinge (meditari in istis) mit Sorgfalt und Beharrlichkeit. Wenn dein Geist dann tief eingedrungen ist, wird dir das, was für viele schwierig ist, offenbar werden mit dem Genuss geistiger Freude, die alle sinnliche Lieblichkeit unvergleichlich überragt.“ Ebenso wie das göttliche Leben seine Freude grundlos mitteilt, so ist es auch das Bedürfnis des Cusanus, seine Mitmenschen an der Freude seines Denkens teilhaben zu lassen. Den jungen Gesprächspartner, den er im Globusspieldialog in die Philosophie einführen will, lässt er am Ende eines längeren Gedankenganges sagen: „Nun beginne ich, dieses köstlichste Wissen zu schmecken.“ Einführung in die Philosophie wird so zur Entdeckung der Freude. In den freudigen Kugelwürfen des Globusspiels, die in je individueller Differenz zum unendlich unerreichbaren Mittelpunkt zum Stehen kommen, stellt Cusanus jene Erfahrung der Freude dar, die er in seinen vielen spekulativen Gedankengängen im Laufe seines Lebens als unerschöpfliche Speise des Geistes genießen konnte. Wenn sich die Philosophie als Spiel erfährt, begreift und darstellt, ist die Freude vollendet als Grunderfahrung des Denkens erwiesen. 51

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De coniecturis I, 6: h. III, nr. 26, lin. 2-6. De ludo globi II: h. IX, nr. 67, lin. 28.

Personenindex

Quellen

Adelard, von Bath 145 Albertus Magnus 6, 8, 208-224 Alexander von Hales 186 Al-Ghazali 218 Alkibiades 28 Anaximander 7 Anselm v. Canterburry 76, 142, 247, 257 Antiochos von Askalon 14 Apuleius 174 Ardens, Radulfus 5, 11, 135-164 Aristoteles 14, 32-35, 41, 47, 56, 64, 66, 68-72, 79, 165-166, 190, 199, 213, 217, 219, 228-229, 240, 242243, 248, 250, 252, 256, 262-263, 265-272, 275-277, 288, 294-295, 297, 299 Augustinus 5, 8, 13–30, 58, 71, 7475, 81, 86, 94, 123, 171-172, 174, 185, 198, 261-263, 266, 269-270, 306 (Pseudo-)Augustinus 211 Aulus Gellius 16 Averroes 214-216 Avicenna 208-209, 211, 214, 217, 219, 221-223 Benedikt, von Nursia 124

Bernhard, von Chartres 141 Bernhard, von Clairvaux 5, 8, 73, 92-133, 169, 197 Bernhard von Waging 304 Berthold von Regensburg 169 Böhme, Jacob 309 Boethius 79, 188 Bonaventura 6, 8, 169, 172-174, 185-195, 228 Bruno, Giordano 300 Burgundius von Pisa 209 Chrysipp 16 Cicero 14, 21–22, 26, 65, 67, 94, 137-138, 159, 167, 261, 266 Clemens von Alexandrien 167 David von Augsburg 6, 8, 165-183 Descartes, René 297 Diares 219 Diogenes Laertios 300 Dionysius (Pseudo-)Areopagita 5, 11, 31-51, 54, 58, 61, 167, 265, 304 Dominicus Gundissalinus 217 Eckhart (Meister) 6, 11, 200-204, 261-274, 299

314 Epiktet 16 Epikur 14, 65-68, 71 Erasmus von Rotterdam 271 Evagrius Ponticus 167-168, 180 Ezechiel 187 Ficino, Marsilio 300 Franziskus von Assisi 186 Freud, Sigmund 206, 231, 241 Fromm, Erich 231, 241 Gerhard von Clairvaux 92-93 Gilbert, von Poitiers 141 Gregor der Große 168-170 Hazzaya, Jausep 170 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 165 Heidegger, Martin 17, 25, 298, 300 Hieronymus 187 Hildegard von Bingen 109 Hiob 168 Homer 32 Hugo von St. Victor 140, 173 Humbert von Clairvaux 95 Isaak von Stella 211 Isaak von Ninive 170 Isidor von Sevilla 145, 303 Johannes (Evangelist) 41, 99 Johannes von Apameia 170 Johannes von Damaskus 5, 8, 53-72, 190, 208-210 Johannes Cassian 167-168 Johannes Chrysostomos 270 Johannes Duns Scotus 6, 11, 74, 185, 245-260, 263 Johannes Scotus Eriugena 56 Julian von Eclanum 28 Kant, Immanuel 269

Personenindex

Laktanz 169 Leontios von Byzanz 56 Macrobius 137 Maria (Mutter Jesu) 96 Matthäus (Evangelist) 122, 131, 166-167 Maximus Confessor 54, 56-58, 6869,71 Mechthild von Magdeburg 6, 8, 197-206 Mencius 235 Monica (Mutter des Augustinus) 2527 Nemesius von Emesa 56-57, 62, 65, 69-72, 208-210 Nietzsche, Friedrich 309 Nikolaus von Kues 6, 8, 297-311 Patricius (Vater des Augustinus) 23 Paulus (Apostel) 78, 82, 105, 227 Peter Abaelard 5, 11, 73-90, 139 Petrus, Lombardus 140, 142 Platon 7, 14, 20, 24, 28, 32, 34-36, 44-45, 57, 66, 72, 101, 138-139, 166-167, 190, 266, 297-299 Plotin 38, 58, 72 Porphyrius 79 Proklos 63 Raymundus Lullus 300 Richard von St. Victor 170 Sartre, Jean-Paul 298 Scaramelli, Giovanni 169 Seneca 16 Sokrates 74 Stoa 14-19, 68, 101, 166, 221, 224, 266 Suárez, Francisco 60

315

Personenindex

Thierry von Chartres 139, 306 Thomas von Aquin 6, 8, 56-57, 6265, 70, 161-162, 167, 190, 208, 225244, 245, 260, 265, 268, 270, 275 Torquatus 67 Traversari, Ambrogio 300 Ulpian 238

Weber, Max 198 Wilhelm, von Conches 137-139, 146 Wilhelm, von Doncaster 138 Wilhelm von Ockham 6, 8, 275-295 Wilhelm von St. Thierry 95, 97, 146, 170, 197 Wittgenstein, Ludwig 13

Varro 14

Xenophon 23-24

Walther von der Vogelweide 205

Zenon 16, 56

Sekundärliteratur

Abbà, Giuseppe 227 Adelmann, J. Frederick 53, 55 Albert von Sachsen 249 Annas, Julia 221 Anzulewicz, Henryk 217 Auerbach, Erich 78, 246 Beierwaltes, Werner 303 Benson, L. Robert 138 Bernard, Charles-André 45 Blomme, Robert 75, 87 Bodei, Remo 80 Bombassaro, Luis Carlos 300 Borgnet, August 211-212 Bosel, Karl 137 Bougerol 186 Boulnois, Olivier 245 Brachtendorf, Johannes 5, 13-30, 74 Brons, Bernhard 42 Büchner, Karl 187-188 Bühl, Walter L. 198-199 Bunge, Gabriel 167 Castellote Cubells, Salvador 60 Chenu, Marie-Dominique 139 Colish, Marcia L. 17

Constable, Giles 138 De Andia, Ysabel 41, 44-45, 48-51 De Gandillac, Maurice 137 Delhaye, Philippe 137-139 Dillon, John 43 Dobler, Emil 45–46, 56-57, 62-65, 69-70 Dörrie, Heinrich 45, 48-49 Dombart, Bernhard 14 Dreyer, Elisabeth Ann 174 Drost, Mark P. 231 Durantel, Jean 265 Ernst, Stephan 5, 73, 87, 135-164 Flasch, Kurt 267, 299 Frankfurt, Harry 54 Frede, Michael 53, 58-59 Fuchs, Marko J. 6, 245-260 Fuchs, Oswald 276 García Fernandez, Mariano 247 Gauthier, Antoine René 56 Gephart, Irmgard 205 Geyer, Bernhard 79, 136

316 Gill, Christopher 89 Gilson, Étienne 93 Grabmann, Martin 13 Gründel, Johannes 136, 145-146, 151, 157 Haas, Alois Maria 167, 304 Hadot, Pierre 66, 72 Häring, M. Nikolaus 139, 307 Haskins, H. Charles 137 Hasse, Dag Nikolaus 217 Heil, Günter 31, 37-43, 46 Hengelbrock, Jürgen 80, 95 Hirvonen, Vesa 276 Hiß, Wilhelm 93 Höffe, Ottfried 64 Hoffmann, Tobias 53 Holmberg, John 137-138 Holmes, T. Urban 137 Honnefelder, Ludger 256 Horst, Ulrich 167 Ierodiakonuo, Katerina 54 Jacobi, Klaus 79 Jeauneau, Eduard 137 Jehl, Rainer 6, 185-195 Kalb, Alfons 14 Kavanagh, Catherine 56 King, Peter 79, 81, 251 Klinger, Karl 187-188 Klitsch, Ingo 73 Knuuttila, Simo 76, 208, 210, 245 Koch, Hugo 44 Köpf, Ulrich 5, 92-133 Korff, Wilhelm 235 Kotter, Bonifatius 53, 56, 68-69 Kötting, Bernhard 303 Laarmann, Matthias 263 Lanz, Jakob 165-166, 262

Personenindex

Leclercq, Jean 92-93 LeGoff, Jacques 137 Leff, Gordon 276 Lehmann, Susann 5, 73-90 Leibold, Gerhard 6, 275-295 Lerch, Eugen 246, Lottin, D. Odon 86, 141 Louth, Andrew 31, 49-50, 53 Luscombe, D.E. 77, 82-87, 89-90 Mannsperger, Brigitte 55 Mannsperger, Dietrich 55 Marenbon, John 74, 80, 83-84, 87, 89 McLaughlin, T.P. 89 Meier, Matthias 229 Meuthen, Erich 310 Michaud-Quantin, Pierre 151, 208 Michon, Cyril 224 Mirkes, Renée 235 Möhle, Hannes 254, 256 Moncho, José Rafael 210 Morin, Patrick 79 Muckle, Joseph 88 Müller, Jörn 53, 74, 83 Nothdurft, Klaus-Dieter 137 Oehl, Wilhelm 304 Orlandi, Giovanni 74, 80 Opsomer, Jan 63 Otto, Stephan 56 Peppermüller, Rolf 75-76, 78, 82-84 Perkams, Matthias 53, 63, 74, 77 Perl, Eric David 36 Perler, Dominik 245-247 Perreiah, Alan R. 245 Pesch, Otto Hermann 235 Pfürtner, Stephan H. 229 Piccione, Rosa Maria 63 Pieper, Josef 241

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Personenindex

Pinto de Oliveira, Carlos-Josaphat 239 Pontikos, Evagrios 167-168 Porter, Jean 237-238 Recktenwald, Engelbert 142 Rhonheimer, Martin 237 Ricken, Friedo 64 Ricklin, Thomas 79 Ritter, Adolf Martin 31, 40-42, 48 Rolfe, John C. 16 Roques, René 35, 45, 49 Rüsenberg, Irmgard 6, 197-206 Ruh, Kurt 169 Saarinen, Risto 76, 87 Sabersky, Dorette 92, 132 Schäfer, Christian 5, 35, 40, 53-72 Schenk, Richard 267 Schlosser, Marianne 6, 165-183 Schnarr, Hermann 303-304 Schockenhoff, Eberhard 6, 225-244 Schönberger, Rolf 6, 261-274 Schöpflin, Karin 33 Schroeter-Reinhard, Alexander 87 Schwaetzer, Harald 306 Seelhorst, Jörg 202 Semmelroth, Otto 45 Senger, Hans Gerhard 304 Siano, Frank de 80 Silverstein, Theodore 137 Simmel, Georg 201 Sirovic, Franz 185 Sloterdijk, Peter 7–8 Solignac, Aimé 165-167, 170 Sousa-Lara, Duarte 57 Southern, W. Richard 137-138 Spaemann, Robert 267 Stadler, Helena 202 Standaert, Maur 123 Steiger, Renate 303 Stock, Wiebke-Marie 5, 31-51

Straume-Zimmermann, Laila 28 Strub, Christian 79 Suchla, Beate Regina 31-43, 48-49 Talbot, Charles H. 138 Tarabochia Canavero, Alessandra 300 Tellkamp, Jörg Alejandro 6, 208224 Thimme, Wilhelm 14, 22 Thurner, Martin 6, 7–9, 297-311 Torrell, Jean-Pierre 238-239 Utz, Arthur F. 237 Van den Eynde, Damian 135 Vecchio, Silvana 208 Verbeke, Gérard 210 Wear, Sarah 43 Weijers, Olga 138 Wieland, Georg 137 Williams, R. John 137 Wolf, Ursula 240