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German Pages 326 [319] Year 2011
Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik
Historische Dialogforschung Band 1 Herausgegeben von Nine Miedema, Angela Schrott und Monika Unzeitig
Monika Unzeitig, Nine Miedema, Franz Hundsnurscher (Hg.)
Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik Komparatistische Perspektiven
Akademie Verlag
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Einbandgestaltung: hauser lacour, unter Verwendung der Abbildung: Heinrich von Veldeke, Eneasroman Abb. fol. 69r © Dr. Ludwig Reichert Verlag, Wiesbaden Druck: MB Medienhaus Berlin Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN
978-3-05-005110-9
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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IX
Monika Unzeitig, Nine Miedema und Franz Hundsnurscher Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Linguistische Analyseansätze Franz Hundsnurscher Diachrone Dialog-Analyse: Bekehrungsgespräche Überlegungen am Beispiel der Faustinian-Geschichte in der Kaiserchronik . . . .
17
Dagmar Neuendorff und Mia Raitaniemi Über die Schwierigkeiten, sich zu streiten Dialoganalyse einer Streitszene aus dem Nibelungenlied und dem Kalevala . . . .
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II. Kompetitive Dialoge in komparatistischer Sicht Martin H. Jones Zum Gebrauch der Figurenrede in drei Versionen des Karl-Roland-Stoffes Die Chanson de Roland, das Rolandslied des Pfaffen Konrad und Karl der Große des Strickers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
Ricarda Bauschke „stingender hunt, bosiz as“ Die Redeszenen in Wolframs Willehalm und Herborts Liet von Troye im Spannungsfeld von Vorlagentransformation und Kriegsmodellierung . . . . .
85
John Greenfield Die Dialogstruktur in Aliscans und in Wolframs Willehalm Beobachtungen zur Aérofle / Arofel-Szene . . . . . . . . . . . . . . .
105
VI Sandra Linden Im Dialog mit dem Aggressor Mediation als ritterliches Handlungsideal?
Inhaltsverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . . .
117
III. Gesprächskulturen in komparatistischer Sicht: Latein und Volkssprachen Nikolaus Henkel Dialoggestaltung in deutschen und französischen Romanen des 12. Jahrhunderts Das Modell der Dramen des Terenz und Seneca . . . . . . . . . . . . . .
139
Nine Miedema Die Redeszenen in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
165
Angela Schrott Von der Lebendigkeit der Heiligenleben Traditionen der Dialoggestaltung bei Gonzalo de Berceo
193
. . . . . . . . . .
IV. Gesprächskulturen in komparatistischer Sicht: Volkssprachen Gert Hübner wol gespr#chiu zunge Meisterredner in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur . . . . . . .
215
Katharina Mertens Fleury Dimensionen machtvoller Worte Zur Gestaltung von Umbruchsituationen in der deutschen Artus- und Gralsepik und in ihren französischen Vorlagen . . . . . . . . . . . . . .
235
Monika Unzeitig Die Kunst des ironischen Sprechens Zu den Keie-Szenen in Chrétiens Yvain und Hartmanns Iwein . . . . . . . . .
255
Annette Volfing si sprach hin zim en franzoys: / ob ichz iu tiuschen sagen sol, / mir tuont ir m#re niht ze wol Zur Betonung sprachlicher Differenz in den Dialogen des mittelhochdeutschen höfischen Romans . . . . . . . . . . . . . . . .
273
Inhaltsverzeichnis
VII
Rita Schlusemann Scone tael Zur Wirkmacht der Rede männlicher und weiblicher Figuren in deutschen und niederländischen Reynaert-Epen . . . . . . . . . . . . . . . . .
293
Personen, Werk- und Sachregister
311
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vorwort
Mit diesem Band wird die Reihe „Historische Dialogforschung“ beim Akademie-Verlag eröffnet. Die noch junge Disziplin der Historischen Dialogforschung untersucht die Redeszenen in historischen (fiktionalen und nicht-fiktionalen) Texten; Gegenstand sind Formen und Funktionen mündlicher Kommunikation übertragen in das Medium der Schriftlichkeit. Das Forschungsgebiet steht damit an der Schnittstelle von Sprach-, Kommunikations- und Literaturwissenschaft. Die neue Reihe zur Historischen Dialogforschung zielt auf dieses interdisziplinäre Profil, das auch dezidiert komparatistische Problemstellungen zulässt. Das durch sie abgebildete historische Forschungsinteresse ist über den Schwerpunkt Mittelalter und Frühe Neuzeit hinausführend angelegt. Über die Entstehungsgeschichte der Reihe informiert die Einleitung im vorliegenden Band; an dieser Stelle ist dem Akademie-Verlag, insbesondere Herrn Prof. Dr. Heiko Hartmann, für seine Unterstützung bei der Gründung der Reihe unser herzlichster Dank zu sagen. Es sei außerdem Frau Dr. Katja Leuchtenberger für die redaktionelle Betreuung der Reihe seitens des Verlages gedankt.
Nine Miedema / Angela Schrott / Monika Unzeitig Essen / Kassel / Greifswald, im März 2011.
Monika Unzeitig, Nine Miedema und Franz Hundsnurscher
Einleitung
I. Zum Gegenstand: Redeszenen Die historische Dialogforschung widmet sich der Untersuchung von Redeszenen in historischen Texten, d.h. der in das Medium der Schriftlichkeit übertragenen mündlichen Kommunikation.1 Obwohl der Ansatz, der fingierten mündlichen Rede der Figuren in mittelalterlichen Erzähltexten besondere Aufmerksamkeit zu schenken, nicht grundsätzlich neu ist,2
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Vgl. zusammenfassend aus linguistischer Sicht: Jörg Kilian, Historische Dialogforschung. Eine Einführung, Tübingen 2005 (Germanistische Arbeitshefte 41). Siehe außerdem Helmut Rehbock, „Ansätze und Möglichkeiten einer historischen Gesprächsforschung“, in: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung / Linguistics of Text and Conversation. An International Handbook of Contemporary Research, hg. von Klaus Brinker u.a., Berlin/New York 2001 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 16.2), S. 961–970. Anja Becker, Poetik der wehselrede. Dialogszenen in der mittelhochdeutschen Epik um 1200, Frankfurt a.M. u.a. 2009 (Mikrokosmos 79), stellt aus literaturwissenschaftlicher Perspektive unterschiedliche methodische Ansätze zur Analyse mittelalterlicher Redeszenen dar (siehe unten, S. 7f.). Bereits Werner Schwartzkopff, Rede und Redeszene in der deutschen Erzählung bis Wolfram von Eschenbach, Berlin 1909, Nachdruck New York/London 1970 (Palaestra 74), versuchte eine übergreifende Untersuchung der (bei ihm eher linear gedachten) Entwicklungen der Techniken der literarischen Darstellung gesprochener Sprache. Siehe außerdem Wolfgang Schulte, ‘Epischer Dialog’. Untersuchungen zur Gesprächstechnik in frühmittelhochdeutscher Epik (Alexanderlied – Kaiserchronik – Rolandslied – König Rother), Bonn 1970. Vgl. zu einzelnen Texten des Mittelalters außerdem Helmut Peetz, Der Monolog bei Hartmann von Aue. Mit einem Anhang: Der Monolog bei Ulrich von Zatzikhoven und Wirnt von Gravenberg, Diss. Greifswald 1911; Friedhilde Göppert, Die Rolle der Reden im Nibelungenlied, Diss. Marburg 1944; Dieter Strauss, Redegattungen und Redearten im Rolandslied sowie in der Chanson de Roland und in Strickers Karl. Studien zur Arbeitsweise mittelalterlicher Dichter, Göppingen 1972 (GAG 64); Peter Wiehl, Die Redeszene als episches Strukturelement in den Erec- und Iwein-Dichtungen Hartmanns von Aue und Chrestiens de Troyes, München 1974 (Bochumer Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft 10); Herta Zutt, König Artus, Iwein, der Löwe. Die Bedeutung des gesprochenen Wortes in Hartmanns Iwein, Tübingen 1979 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 23); Jane Emberson, Speech in the Eneide of Heinrich von Veldeke, Göppingen 1981 (GAG 319).
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Monika Unzeitig, Nine Miedema und Franz Hundsnurscher
erweist sich dieses Forschungsgebiet gerade im letzten Jahrzehnt als fruchtbar.3 In ihrer methodischen Ausrichtung ist die historische Dialogforschung interdisziplinär: Sie ist sprach-, kommunikations-, literatur- und kulturwissenschaftlich orientiert und bezieht sich ebenso auf dichterische Werke wie auch auf das breite Spektrum von Sachtexten.4 3
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Genannt seien hier nur die wichtigsten Monographien und Sammelbände: Franziska Wenzel, Situationen höfischer Kommunikation. Studien zu Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens, Frankfurt a.M. u.a. 2000 (Mikrokosmos 57); Joseph M. Sullivan, Counsel in Middle High German Arthurian Romance, Göppingen 2001 (GAG 690); Andreas Urscheler, Kommunikation in Wolframs ‘Parzival’. Eine Untersuchung zu Form und Funktion der Dialoge, Frankfurt a.M. u.a. 2002 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 38); Sandra Linden, Kundschafter der Kommunikation. Modelle höfischer Kommunikation im Frauendienst Ulrichs von Lichtenstein, Tübingen u.a. 2004 (Bibliotheca Germanica 49); Günter Butzer, Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur, München 2008; Dominik Riedo, Der Status der Fragen im deutschen hochhöfischen Roman, Bern u.a. 2008 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 41); Martin Schuhmann, Figurenrede in Wolframs Parzival und Titurel, Heidelberg 2008 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 49); Becker (wie Anm. 1); Bettina Lindorfer, Bestraftes Sprechen. Zur historischen Pragmatik des Mittelalters, München 2009. Verschiedene Aufsätze des Sammelbandes Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, hg. von Ludger Lieb und Stephan Müller, Berlin/New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 20 [254]) befassen sich ebenfalls mit dem hier interessierenden Thema; siehe außerdem Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999, hg. von Nikolaus Henkel u.a., Tübingen 2003; Konversationskultur in der Vormoderne. Geschlechter im geselligen Gespräch, hg. von Rüdiger Schnell, Köln u.a. 2008; Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Jutta Eming, Göttingen 2008. Zu Aspekten der Verweigerung von Kommunikation siehe bereits Volker Roloff, Reden und Schweigen. Zur Tradition und Gestaltung eines mittelalterlichen Themas in der französischen Literatur, München 1973; Uwe Ruberg, Beredtes Schweigen in lehrhafter und erzählender deutscher Literatur des Mittelalters, München 1978 (Münstersche Mittelalter-Schriften 32); Ingrid Kasten, „Jenseits der Sprache. Aspekte einer historischen Semantik des Schweigens“, in: Paragrana 7.2 (1986), S. 61–80; und in jüngerer Zeit Mireille Schnyder, Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200, Göttingen 2003 (Historische Semantik 3). Die nonverbale Kommunikation wurde z.B. von Martin J. Schubert, Zur Theorie des Gebarens im Mittelalter. Analyse von nichtsprachlicher Äußerung in mittelhochdeutscher Epik: ‘Rolandslied’, ‘Eneasroman’, ‘Tristan’, Köln 1991 (Kölner germanistische Studien 31), untersucht (vgl. außerdem Dietmar Peil, Die Gebärde bei Chrétien, Hartmann und Wolfram. Erec – Iwein – Parzival, München 1975 [Medium Aevum 28]). Zur ‘symbolischen’ Kommunikation in öffentlichkeitswirksamer Inszenierung vgl. die seit 2002 erscheinende Reihe „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme“; Horst Wenzel, Höfische Repräsentation. Symbolische Kommunikation und Literatur im Mittelalter, Darmstadt 2005; sowie Sammelbände wie Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, hg. von Gerd Althoff, Stuttgart 2001 (Vorträge und Forschungen 51). Hier ist etwa an die Fürstenspiegel zu denken. Vgl. Daniel Rocher, „Die Ars oratoria des Thomasin von Zirklaere in seinem Wälschen Gast“, in: Thomasin von Zirklaere und die didaktische Literatur des Mittelalters. Beiträge der Triester Tagung 1993, hg. von Paola Schulze-Belli, Trieste 1996 (Studi Tergestini sul Medioevo NS 2), S. 63–77; Christina Lechtermann, „Von wem, ze wem, waz, wie und wenne. Redeordnungen“, in: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelal-
Einleitung
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Für den Arbeitskreis, der sich 2005 in Münster zum ersten Mal traf, hat sich die Verwendung des Begriffes der „Redeszene“ (statt „Dialog“ oder „Gespräch“) als praktikabel erwiesen. Erfasst werden hiermit Figurenäußerungen in direkter und in indirekter Rede sowie auch der Redebericht seitens des Erzählers oder auch seitens einer intradiegetischen Figur; nonverbale Elemente können durch die Erweiterung auf die Rede s z e n e ebenso einbezogen werden wie Überlegungen über die Performativität mittelalterlicher narrativer Texte. Demgegenüber wäre die Verwendung der mittelalterlichen Bezeichnung wehselrede zu reduktionistisch, zumal die Begriffsneudefinition von Anja Becker5 wesentliche Bestandteile des möglichen Untersuchungsgegenstandes (wie den Monolog oder auch die Gedankenrede) ausschließt, obwohl sich diese der gleichen sprachlichen Mittel bedienen. Auch der Begriff der „Konversation“, wie er im Sammelband Konversationskultur in der Vormoderne gehandhabt wird,6 würde den Untersuchungsgegenstand zu sehr einschränken: Die Streitgespräche etwa, denen sich ein Teil der vorliegenden Beiträge widmet, können kaum unter dem Begriff der „Konversation“ erfasst werden. Sinnvoll erscheint es im vorliegenden Zusammenhang deswegen, zunächst eine möglichst weite Definition des Untersuchungsgegenstandes ‘Redeszene’ zu verwenden, um den Blick nicht von vornherein für bestimmte Formen und Funktionen von Figurenrede zu verstellen. Eine Umschreibung des hier gewählten Forschungsgegenstandes könnte demnach heißen: Eine Redeszene ist jeder Abschnitt in einem narrativen Text, in dem eine oder mehrere Figuren sprechend (ggf. auch verbal denkend) in Erscheinung tritt (treten), wobei ihre sprachlichen Handlungen sowohl durch Redebericht als auch durch direkte oder indirekte Rede wiedergegeben werden können. Non-verbale Begleitphänomene des Sprechens (wie
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ters, hg. von Wolfgang Harms u.a., Stuttgart 2003, S. 81–95; Nine Miedema, „Gesprächsnormen. Höfische Kommunikation in didaktischen und erzählenden Texten des Hochmittelalters“, in: Text und Normativität. XX. Anglo-German Colloquium, hg. von Elke Brüggen u.a. (im Druck). Becker (wie Anm. 1), S. 48f.: „Konstitutiv [für Beckers Definition des Begriffes wehselrede] ist die formale Figur des Wechsels (‘Turn’), welcher sich zwischen den Figurenäußerungen (‘Halbturns’) vollzieht und durch den die Teilnehmer ihre Rollen tauschen (Sprecher / Hörer). Die Figurenäußerungen können sowohl verbal sprachlicher als auch nonverbaler Natur sein (Geste). Für eine wehselrede ist es notwendig, dass mindestens zwei Halbturns gegeben sind, von denen mindestens einer (wesenhaft) verbal sprachlich verfasst sein muss. Zudem muss zwischen den Figurenäußerung[en] eine (reziproke) Bezugnahme auf semantischer oder deiktischer Ebene gegeben sein“. Beckers Verwendung des linguistisch bereits auf den e i n f a c h e n sprachlich handelnden Zug im Dialog festgelegten Begriffes turn (ebd., S. 44) ist ausgesprochen problematisch. Konversation wird hier (Konversationskultur in der Vormoderne [wie Anm. 3], S. 7) umschrieben als „ein (kultiviertes) distanziert-höfliches oder auch informell-zwangloses, kurzweiliges (der Erholung dienendes), unverbindliches Gespräch zwischen zwei oder mehreren (sozial gleichgestellten oder aber nicht-gleichgestellten; gleich- oder gegengeschlechtlichen) Personen, in dem (auf sprachlich distinguierte / sprachlich lässige, heiter-fröhliche, geistreich-witzige und dennoch rücksichtsvolle Weise) in spontan-lockerem Sprecherwechsel ganz unterschiedliche belanglose (oder moralisch relevante) Themen in beliebiger Abfolge und oberflächlich angeschnitten (und ohne Rechthaberei sowie ohne Anspruch auf Wahrheitsfindung, d.h. ziellos erörtert) werden“. Die Angaben in Klammern markieren dabei die Besonderheiten der Konversation in früheren Epochen.
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etwa gestisches Handeln, auch als Reaktion nicht-sprechender Figuren) können in die Überlegungen ebenso einbezogen werden wie die Ebene der Kommunikation des Erzählers mit seinem fingierten extradiegetischen Publikum.
II. Forschungsstand II.1. Historische Dialoganalyse Für die Analyse von Redeszenen in mittelalterlicher Literatur ist insbesondere ein kombinierter Ansatz aus sprach- und literaturwissenschaftlichen Fragestellungen, Theorien und Beschreibungsmodellen von Vorteil.7 Dass Redeszenen die mittelalterliche Literatur in hohem Maße prägen, bedarf keiner Bestätigung (mehr), doch bedarf ihre Analyse einer präzisen Grundlage und eines methodischen Instrumentariums. Jörg Kilians Einführung zur historischen Dialoganalyse wurde mit z.T. sehr kritischen Hinweisen zur Methodik bzw. zur als „uferlos[.]“ und „eklektisch[.]“ empfundenen Methodenvielfalt empfangen;8 bevor sich jedoch allgemein anerkannte Analyseprinzipien etabliert haben, erscheint es wichtig, diese Vielfalt eher als Chance denn als Problem zu verstehen. Sie mag zudem gerade deswegen entstanden sein, weil die Fragestellungen der historischen Dialoganalyse unter sich deutlich unterscheidenden Schwerpunkten entwickelt wurden, die Kilian folgenden Forschungsfeldern zuordnet: – die Untersuchung historischer Sprachstrukturen, d.h. der Makro- und Mikrostruktur von Dialogen durch die Jahrhunderte hindurch; – die Analyse der Sprachpragmatik, insbesondere der Dialoggrammatik und der Dialogtypologie; – die Soziologie der Sprache(n), unter Berücksichtigung mentalitätsgeschichtlicher und kommunikationssoziologischer Aspekte. Es erstaunt nicht, dass für jedes dieser Felder eigene methodische Ansätze entwickelt wurden und dass sich thematische Überschneidungen zwischen ihnen ergeben; auch sind in einzelnen Publikationen bewusste Kombinationen der verschiedenen Ansätze nachweisbar. Dennoch ist das gemeinsame Ziel aller skizzierten Felder die historisch angemessene und den historischen Wandel berücksichtigende Analyse der Dialoge in ihren unterschiedlichen 7
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Entscheidende Impulse gab Brigitte Schlieben-Lange, „Für eine historische Analyse von Sprechakten“, in: Sprachtheorie und Pragmatik, hg. von Heinrich Weber und Harald Weydt, Bd. 1, Tübingen 1976, S. 113–119; dies., „‘Ai las – que planhs’? Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse am Flamenca-Roman“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1979, S. 1–30. Siehe aus sprachwissenschaftlicher Perspektive außerdem Alexander Schwarz, Sprechaktgeschichte. Studien zu den Liebeserklärungen in mittelalterlichen und modernen Tristandichtungen, Göppingen 1984 (GAG 398), und Urscheler (wie Anm. 3). Péter Maitz, Rezension zu Jörg Kilian (wie Anm. 1), in: PBB 130 (2008), S. 494–498, die Zitate S. 494.
Einleitung
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Überlieferungsformen, so dass trotz differierender Fragestellungen alle Ansätze in der Summe zu einem besseren Verständnis für den Wandel der Formen und Funktionen der Wiedergabe gesprochener Sprache in den verschiedensten Textsorten beitragen. Die Besonderheiten der fingierten Mündlichkeit in literarischen Texten wurde dabei immer wieder hervorgehoben.9 Mit Ertrag hatte bereits die Tagung 2005 in Münster die „Formen und Funktionen von Redeszenen“ in Verbindung von Sprach- und Literaturwissenschaft zum Gegenstand gemacht: Über die Feststellung frequenter Redeverwendung und die Beschreibung von Redeformen hinausgehend, galt es, adäquat zu analysieren, wie und warum Redeszenen als gestalterische Mittel in der mittelalterlichen Literatur eingesetzt werden. Dabei waren Sprachhandlungskonzepte und Dialogtypen mit ihren Sprechakten und Sprechaktsequenzen ebenso zu untersuchen wie die Figurenrede als Form des Erzählens, narratologische Strategien und Strukturierungen. Der Stand der Forschung und die Komplexität der Fragestellungen, wie sie sich 2005 eröffneten, sind dargestellt in der Einleitung zum Tagungsband der Münsteraner Tagung.10 Die Beiträge jener Tagung und ihre Diskussion haben die Vielfalt von Formen und Funktionen der Redeszenen in der mittelalterlichen Literatur aufgezeigt und ebenso die potentiellen Einflüsse für die Redeszenengestaltung, die sich in der Rezeption antiker Literatur und rhetorischer Schule, in der Widerspiegelung höfischer Gesprächskultur wie auch dialektischer Formen finden lassen. Die Besonderheit der jeweiligen Redegestaltung im literarischen Werk unter formalen wie unter funktionellen Gesichtspunkten lässt sich – auch dies ein Ergebnis der Tagung 2005 – nur dann angemessen beschreiben und bewerten, wenn zusätzlich sprachliche, soziale, kulturelle und literarische Aspekte vergleichend berücksichtigt werden. Daraus ergab sich das Arbeitsprogramm für die Folgetagung 2007 in Bremen unter dem Thema „Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik: komparatistische Perspektiven“, deren Ergebnisse hier vorgelegt werden. Etwa gleichzeitig zur Drucklegung dieses Tagungsbandes zeigt sich in der Forschung ein größeres Interesse am Thema der Redeszenen als noch bei der Vorbereitung der Drucklegung des letzten Bandes. Aus den in den Anmerkungen 1–3 dieser Einleitung zusammen9
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Zu den Unterschieden zwischen alltagssprachlicher Rede und ihrer Wiedergabe im Rahmen narrativer Texte siehe u.a. Anne Betten, „Einige grundsätzliche Überlegungen zur Beschreibung alltagssprachlicher und literarischer Dialoge“, in: Dialoganalyse. Referate der 1. Arbeitstagung Münster 1986, hg. von Franz Hundsnurscher und Edda Weigand, Tübingen 1986 (Linguistische Arbeiten 176), S. 3–12; Gabriele Yos, „Gespräche in künstlerischen Texten im Spannungsfeld von mündlicher und schriftlicher Kommunikation“, in: Zeitschrift für Germanistik, NF 1 (2001), S. 54–70; Marie-Hélène Pérennec, „Redewiedergabe in fiktiven und nicht-fiktiven Texten“, in: Redewiedergabe, Redeerwähnung. Formen und Funktionen des Zitierens und Reformulierens im Text, hg. von Daniel Baudot, Tübingen 2002 (Eurogermanistik 17), S. 41–53. Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, „Einleitung“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von dens., Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 1–17.
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Monika Unzeitig, Nine Miedema und Franz Hundsnurscher
gestellten Veröffentlichungen seien im Folgenden diejenigen herausgegriffen, die nach 2007 erschienen sind und ergänzend zu den hier vorgelegten Ergebnissen rezipiert werden können. Die Monographie von Günter Butzer (wie Anm. 3) ist dem Selbstgespräch gewidmet, welches er insbesondere anhand antiker und neuzeitlicher Texte systematisch und umfassend untersucht. Butzer berücksichtigt keine weltlichen Erzähltexte des Mittelalters, sondern legt den Schwerpunkt für das Mittelalter auf das meditative geistliche Selbstgespräch, das in den Soliloquia Augustins seinen das gesamte Mittelalter prägenden Anfang finde.11 Die von Butzer beschriebene charakteristische Vermischung dialogischer und monologischer Elemente im Soliloquium weisen die mittelalterlichen Epen z.B. im Bereich der Gebete auf, die Butzer als „christliche Selbstgespräch[e]“12 bezeichnet; seine Analyseansätze ließen sich aber auch auf die sonstigen Soliloquia in den mittelalterlichen Erzähltexten übertragen, etwa auf die Klagerede(n) der Enîte in Hartmanns von Aue Erec.13 Die von Martin Schuhmann vorgelegte Untersuchung (wie Anm. 3) setzt bei den unterschiedlichen und vielfältigen Funktionen der Figurenrede in Wolframs von Eschenbach Parzival an, auch um diese in ihren komplexen sowie sich bedingenden Zusammenhängen vorzustellen. Bei dieser auf die Figurenrede konzentrierten ‘Neulektüre’ richtet sich der Fokus auf die Figurencharakterisierung, die Handlungsebene, die bevorzugten thematischen Redeinhalte sowie das Verhältnis von Rede der Figuren und Rede des Erzählers. Lassen sich die genannten Aspekte als Kategorien der Narration verbinden, so ergänzt der Untersuchungsteil zu metanarrativen Funktionen der Figurenrede gerade für diese spezifische poetologische Eigenschaften. Im Vergleich von Chrétiens de Troyes Perceval und Wolframs Parzival14 sind die exemplarisch analysierten Redeszenen geeignet, die metanarrativen und intratextuellen Funktionen von Figurenrede zu ermitteln, ebenso wie die Reflexion über Kommunikation in der Figurenrede. Die komparatistische Textanalyse (leider nur auf diesen Abschnitt der Arbeit beschränkt) zeigt dabei nicht nur die unterschiedliche Gestaltung und Funktionalisierung von Rede auf, sondern auch, wie unterschiedlich Kommunikationsstrukturen auf der Figurenebene mit Bezug auf die Ebene der Werkrezeption exponiert thematisiert werden können. Dominik Riedo (wie Anm. 3) untersucht die Funktion der Fragen in sechs mittelhochdeutschen höfischen Epen.15 Seine Umschreibung der Frage lässt allerdings jegliche Möglichkeit sprachwissenschaftlicher Präzisierung aus: „Als Fragen erkennbar zu sein, meint für 11 12 13
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Butzer (wie Anm. 3), S. 129–143. Ebd., S. 19 u.ö. Vgl. Erec von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler ErecFragmente, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Auflage besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39), v. 5775–6109. Schuhmann (wie Anm. 3), S. 205–230. Je ein eigenes Kapitel ist Hartmanns von Aue Iwein und Erec, Gottfrieds von Straßburg Tristan, Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet, Strickers Daniel von dem Blühenden Tal und Wolframs von Eschenbach Parzival gewidmet.
Einleitung
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uns […] die Kennzeichnung eines Satzes als Fragesatz durch ein Fragezeichen oder die Markierung einer indirekten Rede & eines Redeberichts und die Einleitung eines gesprochenen Satzes durch die Wörter Frage bzw. fragen o.Ä.“.16 Schwerer wiegt allerdings, dass die zentrale These, in den untersuchten Texten werde „das Fragen durchgehend negativ bewertet“,17 nicht zu überzeugen vermag. Es ist dies nicht der Ort für eine ausführliche Darstellung der gesamten Arbeit Riedos, jedoch sei beispielhaft auf seine Analyse einer Textpassage aus Hartmanns von Aue Iwein eingegangen. Als Iwein zur Burg kommt, in der die 300 Damen gefangen sind, verweigert der Torwächter ihm die Auskunft, wobei er Iweins „vrâge“ negativ als „müeze[c]“ bewertet.18 Riedo interpretiert den Torwächter als den Überlegenen, in dessen Ermessen es liege, eine Antwort geben zu wollen oder nicht. Dabei schwinge „in der Zurechtweisung sehr deutlich das Ungeheure einer Frage überhaupt mit“.19 Riedo übersieht dabei, dass der Torwächter zu Anfang dieser Redeszene innerhalb weniger Verse gleich sechsmal als schalc bezeichnet wird (Iwein, v. 6238–6242; vgl. auch bereits v. 6177), so dass er alles andere als eine Vorbildfigur darstellt; seine Verweigerung der Antwort muss, auch in Anbetracht der ständischen Differenz zwischen Iwein und dem Torwächter, als ein ausgesprochen unhöfliches Verhalten gewertet werden. Dass nicht der Torwächter, sondern Iwein in dieser Situation der Überlegene ist, wird dadurch erkennbar, dass sich Iwein überlegen lachende […], / als der sich mittem bœsen [!] man / mit worten niht beheften wil (v. 6279–6281), entfernt und ohne die Auskünfte des Torwächters in die Burg hineinfindet (v. 6283–6285). – Riedos Ansatz, die Funktion der Fragen in mittelalterlichen Texten zu untersuchen, ist somit ein ausgesprochen anregender, seine Hauptthesen sind gleichwohl fragwürdig. Becker (wie Anm. 1) wählt in ihrer Arbeit verschiedene methodische Zugriffe, wodurch die Arbeit zwar ein breites Spektrum an Möglichkeiten der Analyse literarischer Dialoge in historischen Werken aufzeigt, im Gesamtkonzept allerdings disparat wirkt. Die gesuchte „phänomenologisch-hermeneutische Meta-Methode“20 kann aus den Untersuchungen zu Stil-, Struktur- und Diskursanalyse sowie zur „anthropologisch-ontologischen Analyse“ nicht entwickelt werden; methodisch bedenklich ist darüber hinaus, dass in der Arbeit häufig die konkreten Textnachweise aus den insgesamt 26 untersuchten deutschsprachigen
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Riedo (wie Anm. 3), S. 27 (Kursivierungen im Original). Zwar reflektiert Riedo, dass das Fragezeichen als Satzzeichen eine Ergänzung moderner Editoren ist (ebd.), die für Fragen charakteristische Verbstellung erwähnt er jedoch an keiner Stelle. Auch die Angaben zu den Illokutionen (S. 39) bleiben sehr ungenau. Es fehlt des Weiteren der Bezug zur antiken und mittelalterlichen Rhetorik; bei der Unterscheidung der Erzählebenen (S. 31f.) hätte die narratologische Terminologie hilfreich sein können (extra- / intradiegetische bzw. homo- / heterodiegetische Erzähler und Figuren). – Riedo lässt im Übrigen komparatistische Aspekte ganz außer Betracht. Ebd., S. 39. Auf S. 42f. werden einige Ausnahmen von dieser Gesamtregel formuliert. Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. von Georg F. Benecke und Karl Lachmann, neu bearbeitet von Ludwig Wolff, Bd. 1: Text, Berlin 71968, v. 6276. Vgl. Riedo (wie Anm. 3), S. 50f. Riedo (wie Anm. 3), S. 51. Becker (wie Anm. 1), S. 26.
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Großepen fehlen, so dass viele der aufgestellten Thesen nicht unmittelbar nachprüfbar bzw. nachvollziehbar sind. Zu weiterer Diskussion fordern insbesondere die Kapitel 3 („Strukturanalyse“) und 4 („Historische Diskursanalyse“) von Beckers Studie heraus. Die feingliedrigen Analysen zu Wortund Motivparallelen in der Mikrostruktur einiger Dialoge des Rolandsliedes zeigen, wie sorgfältig und kunstvoll auch mittelalterliche Dialoge komponiert sein können. Wird zur möglichen Werkstrukturierung durch Redeszenen auf Makroebene angegeben, es sei „fragwürdig“,21 ob mittelalterliche Autoren diese Möglichkeit nutzten, so beweist Beckers eigene Analyse der Visio Tnugdali gerade das Gegenteil.22 Es überzeugt ohne vergleichbare Versuche anhand anderer Erzähltexte nicht, dass die Visio als „Sonderfall“ zu betrachten sei.23 Das Kapitel 4 zur historischen Diskursanalyse befasst sich ausschließlich mit den zeitgenössischen Auseinandersetzungen zum Thema des Selbstlobs. Dieses wird anhand verschiedener, teils konfligierender bzw. sich ergänzender und gegenseitiger beeinflussender Diskursstränge erörtert: dem theologischen, dem rhetorischen und dem höfischen. Die Untersuchungen erlauben eine Neuinterpretation des Guoten Gêrhart Rudolfs von Ems, dessen dominierender theologischer Diskurshintergrund ihn nicht als „Patrizierdichtung oder […] Fürstenspiegel“ ausweise, sondern als „geistliche Exempeldichtung“.24 Vergleichbare Studien wären etwa für die Themenbereiche des Spottes bzw. der Ironie, der Lüge, des Klagens oder auch Schwörens wünschenswert. Auffällig ist, dass Becker die komparatistische Analyse lediglich beiläufig als eine eventuelle Möglichkeit der Vertiefung erwähnt;25 eine zumindest stichprobenartigen Erweiterung der Untersuchungen in diese Richtung, z.B. für die Überlegungen zum Rolandslied, auf das Becker an verschiedenen Stellen zu sprechen kommt, wäre wünschenswert gewesen. Eine wiederum andere Herangehensweise wählt Bettina Lindorfer (wie Anm. 3) in ihrer Studie, indem sie sich auf breiter kulturgeschichtlicher Basis dem Phänomen des bestraften Sprechens zuwendet. Sie zeigt, dass gerade der Prestigegewinn der Volkssprachen im 12. und 13. Jahrhundert zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem Thema desjenigen Sprechens führte, das zu einer Strafverfolgung führte: Erst in diesem Zeitraum, der von „fast obsessive[r] Beschäftigung mit schlechtem Sprechen“ gekennzeichnet sei,26 werden auf der Basis moraltheologischer Lehren das Schwören und das Fluchen zu bestraften Delikten. Ausgangspunkt sind für Lindorfer nicht in erster Linie die erzählenden Texte, auch wenn sie Fabliaux und Exempelsammlungen berücksichtigt; wichtig ist für ihre Analyse in erster Linie ein breites Spektrum von mittelalterlichen Sachtexten, z.B. Gesetzestexte, Ge21 22 23
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Ebd., S. 132. Ebd., S. 132–146. Ebd., S. 132. Vgl. zur Strukturierung von Texten durch Redeszenen z.B. Robert Braunagel, Wolframs Sigune. Eine vergleichende Betrachtung der Sigune-Figur und ihrer Ausarbeitung im ‘Parzival’ und ‘Titurel’ des Wolfram von Eschenbach, Göppingen 1999 (GAG 662). Becker (wie Anm. 1), S. 196. Ebd., S. 28, Anm. 57. Lindorfer (wie Anm. 3), S. 14.
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richtsprotokolle, moraltheologische Werke und ikonographische Quellen, die Zeugnis von den sich wandelnden Ansichten über dasjenige Sprachverhalten ablegen, das Strafe nach sich zog.27 Sie führt damit in unterschiedliche Domänen wie Rechtsgeschichte, Moraltheologie, Sprachgeschichte usw. ein, die in Zukunft als Hintergrundfolie für die Interpretation literarischer Texte dienen können. Für Lindorfers Untersuchungen spielen insbesondere blasphemische Äußerungen eine wichtige Rolle. Dieses Thema wird in den mittelalterlichen Erzähltexten, denen sich der vorliegende Band widmet, nur selten thematisiert; die von Lindorfer berücksichtigten Fabliaux und Spiele zeigen jedoch, dass hier das obszöne Sprechen als Form unerwünschten („verbotenen“28) Sprechens vorkommt. Diese „absichtliche Verletzung der Scham“ verdeutliche „die Grenze zwischen Regel und Überschreitung“.29 Das Unanständige erhalte in den genannten Textsorten den Status eines Zitates; indem anstößige Redeweisen ‘zitiert’ würden, erhielten sie einen anderen Status als in der direkten Verwendung.30 Ob sich die Funktion des obszönen Redens auf die Befriedigung des „zunehmenden Unterhaltungsbedürfnis[ses] des Publikums“ einschränken lässt,31 wäre allerdings noch zu diskutieren, gerade auch im Kontext der gleichzeitigen Höfisierungstendenzen. – Anknüpfungsmöglichkeiten ergeben sich selbstverständlich auch bei den Themen des Schweigens, der performativen Dimension des Sprechens und der Sprachmagie.32
II.2. Komparatistik Die Hinweise zur historischen Dialogforschung sind z.T. auf die Komparatistik übertragbar: Wenn auch aus heutiger Sicht nicht die Rede von einer mediävistischen Komparatistik als definierter Methode, als Theorie sein kann und wenn ebenso wenig eine mediävistische
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Lindorfers Untersuchungen führen damit weit über die früheren Untersuchungen zu den ‘Zungensünden’ hinaus; vgl. zu diesem Thema insbesondere Carla Casagrande und Silvana Vecchio, I peccati della lingua. Disciplina e etica della parola nella cultura medievale, Rom 1987. Vgl. zum Themenkomplex der Zungensünden mit Schwerpunkt auf der mittelalterlichen theologischen Sicht außerdem Corinne Leveleux, La parole interdite. Le blasphème dans la France médiévale (XIII e – XVI e siècle). Du péché au crime, Paris 2001, und Gerd Schwerhoff, Zungen wie Schwerter. Blasphemie in alteuropäischen Gesellschaften 1200–1650, Konstanz 2005 (mit weiterer Literatur). Für die frühe Neuzeit, ohne den theologischen Schwerpunkt, vgl. Ralf Georg Bogner, Die Bezähmung der Zunge. Literatur und Disziplinierung der Alltagskommunikation in der frühen Neuzeit, Tübingen 1997. Lindorfer (wie Anm. 3), S. 231. Ebd., S. 234. Ebd., S. 235. Ebd., S. 236. Ebd., S. 47–51, 77–83, 286–297. Überraschenderweise findet das Problem der Lüge bei Lindorfer keine systematische Betrachtung.
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Komparatistik als etabliertes Fach existiert,33 steht dennoch außer Frage, dass mittelalterliche Literatur und Sprache als Gegenstand genuin in einen komparatistischen Kontext gehören, der in seinen zahlreichen Sprach- und Literaturkontakten der europäischen Kultur des Mittelalters zu untersuchen ist. Das Forschungsinteresse der letzten Jahre hat sich dabei zunehmend auf den Kulturtransfer, dabei auch deutlich interdisziplinär, fächerübergreifend ausgerichtet.34 In diesem mediävistisch europäisch orientierten Untersuchungsfeld erlaubt gerade die Konzentration auf die Analyse von Redeszenen in ihrer komparatistischen Ausrichtung einen methodisch und sachlich fundierten Schlüsselzugang, durch den Zusammenhänge und historische Entwicklungen im europäischen Kulturraum sichtbar werden. In Ergänzung zu den traditionellen vergleichenden Fragestellungen von Stoff, Gattung, Form und Motiv35 führt die Frage nach Funktion und Gestaltung von Redeszenen unter mediävistisch komparatistischer Perspektive zu einem gattungs- und stoffübergreifenden Ansatz bzw. zu Fragen quer durch Gattungen und Stoffe. Damit eröffnet dieser Sprach- und Literaturwissenschaft verbindende und gleichzeitig textvergleichende Ansatz neue Untersuchungsrichtungen. Es lassen sich die literarisch relevanten Bereiche der gelehrten lateinischen Bildung und der semioralen Laienkultur in ihren unterschiedlichen Gesprächskulturen beschreiben und ebenso Transfervorgänge in verschiedene Richtungen feststellen: von der lateinischen Bildungskultur in die Volkssprache der Laienkultur, von der Volkssprache zum lateinisch dominierten Bildungsbereich sowie Einflüsse innerhalb der volkssprachigen Literaturen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes führen durch ihren je eigenen komparatistischen Ansatz über die beschränkende Sicht der Einzelphilologien hinaus. Beitragsübergreifend bietet der gesamte vorliegende Tagungsband eine die europäischen Literaturen des Mittelalters umfassende Sicht auf wesentliche Aspekte von Mündlichkeit. Diese sind zum einen sowohl als sprachlich und literarisch kulturell geprägt zu beschreiben, auch im Kontext von Rhetorik und Poetik. Zum anderen geht es nicht nur um die mediale Differenz einer schriftlich und / oder mündlich geprägten Kommunikationsform, sondern vor allen Dingen darum, wie in schriftgestützt verfasster Literatur Mündlichkeit gestaltet und funktionalisiert wird. Damit kann die Analyse von Redeszenen im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit auch spezifische Entwicklungen aufzeigen, nämlich wie schriftsprachliche Literatur 33
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Vgl. dazu Hendrik Birus, „Mediävistische Komparatistik – ‘unmöglich, aber dankbar’?“, in: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, hg. von Wolfgang Harms und Jan-Dirk Müller in Verbindung mit Susanne Köbele und Bruno Quast, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 13–28, hier S. 14f. Vgl. dazu z.B. Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Transferts culturels et histoire littéraire au Moyen Age. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut Paris. Colloque tenu à l’Institut Historique Allemand à Paris 16.–18.3.1995, hg. von Ingrid Kasten, Werner Paravicini und René Pérennec, Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43). Dies ist geplant für das groß angelegte, mehrbändige Handbuchprojekt Germania litteraria mediaevalis francigena. Handbuch der deutschen und niederländischen mittelalterlichen literarischen Sprache. Formen, Motive, Stoffe und Werke französischer Herkunft (1100–1300), hg. von Fritz Peter Knapp, Geert H.M. Claassens und René Pérennec, Berlin/New York (im Druck).
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mit hergestellter Mündlichkeit36 operiert, wie und wie unterschiedlich kommunikative Nähe inszeniert wird. Auf diesem Weg können Beschreibungsmodelle der Sprachwissenschaft auch für die literaturwissenschaftliche Analyse von Textstrukturen und intendierten Rezeptionsformen dienen.
III. Zum vorliegenden Tagungsband37 Für die in der Forschung immer wieder festgestellten korrelierenden Befunde von einer deutlichen Zunahme von Gesprächselementen in der mittelhochdeutschen Literatur ab 1170 und um 1200 und einer deutlich manifestierten Sprachkultur in den literarischen Texten bot es sich an, die Befunde weiter zu differenzieren, und zwar durch die Vorgabe einer vergleichenden Perspektive für die zu behandelnden Werke, um so gerade über entsprechende Tendenzen durch Vergleichsmaterial empirisch relevante und überprüfbare Aussagen machen zu können. Die Konzentration auf die mittelalterliche Großepik als relativ homogene Textgrundlage erwies sich als sinnvoll, da für die an sich gut bekannten Texte mit neuer Fragestellung und komparatistischer Analyseausrichtung auch neue Ergebnisse gewonnen werden konnten. Die Kleinepik oder auch etwa die Gattung des Lehrdialogs könnten in weiteren Schritten auf ähnliche Art und Weise untersucht werden. Im vergleichenden Ansatz wurden die mittelhochdeutschen epischen Texte in den europäischen Literaturkontext gestellt. Ein Schwerpunkt lag auf der vergleichenden Untersuchung deutscher Texte mit französischen und lateinischen Vorlagen; daneben wurden als Vergleichsgrundlage auch niederländische, finnische, altspanische sowie altnordische und altenglische Texte herangezogen. Die Charakteristiken der ausgewählten Epen wurden im Kontext der jeweiligen Vorlagen und späteren Bearbeitungen differenziert vorgeführt. Intertextuelle und interkulturelle Bezüge sowie rezipienten- und autororientierte Aspekte standen dabei im Vordergrund. Im Ergebnis sind folgende Aspekte für die Analyse von Redeszenen in den mittelalterlichen Großepen aus komparatistischer Perspektive besonders hervorzuheben: Redeszenen dienen der Figurencharakterisierung; dieser Aspekt gilt kultur- und sprachübergreifend. Darüber hinaus bestehen jedoch spezifische Eigenheiten der Sprachkulturen 36
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Vgl. dazu Wulf Oesterreicher, „Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit“, in: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter, hg. von Ursula Schaefer, Tübingen 1993 (ScriptOralia 53), S. 267–292, besonders S. 269–275. Zu danken ist Frau Manuela Dittmann (Greifswald) sowie Frau Kornelia Karimian und Frau Sonja Tillmanns (Essen) für die mühsame Aufgabe der Korrektur von Rechtschreibung und Zitaten des vorliegenden Bandes. Zur Zitierweise der Originaltexte ist zu vermerken, dass die turns der Sprecherinnen und Sprecher durch die Verwendung doppelter Anführungsstriche markiert werden, auch wenn dies in den zitierten Quellen nicht vorgegeben war. – Gedankt sei außerdem Frau Karin Cieslik und Frau Andrea Tietze (Greifswald) für die Mitarbeit an der Registererstellung.
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der einzelnen westeuropäischen Länder. Ob dabei die Sprache die Gesprächskultur bestimmt oder umgekehrt die Gesprächskultur die sprachlichen Ausdrucksmittel beeinflusst, wäre näher zu untersuchen (diese Fragen wurden aufgeworfen durch die gender-, d.h. gruppen- und nicht kulturspezifischen Unterschiede in der Gestaltung von Redeszenen bei Schlusemann sowie durch die Beiträge zu den Konfliktdialogen, die unterschiedliche Streitkulturen sichtbar werden lassen, bei Neuendorff und Raitaniemi sowie Jones). Eine einfache Gleichsetzung von sprachlicher und kultureller Differenz verbietet sich auf jeden Fall. Die Ausgestaltung universaler Dialogtypen wie des Streitgesprächs lässt erst im komparatistischen Vergleich die Eigenheiten der jeweiligen Sprachkultur zu Tage treten. Redeszenen dienen der ‘Verlebendigung’ des Textes; es zeigen sich dabei signifikante Unterschiede zwischen französischen und deutschen Erzähltraditionen (Jones), da etwa die französischen chansons de geste eine andere Verteilung der Redeanteile aufweisen als die deutschen. Jedoch sind die Befunde komplex: Es können sowohl Reduzierungen der Dialoganteile (durch Streichung ganzer Dialoge oder durch Reduktion von Dialogen zu Halbdialogen) als auch Erweiterungen des Umfangs einzelner Halbdialoge festgestellt werden. Erst die Berücksichtigung der jeweiligen Kontexte und des Erzählkonzeptes ermöglicht eine Deutung solcher Befunde; sie verweist im Fall des von Jones analysierten Rolandsliedes auf die Bearbeitung des Stoffes im Sinne eines Kreuzzugsepos, das die Vielstimmigkeit des französischen Textes durch die Einstimmigkeit (im Sinne der Eintracht) der Christenheit ersetzt. Darüber hinaus dienen die Redeszenen der Charakterisierung des Erzählers und machen Erzählstrategien erkennbar. Figurenrede ist, da hinter ihr immer die Erzählerfigur steht, grundsätzlich monologisch, Dialoge werden lediglich f i n g i e r t . Der Anteil und die Verteilung von Erzähler- und Figurenrede können in den unterschiedlichen Bearbeitungen e i n e s Stoffes stark differieren (Jones, Bauschke, Miedema, Greenfield); die in der Forschung gelegentlich übergeneralisierend dargestellten Prinzipien der adaptation courtoise wären dementsprechend zu korrigieren und zu differenzieren. Figurenrede kann narrative Funktionen übernehmen, so dass die Figuren die gleiche Funktion, Autorität und Redekompetenz wie der Erzähler erhalten. Sie tragen die „Erzählarbeit“ (Linden); zu diskutieren wäre, inwiefern dabei auch unglaubwürdige Perspektiven in den Text eingebracht werden, deren Demaskierung Aufgabe des textexternen Rezipienten ist. Ob Figurenrede narrative Funktionen übernehmen kann und ob eine Reduktion von Redeanteilen auf der Figurenebene in Relation zu erhöhten Redeanteilen des Erzählers steht (Greenfield), eröffnet die Frage nach den unterschiedlichen Rezeptionsformen der Texte. Damit sind ständische, kulturelle und wissensbezogene Differenzen bei Autor und Rezipient angesprochen. Dies betrifft den Bildungshorizont des Autors (z.B. seine Kenntnisse antiker Autoren und damit verbunden Modelle der Dialoggestaltung in der lateinischen Antike und im lateinischen Mittelalter: Hübner, Schrott, Henkel; Zitate aus dem klassischen Literaturkanon und der Bibel: Miedema) und auch, wie die Beiträge präzisieren, das spezifische klerikale oder adlige Umfeld der jeweiligen Bearbeitungen (Hübner, Miedema, Schrott).
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Auf den textexternen Rezipienten bezogen zeigt sich insbesondere deutlich, dass Redeszenen Vorstellungen des richtigen (oder auch falschen) Sprechverhaltens vorführen, d.h. vor allem Vorstellungen von einem situationsangemessenen Stil des Kommunizierens. Redeszenen bilden sprachliche Gepflogenheiten des Mittelalters nicht naiv ab, sondern demonstrieren die Möglichkeiten der Persuasion durch Rede (monologisch oder im Gespräch; autoritativ, persuasiv oder sogar dialektisch). Redeszenen zeigen dabei allerdings auch die Gefahren, die das Sprechen in sich birgt: Worte können als Waffe verwendet werden; einmal geäußerte Worte können sich im späteren Verlauf der Handlung gegen die betreffende Figur richten (Schlusemann). Die Redeszenen erhalten dadurch, ob im positiven oder negativen Sinne, Vorbildfunktion für den extradiegetischen Rezipienten. Auch das Vorführen ironischen Sprechens gibt Hinweise auf einen immer avancierteren Umgang mit Sprache (Unzeitig); der reflektierte Einsatz von Fremdsprachen macht ein Bewusstsein für die sprachkulturellen Differenzen hörbar (Volfing). Die von der Gesprächskultur wie auch von der Kunst eloquenter Rede geprägten hoch- und späthöfischen Texte (Hübner, Volfing, Linden, Bauschke, Mertens Fleury, Unzeitig, Henkel, Greenfield) agieren deutlich subtiler als die Redeformen vor- und frühhöfischer Textkomplexe (Hundsnurscher, Schlusemann, Neuendorff und Raitaniemi, Jones, Miedema, Schrott). Im Zusammenhang mit der Form der literarischen Kommunikation, also im Kontext von mündlichem Erzählen und schriftlicher Fixierung von Texten zur Lektüre, ist auch die textliche oder handschriftliche Markierung der Dialoge als Rede zu beobachten (z.B. die Kennzeichnung der turn-Wechsel durch inquit-Formeln: Er / Sie sagte: „…“, oder durch Rubrizierung: Hundsnurscher, Henkel, Unzeitig). Die unterschiedlichen Ausgangspositionen von Linguistik (die sich überwiegend mit spontaner mündlicher Konversation befasst) und mediävistischer Literaturwissenschaft (die auf historisch-literarische Schrifttexte fokussiert) führen notwendigerweise zu grundsätzlichen methodologischen Erwägungen. Auch direkte Rede ist im Erzählzusammenhang berichtete Rede und wird durch inquit-Formeln in besonderer Weise markiert, und sie erfährt mehrere mediale Brechungen durch den Wechsel der Präsentationsformen: beim wiederholten auswendigen Vortrag vor wechselndem Publikum, beim Wechsel des Vortragenden, beim Vorlesen, beim ‘einsamen’ Lesen. Die kommunikativen Bedingungen haben Auswirkungen auf die Charakteristik der jeweiligen kommunikativen Akte. Da die Redeszenen (neben Beschreibungen und Erzählerkommentaren) zu den wichtigsten darstellerischen Mitteln der mittelalterlichen Großepik gehören, führt die Untersuchung ihrer Gestaltung und Funktionalisierung dazu, die den literarischen Texten des Mittelalters implizite Poetik genauer zu erfassen und in Abgrenzung auch die individuellen Autorprofile einzelner Dichter kennzeichnen zu können sowie neue Unterscheidungskriterien für die Teilgattungen der Epik (chanson de geste, Heldenepik, Artusepik, Tierepik, usw.) zu entwickeln. Vor allem die Detailanalysen zeigen, wie unterschiedlich Redeszenen in Form und Funktion konzipiert sind und mit welch genauem Sprachbewusstsein Rede bereits im Mittelalter gestaltet wird.
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Insgesamt bieten die Beiträge so ein differenziertes Bild einer sich allmählich herausbildenden hohen Gesprächskultur, die die literarischen Texte der Vormoderne auszeichnet. Sie lassen außerdem deutlich erkennen, dass es gerade die Redeszenen sind, die von den mittelalterlichen Autoren mit großem Selbstbewusstsein umgestaltet wurden, wenn es galt, einen vorgefundenen Stoff eigenständig und schöpferisch aus- und umzugestalten.
IV. Perspektiven Der vorliegende Tagungsband erhebt keinesfalls den Anspruch, das Phänomen der literarischen Redeszenen in mittelalterlichen Erzähltexten unter komparatistischem Schwerpunkt umfassend dargestellt zu haben. Für zukünftige Untersuchungen zur Figurenrede in den mittelalterlichen Werken erscheint es unerlässlich, diese vergleichend zu behandeln; zusätzlich können aber weitere Fragestellungen einbezogen werden. Es sei darauf hingewiesen, dass im Jahr 2009 in Mülheim a.d. Ruhr eine Tagung zum Thema „Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende“ stattgefunden hat, die sich zum Ziel setzte, die Besonderheiten des göttlich inspirierten Sprechens der Heiligen und des Dialogs mit Gott in den mittelalterlichen Erzähltexten zu erkunden. Die Ergebnisse der Tagung werden voraussichtlich 2012 in schriftlicher Form vorliegen. Darüber hinaus ist für das Jahr 2012 in Greifswald eine Tagung zum Thema „Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik: Performanz und Stimme“ geplant, bei der insbesondere Aspekte der Aufführung mittelalterlicher Texte, die Figurenrede enthalten, besprochen werden sollen. D i e Poetik d e r mittelalterlichen Redeszene ist mit heutigen Mitteln nicht abschließend beschreibbar; es wird durch das wachsende Bewusstsein der notwendigen Forschungsschritte aber zunehmend deutlich, welche Aspekte eine solche Poetik zu berücksichtigen hätte.
I. Linguistische Analyseansätze
Franz Hundsnurscher
Diachrone Dialog-Analyse: Bekehrungsgespräche Überlegungen am Beispiel der Faustinian-Geschichte in der Kaiserchronik
I. Methodologische Vorüberlegungen Alte, zumal dichterische Texte gelten allgemein als Zeugnisse ziemlich schwer verständlicher Formen des Sprachgebrauchs – in vieler Hinsicht von denen der Gegenwart abweichende Denk- und Lebensgewohnheiten, verschüttete poetisch-literarische Traditionen und komplizierte Überlieferungsverhältnisse erschweren den Zugang zu ihnen. Zum alltäglichen Sprachgebrauch der Gegenwart glaubt man einen sicheren, weil intuitiven Zugang zu haben. Und so erschien es vielen Sprachwissenschaftlern im Gefolge Ferdinand de Saussures1 am Anfang des 20. Jahrhunderts als eine befreiende Erkenntnis, dass man sich stärker der Untersuchung des synchron funktionierenden Sprachsystems (langue) und der Explikation der Sprachkompetenz der Sprecher zuwenden sollte, die dem beobachtbaren Sprachgebrauch (parole) zugrunde liegt. Die Diskussion führte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu der heute als trivial geltenden Einsicht Noam Chomskys, dass wir beim Sprechen nicht einfach Wörter miteinander verketten (chaîne parlée), sondern uns mittels syntaktisch regelhaft organisierter Sätze verständigen.2 Einzelne Vertreter der sprachanalytischen Philosophie (Ludwig Wittgenstein, John L. Austin, John R. Searle)3 steuerten als weiterführenden Gedanken bei, dass Sprechen eine Form menschlichen Handelns sei und dass Satzäußerungen als Sprechakte aufzufassen seien. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stand die Linguistik vor der Aufgabe, die ebenfalls trivial erscheinende Einsicht, dass sprachliche Kommunikation nicht einfach in der Verkettung von sprechaktwertigen Sätzen besteht, sondern dass die einzelnen Äußerungen regelhaft in Text- und Gesprächszusammenhängen organisiert sind, methodologisch zu explizieren und für die Sprachbetrachtung von Texten fruchtbar zu machen.
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Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 2. Auflage, hg. von Peter von Polenz, Berlin 1967. Noam Chomsky, Aspects of the Theory of Syntax, Cambridge (Mass.) 1965, dt.: Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt a.M. 1969. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Oxford 1968; John L. Austin, How to Do Things with Words, 2. Auflage, hg. von James O. Urmson, Oxford 1963/1970 u.ö.; John R. Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, London 1969.
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Einen methodologischen Entwurf in dieser Hinsicht stellt die Dialoggrammatik dar.4 Sie geht von einer kommunikativen Grundkonstellation aus, bestehend aus einem Sprecher 1, der gegenüber einem Sprecher 2 eine Äußerung macht, mit der er eine kommunikative Absicht kundtut und auf die hin er von Sp 2 einen entsprechenden Bescheid erhalten will. Wenn Sp 2 darauf reagiert und dazu Stellung nimmt, liegt ein minimaler Dialog vor, der je nach Ergebnis als abgeschlossen oder offen gelten kann; er ist abgeschlossen, wenn Sp 1 von Sp 2 einen positiven Bescheid erhält, und bleibt offen, wenn Sp 2 einen negativen Bescheid erteilt; Sp 1 kann in diesem Fall sein kommunikatives Handlungsziel insistierend weiterverfolgen, bis er entweder sich durchgesetzt hat oder abgeblockt wird. Der Dialog hat seinen Zweck erfüllt und ist wohlgeformt, wenn Sp 1 und Sp 2 sich auf einen Abschluss verständigt haben – indem Sp 2 dem Sp 1 einen positiven Bescheid erteilt oder Sp 1 sich mit einem negativen Bescheid von Sp 2 abgefunden hat. Im Dialogverlauf vollziehen die Gesprächsteilnehmer einzelne Sprechakte und Sprechaktsequenzen, die ihren jeweiligen Gesprächsinteressen dienlich sein sollen. Der Dialogverlauf ist, wenn er sich über mehrere Beitragswechsel (turns) erstreckt, in der Regel in funktionale Phasen gegliedert, in denen konstitutive Teilziele erreicht oder verfehlt werden. Je nach Gesprächszweck haben wir es mit verschiedenen Dialogtypen zu tun; wenn z.B. der Zweck einer sprachlichen Interaktion von Sp 1 und Sp 2 darin zu sehen ist, dass der eine Gesprächspartner dem anderen etwas erklären oder beibringen will, so liegt ein Unterweisungsdialog (Lehrgespräch, Unterricht) vor; wenn es darum geht, dass der eine Gesprächspartner etwas anzubieten hat, was der andere bei entsprechender Gegenleistung haben kann, so liegt ein Aushandlungsdialog (Einkaufs- / Verkaufsgespräch, Verhandlung) vor; wenn der eine Gesprächspartner vor einem Problem steht, Entscheidungsschwierigkeiten hat und vom anderen hilfreiche Hinweise einholt, so liegt ein Beratungsdialog (Orientierungsgespräch, Beratschlagung) vor, usw. Wenn wir uns von diesem, hier notgedrungen nur skizzenhaft angedeuteten linguistischmethodologischen Hintergrund her dem Tagungsthema „Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik“ zuwenden, so ist daneben noch ein weiterer wesentlicher Problembereich zu erörtern, nämlich das Verhältnis von mündlich-dialogisch konstituierten Kommunikationsformen zu schriftlich-monologisch konstituierten; diesen letzteren sind die überlieferten epischen Texte zuzuordnen. Das ihnen zugrunde liegende kommunikative Handlungsspiel ‘Erzählen’ ist uns vom alltäglichen Sprachgebrauch her vertraut: Wir sprechen mit anderen darüber, was wir tagsüber gemacht haben, was wir im Urlaub erlebt haben, was uns andere über ihre Erfahrungen berichtet haben usw., und wir wollen damit andere unterhalten, uns über etwas klar werden oder die Voraussetzungen von bestimmten Ereignissen und Handlungen verständlich machen usw. Es gibt eine Vielzahl schriftlich konstituierter Erzähltexte – von Tagebucheintragungen, Protokollen, Presseberichten und Geschichtsdarstellungen angefangen bis hin zu Literaturformen wie Anekdote, Märchen, Roman; weitere medienvermittelte Formen 4
Vgl. Franz Hundsnurscher, Studien zur Dialoggrammatik, Stuttgart 2005 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 428).
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wie Rundfunknachricht, Sportübertragung, Reisereportage, Abenteuerfilm und dergleichen kommen hinzu. Gerd Fritz hat in seiner Tübinger Habilitationsschrift von 1982 gezeigt, wie das komplexe sprachliche Handlungsmuster ‘Erzählen’ trotz seiner überwiegend monologischen Erscheinungsform auf dem Hintergrund einer dialogischen Grundkonstellation (‘jemand erzählt jemandem etwas’) zu sehen und zu analysieren ist:5 Sp 1, der Erzähler, kann seine Erzählung so gestalten, dass er mögliche Einwände oder Gegenzüge von Sp 2, dem Zuhörer, antizipiert und auf sie eingeht und so die Erzählung monologisch zu dem von ihm intendierten wohlgeformten Ende führen kann. Gerade für das schriftlich konstituierte literarische Erzählen eröffnet sich damit ein analytischer Zugang. Was nun die in den epischen Textzusammenhang eingebetteten Redeszenen angeht, so bleiben, ungeachtet des in der Literaturbetrachtung häufig hervorgehobenen Umstands, dass durch die Gesprächspassagen dramatische Momente in die Erzählung Eingang finden, die Gattungsunterschiede doch fundamental: Auch die direkte Rede in einem Epos ist eine Form erzählter Rede und dem Erzählkonzept des Gesamttexts unterworfen; im Drama oder Drehbuch sind Redetexte in erster Linie als sprachliche Performanzanweisungen an Theater- oder Filmdarsteller gedacht, die diese ‘nachzuspielen’ haben. Der Text der als Teil der Kaiserchronik gestalteten Faustinian-Geschichte6 soll nun dialoganalytisch untersucht werden. Als erstes ist nach den kommunikativen Zwecken der darin enthaltenen längeren dialogischen Passagen zu fragen. Welche Gesprächsziele verfolgen die handelnden Figuren? Welche Interessen vertreten sie? Wie erfolgreich sind sie bei ihren Bemühungen? Welche praktischen (body movements und Werkzeuggebrauch) und sprachlichen Handlungsmittel setzen sie ein? Der novellistische Handlungsbogen, der sich von Trennung und Absturz ins Elend bis hin zur Zusammenführung und glücklichen Heimkehr der kaiserlichen Familie Faustinians nach Rom spannt, ist mit einer charakteristischen Handlungskette von sprachlichen Interaktionen verbunden, die in der einen oder anderen Form als Bekehrungsversuche7 angesehen werden können. Es handelt sich, wie gegen Ende des Textes vermerkt ist, im Kern um die Anfangsphase der Missionstätigkeit des Apostels Petrus in Rom, der zwar einiger Erfolg beschieden ist, die aber auch gegen allerlei Widerstände anzukämpfen hat: Sancte Peter hGp die gotes lere, Daz zornde dem kai_er _ere. 4045 Vil manigen er gelerte, Daz er _ich zegote kerte. (v. 4043–4046) 5
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Gerd Fritz, Kohärenz. Grundfragen der linguistischen Kommunikationsanalyse, Tübingen 1982, besonders Kapitel 9, „Eine monologische Kommunikationsform: Erzählen“, S. 269–307. Textgrundlage: Die Kaiserchronik. Ausgewählte Erzählungen, Bd. 1: Faustinianus, nach dem Vorauer Text hg. von Walther Bulst, Heidelberg 1946 (Editiones Heidelbergensis 5). Die Kursivierungen des Originals werden im Folgenden nicht übernommen. Vgl. zum Text Ernst Friedrich Ohly, Sage und Legende in der Kaiserchronik. Untersuchungen über Quellen und Aufbau der Dichtung, Münster 1840 (Forschungen zur deutschen Sprache und Dichtung 10), Nachdruck Darmstadt 1968. Für Hinweise auf Beispiele für Bekehrungsdarstellungen in der mittelalterlichen Legendenliteratur und einschlägige Literaturhinweise bin ich Frau Prof. Dr. Nine Miedema zu Dank verpflichtet.
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Es ist also der Frage nachzugehen, wie die Verfasser der Kaiserchronik, vermutlich ein Kreis von Regensburger Klerikern um die Mitte des 12. Jahrhunderts, sich das Wirken der ersten christlichen Glaubensboten im römischen Imperium und die Bekehrung der Römer vorgestellt haben und dies erzählerisch zu gestalten versuchten. Bevor man sich an die Detailanalyse der einzelnen Redeszenen des Textes macht, ist es vielleicht noch von Nutzen, sich eine genauere Vorstellung von dem Handlungsmuster ‘jemanden (zum wahren Glauben) bekehren’ zu machen. Welche Struktur hat der Dialogtyp ‘Bekehrungsgespräch’? Welche Untermuster sind zu unterscheiden? Einschlägige Hinweise sind von christlich-theologischer Seite zu erwarten; als brauchbar für linguistische Zwecke haben sich z.B. unter anderem die (auf die Kantische Philosophie gestützten) Ausführungen von Josiah Royce in der Einleitung zu seinem Buch von 1885, The Religious Aspect of Philosophy, erwiesen, beispielsweise die Aussage: „A man who propounds a religious system must have a moral code, an emotional life, and some theory of things to offer us“.8 Der hier sehr knapp aufgezeigte Zusammenhang liefert uns wertvolle Hinweise auf die Phasenstruktur eines Bekehrungsdialogs; diese könnten ergänzt werden durch die Lektüre von Missionsberichten aus der Neuzeit und aus empirischen Beobachtungen der Missionstätigkeit von Sekten der Gegenwart. Es sind demnach drei funktionale Phasen zu unterscheiden: In einer ersten Phase geht es darum, das bei Sp 2 bestehende (religiöse) Weltbild zu erschüttern und ein anderes (überlegenes) Weltbild an dessen Stelle zu setzen; in einer zweiten Phase erfolgt eine Belehrung über die sich aus der neu gewonnenen Weltsicht ergebenden ethischen Verhaltensweisen, und in einer dritten Phase geht es darum, diesen Zusammenhang emotional aufzuladen und zu verankern. Auf die frühe christliche Missionstätigkeit in Rom angewandt heißt das, dass zunächst das heidnische Weltbild in Frage zu stellen und seine Schwächen aufzudecken sind und dass die Kunde von Gottes schöpferischem Wirken und seinem Erlösungswerk verkündet und zur Glaubensannahme aufgerufen werden muss. Der Mensch als Geschöpf Gottes ist aufgefordert, den Willen Gottes zu tun und seine Gebote zu befolgen. Weiterhin bedarf es der Einübung in die richtige Form der Gottesverehrung: der begeisterten Hingabe im Gebet und der freudigen Erwartung des Himmelreiches.
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Josiah Royce, The Religious Aspect of Philosophy. A Critique of the Bases of Conduct and of Faith, Boston 1885, Nachdruck Kila (Mt.) 2007, S. 7. Vgl. Mathias Kohl, Linguistische Analyse religiöser Bekehrungsgespräche, Unveröff. Staatsarbeit Münster 1983; Carl Schneider, Geistesgeschichte der christlichen Antike, München 1978 (besonders S. 265–270; siehe auch S. 403–406).
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Diachrone Dialog-Analyse: Bekehrungsgespräche
II. Detailanalyse der Bekehrungs-Redeszenen im Erzählzusammenhang der Faustinian-Geschichte Das übergreifende Darstellungsgerüst der Kaiserchronik orientiert sich zwar an der Regierungsabfolge der römischen Kaiser – das Hauptinteresse gilt aber dem Wirken der Heiligen, ihren Wundertaten und ihrem Martyrium und darüber hinaus bemerkenswerten und lehrreichen Begebenheiten verschiedener Art, die in das chronologische Schema der KaiserSukzession eingefügt werden. Die Faustinian-Geschichte kann besonderes Interesse beanspruchen, weil es darin um eine entscheidende Phase der Heilsgeschichte geht, nämlich den Ausgriff der christlichen Missionstätigkeit, vor allem des Apostelfürsten und ersten Papstes Petrus, auf die Mitte des römischen Imperiums und das spätere Zentrum der Christenheit, auf die Stadt Rom selbst. Die Begebenheiten sind in die Regierungszeit des Claudius (41– 54 n.Chr.) verlegt, die im Text ziemlich exakt auf 13 Jahre und acht Monate angesetzt wird. Claudius übernimmt das Regiment von seinem (fiktiven) Bruder Faustinian, als dieser sich auf die Suche nach seinen Zwillingssöhnen Faustinus und Faustus begibt, die sich zum Studium der griechischen Philosophie nach Athen aufgemacht hatten und seither verschollen sind, ebenso wie ihre Mutter Mechthild, die ihnen nachgereist ist. Von der kaiserlichen Familie erleiden alle Schiffbruch, werden aber errettet und führen in der Fremde ein kümmerliches Leben. Nur der jüngste Sohn, Clemens, ist in Rom zurückgeblieben, versehen mit väterlichen Ermahnungen, etwa der, sich der Buchgelehrsamkeit zu widmen. Die erste Berührung Roms mit dem Christenglauben kommt zustande, als römische Kaufleute bei einer Orientreise, die sie auch nach Jerusalem führt, erfahren, Wie ein kint in die werlt w#re chomen Von einer magede geborn (v. 1778f.),
und dass große Wunder geschehen seien – Wasser sei in Wein verwandelt, Aussätzige seien geheilt, Blinde sehend gemacht und Tote zum Leben erweckt worden. Die Kaufleute wollen das zuerst nicht glauben und reisen deshalb nach Bethania, um die Dinge selbst in Augenschein zu nehmen; dort werden sie von Gottes Güte und von seiner Lehre überzeugt. Petrus nimmt die Gelegenheit wahr, einen Jünger namens Barnabas mit den Kaufleuten nach Rom zu senden, um dort zu missionieren: Daz hailige euangelium Hiez er in da chunt tůn. (v. 1806f.)
Unmittelbar vor der Abfahrt gelingt Barnabas noch die Bekehrung und Heilung eines an Wassersucht Leidenden. Wir haben hier gleichsam die minimale Form eines Bekehrungsgesprächs vor uns (v. 1812–1827): Do _i chomen an daz uruar, Ein wazzer_uhteger wart ir gewar, Er chlaget in _ine not. 1815 Sine hant er darbot „Wil du gel?ben an got
(‘Erlösungsverlangen’)
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Franz Hundsnurscher Der din urlo_er i_t Unt ie an anegenge was“ Sprach der gGt _ancte Barnabas 1820 „So wir_tu an dem libe unt an der _ele ge_unt“. Der _ieche _prach ander_tunt „Das gel?be ich uil gerne“, Do _egent in der hailige herre. Als daz cruce wart getan 1825 Ge_unt wart der _ieche man. DG _prachen Romere Daz er in ein lieber geuerte w#re.
(‘Glaubensbedingung’) (‘Erlösungsversprechen’) (‘Glaubensbekenntnis’) (Vollzugshandlung) (‘Erlösung’) (‘Außenwirkung’)
Ein Mensch beklagt sein Elend und streckt die Hand aus. Am Anfang steht hier eine Art leidensbedingtes ‘Erlösungsverlangen’, die ideale Vorbedingung für eine Bekehrung; die Frage nach der Glaubensbereitschaft ist mit einem Erlösungsversprechen, der Heilung von Leib und Seele, verknüpft, das explizite Glaubensbekenntnis wird durch eine rituelle Handlung besiegelt und das Erlösungsversprechen durch die erfolgte Heilung eingelöst; der so Bekehrte wird in die Gemeinschaft aufgenommen. Die römischen Kaufleute, Barnabas und der durch ein Wunder Geheilte sind somit die ersten Glaubensboten für Rom. Sie begeben sich in das dortige Rathaus, präsentieren ihre (Opfer-?) Gaben und werden von den Stadtoberen nach Neuigkeiten aus dem Orient gefragt; sie verkünden als erstes die frohe Botschaft: 1840
„Wir wellen iv groz wnder _agen Daz uon der werlt i_t unuernomen: Ain kint i_t uon ainer maide geboren“. (v. 1839–1841)
Die Römer tun dies als Flunkerei ab. Darauf berichten die Kaufleute von Jesu Wundertaten. Die Römer nehmen alles zur Kenntnis, führen es aber auf ärztliche Kunstfertigkeit zurück. Die Kaufleute führen weitere Wunder an und beteuern, dass sie mit eigenen Augen den nach drei Tagen vom Tode Auferweckten (Lazarus) gesehen und dass die Leute vor Ort das Ereignis bestätigt hätten. Die Römer sind daraufhin geneigt, Jesus eine gewisse Gottähnlichkeit zuzugestehen und ihn, falls dies verlangt werde, in die Schar ihrer Götter aufzunehmen. Do _prachen Romere Daz er einem ir gote geliche were, 1870 Unt het erz an _i geuorderot, Si heten in inpfangen als einen anderen got. (v. 1868–1871)
Bei diesem Stand der Dinge ergreift Barnabas selbst das Wort und verkündigt eindringlich einige heilsgeschichtliche Zusammenhänge: Es gebe nur einen wahren Schöpfergott, die anderen Götter seien eine schlimme Täuschung: Er _prac „wol ir Rom#re, Rechent iuueren _cepfere, Lat di_iu bosev getroc, Petet an ainen waren got 1880 Der iuch von der helle erloset hat. […]“ (v. 1876–1880)
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Diesem direkten Angriff auf ihre Überzeugungen und ihre Götterwelt begegnen die Römer mit zynischem Spott: Wie kommt es, dass der kleine Heuschreck sechs Beine und an beiden Seiten Flügel hat und der Elefant, der viel schwerer ist, sich mit vier Beinen behelfen muss? Barnabas weist die Zumutung einer solchen Frage entrüstet von sich und beruft sich auf seinen göttlichen Missionsauftrag: den Teufel zu vertreiben und die Seelen der Menschen zu gewinnen. Er erhält darauf einen eindeutigen negativen Bescheid: Do zGrenden Rom#re, Si hiezen in rumen ir dinchus, 1905 Mit _pote wrfen _i in daruz. (v. 1903–1905)
Wir haben hier den Fall eines misslungenen Bekehrungsversuchs vor uns, markiert durch Dialogabbruch. Die Römer beharren auf ihrem Weltbild und ihrer Lebensweise. Der christliche Welt- und Glaubensentwurf kommt nicht an gegen die diesseitige Denk- und Lebensweise der Römer. Ist des Barnabas Auftreten zwar aufs Ganze gesehen nicht erfolgreich, so geht es an dem jungen Clemens doch nicht ganz spurlos vorüber: Clemens der iuncherre Der behilt wol _in lêre. (v. 1906f.)
Clemens nimmt auf Anraten des Barnabas Verbindung zu dessen Meister Petrus auf, indem er Barnabas nach Cäsarea nachreist und von diesem Petrus vorgestellt wird, der ihm als Dank für seine offenherzige Aufnahme der Glaubensboten (in Rom) sogleich die Märtyrerkrone und das Himmelreich in Aussicht stellt: „[…] Daz du in der mart#rere kore Enphahe_t di himelichen krone, Wande dG in dirre werlte fNr_te bi_t. […]“ (v. 1956–1958)
Als erstes legt aber Clemens dem Petrus mehrere, das Schicksal der Seele betreffende Fragen vor, die er von ihm endgültig geklärt haben möchte. Petrus verspricht, ihm Aufschluss zu geben, bittet ihn aber vorerst zu warten; er versammelt seine 36 Jünger zum Gebet und setzt sie ins Bild. Es stünden wichtige Dinge auf dem Spiel; damit dieser Römer vollends bekehrt wird, müsse er Zeuge von Wundern werden: „[…] Nv _chul wir got flegen. Der ivngelinch i_t uon Rome geboren, Er i_t durech grozziv dinc her komen, Er i_t nahen deme gel?ben, Ge_ihet er dehaine t?gen, 2010 So wirt er got gehor_am“. (v. 2005–2010) 2005
Zwischenzeitlich werden Petrus und Clemens von einem Engel entrückt, und dieser führt ihnen das Schicksal einer Frau namens Rahel in Gethsemane vor Augen, deren Seele bei ihrem Tode von einer beträchtlichen Zahl von Teufeln unter Absingen von Kampfliedern in die Hölle entführt wird, während sie in zehn Meilen Entfernung zusehen können, wie die Seele eines heiligmäßigen Mannes namens Vedastus von einer großen Engelschar in den
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Himmel aufgenommen wird. Der Engel verspricht Clemens für sein allfälliges Martyrium das Gleiche. Wieder in die gewohnte Umgebung zurückgekehrt, sehen sich Clemens und Petrus mit der Kunde von einem Zauberer (g?kel#re, v. 2061) namens Symon konfrontiert. Ein Brüderpaar, Niceta und Aquila (in Wirklichkeit Faustinus und Faustus), kommt hilfesuchend, weil der Zauberer sie in seinen Bann geschlagen hat, zu Petrus, den sie mit „[d]er un_er libe mai_ter“ (v. 2069) ansprechen. Petrus verspricht, sie zu befreien, und verlangt, dass sie sich von dem Zauberer abwenden. Die Brüder versorgen Petrus mit Insider-Information über Symon, nämlich über seine Herkunft und seine Umtriebe. Petrus lässt sich in ein Streitgespräch mit Symon ein, das zu einem guten Teil unter Anspielung auf Bibelstellen geführt wird und in dessen Verlauf sich Symon als eine Art Antichrist geriert. Die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Zauberer Symon ist zwar indirekt auch in einen Bekehrungszusammenhang einzuordnen, hat aber einen anderen Status; sie hat nicht, wie Hans Fromm meint,9 die Bekehrung Symons zum Ziel, sondern dient seiner Entlarvung und Vertreibung. Die polemisch gegeneinander gesetzten Bibelstellen gehen in immer düsterere Offenbarungen über, so dass Symon am Ende Züge des Antichrist annimmt, z.B.: D? sprac des tieuels man „Peter daz wil ih dir rehte sagen. 2480 Ich enpin niht menniskilich […]“. (v. 2478–2480)
Vor solch verderblichem Einfluss muss das Volk geschützt werden; jeder Bekehrungsversuch würde an der Verstocktheit und Bösartigkeit dieses Abgesandten des Teufels und Feindes der Christenheit scheitern. Petrus erscheint als machtvoller und siegreicher Verteidiger des Glaubens; die ganze Szene gemahnt möglicherweise an spätantike Auseinandersetzungen mit häretischen Strömungen (z.B. Priscillian von Avila) oder an die Anfänge der Inquisition mit ihren Ketzer- und Hexenprozessen. Es geht dabei um die Bekämpfung eines Vertreters bösartigen Aberglaubens und um die Aufdeckung seiner Verbrechen. Das Ganze dient der Befreiung und der Festigung des Glaubens der Kaisersöhne und der übrigen Gemeinde: 2595
Si Trden alle uil frô, Got lobeten _i dG, Al daz inder _tete was, Si _prachen alle „deo gracias“. (v. 2595–2598)
Die Jüngerschar äußert den Wunsch, die gläsernen Säulen von Arantum zu sehen, und Petrus fährt mit ihnen dahin. Nach der Besichtigung verrichtet er abseits von den übrigen sein Gebet und wird dabei von einer Frau angebettelt:
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Hans Fromm, „Die Disputationen in der Faustinianlegende der ‘Kaiserchronik’. Zum literarischen Dialog im 12. Jahrhundert“, in: Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200. Festschrift für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag, hg. von Annegret Fiebig und Hans-Jochen Schiewer, Berlin 1995, S. 51–69, hier S. 52.
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„[…] Ih enhan ge_unt noh ge_ihene, Ih pin ein lamiv durftiginne […]“. (v. 2651f.)
Petrus bietet ihr seinen Rat und Trost an und warnt sie eindringlich davor, Selbstmord zu begehen, denn dafür müsse die Seele für immer ins Höllenfeuer. Die Frau ist so verzweifelt, dass sie auch dazu bereit wäre, wenn sie nur noch einmal ihre Kinder sehen könnte. Petrus will Genaueres wissen und stellt ihr, wenn sie fest an den Schöpfergott glaube, Hilfe in Aussicht: „[…] Din kunne _olt du mir u?rlegen, Ich wil dir gGt _in. Gel?be_tu minen trehtin Dir dih ge_caffen hat, 2700 So wirt din noh gGt rat“. (v. 2696–2700)
Die Frau, die in Wirklichkeit Mechthild, die Mutter der Kaisersöhne ist, schildert ihr Schicksal. Clemens kommt hinzu und ist verwundert; Petrus schickt ihn voraus aufs Schiff und befragt die Frau weiter; er eröffnet ihr gewisse Übereinstimmungen mit seinem Kenntnisstand aus den Schilderungen der Jungen. Sie wird von ihren Gefühlen überwältigt, Petrus führt sie zu Clemens; dieser verhält sich zunächst ablehnend, wird aber von Petrus ins Bild gesetzt, und Mutter und Sohn finden sich so auf wunderbare Weise wieder. Die Frau erinnert sich ihrer kranken Wohltäterin, diese wird herbeigebracht und Petrus wirkt ein Glaubenswunder: Dů _prac der frone bote gGte „Gel?be_t du angot den gGten 2860 Mit herzen und mit mGte?“ D? _prac diu frowe „Wi gerne ih an in gel?be“. (v. 2858–2862)
Petrus segnet die Kranke, worauf sie sogleich gesund wird; er gibt ihr Gold und vertraut sie einem guten Mann an. D? Trden gote gehor_am Alle di da waren Unt _i diu grozen zaichen _ahen. (v. 2872–2874)
Man setzt die Reise fort, und als sich die Zwillinge Niceta und Aquila erkundigen, wer die hilfesuchende Frau sei, erzählt ihnen Petrus die ganze Vorgeschichte, worauf sich die beiden als Faustinus und Faustus zu erkennen geben. Petrus setzt nun die Familienzusammenführung in Szene; erst jetzt erkennen alle Söhne einander, dann wird die Glaubensbekehrung mit Taufe an der Frau vollzogen und ihre Kinder werden ihr zugeführt. Mit ûf erhaben handen Lobten _i ir mai_ter _anct Peteren Der _iu ge_amenet hiete. DG _prac der h#ilige man „Iz hat got _elbe getan, 3025 Der heilige Cri_t Der ain _amenare i_t 3020
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Franz Hundsnurscher Des lîbes unde der _ele, Dem geben wir lop unt ere“. (v. 3020–2028)
Den Höhepunkt der wunderbaren Familienzusammenführung aber bildet die Bekehrung des Faustinian; sie erfolgt am Ende eines langen Gesprächs, das er mit Petrus und den drei (von ihm noch unerkannten) Söhnen über die wîls#lde, die Macht des Schicksals, führt. Tags darauf nämlich, während die Reisenden sich am Strand waschen und beten, nähert sich ihnen untertänig ein alter Lastträger und bittet Petrus um eine Unterredung. Nachdem er sie beim inbrünstigen Gebet am Strand angetroffen und den ganzen Tag über beobachtet habe – reiche Leute, denen offenbar irgendetwas Sorgen bereitet – könne er ihnen tröstlichen Zuspruch anbieten, wie er selbst ihn in seiner höchsten Not von einem Eseltreiber erfahren habe. Dieser hatte ihm, der nach dem Schiffbruch am Leben verzweifelte, seinerzeit klargemacht: Der e_el#re _prac d? „GGt man wi rede_t du nu _o? Du maht _in iemer got loben 1735 Daz du uz dem mer bi_t komen, Daz gGt la dir we_en unm#re, Daz was ain ubel wil_#lde. Swi naket du nu sta_t, Nu du den lip ha_t, 1740 Din wirt noh gGt rat […]“. (v. 1732–1740)
Diesen Gedanken gibt nun der alte Mann an Petrus und seine Schar weiter: „[…] Ger_t du denne ihtes mere Danne du uon der wil_#lde math han, So bi_t du #in wnderlich man, W#ne_tu daz dir iemer iht mege ge_cehen Wan al_o dir diu wil _#lde wil geben, 3105 Des uer_tan ih alle wile An min _elbe_ libe, Daz gebet nehain frum i_t Noh under uert niemer menni_ken li_t, Diu wil_#lde mGz ie regan […].“ (v. 3100–3109) 3100
Clemens zitiert dagegen Plato, will aber erst die persönlichen Hintergründe des Alten klären; das wird von Petrus als unerheblich zunächst beiseitegeschoben. Petrus bezeugt seinen Respekt vor der Gelehrsamkeit des alten Mannes und will dessen Ansichten erfahren: Es geht um die Wahrheit, und wer sie kennt, soll sie auch kundtun, wie schon das Jesuswort von der Stadt, die auf dem Berge liegt, besagt. Der alte Mann lässt sich darauf ein und bringt seine Thesen vor: „Peter ih _priche Daz nehain got die werlt rihte Noh _ie nih antraite Unt daz der uppik arbaite Der inder werlt ihtes gere 3170 Wan al_o ime div wil_#lde gebe. 3165
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In_welher wile der menni_ke wirt geborn, Div mGz iemer uber in komen, Er mGz iemer dirnnebern Al_o lange er _col leben, 3175 Ernemach niht uurbaz […]“. (v. 3165–3175)
In klaren Worten wird hier ein Wirken Gottes ausgeschlossen, ebenso die Wirksamkeit menschlichen Strebens; die Geburtsstunde entscheidet über alle Lebenschancen. Die drei Jüngeren führen ihre Schulung in römisch-griechischer Philosophie als Qualifikation für ihre Teilnahme an dem Disput an, und Petrus drängt, man möge das wîls#ldeProblem endgültig klären. Darauf ergreift Niceta (alias Faustinus) das Wort gegenüber seinem Vater und holt nun aus: Nur Einheitliches bestehe ewig, Zusammengesetztes und Geschaffenes vergehe; was wie Gott keinen Anfang habe, habe auch kein Ende, wohl aber habe die Welt einen Anfang, denn sie sei das Werk eines Schöpfers. Davon hält der alte Mann wenig; dass die Welt in Unordnung ist, hat er selbst mehrfach erfahren. Ein Schöpfer würde seine Schöpfung doch vor Schaden bewahren, dem Menschen stößt indes allerhand Unglück zu, und das liegt an der Macht der wîls#lde. Niceta will das Gegenteil beweisen: „[…] Sunder elliu di_iu werlt _tat Under aim _k#ph#re. 3340 Daz wil ih behaben und bew#ren“. (v. 3338–3340)
Die Menschen könnten Gutes oder Böses tun, am Ende müssten sie ihre Seele Gott überantworten; mit wîls#lde habe das nichts zu tun. Der alte Mann weist darauf hin, dass Geschöpfe eigentlich den Willen des Schöpfers tun müssten, die Menschen aber fügten einander Böses zu; außerdem seien die Menschen nicht von Geburt an gleich und jeder müsse sein Leben je nach seiner Lage einrichten. Niceta weist auf den freien Willen hin: 3420
„[…] Elliv menni_ken kint Inainer frihait _int, Erhat inlazen ain _elpkure […]“. (v. 3419–3421)
Es gebe zwar aufrechte und verlogene Menschen, aber jeder könne sich auf den rechten Weg zum Heil machen. Der alte Mann nimmt das wohlwollend zur Kenntnis; der Disput wogt hin und her. Die Jungen flehen den Alten an, doch auf sein Seelenheil bedacht zu sein. Der Alte aber bleibt bei seiner Überzeugung: ‘Ganz gleich, wie ich mich entscheide – die Welt bleibt wie sie ist und wird vom Schicksal bestimmt, ihm kann man nicht entrinnen’: 3660
„[…] Diu werlt ienoh hivte _tat So _i uon allerer_te wart, Si newirt niemer wir_ noh paz Wan _o _i allerer_te wa_. Da mGz der menni_ke inne leben, Swaz im diu wil_#lde wil geben […]“. (v. 3659–3664)
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Da ergreift Clemens wieder das Wort: ‘Du glaubst doch an die Götter und bringst ihnen Opfer dar; warum tust du das, wenn das Schicksal doch mit dir macht, was es will? Entweder der Wille der Götter oder das Schicksal ist entscheidend’ (vgl. v. 3744–3760). Darauf weiß der alte Mann nichts zu erwidern; zornig will er gehen, doch Petrus hält ihn zurück. Der alte Mann ist völlig niedergeschlagen, dass ihn ein unerfahrenes Kind überwunden hat. Nun übernimmt Petrus wieder und schlägt ein Experiment vor: Man möge sich doch einem Astrologen und Wahrsager mit trauriger Miene nähern und ihn bitten, einem die Sterne zu deuten, und dann suche man, sich fröhlich gestimmt gebend, einen anderen von dieser Zunft auf und lasse den die Sterne befragen – jeder werde zu einer ganz anderen Deutung kommen. Nun erzählt der alte Mann, wie das Schicksal ihm hart mitgespielt habe und er seit 14 Jahren auf der Suche nach seiner Familie ein elendes Leben führe. Petrus muss die Jungen zurückhalten, die anhand des Berichts in dem alten Mann, den sie immer schon mit ‘Vater’ angesprochen haben, ihren tatsächlichen Vater erkennen, Petrus lässt diesen die Namen seiner Kinder sagen und nimmt ihm das Versprechen ab, vom Glauben an die wîls#lde abzulassen. Dann weiht Petrus die umstehenden Zuhörer in die Zusammenhänge ein; schließlich übergibt er dem alten Mann auch noch die Zwillinge Faustinus und Faustus (alias Niceta und Aquila); der alte Mann wird ohnmächtig vor Freude, später bekennen alle ihren Glauben, und Faustinian empfängt die Taufe. Kaum ist das alles geschehen, meldet sich auch Symon der Zauberer wieder mit seinem Ränkespiel zurück. Er lässt sich als Cornelius, angeblich ein alter Freund des Faustinian aus Rom, ankündigen, verhext den Faustinian. Seine Frau durchschaut aber den Schwindel; Petrus wird zu Hilfe gerufen und macht durch sein Kreuzzeichen das Blendwerk wieder rückgängig. Nun wird Petrus von der Familie zur gemeinsamen Rückreise nach Rom eingeladen. Auch Symon reist ihnen nach und schmeichelt sich beim Kaiser (Claudius) ein. Als Petrus seine Missionsarbeit in Rom beginnt und viele Wunder wirkt, erregt er dadurch den Zorn des Kaisers; Symon hetzt beim Kaiser weiter gegen Petrus und spielt sich selbst als Gott auf. Nach dem Tode des Faustinian wird Petrus auf Betreiben des Symon von Kaiser Claudius aus Rom vertrieben, was wiederum die (inzwischen zum Teil bekehrten) Römer erbost, so dass sie den Kaiser, zumal er auch ihre Frauen nicht in Ruhe lässt, am Ende vergiften.
III. Ergebnisdiskussion Es scheint angebracht, zwischen dem novellistischen Handlungsbogen, der sich von Trennung, Absturz ins Elend bis zum Zusammentreffen, Wiedererkennen und zur glücklichen Heimkehr der kaiserlichen Familie spannt, auf der einen Seite und der Handlungskette einer Reihe von Bekehrungen zum Christenglauben auf der anderen Seite zu unterscheiden. Der erste auf Rom gerichtete Bekehrungsversuch des Barnabas im Auftrag des Petrus geht
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gleich aufs Ganze: Er ist auf das gesamte römische Gemeinwesen gerichtet und ist ein frontal vorgetragener Angriff auf die römische Lebens- und Götterwelt; er scheitert auch im Ganzen, abgesehen von den Denkanstößen, die bei dem jungen Clemens wirksam werden. Die vollständige Bekehrung des Clemens erfolgt später, außerhalb Roms, im Heiligen Land, das er aus eigenem Antrieb aufsucht. Barnabas betet für seine Bekehrung, Petrus hält ihn der Märtyrerkrone für würdig, die er neben seiner Fürstenkrone tragen soll; Clemens legt dem Petrus eine Liste von Fragen vor, das Schicksal der Seele betreffend. Petrus bittet mit seiner Schar von 36 Jüngern um Erleuchtung: „[…] Nv flege wir got dar umbe Daz er uns ettewie eroffen die _ache, 1995 Zewiv er den men_ch habe ge_caffen, Wiegetanen lôn div _ele enphahe So _i _ceidet uon dem lichnamen“. (v. 1993–1997)
Der Bekehrung eines ‘Fürsten’ kommt größte Bedeutung zu; sie wird mit vergleichsweise erheblichem argumentativen Aufwand betrieben. Hinzu kommen Wunderwirkungen: Petrus und Clemens werden entrückt, sie schauen das Los zweier Seelen, einer verdammten und einer seligen, und der Engel weissagt himmlischen Lohn: 2050
„Clemen_ lieber friunt min, Hi _olt du iemer ewiclichen _in, Mit marter enph#he_t du di crone, Di himeli_ken haim?t nah dem tode“. (v. 2050–2053)
Damit sind Clemens’ Fragen hinsichtlich seiner Seele von höchster Stelle geklärt. Auch die Symon-Geschichte steht, wie gesagt, in einem indirekten Zusammenhang mit Bekehrung, nämlich als Gegenpol: Die beiden älteren Kaisersöhne und Clemens werden Zeugen des Triumphs Petri und seines Wirkens. Die umfangreichste Redeszene, bei der es um die Bekehrung des Faustinian geht, ist deshalb von besonderem Interesse, weil hier die christliche Missionsarbeit auf eine reflektierte und durch eigene Lebenserfahrung gefestigte heidnische Überzeugung stößt, nämlich auf den Glauben an die wîls#lde, die Macht des Schicksals. Es wird explizit auf die griechische Philosophie als das tragende gedankliche Fundament hingewiesen. Faustinian und seine Söhne sind hochgebildete und selbstbewusste Vertreter antiker Geistigkeit; sie stimmen in ihren Auffassungen weitgehend überein, was in zahlreichen respektvollen Beitragsbewertungen zum Ausdruck kommt, wie z.B. 3275
„Sun du bi_t mai_terlichen u?rgeuarn, Al_o lange _o ih lebe So gehort ih nie bezzer rede Uon dihainem iungelinge, Du phlege_t gGter _inne […]“. (v. 3274–3278)
Die Auseinandersetzung bezieht ihren Reiz auch aus der besonderen Redekonstellation: Die Jungen verstehen es, aus heidnisch-philosophischer Sicht zu argumentieren, haben aber bereits den Schritt darüber hinaus in das christliche Denken gemacht und können deshalb die
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Schwachstellen der alten Denkweise erkennen. Es ist ausgerechnet Clemens, der jüngste, der deren entscheidenden Widerspruch aufdeckt: an die wîls#lde zu glauben und gleichzeitig auf die Hilfe der Götter zu vertrauen. Am Ende ist es aber Petrus, der mit der von ihm in Szene gesetzten Familienzusammenführung die vollständige Bekehrung des Faustinian herbeiführt, und zwar in förmlicher Anlehnung an das Taufgelöbnis: „Wil dG an ain waren got gelaube haben, Der wil_#lde wider _agen, 3885 Ih antw?rte dir hie ze_tet din wip Der dG gedarbet ha_t manigiv zit“. DG _prah der altman „Ih wil der wil_#lde wider _agen, Maht du daz getGn 3890 Daz ih er_ehe dehain minen _un, Mahte ih denne daz wip ge_ehen, Peter _o wolt ich dir der warhaite iehen“. (v. 3883–3892)
Die Bekehrung wird abschließend noch einer schweren Belastung ausgesetzt. Dem Zauberer Symon gelingt es, Faustinian noch einmal zu verblenden, doch seine Frau erkennt den Betrug. Wieder muss Petrus eingreifen und in einer Art Heilungshandlung, die eine große Außenwirkung zeigt und Emotionen freisetzt, das Erreichte sichern: DG lobeten den hailant Alle di da w#ren Wande _i diu grozen zaichen _ahen. (v. 4022–4024)
Die Anfechtung bleibt aber ihr ständiger Begleiter, als sich Petrus und seine Anhänger nach Rom begeben, um dort das große Missionswerk in Angriff zu nehmen.
IV. Schlussperspektiven An die Kaiserchronik sind in der bisherigen Forschung verschiedene philologische Deutungsmuster herangetragen worden. So hat Ernst Friedrich Ohly in seiner grundlegenden Untersuchung10 in erster Linie die Überlieferungszusammenhänge zu klären versucht und am Faustinian-Text vor allem den strukturierenden Handlungsrahmen von Trennung und Wiedervereinigung hervorgehoben, der dem Vorbild spätantiker Romane folgt. Für Karl Bertau ist die Kaiserchronik ein „seltsam provinzieller Ableger einer europäischen Renaissancebewegung“;11 ihm geht es um die Beschreibung und Beurteilung der 10 11
Ohly (wie Anm. 6). Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, Bd. 1: 800–1197, München 1972, besonders Kapitel 16 (darin „Vulgärsprachliche Mirabilien- und Legendenchronik in Regensburg“, S. 337–344), hier S. 342.
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unterschiedlichen Horizonte, in denen sich ideengeschichtlich relevante Bewusstseinslagen literarisch widerspiegeln. Für den Faustinian-Text verweist er irrtümlich in verkürzter Form auf das Problem der Willensfreiheit;12 es geht aber im Zusammenhang der wîls#lde vermutlich eher um den Gegensatz von astrologisch gestütztem Schicksalsfatalismus der Römer gegenüber dem Glauben der Christen an göttliche Vorsehung und Lebenslenkung. Hans Fromm wendet sich vor allem den beiden umfänglichen Dialogpassagen des Faustinian-Textes zu, in denen Symon der Zauberer und Kaiser Faustinian als anonymer alter Lastenträger auf unterschiedliche Weise dem Petrus Paroli bieten. Er charakterisiert sie allgemein als „Religionsgespräche“ und fasst sie als gegenüber dem Quellen-Text verkürzte und auf verschiedene Weise in die Romanhandlung eingeflochtene „Disputationen“ auf; zu ihrer näheren Charakterisierung wählt er die formalen Bezeichnungen „Streitgespräch[e]“, „Redegefechte“ und „Wortkämpfe“.13 Im vorliegenden Beitrag ging es darum, die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Untermuster von Bekehrungsdialogen zu richten. Die einfachsten Typen sind dadurch charakterisiert, dass sich ein Notleidender hilfesuchend einem Glaubensboten nähert; dieser geht teilnahmsvoll auf dessen Situation ein. Er prüft seine Glaubensbereitschaft und im Falle eines positiven Bescheides erfolgt eine wunderbare Heilung. Es handelt sich dabei um ein biblisches Muster; Beispiele dafür sind im Faustinian-Text die mit der Heilung des Wassersüchtigen durch Barnabas verbundene Redeszene (v. 1812ff.) und die Redeszenen, die die Bekehrung der Frau des Faustinian (v. 2614ff.) und ihrer Herrin durch Petrus begleiten. Je einen Typ für sich bilden die übrigen Textbeispiele: Der fehlgeschlagene Versuch einer Bekehrung der Römer durch Barnabas (v. 1872ff.) folgt dem klassischen Muster der Missionspredigt vor einer glaubensfernen fremden Menschenmenge. Die frontale Verkündigung der Glaubenswahrheiten, direkt verbunden mit Abwertung und Verurteilung der überkommenen Überzeugungen der Zuhörer, stößt auf Skepsis und feindselige Gegenäußerungen. Dabei ist diesem Versuch durch eine vorbereitende Interaktion ein günstiger Boden bereitet worden, denn glaubhafte Landsleute haben sich zu Fürsprechern gemacht und ihre einschlägigen Überzeugungen vorgetragen. Aber die anfängliche scheinbare Akzeptanz bleibt innerhalb des gewohnten Denkens, dem zweckmäßigen menschlichen Handeln mit gelegentlicher Unterstützung durch die Götter verhaftet, und übersteigt nicht die Stufe zum wahren Gottesglauben. Verkündigung bedarf der zusätz-
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Ebd., S. 343: „In einem höfischen Epos späterer Zeit wird das s o kaum zu finden sein. Mit solchen Stilzügen wendet sich die vulgärsprachliche Kaiserchronik an Laien, aber sie wendet sich nicht an schlechthin Ungebildete. Das zeigen die etwas weitschweifigen Moralreden und Diskussionen wie z.B. die der Faustinianus-Legende über den freien Willen, die ‘wilsaelde’ (3029– 3930)“. Fromm (wie Anm. 9), die Zitate S. 55, 54, 63.
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lichen Einwirkung des Heiligen Geistes, um die innere Bereitschaft zu wecken, und der Anschauung der Wundertaten, um zum Bekehrungserfolg zu führen. Die Bekehrung des jüngsten Kaisersohnes steht unter ganz anderen Vorzeichen: Es handelt sich um eine Einzelbekehrung, vorbereitet durch intensive Reflexion aus eigenem Antrieb, der Sorge um die eigene Seele entsprungen und dem Streben nach Wahrheit. Der Weg zur Heiligkeit ist Clemens vorgezeichnet, und ihm kann unmittelbare göttliche Erleuchtung zuteil werden. Es bedarf darüber hinaus kaum der missionarischen Anstrengung, lediglich einer Bestätigung; bei Clemens liegt gewissermaßen von vornherein Auserwählung und Berufung vor. Dass die Bekehrung nicht nur wundersam bewirkte Heilung des Leibes und der Seele durch Vermittlung der Glaubensboten sein kann oder im göttlichen Heilsplan vorbestimmte Erwählung, sondern daneben auch erbitterter und anhaltender Kampf gegen die Mächte der Finsternis, wird in den Symon-Szenen vorgeführt; nur ständige Wachsamkeit und Vertrauen auf den Schutz der Heiligen kann hier die Rettung der Seelen herbeiführen. Auf die exemplarische Ausführung eines komplexen, erfolgreichen Bekehrungsgeschehens, in dessen Mittelpunkt Faustinian steht, ist schon hingewiesen worden. Die um den kairos-Begriff kreisenden Redeszenen von der wîls#lde lassen, wenn auch nur andeutungsweise, das Ausmaß der geistigen Herausforderung erkennen, denen das Christentum sich in seinen Anfängen zu stellen hatte. Die Missionsreisen des Paulus geben Kunde davon, und vor allem das Leben und die Schriften der Kirchenväter, die größtenteils vor und neben ihren Bischofsämtern philosophisch geschulte und ausgewiesene Rhetoren klassischen Stils waren, wie etwa Augustinus; sie stehen für den schwierigen Prozess der Herausbildung der Denkformen der christlichen Antike. Nun kann man sich natürlich mit Karl Bertau fragen,14 ob Form und Niveau der Darstellung dieser welt- und heilsgeschichtlichen Prozesse, wie die Kaiserchronik sie bietet, dem Gegenstand angemessen sind und einem Vergleich mit den Gedankengängen Ottos von Freising und Abaelards standhalten können oder nicht. Bertaus Urteil ist sehr hart ausgefallen: „In Paris hätte man über die Primitivität der Argumentation nur gelacht“.15 Doch die historische Erinnerung an jene geistigen Auseinandersetzungen ist immerhin bewahrt, und man hat den Versuch einer Differenzierung von Bekehrungsformen unternommen. Eine Reihe existentiell entscheidender Fragen werden bemerkenswert offen, in pastoraler Absicht vielleicht zu direkt, angesprochen. Mit der ausführlichen Widerlegung des wîls#lde-Standpunkts ist der Faustinian-Text womöglich sogar in die Denktradition
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Bertau (wie Anm. 11), S. 343. Ebd.; er fährt fort: „Sie erinnert an Kinderstreitigkeiten, bei denen der eine ‘ja’ und der andere ‘nein’ wiederholt, ein entscheidendes Argument aber nicht beigebracht wird. Für die gebildeten Laienkreise, mit denen die Regensburger rechneten, mochte das seine Wirkung tun; ähnlich wie bei den dunklen Reden des Gilbert de la Porrée auf Otto von Freising: Man verstand zwar nicht, aber man wußte nun: da war noch mehr dahinter“.
Diachrone Dialog-Analyse: Bekehrungsgespräche
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der Kritik an der „faulen Vernunft“ zu stellen, wie sie bei Kierkegaard wieder aufgenommen wurde.16
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Z.B. in: Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst. Vorworte, Düsseldorf 1958, S. 115f.: „Die Freiheit anheben lassen als freien Willensschluß, als ein liberum arbitrium (das nirgends zu Hause ist, vgl. Leibnitz [S. 262, Anmerkung 181: Leibniz, Essais de Théodicée, 1710, § 320 nennt das liberum arbitrium indifferentiae eine Chimäre], das ebenso gut das Gute wählen kann wie das Böse, heißt von Grund auf jede Erklärung unmöglich machen. Von Gut und Böse als den Gegenständen der Freiheit sprechen, heißt sowohl die Freiheit wie die Begriffe Gut und Böse verendlichen. Die Freiheit ist unendlich und entspringt aus nichts. Deshalb sagen wollen, daß der Mensch notwendig sündige, heißt den Kreis des Sprunges in eine gerade Linie auseinanderlegen. Daß solch ein Verhalten vielen höchst plausibel erscheint, hat seinen Grund darin, daß Gedankenlosigkeit vielen Menschen das Allernatürlichste ist, und daß zu allen Zeiten die Zahl derer Legion gewesen ist, welche jene Betrachtungsweise für preislich halten, die vergeblich durch alle Jahrhunderte hindurch gebrandmarkt worden ist als faule Vernunft, λόγος ἀργός (Chrysipp), ignava ratio (Cicero), sophisma pigrum, la raison paresseuse (Leibnitz)“. Dazu Anmerkung 182 auf S. 262: „Unter ‘fauler Vernunft’ versteht man die Betrachtung, welche aus der Vorherbestimmtheit alles Geschehenden die völlige Gleichgültigkeit alles Wollens und Wirkens herleitet“.
Dagmar Neuendorff und Mia Raitaniemi
Über die Schwierigkeiten, sich zu streiten Dialoganalyse einer Streitszene aus dem Nibelungenlied und dem Kalevala
I. Fragestellung und methodische Vorüberlegungen Hintergrund dieser Abhandlung1 ist die Erfahrung einer Deutschen in Finnland, in finnischsprachigen Diskussionen mit Streitpotential auf eine Form sprachlichen Handelns zu stoßen, die ich später als die ‘finnische Gummiwand’ bezeichnet habe. Ich konnte gegen die Gegenseite anrennen soviel ich wollte, ich kam meines Erachtens mit sachlicher wie emotionaler Argumentation nicht durch. Und schlimmer – mein sprachliches Handeln wurde von finnischer Seite auch noch als aggressiv beurteilt, eine ‘Todsünde’ im finnischen Diskursstil, und war dadurch mit Sicherheit zum Scheitern verurteilt. Ich stand hilflos vor der Frage, welcher verdeckte interkulturelle Unterschied hinter diesem Scheitern lag. In dieser Erfahrung liegt nicht der einzige, aber ein zentraler Anlass für unser Interesse an differierenden Formen der Austragung von Konflikten. Bevor wir die oben aufgeworfene Frage näher behandeln können, sind einige methodische Vorüberlegungen notwendig. Wir haben von Gesprächen mit Streitpotential gesprochen. Es handelt sich also um Gespräche, denen nach der Terminologie von Reinhard Fiehler ein kompetitives Gesprächsmodell zugrunde liegt.2 Peter von Polenz entnahmen wir die Anregung, in der erstsprachigen Sozialisation erworbenes Wissen über Regeln sprachlichen Handelns als historisch herausgebildete3 „kollektive Konstituierung von Sinn und gesell1
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Der Beitrag ist von Dagmar Neuendorff und Mia Raitaniemi gemeinsam verfasst worden, damit sowohl die deutsche als auch die finnische Perspektive abgesichert wird. Vgl. hierzu Mia Raitaniemi, „Gesprochenes Finnisch und gesprochenes Deutsch – Kritischer Forschungsüberblick“, in: Intercultural Communication and Education. Finnish Perspectives / Communication et éducation interculturelles. Perspectives finlandaises, hg. von Eija Suomela-Salmi und Fred Dervin, Bern u.a. 2006 (Transvesales 18), S. 55–68, hier S. 64. Die am Anfang dieses Artikels beschriebene Erfahrung konnte natürlich nur Dagmar Neuendorff als nicht-muttersprachliche Sprecherin des Finnischen machen. Deshalb leiten wir den Artikel mit „ich“ ein und schließen ihn auch mit der 1. Person Sg. des Personalpronomens. Reinhard Fiehler, „Grenzfälle des Argumentierens“, in: Stilistik, Bd. 3: Argumentationsstile, hg. von Barbara Sandig und Ulrich Püschel, Hildesheim/New York 1993 (= Germanistische Linguistik 112–113/1992), S. 149–174, hier S. 149 und 163f. Zusatz von Dagmar Neuendorff.
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Dagmar Neuendorff und Mia Raitaniemi
schaftlichem Wirklichkeitsbewußtsein durch sprachliches Handeln“ zu begreifen.4 Wenn kollektive Konstitution von Sinn sich aber historisch herausbildet, dann muss davon ausgegangen werden, dass sich in verschiedenen Kulturen differente Konventionen in Form von differenten Sprechhandlungen5 entwickeln, die zu unterschiedlichen Ausformungen der jeweiligen Textsorten führen. Dies gilt auch für Formen des Streitens, wie sie in kontroversen Gesprächen zu finden sind. Der nächste logische Schritt war deshalb, nach historisch manifesten deutschen und finnischen kontroversen Gesprächen zu suchen, die den von mir erlebten Gesprächen in der Form, wenn schon nicht im Inhalt, entsprachen. Es liegt nahe, dass uns solche Gespräche vorwiegend in der Form schriftlich überlieferter, fiktionaler Dialoge vorliegen. Auf interessante kontroverse Situationen sind wir im Nibelungenlied und im finnischen Epos Kalevala gestoßen.6 Damit stellt sich die Frage, inwiefern fiktionale Dialoge für die Gesprächsanalyse verwendet werden können. Zu diesem umstrittenen Problem hat Jörg Kilian ausführlich Stellung genommen.7 Er kommt dabei unter Diskussion auch kritischer Stimmen zu dem Resultat, dass auch fiktionale Dialoge bei angemessener Auswertung dessen, was sie leisten können, als „Primärquellen“ betrachtet werden können.8 Wir möchten uns den Ausführungen von Kilian anschließen und diese im Kontext unserer Untersuchung noch ein wenig präzisieren: Die vorliegende Analyse zielt n i c h t auf die Rekonstruktion von Reflexen mittelalterlicher gesprochener Sprache. Untersuchungsgegenstand ist n i c h t die Kommunikation zwischen Autor und Rezipient, sondern die zwischen den handelnden Figuren, die Figurenrede. Diese wird im Unterschied zu natürlichen Gesprächen, wo dies die Gesprächspartner selbst tun, vom Autor geplant und gesteuert. Der Autor stiftet über die Figurenrede Sinn, der durch die handelnden Figuren hindurch auf den (zeitgenössischen)9 Rezipienten zielt. Den Prozess des scheinbar von den handelnden Figuren, in Wirklichkeit von dem Autor gesteuerten Aushandelns von interaktivem Sinn bezeichnen wir als Dialogführung. Wir gehen dabei von folgender methodischer Setzung aus: Auch im historischen literarischen Dialog muss dialogisch relevanter Sinn (scheinbar) interaktiv zwischen den handelnden Figuren 4
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Peter von Polenz, „Deutsche Sprache und Gesellschaft in historischer Sicht“, in: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, hg. von Werner Besch u.a., Bd. 1, Berlin/New York 1998 (HSK 2.1), S. 41–54, hier S. 45. Zum Begriff Sprechhandlung vgl. Helmut Gruber, Streitgespräche. Zur Pragmatik einer Diskursform, Opladen 1996, S. 25. Für einen entsprechenden Hinweis danken wir Prof. Dr. Kari Keinästö, Universität Turku, Finnland. Jörg Kilian, Historische Dialogforschung. Eine Einführung, Tübingen 2005 (Germanistische Arbeitshefte 41), S. 39f. Ebd., S. 43–46. Dieser Aspekt ist wichtig, denn nur der zeitgenössische Rezipient kann als vom Autor einplanbar angesehen werden. In der Generationsfolge jüngere Rezipienten können zwar noch die Fähigkeiten zu passiver Rezeption besitzen. An dieser Stelle setzt jedoch ein breite Grauzone ein, in der ‘zeitgenössische’ Rezeption in erschließende Rekonstruktion übergeht. Ohne feste Zeitnormen setzen zu können, liegt hier der Grund dafür, dass wir bei historischen Texten mit dem Prinzip der Rekonstruktion arbeiten müssen (vgl. hierzu auch Kilian, ebd., S. 53f.).
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ausgehandelt werden, um von dem zeitgenössischen Rezipienten in seiner Funktion vermittelt zu werden. Dies ist allerdings nur möglich, wenn den Dialogen Handlungspläne mit ihren konstitutiven Teilzielen als Form gesprächstypischer Konventionen zu Grunde liegen.10 Die Rekonstruktion solcher auf Sprechhandlungen basierender Handlungspläne historischer Dialoge eröffnet der Wissenschaft eine doppelte Perspektive: Einerseits kann eine solche Rekonstruktion einem historischen Interesse an gesprächstypischen Konventionen unter Umständen mit dem Fernziel einer Geschichte des Gespräches dienen, andererseits – und das ist in unserem Kontext zentral – kann die beschriebene Vorgehensweise mit aller gebotenen Vorsicht als ein Werkzeug genutzt werden, um im Kontext der Gesprächs- und Dialoganalyse die Diachronie mit der Synchronie zu verbinden.11 Geht man nämlich davon aus, dass auch historischen literarischen Dialogen und den Dialogsorten, auf denen sie basieren, konventionalisierte Handlungspläne zugrunde liegen, die uns bei adäquater Interpretation den Zugriff auf die Entwicklung und Veränderung von Konventionen erlauben, dann steht uns in überlieferten historischen Dialogen ein Material zur Verfügung, das in seiner Bedeutung für unsere Kommunikation in unserer Zeit bisher zu wenig erkannt worden ist. Grundsätzlich müsste geprüft werden, ob auf diese Weise die gegenwärtige statische Beschreibung von Kommunikation in dynamische Modelle überführt werden könnte, welche den historischen Prinzipien in Bewahrung und Veränderung von Konventionen angemessener Rechnung tragen. Besonders wichtig scheint uns dieser Ansatz, wenn es darum geht, kulturelle Differenz zu beschreiben. Das Problem liegt hier nämlich darin, dass wir es einerseits mit bekannten, uns aber nicht unbedingt bewussten eigenkulturellen Elementen zu tun haben, andererseits mit differenten und uns deshalb auffallenden fremdkulturellen Erscheinungen, für deren Einordnung uns die Parameter fehlen. Hier berührt sich die diachrone Herangehensweise mit der interkulturellen. In beiden Fällen sind wir in einem gewissen Grade inkompetente Rezipienten. Auch unsere Vorgehensweise im Hinblick auf den Erwerb des fehlenden Wissens ähnelt sich bis zu einem gewissen Grade. Fremdkulturelle wie historische Handlungspläne in ihrer spezifischen Ausformung stehen uns nicht als erworbenes Handlungswissen zur Verfügung. Sie müssen vielmehr von uns rekonstruiert werden. 10
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Zu diesen Überlegungen vgl. in anderem Kontext bereits Dagmar Neuendorff, „Das Gespräch zwischen Gyburg und Terramer in Wolfram von Eschenbachs ‘Willehalm’. Eine gesprächsanalytische Untersuchung“, in: Deutsch am Rande Europas, hg. von Anne Arold u.a., Tartu 2006 (Humaniora: Germanistica 1), S. 307–324, hier S. 307f. Zur Gesprächsanalyse allgemein siehe Klaus Brinker und Sven F. Sager, Linguistische Gesprächsanalyse. Eine Einführung, Berlin 21996 (Grundlagen der Germanistik 30); Arnulf Deppermann, Gespräche analysieren. Eine Einführung, Opladen 22001 (Qualitative Sozialforschung 3). Siehe außerdem Helmut Rehbock, „Herausfordernde Fragen. Zur Dialogrhetorik von Entscheidungsfragen“, in: Gesprächsforschung im Vergleich. Analysen zur Bonner Runde nach der Hessenwahl 1982, hg. von Wolfgang Sucharowski, Tübingen 1985 (Linguistische Arbeiten 158), S. 177–227; Hans-Jürgen Bucher, „Frage-Antwort-Dialoge“, in: Handbuch der Dialoganalyse, hg. von Gerd Fritz und Franz Hundsnurscher, Tübingen 1994, S. 239–258. Es ist uns völlig klar, dass eine solche Vorgehensweise von dem vorliegenden historischen Material an Dialogen abhängig ist und hier ihre Begrenzung findet.
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Dagmar Neuendorff und Mia Raitaniemi
In beiden Fällen bleiben uns nur zwei Wege: Entweder wir konstatieren statisch Differenz, bleiben damit aber ohne die Möglichkeit der Erklärung und eventuellen Einordnung unserer Resultate in umfassendere Kontexte, oder wir versuchen, in historischen Reihen wie sie Kilian vorschlägt, die Differenz von Konventionen in ihrer geschichtlichen Veränderung zumindest ansatzweise herauszuarbeiten und uns damit Parameter zu verschaffen, die uns eine Grundlage bieten für eine behutsame Einordnung unserer Erkenntnisse. Hier genau liegt der Ansatz für die intendierte Untersuchung. Wenn es gelingt, in einem historischen Dialog konventionelle Handlungspläne durch den Nachweis von entsprechenden Sprechhandlungen ausfindig zu machen, die sich mit aller Vorsicht zu modernen, uns bekannten Sprechhandlungen in analogen Situationen in Relation setzen lassen, so wäre eine Basis gewonnen, um kulturelle Differenz im Ansatz zu erfassen. Es versteht sich jedoch von selbst, dass eine solche Verfahrensweise in dem begrenzten Umfang dieses Beitrages nicht in der Form einer durch die Zeiten gehenden historischen Reihe durchgeführt werden kann. In der vorliegenden Untersuchung muss eine Eingrenzung vorgenommen werden. Deshalb sollen an zwei historischen Dialogen, einem deutschen und einem finnischen, differente Formen des Streitens aufgezeigt werden.
II. Die für die Analyse ausgewählten Texte Als Textgrundlage für die folgende Untersuchung sollen eine Szene aus dem Nibelungenlied und eine aus dem finnischen Kalevala herangezogen werden. Was das Nibelungenlied betrifft, so handelt es sich um die erste Ankunft Siegfrieds in Worms. Aus dem Kalevala wird die Auseinandersetzung zwischen dem alten Zauberer Väinämöinen und dem jungen Joukahainen analysiert. Die beiden Dialoge eignen sich für die intendierte Untersuchung, weil beide einen Werte- und Machtkonflikt enthalten und kontrovers in dem Sinne sind, dass letztlich keine inhaltliche Lösung des Konfliktes gefunden wird.12
II.1. Das Nibelungenlied Über das Nibelungenlied braucht hier nicht viel gesagt zu werden. Das hochmittelalterliche Werk entstand um 1200, überliefert im geographischen historischen Raum des heutigen Österreich und Ostbayern. Der Verfasser ist nicht bekannt. Das Nibelungenlied ist in drei Fassungen tradiert, in den einander relativ nahe stehenden Versionen *A und *B sowie der nach der Breite der Überlieferung erfolgreichsten Version *C. Im Nibelungenlied verbinden sich zwei Stoffkreise, einerseits Siegfrieds Werbung um Kriemhild am Hof der Burgunden zu Worms 12
Unter „inhaltliche[r] Lösung“ meinen wir, dass der Wertekonflikt beigelegt wird. Dies ist in beiden Beispielen nicht der Fall, wohl aber findet sich eine Handlungslösung, die den Fortgang des Geschehens ermöglicht.
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und seine Ermordung durch die Hand Hagens, andererseits der Untergang der Burgunden. Die Verklammerung der Ereignisse wird dadurch erreicht, dass der Burgundenuntergang als Rache Kriemhilds, die in zweiter Ehe die Frau des mächtigen Hunnenkönigs Etzels geworden ist, an ihren burgundischen (nibelungischen13) Verwandten und an Hagen interpretiert wird. Wie bereits oben dargelegt, wurde für die vorliegende Untersuchung die erste Ankunft Siegfrieds am Hofe zu Worms (Strophen 105–127) von der freundlichen Begrüßung durch König Gunther über den Streit um die Macht und den Besitz des Landes bis zur Aufnahme Siegfrieds am Wormser Hof ausgewählt.
II.2. Das Kalevala14 Im Gegensatz zum Nibelungenlied verblieben die Lieder, auf deren Grundlage das Kalevala entstand, bis in das 19. Jahrhundert in der Mündlichkeit. Auch entwickelte sich keine Epenstufe, vielmehr fanden sich in den verschiedenen Sanggebieten unterschiedlichste Versionen der Einzellieder. Es ist das Verdienst von Elias Lönnrot (1802–1884), die einzelnen Lieder zu einem Epos zusammengestellt zu haben. Elias Lönnrot wuchs in dem kleinen Ort Sammatti in der Landschaft Häme auf, er studierte an der Universität in Turku Literaturwissenschaft und schloss sein Studium 1827 mit einer Abhandlung über Väinämoinen, den wichtigsten Helden des Kalevala, ab.15 Hierauf folgte ein Medizinstudium mit Promotion über einen Gegenstand, der ebenfalls dem Bereich des Kalevala entnommen war: Om Finnarnes magiska medicin (1832). Während seines Studiums war Lönnrot durch die Universität in Uppsala (Schweden) in Kontakt mit romantischen Strömungen gekommen. Unter anderem auf diesen Einfluss lässt sich Lönnrots Interesse an mündlicher Überlieferung zurückführen. Seit dem Jahr 1828 unternahm Lönnrot elf Forschungsreisen.16 Auf diesen Reisen sammelten und verschriftlichten Lönnrot und seine Kollegen die einzelnen Lieder, die er dann später bearbeitet zum KalevalaEpos zusammenstellte.17 Das Kalevala als Produkt Lönnrots umfasst folgende Themenbereiche: 13 14
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Dieser Begriff wird im zweiten Teil des Nibelungenliedes für die Burgunden verwendet. Zum Folgenden vergleiche Hans Fromm, „Nachwort“, in: Kalevala. Das finnische Epos des Elias Lönnrot, aus dem Urtext übertragen von Lore Fromm und Hans Fromm, München 1967, Bd. 1, S. 341–386. Siehe außerdem Pertti J. Anttonen und Matti Kuusi, Kalevala-lipas. Uusi laitos, Helsinki 1999 (Suomalaisen Kirjallisuuden Seuran toimituksia 740). Der Titel lautet: De Väinämoine priscorum Fennorum numine. Siehe die Karte der Sammelreisen Lönnrots im Internet: http://www.finlit.fi/kalevala/index. php?m=218&s=222&l=9 (Stand 15.2.2008). Das Kalevala-Epos Lönnrots liegt in drei Fassungen vor, von denen die erste, das Urkalevala (1833), erst nach dem Tode des Verfassers veröffentlicht wurde. Aus dem Jahre 1835 stammt das Alte Kalevala, von 1849 das wieder neubearbeitete Kalevala, welches von Fromm (wie Anm. 14), S. 352, als „Neues Kalevala“ bezeichnet wird. Nur das Urkalevala trägt den Namen Lönnrots auf der Titelseite, in den übrigen Ausgaben findet dieser sich nach der Vorrede.
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1. den kosmischen Rahmen von Weltschöpfung18 und Urbarmachung des Landes; 2. die Heldenzeit mit den Hauptfiguren Väinämöinen, Lemminkäinen und Ilmarinen, deren Land Kalevala ist. Inhaltlich ist die Heldenzeit gekennzeichnet durch zwei Handlungskomplexe: Den ersten Komplex bilden die verschiedenen Brautfahrten der Helden nach Pohjola, dem Nordland, dessen Herrin Louhi ist. Die Tochter des Nordlandes gewinnt schließlich Ilmarinen, der Schmied, indem er den Sampo schmiedet, ein wundersamer Gegenstand, der Pohjola Fruchtbarkeit und Reichtum bringt. Der zweite Komplex beinhaltet die gemeinsame Fahrt der drei Helden nach Pohjola, um den Sampo für Kalevala zurückzuerhalten. Aber der Sampo fällt ins Meer, nur Trümmer werden gerettet. Lönnrots Kalevala endet mit dem Heraufdämmern der christlichen Welt durch die Geburt des Sohnes der Marjatta (Maria). Väinämöinen flieht aus dieser neuen Welt mit einem kupfernen Boot. Wie oben bereits kurz angesprochen, wollen wir den Konflikt zwischen dem alten Zauberer Väinämöinen und dem jungen Joukahainen behandeln. Es ist dies der dritte Gesang des Kalevala. Die Auseinandersetzung beginnt, als Joukahainen als bewusste Provokation in den Schlitten Väinämöinens fährt, und endet damit, dass Väinämöinen über eine Lüge Joukahainens zornig wird und ihn mit einem Zauberlied buchstäblich immer tiefer in das Moor hinein singt, bis sich Joukahainen mit dem Angebot seiner jungen Schwester Aino als Braut für Väinämöinen freikauft. In der Auseinandersetzung dreht es sich um die Frage, wer auszuweichen habe.
III. Diskussion der Adäquatheit von Textgrundlage und Vorgehensweise Mit dem Nibelungenlied haben wir einen Text des 13. Jahrhunderts vor uns, der als solcher bereits wiederholt für gesprächsanalytische Untersuchungen herangezogen worden ist,19 so dass hier die Angemessenheit der Verwendung des Werkes für eine historisch orientierte Dialoganalyse auf der Grundlage unserer Überlegungen zur Verwendung fiktionaler Dialoge auf der Hand liegt. Schwieriger ist die Situation, was das Kalevala betrifft. Es ist kein Zweifel darüber möglich, dass Lönnrots Kalevala in seinen drei Fassungen ein Werk des 19. Jahrhunderts ist, das sich wiederum spezifisch von den durch Mitschrift im 19. Jahrhundert überlieferten Liedern unterscheidet. Man könnte daher mit Recht feststellen:20 18
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Dass Väinämöinen bei der Erschaffung der Welt anwesend ist, spielt eine zentrale Rolle in dem Streit zwischen Väinämöinen und Joukahainen. Vgl. zum Forschungsstand Kilian (wie Anm. 7); direkt zur zu behandelnden Szene: Nine Miedema, „Die Gestaltung der Redeszenen im ersten Teil des Nibelungenliedes. Ein Vergleich der Fassungen *A/*B und *C“, in: Ze Lorse bi dem münster. Das Nibelungenlied (Handschrift C). Literarische Innovation und politische Zeitgeschichte, hg. von Jürgen Breuer, München 2006, S. 45–82, insbesondere S. 49–58. Dort findet sich auch ein guter Überblick über die Sekundärliteratur. Fromm (wie Anm. 14), S. 344.
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Lönnrots stilgemäße Bescheidenheit hatte ungeahnte Folgen. Obwohl er nie daran dachte, die Spuren seiner eigenen Tätigkeit zu tilgen, nahmen die Nachfahren das anonyme Epos als vollen Zeugen der Tradition und arbeiteten mit ihm wie mit einem frühzeitlichen Epos, wie mit dem Nibelungenlied oder dem Beowulf. Doch können die karelischen Lieder und das finnische Epos nur je Verschiedenes geben.
Eine solche direkte Beziehung wird in unserer Untersuchung natürlich nicht gesucht. Hier bewährt sich, wie am Ende dieses Abschnittes festzustellen sein wird, wiederum der Ansatz, nach durchgehenden Sprachhandlungen als Konventionen des Streitens zu suchen. Ehe diese Vorgehensweise jedoch begründet werden kann, muss kurz über die Tradierung der Lieder, einzelne Sänger und die Vorgehensweise Lönnrots bei der Erstellung des Epos referiert werden. Hans Fromm schreibt über das Ausgangsmaterial Lönnrots21 für die drei Fassungen des Kalevala-Epos:22 Was Lönnrot an Rohstoff vorfand, waren die vielen tausend Verse, die er auf seinen Sammelreisen, vor den Liedsängern sitzend, in seine kleinen Hefte gekritzelt hatte oder was andere vor ihm oder neben ihm eingebracht hatten.
Entscheidend ist nun für unsere Argumentation, dass diese Lieder nicht in der Mündlichkeit untergegangen sind, sondern bewahrt und in Suomen Kansan Vanhat Runot (SKVR)23 veröffentlicht wurden.24 Die drei Kalevala-Fassungen Lönnrots basieren in hohem Umfang auf karelischem Liedmaterial.25 Es handelte sich zu jener Zeit um ein entlegenes Gebiet, dessen Bewohner noch illiterat waren und einem mit heidnisch-religiösen Vorstellungen durchsetzten Christentum anhingen. Für Lönnrot besonders wichtig wurde das nördlichste Sanggebiet. Fromm schreibt über dieses Gebiet:26 470 Liedvarianten mit rund 200000 Versen wurden aufgezeichnet; die Zahl der Vortragenden – nicht alle waren ‘Sänger’ im eigentlichen Sinn – dürfte 600 bis 700 betragen haben. Die 21
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Lönnrots Sammelarbeit wurde erleichtert durch seine Versetzung als Kreisarzt nach Kajaani, in die Nähe der weißmeerkarelischen Sangesgebiete. In den Jahren 1828 bis 1834 unternahm er vier Sammelreisen, bei denen er Sängern mit besonders reichem Repertoire begegnete. Aus diesen Begegnungen formten sich später zentrale thematische Einheiten des Kalevala-Epos. Siehe Fromm (wie Anm. 14), S. 348f. Ebd., S. 346. Suomen Kansan Vanhat Runot (SKVR) [‘Alte Gedichte des finnischen Volkes’], hg. von Suomalaisen Kirjallisuuden Seura [Gesellschaft für Finnische Literatur], Bd. 1–14, Helsinki 1908–1948, Bd. 15, Helsinki 1997. Es handelt sich um ein 34-bändiges Sammelwerk, das in den Jahren 1908– 1948 veröffentlicht wurde. Eine Ergänzung mit Sammelgut der frühesten Sammler erschien im Jahre 1997 (Bd. 15). Das Corpus des SKVR ist heute über das Internet nach diversen Suchfunktionen abrufbar: http://dbgw.finlit.fi/skvr/ (Stand 15.2.2008). Vgl. Väinö Kaukonen, Elias Lönnrotin Kalevalan toinen painos [‘Die zweite Auflage des Kalevala von Elias Lönnrot’], Helsinki 1956 (Suomalaisen Kirjallisuuden Seuran toimituksia 247); ders., Vanhan Kalevalan kokoonpano [‘Die Zusammensetzung des Alten Kalevala’], 2 Bde., Helsinki 1939–1945 (Suomalaisen Kirjallisuuden Seuran toimituksia 213). Den geographischen Umfang dieses Gebiets beschreibt Fromm (wie Anm. 14), S. 361f., der hervorhebt, dass die mündlichen Traditionen noch bis ins 20. Jahrhundert lebendig blieben. Ebd., S. 362.
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Dagmar Neuendorff und Mia Raitaniemi Qualität der Lieder wußte schon Lönnrot zu rühmen. Im Vergleich zu den Liedern anderer Sanggebiete sind die weißmeerkarelischen Varianten häufig umfangreicher.
Von Wichtigkeit für unsere weiteren Überlegungen ist die Tatsache, dass die Lieder mitschriftlich überliefert vorliegen, zum Teil von verschiedenen Sängern mit lokaler Differenz, zum Teil mit wiederholtem Vortrag im Abstand von 20 Jahren. Wir wissen ferner über die Verschriftlichungen, dass der lebensweltliche authentische Vortrag nicht die Regel war, sondern:27 Das übliche war, daß der Sänger eigens für den Sammler sang, ihm sozusagen in die Feder diktierte, nicht selten ununterbrochen, bis das Reservoir des Liedgedächtnisses ausgeschöpft war. ‘Er sang mir zweieinhalb Tage’, das sind typische Bemerkungen in Lönnrots Fahrtentagebuch.
Ferner ist bekannt, dass der Vortragsort für das epische Lied die Wohnstube war und sich so die Tradierung in den Familien fortsetzte.28 Von besonderem Interesse für uns ist die folgende Aussage Fromms, die zeigt, dass es bei den Sängern sowohl ein Bewusstsein für Konsistenz und Begrenzungen der Abwandlung gibt, wie auch für den Einsatz von Varianten:29 Wie in Südslawien haben wir auch in Karelien die Möglichkeit, uns von dem Grad der Bewahrungstreue ein Bild zu machen; denn es haben im Abstand von mehreren Jahren verschiedene Sammler den gleichen Sänger aufgesucht und wir haben auch mehrmals das gleiche Lied aus dem Munde des Vaters und des Sohnes im zeitlichen Abstand einer Generation, wobei der Sohn das Lied vom Vater erlernte. Die Konsistenz des Textes ist weit besser als wir es von den serbischen Sängern kennen. Bei größeren Abweichungen bekannte zum Beispiel der karelische Sänger, daß er nicht allein der Sangart seines Vaters gefolgt sei, weil er inzwischen noch eine andere Sangart kennengelernt und verwendet habe.
Werden die Darlegungen zu den Liedern, die dem Kalevala zugrunde liegen, ausführlicher referiert, weil die Bedeutung der Lieder als Quellenmaterial hierin ihre Begründung findet, so können wir uns bei der Darstellung der Verfahrensweise Lönnrots kürzer halten. Fromm beschreibt das Vorgehen Lönnrots30 zusammenfassend:31 Das Geschäft führt weder ein romantischer Ästhet, der etwa der ‘schönsten’ Zeile den Vorzug gegeben hätte, noch ein Forscher mit modernem kritischen Bewußtsein, der es vielleicht auf ‘Echtheit’ und ‘Ursprünglichkeit’ abgesehen hat. ‘Wichtig’ kennzeichnet den Gesichtspunkt des Erzählers, der sein vorgegebenes Material gemäß seiner epischen Konzeption behandelt.
Die obigen Darlegungen bieten die Grundlage für die Begründung unserer eigenen Vorgehensweise im Hinblick auf das Kalevala: Auf der Basis des Neuen Kalevala Lönnrots (NKL) (einsetzend mit dem Zusammentreffen der Kontrahenten bis zu dem Augenblick, wenn Joukahainen in den Sumpf gesungen 27 28 29 30
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Ebd., S. 369. Vgl. ebd., S. 367. Ebd. Der Ansatz lässt sich auch daran erkennen, dass für das Alte Kalevala (16 Gesänge, über 15000 Verse) nur 200 bis 300 Verse von Lönnrot stammen (ebd., S. 353). Ebd., S. 352.
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wird) werden die Sprechhandlungen der Konkurrenten beschrieben. Diese werden sodann in einem zweiten Schritt daraufhin überprüft, inwiefern sie sich in den mitgeschriebenen Liedern finden, wodurch sie rückwärts in die Tradition des Liedgesanges eingegliedert werden.32 In einem dritten Schritt werden die so abgesicherten Sprechhandlungen mit denen im Nibelungenlied verglichen. Der vierte und abschließende Schritt wird darin bestehen, eine vorsichtige Annäherung an die Frage zu versuchen, ob und inwiefern aufgewiesene Differenzen auch heute noch differente Ausprägungen der Ausformung von konfliktären Gesprächen bedingen können. Was den gesprächsanalytischen Ansatz betrifft, so werden wir mit einem interaktionalen Ansatz arbeiten. Terminologisch werden wir die Begriffe ‘Dialog’ und ‘Dialogschritt’ verwenden. Wir gebrauchen den Begriff ‘Dialog’, weil es sich bei unseren Werken um Figurenrede in fiktionalen Texten handelt. Analog dazu sprechen wir von ‘Dialogschritten’ und bezeichnen damit das, was von Erving Goffman in natürlicher Rede als ‘Gesprächsschritt’ bezeichnet wird. Es ist „das, was ein Individuum tut und sagt, während es jeweils an der Reihe ist“.33
IV. Analyse IV.1. Das Nibelungenlied Dem zu analysierenden Dialog ist eine Passage vorangegangen, in welcher Hagen den König und seine Gefolgsleute über die Karten Siegfrieds informiert und sie überzeugt, dass eine ehrenvolle Aufnahme Siegfrieds am Hof angemessen ist. Der nun folgende Dialog, dem unsere Analyse gilt, wird mit Narration eingeleitet. Diese thematisiert die in vollendeter Form vor sich gehende höfische Aufnahme Siegfrieds (Narr., Str. 105,1f.).34 Hieran wird ebenfalls in Narration die Reaktion Siegfrieds angeschlossen (Narr., Str. 105,3f.).35 des begvnd in nigen der waetliche man daz si in heten grvezen so rehte scone getan.
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Da es sich bei mündlicher Überlieferung stets um Momentaufnahmen handelt, ist natürlich keine zeitliche Festlegung möglich. Aussagen von den Sängern lassen jedoch, wie dargelegt, eine gewisse Konstanz im Bereich der zentralen Sprechhandlungen und der Konventionen, auf denen sie beruhen, erwarten. Zitiert nach Helmut Henne und Helmut Rehbock, Einführung in die Gesprächsanalyse, Berlin/New York 42001, S. 16f. Die Siglen der Dialogschritte sind der gesprächsanalytischen Übersichtstabelle der Dialoge im Anhang dieses Beitrags (S. 58f.) zu entnehmen. Zitiert nach http://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/12Jh/Nibelungen/nib_n_ 00.html (Stand 15.2.2008). Vgl. auch Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 1997, 2002 (RUB 644).
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Es ist auffallend, wie stark hier das höfische Zeremoniell der Aufnahme eines Fremden, der potentiell ein Gegner sein kann,36 betont wird. Aufschluss geben die nächsten beiden Dialogschritte, die nun in direkter Rede gehalten sind. Nach der freundlichen Begrüßung und deren Akzeptanz stellt Gunther nämlich in Gu1 cehant (‘sogleich’) die Frage nach dem Ziel von Siegfrieds Reise. Siegfrieds Antwort (S1), welche die wissenschaftliche Forschung immer und immer wieder beschäftigt hat, muss wohl auch für den mittelalterlichen Rezipienten außerhalb des Erwartungshorizontes gelegen haben. Hinzuweisen ist hierfür auf den bayerischen Landfrieden aus dem 13. Jahrhundert, wo ein Angriff 37 nach erfolgtem Gruß als ein Verbrechen angesehen wird,38 das mit Verlust der Hand zu bestrafen war. Wie zuletzt Martin H. Jones nachgewiesen hat,39 muss ein angemessen ausgeführter höfischer Gruß und dessen Akzeptanz40 als eine Verpflichtung auf Friedensbereitschaft angesehen werden. Entsprechend kann man sich vorstellen, wie die Herausforderung in S1 auf einen höfischen Rezipienten des 13. Jahrhunderts wirken konnte: „[…] nv ir sit so chvene als mir ist geseit so ne rvoch ich ist daz iemn lieb oder leit ich wil an iv ertwingen swaz ir mvget han lant vnde bvrge daz sol mir werden vndertan.“ (Str. 110)
Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass in der folgenden Narration Verwunderung und Zorn der Umstehenden thematisiert werden (Str. 111). Und erst vor dem oben dargestellten Hintergrund lässt sich die Reaktion Gunthers (Gu2) angemessen einordnen, der versucht, den Konflikt beizulegen durch Zurückweisung des Anspruchs von Siegfried unter Rückgriff auf den Wert rechtmäßigen Besitzes durch Vatererbe. Indem Siegfried (S2) aber auf seinen Anspruch insistiert und diesen mit dem Recht des Stärkeren begründet, entwickelt sich hier ein Wertekonflikt, basierend auf der Begründung für rechtmäßige Herrschaft. Dass die Position Siegfrieds am Burgundenhof nicht geteilt wird, geht aus dem narrativ wiedergegebenen Widerspruch von Hagen und Gernot hervor (Str. 114,4). An dieser Stelle übernimmt Gernot die Dialogregie, indem er nun in direkter Rede (Ger1) den Anspruch Siegfrieds – und damit den Wert der Legitimation von Macht durch Stärke – unter Rückgriff auf den Wert der Legitimation von Macht durch Recht zurückweist. Wieder haben wir in der Narra36 37
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Vgl. Nibelungenlied, Str. 101–102. Es fällt auf, dass Gernots sprachliches Handeln ebenso wie dasjenige Gunthers narrativ eingeführt wird. Vgl. Burkhardt Krause, „Zur Problematik sprachlichen Handelns. Der gruoz als Handlungselement“, in: Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst, hg. von Rüdiger Krohn, Bernd Thum und Peter Wapnewski, Stuttgart 1978 (Karlsruher kulturwissenschaftliche Arbeiten 1), S. 394–406, hier S. 405. Martin H. Jones, „nû wert iuch, ritter ez ist zît (Erec, v. 4347). Zum verbalen Vorfeld des ritterlichen Zweikampfs in deutschen Artusromanen des 12. und 13. Jahrhunderts“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 139–156, bringt weitere Belegstellen sowie relevante Sekundärliteratur. Zum zu knapp gehaltenen Grüßen als Ausdruck von Feindseligkeit vgl. ebd., S. 145.
Über die Schwierigkeiten, sich zu streiten
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tion die Betonung des Zürnens (Str. 116,1f.), diesmal aber der Freunde und Gefolgsleute. Und es ist Ortwin, ein Gefolgsmann, der danach (Ort1) das Wort ergreift. In seinem ersten Teilgesprächsschritt (Ort1.1) kritisiert Ortwin Gernot für dessen Versuch der Konfliktbeilegung in Ger1. Ortwin verbindet seine Begründung mit einer Bewertungshandlung, Siegfried habe dem Königsbruder „vnverdient widerseit“ (Str. 116,4).41 Dies bedeutet, dass Ortwin das Gesprächsverhalten von Siegfried als unberechtigte Aufkündigung des Friedens interpretiert, der mit dem ‘Gruß’ (vgl. die narrative Einleitung, Str. 105) geschlossen worden sei.42 In seinem zweiten Teilgesprächsschritt (Ort1.2) wendet sich Ortwin weiter an Gernot. Allerdings ist Ortwins Aussage so angelegt, dass sie mit seiner Hochstapelei Siegfried provozieren muss: „[…] ob ir vnt iwer brvoder hetet niht di wer vnd ob er danne fvorte ein gancez kvneges her ih trvote wol erstriten daz der chvene man diz starchez vbermveten von waren schvlden mvese lan.“ (Str. 117)
Wie die Erzählernarration (Str. 118,1) zeigt, interpretiert Siegfried die Aussage Ort1.2 dann auch als auf sich bezogen und reagiert nun seinerseits mit Zürnen. Hieran schließt Siegfried (S3) die Provokation Ortwins durch ständische Demütigung und Hochstapeln an. Der Konflikt, der mit dem Eingreifen des Gefolgsmannes Ort1 eskaliert ist, erreicht hier mit dem in Narration gebrachten Ruf nach Waffen den gefährlichen Höhepunkt des Umschlagens von einem verbalen Konflikt in eine bewaffnete Auseinandersetzung: nach swerten rief do sere von mecen oertwin (Str. 119,1). Wieder ist es der Erzählbericht, durch den der Rezipient von dem vermittelnden Einschreiten Gernots erfährt, ehe in Ger2 Gernots Dialogschritt in direkter Rede erfolgt. Dieser Dialogschritt enthält zwei Teile: In Ger2.1 kritisiert Gernot den Gefolgsmann für sein Zürnen und erklärt, dass noch keine Ehrverletzung geschehen sei. Letzteres ist insofern interessant, als Gernot damit versucht, den durch die Herausforderung zum Zweikampf bewirkten Friedensbruch als ein Verhalten darzustellen, das noch mit höfischer Diplomatie befriedet werden kann. In Ger2.2 fügt Gernot als Begründung für seine Strategie das staatspolitische Argument hinzu, dass es besser sei, Siegfried zum Verbündeten zu machen. Allerdings ist Gernot in Ger2 mit seinem Schlichtungsversuch nicht erfolgreich, da Hagen in seinem nun folgenden Dialogschritt Ha1 nur auf Ger2.1 Bezug nimmt. Im ersten Teil des Dialogschrittes (Ha1.1) widerspricht Hagen dem Königsbruder, indem er explizit unter Bezug auf die Gefolgsleute und in Aufnahme von Ort1.1 darauf hinweist, dass dadurch eine Ehrverletzung stattgefunden habe, dass Siegfried um des Kampfes willen nach Worms gekommen sei. Hieran schließt Hagen (Ha1.2) eine Bewertung an, die darauf hinausläuft, dass sich die Burgunder als Gäste nicht so verhalten hätten. Obwohl die Aussage Ha1.2 an Gernot gerichtet ist, liegt in ihr ein Provokationspotential, auf das Siegfried (S4) natürlich eingeht, 41 42
Zum Begriff einem widersagen vgl. ebd., S. 144f. Vorgehenstechnisch kann darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir hier durch die Analyse der Interaktion eine Bestätigung unserer Interpretation von Str. 105 erhalten haben.
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welcher nun wiederum Hagen herausfordert. Trotz des Eingreifens von Ger2.1 ist damit der Konflikt nicht entschärft worden, sondern an einen neuen Höhepunkt von Vorwurf und Gegenvorwurf gekommen. An dieser Stelle greift Gernot (Ger3) – als Adelsfreier und damit den Gefolgsleuten übergeordnet – mit der Deklaration ein, den Konflikt aus eigener Machtvollkommenheit zu lösen: „daz sol ich eine wenden“ (Str. 123,1). Er verbietet den Gefolgsleuten einfach das Reden. Interessant ist hier, dass die in indirekter Rede wiedergegebene Sprechhandlung bezeichnet wird als reden […] iht mit vbermvete (Str. 123,2f.).43 In Erzählernarration wird als Abwägung von Interessen Siegfrieds persönliche Motivation angedeutet, Kriemhild zu gewinnen (Str. 123,4). Ger3.2 bringt sodann als Begründung für Ger3.1 die Wiederholung des Hinweises auf die Sinnlosigkeit eines Kampfes. Allerdings hält dies Siegfried, der als Adelsfreier widersprechen darf, nicht davon ab, in S5 Hagen und Ortwin noch einmal zu provozieren. Jetzt aber wird der Teufelskreis aus Vorwurf und Gegenvorwurf durchbrochen, denn die Gefolgsleute dürfen ja nicht sprechen, wie das auch in Str. 125,4 explizit in Erzählernarration angemerkt wird: si mvosen rede vermiden daz was gernotes rat (Str. 125,4). Damit ist der Konflikt auf der Handlungsebene beseitigt, wenn auch das Problem nicht gelöst ist, und Gernot kann nun in Ger4 Siegfried und sein Gefolge als Gäste willkommen heißen. Und nun kann auch die in Erzählernarration wiedergegebene Bewirtung der Gäste als Ausdruck der friedfertigen Aufnahme in die Hofgesellschaft vonstatten gehen. Es fällt auf, dass hier zum ersten Male seit der im Erzählbericht gebotenen Begrüßung Siegfrieds am Burgundenhof und Gu1 sowie Gu2 Gunther wieder genannt wird. Der Wein, der den Gästen angeboten wird, wird explizit als gvnthers win bezeichnet (Str. 126,4). Und nun erst erfolgt auch die Begrüßung der Fremden durch den Herrscher des Landes (Gu3), gefolgt von einem abschließenden Erzählerkommentar.44
IV.2. Das Kalevala Wenden wir uns nun dem Kalevala mit dem Wettkampf zwischen dem jungen Joukahainen und dem alten Väinämöinen zu. Zur Erinnerung sei noch einmal darauf hingewiesen, dass sowohl der Aufbruch des Helden als auch die Szene, in der sich die beiden Hauptfiguren nach dem Zusammenstoß der Schlitten der Identität des Gegners versichern, entfallen, weil es sich hier um Textpassagen handelt, die in den mitschriftlich überlieferten Liedern unserer 43
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In diesem Kontext wird auch deutlich, dass der Begriff leit in den Strophen 121 und 123 als ein staatspolitischer aufgefasst werden muss in dem Sinne, dass hier die Frage von Ehrverletzungen mit entsprechenden politischen Folgen verhandelt wird. Die in der Sekundärliteratur häufig vertretene Charakteristik von Gunther als einem schwachen König trifft zumindest für die vorliegende Szene nicht zu. Gunther begrüßt als Herr des Landes den Gast in friedvoller Absicht, geht als rex iustus defensiv gegenüber dessen Bruch der Norm vor, überlässt dann aber dem Königsbruder die (Handlungs-) Lösung des Konflikts und wird wiederum als Gastgeber aktiv, als deutlich wird, dass der Fremde seine feindliche Position aufgegeben hat und so in den Wormser Hof integriert werden kann.
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Über die Schwierigkeiten, sich zu streiten
Kenntnis nach nur vereinzelt aufzufinden waren. Wir beginnen daher mit der Herausforderung Väinämöinens durch Joukahainen zum Wissenskampf, wobei wir davon ausgehen, dass es sich auch hier um einen Machtkampf handelt. Dass Joukahainen sowohl in den Liedern (L) als auch in dem Neuen Kalevala Lönnrots (NKL) der Herausforderer ist, wird doppelt abgesichert: einerseits dadurch, dass Joukahainen den alten Zauberer provoziert, indem er ihn buchstäblich über den Haufen fährt, und andererseits dadurch, dass Joukahainens erster Dialogschritt (J1) eine Herausforderung enthält. Hier haben wir in diesem ganz anderen kulturellen Umfeld ebenfalls einen wertbasierten45 Machtkampf und damit eine Situation, die der des jungen Siegfried vor Worms erstaunlich ähnlich ist.46
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Silloin nuori Joukahainen sanan virkkoi, noin nimesi: „Vähä on miehen nuoruuesta, nuoruuesta, vanhuuesta! Kumpi on tieolta parempi, muistannalta mahtavampi, sep’ on tiellä seisokahan, toinen tieltä siirtykähän. Lienet vanha Väinämöinen, laulaja iän-ikuinen, ruvetkamme laulamahan, saakamme sanelemahan, mies on miestä oppimahan, toinen toista voittamahan!“
Doch der junge Joukahainen sagte so, sprach solche Worte: „Wenig wiegt des Mannes Jugend, Mannes Jugend, Mannes Alter Wer an Wissen ist der Beßre, an Erinnrung überlegen, Der soll auf der Bahn nur bleiben, Aus dem Wege weich der andre! Bist der alte Väinämöinen, du der urzeit-alte Sänger, Wollen wir den Sang beginnen, wollen wir die Sprüche sprechen, Daß der Mann den Mann erprobe, einer Sieger sei des andern“.47
Auch in dem finnischen Kontext ist davon auszugehen, dass das Verhalten Joukahainens nicht den gesellschaftlichen Normen und somit den Erwartungen der finnischen48 Rezipienten entsprach. Wir haben es also hier, wie im Nibelungenlied, mit einem Bruch gesellschaftlicher Normen zu tun. Aus deutscher Perspektive fremd ist nun die Reaktion des alten Zauberers. Anstatt wie die Königsbrüder im Nibelungenlied das Ansinnen zurückzuweisen oder wie die Gefolgsleute zu provozieren, weicht Väinämöinen einen Schritt zurück: In V1.1 stapelt Väinämöinen tief, indem er betont, wie gering sein Wissen sei. Im NKL und in den Liedern weichen die Texte voneinander ab, was nicht weiter verwunderlich ist, da Lönnrot ja seine eigene Version des Kalevala aus der Vielzahl mitschriftlich fixierter Lied-Varianten zusammenge-
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Der implizit diskutierte Wert ist hier der des Vorranges des Alters, der bei den Rezipienten (bis in die jüngste Vergangenheit) als Wert vorausgesetzt werden kann. Zu beachten ist natürlich, dass wir im Nibelungenlied eine ständisch differenzierte Gruppe von Dialogteilnehmern vorfinden, während es sich im Kalevala und den Liedern (jedenfalls was den hier zu behandelnden Abschnitt betrifft) nur um zwei Dialogteilnehmer handelt. Die Übersetzung ist von Lore und Hans Fromm (wie Anm. 14). Das Adjektiv „finnisch“ ist nur kulturell / sprachlich zu verstehen, da der politische Staat (gegründet 1917) ja noch nicht existierte.
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stellt hatte. Wichtig ist jedoch, dass sowohl das NKL als auch die Lieder die Sprechhandlung des Tiefstapelns aufweisen. Im NKL sieht dies folgendermaßen aus:49 135
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Vaka vanha Väinämöinen sanan virkkoi, noin nimesi: „Mitäpä minusta onpi laulajaksi, taitajaksi! Ain’ olen aikani elellyt näillä yksillä ahoilla, kotipellon pientarilla kuunnellut kotikäkeä.“
Väinämöinen alt und wahrhaft, sagte so, sprach solche Worte: „Was bring ich denn schon zuwege als ein Sänger, als ein Kenner? Immer lebte ich mein Leben einsam auf den öden Brachen, an vertrauten Ackerreinen Hört’ den Kuckuck in der Heimat“.
Hieran schließt sich Väinämöinens Aufforderung an Joukahainen an, sein Wissen nachzuweisen, wodurch der alte Zauberer implizit die Herausforderung annimmt. Auch diese Sprechhandlung ist im NKL ebenso wie in den Liedern enthalten.
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„[…] Vaan kuitenki kaikitenki sano korvin kuullakseni: mitä sie enintä tieät, yli muien ymmärtelet?“
„[…] Doch dem sei nun, wie ihm wolle, sage nun, daß ichs vernehme: Was denn weißt du mehr als andre, worin geht dein Wissen weiter?“
Die konkreten Redebeiträge, mit denen Väinämöinen tiefstapelt, differieren im Neuen Kalevala und in den Liedern. Die Sprechhandlung selbst ist aber sicher belegt. Im Neuen Kalevala, wie in den Liedern,50 schließt an V1.1 die Forderung Väinämöinens51 an (V2.2), Joukahainen möge sein Wissen nachweisen. Diese Kombination der Sprechhandlungen ist nun von Bedeutung. Indem Väinämöinen der Provokation52 Joukahainens keine Zurückweisung des Anspruchs entgegensetzt und auch keine Provokation, wie dies von Seiten der Gefolgsleute der Fall war, sondern zurückweicht in die oben beschriebenen beiden Sprechhandlungen Tiefstapeln und Forderung des Wissensnachweises, entsteht eine anders geartete Dialogstruktur. Der alte Zauberer gewinnt die Bewertungsmacht. Joukahainen muss in J2 genau das tun, was er in J1 gefordert hat: Er muss sein Können unter Beweis stellen. Im Neuen Kalevala und in den Liedern erfolgt nun eine Präsentation von kläglichem Wissen. Diese ist im Neuen Kalevala auf drei Dialogschritte aufgeteilt (J2–4), jeweils unterbrochen durch eine Negativbewertung des Wissens von Joukahainen durch Väinämöinen (V2–4). In den Liedern, die auch in ihrer nördlichen Langform im Umfang sehr viel knapper gehalten sind, trägt Joukahainen sein Wissen als Block ohne Unterbrechung vor. Interessant ist, dass Joukahainen nicht auf die Negativbewertung eingeht. Aber stets endet der Wissenskampf damit, dass Joukahainen erklärt, bei der Erschaffung der Welt dabei gewesen zu sein (J4), und dafür von Väinämöinen (V4) der Lüge beschuldigt 49
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Kalevala. Kolmas runo [‘Das Neue Kalevala Lönnrots’, Fassung 1849, Der dritte Gesang]. Siehe http://www.finlit.fi/kalevala/index.php?m=1&s=12&l=1 (Stand 15.2.2008). Es gibt einige Fälle, in denen die Namen und die Rollen vertauscht worden sind, aber das ist für die obige Argumentation nicht von Belang. Vgl. aber die Diskussion in Abschnitt V. Damit entstehen zu diesem Zeitpunkt weder Blockaden noch Eskalationen.
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Über die Schwierigkeiten, sich zu streiten
wird. Dies wird im Neuen Kalevala explizit, in den Liedern oft implizit formuliert, indem Väinämöinen dagegensetzt, e r – und nicht Joukahainen – sei bei der Weltschöpfung dabei gewesen. Vergleicht man die Entwicklung der konfliktären Struktur des Dialoges mit derjenigen im Nibelungenlied, so fällt insbesondere der folgende Aspekt auf: Indem im Neuen Kalevala, wie in den Liedern, Väinämöinen durch das Tiefstapeln die Bewertungsmacht erhält, verschafft sich der alte Zauberer ein Instrument, um Joukahainen zu disqualifizieren und ihn schließlich durch die Lüge endgültig ins Aus zu treiben:53 235
Sanoi vanha Väinämöinen: „Sen varsin valehtelitki! Ei sinua silloin nähty, kun on merta kynnettihin, meren kolkot kuokittihin […].“
Väinämöinen sprach, der alte: „Du bist doch ein rechter Lügner! Du warst damals nicht zu sehen, als man ackerte die Meere, man des Meeres Höhlen hackte […].“
IV.3. Die Einzellieder Wir haben nun nachgeprüft, inwieweit die ermittelten Sprechhandlungen in den von den Sammlern verschriftlichten Liedern realisiert wurden. Für diesen Zweck haben wir die in SKVR veröffentlichten und über das Internet abrufbaren Lieder zum dritten Gesang zusammengestellt. Die gesuchten Sprechhandlungen sind die, die im dritten Gesang des NKL nachgewiesen wurden: Herausforderung, Tiefstapeln, kein Eingehen auf negative Bewertungen, Vorwurf der Lüge, Zurückweisung des Vorwurfs der Lüge sowie darauf folgende Bestrafung Joukahainens.54
Die Lieder zeichnen sich generell durch eine gewisse Bruchhaftigkeit und Kürze dem Textbestand des Lönnrotischen Kalevala gegenüber aus, wie dies für mündliche Überlieferung nicht unüblich ist. Die von uns am NKL herausgearbeiteten Sprechhandlungen können trotzdem jeweils in mehreren Belegen wiedergefunden werden. Wir bieten zur Veranschau53
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Im Neuen Kalevala schließt hier eine Passage an, in der Joukahainen Väinämöinen zum Schwertkampf herausfordert. Auf diese wird von uns nicht weiter eingegangen, da sie nur vereinzelt in den uns bekannten Liedern repräsentiert ist. Das Resultat ist das Gleiche: Durch die Lüge gereizt, demütigt Väinämöinen den Kontrahenten Joukahainen, indem er ihn buchstäblich immer tiefer ins Moor hineinsingt, bis dieser sich in seiner Verzweiflung dadurch freikauft, dass er dem alten Zauberer die eigene junge Schwester Aino zur Frau anbietet. Dieser – oft recht ausführlich dargestellte – Vorgang wird ausschließlich im Erzählerbericht geboten. Die Sprechhandlungen Provozieren und Demütigen werden hier nur in der Anmerkung angesprochen, weil sie im Kalevala und in den Liedern nonverbal bzw. nur im Erzählerbericht repräsentiert sind.
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lichung zwei Lieder, die nach dem Vortrag von als gut geltenden Sängern verschriftlicht wurden. Diese Sänger sind Varahvontta Sirkeińi und Arhippa Perttuńe.55 Im folgenden, von Lönnrot selbst aufgezeichneten Abschnitt des Liedvortrages von Varahvontta Sirkeińi können die Sprechhandlungen Herausforderung und Tiefstapeln wiedergefunden werden:56 Abschnitt 157 5
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Sano nuori J[oukahaine]n: „Oi si[e] v[anha] V[äinämöine]n, Laulaja iän [ikuinen], Virren porras pol[vuhinen], Kumpa on [tieolta parempi], Se nyt tiellä seisokkaan.“ Sano v[anha] V[äinämöine]n: „En minä mitänä tieä, Vaan tieän kuiten[ki] vähäs[en], Tiän tervan karki[eksi], Tulen poltanan kipeeks[i], Meen mustan muikieksi.“
Sagte der junge Joukahainen:58 „Oh du alter Väinämöinen, Sänger ewiger Zeiten, Des Liedes kundig, Wer ist des Wissens besser, Der soll auf dem Wege stehenbleiben.“59 Sagte der alte Väinämöinen: „Ich weiß nicht besonders viel, Nur weiß ich doch ein wenig zu erzählen, Ich weiß dass Teer bitter ist, Wie des Feuers Flamme schmerzt, Und dass der schwarze Nektar sauer ist“.60
Joukahainen fordert Väinämöinen in den Versen 8f. zum Wissenskampf heraus. Darauf reagiert Väinämöinen wie im NKL mit Tiefstapeln (v. 11). Er fügt jedoch hinzu, dass er schon über ein bescheidenes Wissen verfüge (v. 12), und singt über die Eigenschaften des Teers (v. 13–15), womit er implizit die Herausforderung annimmt. Abschnitt 2 belegt die Sprechhandlungen, dass auf eine negative Beurteilung nicht eingegangen wird, und den Vorwurf der Lüge sowie darauf folgend das Singen in den Sumpf:61
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Die weiteren Belege finden sich in den Fußnoten. Weitgehend entsprechende Sprechhandlungen wurden auch in den Liedern I1.195.5–15, I1.198.7– 17, I1200.34–46, I1.201.8–19, I1.185.10–18, I1.185a.12–23, I1.520.40–44 gefunden (die Zahlen stehen für den Band des SKVR, die Nummer des Liedes und die Versnummern). Sigle und weitere Informationen zu dem Lied nach SKVR: I1.195. Uhut. Lönnrot A II 9, n. 38. – 27/4 1835. Varahvontta Sirkeińi l. Jamańi. In die Wiedergabe konnten aus technischen Gründen nicht alle Akzentzeichen aufgenommen werden, aber dies hat keinen Einfluss auf die Bedeutung der Textpassagen. Die Versnummerierung entspricht dem Original. Die Übersetzung der Segmente aus dem SKVR-Korpus stammt von den Verfasserinnen dieses Beitrages. Es wurde eine Übersetzungsform ohne Reim und Rhythmus gewählt. Auch hier geht es somit darum, wer ausweichen muss. Hier endet der Dialogschritt von Väinämöinen. Beide Sprechhandlungen finden sich auch in den Liedern I1.185.27–38 und I1.185a.35–45 wieder. In manchen Liedern fanden wir nur jeweils eine der Sprechhandlungen: eine negative Beurteilung, auf die nicht eingegangen wird, in VII.148a.61–68 und VII1.150.40–48, oder den Vorwurf der Lüge in I1.195.22–25, I1.200.55–68, I1.201.29–32, I1.509.110–113 und I4.2138.10–11.
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Abschnitt 262
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Sano nuori Joukkaha[inen]: „Tieän kolkot kuok[ituksi], Kala hauat kaivetuksi, Taivoset tähitetyksi, Ilman pielet pistetyksi.“ Sano vanha V[äinämöine]n: „Lapsen tieto, vaim[on] muisti, Ei on partasuun urohon. Omat on kolkot kuokk[imani], Taivoset tähitt[ämäni], Olin m[iessä] 3:tena Ilman pieltä pist[ämässä], [Ilman] ┌kaarta┐ kantam[assa], Taiv[osta] tähitt[ämässä].“ Laulo n[uoren] J[oukahai]sen,
Sagte der junge Joukahainen: „Ich weiß, wie Höhlen gehackt wurden, die Fischgraben gegraben wurden, der Himmel mit Sternen versehen, der Himmelsbogen gesetzt wurde.“ Sagte der alte Väinämöinen: „Kindes Wissen, Weibes Gedächtnis, ist nicht wie von einem Mann mit Bart. von mir selbst wurden die Höhlen gehackt, der Himmel mit Sternen versehen, ich war der Männer dritter, beim Setzen der Himmelsbogen, beim Tragen der Himmelsbogen, beim Versehen der Himmel mit Sternen.“ [Er] sang den jungen Joukahainen, [hinein in den Sumpf].
Joukahainen zitiert sein Wissen in den Versen 11–16.63 Väinämöinen wertet dieses Wissen in den Versen 17f. als Kinder- und Weiberwissen ab und erklärt danach, er persönlich sei für die Schaffung der Erde verantwortlich, womit er dem jungen Joukahainen implizit vorwirft zu lügen. Auf diesen Vorwurf geht Joukahainen nicht ein. In der Untersuchung des gesamten Joukahainen-Materials der SKVR-Sammlung haben wir keinen Beleg gefunden,64 in dem Joukahainen auf den (objektiv berechtigten) Vorwurf eingeht. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Wir haben in den im SKVR veröffentlichten Mitschriften von den gesungenen Liedern alle Sprechhandlungen nachweisen können, die wir aus dem NKL herausgearbeitet hatten. Damit dürfte die Validität der gewonnenen Sprechhandlungen soweit abgesichert worden sein, wie dies an einem historischen Corpus im Rahmen des vorliegenden Beitrages möglich ist. Auf dieser Basis sollte es jetzt methodisch vertretbar sein, im nächsten Abschnitt einen Vergleich der Sprechhandlungen der beiden analysierten konfliktären Dialoge im Hinblick auf Übereinstimmungen und Differenzen vorzunehmen, und diese in den Kontext einer behutsamen Diskussion moderner konfliktärer Gesprächsformen in unseren beiden Ländern bzw. Kulturen zu stellen.
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Sigle und weitere Informationen zu dem Lied nach SKVR: I1.170. Latvajärvi. Lönnrot A II 6, n. 79–1834. Arhippa Perttuńe. In diesem Lied sind zu Anfang die Rollen von Väinämöinen und Joukahainen vertauscht, was aber für unsere Passage nicht von Bedeutung ist. Es muss angemerkt werden, dass in SKVR nicht alle Varianten der im 19. Jahrhundert gesammelten Lieder veröffentlicht sind. Eine Recherche der unveröffentlichten Mitschriften steht noch aus.
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V. Resultate Die Untersuchungen der Sprechhandlungen in dem ausgewählten Dialog des Nibelungenliedes hat Resultate in zwei Bereichen gebracht: Zum einen können wir Sprechhandlungen ausmachen, die als historisch bezeichnet werden können und im Zusammenhang mit der mittelalterlichen höfischen Gesellschaft und ihren Regeln für Kampf und Frieden stehen. Hier lassen sich drei Begriffe fassen, von denen der erste, leit, im staatsrechtlichen Zusammenhang als Bemessungsgrundlage für den Bruch gesellschaftlich-politischer Normen angesehen werden kann. Die anderen beiden Begriffe sind explizit bezeichnete Sprechhandlungen, die uns zwar auch heute nicht fremd sind, aber in ihrer spezifischen Ausformung an den geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext der Zeit gebunden sind. Sie gehören somit in den Bereich der Erkenntnis historischer Phänomene durch den Einsatz der historischen Gesprächsanalyse: 1. (formvollendetes höfisches) grüezen (mit verbaler oder gestischer Akzeptanz) als Ausdruck von durch gesellschaftliche Normen und Gesetze geregelter Friedensbereitschaft.65 2. widersagen66 als gesellschaftlich-ethisch verpflichtende Norm der Aufkündigung des Friedens.67 Anders sieht es mit den folgenden Sprechhandlungen aus:68 Herausfordern Zurückweisen Insistieren Hochstapeln Demütigen Negativbewertung Provozieren (mit der Bezeichnung der Sprechhandlung reden […] iht mit vbermvete).
Sie alle sind uns auch heute bekannt und sollen daher in eine kulturkontrastive Diskussion aufgenommen werden. Demgegenüber haben wir in dem Kalevala (und den Liedern) folgendes Bild:69 Provozieren (non-verbal) Herausfordern Tiefstapeln 65
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Diese Bedeutung ist heute nur noch in der Form des Nicht-Grüßens als Ausdruck von Verärgerung vorhanden. In unserem Kontext als Konstatierung, dass ein widersagen n i c h t erfolgt sei. Der Begriff existiert nicht mehr, die Sprechhandlung findet sich nur noch im zwischenstaatlichen Bereich in der Form der Kriegserklärung. Die Sprechhandlungen werden in der Reihenfolge ihres Auftretens angeführt. Die Sprechhandlungen sind hier auffallend auf die handelnden Figuren verteilt, die ersten beiden (Sprech-) Handlungen sind vorwiegend Joukahainen zuzuschreiben, die übrigen Väinämöinen.
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Negativbewertung Beschuldigung des Gegners der Lüge und Zurückweisung eines ungerechtfertigten Anspruches Demütigung des Gegners.
Die Zusammenstellung zeigt, dass wir teils Sprechhandlungen haben, die denen des Nibelungenliedes zu entsprechen scheinen, teils solche, die sich nicht im Nibelungenlied finden.70 Zu den Sprechhandlungen, die sich in beiden Texten befinden, gehören: 1. Herausfordern Zurückweisen Demütigen Provozieren 2. Negativbewertung.
Jeweils nur im deutschen oder finnischen Text finden wir die Sprechhandlungen: 3. Insistieren Hochstapeln Tiefstapeln Beschuldigung der Lüge.
In der ersten Gruppe befinden sich Sprechhandlungen, in deren Form der Verwendung in den deutschen und finnischen Dialogen keine Unterschiede erkennbar wurden. Bei den Sprechhandlungen der Herausforderung hat die Analyse gezeigt, dass es sich in beiden Werken um einen wertebasierten Konflikt handelt, in dem die Machtfrage gestellt wird. Was die Sprechhandlung des Zurückweisens betrifft, haben wir die gleiche sprachliche Handlung in unterschiedlichen Kontexten. Das gleiche Resultat ergibt sich auch im Hinblick auf die Sprechhandlung des Demütigens. Im Nibelungenlied handelt es sich der feudalen Gesellschaft entsprechend um eine ständische Demütigung Ortwins, im Kalevala – weit entfernt von der kontinentalen höfischen Welt – ist es der sich im Unrecht befindende Angreifer, der gedemütigt wird. Was die Sprechhandlung des Provozierens betrifft, so fällt allerdings auf, dass sie im Nibelungenlied immer verbal und markant häufiger eingesetzt wird als im Kalevala. Dazu zeigt der Dialog im Nibelungenlied, dass eine Provokation bis zum Sprechverbot Gernots von den Gefolgsleuten stets mit einer Gegenprovokation beantwortet wird. Hier wird im Kalevala ganz anders verfahren.71 Die zweite Gruppe differiert dadurch gegenüber der ersten, dass hier Sprechhandlungen auf der Oberfläche identisch scheinen, sich aber in ihrer Ausformung unterscheiden. In beiden Werken wird negativ bewertet, aber es besteht ein Unterschied in den Reaktionen der Gesprächspartner. Im Nibelungenlied ruft die Negativbewertung von Siegfrieds Herausforderung durch Hagen (Ha1.2) sofort einen verbalen Angriff Siegfrieds hervor (Si4), da Siegfried die Negativbewertung als Provokation interpretiert. In dem NKL reagiert Joukahainen nicht auf die Negativbewertung, sondern nur auf der Sachebene, und in den Liedern, 70
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Aus der folgenden Analyse nehmen wir die als ‘historisch’ bezeichneten Sprechhandlungen des Nibelungenliedes natürlich heraus. Vgl. die Darlegungen zur Sprechhandlung Tiefstapeln.
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wo der Gesang als Block gehalten worden ist, findet sich unseres Wissens überhaupt keine Reaktion Joukahainens, obwohl diese Negativbewertung bereits an die Grenze der Beleidigung reicht.72 Die dritte Gruppe enthält die Sprechhandlungen, die nur in den deutschen oder nur in den finnischen Texten auftreten. Das soll nun nicht bedeuten, dass es sie in der anderen Kultur nicht gibt, sie bilden aber vielleicht in Konfliktsituationen nicht die erste Präferenz. Ausschließlich73 im Nibelungenlied finden sich die Sprechhandlungen des Insistierens und Hochstapelns, während es im NKL und in den Liedern um die Sprechhandlungen Tiefstapeln und jemanden einer Lüge beschuldigen geht. Es scheint, als ob hier ‘semantische Netze’ von miteinander kompatiblen Sprechhandlungen entstehen, die auf jeweils unterschiedliche Präferenzen der Entwicklung eines Konfliktes verweisen. Im Nibelungenlied wird der Konflikt über Herausforderung, Provokation, Insistieren und Hochstapeln zur Eskalation getrieben.74 Im NKL und in den Liedern dagegen entwickelt sich der Konflikt über Provokation und Herausforderung zu einem (scheinbaren) Zurückweichen mittels Tiefstapeln, das dem Angegriffenen Bewertungsmacht gibt, die dieser zu seinem Vorteil nutzen kann, um den Gegner zu disqualifizieren (durch Beschuldigung der Lüge). An diesen Belegen dürften in Umrissen die Unterschiede zwischen den Sprechhandlungen in den finnischen und deutschen Dialogen als Ansätze differierender Systeme auf der Basis unterschiedlicher Präferenzen erkennbar werden. An den Sprechhandlungen Tiefstapeln und jemanden der Lüge beschuldigen möchten wir die Differenz detaillierter aufzeigen, indem wir den Stellenwert dieser Sprechhandlungen in der finnischen Interaktionskultur näher beschreiben. Besonders komplex ist die Sprechhandlung des Tiefstapelns, die im Folgenden aus methodischen Gründen im Zusammenhang mit den Sprechhandlungen des Herausforderns und des Hochstapelns zu besprechen sein wird. Es kann kein Zweifel bestehen, dass das Verhalten Siegfrieds bei seiner Ankunft am Hofe zu Worms und Joukahainens Forderung, dass der im Wissenskampf Unterlegene zurückweichen müsse, als Sprechhandlungen des Herausforderns anzusehen sind. Der Ausgangspunkt ist somit der gleiche, unterstützt durch die Tatsache, dass hinter beiden Herausforderungen ein wertbasierter Normbruch steht. Von Bedeutung ist nun aber die interaktionale Reaktion der Herausgeforderten. Über Herausforderung und Insistieren auf Seiten Siegfrieds (S1, S2) sowie Zurückweisung (des Anspruches) auf Seiten der Königsbrüder und Provokationen durch die Gefolgsleute entsteht die 72
73 74
Hierbei ist allerdings zu beachten, dass Väinämöinen die Bewertung sentenzartig generalisierend formuliert. Hierbei beziehen wir uns selbstverständlich nur auf die analysierten Dialoge. Vgl. bei Gerd Schank, „Linguistische Konfliktanalyse. Ein Beitrag der Gesprächsanalyse“, in: Konflikte in Gesprächen, hg. von dems. und Johannes Schwitalla, Tübingen 1987 (Tübinger Beiträge zur Linguistik 296), S. 18–98, hier S. 21, 50–57, den Hinweis auf das Chicken-Spiel als unkooperatives Spiel mit Aussicht auf maximalen Gewinn für den Sieger. „Die Bezeichnung ‘Chicken-Spiel’ geht auf eine Mutprobe zurück, die bei amerikanischen Jugend-Gangs üblich gewesen sein soll“ (ebd., S. 50).
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Struktur eines potentiell bis in die Ewigkeit fortsetzbaren ‘Schlagabtauschs’,75 der nur durch das Machtwort Gernots (Ger3) beendet wird. Ganz anders wird im NKL und in den Liedern verfahren. Durch Väinämöinens Tiefstapeln (V1.2) wird die diskursive Struktur entscheidend geprägt. Indem der alte Zauberer zurückweicht (damit aber die Bewertungsmacht erhält) wird ein ‘Schlagabtausch’ mit seinen Wiederholungen, wie er sich im Nibelungenlied findet, vermieden. Hier wird eine spezifisch finnische Perspektive tragend. In dieser Perspektive handelt es sich bei der Sprechhandlung des Tiefstapelns um eine sehr komplexe Sprechhandlung, bei der man sich selbst zurücknimmt, zugleich aber erwartet, dass der Gegner mit dem geforderten Beweis scheitert. Dazu wird diese Sprechhandlung durch bestimmte generellere Normen induziert. In Finnland ist es generell nicht üblich, sich selbst und die eigene Position in den Vordergrund zu stellen und demonstrativ zu betonen. Hiermit verbindet sich, dass man sich so lange wie nur möglich bemüht, das Image des Partners nicht zu beschädigen.76 In Untersuchungen zu finnischen und deutschen Fernsehshows haben Liisa Tiittula sowie Pirkko Nuolijärvi und Liisa Tiittula, mit aller gebotenen Vorsicht, festgestellt, dass die Finnen auch in konfliktär angelegten Redeshows ein kooperatives Modell gegenüber dem konfrontativen Modell bevorzugen.77 Tiittula listet Strategien auf, die in einer finnischen Fernsehshow für die Vermeidung von konfrontativen Situationen verwendet werden: Abschwächen, Generalisieren, Abstrahieren, Distanzieren und Vermeiden von direkten Stellungnahmen.78 Hieraus wird erkennbar, dass man zwar divergierende Meinungen haben kann, es aber unerwünscht und über die genannten Strategien zu vermeiden ist, den Partner in eine Situation zu bringen, in der er sich behaupten muss.79 Daher ist es im Interesse der ‘Kontrahenten’, auf der 75
76 77
78
79
Vgl. hierzu Gruber (wie Anm. 5), S. 205: „Die vorliegenden Daten zeigen […], daß Gegenvorwürfe zu den häufigsten Reaktionen auf Vorwürfe gehören. Durch das Äußern eines Gegenvorwurfs entzieht sich der Defendent der Auseinandersetzung mit dem von seinem Kontrahenten präsupponierten Regelverstoß und geht gleichsam zum Gegenangriff über […]“. Beides gibt es selbstverständlich auch in anderen Kulturen. Liisa Tiittula, „Stile der Konfliktbearbeitung in Fernsehdiskussionen“, in: Sprech- und Gesprächsstile, hg. von Margret Selting und Barbara Sandig, Berlin/New York 1997, S. 371–399; Pirkko Nuolijärvi und Liisa Tiittula, Televisiokeskustelun näyttämöllä: televisioinstitutionaalisuus suomalaisessa ja saksalaisessa keskustelukulttuurissa [‘Auf der Szene von Fernsehdiskussionen. Die Fernsehinstitutionalität in finnischer und deutscher Fernsehdiskussionskultur’], Helsinki 2000 (Suomalaisen Kirjallisuuden Seuran toimituksia 768). Tiittula (wie Anm. 77), S. 393. Sie stellt (ebd., S. 394–396) zwar fest, dass es problematisch ist, das kooperative Modell der Konfliktbearbeitung als eine generelle kulturelle Eigenschaft von Finnen anzusehen, jedoch konstatiert sie auch, dass die finnischen kommerziellen Fernsehsender keinen Erfolg mit konfrontativ angelegten Fernsehshowformaten gehabt haben. Dieser Punkt ist sehr wichtig, da dies auch einen hemmenden Einfluss auf die Ausbreitung rhetorischer Regeln gehabt haben könnte, wie diese etwa auf dem Kontinent durch antike Rhetorik, Cicero, das mittelalterliche Werk Auctor ad Herennium, die Scholastik und Renaissance verbreitet wurden und ein Denken geprägt haben, das stark von dem Prinzip des sic et non, also der Betonung des Gegensatzes und des sich Durchsetzens geprägt ist.
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persönlichen Ebene im Einverständnis zu bleiben, selbst wenn auf institutioneller Ebene (z.B. durch Differenzen zwischen den Parteien) divergierende Meinungen vertreten werden.80 Unserer Meinung nach liegen dem Sich-Zurücknehmen und Tiefstapeln eben die oben beschriebenen Normen zu Grunde, die Joukahainen als der Jüngere und Unerfahrene bricht, Väinämöinen, ‘alt und wahrhaft’, aber beherrscht. Nun ist es natürlich nicht so, dass die oben beschriebenen defensiven Normen unbegrenzt gültig sind. Wenn eine bestimmte Grenze überschritten wird, kann es recht schnell zu verbaler und sogar brachialer Gewalt kommen. Diese Grenze ist in dem Konflikt zwischen Joukahainen und Väinämoinen die Lüge. Der Schweregrad dieser Beschuldigung ist nach unserer Erfahrung in der heutigen finnischen Gesellschaft viel gravierender als in Deutschland. Um dies jedoch argumentativ zu beweisen, müssen wir eher auf implizite Hinweise zugreifen. Wir haben in der deutschsprachigen Forschungsliteratur zur deutschen Sprechhandlung ‘Lüge’ eine sehr einleuchtende Darstellung gefunden. Gerd Schank stellt fest, dass in der fiktiven, aber realitätstreuen Welt der Kriminalromane die Grice’schen Maximen umgekehrt werden und sich so die folgenden Anti-Maximen ergeben, wo Lügen als bevorzugt dargestellt wird:81 1. 2. 3. 4.
Lüge, aber nicht mehr als nötig. Lüge plausibel, d.h. bleibe möglichst nahe bei der Wahrheit. Stell dich dumm, wann immer möglich. Sprich vieldeutig, laß dich nicht festlegen.
Er fügt hinzu (ebd.): Diese ‘Anti-Maximen’ gelten jedoch auch in konfliktären Alltagsgesprächen, sofern man an einer De-Eskalation des Konflikts nicht interessiert ist oder dazu nicht in der Lage ist. Das ist nicht verwunderlich, denn in vielen Krimis wird durchaus ‘Realität’ erfaßt; und diese entspricht oft nicht den GRICE-Maximen.
Hier ist implizit zu erkennen, dass es nicht nur als möglich, sondern sogar als normal angesehen wird, wenn man in einer solchen Konfliktsituation lügt. Auf der finnischen Seite ist das Lügen jedoch viel risikobehafteter. Denn wird man bei einer Lüge ertappt, so ist die soziale Disqualifikation sehr viel härter. Deswegen ist die Beschuldigung der Lüge im finnischen Kontext eine außerordentlich schwerwiegende. Dies gilt bis zur Gegenwart. Um das zu belegen, können wir auf einen finnischen politischen Skandal zurückgreifen. Eine Ministerpräsidentin hat nach wenigen Wochen Amtszeit zurücktreten müssen, weil sie bei einer Lüge ertappt wurde. Die Pointe bei der Geschichte ist, dass sie zwar auf illegalem Wege 80
81
Um die Wertigkeit der herausgearbeiteten Dialog- / Gesprächsnormen zu verstehen, ist es vielleicht hilfreich, sich bewusst zu machen, dass in Finnland mit seiner relativ geringen Besiedelung (heute etwas über 5 Millionen Einwohner) von Helsinki und einigen anderen größeren Städten abgesehen, die Bevölkerung bis zur Industrialisierung und privaten Motorisierung nach dem Zweiten Weltkrieg in kleinen Siedlungen verhältnismäßig standortgebunden lebte, so dass es schon im Hinblick auf die klimatischen Bedingungen wirklich nicht sehr sinnvoll war, aus jeder Differenz eine Kriegserklärung entstehen zu lassen. Schank (wie Anm. 74), S. 34.
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Zugang zu geheimen Informationen erhalten hatte, sie wurde aber erst für ihr Amt unhaltbar, als herauskam, dass sie über die Quelle der Informationen öffentlich gelogen hatte. Wir mögen die Rezeption des Skandals hier vereinfacht haben, es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass die illegale Informationsbeschaffung, die zuerst bekannt war, in der Öffentlichkeit nicht als so gravierend angesehen wurde wie das Lügen. Somit ist der Zorn Väinämöinens über die Lüge Joukahainens und der folgende Ausbruch von Gewalt für den finnischen Rezipienten leicht nachvollziehbar. Wir fassen abschließend zusammen: Unter den in den ersten Abschnitten des vorliegenden Beitrages entwickelten Prämissen (Abschnitte I.–III.) konnte der finnische und der deutsche konfliktäre Dialog unter Einsatz einer interaktional ausgerichteten Analysemethode untersucht werden. Hierbei wurde versucht, zunächst getrennt, aus den Dialogpassagen die jeweiligen Sprechhandlungen rekonstruierend herauszuarbeiten. Dabei ergaben sich für das Nibelungenlied und das Kalevala Übereinstimmungen und Differenzen, die zu erheblichen Unterschieden in der Dialogstruktur und Konfliktentwicklung führten, die sodann in Abschnitt V. systematisiert und diskutiert wurden. Hierbei wurden ‘semantische Netze’ von Sprechhandlungen erkennbar, gleichsam ‘Schaltstellen’ für die Differenz. Im Nibelungenlied war es das Prinzip des potentiell bis in die Ewigkeit fortsetzbaren ‘Schlagabtauschs’ mit den entsprechenden Sprechhandlungen, im Kalevala erwiesen sich das Tiefstapeln Väinämoinens und das Lügen Joukahainens mit den interaktiven Folgen bei dem Gesprächspartner als die Angelpunkte, um die sich das kommunikative Geschehen drehte. Im letzten Schritt wurde anhand entsprechender Sekundärliteratur mit gebotener Vorsicht zu zeigen versucht, dass die als zentral für die Differenz erkannten Sprechhandlungen mit ihren sie bedingenden Normen auch für die Gegenwart ihre Gültigkeit nicht verloren zu haben scheinen. Akzeptiert man diese Argumentation, so lassen sich nun die zu Beginn angesprochene ‘finnische Gummiwand’ sowie mein kommunikatives Scheitern verstehen. Letztendlich basierte es auf mangelnder Kenntnis der Sprechhandlung des Tiefstapelns in ihrer ganzen Komplexität sowie der durch Konventionen historisch herausgebildeten Sprechhandlungen und der sie bedingenden Normen, welche in Finnland die Ausformung konfliktärer Gespräche steuern. Letztendlich bin ich damit immer wieder in Gefahr, in die Rolle des jungen Joukahainen zu geraten – und Finnland hat viele Moore!
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Anhang: Tabellen 1. Nibelungenlied Die Namen der handelnden Figuren werden hier entsprechend der zitierten Ausgabe gebracht. Als Siglen werden Gu für Gunther, S für Siegfried, Ger für Gernot, Ort für Ortwin und Ha für Hagen verwendet. Auf die Längenzeichen wird dabei verzichtet. Narrativ:
Gu1: S1:
freundliche Begrüßung Siegfrieds und der Seinen durch Gunther, Akzeptanz des Grußes durch Siegfried (Str. 105) höfliche Frage nach dem Ziel der Fahrt (Str. 106,1–3) Herausforderung (Str. 106,4–110,4)
Macht- und Wertekonflikt Gu2: S2: Ger1: Ort1: S3:
Ger2:
Ha1:
S4: Ger3:
S5:
Narrativ: Verwunderung und Zorn (Str. 111) Versuch einer Konfliktbeilegung durch Zurückweisung des Anspruchs von Siegfried (Str. 112) Bestehen auf dem Anspruch (Insistieren) (Str. 113,1–114,3) Narrativ: Widerspruch von Hagen und Gernot (Str. 114,4) Versuch einer Konfliktbeilegung durch Zurückweisung des Anspruchs von Siegfried (Str. 115) Narrativ: Zorn der Nibelungen (Str. 116,1f.) 1.1 Kritik an Gernot wegen seines Versuchs der Konfliktbeilegung (Str. 116,3f.) 1.2 Provokation mit Hochstapeln (Str. 117) Narrativ: Zorn Siegfrieds (Str. 118,1) Demütigung Ortwins durch Hinweis auf ständische Höherstellung und körperliche Überlegenheit (Str. 118,2–4) Narrativ: Ruf nach den Waffen durch Ortwin, Verhinderung des Kampfes durch Gernot (Str. 119) Kritik an Ortwins Zorn 2.1 unter Hinweis, dass noch keine Ehrverletzung geschehen sei, die diesen Kampf auf Leben und Tod notwendig mache 2.2 und dass es angemessener sei, Siegfried zum Verbündeten zu gewinnen (Str. 120) widerspricht Ger2.1 1.1 in dem Sinne, dass hier durchaus eine Ehrverletzung stattgefunden habe 1.2 provoziert Siegfried mit der Behauptung, dass die Burgunden diesem eine solche Beleidigung nie angetan hätten (Str. 121) Eingehen auf die Provokation, Herausforderung Hagens (Str. 122,2–4) 3.1 Erklärung, diesen Streit (jetzt) ohne weitere Eingriffe der Gefolgsleute zu beenden (Str. 123,1) Narrativ (a): (Rede-) Verbot (reden […] iht mit vbermvete des im [Siegfried] waere leit) (Str. 123,2f.) Narrativ (b): Siegfried beginnt, seine Interessen abzuwägen (Str. 123,4) 3.2 Wiederholung des Hinweises auf die Sinnlosigkeit eines Kampfes (Str. 124,1–3) geht nicht auf Ger3 ein, erneute Provokation von Hagen und Ortwin (Str. 125,1–3) Narrativ: Hinweis auf Gernots Redeverbot (Str. 125,4)
Form der Konflikt-‘Lösung’ Ger4:
Begrüßung der Burgunden als ‘Gäste’ am Hofe (Str. 126,1–3)
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Narrativ:
Gu3:
Bewirtung als Form der friedfertigen Aufnahme in die Hofgesellschaft (Str. 126,4) Begrüßung Siegfrieds als Gast durch den Herrscher des Landes (Str. 127,1–3) Narrativ: Kommentar zu Siegfrieds Gesinnung (Str. 127,4)
2. Kalevala Im Folgenden werden nur die Teile des Dialoges aufgeschlüsselt, die neben der NKL auch in den Liedern vorkommen, da nur diese Teile im Rahmen dieser Untersuchung für die Analyse herangezogen werden können. Siglen: V: Väinämoinen; J: Joukahainen. J1:
Herausforderung zum Wissenskampf
Macht- und Wertekonflikt V1: J2: V2: J3: V3: J4: V4:
1.1 Tiefstapeln 1.2 Aufforderung an J, sein Wissen nachzuweisen (Akzeptanz der Herausforderung) Nachweis von recht kläglichem Wissen 2.1 negative Bewertung des Wissens (Bewertungsmacht) 2.2 Aufforderung, Urzeitwissen nachzuweisen Nachweis von recht kläglichem Wissen (geht nicht auf V2.1 ein) negative Bewertung des Wissens (Bewertungsmacht) Behauptung, bei der Erschaffung der Welt dabei gewesen zu sein (geht nicht auf V3 ein) 4.1 Beschuldigung Joukahainens der Lüge (damit objektive Disqualifikation Joukahainens) 4.2 singt Joukahainen buchstäblich in den Sumpf
II. Kompetitive Dialoge in komparatistischer Sicht
Martin H. Jones
Zum Gebrauch der Figurenrede in drei Versionen des Karl-Roland-Stoffes Die Chanson de Roland, das Rolandslied des Pfaffen Konrad und Karl der Große des Strickers
Die altfranzösische Chanson de Roland zeichnet sich durch einen besonderen Reichtum an Redeszenen aus. Über 40% aller Verse des Epos sind Figurenreden gewidmet, die in einer Reihe verschiedener Situationen vorkommen – man denke zum Beispiel an die Ratsszenen am Anfang der Handlung, an die Prahlreden, die gabs, der sarazenischen Befehlshaber vor der Schlacht von Ronceval oder an die Debatten über das Hornsignal, die Oliver und Roland auf dem Schlachtfeld führen. Alfons Hilka meinte, in dem Verfasser der Chanson „einen dramatisch begabten Dichter“ sehen zu dürfen.1 Die Bearbeitung der Chanson durch den Pfaffen Konrad und die Bearbeitung von dessen Werk durch den Stricker weisen eine beträchtliche Erweiterung der jeweiligen Vorlage auf – gegenüber den 4002 Versen der Chanson erreicht das Rolandslied 9094 Verse, während sich der Karl auf 12206 Verse beläuft.2 Dabei bleibt der bedeutende Anteil der Figurenrede in den drei Werken ziemlich konstant, woraus man schließen darf, dass alle drei Verfasser, wie unterschiedlich ihre Anliegen bei der Behandlung des Karl-Roland-Stoffes auch sein mochten, dem Darstellungsmittel der Figurenrede eine hohe Bedeutung beimaßen.3 1
2
3
Alfons Hilka, Die direkte Rede als stilistisches Kunstmittel in den Romanen des Kristian von Troyes. Ein Beitrag zur genetischen Entwicklung der Kunstformen des mittelalterlichen Epos, Halle a.d.S. 1903, S. 173. Vgl. Joseph J. Duggan, The Song of Roland: Formulaic Style and Poetic Craft, Berkeley u.a. 1973, S. 109–135, und Wolfgang van Emden, La Chanson de Roland, London 1995 (Critical Guides to French Texts 113), S. 101f., die auch den hohen Prozentsatz der Redeverse in der Chanson betonen. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die Zeilen der Chanson länger als die des Rolandsliedes sind, bleibt der Umfang der Erweiterung in Konrads Werk beachtlich. Nach Dieter Strauss, Redegattungen und Redearten im ‘Rolandslied’ sowie in der ‘Chanson de Roland’ und in Strickers ‘Karl’. Studien zur Arbeitsweise mittelalterlicher Dichter, Göppingen 1972 (GAG 64), beträgt der Prozentsatz der direkten Rede in der Chanson 42,6% aller Verse, im Rolandslied 47,3% und im Karl 44,9% – bei den zwei letzteren werden Prolog und Epilog nicht mitgezählt (S. 345, 200, 392). Der relativ konstante Anteil der Redeverse in den drei Werken ist nicht darauf zurückzuführen, dass Konrad und der Stricker ihre Vorlagen in allen Aspekten gleichmäßig erweiterten. Der Zusammenstellung von Peter Wiehl, Die Redeszene als episches Strukturelement in den Erec- und Iwein-Dichtungen Hartmanns von Aue und Chrestiens de Troyes, München 1974 (Bochumer Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft 10), S. 67, ist zu entnehmen, dass das Ro-
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Martin H. Jones
Dieser Erkenntnis hat die komparatistische Forschung bislang kaum Rechnung getragen. Im Gegensatz zu den zahlreichen Gegenüberstellungen deutscher höfischer Romane (besonders Veldekes und Hartmanns) mit ihren französischen Vorlagen, in denen unter anderem der unterschiedlichen Behandlung der direkten Rede besondere Beachtung geschenkt worden ist,4 hat sich nur Dieter Strauss mit dem Gebrauch der Figurenrede in den drei genannten Versionen des Karl-Roland-Stoffes näher beschäftigt.5 Diese groß angelegte Studie, die sich als Beitrag zugleich zur Literaturwissenschaft und -geschichte, zur Linguistik und zur Pädagogik versteht,6 operiert mit einem zweckmäßigen, in Anlehnung an Peter Wiehls Studie über Hartmanns Artusromane7 entwickelten Instrumentarium für die Analyse der verschiedenen Rededimensionen eines mittelalterlichen epischen Werkes, und auf dieser Basis erstellt Strauss nützliche Statistiken über den Gebrauch der Redegattungen (direkte Rede, indirekte Rede, Dichterrede, Bericht) und der Redearten (Dialog, Halbdialog, Monolog) in den drei Dichtungen. Des Weiteren ist aber der Nutzen dieser Arbeit vom literaturwissenschaftlichen und komparatistischen Standpunkt aus eher fragwürdig, und das vor allem, weil Strauss einen Argumentationsweg beschreitet, der auf zahlreichen Hypothesen aufbaut, und zudem auf statistische Methoden vertraut, die die inhaltliche Komplexität und die Erzähltechnik der untersuchten Werke nicht in angemessener Weise zu erfassen vermögen.8 Wenn aus dem interpretatorischen Teil der Arbeit von Strauss eine Lehre zu ziehen ist, so diese, dass man den Gebrauch der Figurenrede nur dann sachgemäß beschreiben und beurteilen kann, wenn man die Redebeiträge in ihrem unmittelbaren Erzählkontext betrachtet. Fortschritte können hier nur mit kleinen Schritten gemacht werden. In diesem Sinne wird im Folgenden ein einziger Abschnitt der drei Dichtungen über Roland und Karl untersucht, der verschiedene Aspekte der Behandlung der Figurenrede beleuchten mag. Das Schwergewicht wird auf den Vergleich der Chanson mit dem Rolands-
4
5
6 7 8
landslied und der Karl einen im Vergleich zu anderen mittelhochdeutschen Großepen überdurchschnittlich großen Anteil der Figurenrede aufweisen. Eine vergleichbare Übersicht liegt für die altfranzösische Großepik anscheinend nicht vor. Siehe Michel Huby, L’adaptation des Romans courtois en Allemagne au XII e et au XIII e siècle, Paris 1968, S. 331–350; Wiehl (wie Anm. 3); Karen Pratt, „Direct Speech – A Key to the German Adaptor’s Art?“, in: Medieval Translators and Their Craft, hg. von Jeanette Beer, Kalamazoo 1989 (Studies in Medieval Culture 25), S. 213–246. Strauss (wie Anm. 3). Matthias Meyer, „Monologische und dialogische Männlichkeit in Rolandsliedversionen“, in: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts, hg. von Martin Baisch, Hendrikje Haufe, Michael Mecklenburg, Matthias Meyer und Andrea Sieber, Göttingen 2003 (Aventiuren 1), S. 25–50, untersucht Aspekte der Figurenrede in denselben drei Werken, will aber zu einer Diskussion beitragen, in der die Termini ‘monologisch’ und ‘dialogisch’ nicht primär verschiedene Redearten bezeichnen, sondern der Differenzierung von Dichtungen auf der Basis gender- und gattungsbezogener Kategorien dienen. Strauss (wie Anm. 3), S. 37. Wiehl (wie Anm. 3). Für detaillierte Kritik von Strauss’ Arbeit siehe die Rezensionen von Karl-Ernst Geith, in: ZfdA 104 (AfdA 86) (1975), S. 73–76; Dennis H. Green, in: MLR 70 (1975), S. 214f.; Peter Wiehl, in: ZfdPh 94 (1975), S. 123–128.
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lied gelegt; der Karl wird vor allem dann erwähnt, wenn der Stricker Änderungen am Text Konrads vornimmt, die für den Gebrauch der Figurenrede als Erzählmittel von Interesse sind.9 Der ausgewählte Textabschnitt besteht aus 344 Versen in der Chanson, mit denen fast 1300 Verse im Rolandslied und fast 1500 Verse im Karl korrespondieren. Der Abschnitt beginnt dort, wo die Schlacht von Ronceval eigentlich anfängt, d.h. in dem Augenblick, als sich das sarazenische Heer auf die unter Rolands Befehl stehende christliche Nachhut zu bewegt, und er endet mit dem letzten der zwölf Zweikämpfe zwischen heidnischen und christlichen Führern, die die Kampfhandlungen eröffnen. Das Textstück empfiehlt sich in diesem Zusammenhang aus zwei Gründen: Erstens verläuft die Handlung in diesem Teil der drei Dichtungen trotz starker Erweiterungen in den deutschen Bearbeitungen relativ einheitlich, so dass man bei der Gegenüberstellung der Texte nicht mit den zum Teil massiven Umstellungen, die die Nachdichtungen in anderen Phasen der Handlung aufweisen, zu ringen hat. Zweitens besteht der Abschnitt aus einem redereichen und einem relativ redearmen Teil. Zuerst (in der Chanson – die deutschen Werke schalten hier eine neue Redeszene ein) wird beschrieben, wie die Christen ihre letzten Vorbereitungen für die Schlacht treffen; im Mittelpunkt steht die Frage, ob Roland das Horn Olifant blasen sollte, um Karl und den Hauptteil des Heeres zu Hilfe zu rufen; hier, in der sogenannten ersten Hornszene, ist der Redeanteil am Geschehen besonders hoch. In den folgenden Szenen liegt das Schwergewicht auf der Darstellung der Kampfhandlungen mit einem – wie zu erwarten – geringeren Redeanteil. Die Unterschiede im Inhalt und Aufbau der zwei Partien dieses Abschnitts lassen verschiedene Faktoren hervortreten, die beim Gebrauch der Figurenrede zum Tragen kommen: In der ersten Partie steht die je eigene Entscheidung für eine dominante Redeart in den einzelnen Texten im Zentrum des Interesses, in der zweiten geht es zudem um die Platzierung von Reden und deren mögliche strukturierende Funktion innerhalb einer Szenenreihe. Die Unterschiede zwischen den zwei Partien legen es nahe, verschiedene Analyseverfahren anzuwenden und sie gesondert zu betrachten. In beiden Fällen dient eine schematische Übersicht dem besseren Verständnis der Argumentation (siehe S. 81–84).
I. Die Schlacht von Ronceval: Die Kampfvorbereitungen Schema 1 (S. 81f.) gibt eine Übersicht über den ersten Teil des ausgewählten Textabschnitts, in dem die letzten Vorbereitungen für die Schlacht getroffen werden: Die Angaben 9
Keines der drei Werke ist mit Sicherheit zu datieren. Ungefähre Abfassungsdaten: Chanson de Roland: ca. 1100; Rolandslied: ca. 1170; Karl: ca. 1220. Obwohl der Stricker Kenntnis von Elementen der Karlssage, die in der Chanson und im Rolandslied keine Rolle spielen, und auch von der jüngeren altfranzösischen Rolandslied-Tradition zeigt, gilt Konrads Werk als seine Hauptquelle (siehe Karl-Ernst Geiths Beitrag zum „Stricker“-Artikel des Verfasserlexikons: Karl-Ernst Geith, Elke Ukena-Best und Hans Joachim Ziegeler, „Der Stricker“, in: 2VL 9 [1995], Sp. 417–449, hier Sp. 421).
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zur Chanson der Roland (ChdR) stehen in der linken Großspalte, diejenigen zum Rolandslied (RL) in der mittleren, und diejenigen zum Karl in der rechten.10 Innerhalb jeder Großspalte ist in der dritten bzw. zweiten Spalte angegeben, ob es sich in den betreffenden Versen um Erzählerrede (E) oder Figurenrede handelt, wobei für die letzte Kategorie eine Differenzierung zwischen den Redearten Dialog (D) und Halbdialog (HD) vorgenommen wurde.11 Die Aufteilung der Reden in Dialoge und Halbdialoge richtet sich nach den Definitionen Wiehls: Dialog ist die wechselseitige Unterredung von zwei oder mehreren Personen und besteht mindes12 tens aus zwei aufeinanderfolgenden Gesprächsteilen in direkter Wiedergabe. Halbdialog ist die direkte Rede einer Person oder eines Kollektivs, die sich bewußt an anwesende 13 Personen richtet, aber ohne Erwiderung in direkter Rede bleibt.
Die Dialoge sind durchnummeriert und die einzelnen Züge in den Dialogen sind durch Buchstaben bezeichnet (1a/1b, 2a/2b usw.). Beim Halbdialog ist in der Spalte „Figuren“ durch ein Pfeilchen angegeben, an wen die sprechende Figur ihre Worte richtet. Zur Erläuterung des Schemas ist schließlich zu bemerken, dass die waagerechten Linien in der Chanson de Roland-Großspalte die Grenzen zwischen den Laisses markieren (die Nummern der Laisses stehen ganz links), während diese Linien in den zwei anderen Großspalten die Grenzen zwischen Erzählerrede und Figurenrede bzw. zwischen Figurenreden markieren. Die Handlung dieser Textpartie, die in Strukturanalysen der Chanson als Erzähleinheit identifiziert wird,14 vollzieht sich in der französischen Dichtung in den folgenden Hauptschritten: 10
11
12 13 14
Es wird nach folgenden Ausgaben zitiert: La Chanson de Roland. The Text of Frederick Whitehead, revised, with a new introduction, bibliography and notes by T.D. Hemming, London 1993; Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hg., übersetzt und kommentiert von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1993 (RUB 2745); Karl der Große von dem Stricker, hg. von Karl Bartsch, Quedlinburg/Leipzig 1857 (Bibl.d.ges.dt.Nat.-Lit. 35), Nachdruck mit einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Berlin 1965. – Die Namen der Figuren sind in den drei Texten unterschiedlich wiedergegeben. Der Einfachheit halber werden hier die Namen der Hauptfiguren Karl, Roland, Oliver und Turpin immer in dieser Form gegeben. Bei anderen Figuren werden die je eigenen Namensformen der Texte verwendet. Unter den Begriff „Erzählerrede“ werden Dichterrede und epischer Bericht subsumiert; vgl. Strauss (wie Anm. 3), S. 42. Nicht eigens angegeben wird die indirekte Rede, die in dem untersuchten Textabschnitt eine unbedeutende Rolle spielt; vgl. die Tabellen über die indirekte Rede in den drei Werken, ebd., S. 178–185 (Rolandslied), 337–339 (Chanson), 372–381 (Karl). – Monologe kommen in diesem Textstück nicht vor. Wiehl (wie Anm. 3), S. 50. Ebd., S. 54. Siehe Jean Rychner, La chanson de geste. Essai sur l’art épique des jongleurs, Genf/Lille 1955 (Société de Publications Romanes et Françaises 53), S. 38; Antje Mißfeldt, „Ein Vergleich der Laisseneinheiten in der Chanson de Roland (Hs. O) mit der Abschnittstechnik in Konrads Rolandslied“, in: ZfdPh 92 (1973), S. 321–338, hier S. 328. Rychner und Mißfeldt betrachten Laisse 79 als laisse de transition bzw. als ‘Übergangslaisse’. Robert F. Cook, The Sense of the ‘Song of Roland’, Ithaca/London 1987, S. 62, beginnt seinen Kommentar zur ersten Hornszene mit Laisse 79.
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Zum Gebrauch der Figurenrede in drei Versionen des Karl-Roland-Stoffes
1. Rüstung der Sarazenen; das Heer setzt sich in Bewegung; Oliver sieht das heranzie-
hende Heer und warnt Roland und seine Kampfgefährten (Laisses 79–82). 2. Dialog zwischen Oliver und Roland: Debatte über das Hornsignal (Laisses 83–88). 3. Turpin feuert die christlichen Ritter an; die Absolution wird erteilt (Laisses 89–90). 4. Ermunterung der christlichen Ritter durch Roland und Oliver; das christliche Heer setzt sich in Bewegung (Laisses 91–92). Konrad gibt diesen Handlungsverlauf im Wesentlichen getreu wieder. Was den Redeanteil dieser Textpartie angeht, hat er jedoch gegenüber der Chanson gewichtige Änderungen vorgenommen, und der Stricker ist ihm im Grunde darin gefolgt. Als Prozentsatz aller Verse in dieser Partie bleibt der Redeanteil zwar nahezu gleich, wie Tabelle 1 zu entnehmen ist: Tabelle 1 Anzahl der Verse
Anzahl der Redeverse15
Redeverse als % der Verse
Chanson de Roland, v. 994– 1187
194
123
63,4%
Rolandslied, v. 3813–4016
204
121
59,3%
Karl, v. 4669–4964
296
178
60,1%
Betrachtet man aber die Verteilung der Redeverse auf die Redearten Dialog und Halbdialog, so lässt sich bei Konrad und dem Stricker eine sehr deutliche Verlagerung des Redeanteils in diesem Erzählabschnitt vom Dialog auf den Halbdialog feststellen. Das geht aus Schema 1 bereits optisch hervor, wird jedoch noch eindeutiger in Tabelle 2 dargestellt, die die Anzahl der Dialoge und Halbdialoge und die Verteilung der Redeverse auf die beiden Redearten in absoluten Zahlen und als Prozentsätze der gesamten Redeverse zeigt: Tabelle 2 Chanson de Roland Dialoge
Karl
5
1
1
Dialogverse
94 (76,4%)
35 (28,9%)
53 (29,8%)
Halbdialoge
4
4
5
29 (23,6%)
86 (71,1%)
125 (70,2%)
Halbdialogverse 15
Rolandslied
Verszeilen, die nur zum Teil aus direkter Rede bestehen, weil sie z.B. auch eine Redeeinführung enthalten, werden zu den Redeversen gezählt. Verszeilen, die nur aus einer Redeeinführung bestehen oder etwa eine die Rede begleitende Geste beschreiben, werden nicht mitgerechnet (siehe z.B. Rolandslied, v. 3871f.). Das führt im Schema 1 gelegentlich zu kleinen Diskrepanzen zwischen der Anzahl der Verse, die einem Dialog oder Halbdialog zugeschrieben werden, und der Anzahl der Redeverse, die für die redenden Figuren angegeben werden.
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Auf diese Verlagerung innerhalb des Redeanteils soll vor allem näher eingegangen werden. Die Dialoge in der Chanson sind mit einer Ausnahme Gespräche zwischen Oliver und Roland. Die einzige Ausnahme befindet sich in Laisse 82, wo Oliver die fränkischen Ritter zum Widerstand auffordert und sie ihrer Kampfbereitschaft in einer Chorrede Ausdruck geben (= Dialog 3 im Schema 1). Diesem Wortwechsel gehen die ersten zwei Dialoge zwischen Oliver und Roland voraus. In Laisse 79 macht Oliver Roland auf die Möglichkeit eines schweren Kampfes mit dem heranziehenden sarazenischen Heer aufmerksam. Entschlossen, keinen Anlass zum Singen ‘übler Lieder’ zu geben, und überzeugt von der Überlegenheit des christlichen Glaubens, gibt Roland seine bedingungslose Treue zum Kaiser, für den er zu leiden und zu sterben bereit ist, kund. In Laisse 80 beschreibt Oliver den glanzvollen Anblick der sarazenischen Armee und äußert den Verdacht, Genelun sei für die gefährliche Situation, in der sich die Nachhut befindet, verantwortlich; Roland will aber nicht über seinen Stiefvater sprechen. Der dritte Dialog zwischen Oliver und Roland erstreckt sich über vier Laisses (Laisses 83–86 = Dialog 4) und ist mit 44 Versen der längste Dialog in dieser Textpartie. Drei von den vier Laisses (Laisses 83–85) sind sogenannte laisses similaires, womit ein erzähltechnischer Hinweis gegeben wird, dass wir es mit einem Höhepunkt im Handlungsverlauf zu tun haben.16 In der Tat geht es um das Kernstück der ersten Hornszene, in dem das Pro und Kontra der Entscheidung, die Roland als Befehlshaber der Nachhut in diesem Augenblick treffen muss, in viermaliger Abfolge von Rede und Replik dargelegt werden. Hier ist nicht der Ort, auf das Hin und Her der Debatte und ihre kontroverse Interpretation einzugehen. Nur so viel sei gesagt: Oliver weist auf die enorme Übermacht der Sarazenen hin und fordert Roland auf, das Hornsignal zu geben. Roland beruft sich dagegen auf seinen guten Ruf als Krieger, den er keineswegs aufs Spiel setzen will, indem er Hilfe von Karl sucht. Er will sich vielmehr darauf verlassen, dass sein Schwert Durendal und die Tapferkeit seiner Kampfgefährten den Sieg über die seiner Meinung nach zum Tode bestimmten Sarazenen erringen werden. Kurzum, er will das Hornsignal auf keinen Fall geben. Im vierten und letzten Dialog zwischen Oliver und Roland (= Dialog 5) stellt Oliver eine düstere Prognose über den bevorstehenden Kampf – da Roland das Horn nicht geblasen habe, werde Karl fern bleiben, während das feindliche Heer immer näher rücke, die Zerstörung der Nachhut sei daher unabwendbar –, eine Prognose, die Roland zweimal heftig zurückweist, einmal kurz in Laisse 87, wo er sich solchen Pessimismus verbittet, und dann ausführlicher in Laisse 88, wo er behauptet, Karl habe keine Feiglinge zur Nachhut bestellt, deshalb sollten sie das Vertrauen, das er in sie gesetzt habe, nicht enttäuschen, sondern heldenhaften Widerstand leisten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Oliver-Roland-Dialoge in der Chanson dazu dienen, die schwerwiegende Entscheidung zu beleuchten, die Roland zu treffen hat. Da16
Vgl. Rychner (wie Anm. 14), S. 93: „[…] ses [des Verfassers] groupes de trois laisses similaires arrêtent le récit aux moments les plus dramatiques, les plus décisifs, formant comme des barrages, de hautes haltes lyriques, avant que de nouveau la narration reprenne son cours“.
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durch, dass Oliver ihn viermal auffordert, das Horn zu blasen, wird Rolands Standpunkt wiederholt unter die Lupe genommen. Roland gewinnt zwar insofern die Oberhand im Meinungsstreit mit Oliver, als er das Hornsignal nicht gibt, aber er überzeugt Oliver nicht von der Richtigkeit seiner Entscheidung. In seinem letzten Redebeitrag dieses Erzählabschnitts, der der Aufnahme des Kampfes mit den Sarazenen unmittelbar vorausgeht, rekurriert Oliver auf Rolands Weigerung, das Horn zu blasen, und spricht Karl von jeder Verantwortung für den Ausgang des bevorstehenden Kampfes frei (Laisse 92). In der zweiten Hornszene gegen Ende der Schlacht (Laisses 128–132) kommt die grundsätzliche Meinungsverschiedenheit der zwei Helden erneut zum Tragen. In der Frage, welche Taktik die Nachhut verfolgen sollte, erzeugt die Chanson also eine Spannung zwischen den beiden führenden christlichen Rittern, die im weiteren Verlauf der Handlung nicht überwunden wird. Es ist in der Rolandslied-Forschung hinlänglich bekannt, dass eine derartige Spannung dem Pfaffen Konrad gar nicht ins Konzept passte.17 Während die Chanson die Gegensätzlichkeit der Meinungen Olivers und Rolands nicht nur duldet, sondern auch ausführlich darlegt und vielleicht sogar zur Diskussion zu stellen beabsichtigt, verlangt die Kreuzzugsidee, die bei Konrad zur dominanten Motivation der christlichen Helden wird, den Verzicht auf Uneinigkeit. In der Tat erhebt Konrad die Einmütigkeit zu einer der höchsten Pflichten der christlichen Kämpfer.18 Das wird zwar nicht zum ersten Mal in der ersten Hornszene zum Ausdruck gebracht,19 aber es wird hier besonders hervorgehoben durch eine Neugestaltung der Szene, die nicht zuletzt darin besteht, dass die fünf Dialoge in der Chanson auf einen einzigen reduziert werden.20 Dieser einzige Dialog trägt auch durch seine eigentümliche Form zur Herausstellung dieses Themas bei. Oliver eröffnet seinen Dialog mit Roland mit Worten, die – abgesehen davon, dass ihnen die lakonische Untertreibung der Vorlage fehlt – dem Anfang des ersten Dialogs dieser Figuren in der Chanson entsprechen: Dist Oliver: „Sire cumpainz, ce crei, / De Sarrazins purum bataille aveir“ (Chanson de Roland, v. 1006f.). – Olivier sprach zuo Ruolant: / „wir haben an der hant / ain vil starkez volcwîc“ (Rolandslied, v. 3845–3847). Im Gegensatz zur Chanson fällt im Rolandslied und im Karl eine sofortige Replik Rolands aus (vgl. Chanson, v. 1008–1016). Der eben angefangene Dialog verwandelt sich
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Siehe insbesondere Jeffrey Ashcroft, „‘Si waren aines muotes’: Unanimity in Konrad’s Rolandslied and Otto’s and Rahewin’s Gesta Frederici “, in: Medieval Knighthood IV. Papers from the Fifth Strawberry Hill Conference 1990, hg. von Christopher Harper-Bill und Ruth Harvey, Woodbridge 1992, S. 23–50. Ebd., S. 42: „In the Olifant episode [= die erste Hornszene] and in the battle depiction in general unanimity has an imperative value as the expression of a direct commitment of the warrior nobility to redemptive chivalry“. Ashcroft (ebd.), S. 34–37, zeigt, wie Konrad die Beratungsszene, in der Karl und seine Ratgeber über das angebliche Friedensangebot Marsilies entscheiden sollen, umgestaltet, um die Bedeutung der Einmütigkeit – unter etwas anderen Vorzeichen als in der Hornszene – zu unterstreichen. Andere Aspekte von Konrads Neugestaltung der Szene behandelt Ashcroft (ebd.), S. 37–42.
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vielmehr in einen Halbdialog, indem Oliver seine Rede mit einer Ansprache an die christlichen Ritter fortsetzt:21 „[…] aller mannegelîch wer sînen lîp. nû wil ich sîn iemer got loben, 3850 daz ez dar zuo ist komen. nû gesterket iuch, helde, in got. […]“. (Rolandslied, v. 3848–3851)
Oliver begrüßt also den Kampf. Die Christen brauchen sich trotz der Übermacht der Sarazenen nicht vor ihnen zu fürchten, denn sie kämpfen im Auftrag Gottes und mit seiner Unterstützung (v. 3852–3859). Als Voraussetzung für Gottes Beistand nennt Oliver dann die Einmütigkeit der Christen: 3860
„[…] ôwol ir guoten knechte, welt ir ainmüete sîn, jâ hilvet iu selbe mîn trechtîn. si [die Sarazenen] habent den tôt an der hant. […]“. (Rolandslied, v. 3860–3863)
Gleich danach wendet sich Oliver wieder direkt an Roland mit dem Appell, das Horn zu blasen: „ôwi, geselle Ruolant, / wan blâsestu noch dîn horn?“ (Rolandslied, v. 3864f.). Rolands Reaktion darauf ist kaum vom Standpunkt, den Oliver eben vertreten hat, zu unterscheiden. Auch er begrüßt den Kampf, wobei er den Märtyrergedanken als Motivation 21
Im Vers 3864 spricht Oliver Roland wieder direkt an. Im methodologischen Teil seiner Arbeit führt Strauss (wie Anm. 3) Olivers Rede (v. 3846–3869) und Rolands Replik (v. 3870–3898) an, um „das einfachste Dialogschema“ (S. 54) zu illustrieren (siehe auch S. 169, wo v. 3846–3898 als Dialog klassifiziert werden). Dabei scheint Strauss übersehen zu haben, dass Oliver nicht nur zu Roland spricht, wie in der Redeeinführung (v. 3845) angekündigt, sondern auch eine Ansprache an die versammelten Ritter hält, wie Kartschoke im Kommentar seiner Ausgabe (wie Anm. 10), S. 703, bemerkt; vgl. Meyer (wie Anm. 5), S. 34f. Zu erwägen wäre höchstens, ob man es hier mit einem sogenannten Polylog zu tun hätte, einer Unterart der Redeart Dialog (auf die Strauss allerdings nicht eingeht). Jane Emberson, Speech in the Eneide of Heinrich von Veldeke, Göppingen 1981 (GAG 319), S. 20, rechnet mit der Möglichkeit eines ‘zweiseitigen Polylogs’: „[…] many dialogues with only two speakers include at least one bystander, who listens without speaking, and whose role must be assessed before such a dialogue can be classed as duologue or polylogue. When the silent third party is explicitly addressed, included in the address, or referred to, the exchange will be accounted polylogue (two-sided polylogue)“. Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, der Ausdruck „two-sided polylogue“ sei ein Widerspruch in sich. Wiehl (wie Anm. 3), S. 52f., geht davon aus, dass sich mehr als zwei Sprecher an einem Polylog beteiligen. Der Stricker scheint sich am hybriden Charakter von Olivers Rede (bestehend aus Dialog und Halbdialog) nicht gestört zu haben: Auch bei ihm wird die Rede als Ansprache an Roland eingeführt – do sprach Olivier wider Ruolanden (Karl, v. 4703) –, um sich dann spätestens im Vers 4722 in eine Ansprache an das Heer zu verwandeln: „nu nemt des allesamt war“. Die eigentümliche Form von Olivers Rede bei Konrad (und dem Stricker) lässt sich wohl am besten als Versuch verstehen, entscheidende Momente der Vorlage – Oliver macht Roland als Ersten auf den bevorstehenden Kampf aufmerksam, Oliver appelliert an Roland, das Horn zu blasen, Roland weigert sich – beizubehalten, gleichzeitig aber die Wechselrede zwischen ihnen zum Teil durch eine prinzipielle Aussage zu ersetzen, wie oben dargelegt wurde.
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ausdrücklich hinzufügt (Rolandslied, v. 3880–3888). Auch er ist davon überzeugt, dass die Heiden trotz ihrer Übermacht zum Tode bestimmt sind: „[…] der haiden nist nie sô vil, ez ne sî ir aller vaictage. für wâr ich dir sage, die haiden sint vor gote vertailet […]“. (Rolandslied, v. 3876–3879)
Darum ist es gar nicht nötig, das Hornsignal zu geben: „zuo disen fûlen âsen / ne wil ich niemer nicht geblâsen“ (Rolandslied, v. 3889f.). Außerdem wäre es womöglich ein taktischer Fehler, das Hornsignal zu geben, denn die Sarazenen könnten daraus schließen, dass die Christen sich fürchteten und Hilfe gegen sie brauchten: „si wânten, daz wir uns vörchten / oder helve zuo in bedörften“ (Rolandslied, v. 3891f.). Der Wunsch, alles zu vermeiden, was die Moral des Gegners stärken könnte, ist ein Argument gegen das Hornsignal, das Verständnis für die psychologische Dimension der Kriegsführung verrät; diese Zutat Konrads wird vom Stricker noch weiter ausgebaut (Karl, v. 4765–4775). Damit ist die Sache erledigt. Oliver setzt den Dialog nicht fort. Im Gegensatz zur Chanson verlangt er nicht noch einmal, dass Roland das Horn bläst. Er ist allem Anschein nach von den Argumenten Rolands überzeugt – in der Tat sind ihre Standpunkte einander so sehr angeglichen, dass es keinen ernsthaften Streitgegenstand mehr gibt – und er spricht nicht mehr in diesem Erzählabschnitt. Wo Einmütigkeit herrscht, besteht keine Notwendigkeit, weitere Gespräche zu führen. Die Reduzierung der Dialoge und des Dialoganteils an dieser Textpartie spiegelt also Konrads Neudeutung der ersten Hornszene direkt wider.22 Die Einbuße an Redeversen, die die Reduzierung der Dialoge in diesem Teil der deutschen Werke verursacht, wird, wie Tabelle 2 bereits zeigte, weitgehend dadurch kompensiert, dass den Halbdialogen mehr Verse zugeteilt werden. Das geschieht ohne nennenswerte Vermehrung der Anzahl der Halbdialoge in den deutschen Bearbeitungen: Das Rolandslied hat wie die Chanson vier Halbdialoge, nur beim Stricker gibt es einen zusätzlichen, fünften Halbdialog, nämlich die Ansprache, in der ein stimme von gote (Karl, v. 4823) die von Turpin erteilte Absolution bekräftigt, aber dieser Zusatz liefert nur vier neue Redeverse (v. 4823, 4824–4826). Die Aufstockung des Redeanteils durch die Halbdialoge wird vielmehr dadurch bewirkt, dass die Reden der deutschen Bearbeitungen länger sind als die der Chanson. An und für sich ist das für Konrad nicht verwunderlich, denn es ist eine Charakteristik seiner Bearbeitung, dass er Reden der Vorlage erweitert, besonders wo dies im Interesse der geistlichen Umformung liegt, die seine Propagierung der Kreuzzugsideologie mit sich bringt.23 Zwei Beispiele für diese Tendenz finden sich unter den Halbdialogen des Rolandsliedes, die in diesem Textabschnitt vorkommen, nämlich Olivers Ansprache an die Gesamtheit der Ritter innerhalb seines Gesprächs mit Roland und die Rede Turpins. 22
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Meyer (wie Anm. 5), S. 35, erwähnt die Reduzierung des Dialoganteils bei Konrad, meint aber, in Olivers Hinweis auf Alda (v. 3868) sei „ein Moment der Beunruhigung“ zu erkennen, das den Eindruck der Einmütigkeit in dieser Szene zerstöre. Im Lichte der ganzen Umgestaltung der Reden in dieser Szene ist dies schwer nachvollziehbar. Siehe Eberhard Nellmann, „Pfaffe Konrad“, in: 2VL 5 (1985), Sp. 115–131, hier Sp. 124f.
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Olivers Ansprache (Rolandslied, v. 3848–3863) entspricht in etwa seiner Rede an die fränkischen Ritter im Rahmen des Dialogs in Laisse 82 der Chanson. In den acht Versen dieser Rede in der Chanson macht Oliver seine Kampfgefährten auf das riesige sarazenische Heer aufmerksam, äußert den Wunsch, dass Gott sie für den Kampf stärken werde, und fordert sie zum Widerstand auf (v. 1039–1046). Konrad erweitert die Rede auf 16 Verse, in denen Oliver seinen Mitstreitern zuerst versichert, sie bräuchten sich nicht zu fürchten, weil sie im Auftrag Gottes kämpften und sich auf seine Hilfe verlassen könnten, und dann besonders auf den für die Kreuzzugsideologie wichtigen Faktor der Einmütigkeit unter den christlichen Rittern abhebt, wie bereits erwähnt. Turpins Rede an die christlichen Ritter erfährt eine noch größere Erweiterung in den Bearbeitungen: In der Chanson besteht diese Rede aus neun Versen (v. 1127–1135), die Konrad auf 31 vermehrt – beim Stricker sind es 32 Verse –, indem er den Kampf für den König und zur Verteidigung der Christenheit, zu dem der französische Turpin aufruft, durch einen Kampf um das den Christen verheißene jenseitige Erbe ersetzt und die himmlischen Freuden, die sie als Kinder Gottes erwarten, ausführlich schildert (Rolandslied, v. 3905–3935; vgl. Karl, v. 4784–4815).24 Die Unterschiede zwischen der Chanson und den deutschen Bearbeitungen in der Behandlung der Halbdialoge in diesem Textstück lassen sich nicht allein durch diese ‘Vergeistlichung’ und die mit ihr verbundenen Erweiterungen erklären, sondern sind auch im Zusammenhang mit Konrads oben dargelegter Neudeutung der ersten Hornszene zu sehen. Das geht aus den weiteren Änderungen hervor, die Konrad neben der Umgestaltung der Reden Olivers und Turpins hinsichtlich der Halbdialoge vorgenommen hat. Zwei Halbdialoge in der Chanson hat Konrad gestrichen: Rolands Rede in Laisse 90 und Olivers Rede in Laisse 92. Dafür kommt ein Halbdialog am Anfang des Textabschnitts im Rolandslied und im Karl neu hinzu: die Rede des sarazenischen Führers Falsaron, der seine Mitstreiter anspricht, als sich das heidnische Heer auf die Christen zu bewegt. Durch die Hinzufügung dieser Rede und durch die weiteren Änderungen, die oben festgestellt wurden, stellt Konrad die Halbdialoge dieser Textpartie in eine neue Konfiguration. Es gibt jetzt vier Reden, jeweils mit einem neuen Sprecher: Z u e r s t spricht Falsaron, einer der obersten sarazenischen Heerführer, der den Anfang der Schlacht mit einer großen Rede markiert (Rolandslied, v. 3827–3844). Das ausschließliche Thema seiner Rede ist die Taktik, die das Heer verfolgen muss, um die Christen mit Sicherheit zu überwältigen: er sprach: „welt ir sîn mîn rât haben, sô werdent si alle erslagen. daz wir si vil lîchte gewinnen 3830 unt ir nehain ne mac entrinnen, sô tailet iuch in vieriu. […]“ (Rolandslied, v. 3827–3831)
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Es wird noch ein dritter Halbdialog in den Bearbeitungen stark erweitert – Rolands Rede an die barons in Laisse 91 –, aber dieser gehört nicht in den hier besprochenen Kontext und wird unten (S. 73) behandelt.
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Die weiteren Details sind in diesem Zusammenhang ohne Belang, gleichfalls die Frage, inwieweit die Taktik, die hier beschrieben wird, sinnvoll ist; bemerkt sei nur, dass in der entsprechenden Rede beim Stricker eine andere Taktik angeordnet wird, die durchaus plausibler scheint und die eher mit dem tatsächlichen Verlauf der Schlacht in Einklang zu bringen ist (Karl, v. 4680–4698).25 Die z w e i t e Rede gehört Oliver, der seine Mitstreiter auf den Kampf vorbereitet (Rolandslied, v. 3848–3863). Die große taktische Entscheidung auf der christlichen Seite wird dann durch Roland in seinem Beitrag zum Gespräch mit Oliver getroffen: Karl wird nicht zu Hilfe gerufen; Roland meint, seine Kräfte reichten dazu aus, die von Gott verurteilten Sarazenen zu überwinden. Diese Entscheidung wird ohne Einwand akzeptiert. In der d r i t t e n Rede spricht Turpin, der die Christen für den Kampf geistlich ausrüstet (Rolandslied, v. 3905–3935). Z u l e t z t kommt die Rede Rolands, die in den deutschen Bearbeitungen die größte Erweiterung gegenüber ihrem Pendant in der Chanson erfährt, nämlich von vier Versen auf 21 Verse bei Konrad und gar auf 50 Verse beim Stricker (Rolandslied, v. 3964–3984; Karl, v. 4875–4924). Die wenigen Verse dieser Rede in der Chanson reichen nur dazu aus, dass Roland seinen Rittern befiehlt, im Schritttempo zu reiten, und ihnen einen herrlichen und siegreichen Kampf verspricht (Chanson de Roland, v. 1165–1168). Demgegenüber befasst sich Roland bei Konrad ausschließlich mit den taktischen Maßnahmen, die er als Gegenzug gegen die Taktik Falsarons treffen will: „ich waiz wole, waz si mainent. / si wellent uns vierhalben anrenne. / nu warne wir uns dar engegene“ (Rolandslied, v. 3964–3966). Es erübrigt sich wiederum, auf die Details einzugehen, denn sie sind in diesem Zusammenhang weniger wichtig als der Umstand, dass Roland durch diese Rede eindeutig als oberster Befehlshaber des christlichen Heeres herausgestellt wird, mit dem seine Kampfgefährten eine geschlossene Front bilden.26 Im Gegensatz zur Chanson, wo Oliver als Letzter spricht (v. 1170–1179), wird die letzte Rede eines christlichen Führers vor den Kampfhandlungen Roland zugeteilt. Durch diese Rede präsentiert sich Roland als militärischer Führer, der, was das taktische Denken angeht, seinem sarazenischen Gegenpart in nichts nachsteht und es mit ihm in der bevorstehenden Schlacht aufnehmen kann. In seiner erweiternden Wiedergabe dieser Rede verleiht der Stricker diesem Image von Roland weiteren Nachdruck, indem er Roland ausführlichere (und plausiblere) taktische Befehle in den Mund legt (Karl, v. 4893–4914)27 und diesem Teil der Rede eine
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Zur Kriegstaktik bei Konrad und dem Stricker siehe Rachel E. Kellett, Single Combat and Warfare in German Literature of the High Middle Ages: Stricker’s ‘Karl der Große’ and ‘Daniel von dem Blühenden Tal’, London 2008 (Modern Humanities Research Association Texts and Dissertations 72; Institute of Germanic and Romance Studies [University of London] Bithell Series of Dissertations 33), S. 118–120, 134–138. Es sei daran erinnert, dass im Rolandslied Roland nicht nur mit einer militärischen Funktion als Befehlshaber von Truppen, die den Rückzug der Hauptarmee aus Spanien zu decken haben, beauftragt ist, sondern auch von Karl zum Statthalter der Spanischen Mark ernannt wird (v. 3149–3151), so dass ihm die christlichen Ritter in zweifacher Hinsicht Treue schulden. Dazu siehe Ashcroft (wie Anm. 17), S. 39 und 41. Siehe Kellett (wie Anm. 25).
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Reflexion über den ritterlîchen muot (v. 4878) voranstellt, mit der Roland die Moral seiner Ritter zu stärken versucht (v. 4875–4892).28 Aus diesen Beobachtungen zur ersten Hornszene lässt sich das folgende Fazit ziehen: Die Änderungen im Bestand der Halbdialoge, die Konrad vorgenommen hat, verhalten sich komplementär zur Umgestaltung der Dialoge in diesem Textabschnitt. Die Figurenreden der Chanson werden von Konrad und, im Anschluss an ihn, vom Stricker planvoll umgestaltet, so dass sie Wesentliches zur Neudeutung dieses Abschnitts beitragen, die darauf abzielt, die christlichen Ritter im Auftakt zur Schlacht von Ronceval als geschlossene Einheit unter der Leitung ihres unangefochtenen Befehlshabers darzustellen.
II. Die Schlacht von Ronceval: Die ersten zwölf Zweikämpfe Die ersten tätlichen Auseinandersetzungen der Schlacht von Ronceval spielen sich in Form von Zweikämpfen ab, in denen die zwölf führenden Sarazenen, die sich vor Marsilie zum Kampf verpflichteten, einzeln zur Tat schreiten und mit nur einer Ausnahme den Tod finden. Die zwölf Zweikämpfe reihen sich in der Chanson direkt aneinander und füllen jeweils eine ganze Laisse aus (Laisses 93 bis 104). Sie bieten ein Paradebeispiel für den Gebrauch der sogenannten laisses parallèles.29 Im Grunde genommen handelt es sich bei diesen zwölf Zweikämpfen um die wiederholte Einsetzung eines einzigen Motivs, das in der Chanson (und auch sonst in den chansons de geste) zum Grundbestand der Motive gehört, mit deren Hilfe Schlachtdarstellungen gebaut werden. Es ist das Motiv des Lanzenangriffs, l’attaque à la lance, wie Jean Rychner es nannte, das sich aus mehreren festliegenden Elementen zusammensetzt.30 In einigen Laisses der Zwölferreihe kommt dieses Motiv ohne nennenswerten Zusatz vor, in anderen wird einer der Kämpfer am Anfang kurz beschrieben, in den meisten werden Figurenreden hinzugefügt – zu Wort kommen die Kontrahenten selbst oder eine dritte Figur, die am jeweiligen Zweikampf nicht beteiligt ist und als ‘Zuschauer’ bezeichnet werden kann. Dem summarischen Überblick im Schema 2 (S. 83f.) ist zu entnehmen, wie das Motiv in seiner Grundform und gegebenenfalls mit den genannten Zusätzen in den zwölf Zweikämp28
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Interessante, wenn auch nicht sehr genaue Parallelen zu Rolands Ansprache vor der Schlacht von Ronceval findet man in Blieses Studie über solche Ansprachen in der hochmittelalterlichen Chronistik: John R.E. Bliese, „Rhetoric and Morale: A Study of Battle Orations from the Central Middle Ages“, in: Journal of Medieval History 15 (1989), S. 201–226. Wenig ergiebig ist ders., „Courage and Honor. Cowardice and Shame: A Motive Appeal in Battle Orations in The Song of Roland and in Chronicles of the Central Middle Ages“, in: Olifant. A Publication of the Société Rencesvals, American-Canadian Branch 20 (1995–1996), S. 191–212. Duggan (wie Anm. 1), S. 98, definiert laisses parallèles als „laisses […] which recount actions that are not identical but are of the same type (as, for example, a series of battles whose elaboration is similar, but which each involve a different pair of protagonists)“. Vgl. Rychner (wie Anm. 14), S. 90f. Rychner (wie Anm. 14), S. 139–141.
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fen eingesetzt ist. Im ersten Teil des Schemas findet man den g a n z e n Inhalt der Laisses in der Chanson de Roland in die folgenden Elemente gegliedert: Der bzw. die „Kämpfer“, die beschrieben werden; der „Kampf“, der im Hinblick auf die deutschen Bearbeitungen in „Anfang des Kampfes“ und „Tod des Sarazenen“ geteilt ist; die „Reden“, die an verschiedenen Stellen platziert sein können. Die Redeteile sind kursiv gesetzt; die Anzahl der Verse in jedem Redebeitrag ist angegeben. Aus dem Schema geht deutlich hervor, wie die ersten drei Zweikämpfe in der Chanson eine geschlossene Serie bilden, indem neben der einführenden Beschreibung des sarazenischen Kämpfers zwei Reden hinzugefügt sind: eine Rede des Sarazenen vor dem Kampf und eine Rede des christlichen Siegers nach dem Kampf. In zwei Fällen (Nr. 2–3: Laisses 94–95) endet die Rede des Siegers mit dem Schlachtruf „Munjoie“ (gekennzeichnet durch „M “ im Schema). Dass diese drei Zweikämpfe besonders hervorgehoben werden, ist nicht weiter verwunderlich, denn es handelt sich um die ersten Kämpfe Rolands, Olivers und Turpins. Unter den restlichen neun Zweikämpfen befinden sich drei, deren Laisses nur aus Elementen des Lanzenangriffsmotivs bestehen (Nr. 4, 10–11: Laisses 96, 102–103), drei, die eine Serie für sich bilden, insofern sie durch ein einzeiliges Lob des christlichen Sieges erweitert werden (Nr. 5–7: Laisses 97–99), und drei, in denen sich der Sieger triumphierend äußert, wobei die ersten zwei eine Gruppe für sich bilden, insofern die Reden einzeilig sind gegenüber den drei Zeilen im dritten Fall (Nr. 8–9, 12: Laisses 100–101, 104). Innerhalb der gesamten Reihe steht bei jedem der neun Zweikämpfe, denen Reden hinzugefügt sind, eine Rede am Ende der Laisse.31 Die Frage, worauf die Variationen in dieser Reihe von zwölf Zweikämpfen zurückzuführen sind – z.B., ob sie ihren Ursprung im improvisatorischen Kompositionsverfahren mündlicher Dichtung haben –, darf hier unberücksichtigt bleiben, denn diese Frage wird sich den deutschen Bearbeitern wohl nicht gestellt haben. Konstatiert sei nur, dass durch den Gebrauch der Figurenrede innerhalb dieser Reihe von ähnlich gebauten Laisses einzelne Gruppierungen entstehen, die gewisse Kämpfe hervorheben und die der Eintönigkeit der wiederholten Begegnungen entgegenwirken, und dass sich eine Tendenz abzeichnet, die Zweikämpfe mit einer Rede, sei sie auch nur einzeilig, abzuschließen. Konrad hat bekanntlich den Textabschnitt, der diese zwölf Zweikämpfe in der Chanson enthält, um ein Mehrfaches erweitert, indem er zwischen die einzelnen Zweikämpfe weitere Kampfhandlungen einschob, die dem Eindruck, die führenden Streiter seien alleine auf dem Schlachtfeld, entgegenwirken und ein Bild des größeren Kampfgeschehens vermitteln. Das erschwert den Vergleich zwischen der Chanson und den deutschen Bearbeitungen, macht ihn aber nicht sinnlos oder uninteressant, denn es gibt genügend Indizien dafür, dass sich Konrad und in gesteigertem Maße noch der Stricker der Zusammenhänge innerhalb dieser Reihe von Zweikämpfen bewusst waren und sie ausbauen wollten. 31
Die Gruppierungen von Laisses, die hier nachgewiesen sind, basieren auf dem Gebrauch der Figurenrede; in seiner Analyse dieser Reihe von Zweikämpfen erschließt Duggan (wie Anm. 1), S. 144–148, noch weitere Gruppierungen und Konfigurationen auf der Basis anderer Kriterien.
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Aus dem zweiten und dritten Teil des Schemas 2 ist zu ersehen, wie sich die Wiedergabe der zwölf Zweikämpfe im Rolandslied und im Karl in Bezug auf den Gebrauch der Rede gestaltet.32 Es springt sofort ins Auge, dass die Anzahl der Redebeiträge in den Bearbeitungen bedeutend höher ist als in der Chanson (Chanson: 12; Rolandslied: 27; Karl: 31). Dieser Umstand rührt zum Teil daher, dass Konrad mehrere Dialoge zwischen den Kontrahenten in diese Textpartie einführt, aber auch zum Teil daher, dass bei ihm und in noch größerem Maße beim Stricker weiteren Figuren („Zuschauern“) eine Sprecherrolle zugeteilt wird. Auf diese beiden Neuerungen soll im Weiteren näher eingegangen werden. In der Chanson wird beiden Kontrahenten in den ersten drei Zweikämpfen eine Rede in den Mund gelegt. Obwohl sich die zweite Rede jedes Mal inhaltlich zum Teil auf die erste Rede bezieht,33 entstehen dabei keine Dialoge. Die dem Kampf vorangestellte erste Rede – die Rede des Sarazenen – richtet sich nicht an eine bestimmte Figur, sondern allgemein an die fränkischen Ritter („Franceis“, v. 1191, 1222) oder an die eigenen Truppen („Sarrazins“, v. 1237). Auf die in diesen Reden formulierte Beleidigung der Franken und ihres Herrn Karl und auf die überhebliche Erwartung, die France werde im bevorstehenden Kampf ihren guten Ruf verlieren, reagieren die christlichen Helden, indem sie den jeweiligen sarazenischen Befehlshaber angreifen und töten. Die zweite Rede, insofern sie als ‘Antwort’ auf die erste formuliert ist, richtet sich an eine Leiche. Die Reden, die die Kampfhandlung umrahmen, sind daher Halbdialoge.34 Dabei wohnt der Situation, in der sich einzelne Kämpfer auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen, ein dialogisches Potenzial inne; Konrad hat dies erkannt und den Halbdialog, der in der Chanson jedem der ersten drei Zweikämpfe vorausgeht, durch einen Dialog ersetzt. Die Umgestaltung fängt damit an, dass die sarazenischen Führer ausdrücklich nach einem bestimmten, mit Namen genannten christlichen Helden suchen: Jeder Dialog wird durch dieselbe Frage eröffnet: „bistû hie, Ruolant?“, „bistû hie, Olivier?“, „bistu hie, Turpîn?“
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Erfasst werden nur die Textabschnitte, die mit den zwölf Laisses der Chanson korrespondieren; die Tabelle am Ende des Schemas listet die korrespondierenden Passagen auf. So z.B. im ersten Zweikampf, in dem Aelroth Karl als fols bezeichnet und Roland mit dem Verlust des guten Namens (los) von France droht (v. 1193f.); Roland bezieht sich in seiner Ansprache an die Leiche Aelroths direkt darauf: „Carles n’est mie fol, / […] Oi n’en perdrat France dulce sun los“ (v. 1207–1210). Nach dieser ‘Antwort’ auf Aelroths Schmäh- und Drohrede wendet sich Roland an seine eigenen Ritter mit einem Appell, auf den Gegner einzuschlagen (v. 1211f.). Ähnliches gilt für die Kämpfe zwischen Oliver und Falsaron und zwischen Turpin und Corsablix. Die Klassifizierung von sogenannten Triumphreden des Siegers über den toten Gegner als Halbdialoge, die Strauss (wie Anm. 3), S. 62, und Emberson (wie Anm. 21), S. 22, befürworten, wird von Wiehl (wie Anm. 8), S. 125, der sie den Monologen zuzählen möchte, bestritten. Dieser Redetyp ist offensichtlich ein Grenzfall, bei dessen Klassifizierung man den Kontext berücksichtigen muss. Da sich der Sieger hier in allen drei Zweikämpfen mit einem Appell an seine eigenen Ritter wendet, gleich nachdem er sich über den toten Gegner triumphierend geäußert hat, ist damit zu rechnen, dass die Ritter als textimmanente Rezipienten der Triumphreden gedacht sind, womit diese eher den Halbdialogen zuzuordnen sind.
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(Rolandslied, v. 4021, 4227, 4385; vgl. Karl, v. 4969, 5255, 5395).35 Damit ist die Grundlage für eine persönliche Konfrontation und für eine verbale Auseinandersetzung geschaffen, wie sie in der Heldendichtung anzutreffen sind, in der Zweikämpfen typischerweise sogenannte Reizreden vorangestellt werden.36 Ob Konrad die Idee, dem Zweikampf einen Dialog vorausgehen zu lassen, wie anscheinend noch manches Andere in seiner Darstellung von Kampfhandlungen, der deutschen Heldendichtung verdankt, lassen wir dahingestellt sein.37 Von größerem Interesse ist in diesem Zusammenhang, wie Konrad die Dialoge, die er einsetzt, funktionalisiert. Es wird zwar in diesen Dialogen mit grausamen Todesarten und Schändung der Leiche gedroht und der Gegner wird als großtuerischer Feigling beschimpft38 – das erinnert an die heldenepische Reizrede –, aber vor allem dienen die Wortwechsel dazu, den Konflikt, der auf dem Schlachtfeld von Ronceval ausgetragen wird, in seiner ganzen Breite als Konflikt zwischen Christentum und Heidentum, zwischen Crist und Machmet, in deren Namen gekämpft wird, darzustellen.39 Dementsprechend präsentiert sich Adalrot / Alderot in den deutschen Bearbeitungen als der Beauftragte nicht nur Marsilies, sondern auch Mahomets und will Roland spöttisch einreden, nicht nur Karl, sondern auch Christus und St. Peter hätten ihn im Stich gelassen (Rolandslied, v. 4022–4035; vgl. Karl, v. 4970–4985). Bei Konrad antwortet Roland sowohl vor dem Kampf als auch mitten im Kampf darauf, bevor er seinen Gegner schließlich tötet. Dabei äußert er sich zweimal (v. 4050f., 4058f.) abschätzig über Mahomet, den Herrn Adalrots, und bezeichnet sich selbst als einen, der unter Christi Befehl steht: „daz gebiutet mir der heilige Crist“ (Rolandslied, v. 4060).40 In seiner Rede an den toten Gegner (also außerhalb des Dialogs) kontert Roland die Beschuldigungen 35
36
37
38
39
40
Das ergibt einen gewissen Widerspruch zu den vor Marsilie eingegangenen Verpflichtungen Falsarons und Cursables, Roland das Leben zu nehmen. Vgl. Martin H. Jones, „nû wert iuch, ritter, ez ist zît (Erec, v. 4347). Zum verbalen Vorfeld des ritterlichen Zweikampfs in deutschen Artusromanen des 12. und 13. Jahrhunderts“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 139–156, besonders S. 141, 152f., mit weiterführender Literatur. Siehe Wolfgang Golther, Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Ein Beitrag zur Litteraturgeschichte des XII. Jahrhunderts, München 1887, S. 131–136; Ute Schwab, „Archaische Kampfformeln im ‘Rolandslied’ und anderswo“, in: ABäG 50 (1998), S. 73–93. Siehe Rolandslied, v. 4023–4026, 4036–4039, 4047f., 4061, 4238–4244, 4257–4259, 4397–4400; vgl. Karl, v. 4972–4976, 4986–4989, 4999f., 5266–5269, 5407f. Vgl. Wolfgang Schulte, ‘Epischer Dialog’. Untersuchungen zur Gesprächstechnik in frühmittelhochdeutscher Epik (Alexanderlied – Kaiserchronik – Rolandslied – König Rother), Diss. Bonn 1970, S. 204–206. Der Handlungsablauf ist bei Konrad etwas konfus: Roland teilt Adalrot mit einem Schwerthieb mitten entzwei (v. 4055f.), schlägt ihn aber dann obene (v. 4062) und spaltet dabei Ross und Sattelbogen. Rolands zweite Rede liegt zwischen den zwei Schlägen. Der Stricker beseitigt diese Unklarheit und gibt nur die erste Rede Rolands wieder (v. 4996–5007), aber, wohlgemerkt, nicht ohne den Hinweis auf Christus als den Gebieter Rolands aus der zweiten Rede bei Konrad zu retten: „ich stên in Kristes gebote“ (v. 5001).
78
Martin H. Jones
Adalrots gegen Peter und Karl: Peter habe bessere Hilfe als Mahomet geleistet und Karls Entscheidung, Roland dort zurückzulassen, sei doch „wîse unt biderbe“ gewesen (Rolandslied, v. 4070–4075, Zitat v. 4074). Der Stricker pointiert hier die Widerlegung der Aussagen Adelrots noch mehr, indem er Roland neben Peter auch Christus als mächtigen Helfer nennen lässt: 5025
„nu bistu wol bescheiden, daz sante Peter sterker ist und der vil heilige Krist, danne Mahmet dîn got […]“. (Karl, v. 5024–5027)
Zwar gehört diese dem Kampf nachgestellte Rede nicht zum Dialog, aber bei Konrad wie auch beim Stricker unterstreicht sie die Absicht, die den Dialogen zugrunde liegt: Es sollen die grundsätzlichen Gegensätze zwischen den zwei Welten, die hier miteinander kollidieren, dargelegt werden, bevor im Kampf zwischen hervorragenden Vertretern dieser Welten wie in einem Gottesurteil über sie entschieden wird.41 Jedes Mal fällt die Entscheidung zugunsten der Christen aus, und ihre Überlegenheit – bzw. die ihres Gottes – beweist sich in dem hingestreckten Körper des heidnischen Gegners. In den Dialogen, die Oliver und Turpin mit Falsaron bzw. Cursable / Kursables führen (Nr. 2 und 3 im Schema 2), spitzen vor allem die Gegenreden der Christen die Konfrontation im religiösen Sinne zu: Falsaron bietet Oliver die Möglichkeit an, sein Leben dadurch zu retten, dass er zu Marsilie überläuft, worauf Oliver erklärt, er habe gelobt, keinem anderen Herrn als seinem Gott zu dienen (Rolandslied, v. 4251–4253; Karl, v. 5278–5281); Cursable / Kursables freut sich, es mit einem so hervorragenden Kämpfer wie Turpin aufnehmen zu können, und droht, dessen Kopf als Trophäe zu Mahomet zu bringen, wogegen Turpin darauf besteht, der Streit zwischen ihnen werde allein durch Christus entschieden, der sein Heiland, aber der Feind des Heiden sei (Rolandslied, v. 4402–4404; Karl, v. 5410–5412). Nach dem Sieg über den sarazenischen Gegner spricht nur Oliver noch einmal – er fordert Falsarons Mitkämpfer heraus, Rache an ihm zu nehmen (Rolandslied, v. 4269–4271; Karl, v. 5292–5297); vielleicht aus Rücksicht darauf, dass er zum geistlichen Stand gehört, wird die Rede Turpins, die die Chanson hier bietet, in den Bearbeitungen gestrichen. Außerhalb der ersten Dreiergruppe kommen Dialoge vor dem Kampf noch zweimal in der Reihe der zwölf Zweikämpfe bei Konrad und dem Stricker vor (Nr. 6 und 8). Diese Dialoge ersetzen keine Halbdialoge in der Chanson. Auch hier fragen die sarazenischen Führer nach dem Gegner, wenn auch in etwas anderer Form als in den ersten drei Kämpfen: „wer ist iuwer lait#re?“ und „wer laitet dise scar?“ (Rolandslied, v. 4617 und 4771; vgl. Karl, v. 5625 und 5793). Aber diesen Dialogen fehlt bei Konrad die religiöse Dimension, die die früheren Dialoge auszeichnet; im Vordergrund steht vielmehr die Überheblichkeit 41
Siehe hierzu die treffenden Bemerkungen von Claudia Brinker-von der Heyde, „Redeschlachten – Schlachtreden. Verbale Kriegsführung im Rolandslied “, in: ‘Krieg und Frieden’. Auseinandersetzung und Versöhnung in Diskursen, hg. von Ulla Kleinberger Günther, Annelies Häcki Buhofer und Elisabeth Piirainen, Tübingen 2005, S. 1–26, hier S. 19.
Zum Gebrauch der Figurenrede in drei Versionen des Karl-Roland-Stoffes
79
der Sarazenen: Aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit glauben sich die heidnischen Befehlshaber Amarezur und Eschermunt gegen jede Niederlage gefeit und brüsten sich mit ihrem sicheren Sieg im Kampf gegen ihre christlichen Gegenparte – sie werden aber in Wort und Tat durch Samson und Engelirs eines Besseren belehrt (Rolandslied, v. 4614– 4634; 4769–4805). Der Stricker hat bei der Wiedergabe dieser Dialoge einige kleine Änderungen vorgenommen, unter denen die Antwort auf die Frage, wer die christliche Schar führt, die er Engelher in den Mund legt, besonders bemerkenswert ist: 5800
„wiltu wizzen m#re, wer unser leit#re ist, daz ist der heilige Krist, nâch dem sol ich uns leiten […]“. (Karl, v. 5800–5803)
Damit dient der Dialog, der dem Zweikampf vorausgeht, auch hier der Hervorhebung des grundlegenden religiösen Konflikts. Außer den fünf eben besprochenen Fällen gibt es unter den vielen Zweikämpfen, die auf dem Schlachtfeld zu Ronceval ausgetragen werden, im Rolandslied keinen und im Karl nur noch einen Zweikampf, dem ein Dialog vorangestellt ist.42 Konrad betrachtete offensichtlich diese hier von ihm eingeführte Form der Figurenrede als besonders geeignet für die Darstellung der Anfangsphase der Kampfhandlungen, und das wohl vor allem, weil sie ihm die Möglichkeit bot, wie oben dargelegt wurde, an dieser Stelle wesentliche Aspekte des Konflikts zwischen Christentum und Heidentum nicht nur in Erinnerung zu rufen, sondern auch leibhaftig in Form mehrerer persönlicher Konfrontationen, die eine Entscheidung verlangen, vorzuführen. Im Gegensatz zur ersten Hornszene, wo die einen Konflikt artikulierenden Dialoge im Interesse der Einmütigkeit von Konrad beseitigt wurden, ist die dialogische Form der Figurenrede hier erwünscht, gerade weil sie die Zwiespältigkeit der in diesem Epos dargestellten Welt vor Augen zu führen vermag.43 Konrads Neugestaltung dieses Textabschnitts durch den Einbau zusätzlicher Kampfhandlungen zwischen die zwölf Zweikämpfe stört das dichte Nebeneinander der laisses parallèles in der Chanson. Infolgedessen wird es schwieriger, Zusammenhänge zwischen einzelnen Bestandteilen der ganzen Reihe, wie sie in der Chanson zu beobachten sind, herzustellen. Trotzdem fehlen sie nicht gänzlich bei den deutschen Bearbeitern. Auch bei ihnen bilden die ersten drei Zweikämpfe eine geschlossene Serie: So groß die Einschübe auch sind, die diese Kämpfe voneinander trennen, sie werden durch die alle drei Dialoge eröffnende Frage „bistû hie, […]?“ unüberhörbar in Beziehung zueinander gebracht. Die Ähnlichkeit der Frage nach dem Namen der christlichen Anführer in den Zweikämpfen 6 und 8 schafft auch neue Bezüge. Dem Stricker gebührt aber Anerkennung dafür, neue Möglich42
43
Für Karl siehe Kellett (wie Anm. 25), S. 221–243 (Appendix 1: „Summaries of the single combats in Karl der Große“). Die Ausnahme beim Stricker findet sich in der Begegnung von Oliver und Kartan, deren Wortwechsel insofern dem Dialog zwischen Oliver und Falsaron ähnelt, als Kartan Oliver auffordert, sich ihm zu ergeben, um sein Leben zu retten (Karl, v. 6451–6492). Dass der Stricker später einen Zweikampf mit vorangestelltem Dialog beschreibt (v. 6457–6473), mindert keineswegs die Wirkung der Dialoge in der ersten Phase der Kampfhandlungen.
80
Martin H. Jones
keiten gefunden zu haben, die einzelnen Glieder der Zweikampfreihe in Beziehung zueinander zu setzen. Es ist oben bereits erwähnt worden, dass bei jedem Zweikampf in der Chanson, dem Reden hinzugefügt werden – d.h. bei neun von den zwölf –, eine Rede entweder des Siegers oder eines Zuschauers am Ende der Laisse steht. Das Gleiche gilt für das Rolandslied: Auch hier wird in neun von zwölf Fällen der Zweikampf durch eine Rede abgeschlossen; diese Rede wird entweder dem Sieger oder der Gesamtheit der christlichen Ritter zugeteilt (in den Zweikämpfen 1, 2 und 5 wird sowohl dem Sieger als auch der Gesamtheit der christlichen Ritter eine Rede in den Mund gelegt). Darin scheint der Stricker eine Regel gesehen zu haben oder, genauer gesagt, darin scheint er die Möglichkeit gesehen zu haben, eine Regel aufzustellen, an die er sich dann hält, denn bei ihm endet jeder Zweikampf mit einer Rede – des Siegers, der Gesamtheit der christlichen Ritter oder beider. Außerdem geht der Stricker bei der Einsetzung des christlichen Schlachtrufes ziemlich konsequent vor, indem er zehn der zwölf Zweikämpfe mit „Munschoy“ ausklingen lässt. Während Konrad hier den Anfang machte, indem er die Gesamtheit der christlichen Ritter fünfmal den Schlachtruf ausstoßen lässt,44 nutzt der Stricker diese Möglichkeit neunmal – im siebten Zweikampf ist der Schlachtruf dem Sieger zugeteilt. Dabei ist zu bemerken, dass sich der Stricker sonst mit dem Gebrauch des christlichen Schlachtrufes sehr zurückhält: Während „Munschoy“ im Laufe der ersten zwölf Zweikämpfe zehnmal ertönt, hören wir diesen Ruf in den übrigen Kampfszenen seines Werkes nur fünfmal.45 Beim Stricker erhält also die Figurenrede eine strukturierende Funktion, insofern sie das Motiv ‘Zweikampf’ abschließt und die zwölf Zweikämpfe dieser Reihe dadurch in Beziehung zueinander bringt.46 Obwohl Konrad die Geschlossenheit der Reihe durch die eingeschobenen Kampfhandlungen gelockert hatte, war sie für den Stricker noch erkennbar, und er hat versucht, sie durch den gezielten Einsatz der Figurenrede zu markieren; dazu leistet der Schlachtruf „Munschoy“ einen nicht unbedeutenden Beitrag, indem der Stricker ihn im Laufe der ersten tätlichen Auseinandersetzungen wiederholt über das Schlachtfeld hallen lässt. In ihrer Studie über den Gebrauch der direkten Rede in deutschen Bearbeitungen französischer höfischer Romane kommt Karen Pratt zu dem Schluss, „that German poets were capable of rendering both form and content of their models quite accurately if they so desired, but that they frequently modified their source in order to produce new meaning or new poetic effects“.47 Aufgrund der hier angestellten Beobachtungen zur Umgestaltung der ersten Hornszene und der ersten Zweikämpfe in der Schlacht von Ronceval lässt sich der zweite Teil dieser Aussage ohne Vorbehalt auf Konrad und den Stricker in ihren Bearbeitungen eines ganz anderen Stoffkreises übertragen. 44 45 46
47
In der Chanson, v. 1234 und 1260, rufen nur Oliver und Turpin „Munjoie“. Karl, v. 6409, 6933, 7516, 9699, 9758. Der Stricker schließt Zweikämpfe auch sonst gelegentlich mit einer Rede ab, aber in keiner der in die Reihe der zwölf Zweikämpfe eingeschobenen Kampfhandlungen ist das der Fall; der Schlachtruf kommt auch nicht in den eingeschobenen Passagen vor. Pratt (wie Anm. 4), S. 238f.
81
Zum Gebrauch der Figurenrede in drei Versionen des Karl-Roland-Stoffes
Schema 1: Die Schlacht von Ronceval: Die Kampfvorbereitungen Chd R: L
v.
79
994– 1005
80
81 82
*83
*84
*85
86
87
Erzähler-/ Figurenrede E
Figuren (Anzahl der Redeverse)
RL: v.
3813– 3826 3827– 3844
1006– 1007 1008– 1016 1017– 1020 1021– 1025 1026– 1027 1028– 1038
D (1a)
Oliver (2)
D (1b)
Roland (9)
1039– 1046 1047– 1048
D (3a)
Oliver (8)
D (3b)
Franceis (2)
1049– 1052 1053– 1058 1059– 1061 1062– 1069 1070– 1072 1073– 1081 1082– 1087 1088– 1092 1093– 1098 1099– 1105 1106– 1109
D (4a)
Oliver (4)
D (4b)
Roland (6) Oliver (3)
Erzähler-/ Figurenrede E
Figuren (Anzahl der Redeverse)
HD
Falsaron (18) → heidnische Ritter
Karl: v.
4669– 4679 4680– 4698
Erzähler-/ Figurenrede E
Figuren (Anzahl der Redeverse)
HD
Falsaron (19) → heidnische Ritter
4699– 4702
E
3845– 3847
D (1a)
Oliver (2)
4703– 4705
D (1a)
Oliver (2)
3848– 3863
HD
Oliver (16) → christliche Ritter
4706– 4725
HD
Oliver (20) → christliche Ritter
3864– 3869 3870– 3898
D (1a)
Oliver (6)
D (1a)
D (1b)
Roland (27)
4726– 4737 4738– 4778
Oliver (12) Roland (39)
E D (2a)
Oliver (5)
D (2b)
Roland (2)
E
D (4c) D (4d) D (4e) D (4f) D (4g) D (4h)
Roland (8) Oliver (3) Roland (9) Oliver (6) Roland (5)
E D (5a)
Oliver (7)
D (5b)
Roland (4)
D (1b)
82
Martin H. Jones 88
89
90
91
92
* D E HD L
= = = = =
1110– 1112 1113– 1123 1124– 1126 1127– 1135
E
1136– 1138
E
1139– 1145 1146– 1151
E
1152– 1164 1165– 1168
E
1169
E
1170– 1179
HD
1180– 1187
E
D (5c)
Roland (11)
E HD
HD
HD
Turpin (9) → Franceis
3899– 3904 3905– 3935
3936– 3963
E HD
Turpin (31) → christliche Ritter
E
4779– 4783 4784– 4815
E HD
4816– 4821 4822– 4826
E
4827– 4874
E
4875– 4924
HD
4925– 4964
E
HD
Roland (6) → Oliver
Roland (4) → barons Oliver (10) → Roland/ barons
3964– 3984
HD
3985– 4016
E
Roland (21) → christliche Ritter
laisses similaires Dialog (1a/1b, 2a/2b usw. bezeichnen die einzelnen Züge in den Dialogen) Erzählerrede Halbdialog Laisse
Turpin (32) → christliche Ritter
stimme von gote (4) → christliche Ritter
Roland (50) → christliche Ritter
83
Zum Gebrauch der Figurenrede in drei Versionen des Karl-Roland-Stoffes
Schema 2: Die Schlacht von Ronceval: Die ersten zwölf Zweikämpfe Chanson de Roland (Laisses 93–104) Zweikampf
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
C
11
12
S
C
9
9
Kämpfer
S
S
S
Rede 1 vor dem Kampf
S 5
S 1
S 5
9
9
9
9
9
9
9
9
9
9
9
9
9
9
9
9
9
9
9
9
C 1
C 1
C 1 C 1
C 1
7
8
9
10
11
12
S/C
C
S
[S]
9
9
9
Rede 2 vor dem Kampf Anfang des Kampfes Rede im Lauf des Kampfes Tod des Sarazenen Rede von Zuschauern Rede des Siegers
C 6
C 3 M
C 8 M
9
C 3
Rede von Zuschauern
Rolandslied (v. 4017–5100 auszugsweise) Zweikampf
1
2
Rede 1 vor dem Kampf
S 22
Rede 2 vor dem Kampf
C 11
Anfang des Kampfes
9
Rede im Lauf des Kampfes
C 5
Kämpfer
Tod des Sarazenen Rede von Zuschauern Rede des Siegers Rede von Zuschauern
9 C 1 M C 10
3
4
5
S
S
S/C
S/C
S
S
S
S 18
S 16
S 9
C 18
S 11
C 16
C 11
C 2
9
9
9
9
6
9
C 10 9
9
C2
9
C 3 C 1 M
9 C 1 M
9
9
C 2 C 1 M
9
9 S/C 2/7
9
9
C 2
C 3
9 C 1 M
9
9
C 3
C = Christ; M = christlicher Schlachtruf: „Munjoie“, „Monsoy“, „Munschoy“; S = Sarazene
C 2
84
Martin H. Jones Karl (v. 4965–6135 auszugsweise) Zweikampf
1
2
Rede 1 vor dem Kampf
S 26
Rede 2 vor dem Kampf
C 12 9
Kämpfer
Anfang des Kampfes Rede im Lauf des Kampfes Tod des Sarazenen
9
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
S
S
S/C
S/C
S
S
S
S/C
S/C
S
[S]
S 16
S 14
S 5
C 13
S 6
C 13
C 13
C 4
9
9
9
Rede von Zuschauern
9
9
9
9
9
9
9
C 1 M
C 1 M
C 1 M
C 1 M
C 2
C 13 9
9
C 2
C 3
9
9
9
9
9
S/C 6/1 9
9
C 1 M
C 1 M
9
Rede des Siegers
C 13
C 6
Rede von Zuschauern
C 1 M
C 1 M
Zweikampf
Chanson de Roland – Figuren (Laisse)
Rolandslied – Figuren (Verse)
Karl – Figuren (Verse)
1
Roland – Aelroth (Laisse 93) Oliver – Falsaron (Laisse 94) Turpin – Corsablix (Laisse 95) Gerin – Malprimis (Laisse 96) Gerers – l’amurafle (Laisse 97) Samson – l’almaçur (Laisse 98) Anseïs – Turgis (Laisse 99) Engelers – Escremiz (Laisse 100) Gaulter (Otes) – Estorgans (Laisse 101) Berenger – Astramariz (Laisse 102) Oliver – Margariz (Laisse 103) Roland – Chernuble (Laisse 104)
Roland – Adalrot (v. 4017–4080) Oliver – Falsaron (v.4217–4275) Turpin – Cursable (v. 4371–4420) Egeris – Malprimis (v. 4487–4502) Egeriers – Amurafel (v. 4537–4552) Samson – Amarezur (v. 4589–4634) Anseis – Targis (v. 4659–4734) Engelirs – Eschermunt (v. 4763–4809) Hatte – Estorgant (v. 4851–4916) Beringer – Stalmariz (v. 4973–5001) Roland – Zernubiles (v. 5041–5066) Oliver – Margariz (v. 5067–5100)
Roland – Alderot (v. 4965–5047) Oliver – Falsaron (v. 5231–5299) Turpin – Kursables (v. 5385–5433) Gergis – Malprimes (v. 5509–5523) Egeris – Murafel (v. 5559–5578) Samson – Amirat (v. 5609–5645) Ansis – Targis (v. 5666–5745) Engelher – Eschermunt (v. 5783–5835) Hatte – Estrogant (v. 5871–5929) Bernger – Stahelmariez (v. 5971–5987) Roland – Cernoles (v. 6022–6084) Oliver – Margriez (v. 6085–6135)
2 3 4 5 6 7 8 9 10 11* 12*
C 3 M
9
C 2
C 4
C 6 C 1 M
* Die Kämpfe 11 und 12 der Chanson de Roland sind im Rolandslied und im Karl umgestellt.
Ricarda Bauschke
„stingender hunt, bosiz as“ Die Redeszenen in Wolframs Willehalm und Herborts Liet von Troye im Spannungsfeld von Vorlagentransformation und Kriegsmodellierung
Die höfisierende Aneignung romanischer Quellen ist im deutschen Mittelalter ein zentrales Verfahren der Textproduktion. Es steht in kulturgeschichtlichem Zusammenhang mit der Rezeption französischer Adelskultur überhaupt1 und setzt als ‘Poetik des Wiedererzählens’ eine auf die Antike zurückgehende Tradition fort, die sich über variatio und aemulatio konstituiert.2 Obwohl die Forschung schon lange erkannt hat, welch großen heuristischen Nutzen die Gegenüberstellung mittelhochdeutscher Werke mit ihren altfranzösischen Vorlagen bringt, haben sich die Untersuchungen meist auf Einzelvergleiche beschränkt.3 Der große Entwurf von Michel Huby, deutsche Aneignungsverfahren altfranzösischer Quellen zu rekonstruieren,4 ist von Alois Wolf mit Recht als unzulänglich verworfen worden.5 Dabei lassen sich durchaus einzeltextübergreifende Phänomene beschreiben, anhand derer sich französisches und deutsches Erzählen im Mittelalter voneinander unterscheiden lässt, wobei im Rückgriff auf moderne Erzähltheorie auch die narrativen Verfahren benennbar werden, welche die entsprechenden Effekte erzielen. Franz Josef Worstbrock hat mit seinen Überlegungen zur dilatatio materiae einen wichtigen Schritt in diese Richtung unternommen.6 Die folgenden Ausführungen verstehen sich als zweistufiger Versuch. Zuerst sollen die Gestaltung von Redeszenen in altfranzösischen Erzähltexten und deren Anverwandlung in den entsprechenden mittelhochdeutschen Bearbeitungen auf werkübergreifende Gemein-
1
2
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4
5
6
Dies erläutert grundlegend Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, Frankfurt a.M. 1986 u.ö., besonders S. 83–136. Vgl. dazu Franz Josef Worstbrock, „Wiedererzählen und Übersetzen“, in: Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche, Neuansätze, hg. von Walter Haug, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128–142. Als Beispiel sei hier die Untersuchung von Freytag genannt – Wiebke Freytag, „Zu Hartmanns Methode der Adaptation im Erec“, in: Euphorion 72 (1978), S. 227–239. Michel Huby, L’adaptation des Romans courtois en Allemagne au XII e et au XIII e siècle, Paris 1968. Alois Wolf, „Die ‘adaptation courtoise’. Kritische Anmerkungen zu einem neuen Dogma“, in: GRM 27 (1977), S. 257–283. Franz Josef Worstbrock, „Dilatatio materiae. Zur Poetik des ‘Erec’ Hartmanns von Aue“, in: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1–30.
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Ricarda Bauschke
samkeiten hin befragt werden.7 Ausgangspunkt hierfür ist die Hypothese, dass sich losgelöst von Gattung und Einzelautor bestimmte, vergleichbare Verfahren rekonstruieren lassen, die als kennzeichnend für mittelhochdeutsche Adaptionen altfranzösischer Vorlagen gelten können. Dass es sich bei den postulierten Bearbeitungsphänomenen allerdings stets nur um Tendenzen der Aneignung handelt, ohne dass die Einzelwerke normativ auf schemahaftes Adaptieren reduziert werden könnten, versteht sich von selbst. Divergierende Gattungszugehörigkeiten, Unterschiede in den mutmaßlichen Personalstilen, chronologische Abstände provozieren Differenzen, die sich einer übergreifenden Kategorisierung sperren. Eine solche ist aber ohnehin nicht intendiert. Es geht keinesfalls um die Rekonstruktion eines starren Regelwerkes, sondern vielmehr um das Angebot erzähltechnischer Koordinaten, in denen sich mittelhochdeutsches Erzählen auf der Grundlage altfranzösischer Vorlagen vollzieht. – Im zweiten Schritt entfaltet sich dann der Nutzen des skizzierten methodischen Vorgehens: Eigenakzente, die bestimmte Autoren im Umgang mit ihren altfranzösischen Vorlagen setzen, werden überhaupt erst erkennbar und beschreibbar, wenn tendenziell generalisierbare Phänomene rekonstruiert sind und als Kontrastfolie für die Wahrnehmung potentieller Sonderwege dienen können. Werden also Ähnlichkeitsrelationen zwischen Einzelwerken im Umgang mit ihren jeweiligen altfranzösischen Quellen als Orientierungslinien benutzt, profilieren sich in Bezug auf sie spezifische Gestaltungsvarianten, die autorbezogen, gattungstypisch oder auch motivbedingt sein können. Um eben solche Eigenakzente soll es gehen, wenn in dem hier entworfenen Zusammenhang das Liet von Troye Herborts von Fritzlar sowie der Willehalm Wolframs von Eschenbach in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Dabei gilt es einerseits, Wolframs Änderungen gegenüber Aliscans8 sowie Herborts Bearbeitung des Roman de Troie kursorisch zu beschreiben, und andererseits, die beiden Arten des Umgangs mit den altfranzösischen Vorlagen zueinander in Bezug zu setzen, das heißt, Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Quellenbearbeitung und der sich aus der Adaptionsweise ergebenden Sinnsetzung herauszustellen. Die Zusammenschau der beiden Werke erscheint berechtigt, weil in beiden Erzähltexten das Kriegsthema für ein höfisches Publikum modelliert wird. Im Fokus werden daher in erster Linie Redeszenen aus Willehalm und Liet von Troye stehen, aus denen sich potentiell Wolframs bzw. Herborts Perspektivierung des Krieges ergibt. – Zuvor sollen jedoch mögliche Verfahren mittelhochdeutscher Aneignung altfranzösischer Redeszenen in Erzähltexten exemplarisch beschrieben und terminologisch gefasst werden.
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In meiner Habilitationsschrift habe ich mich im Rahmen eines systematischen Vergleichs mittelhochdeutscher Erzähltexte und ihrer jeweiligen altfranzösischen Quelle auch exemplarisch den Redeszenen gewidmet. Die in dem vorliegenden Beitrag nur beispielhaft vorgestellten Ergebnisse fußen auf einer breiteren Grundlage. Vgl. Ricarda Bauschke, Herbort von Fritzlar, Liet von Troye. Antikerezeption als Diskursmontage und Literaturkritik, Habilitationsschrift FU Berlin 2006, Wiesbaden 2012 (Wissensliteratur im Mittelalter) [im Druck]. Zu den sich dabei ergebenden methodischen Problemen siehe unten.
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I. Verfahren mittelhochdeutscher Aneignung von Redeszenen aus altfranzösischen Erzähltexten Vor allem für Chrétien ist in der Forschung immer wieder konstatiert worden, dass sich sein Erzählen durch eine besondere Vorliebe für direkte Figurenrede auszeichne.9 Beschränken lässt sich diese Beobachtung auf den prominenten Dichter gleichwohl nicht; denn zahlreiche altfranzösische Erzählwerke sind – zumindest in ihrer Tendenz – von Dialogen, die zudem stichomythisch organisiert sind, geprägt. Dies betrifft vor allem schriftliterarisch konzipiertes, höfisches Erzählen. Wie Chrétien verwenden zum Beispiel auch der Verfasser des Roman d’Éneas, Renaut de Beaujeu im Bel Inconnu und Marie de France in ihren Lais zahlreiche Dialogszenen, mit denen sie den Erzählfluss auflockern. Die altfranzösischen Autoren setzen – ganz verallgemeinernd gesprochen – im ersten Redebeitrag eines Wortwechsels oft eine inquitFormel (Erec et Enide, v. 3221: „Comant?“ fet il; „ou l’as tu pris?“; Roman d’Éneas, v. 311: „Seignor“, fait il, „franc chevalier“),10 verzichten dann aber im Fortgang meist auf Sprechermarkierungen und steigern durch Zeilen- oder sogar Halbzeilenstil das Erzähltempo erheblich. Indem erzählte Zeit und Erzählzeit ganz übereinstimmen, vermittelt das kommunikative Handeln der Sprecher eine gesteigerte Dynamik; die mittelhochdeutschen Bearbeiter gestalten entsprechende Passagen um. Typische Fälle bei Chrétien wären aus dem Yvain die Ansprache der Königin an Kalogrenant, Keies Spott zu ignorieren (Yvain, v. 131–143; Iwein, v. 230– 243),11 oder die Begegnung des aus dem Wahnsinn Erwachten mit dem Salben-Mädchen (Yvain, v. 3064–3085; Iwein, v. 3615–3643). Aus Erec et Enide wäre das Wortgefecht Erecs mit dem peitschenden Zwerg anzuführen (Erec et Enide, v. 208–220; Erec, v. 73–98)12 und aus dem Perceval die Begegnung des Jünglings mit den Rittern in der Einöde, die Perceval / Parzival ausfragt (Perceval, v. 168–303; Parzival, v. 122,13–124,21),13 sowie Gawans Zwie9
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Einen Überblick zu diesem Problem bieten Christoph Cormeau und Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche, Werk, Wirkung, München 21993, hier S. 171. Versangaben, Zitate und Übersetzungen folgen den Ausgaben: Chrétien de Troyes, Erec et Enide, übersetzt und eingeleitet von Ingrid Kasten, München 1979 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 17); Le Roman d’Éneas, übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer, München 1972 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 9). – Die entsprechenden Übertragungen lauten: „Wie“ fragt er. „Woher hast du ihn?“ (Erec et Enide); „Edle Herren,“ sagt er, „geradsinnige Ritter“ (Roman d’Éneas). Versangaben, Zitate und Übersetzung nach: Chrétien de Troyes, Yvain, übersetzt und eingeleitet von Ilse Nolting-Hauff, München 1983 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 2); Hartmann von Aue, Iwein, Text der siebenten Ausgabe von Georg Friedrich Benecke, Karl Lachmann und Ludwig Wolff, Übersetzung und Nachwort von Thomas Cramer, 4., überarbeitete Auflage, Berlin/New York 2001. Siehe stets die Ausgabe: Erec von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Auflage besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39). Versangaben und Zitate nach: Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Der Percevalroman oder Die Erzählung vom Gral, Altfranzösisch / Deutsch, übersetzt und hg. von Felicitas Olef-Krafft, Stuttgart 1991 (RUB 8649); Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienaus-
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gespräch mit dem Knappen vor Bêârosche (Perceval, v. 4816–4881; Parzival, v. 342,10– 349,30). Die Episode aus dem Roman d’Éneas, wo Dido den mit Abreisevorbereitungen beschäftigten Eneas zur Rechenschaft zieht (Roman d’Éneas, v. 1675–1687; Eneit, v. 2015– 2046), macht deutlich, dass die Vorliebe für Dialogpassagen kein Merkmal eines etwaigen Personalstils von Chrétien ist, sondern mutmaßlich altfranzösisches Erzählen bestimmt. Die rhetorischen Vorbilder für dieses Gestaltungsverfahren finden sich in der Antike, nämlich in den Dramen des Terenz und des Seneca; Nikolaus Henkel behandelt dies in einem eigenen Beitrag in diesem Band. In den mittelhochdeutschen Aneignungswerken erscheinen die angeführten Beispiele von Redeszenen – und noch zahlreiche andere – transformiert, indem nämlich die einzelnen Gesprächsbeiträge auf mehrere Verse erweitert (so in dem Beispiel des Eneasromans) oder aber tendenziell in einen Handlungsbericht durch den Erzähler überführt werden (wie bei Parzivals Soltane-Begegnung). Das Vorspiel zur Obie-Obilot-Episode wird von Wolfram sogar derart extrapoliert – den 66 Versen bei Chrétien setzt er 230 Verse entgegen – und in den Redeteilen des Knappen mit Hintergrundinformationen angereichert, dass der Dialogcharakter der Passage partiell aufgehoben wird. Zwar gibt es auch Beispiele dafür, dass Hartmann und Veldeke ihre Wortwechsel in einer den altfranzösischen Quellen vergleichbaren Weise gestalten können, etwa wenn Iwein Laudine seine Liebe gesteht (v. 2341– 2355), Kalogrenant mit dem Wilden Mann spricht (v. 483–495), Kadocs Dame Erec über die Entführung ihres Begleiters durch zwei Riesen informiert (v. 5354–5367) oder die Mutter Amata ihrer Tochter Lavinia das Wesen der minne erklärt (Eneit, v. 9789–9972), doch organisieren die mittelhochdeutschen Adapteure – und dies ist ihnen allen gemeinsam – die Gesprächsszenen zum großen Teil auf andere Weise: Die einzelnen Redner werden nicht nur einmal, sondern immer wieder angekündigt (Erec, v. 4737: lûte er in ane rief; v. 4747: er sprach; v. 4756: Keiîn sprach; v. 4770: Êrec sprach usw.), sie erhalten jeweils längere Redebeiträge, und durch überleitende Formulierungen sowie eingeschobene Kommentare fügen sich die Dialoge insgesamt organischer in den Erzählfluss ein.14 An einer Passage aus Hartmanns Iwein wird dies besonders augenfällig:
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gabe, Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung zum Text von Peter Schirok, Berlin/New York 1998. Huby (wie Anm. 4), hier S. 331–350, hat diese Technik der Vorlagentransformation nicht als solche erkannt und kommt dadurch zu gänzlich unzutreffenden Ergebnissen. – Die vom Titel her vielversprechende Arbeit von Wiehl verfolgt ein andersartiges Untersuchungsinteresse und liefert für die hier aufgeworfene Fragestellung keine weiterführenden Erkenntnisse: Peter Wiehl, Die Redeszene als episches Strukturelement in den Erec- und Iwein-Dichtungen Hartmanns von Aue und Chrestiens de Troyes, München 1974 (Bochumer Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft 10).
Die Redeszenen in Wolframs Willehalm und Herborts Liet von Troye „Comant a non?“ – „Mes sire Yvains.“15 „Par foi! cist n’est mie vilains, Ainz est mout frans, je le sai bien, Si est fiz au roi Uriien.“ „Par foi, dame! vos dites voir.“ 2110 1820 „Et quant le porrons nos avoir?“ „Jusqu’a cinc jorz.“ – „Trop tarderoit; Que mon vuel ja venuz seroit. [...]“ 1815
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sî sprach „nû sage mir sînen namen.“ „vrouwe, er heizet her Îwein.“ zehant gehullen sî in ein. sî sprach „deiswâr, jâ ist mir kunt sîn name nû vor maneger stunt: er ist sun des künec Urjênes. entriuwen ich verstênes mich nû alrêrst ein teil: und wirt er mir, sô hân ich heil. [...] sage, wenne mag ich in gesehen?“ „vrouwe, in disen vier tagen.“ „ouwê, durch got waz wil dû sagen? dû machest mir den tac ze lanc. [...]“
Das Gespräch Lunêtes mit Laudine, die ihre Herrin nach Askalons Tod zur Ehe mit Iwein überreden möchte, zählt bei Hartmann de facto kaum mehr Verse als bei Chrétien; trotzdem ist der Duktus durch die im mittelhochdeutschen Text eingefügten Redeankündigungen und die Längung der Einzelreden insgesamt weit weniger raffend als in der altfranzösischen Vorlage. Ähnliches ergibt ein exemplarischer Detailvergleich von Roman d’Éneas und Eneit:16 „[...] Aime celui ki t’amera,17 ce est Turnus, ki set anz a 8615 que tote a mise en tei s’entente: guarde que il ne s’en repente. Se tu joïr vuels de m’amor, donc laisse ester le traïtor et t’amor torne vers celui 8620 dont ge te pri, si lai cestui, que te sereit toz tens estrange.“ 15
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„[...] nû dû als frû woldest toben 10695 unde denken umbe man,
wan minnetestû Turnûm dan, der dich minnet manegen tach?“ „frouwe“ sprach si „ich ne mach, ich bin ze verre drane komen, 10700 sîn minne hât mir benomen mîn herze unde mînen sin. 10702 mir is leit deich ime sô holt bin,
Übersetzung: „Wie ist sein Name?“ „Herr Yvain.“ „Fürwahr! der ist nicht von schlechter Herkunft, sondern von bestem Adel, das weiß ich wohl; er ist der Sohn des Königs Urien.“ „Fürwahr, Herrin! Ihr sprecht die Wahrheit.“ „Und wann können wir ihn hier haben?“ „In fünf Tagen.“ „Das ist zu spät; wenn es nach mir ginge, wäre er schon hier [...]“. Siehe für Versangaben und Zitate die Ausgabe: Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1986 (RUB 8303). Übersetzung: „[...] Liebe denjenigen, der dich lieben wird, das ist Turnus, der seit sieben Jahren seine ganze Liebe auf dich gerichtet hat: sieh dich vor, daß er es nicht bereut. Wenn du meine Liebe besitzen willst, so lasse den Verräter fahren und richte deine Liebe auf denjenigen, um dessentwillen ich dich bitte, laß ab von Eneas, denn er würde dir immer fremd sein.“ – „Ich kann diesen Wechsel nicht vollziehen, wie sehr ich es auch wollte.“ – „Du darfst ihn nicht lieben.“ – „Ich kann es in meinem Herzen nicht zuwege bringen.“ – „Was hat er dir angetan?“ – „Mir? Nichts.“ – „So liebe ihn doch und halte dich daran.“ – „Ich habe einen anderen erwählt, ich kann es nicht tun.“ – „So kannst du dich nicht [Oder: so kann ich dich nicht] von dieser Liebe abbringen?“ – „Nein, fürwahr, es ist keineswegs ein Scherz, ist nicht Cupido Eneas’ Bruder, der Gott der Liebe, der mich besiegt hat? Für seinen Bruder hat er mich heftig entflammt! [...]“.
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Ricarda Bauschke – „Ge ne puis pas faire cest change, 10705 ce que ge voil.“ – „Nel deis amer.“ – „Nel puis en mon cuer atorner.“ – 8625 „Que t’a forfait?“ – „Mei? nule rien.“ – „Car l’aime donc et si t’i tien.“ – „Altre ai choisi, ge nel puis faire.“ – 10710 „Si ne te puez d’amor retraire?“ – „Nage, par fei n’est mie gas, 8630 n’est Cupido frere Eneas, li deus d’amor ki m’a conquise? Vers son frere m’a molt esprise! [...]“
des mûz ich sîn unfrô. der minnen got Cupidô der is Ênêases brûder und is Vênûs sîn mûder, diu gewaldege gotinne: die hânt mir sîne minne in mîn herze sô getân, deich ir niht abe mach gestân.“
Da Veldeke den schnellen Wortwechsel Amatas und Lavinias durch jeweils eine längere Redepassage beider Frauen ersetzt, tilgt er die Hektik, welche der Roman d’Éneas zum Ausdruck bringt. Dabei vermittelt sich die emotionale Betroffenheit von Mutter und Tochter nun nicht mehr über die Art der Gesprächsführung, sondern vielmehr über den Inhalt des Gesagten, und Lavinia wirkt in ihrer Zuneigung für Eneas – nicht zuletzt mittels der extrapolierten Bezugnahme auf den göttlichen Ursprung ihrer Liebe – deutlich mehr gefestigt. Ihre minne erfährt dadurch eine wesentliche Aufwertung. Obwohl Veldeke in dieser zentralen Szene die Versanzahl gegenüber dem Roman d’Éneas sogar vermindert, erscheint der Erzählduktus an sich insgesamt langsamer als in der altfranzösischen Vorlage. Die Wirkung, die solch eine dichterische Umsetzung von Redeszenen speziell in den altfranzösischen Werken erzielt, ist ambivalent. Einerseits kann die Stichomythie auf die Artifizialität des Präsentierten verweisen; dies knüpft an ihre Funktion in antiker Dichtkunst an.18 In diesem Sinne können die Dialogpassagen in den altfranzösischen Quellen gerade aufgrund ihrer rhetorischen Durchkomposition als autoreferentielle Signale für die Gemachtheit der Texte gedeutet werden. Andererseits suggerieren stichomythisch organisierte Redeszenen durchaus die mimetische Abbildung tatsächlicher Sprechsituationen. Indem nämlich die inquit-Formeln wegfallen und der sich ergebende Redefluss unmittelbar und wie aus sich selbst heraus entwickelt wirkt, tritt die vermittelnde Erzählerinstanz hinter den redenden Figuren deutlich zurück. An die Stelle einer immer wieder auch poetologisch ausgespielten Diegesis tritt die auf Nachahmung zielende Mimesis. Es wird der Anschein erweckt, die literarischen Dialoge seien Spiegelungen von realhistorisch praktiziertem oder zumindest lebensweltlich möglichem Sprechhandeln. Dass sich – selbst idealiter – Menschen nicht in der Weise unterhalten, wie Lavinia und Amata im Roman d’Éneas es tun, steht außer Frage; dennoch ist die vorgestellte Passage des altfranzösischen Textes geprägt von scheinbarer Unmittelbarkeit, emotionaler Betroffenheit und einer gewissen Eile, Letzteres vor allem provoziert durch die häufigen Sprecherwechsel ohne inquit-Formeln. Vermutlich ist genau dieser Effekt beabsichtigt. Wie Nikolaus Henkel und Nine Miedema gezeigt
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Siehe dazu Maria E. Müller, „Vers gegen Vers. Stichomythien und verwandte Formen des schnellen Sprecherwechsels in der mittelhochdeutschen Epik“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 117–137.
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haben,19 übernehmen die altfranzösischen Autoren das Stilmittel der Stichomythie aus der antiken Dichtkunst, wo es in der performativen Sprechsituation des Dramas seinen festen Platz besitzt und dort im Sinne einer Authentisierung von natürlichen Figuren und ihrer Redeweise eingesetzt wird bzw. der Nachahmung affektischer Rede dient. Es soll der Eindruck von Unmittelbarkeit entstehen und dadurch wohl auch eine empathische Einlassung des Rezipienten bewirkt werden. Veldekes und Hartmanns Bearbeitungen ihrer Quellen setzen genau an den Punkten an, die im Roman d’Éneas bzw. im Yvain der scheinbaren Authentisierung von Redeszenen als tatsächlich möglichen Gesprächen dienen. Die ausgewählten Beispiele können dabei als repräsentativ für ein grundsätzlich erkennbares Verfahren der Quellentransformation gelten. Auffällig ist die Reduktion von Sprecherwechseln bei gleichzeitiger amplificatio der einzelnen Redeanteile. Zwar sprechen insgesamt betrachtet die Figuren in den altfranzösischen und den mittelhochdeutschen Texten immer noch gleich viel, doch sie reden in den deutschen Bearbeitungen seltener in einem dynamischen Hin und Her, als dies in den französischen Vorlagen der Fall ist: In den zitierten Beispielen liefern bei Veldeke die Mutter Amata und ihre Tochter Lavinia je einen längeren Gesprächsbeitrag; der Hartmann-Text zeigt zügige Sprecherwechsel, doch wird Chrétiens Halbzeilenstil in Zeilenstil überführt, es kommen inquit-Formeln vor (sî sprach, v. 2106, 2109), und der Dialog ist mit einem Erzählerkommentar durchsetzt (zehant gehullen sî in ein, v. 2108). Die rhetorisch erzeugte Spontaneität, welche Roman d’Éneas und Yvain vermitteln, ersetzt Veldeke an der besagten Stelle durch zwei ausformulierte Positionsnahmen, die Amata und Lavinia nicht im aggressiv-schnellen Wortwechsel vorbringen, sondern als argumentativ ausgefeilte Redebeiträge, mit denen sie ihre jeweiligen Stellungnahmen im Zusammenhang präsentieren. Die gebotene Eile Laudines, schnell einen neuen Ehemann und Quellenhüter zu finden, spiegelt sich sowohl bei Chrétien als auch bei Hartmann in der Art der Gesprächsführung von Laudine und Lunête wider, durch die extrapolatio der einzelnen Redebeiträge bei Hartmann wird allerdings die überrumpelnde Hast, die Chrétiens Lunête zeigt, reduziert. Dies könnte einer Profilierung der einzelnen Details von Lunêtes Intrige dienen. Weiterreichende interpretatorische Konsequenzen, die sich aus diesen Beobachtungen ziehen lassen, sind für Veldeke und Hartmann vergleichbar: Indem das Reden der textinternen Figuren zurückgedrängt und in Erzählerrede eingebettet wird, erfährt die Erzählerfigur als Medium der Erzählinformation eine deutliche Hervorhebung. Die beschriebenen Transformationen werten die Berichterrolle auf, weil die Erzählerfigur in ihrer Funktion als Vermittlungsinstanz profiliert wird. Sie ist es, die den Figuren die Redebeiträge zuteilt, die Länge der Beiträge bestimmt und das Gesagte kommentiert. Reziprok entpuppt sich zugleich das präsentierte Geschehen, sei es die Eneasgeschichte, sei es der Iweinstoff, als literarisch aufbereitete Materie. Veldekes Eneit und Hartmanns Iwein, um bei den gewählten Beispielen zu bleiben, erscheinen damit auch als Werke von Sinn herstellenden Dich19
Nikolaus Henkel, in diesem Band; Nine Miedema, „Stichomythische Dialoge in der mittelhochdeutschen höfischen Epik“, in: Frühmittelalterliche Studien 40 (2006), S. 263–281.
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tern, die durch ihre spezifischen Quellenaneignungen Bedeutung produzieren. Der langsamere Erzählduktus, den Veldeke und Hartmann nicht zuletzt durch ihre Anverwandlungen von Redeszenen bewirken, dient somit autoreferentiellen Selbstinszenierungen als narrator mediator. Das Ergebnis lässt sich auf andere mittelhochdeutsche Autoren, die altfranzösische Quellen transformieren, übertragen.20 – In der Zusammenschau von Veldekes, Hartmanns und Wolframs Art der Dialogtransformation entsteht indes das Bild einer Gradation: Zeigt die Eneit noch die größte Nähe zum Vorlagentext, so wirkt Hartmanns Umgang mit den Dialogpassagen bereits freier,21 und Wolfram betreibt für die einzelnen Gesprächsbeiträge eine derartige amplificatio, dass wie bei dem oben erwähnten Bêârosche-Beispiel das Miteinander des Redens aus dem Blickwinkel gerät. Da diese Stufung mit der Chronologie der Autoren korrespondiert, ist anzunehmen, dass die variatio bei den Gesprächsszenen, allen voran die Reduktion von Stichomythie, eine Bearbeitungstendenz gegenüber der altfranzösischen Quelle ist, die sich im diachronen Prozess immer weiter ausdifferenziert. Auf die mittelhochdeutschen Adaptionen altfranzösischer Monologszenen lässt sich dieses Ergebnis übertragen. Verdeutlichen kann dies wiederum ein Beispiel aus Veldekes Eneasroman, die Totenklage des Eneas um den von der Hand des Turnus gefallenen Pallas:22 La o Turnus ot mort Pallas,23 i sorvint senpres Eneas, molt ot grant duel en son corage. 5850 „Amis“, fait il, „ce est domage, que vos estes por mei ocis. Amenai vos d’altre païs, nostre amors a petit duré, malvais guaranz vos ai esté. 5855 Vengerai vos, se faire puis, morz est Turnus, se or le truis.“
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Dô daz alsô was getân, daz Pallas der edle man sînen lîb hete verloren, daz was Ênêê vil zoren, unde hiez in schiere bâren sîne lûte die dâ wâren. Ênêas klagete sêre sîn jugent und sîn êre sîn tugent und sîn trouwe. her hete grôze rouwe der helt wol geborne. vor leide und vor zorne ne mohter niht gesprechen, her wolde in gerne rechen an Turnô der in slûch. [...]
Siehe dazu ausführlicher Bauschke (wie Anm. 7). Auch Miedema (wie Anm. 19) konstatiert, dass die älteren Erzählwerke von Veldeke und Hartmann sich noch stärker an ihren jeweiligen Vorlagen orientierten als Wolfram und Gottfried, bei denen bezeichnenderweise weniger stichomythische Redeszenen vorkommen. Über die gesamte Episode im Kontext des zeitgenössischen Freundschaftsdiskurses handelt umfassend Andreas Kraß, „Achill und Patroclus. Freundschaft und Tod in den Trojaromanen Benoîts de Sainte-Maure, Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg“, in: LiLi 114 (1999), S. 66–98. Übersetzung: Dort wo Turnus Pallas getötet hatte, kam alsbald Eneas hinzu, sehr großen Schmerz hatte er in seinem Herzen. „Freund“, sagt er, „das ist schade, daß ihr um meinetwillen getötet (worden) seid. Ich führte euch aus fremdem Land herbei, unsere Zuneigung hat nur kurze Zeit gedauert, ein schlechter Beschützer bin ich euch gewesen. Ich werde euch rächen, wenn ich es vermag, tot ist Turnus, wenn ich ihn jetzt finde“.
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Ênêas der hêre was erbolgen sêre unde rouwich genûch.
Der Roman d’Éneas kombiniert in wörtlicher Rede eine Toten-laudatio mit juristischer Argumentation. Eneas macht sich für den Tod des Pallas verantwortlich, beklagenswert erscheint ihm besonders das Ableben des Freundes in einem fremden Land, fern der Heimat. Der Schmerz resultiert nicht zuletzt aus Eneas’ Verantwortungsgefühl als Heerführer. – Veldeke exponiert nicht nur all diese Aspekte weniger stark und forciert stattdessen die Innenschau auf Eneas, sondern er transformiert die gesamte Passage in indirekte Rede. Der deutsche Eneas erhält nicht selbst das Wort, sondern qua Erzählerbericht wird auf das Innenleben der Figur geblendet, um die emotionale Betroffenheit zu markieren. Dabei wird einerseits die Klage in indirekte Rede überführt (v. 7753ff.), andererseits schneidet der Erzähler dem Trauernden das Wort ab (v. 7758f.). Veldeke ergänzt an dieser Stelle den Topos der Sprachlosigkeit ob des Leides, liefert also gleichsam einen textinternen Grund für seine erzähltechnische Abwandlung. Damit dient die Passage, in der Veldeke das Innenleben des Protagonisten perspektiviert,24 auf der Handlungsebene dazu, die Gefühle des Eneas zu exponieren. Narratologisch betrachtet ist dieses Verfahren darüber hinaus funktionalisiert hin auf die autoreferentielle Pointierung der Instanz, welche die Innenschau erst ermöglicht, nämlich der Erzählerfigur. Überspitzt formuliert ließe sich festhalten, dass mittelhochdeutsche Autoren, die eine altfranzösische Quelle übertragen, ihre Adaptionen als Resultate einer Sinnproduktion profilieren, die sich gerade in ihrer Abweichung von der Vorlage manifestiert. Die spezifische mittelhochdeutsche Transformation von altfranzösischen Redeszenen trägt dazu erheblich bei. Dies korrespondiert mit der Poetik des Wiedererzählens, wie sie Worstbrock rekonstruiert hat;25 denn bereits in der antiken Poetik wird die Aufbereitung eines überkommenen Stoffes, die aemulatio einer bereits vorliegenden konkreten Ausgestaltung des Sujets anhand der Alternativen von abbreviatio und amplificatio propagiert.26 Der Hersteller einer solchen textlichen ‘Überbietung’ aber kann seine Eigenleistung vor allem dadurch exponieren, dass er seine Vermittlungsleistung, durch die er den Stoff seinem Publikum wieder nahebringt und neuerlich interessant macht, autoreferentiell in den Vordergrund rückt.27 24
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Die Technik der Fokalisierung in Veldekes Eneasroman untersucht Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ‘Eneas’, im ‘Iwein’ und im ‘Tristan’, Tübingen/ Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44). Worstbrock (wie Anm. 2). Vgl. u.a. eine entsprechende Stelle im Pisonenbrief, wo Horaz eindeutig dafür plädiert, in der Dichtkunst allgemein bekannte Sujets zu verarbeiten: difficile est proprie communia dicere, tuque / rectius Iliacum carmen deducis in actus / quam si proferres ignota indictaque primus (128–130; Übersetzung: Schwierig ist, Allgemeines individuell zu sagen, und besser, du setzt die Dichtung um Troja in ein Bühnenstück um, als daß du Unbekanntes und Ungesagtes als erster vorlegst). Zitiert nach: Horaz, Pisonenbrief, in: Quintus Horatius Flaccus, Ars Poetica. Lateinisch / Deutsch, übersetzt und mit einem Nachwort hg. von Eckart Schäfer, Stuttgart 1972 (RUB 9421). Siehe dazu auch Worstbrock (wie Anm. 6).
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Ein wesentlicher Aspekt sei allerdings noch erwähnt. Bei den rekonstruierten Bearbeitungstendenzen, die sich in der übergreifenden Zusammenschau aus den Einzeltexten als Gemeinsamkeiten haben abstrahieren lassen, handelt es sich um nur eine Seite eines in größerem Kontext zu betrachtenden Phänomens. Es existieren nämlich durchaus Gegenbeispiele zu dem hier beschriebenen Verfahren. Auch Veldeke und Hartmann können ihre Wortwechsel in einer Weise gestalten, die den altfranzösischen Quellen vergleichbar ist. Beispiele hierfür wurden oben bereits genannt.28 Stichomythie und Fehlen von inquit-Formeln sind die auffälligsten Merkmale solcher Gesprächsszenen, durch deren Gestaltung die Autoren jeweils ihre rhetorische Virtuosität unter Beweis stellen. Auffällig dabei bleibt jedoch, dass die mittelhochdeutschen Autoren genau dort, wo sich in den altfranzösischen Ausgangstexten stichomythisch organisierte Redeteile finden, diese häufig in indirekte Rede überführen, die mittelhochdeutschen Bearbeiter aber ganz neu rhetorisierte dynamische Dialoge einfügen, wo sie eben ihre altfranzösischen Quellen nicht bieten. Für beide Fälle hat Michel Huby zahlreiche Belege zusammengestellt, und er hat den Befund als Ausdruck einer willkürlichen Änderungsmanie der Adapteure gedeutet, die zwanghaft jeweils den genau anderen Weg hätten beschreiten wollen, als ihn die altfranzösische Vorlage vorschlägt.29 Doch die Gründe scheinen in einem tieferen poetischen Sinn zu liegen. Zum einen kann die Stichomythie als Wertungsmarker benutzt werden, um bestimmte Personen oder Figuren durch ihre Redeweise zu diskreditieren; zum anderen kann der Zeilenstil als Signal für poetologisch relevante Passagen fungieren.30 Beides trifft zum Beispiel zu auf die fiktiven Zuhörer, die im Erec und im Iwein auftreten, und es lässt sich ebenso für Kalogrenants Gespräch mit dem Wilden Mann reklamieren, da dort die defizitäre aventiure-Definition ausgestellt und arturisches Handeln in seiner Schemahaftigkeit offengelegt werden soll.31 Die affektive Redeweise der Sprecher indiziert ihr Sprechhandeln als genuin subjektivemotional und lässt den Rezipienten aufhorchen. Seine Aufmerksamkeit ist Voraussetzung dafür, metapoetisches Sinnpotential wahrzunehmen und zu entschlüsseln. Im Ergebnis zielen beide Verfahren, also die Tilgung vorhandener Stichomythie und der Einsatz neuer entsprechender Redeszenen an anderen Stellen, auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt: die autoreferentielle Zurschaustellung der eigenen Erzählleistung.
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Miedema (wie Anm. 19) hat sich in ihrer Untersuchung gerade auf solche Passagen konzentriert, in denen mittelhochdeutsche Autoren die stichomythische Komposition von Redeszenen adaptieren oder neuartig einsetzen. Huby (wie Anm. 4). Entsprechend urteilt Miedema (wie Anm. 19). Über das poetologische Programm in Hartmanns Iwein in Verbindung mit dem dort propagierten und relativierten aventiure-Begriff handelt Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, 2., überarbeitete Auflage, Darmstadt 1992, S. 118–130.
Die Redeszenen in Wolframs Willehalm und Herborts Liet von Troye
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II. Redeszenen in Wolframs Willehalm Ein Vergleich von Wolframs Willehalm mit seinem altfranzösischen Bezugstext Aliscans kann aus zwei Gründen nur unter Vorbehalt erfolgen. Zum einen datiert die schriftliche Fixierung des mündlichen Erzählstoffes im Frankenreich nach der Abfassung des Willehalm, so dass die reine Mutmaßung bleibt, die Redaktion, die Wolfram als Quelle benutzt hat, habe der späteren Verschriftlichung von Aliscans, wie sie überliefert ist, weitestgehend entsprochen.32 Zum anderen verkomplizieren textsortenspezifische Differenzen in den Erzählformen den Vergleich. Aliscans ist als traditionelles chanson de geste-Werk genuin mündlichen Ursprungs in assonierenden Laissen verfasst, die, wie bereits Jean Rychner für die Chanson de Roland gezeigt hat,33 auch als inhaltliche Wiederholungen organisiert sein können. Die Technik der laisses similaires oder laisses parallèles ermöglicht es, ein und denselben Sachverhalt in Variation zu repetieren bzw. wichtige Handlungselemente durch die Verknüpfung von Altem und Neuem stufenweise voranzutreiben. Dieses Verfahren gewährleistet gerade im mündlichen Vortrag, dass auch potentiell unaufmerksame Zuhörer durch die mehrfache Wiederholung auf zentrale Erzählinformationen und Höhepunkte der Handlung aufmerksam gemacht werden. Wenn also Guillaume auf den sterbenden Vivïens trifft und in den Laissen 24 bis 28 mehrere Klagereden artikuliert, die neben immer gleichen Motiven auch in sich gesteigerte Varianzen zeigen (Tod des Stammfolgers, Antizipation von Guibourcs Leid, Aufforderung zur Beichte), dann dient dies der besonderen Exponierung des leidvollen Verlustes. Wolfram setzt diese typischen Elemente oraler Literatur, welche die laisses similaires repräsentieren, nicht um, sondern er tilgt die Wiederholungen, baut seine Klagerede im Willehalm ohne Doubletten klimaktisch auf und verknüpft sie organisch mit den Aspekten, welche die Handlung vorantreiben, etwa Beichtmotiv oder Sterbeszene im engeren. Die den mündlichen Traditionen verpflichtete Vorlage Aliscans verändert Wolfram damit im Sinne seiner schriftlichen Konzeption des Textes. Hinzu kommt, dass Redeszenen in den chansons de geste grundsätzlich eine geringere Rolle spielen. Die orale Stofftradition und Vortragssituation sowie damit verknüpft die Instanz des jongleur verantworten eine dominant diegetische Erzählsituation, die weniger Raum für Dialogmimese lässt. Umso interessanter werden dann allerdings die Passagen, die als Gespräche konzipiert sind und dabei Ähnlichkeiten zu den Redeszenen der höfischen Romane aufzeigen. Sie sollen im Zentrum des nachfolgenden Quellenvergleichs stehen. Unter Berücksichtigung der skizzierten Sonderstellung von Wolframs altfranzösischer Quelle lassen sich auch im Verhältnis von Willehalm und Aliscans signifikante Parallelen zu dem oben beschriebenen Verfahren mittelhochdeutscher Redeszenenaneignung ausmachen.
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Zum Vorlagenproblem siehe zusammenfassend Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, 8., völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart/Weimar 2004 (Sammlung Metzler 36), hier S. 375–390. Jean Rychner, La Chanson de geste. Essai sur l’art épique des jongleurs, Genf/Lille 1955 (Société de Publications Romanes et Françaises 53).
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Die Episode vom Tod des Vivianz enthält sowohl dialogische als auch monologische Passagen, so dass sie sich besonders gut als Beispiel anbietet:34 930 931a 931b 931c 931d 932
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Li quens se pasme, tant a son duel mené; 35 Quant se redrece, s’a l’enfant regardé, Que un petit avoit le chief crollé. Bien ot son oncle oï et escoté; Por la pitié de lui a sospiré. „Dex“, dist Guillelmes, „or ai ma volenté.“ L’enfant apele, puis li a demandé: „Biax niés, vis tu, por sainte charité?“ – „Oïl voir, oncles, mes poi ai de santé, N’est pas merveille, quar le cuer ai crevé.“ – „Niés, dist Guillelmes, di moi la verité, Se tu avoies pein beneoit usé, Au dïemenche, que prestre eüst sacré.“
Mit jamer er sus panste. do heschete und ranste der wunde lip in siner schoz, des herze tet vil manegen stoz, 65,5 wan er mit dem tode ranc. diu liehten ougen uf do swanc Vivianz und sach den œheim sin, als in der engel Cherubin troste, an der selben stat. 65,10 der marcrave in sprechen bat und vragt in „hastu noch genomen da mit diu sele din sol komen mit vreuden vür die Trinitat? spr#che du bihte? gap dir rat 65,15 inder dehein getoufter man, sit ich die vlust an dir gewan?“
Wie seine mittelhochdeutschen Dichterkollegen transformiert Wolfram Dialoge mit schnellen Sprecherwechseln in umfangreiche Gespräche, die aus langen Redeanteilen bestehen. In den Vordergrund rückt dabei nicht die Kommunikationssituation als solche, sondern die Beiträge der Figuren werden genutzt, um das Kreuzzugsgeschehen ausführlicher zu kommentieren. Die Sprecher erscheinen damit deutlich als Sprachrohre der Erzählerinstanz; die Erzählerfigur selbst wird dabei in mehrfacher Hinsicht hervorgehoben: Erstens ersetzt Wolfram wichtige Redebeiträge der altfranzösischen Quelle durch Erzählerkommentare: Aliscans, v. 932–934, „Biax niés, vis tu, por sainte charité?“ / – „Oïl voir, oncles, mes poi ai de santé, / N’est pas merveille, quar le cuer ai crevé“, wird in Willehalm, v. 65,2–5, zu do heschete und ranste / der wunde lip in siner schoz, / des herze tet vil manegen stoz, / wan er mit dem tode ranc. Die Diskussion der Protagonisten über den baldigen Tod des Neffen tilgt Wolfram, stattdessen bietet er eine allwissende Schilderung der Situation durch den Erzähler.
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Die Zitate und Versangaben folgen den Ausgaben: Aliscans, hg. von Claude Regnier, 2 Bde., Paris 1990 (Les classiques français du moyen âge 110); Wolfram von Eschenbach, Willehalm, Text der Ausgabe von Werner Schröder, Übersetzung, Vorwort und Register von Dieter Kartschoke, 3., durchgesehene Auflage, Berlin/New York 2003. – Die Übersetzungen in Anm. 35–37 stammen von mir, R.B. Übersetzung: Der Graf wurde ohnmächtig, so groß war sein Kummer. Als er wieder zu sich kam, blickte er auf den jungen Mann, der ein wenig den Kopf bewegt hatte. Dieser hatte seinen Onkel genau gehört und aus Mitleid mit ihm einen Seufzer ausgestoßen. „Oh Gott“, sagte Guillaume, „mein Wunsch wurde mir erfüllt“. Er wandte sich dem Jungen zu und fragte ihn: „Liebster Neffe, lebst du um Himmels Willen noch?“ „Ja, fürwahr Onkel, aber ich bin dem Tode geweiht. Das ist kein Wunder, denn mein Herz ist durchbohrt“. „Neffe“, sagte Guillaume, „sage mir die Wahrheit, hast du am Sonntag von einem Priester die Kommunion empfangen und Geweihtes zu dir genommen?“
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Zweitens werden die inquit-Formeln transformiert. Der Textsorte chanson de geste entsprechend enthält Aliscans weit mehr Sprechermarkierungen als sie die romans courtois bieten. Wolfram extrapoliert diese Redeankündigungen noch, er leistet mithin eine amplificatio, die mit den Adaptionstendenzen der Romanautoren korrespondiert und an sein eigenes Vorgehen als Bearbeiter des Perceval erinnert (s.o.). Die immer gleiche, stereotype inquit-Formel dist Guillelmes (v. 931c, 935) oder dist Vivïens (v. 938) bzw. fait Guillelmes (v. 946) erscheint im Willehalm ausdifferenziert, etwa als der marcgrave in sprechen bat / und vragt in (v. 65,10f.) oder da engegen er trureclichen sprach (v. 67,8) oder do sus des marcraven mac / in siner schoz unkreftic lac, / er sprach hin zim mit herzen klage (v. 68,1– 3). Die Reihe ließe sich beliebig erweitern. Die Blende auf das dargestellte Geschehen erfolgt nicht direkt, sondern vermittelt über die Berichtsinstanz, die zusätzliche Informationen liefert, das dargestellte Geschehen ausschmückt und damit letztlich auch selbst hervortritt. Drittens wird dieses Verfahren in einer für Wolfram typischen Manier noch potenziert, wenn nämlich die Erzählerfigur als empathisches Ich redet. Die Passage besitzt in Aliscans kein direktes Pendant:36 über Vivianzen kniet er do. ich geloube des, daz er unvro 61,25 der angesihte w#re, und aller vreuden l#re. den verhouwen helm er von im bant, daz wunde houbet er zehant legt al weinende in sine schoz 61,30 und sprach alsus mit jamer groz: [...]
Die fingierte individuelle Einschätzung der Vermittlungsinstanz (ich geloube des) wird zur Verstehensmaxime des präsentierten Stoffes und, da sich die Stelle ganz am Beginn der Vivianz-Szene befindet, auch zu einer Art Programmerklärung. Nicht zuletzt weil Wolfram seinen Erzähler am Beginn des Willehalm in der Autorrolle auftreten lässt,37 provoziert er fließende Grenzen zwischen Berichtsinstanz und historischem Autor, womit er einerseits das erzählte Geschehen authentisiert, andererseits aber ein poetisches Vexierspiel betreibt.38 36
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An dieser Stelle heißt es in Aliscans, v. 824–831: Li quens Guillelmes fut iriez et dolant; / Vivïen vit, qui gisoit tot senglant. / Plus soef fleire que basme ne piment; / Sus sa poitrine tenoit ses mains croisant; / Li sans li sist par ambedeus les flans; / Parmi le cors ot .XV. plaies grant, / De la menor fust mort un amirant. / „Niés Vivïens“, dist Guillelmes li frans. – Übersetzung: Graf Guillaumes war zornig und voller Schmerz. Er erblickte Vivïens, wie er voller Blut ausgestreckt dalag. Er verströmte einen süßen Duft, lieblicher als Balsam oder Gewürze. Er hatte die Hände auf seiner Brust gefaltet. Das Blut floss auf beiden Seiten von ihm herab. Sein Körper zeigte 15 klaffende Wunden; schon an der kleinsten wäre ein Emir gestorben. „Vivïens, Neffe“, sagte der edle Guillaume. Die Stelle lautet: ich Wolfram von Eschenbach, / swaz ich von Parzival gesprach, / des sin aventiure mich wiste, / etslich man daz priste (v. 4,19–22). Noch deutlicher wird dieses Verfahren bekanntlich im Parzival, siehe hierzu u.a. Klaus Ridder, „Autorbilder und Werkbewußtsein im Parzival Wolframs von Eschenbach“, in: Wolfram-Studien 15 (1998), S. 168–194; Bernd Schirok, „Diu senewe ist ein bîspel. Zu Wolframs Bogengleichnis“, in: ZfdA 115 (1986), S. 21–36.
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Unter diesen Vorzeichen liest sich die zitierte Passage dann als eine um die Autorrolle erweiterte Redeankündigung, die alle nachfolgenden Sprechermarkierungen und ihre wertenden Zusätze (trureclichen sprach, v. 67,8; mit herzen klage, v. 68,3; usw.) als fingierten Wolfram-Kommentar ausweisen. Auch im Willehalm dient die Transformation der Redeszenen damit einer autoreferentiellen Selbstinszenierung der Berichtsinstanz. Das besondere Beziehungsgeflecht von Erzählerkommentar und Figurenrede ermöglicht es Wolfram, die Aggression des Krieges einerseits in wörtliche Rede umzusetzen und sich andererseits davon zu distanzieren. Dies ist bei Schmähungen der Fall. Angesichts der heidnischen Invasion lässt sich Willehalm zu einem verbalen Ausfall hinreißen. Der Monolog kommt in dieser Heftigkeit ebenfalls in Aliscans nicht vor: 565
„[...] Mar des putains tant en ont chaelez,39 Pis des glotons qui les ont engendrez! [...]“
58,15
58,20
in sime zorne er do sprach: „ir gunerten Sarrazin, ob bediu hunde und swin iuch trüegen und da zuo diu wip, sus manegen werlichen lip, vür war möht ich wol sprechen doch daz iuwer ze vil w#re dannoch.“
Wo Guillaume in der altfranzösischen Quelle die Heiden verdammt und ihre Mütter als Huren bzw. die Väter als Schurken beschimpft, bringt Willehalm die Andersgläubigen ausgerechnet mit den Tieren in eine biologische Verbindung, die im Islam als unrein gelten, Hund und Schwein. In der Figurenrede, wenn auch nur im Rahmen eines Selbstgespräches, flackern in Wolframs Willehalm also deutlich antimoslemische Vorurteile auf.40 Relativiert wird die Aussage allerdings durch die Redeankündigung in sime zorne er do sprach (v. 58,14). Willehalms zorn ist hier nicht mit dem in Bezug auf seine Figur mehrfach problematisierten Zorn in Verbindung zu bringen, der zum Beispiel sein Handeln gegenüber Arofels diskreditiert,41 sondern zorn erscheint im Kontext der Sterbeszene als Ausdruck einer emotionalen Ausnahmesituation des Protagonisten, der seinen Gefühlen unmittelbar Ausdruck verleiht. Das Folgehandeln wird damit zwar nicht unbedingt gerechtfertigt, aber zumindest menschlich plausibel gemacht.42 Erzählinformation und deren moralische Bewertung erscheinen damit explizit aufgesplittet. 39
40 41
42
Übersetzung: Verflucht seien die Huren, die sie in so großer Zahl geboren haben, und dazu die Schurken, die sie zeugten! Zur Bedeutung von Hund und Schwein in der Antike s.u. (Anm. 48). Walter Haug, „Parzivals zwîvel und Willehalms zorn. Zu Wolframs Wende vom höfischen Roman zur Chanson de geste“, in: Wolfram-Studien 3 (1975), S. 217–231, erneut abgedruckt in: ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 529–540. Vgl. zum semantischen Spielraum von zorn Klaus Grubmüller, „Historische Semantik und Diskursgeschichte: zorn, nît und haz“, in: Codierungen von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages, hg. von C. Stephen Jaeger u.a., Berlin 2003 (Trends in Medieval Philology 1), S. 47–69. Siehe auch den Band: Furor, zorn, irance. Interdisziplinäre Sichtweisen auf mittelalterliche Emotionen, hg. von Bele Freudenberg (= Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Zeitschrift des Mediävistenverbandes 14 [2009], Heft 1).
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Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Wolfram macht sich das Verfahren, altfranzösische Redeszenen im Sinne einer Aufwertung der Erzählerfigur zu transformieren, dienstbar für seine spezifische Modellierung des Kriegsthemas. Er stellt einerseits die – auch verbalen – Auswüchse kämpferischer Konfrontationen aus und distanziert sich andererseits mittels der aufgewerteten Erzählerfigur kritisch vom dargestellten Kriegsgeschehen.
III. Reden über den Krieg in Herborts Liet von Troye Musste der Vergleich des Willehalm mit Aliscans vom Gattungsunterschied der beiden Texte abstrahieren, so stellt sich für Herborts Liet von Troye als Bearbeitung des Benoîtschen Roman de Troie ein anderes Problem. In vielerlei Hinsicht weicht Herbort ganz grundlegend von bestimmten Verfahren ab, die mittelhochdeutsche Dichter aktualisieren, wenn sie eine altfranzösische Vorlage transformieren. Anstelle der erkennbaren, von Worstbrock für mittelhochdeutsche Adaptionen allgemein konstatierten dilatatio materiae der Quelle betreibt Herbort eine exzessive abbreviatio, und seiner brevitas fallen gerade auch Gesprächsszenen zum Opfer.43 Dennoch ergeben sich Parallelen zu den beobachteten Verfahren der Redeszenenaneignung, wie das Gespräch der Penthesilea mit den Leuten des Philomenis demonstrieren kann:44
43
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Zu den erzähltechnischen Verfahren im Allgemeinen, die mittelhochdeutsche Autoren aktualisieren, wenn sie eine altfranzösische Quelle übertragen, sowie der Sonderstellung Herborts von Fritzlar, der in seinem Liet von Troye diese Aneignungsmöglichkeiten anzitiert und zum Teil im selben Schritt wieder verwirft, siehe Bauschke (wie Anm. 7). Vgl. zum spezifischen Erzählprogramm Herborts auch: dies., „Geschichtsmodellierung als literarisches Spiel. Zum Verhältnis von Geschichtswahrheit und gelehrtem Diskurs in Herborts ‘Liet von Troye’“, in: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300. Internationales Symposium in Cambridge vom 28.– 31. März 2001, hg. von Christa Bertelsmeier-Kierst und Christopher Young, Tübingen 2003, S. 155–174; dies., „Strategien des Erzählens bei Herbort von Fritzlar. Verfahren interdiskursiver Sinnkonstitution und ihr Scheitern im ‘Liet von Troye’“, in: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002, hg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart Conrad Lutz und Klaus Ridder, Berlin 2004 (Wolfram-Studien 18), S. 347–365. Zitiert nach: Le Roman de Troie par Benoît de Sainte-Maure, hg. von Léopold Constans, 6 Bde., Paris 1904–1912, Nachdruck New York/London 1968; Herbort’s von Fritslâr liet von Troye, hg. von Karl Frommann, Quedlinburg/Leipzig 1837 (Bibl.d.ges.dt.Nat.-Lit. 5), Nachdruck Amsterdam 1966. Die Zitate aus Herborts Liet von Troye folgen prinzipiell der Ausgabe von Frommann, zur leichteren Lektüre habe ich jedoch Änderungen vorgenommen: Abbreviaturen erscheinen aufgelöst, die wechselnden u- und v-Graphien sind nach ihrem neuhochdeutschen Lautwert getrennt, Gleiches gilt für i- und j-Schreibungen. Schaft-_ drucke ich als Rund-s. Eigennamen werden groß geschrieben; eine dem neuhochdeutschen Gebrauch entsprechende Interpunktion soll das Verständnis erleichtern. – Die Übersetzungen des Benoît-Textes in Anm. 45 und 47 stammen von mir, R.B.
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Ricarda Bauschke A tant vindrent Paflagoneis,45 Mort et navré, vencu e preis: „Dame“, font il, „nostre seignor Nos ont toleit en champ li lor: Veez, cil la l’en meinent pris.“ „Est ço“, fait el, „Philemenis, Cil qui est nez de mon païs?“ „O il, dame, li vostre amis.“ „Dameiseles“, fait el, „poigniez; Guardez que si seit ostagiez Que cent des plus outrecuidanz En aient ja les piz sanglanz.“
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den erbaten die von Troyge unde die von Pafagoie, die waren mit Philemene.
Herbort verwandelt den Dialog in eine Kurzinformation des Erzählers, und er aktualisiert damit einerseits das Prinzip, tendenziell stichomythisch aufgebaute dialogische Sprechhandlungen in eine indirekte Erzählerrede zu überführen; andererseits bewirkt er dadurch nicht, wie an Veldeke und Hartmann exemplarisch skizziert, eine Verlangsamung des Erzählduktus, sondern durch die Verkürzung entsteht eine Beschleunigung. Herbort funktionalisiert also das Verfahren der Redeszenenaneignung im Sinne der brevitas, und dieses Ergebnis überrascht insofern, als Herbort sich offenbar doch stärker an bekannten Vertextungsverfahren orientiert als in der Forschung bisher angenommen. Von Interesse ist in dem hier entworfenen Zusammenhang wiederum, ob und wie die Modellierung des Kriegsthemas auch im Liet von Troye in Verbindung mit einer spezifischen Gestaltung von Redeszenen steht bzw. sich durch diese mit konstituiert. Hans Fromm hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die drastischen Kriegsdetails von abgeschlagenen Körperteilen und im Blut watenden Pferden, mit denen Herbort sein Publikum konfrontiert, dazu dienen, den Krieg und vor allem das Kriegsleid in aller Grausamkeit vorzuführen.46 Dass speziell dieser Darstellungsimpetus auch für die Art und Weise verantwortlich ist, wie im Liet von Troye die Redeszenen des Roman de Troie transformiert werden, lässt sich beschreiben. Dem brevitas-Programm entsprechend tilgt oder kürzt Herbort zahlreiche der langen Ansprachen, welche die Herrscher bzw. Heerführer kriegsvorbereitend führen, etwa die Rede des Agamemnon vor dem Orakel in Delphi (Roman de Troie, v. 5719–5788; Liet von Troye, v. 3435–3470), die Ausführungen des Priamus, der mit seinen Leuten über die schlechte Behandlung des Antenor durch die Griechen berät (Roman de Troie, v. 3658–3716; Liet von Troye, v. 2094–2125), oder die strategischen Anweisungen des Hector für Troilus, Eneas und andere; besonders den umfangreichen Dialog zwischen Hector und Eneas schneidet Herbort erheblich ab (Roman de Troie, v. 7924–7958; Liet von Troye, v. 4715–4724). All diese monologhaften Passagen, die das Kampfgeschehen vorbe45
46
Übersetzung: In dem Augenblick kamen die Paflagoneser, tödlich verwundet und gänzlich besiegt. „Herrin“, sagten sie, „sie haben auf dem Schlachtfeld unseren Herrn entführt. Seht, sie haben ihn versteckt“. „Ist es“, fragte sie, „Philomenis, der aus meinem Land stammt?“ „Ja, Herrin, euer Freund“. „Frauen“, rief sie, „gebt euren Pferden die Sporen. Passt auf, falls ihr als Geiseln genommen werdet, dass ihr zuvor schon hundert der Frechsten die Brust blutig durchbohrt habt“. Hans Fromm, „Herbort von Fritslar. Ein Plädoyer“, in: PBB 115 (1993), S. 244–278.
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reiten, werden im Liet von Troye kondensiert. Redeszenen aber, welche die leidvollen Konsequenzen des Krieges in den Blick nehmen, strafft Herbort weniger stark. Die affektive Klagerede der Hecuba auf ihren toten Sohn Troilus etwa zählt im Liet von Troye sogar einige Verse mehr als bei Benoît, und angesichts des grundsätzlich von Herbort angewandten brevitas-Prinzips erhält jede Erweiterung ein besonderes Gewicht. Geht es also darum, das Leid provozierende Ausmaß der Schlacht zu demonstrieren, weicht Herbort vom abbreviatio-Gebot ab und orientiert sich in seiner Gestaltung der Redepassagen an den Bearbeitungsverfahren, die seine Dichterkollegen aktualisieren, wenn sie eine altfranzösische Quelle adaptieren. Bestätigt wird dieser Befund durch Erzählerkommentare, die Herbort gegenüber Benoît ergänzt, so zum Beispiel im Fall der erwähnten Hecuba-Klage:
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„Beaus fiz“, fait ele, „Troïlus,47 Tant par a ci freides noveles! Por qu’alaitastes mes mameles? Por quei nasquistes vos de mei? [...]“
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Ecuba die begunde fluchen der stunde, da sie inne was geborn. si sprach: „ich han einen sun verlorn, er gezeme gote ze kinde. min unheil ist zu swinde unde min gelucke zu laz. mir were harte vil baz daz ich ein stein were, denne ich sulche swere truge oder sulche leide“. sie zu furte beide ir cleider unde ir vahs.
Die Konfrontation von altfranzösischer Vorlage und mittelhochdeutscher Bearbeitung macht deutlich, dass – wie im Willehalm – auch im Liet von Troye die Berichtsinstanz in ihrer rezeptionslenkenden Funktion hervortritt, und zwar mit Hilfe von amplificatio. Zu der inquit-Formel tritt ein Redebericht, für den Herbort einen Teil der wörtlichen Rede Hecubas aus dem Roman de Troie in indirekte Rede überführt. Dies geschieht, um über die Instanz der Erzählerfigur auf das Innenleben Hecubas zu blenden. Zu diesem Vorgehen passt, dass Herbort den Redeteil um die Darstellung von Trauergebärden erweitert (sie zu furte beide / ir cleider unde ir vahs, v. 13338f.). Die Änderungen und Ergänzungen stellen insofern eine kritische Distanz zum Kriegsgeschehen her, als sie anhand der Rolle der trauernden Mutter deutlich profilieren, dass Krieg ausschließlich Tod und Leid bedeutet. Herbort stärkt gegenüber dem Roman de Troie diese Aussageintention, indem die Erzählerkommentare den Fokus des Rezipienten deutlich auf das Leid stoßen. Dass Herbort Hervortreten und Zurücknahme der Erzählerinstanz genau dosiert, um seine ungeschönte Sicht auf den Krieg zu akzentuieren, zeigt sich im Kontext der verbalen Ausfälle, die er ebenso wie Wolfram gestaltet. Doch wo Willehalm im affektgeladenen Selbstgespräch die gegnerischen Sarazenen mit Hunden und Schweinen in Verbindung bringt, richtet
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Übersetzung: „Lieber Sohn“, sagte sie, „Troilus, warum so schreckliche Nachrichten! Warum hast du Milch an meiner Brust gesogen? Warum habe ich dich zur Welt gebracht? [...]“.
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sich die öffentlich artikulierte Schimpftirade der um Hector besorgten Andromache gegen die eigenen Leute. Die Passage besitzt keinerlei Entsprechung im Roman de Troie: da sie Priamus fant, si sprach: „hat dich der tufel geblant? du bist mit sehenden ougen blint! sehes du daz Hector, din kint, – stingender hunt, bosiz as, des du immer schande has! – 9785 ritet in sinen tot!“ 9780
In der Reaktion des Priamus spiegelt sich die Ungeheuerlichkeit dieses verbalen Angriffes: Priamus wart der rede rot (v. 9786). In beiden Fällen, sowohl bei Willehalm als auch bei Andromache, vermitteln die Schmähreden, wie sehr die involvierten Figuren von den Kriegsereignissen betroffen und überfordert sind, nur dass Wolframs Erzähler sich von dem Ausfall distanziert, indem er den zorn für Willehalms Rede verantwortlich macht, während Herbort die Ankündigung der Rede Andromaches ohne entlastende Erklärung – etwa durch den Zusatz in irem leide o.ä. – stehen lässt. Anstatt die Schimpftirade zu relativieren, steigert Herbort sie vielmehr noch; denn das Erröten des Priamus signalisiert die Anmaßung, die hinter der Schmährede steht. Sie ist auch insofern gegenüber Wolfram potenziert, als eine Frau hier Worte gegen den Herrscher schleudert; außerdem ist die Beschimpfung im Liet von Troye, anders als im Willehalm, nicht im Privaten angesiedelt, sondern Teil öffentlichen Sprechhandelns. An anderer Stelle geht Herbort noch weiter, diesmal aber unter Zuhilfenahme der Berichtsinstanz. Wenn Willehalm als christlicher Kämpfer die Motive von Schwein und Hund gegen die Sarazenen richtet, dient dies auch einer religiösen Überbietung der Kriegsgegner. Konstituenten ihrer Weltanschauung, nämlich die Vorstellung der Unreinheit bestimmter Tiere, werden angesprochen und gegen sie selbst verwendet. Dieser Aspekt fällt im Liet von Troye schon allein deshalb weg, weil vor Ilion zwei pagane Parteien aufeinander treffen. Auffällig bleibt trotzdem, dass Herbort sowohl Hector als auch Achill mit dem Schweinebzw. Hundevergleich belegt: 7575
Hector als ein wildez swin disen allen wider stunt
Hector gwan einen bosen tac [...]. 8810 er liz dare strichen als ein eber mit den zenen 8802
7590
Als Hector zu fuz stunt, do grein er als ein hunt
6317
als zwene hunde.
Der vermittelnde Erzähler spart keinen der beiden Haupthelden aus, er ergreift damit nicht Partei für eine der beiden Fronten, sondern schafft einen Abstand zwischen sich und beiden Protagonisten, wenn diese feindlich-aggressiv aufeinander losgehen. Dass damit auch die
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positiven Identifikationsmöglichkeiten für das Publikum reduziert werden, ist wohl eine von Herbort absichtlich erzielte Wirkung.48 Dilatatio materiae und wertende, gegenüber Benoît ergänzte Erzählerkommentare sind also mögliche Mittel, die Herbort im Liet von Troye zur Anwendung bringt, um das Kriegsthema in den Redeszenen zu modellieren. Das dominierende Verfahren aber, das Herbort praktiziert, ist die abbreviatio der Dialoge und Monologe; und so, wie die zeitgenössischen Dichter amplifizierende Darstellungen nutzen, um den Erzählvorgang autothematisch hervorzuheben, spielt Herbort seinerseits metapoetisch auf das Erzählkonzept der abbreviatio und dessen sinnstiftende Funktion an. Deutlich wird dies unter anderem beim Tod des Prothesilaus: durch daz herze er in stach, daz er nimmer mer wort gesprach. do begunden die Crichen klagen, daz der degen was erslagen. do begunden schrigen fursten und frigen. 4565 do was leit uber leit. 4560
Hector tötet den griechischen Krieger, indem er ihm ‘das Wort abschneidet’.49 Die Abkürzung der Rede als Erzählprinzip Herborts wird hier zur Metapher für die Tötung von Menschen. Indem aber die Reaktionen der Kampfgefährten auf den Verlust des Mitstreiters wiederum als verbale Reflexe referiert werden, erhalten Sprechhandlungen eine besondere Bedeutung: klagen und schrigen werden ausgewiesen als ein angemessener Umgang mit 48
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Die Neuakzentuierung Herborts impliziert dabei eine Demontage antiker Vorstellungen. Neben dem Löwen galt in der klassischen Antike der Eber als das angesehenste Jagdwild, und das Tragen von Helmen mit Eberzähnen durch Krieger in der mykenischen Zeit erklärt sich aus der damaligen Vorstellung, die Kraft des Tieres könne sich durch die Attribuierung auf den Kämpfer übertragen. Auch der Molosserhund, der für den Einsatz als Wach- und Hütehund in großer Zahl gezüchtet wurde, war mit seinem bisweilen als löwenartig empfundenen Äußeren durchaus positiv besetzt, so etwa im Gastmahl des Trimalchio, einer Satire des Petronius. Herbort zitiert heldische Tiervergleiche nur an, um sie im selben Schritt zu verwerfen; der eber wird zum swin (v. 7574) bzw. gerade nicht ein einzelner herausragender löwenhundhafter Krieger tritt hervor, sondern der Kampf verkommt zum bestialischen Gerangel gleich zweier aggressiver Hunde (v. 6317). – Vgl. Marion Giebel, Tiere in der Antike: Von Fabelwesen, Opfertieren und treuen Begleitern, Stuttgart 2003. Über die Rückgewinnung und Aufwertung von Achills zorn bei Herbort handelt Gerhard P. Knapp, Hector und Achill: Die Rezeption des Trojastoffes im deutschen Mittelalter. Personenbild und struktureller Wandel, Bern/Frankfurt a.M. 1974 (Utah Studies in Literature and Linguistics 1). Vgl. dazu Elisabeth Schmid, „Ein Trojanischer Krieg gegen die Langeweile“, in: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, hg. von Wolfgang Harms und Jan-Dirk Müller in Verbindung mit Susanne Köbele und Bruno Quast, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 199–218; dies., „Benoît de Sainte-Maure und Herbort von Fritslar auf dem Schlachtfeld. Zwei Stichproben aus dem Trojanischen Krieg“, in: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut Paris 16.–18.3.1995, hg. von Ingrid Kasten, Werner Paravicini und René Pérennec, Sigmaringen 1998, S. 75–184.
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Ricarda Bauschke
dem, was Prothesilaus widerfahren ist, und dem, was Herbort offenbar grundsätzlich dichterisch umsetzen will: do was leit uber leit (v. 4565). Wenn also Herbort zeitgenössische Erzähltechniken, die in mittelhochdeutschen Bearbeitungen altfranzösischer Vorlagen aktualisiert werden, modifiziert, indem er sie benutzt und seinem brevitas-Gebot unterordnet, geschieht dies im Dienst einer Kriegskritik, die nicht allein das Töten, sondern auch dessen dichterische Ästhetisierung problematisieren will.
IV. Fazit Der komparatistische Blick auf Redeszenen in altfranzösischen und mittelhochdeutschen Erzähltexten führt zu dem Ergebnis, dass sich bestimmte Tendenzen in der Adaption von Gesprächssituationen erkennen lassen. Es handelt sich – dies sei noch einmal deutlich formuliert – dabei keinesfalls um normativ zu setzende Textgeneratoren, sondern vielmehr um Optionen der philologischen Beschreibung, mit denen die Änderungen gegenüber den altfranzösischen Quellen einerseits und andererseits die Parallelen der deutschen Werke untereinander narratologisch erschlossen werden sollen. Auf dieser Basis profilieren sich dann erst ganz besondere Eigenarten in einzelnen Texten. – Wolfram setzt in seinem Willehalm Möglichkeiten der Transformation altfranzösischer Redeszenen ein, die sich auch in Adaptionswerken seiner mittelhochdeutschen Kollegen finden lassen. Er scheint allerdings über seine etwas älteren Zeitgenossen hinaus zu gehen und mit den Verfahren selbst zu spielen, indem er die Aufwertung der Erzählerfigur als autoreferentiell hervorzuhebende Vermittlungsinstanz vorantreibt. Damit greift er auf Prinzipien zurück, die dem Publikum bereits aus dem Parzival bekannt sind.50 Herbort dagegen verwendet im Liet von Troye bestimmte Darstellungstechniken, die auch in anderen Aneignungswerken vorkommen, er füllt sie aber mit neuartiger Aussageintention. So ersetzt er amplificatio durch brevitas, verfolgt damit aber letztlich einen Zweck, der den Erzählabsichten seiner Kollegen im Rahmen von Redeszenengestaltung vergleichbar ist. Herborts Variation in der Umsetzung markiert seinen eigenen Sonderweg und stellt zugleich Erzählverfahren grundsätzlich als unzulänglich aus. Durch die Koppelung seiner spezifischen Gestaltung von Redeszenen – brevitas bei langen Gesprächspassagen, dilatatio materiae bei kriegskritischen Äußerungen – mit dem Kriegsstoff distanziert er sich nicht nur von dem leidvollen Thema, sondern auch vom Erzählvorgang selbst. Dies schließt Literaturkritik und Selbstdemontage in gleicher Weise ein.
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Vgl. zur Erzählerfigur im Parzival u.a. die in Anm. 38 genannte Literatur.
John Greenfield*
Die Dialogstruktur in Aliscans und in Wolframs Willehalm Beobachtungen zur Aérofle / Arofel-Szene
In der Willehalm-Forschung ist es ruhig geworden um Arofel: Seit dem 1995 veröffentlichten kritischen Überblick über die Geschichte der Arofel-Interpretationen des amerikanischen Germanisten James Rushing1 scheint sich der Streit um diese Crux gelegt zu haben. Unklar bleibt jedoch, ob sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Tötung des Heidenkönigs Arofel durch den Christenführer Willehalm ein Konsens gebildet hat. Sollen wir jetzt davon ausgehen, dass den Positionen von u.a. Karl Bertau – aber vor allem von Bodo Mergell und von Werner Schröder – keine Glaubwürdigkeit mehr geschenkt wird?2 Wird die Tötung des wehrlosen, schwer verwundeten Heiden durch Willehalm von der Forschung nicht mehr als eine Verletzung der höfischen Konvention, als eine Ermordung,3 als eine kaltblütige Hinrichtung4 – oder sogar als eine Sünde5 – betrachtet? Hat sich die Literaturwissenschaft in dieser Frage die Auslegungen von u.a. Carl Lofmark und Joachim Bumke zu eigen gemacht:6 Deutet sie diese Tötung als eine Notwendigkeit und als eine gerechte Reaktion auf vorausgegangene Unrechtshandlungen?7 In Anbetracht der gegensätzlichen Standpunkte, die in Bezug auf verschiedene kritische Probleme der enigmatischen Willehalm-Dichtung vertreten werden, wäre es naiv zu behaupten, dass es einen Kon* 1
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Mitglied der CITCEM-Forschungsgruppe der Faculdade de Letras da Universidade do Porto. James Rushing, „The Death of Arofel and the Trial of Willehalm“, in: Journal of English and Germanic Philology 94 (1995), S. 469–482. Karl Bertau, Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983; Bodo Mergell, Wolfram von Eschenbach und seine französischen Quellen, Erster Teil: Wolframs Willehalm, Münster 1943 (Forschungen zur deutschen Sprache und Dichtung 6); Werner Schröder, „Die Hinrichtung Arofels“, in: Wolfram-Studien 2 (1974), S. 219–240. Vgl. Bertau (wie Anm. 2), S. 89. Vgl. Schröder (wie Anm. 2). Vgl. Mergell (wie Anm. 2), S. 136. Joachim Bumke, Wolframs Willehalm. Studien zur Epenstruktur und zum Heiligkeitsbegriff der ausgehenden Blütezeit, Heidelberg 1959 (Germanische Bibliothek 3); ders., Wolfram von Eschenbach, Stuttgart/Weimar 82004 (Sammlung Metzler 36); Carl Lofmark, Rennewart in Wolframs Willehalm, Cambridge 1972 (Anglica Germanica Series 2). Vgl. Lofmark (wie Anm. 6), S. 155.
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sens in dieser Frage (wie in vielen anderen) geben kann: Die Arofel-Szene mag in den letzten Jahren nicht mehr zu einem der zentralen Streitpunkte der Willehalm-Diskussion gehören, das heißt aber sicherlich nicht, dass die Interpreten in dieser Frage ganz einer Meinung sind. Mit anderen Worten: Die Forschung tut sich immer noch schwer mit der ArofelEpisode. In diesem Beitrag möchte ich mich mit dieser diffizilen Stelle mit Blick auf die Dialogstruktur der Episode auseinandersetzen. Von zentraler Bedeutung bei der Auslegung der Arofel-Szene ist unser Verständnis der Art, wie Wolfram das Gespräch zwischen dem christlichen Markgrafen und dem heidnischen König gestaltet hat, und vor allem, wie er diese im Vergleich zur Vorlage modifiziert hat. Indem ich jetzt diese Szene analysiere, möchte ich herausarbeiten, genau w i e Wolfram den Dialog zwischen Willehalm und Arofel bearbeitet hat. In diesem Zusammenhang wird das Augenmerk darauf gelegt, wie der deutsche Dichter dieses Gespräch anders strukturiert bzw. inszeniert hat. Gibt uns der Vergleich zwischen den Dialogstrukturen dieser Szenen in Aliscans und in Willehalm ein besseres Verständnis von Wolframs poetischem Programm in seinem fragmentarischen Werk – und vor allem von der von ihm intendierten Aussage der Arofel-Szene? Die Arofel-Partie stellt jedoch nur einen kleinen Teil des gesamten Willehalm-Epos dar, und bei meiner Analyse will ich den breiteren Zusammenhang nicht vergessen: In der Untersuchung dieser Episode will ich Wolframs Bearbeitungstechnik auch in Bezug auf die Redeszenen in der ganzen Dichtung – vor allem aber in den Kampfhandlungen – kurz erörtern. Von San Marte über Susan Bacon und Bodo Mergell bis Carl Lofmark, Friederike Wiesmann-Wiedemann und Marie-Noël Marly gibt es eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Studien, die sich eingehend mit Wolframs Bearbeitungstechnik im Willehalm befassen.8 Trotz der z.T. unterschiedlichen Auslegungen der Ergebnisse von diesen Forschern zeigen alle diese Arbeiten, inwiefern Wolfram grundlegende Änderungen gegenüber seiner Vorlage vorgenommen hat.9 8
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Susan Bacon, The Source of Wolfram’s Willehalm, Tübingen 1910 (Sprache und Dichtung 4); Mergell (wie Anm. 2); Lofmark (wie Anm. 6); Friederike Wiesmann-Wiedemann, Le roman du Willehalm de Wolfram d’Eschenbach et l’épopée d’Aliscans. Etude de la transformation de l’épopée en roman, Göppingen 1976 (GAG 190); Marie-Noël Marly, Traduction et paraphrase dans Willehalm de Wolfram d’Eschenbach, 2 Bde., Göppingen 1982 (GAG 342). Bekanntlich herrscht große Unsicherheit über die von Wolfram benutzte Version von Aliscans: In Anlehnung an die Studie Susan Bacons (wie Anm. 8) sind die meisten Forscher davon ausgegangen, dass von allen erhaltenen Aliscans-Handschriften die franko-italienische Handschrift M der Vorlage Wolframs am ähnlichsten ist. 2004 hat Joachim Bumke (wie Anm. 6), S. 384ff., diese Annahme wieder in Frage gestellt. Die meisten Argumente Bumkes sind nicht neu – einige sind auch zweifelhaft. Bumke hat Unrecht, wenn er behauptet, im Willehalm „lautet Willehalms Schlachtruf Monschoie und nicht Orange wie in M“ (S. 386); richtig ist, dass Monioie oft in der Handschrift M als Schlachtruf eingesetzt wird – auch vom Christenführer (vgl. La versione franco-italiana della ‘Bataille d’Aliscans’: Codex Marcianus fr. VIII [=252], hg. von Günter Holtus, Tübingen 1985 [im Folgenden: Aliscans M], v. 128, 532, 1113, 1900, 5258, 5579, 5786, 5920, 6176, 6488). Bei
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Obwohl Wolframs Werk einen Eindruck der chansons de geste wiedergibt, ist es jedoch klar, dass diese Dichtung eine ganz andere Art von Literatur ist: Sie wurde von einem Meister des höfischen Romans für ein Publikum verfasst, das mit der Gattung chanson de geste wahrscheinlich nicht sehr vertraut war, denn Bearbeitungen dieses Genres waren im deutschsprachigen Raum eher eine Seltenheit. Von der äußeren Form her ist Wolframs Werk ganz klar k e i n e chanson de geste, denn aus diesem französischen Epos, das in gereimten Laisses unterschiedlicher Länge aufgebaut wird, verfasst Wolfram eine Dichtung, die in der für den höfischen Roman typischen Form von Reimpaaren komponiert wird. Es gibt auch eine Reihe von Modifikationen in Bezug auf die Erzähltechnik und Erzählerhaltung, die Figurendarstellung, die Beschreibung von Begebenheiten und die Motivation in der Handlung, die zeigen, inwiefern die Willehalm-Dichtung vom höfischen Roman beeinflusst wird. Zudem ist Wolframs Werk bekanntlich viel länger als die Vorlage: Die Willehalm-Dichtung hat den doppelten Umfang von dem von Wolfram bearbeiteten Teil von Aliscans (in der Quelle sind es etwa 7000 Verse, im Willehalm über 14000).10 Diese Erweiterung vom Umfang des Textes ist auch in den Redeszenen zu erkennen, denn aus den etwa 2500 Versen, die in der Vorlage in der direkten Rede stehen, werden bei Wolfram über 5000 Verse. Das heißt, dass in Aliscans sowie in Willehalm über ein Drittel des Textes in der direkten Rede steht. Man könnte vielleicht meinen, dass Wolfram in dieser Beziehung das Rede-Modell seiner Vorlage übernommen hat. Aber das stimmt auf keinen Fall: Es gibt bei Wolfram eine beachtliche Anzahl von Textstellen, die in der indirekten Rede stehen und die in der Vorlage keine Entsprechung finden. Bedeutend erscheint mir vielmehr auch die Tatsache, dass Wolfram die Redeszenen in seinem Text z.T. ganz anders funktionalisiert hat, als dies in der Vorlage der Fall ist. Denn obwohl in beiden Werken in etwa der gleiche quantitative Anteil des Textes in der direkten Rede zu finden ist, setzt Wolfram Monologe und Dialoge anders ein als in der Quelle. Zum Teil reduziert er die Redeszenen der Vorlage in seiner Version radikal – oft verschwinden sie auch vollends. An anderen Stellen jedoch werden bestimmte Reden im Vergleich zur Quelle entschieden er-
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der Frage der Vorlage Wolframs sollte man auch bedenken, dass – wie Paul Lorenz, „Das Handschriftenverhältnis der Chanson de geste Aliscans“, in: ZfromPh 31 (1907), S. 385–431, hier S. 392, und Madeleine Tyssens, La geste de Guillaume d’Orange dans les manuscrits cycliques, Paris 1967, S. 258, eindeutig gezeigt haben – die Handschrift M dem ‘Original’ der AliscansDichtung am nächsten steht. Die schon lange erkannte Unklarheit über Wolframs Version der Vorlage bedingt notwendigerweise alle kritischen Aussagen über die Bearbeitungstechnik des Willehalm-Dichters. Bei meiner Untersuchung habe ich mich auf die oben genannte Ausgabe von Günter Holtus (Aliscans M), aber auch auf die Edition Aliscans [Rédaction A], hg. von Claude Régniers, 2 Bde., Paris 1990 (Les classiques français du moyen âge 110) (im Folgenden: Aliscans A) gestützt. Es ist klar, dass weder die eine noch die andere Ausgabe Wolframs Vorlage genau entspricht. Vgl. hierzu auch unten, Anm. 13. – Zitierte Willehalm-Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a.M. 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker 69; Bibliothek des Mittelalters 9). In Aliscans M sind es 6952 Verse (vgl. I–CXXXII), in A 6964 Verse (vgl. I–CLXXI, ohne CXVII– CLII).
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weitert: Dabei werden die Aussagen der Charaktere oft ganz anders akzentuiert. Hinzu kommt, dass im Willehalm eine ganze Reihe von Redepartien vorkommen, für die es in der Vorlage keine Entsprechungen gibt. Im Rahmen dieses Beitrags ist es natürlich unmöglich, alle diese Unterschiede zwischen beiden Texten in Bezug auf die Redeszenen zu besprechen. Deutlich ist jedoch, dass die Erweiterungen bzw. Zusätze in den Redepartien im dritten, aber vor allem im vierten, im fünften, im sechsten und im siebten Buch vorzufinden sind. Als Beispiel seien die Szenen zwischen den zwei Schlachten erwähnt, in denen es in Laon und Orange Auseinandersetzungen unter den Christen gibt und in denen über die Lage bzw. über die Strategie bei und nach der Schlacht gesprochen wird (als bedeutsamster Redezusatz Wolframs darf natürlich Gyburgs ‘Toleranzrede’ nicht vergessen werden; vgl. Willehalm, v. 306,4–310,29). Aber auch bei den Heiden gibt es in Wolframs Version eine ganze Reihe von Reden, für die es in der Vorlage keine Entsprechungen gibt, etwa am Anfang des dritten Buches mit Terramers Klage und dem Gespräch mit seiner Tochter (vgl. Willehalm, v. 107,10–110,30). Andere Redepartien der Heiden werden von Wolfram um ein Vielfaches erweitert, wie z.B. in der Szene der Beratung der Heidenführer vor der zweiten Schlacht im siebten Buch – dabei werden auch in der Aussage dieser Szene die Akzente neu gesetzt. Wenn Wolfram in bestimmten Teilen seiner Dichtung die Redeszenen viel ausführlicher darstellt, als dies in der Quelle der Fall ist, so hat er an anderen Stellen die Redepartien im Vergleich zur Vorlage stark reduziert. Das ist besonders in denjenigen Szenen zu beobachten, in denen Kampfhandlungen zwischen Christen und Heiden beschrieben werden – vor allem in den zwei Schlachten. Es gehört zur Konvention der Gattung chanson de geste, dass die Ritter im Laufe der Kampfhandlungen relativ viel sprechen, und das entweder im Monolog oder im Dialog. An erster Stelle sind natürlich die Kampfrufe zu nennen, mit denen die Streitenden sich motivieren (wobei in der ersten Schlacht solche Kampfrufe viel seltener zu hören sind als in der zweiten; dort sind diese außerdem deutlich abwechslungsreicher). Auch während der Kampfhandlungen selbst sprechen die Ritter oft im Monolog, sich über ihre Situation beklagend bzw. freuend, oder sie sprechen mit Gott, im Gebet, um Hilfe bittend, oder auch mit dem Schwert oder mit dem Pferd. Dialoge finden darüber hinaus während der Schlacht statt: oft mit den befreundeten Rittern, um einander Unterstützung zuzurufen oder um einander gegenseitig Hilfe anzubieten. Aber auch mit dem Feind wird dialogisiert, und zwar in der Form eines kompetitiven Kampfdialogs. Bei seiner Schlachtgestaltung hat sich der Aliscans-Dichter vor allem auf die Handlungen der einzelnen christlichen Ritter konzentriert: Die Schlacht wird oft als eine Serie von Zweikämpfen dargestellt; dabei gibt es eine Reihe von Kampfdialogen, in denen die verfeindeten Ritter vor, während und manchmal auch nach dem Zweikampf miteinander sprechen. Diese Kampfdialoge dienen normalerweise dazu, die heldenhaften christlichen Kämpfer sowie ihre heroischen Taten zu glorifizieren. Bekanntlich ist Wolframs Schlachtgestaltung in vielerlei Beziehung anders als die des Aliscans-Dichters. Bei der Darstellung der ersten Schlacht übernimmt Wolfram in etwa den Ablauf der Handlung, wie sie in Aliscans vorkommt. Dabei reduziert er aber viele der Text-
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partien, die in der Vorlage in der direkten Rede stehen, oder er lässt sie ganz aus. Vor allem in der zweiten Schlacht wird Wolframs Programm für die Schlachtgestaltung in dieser Dichtung klar erkennbar: Das ist im achten Buch am eindeutigsten zu sehen, denn hier arbeitet Wolfram unabhängig von der Vorlage. Es ist erstaunlich, dass es in diesem Teil der Dichtung fast keine direkte Rede gibt – vor allem gibt es aber keinen einzigen Dialog zwischen befreundeten oder verfeindeten Rittern. In den zwei Schlachten besteht der Text in der Vorlage etwa zu einem Drittel aus direkter Rede (ein beachtlicher Teil davon als Kampfdialog) – bei Wolfram aber stellt die direkte Rede weniger als 5% des gesamten Textumfangs dar. Wie Martin Jones herausgearbeitet hat, ist die Schlachtgestaltung im Willehalm eher „antiheroic“:11 Bei Wolframs Inszenierung dieser Schlachten zwischen Christen und Heiden wird eine realistischere Darstellung des Kampfes bevorzugt – ohne das heldenepische Lob der Handlungen und Figuren, das wir in der Vorlage vorfinden. man sol dem strîte tuon sîn reht (Willehalm, v. 385,1), sagt der Erzähler von seiner eigenen Repräsentationsweise: Man soll den Kampf wahrheitsgetreu schildern. Die Schlacht soll im Willehalm weniger heldenepisch gestaltet werden. Wolfram scheint auf die für ihn übertriebenen Beschreibungen der Kampfhandlungen in der Vorlage (mit Kampfdialog vor, während und nach dem Zweikampf) weitgehend verzichten zu wollen, denn die von Dialogen begleitete Schlachtdarstellung der Quelle passt nicht in sein poetisches Programm. Den Kampf hat Wolfram anders inszeniert, und zu dieser Inszenierung gehört, dass die Ritter zwar kämpfen (und sterben), aber nicht unbedingt, dass sie mit dem Freund oder mit dem Feind im Kampf sprechen können. In den Schlachten ist Wolfram anscheinend die Stimme des Erzählers lieber als die Stimme der Ritter. Mit anderen Worten: Zur ‘Entheroisierung’ der Kämpfer sowie der Schlachtdarstellungen im Willehalm trägt Wolframs Streichung vieler der Kampfdialoge der Vorlage maßgeblich bei – wichtig ist aber auch die Aufwertung der Erzählerinstanz. Nach dieser kurzen Erörterung der Bearbeitungstechnik Wolframs in Bezug auf die Redeszenen – vor allem in den Schlachtbeschreibungen – möchte ich mich jetzt mit der ArofelEpisode auseinandersetzen. Durch eine exemplarische Detailanalyse dieser Episode wird Wolframs Programm für die Dialogstruktur in den Kampfhandlungen in dieser Dichtung klarer erkennbar. Nach der ersten Schlacht, in der ein kleines Heer von Christen von der heidnischen Übermacht besiegt wird und in der fast alle christlichen Ritter sterben, begibt sich der Christenführer allein nach Orange, um zu seiner Frau zurückzukehren. Auf dem Rückweg findet er bei einer Quelle seinen fast toten Neffen. Er hört seine Beichte, beklagt dann anschließend seinen Tod und versucht, seine Leiche mit nach Orange zurückzunehmen. Er wird jedoch 11
Martin H. Jones, „The Depiction of Battle in Wolfram von Eschenbach’s Willehalm“, in: The Ideals and Practice of Medieval Knighthood II. Papers from the Third Strawberry Hill Conference 1986, hg. von Christopher Harper-Bill und Ruth Harvey, Woodbridge 1988, S. 46–69, hier S. 69.
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daran gehindert, weil er mit 15 heidnischen Königen kämpfen muss. Nach dem Kampf mit diesen Königen entkommt der Christenführer, begegnet dann aber erneut heidnischen Rittern: Es sind Aérofle und Danebron bzw. Arofel und Tenebruns. So kann der Handlungsablauf im Aliscans wie im Willehalm beschrieben werden; Wolfram hat also die Sequenz der Ereignisse von der Vorlage übernommen, obwohl diese bei ihm z.T. ganz anders akzentuiert werden. In der Arofel-Szene selbst hat Wolfram verschiedene, grundlegende Änderungen vorgenommen. Diese Episode ist von Wolfram gekürzt worden: In der Vorlage gibt es über 300 Verse, die sich mit dieser Szene befassen – bei Wolfram sind es weniger als 150.12 Aber nicht nur in Bezug auf den Umfang hat Wolfram diese Stelle modifiziert, sondern auch den Ablauf der Handlung hat er hier sehr stark abgeändert – vor allem hat er viele Begebenheiten und viele der Dialoge in seiner Version gestrichen. Ich möchte jetzt den Handlungsablauf in den zwei Dichtungen kurz vergleichen, um herauszuarbeiten, was Wolfram modifiziert hat – und warum. In Aliscans liegen die zwei Könige Aérofle und Danebrun auf der Lauer und greifen Guillaume an (Aliscans M, v. 1228ff.; A, v. 1299ff.). Im Gebet bittet Guillaume Gott um Hilfe (M, v. 1232ff.; A, v. 1303ff.) und spricht dann mit seinem Pferd (M, v. 1239ff.; A, v. 1311ff.). Beide Könige rufen Guillaume zu, dass sie ihn töten werden (M, v. 1247ff.; A, v. 1319ff.). Darauf folgt ein Dialog in Form einer Streit- bzw. Spottrede zwischen Guillaume und Danebrun (M, v. 1256ff.; A, v. 1329ff.). Direkt nach diesem Dialog beginnt der Kampf zwischen beiden (M, v. 1276ff.; A, v. 1349ff.): Der Christenführer bittet Gott um Beistand (M, v. 1284ff.; A, v. 1357ff.) und tötet dann Danebrun, indem er ihm den Kopf abschlägt (M, v. 1293; A, v. 1365). Anschließend schreit Aérofle ihn an und bedroht ihn (Aliscans M, v. 1300f. und 1304ff.; A, v. 1374f. und 1378ff.); der Christenführer bittet Gott um Beistand (M, v. 1321ff.; A, v. 1396ff.).13 Aérofle fängt ein Religionsgespräch mit Guillaume an (M, v. 1332–1351; A, v. 1500–1518) und erklärt, dass Mahomet dem Christengott überlegen sei (M, v. 1315; A., v. 1515). Der ernsthafte Kampf zwischen beiden beginnt (M, v. 1353ff.; A, v. 1520ff.): Guillaume wird von Aérofles Schwert fast tödlich getroffen – aber Gott schützt ihn (M, v. 1387; A, v. 1553). Mitten im Streit haben die beiden Kontrahenten Gelegenheit, über Guillaumes Waffe zu sprechen (M, v. 1394ff.; A, v. 1562ff.). Guillaume gelingt es durch 12
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In Aliscans M sind es 313 Verse (v. 1226–1539), in A 430 Verse (v. 1297–1727); bei Wolfram sind es 144 Verse (Willehalm, v. 77,20–82,14). In A (Laisse XXXVI; v. 1407–1499) bemerkt der Erzähler, wie Guillaume Aérofle beobachtet: Guillaumes Blick wird auf Aérofles großen, kräftigen Körper bzw. auf seine Schulterbreite gelenkt. Die kostbare Rüstung und das eindrucksvolle Schwert von Aérofle werden vom Erzähler ausführlich beschrieben – auch die Herkunft des Schwertes wird detailliert erklärt. Guillaume betet wieder zu Gott und bittet, er möge ihn das prächtige Streitross des Heiden erwerben lassen. Guillaume versucht dann im Gespräch, Aérofle zu schmeicheln und mit ihm zu verhandeln. Diese ganze Laisse gibt es in M nicht. Da die Sequenz auch bei Wolfram fehlt, ist anzunehmen, dass die in Aliscans A, Laisse XXXVI, beschriebenen Begebenheiten in Wolframs Version der Vorlage nicht vorkamen.
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einen gewaltigen Schwertschlag, Aérofle ein Bein abzutrennen (M, v. 1422; A, v. 1595). Guillaume freut sich und dankt Gott (M, v. 1424ff.; A, v. 1597ff.) – und seinem Schwert (M, v. 1442f.; A, v. 1616f.) – für seinen Sieg. Anschließend beleidigt Guillaume den Heiden (M, v. 1445ff.; A, v. 1619ff.) und erklärt ihm, wie der Christengott Mahomet überlegen sei (M, v. 1456ff.; A, v. 1630ff.). Guillaume nimmt dem schwer verwundeten Aérofle das Streitross (M, v. 1459ff.; A, v. 1634ff.); Guillaume fängt an wegzureiten (M, v. 1463; A, v. 1641). Aérofle bittet um die Rückgabe seines Pferdes; er bietet Guillaume Gold an und sagt ihm, dass er die christlichen Verwandten Guillaumes befreien werde (M, v. 1466ff.; A, v. 1644ff.). Guillaume traut Aérofle nicht, weist sein Angebot zurück und sagt ihm, dass er jetzt zurückbleiben muss (M, v. 1477ff.; A, v. 1656ff.). Aérofle bittet ihn wieder um die Rückgabe seines Pferdes (M, v. 1488–1516; A, v. 1669–1702). Guillaume beleidigt Aérofle erneut (M, v. 1517; A, v. 1703); Aérofle wird vor Schmerz ohnmächtig, denn er ist todwund (vgl. E li païn s’est de dolor pasmez, / N’est pas merveille, car a mort fu navrez, M, v. 1521f.; Et li paiens de dolor s’est pasmez; / N’est pas merveille, quar a mort est navrez, A, v. 1708f.). Guillaume nimmt Aérofles Schwert (M, v. 1524; A, v. 1711) und schlägt ihm den Kopf ab (M, v. 1525; A, v. 1712). Er nimmt Aérofles Waffen (M, v. 1528; A, v. 1715), setzt seinen mit Edelsteinen geschmückten Helm auf (M, v. 1530; A, v. 1717) und besteigt schnell das Pferd des Heiden (M, v. 1532; A, v. 1720). Seinem eigenen Pferd Baucent nimmt er das Zaumzeug ab (M, v. 1535f.; A, v. 1723f.). Soweit zur Handlung der Aérofle-Episode in Aliscans. Wie schon oben erwähnt, hat Wolfram diese Szene um mehr als die Hälfte ihres Umfangs gekürzt. In der deutschen Version fehlt die Tenebruns-Handlung fast vollständig. Im Willehalm wird der Christenführer nicht zuerst von Tenebruns und dann von Arofel überfallen, sondern er wird von beiden Heiden gleichzeitig angegriffen. Tenebruns spielt bei Wolfram eine völlig untergeordnete Rolle, und er wird nur zweimal namentlich erwähnt: ganz zu Anfang der Episode mit Arofel zusammen (Willehalm, v. 76,12), und dann, als er stirbt (Willehalm, v. 77,19). Zum Sprechen kommt Tenebruns im Willehalm nie. In seiner Version streicht Wolfram also die Danebrun-Sequenz der Vorlage. Durch diese Streichung verzichtet er auf die einleitenden Streit- und Spottreden zwischen Danebrun und Guillaume. Das macht Wolfram sicherlich nicht ohne Absicht, denn solche Redepartien passen für ihn nicht zum Ernst dieser Episode: Stattdessen konzentriert er sich auf den Dialog im letzten Teil der Szene. Diese Konzentration auf den Ausgang der Erzählsequenz ist auch an anderen Stellen zu sehen, denn nicht nur die Danebrun-Handlung überspringt Wolfram: Im Willehalm fehlen wichtige Bestandteile des Aérofle-Guillaume-Dialogs, insbesondere diejenigen im ersten Teil der Szene, in denen behandelt wird, wie Aérofles Guillaume auffordert, dem christlichen Glauben abzuschwören. In der Vorlage soll durch Guillaumes Ablehnung die Glaubenstreue des Christenführers in ein besseres Licht gerückt werden; im Willehalm aber soll das offensichtlich nicht der Fall sein. Religionsgespräche sind bei Wolfram weniger in den Kampfszenen zu finden, denn die Dialoge über den religiösen Gegensatz hat er auf die Gespräche des III., V. und VI. Buches konzentriert.
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Weitere Veränderungen gegenüber der Vorlage in der Arofel-Szene sind vor, während und nach dem Zweikampf zu finden, denn die gegenseitigen Beleidigungen der beiden Kontrahenten und der Dialog über die Waffen kommen bei Wolfram nicht vor. In Bezug auf die Handlung gibt es andere Modifikationen. In der deutschen Dichtung ist Willehalms Sieg an erster Stelle weder Gott noch dem Schwert zu verdanken, sondern einem Missgeschick von Arofel. Willehalm besiegt also seinen heidnischen Gegner nicht, weil er der bessere Kämpfer ist, sondern weil die Lederriemen, die Arofels Rüstung befestigen, brechen (Willehalm, v. 78,27f.): Dadurch löst sich sein Beinschutz und Willehalm kann ihm das Bein abschlagen (Willehalm, v. 78,29–79,7). Wolfram verzichtet aber nicht nur weitgehend auf die heldenhafte Beschreibung vom Kampf der beiden Ritter, sondern auch auf eine Reihe von Dialogen, die als Einleitung bzw. als Begleitung des Gefechts fungieren. Es ist erstaunlich, dass in Wolframs Darstellung dieser Szene k e i n e Redepartien vor oder während des Kampfes erwähnt werden. Stattdessen erlaubt Wolfram es seinem Erzähler, zu Wort zu kommen, ohne ihn jedoch etwa die detaillierten Beschreibungen der Vorlage wiedergeben zu lassen. Es ist offensichtlich, dass Wolfram im Vergleich zur Vorlage das Heroische in dieser Szene eher einschränken will, sei es durch den Verzicht auf eine Beschreibung der geschickten Waffentechnik des Christen oder durch die Streichung der Kampfdialoge der beiden Kontrahenten. Dafür wird aber die Arofel-Figur vom Erzähler höfisch aufgewertet: Einerseits werden seine Rolle als höfischer Minneritter (Willehalm, v. 76,16ff.) sowie seine Eigenschaften der werdekeit (v. 78,9) und der milte (v. 78,21) hervorgehoben, andererseits wird die Verwandtschaft Arofels mit Gyburg betont (Willehalm, v. 78,19f.; 80,10). Es ist evident, dass der deutsche Dichter den Kampf zwischen Arofel und Willehalm anders inszeniert als die Vorlage, denn er will die Szene von Inhalt und Form her umfunktionalisieren. In Anbetracht der ästhetisch-literarischen Konvention der Zeit hat Wolfram die Tötung Arofels in seine Version dieser Geschichte aufnehmen m ü s s e n : Er hätte sie nicht vermeiden können. Dafür versucht er aber, eine Erklärung für diesen Tod zu geben. Paradoxerweise macht er das, indem er die Tötung und die anschließende Handlung grausamer darstellt als in der Vorlage. In Aliscans beweist der Christenführer seine heldenhafte Überlegenheit, indem er einen mächtigen Heiden besiegt und tödlich verletzt, aber auch indem er dem ohnmächtig auf dem Boden liegenden Feind den Kopf abschlägt – in der Quelle scheint es fast, als ob es sich um die Abschlachtung eines wegen seiner Verletzungen zum Tode bestimmten Tiers handelte. Bei Wolfram aber wird die Tötung anders inszeniert, denn am Ende ihres Dialogs fällt Arofel n i c h t in Ohnmacht: Er ist bei Bewusstsein, als Willehalm ihn tötet. Er stirbt auch n i c h t , weil ihm der Kopf abgeschlagen wird: Er wird vom Christenführer getötet, jedoch wird die Tötung an sich nicht näher beschrieben, denn es wird nur lapidar vom Erzähler vermerkt, war umbe sold i’z lange sagen? / Arofel wart aldâ erslagen (Willehalm, v. 81,11f.). Dem toten Arofel wird anschließend die Rüstung ausgezogen (v. 81,13–15), und erst dann enthauptet Willehalm ihn (v. 81,16f.). Durch diese Verstümmelung der Leiche kommt der vom Erzähler bereits früher erwähnte zorn des Christenführers eindeutig zum Ausdruck (vgl. v. 80,16).
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Die Tötung Aérofles durch Guillaume stellt offenbar weder für den Erzähler noch für die handelnden Figuren in der Vorlage (vom moralischen oder ethischen Standpunkt her) ein Problem dar. Das scheint jedoch bei Wolfram nicht der Fall zu sein, und der deutsche Dichter versucht, diese Tötung nach den höfischen Verhaltensnormen zu erklären. Diese Erklärung wird im Rahmen des Dialogs zwischen Arofel und Willehalm abgegeben. Das Gespräch, das von Wolfram nach Arofels Niederlage dargestellt wird, hat mit dem Dialog zwischen dem besiegten Aérofle und dem Christenführer Guillaume wenig gemeinsam. Dies ist erstaunlich, denn diese Dialoge in Aliscans und in Willehalm weisen vom Inhalt her ein ähnliches und zentrales Strukturelement auf: In beiden Dichtungen bieten die Unterlegenen Gold als Lösegeld an. In Aliscans jedoch wird das Gold angeboten, damit der Heide sein Pferd behalten kann; im Willehalm dagegen wird das Gold als Teil der sicherheit gesehen: er bôt ze geben sicherheit, 79,10 der ê genendeclîchen streit,
und dâ zuo hordes ungezalt. von dem ors er wart gevalt. der marcrâve erbeizet ouch dô. des gevelles was er vrô. 79,15 Arofel âne schande bôt drîzec helfande ze Alexandrîe in der habe, und daz man goldes naeme drabe, swaz si mit arbeite 79,20 trüegen, und guot geleite al dem horde unz in Pârîs. „helt, dûne hâst deheinen prîs, ob dû mir nimst mîn halbez leben. dû hâst mir vreuden tôt gegeben.“ (Willehalm, v. 79,9–24)
Hier geht es nicht um Arofels Pferd wie in der Quelle, sondern um Arofels Leben. Ein weiterer inhaltlicher Unterschied im Vergleich zur Vorlage liegt in Aérofles Angebot, die gefangenen Christen zu befreien: Davon gibt es bei Wolfram keine Spur. Im Willehalm wird der Inhalt des Dialogs anders akzentuiert: Hier geht es um sicherheit, um Lösegeld, um die Familie und um die soziale Stellung Arofels, um dessen Leben – aber auch (und vor allem) um Rache. Nachdem Arofel das Gold angeboten hat, bemerkt der Erzähler: 79,25 dô der marcrâve sîniu wort
80,1
vernam, daz er sô grôzen hort vür sîn verschert leben bôt, er dâhte an Vîvîanzes tôt, wie der gerochen würde, unz daz sîn jâmers bürde ein teil gesenftet waere. (Willehalm, v. 79,25–80,1)
Auch um Rachegedanken geht es, wenn Willehalm dann anschließend von der Verwandtschaft Arofels gehört hat. In zorne (v. 80,16) sagt er dem Heiden:
114
John Greenfield
„dû garnest al mîn herzesêr und daz dîn bruoder Terramêr mîne besten mâge ertoetet hât 80,20 und daz dîn helfeclîcher rât dâ bî sô volleclîchen was. ob al’z gebirge Koukesas dîner hant ze geben zaeme, daz golt ich gar niht naeme, 80,25 dûne gultest mîne mâge mit des tôdes wâge.“ (Willehalm, v. 80,17–26)
Das angebotene Gold kann Willehalms jâmers bürde (v. 79,30) nicht lindern: Diese Schmerzenslast des Christenführers kann nur durch einen Akt der Blutrache kompensiert werden, d.h. durch die Tötung Arofels. Gerechter zorn und notwendige rache sind für ein höfisches Publikum durchaus nachvollziehbare Konzepte. Wolfram hat somit die Argumentation in diesem Dialog inhaltlich deutlich modifiziert. Aber auch von der Form her hat Wolfram den Dialog umstrukturiert, um ihn einem anderen Erzählmodell anzupassen. Denn aus einer Anreihung von Dialogpartien in der direkten Rede im Aliscans, die von einem von der Handlung berichtenden Erzähler unterbrochen werden, gibt es bei Wolfram eine differenziertere Zusammenstellung der Redepartien: Am Anfang schildert Wolfram den Dialog zwischen Willehalm und Arofel teils in der indirekten Rede (Willehalm, v. 79,15–21; 80,2–5), teils in der direkten Rede (v. 79,22–24; 80,6– 14). Am Ende der Szene jedoch – in der letzten Gesprächspartie, die mit der Tötung Arofels endet – wird ausschließlich die direkte Rede verwendet (v. 80,17–26 und v. 80,27–81,10). Diese abwechslungsreiche Dialoggestaltung alterniert mit Textstellen, in denen der Erzähler die Gedanken Willehalms dokumentiert (v. 79,25–80,1) und seine Gemütsverfassung schildert (v. 80,16). Da der Erzähler hier auch aus der Perspektive Willehalms berichtet, wird es dem Publikum ermöglicht, dem Gedankengang des Protagonisten zu folgen: Es versteht, dass Willehalm durch Rachegedanken (v. 79,25ff.) in zorn gerät (v. 80,16) und Arofel deswegen tötet. Diese vielschichtige Erzählhaltung erlaubt es Wolfram außerdem, die Reden Arofels zu kommentieren. Dabei wird erklärt, dass Arofel âne schande (ehrenvoll; Willehalm, v. 79,15) sein reiches Lösegeld anbieten kann, und dass dieser niuwan der wârheit jach (v. 80,15). Durch dieses Wechselspiel von Berichten aus der Perspektive Willehalms, von Dialogpartien in direkter und in indirekter Rede und von wertenden Kommentaren des Erzählers gewinnt das höfische Publikum ein umfassendes und – vor allem – ein nachvollziehbares Bild dieser tragischen Handlung. Wie ich zu zeigen versucht habe, hat Wolfram im Willehalm die Dialogstruktur seiner Vorlage n i c h t übernommen. Zum einen hat er Redepartien ausgebaut (etwa in den Szenen in Laon und in Orange), zum anderen aber hat er sie z.T. reduziert – das ist vor allem in den Kampfhandlungen zu sehen, in denen er die Kampfdialoge zu vermeiden versucht. Damit will aber natürlich nicht gesagt werden, dass es im Willehalm keine Kampfdialoge gibt: im Gegenteil. Aber wie die exemplarische Analyse der Arofel-Episode zeigt, hat Wolfram den Kampfdialog anders funktionalisiert: Hier geht es nicht um eine Glorifizierung des Helden,
Die Dialogstruktur in Aliscans und in Wolframs Willehalm
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sondern um die Problematisierung eines Vorgangs. Durch die Konzentration auf den letzten Teil des Dialogs in der Arofel-Handlung – in dem die gerechte Motivation für die Tötung zum Ausdruck gebracht wird – hat Wolfram hier sehr deutlich die Akzente anders gesetzt. Die Tötung Arofels konnte von Wolfram nicht vermieden werden; aber im Willehalm geht es nicht – wie in der Vorlage – um die Darstellung eines christlichen Helden, der einen ohnmächtigen, tödlich verletzten Heiden umbringt, sondern hier geht es vor allem um eine durch zorn und rache motivierte Erklärung für diese grausame Tötung. Mittels einer vielschichtigen, kunstvoll aufgebauten Dialogstruktur (in der die Erzählerinstanz eine bedeutende Rolle spielt) hat Wolfram versucht, diese Erklärung für sein höfisches Publikum verständlich und glaubwürdig zu machen.
Sandra Linden
Im Dialog mit dem Aggressor Mediation als ritterliches Handlungsideal?
Das Gespräch zweier Gegner vor dem Kampf ist eine im höfischen Roman gängige Dialogsituation, die in ganz unterschiedlichen Handlungskonstellationen begegnen kann: Neben Kämpfen, die primär dem Ausweis ritterlicher Geschicklichkeit oder sozialer Rangfolge dienen und, abgesehen von einem notwendigen dynamischen Agon, keine tiefere Feindschaft implizieren, oder Kämpfen, die auf repräsentative Weise in das höfische Zeremoniell eingebunden sind, findet sich der vorbildliche ritterliche Protagonist auf seinem âventiureWeg oftmals im Konflikt mit einem unhöfischen Aggressor. Konfrontiert mit einem Angriff auf die Ordnung des Hofes oder einem Bruch mit seinen ethischen Normen, will der Ritter das höfische Ideal im Sieg über den Aggressor wiederherstellen. Aus dieser Begegnung ergibt sich ein antagonistisches, kompetitives Gesprächsschema, in dem beide Parteien entgegengesetzte Interessen verfolgen. Der höfische Ritter formuliert eine Anklage, der Aggressor wehrt diese ab oder geht gar nicht auf die Unrechtmäßigkeit seines Tuns ein. In der Regel ist keiner der beiden zu Kompromissen bereit, und der Kampf erscheint unausweichlich. Schnelle Sprecherwechsel und das häufige Fehlen von inquit-Formeln1 dynamisieren das Geschehen und setzen die einzelnen Redebeiträge in einen rasanten verbalen Schlagabtausch. Verschärft wird die für diesen Gesprächstypus konstitutive Aggressivität durch das Setting, da beide Parteien in voller Bewaffnung aufeinander zu reiten und so ein Friedensangebot für denjenigen, der den ersten Schritt tut, zur lebensbedrohlichen Gefahr werden kann. Trotz der dramatischen Grundstruktur hat die Forschung gerade für diesen Gesprächstypus immer wieder die These einer inhaltsleeren Ritualität vertreten. Schon 1962 klassifiziert 1
Zur Stichomythie als literarischem Instrument vgl. Peter Wiehl, Die Redeszene als episches Strukturelement in den Erec- und Iwein-Dichtungen Hartmanns von Aue und Chrestiens de Troyes, München 1974 (Bochumer Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft 10), S. 50ff., 130 u.ö., Nine Miedema, „Stichomythische Dialoge in der mittelhochdeutschen Epik“, in: Frühmittelalterliche Studien 40 (2006), S. 263–281, Henrike Lähnemann, „Haken schlagende Rede. Der Beginn des 9. Buchs des Parzival“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von Franz Hundsnurscher und Nine Miedema, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 261–280, sowie Anja Becker, Poetik der wehselrede. Dialogszenen in der mittelhochdeutschen Epik um 1200, Frankfurt a.M. u.a. 2009 (Mikrokosmos 79), S. 116–131.
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Sandra Linden
Herta Zutt derartige Reden in Hartmanns Erec als eingestreuten Schmuck, der vor allem der Anschaulichkeit diene.2 Und auch Peter Wiehl betont in seiner Studie zu Hartmanns Redeszenen die topische Struktur dieser Dialoge, die als beliebige Versatzstücke im Rahmen eines gleichbleibenden Rituals nicht wesentlich zur Sinnbildung des Romans beitrügen.3 Erst Martin H. Jones hat 2007 herausgestellt, dass nicht nur das Gespräch nach dem ritterlichen Zweikampf, in dem das Ritual der sicherheit verhandelt wird, sondern auch das verbale Vorfeld des Kampfes ein wichtiges Gestaltungsmittel des Artusromans bietet.4 Jones hat dabei detailliert nachgezeigt, wie sehr diese Dialoge einerseits der Tradition der heroischen Reizrede (heroic flyting) entsprechen, sich Hohn- und Spottreden aber andererseits nur bedingt zum Selbstverständnis des höfischen Ritters fügen. Mein Beitrag wird im Folgenden Sprachkonventionen für die konfrontativen Dialoge vor dem Kampf beschreiben, aber auch analysieren, wie die Gespräche immer wieder das basale Kommunikationsritual aus Herausforderung, aggressiver Gegenrede und Kampferöffnung durchbrechen und welche literarischen Effekte sich aus diesen Grenzüberschreitungen ergeben. Dabei sollen in einer komparatistischen Perspektive vor allem Tendenzen der Deeskalation untersucht werden, die mitunter quer zur Handlungslogik stehen und innerhalb des Dialogverlaufs eine ganz eigene Dynamik entfalten. Als Beispiel für eine typische Mediationsleistung dient Gawans Handeln im Parzival, bevor sich der Blick auf Dialogsituationen richtet, in denen die Schlichtungsbemühungen des Ritters weniger harmonisch in den Handlungskontext integriert sind, wobei Erec als kampfesunwilliger Ritter bzw. Hartmanns signifikante Umakzentuierung der chrétienschen Vorlage im Mittelpunkt stehen. Warum der vermittelnde und konziliant-höfliche Dialog mit dem Aggressor in den deutschsprachigen Beispielen besonders prominent vertreten ist, sollen einige abschließende Überlegungen thematisieren.
I. rîter, waz touc disiu drô? Der rituelle Dialog vor dem Kampf Ein typisches Muster, wie ein höfischer Ritter und ein Aggressor vor dem Kampf miteinander interagieren, bietet in Chrétiens Yvain5 und Hartmanns Übertragung6 eine Episode vor dem Gerichtskampf für Lunete: Yvain / Iwein trifft auf den Riesen Harpin, der die Söhne 2
3 4
5
6
Vgl. Herta Zutt, „Die Rede bei Hartmann von Aue“, in: Deutschunterricht 14,6 (1962), S. 67–79, hier S. 72. Ähnlich Marcel Bax, „Rules for Ritual Challenges: A Speech Convention among Medieval Knights“, in: Journal of Pragmatics 5 (1981), S. 423–444. Vgl. Wiehl (wie Anm. 1), S. 52. Vgl. Martin H. Jones, „nû wert iuch, ritter, ez ist zît (Erec, v. 4347). Zum verbalen Vorfeld des ritterlichen Zweikampfs in deutschen Artusromanen des 12. und 13. Jahrhunderts“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen (wie Anm. 1), S. 139–156. Chrestien de Troyes, Yvain, übersetzt und eingeleitet von Ilse Nolting-Hauff, München 1962 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 2). Hartmann von Aue, Iwein, hg. von Georg F. Benecke und Karl Lachmann, neu bearbeitet von Ludwig Wolff, Bd. 1: Text, Berlin 71968.
Mediation als ritterliches Handlungsideal?
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des Burgherrn in brutaler Gefangenschaft hält, um die Herausgabe der Tochter zu erpressen. In Chrétiens Roman eröffnet der Riese das Gespräch mit einer ironischen Aggressionsverschiebung, die letztlich nur darauf zielt, die eigene Überlegenheit zu profilieren: Er sieht denjenigen als Yvains eigentlichen Feind an, der ihm zu diesem Kampf geraten hat, weil er ihn dadurch in den sicheren Tod geschickt habe:7 4185
[...] „Cil, qui t’anvea ça, Ne t’amoit mie, par mes iauz! Certes, il ne se pooit miauz De toi vangier an nule guise. Mout a bien sa vanjance prise De quanque tu li as mesfet.“ (Yvain, v. 4184–4189)
Yvain geht gar nicht auf die unterschwellige Drohung ein, bezeichnet sie als unnützes Geschwätz und drängt auf den Kampf, denn „parole oiseuse me lasse“.8 Nach Rede und Gegenrede ist die Situation bereits so zugespitzt, dass der Kampf beginnen kann und muss. Hartmann weitet den kurzen Wortwechsel seiner Vorlage ungefähr auf den doppelten Versumfang aus und fügt einige Konkretisierungen ein, wenn er etwa in der Redeeinleitung noch einmal explizit macht, dass der Riese seine Bemerkung im Aussagemodus spot (v. 4992) spricht.9 Auch die ironische Feststellung des Riesen, dass der Ratgeber sich raffiniert am Helden gerächt habe, vereindeutigt Hartmann durch eine zusätzliche Erklärung: 5005
„[...] wand ich daz schiere schaffen sol daz ir im niemer mê getuot deweder übel noch guot.“ (Iwein, v. 5004–5006)
Der unhöfische Charakter des Riesen wird verstärkt, indem er Iwein als „tumbe[n] man“ (v. 4993) beschimpft, während dieser sich nicht von der „Einschüchterungstaktik“10 seines Gegners beeindrucken lässt und überlegen die Höflichkeit wahrt: „rîter, waz touc disiu drô?“ (v. 5008). Der Tenor der Rede, die den Worten Taten vorzieht, bleibt auch bei Hartmann erhalten, allerdings mit einer geschlechterspezifischen Wende, da Iwein die Rede negativ als weibliches Verhaltensmuster markiert, welches er in einem indirekten Feigheitsvorwurf für sich selbst als Handlungsoption ablehnt. Das „schelten“ (v. 5012), der verbale Streit, sei nur etwas für „ungezogeniu wîp“ (ebd.), für zänkische Frauen, denen die Mög7
8 9 10
Übersetzung: „Wer dich hierhergeschickt hat, der war dir nicht freundlich gesonnen, bei meinem Augenlicht! Gewiß, besser hätte er sich nicht an dir rächen können. Er hat sich da eine gute Rache verschafft, was du ihm auch angetan haben magst!“ Ebd., v. 4193, Übersetzung: „unnütze Worte langweilen mich“. Hierzu und zum folgenden Abschnitt vgl. Jones (wie Anm. 4), S. 150f. Jones (ebd.), S. 150, entwickelt den Begriff an Hartmanns Erec, doch scheint der Terminus auch für die Begegnung zwischen Iwein und Harpin passend, zumal Jones’ Beschreibung einer typischen einschüchternden Rede die Gesprächssituation im Iwein paraphrasiert: „Um sein Selbstvertrauen zu unterminieren, wird ihm suggeriert, dass er nicht Herr seines Schicksals ist: Ein anderer, der ihm nichts Gutes wünsche, habe ihn mit einem schlechten Rat dazu gebracht, sein Leben aufs Spiel zu setzen“ (S. 151).
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lichkeit des ritterlichen Kampfes fehle.11 Mit einer Berufung auf göttlichen Schutz deklariert Iwein den Kampf zum gerechten Gottesentscheid und geht zügig zur Tat über. Der Dialogverlauf entspricht bei beiden Autoren einem ähnlichen antagonistischen Gesprächsschema:12 Es gibt eine initiierende, aggressiv-ironische Äußerung des Aggressors und eine kühl-überlegene Antwort des Helden, die dann rasch in den Kampf mündet. Freilich ist der Protagonist hier wegen des Gerichtskampfs für Lunete in Zeitnot, aber gerade durch diese handlungsbedingte Verknappung lässt sich die Struktur des typischen Dialogs zwischen Ritter und Aggressor vor dem Kampf gut ablesen. Der ritterliche Held zieht in beiden Fällen die Kampfhandlung dem Gespräch vor, will die Situation nicht durch das Wort, sondern mutig durch das Schwert entscheiden.
II. Schlichtungsbemühungen vor dem Kampf Gawan als kompetenter Mediator In Variation zu diesem Grundmuster kennt der höfische Roman einen Dialogtypus, der nicht möglichst schnell zum Kampf überleitet, sondern dem Ritter auch ein Potential als Schlichter und Mediator von Konflikten zugesteht – eine Rolle, die traditionell eher durch König Artus besetzt wird13 und eine hohe kommunikative Kompetenz erfordert. Grundsätzlich ist die Mediation oder die Schlichtung eine Art Verfahrensordnung, wie man in einem vermittelten dialogischen Austausch eine antagonistisch angelegte Situation in eine kooperative überführen kann.14 Was in heutiger Zeit als Alternative zur Gerichtsverhandlung in Mode gekommen ist, bedeutet in der mittelalterlichen Konfliktsituation eine 11
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Dass der höfische Ritter sich nicht auf eine solche unhöfische Gesprächsebene einlässt, formuliert Jones (ebd.), S. 151, als generelle Regel: „Der Ritter, der sich standesgemäß verhalten will, enthält sich des scheltens und dröuwens und lässt sich auch keine Ansprache in diesem Stil von einem andren gefallen“. Man könnte als drittes Beispiel die mittelenglische Bearbeitung Ywain and Gawain aus dem 14. Jahrhundert heranziehen, die nach provokanter Rede des Riesen und kurzer Replik Ywains den Kampf ebenso zügig wie die chrétiensche Vorlage beginnen lässt, vgl. Ywain and Gawain, hg. von Albert B. Friedmann und Norman T. Harrington, London u.a. 1964 (Early English Text Society 254), v. 2429–2438. Monika Unzeitig-Herzog, „Artus mediator. Zur Konfliktlösung in Wolframs ‘Parzival’ Buch XIV“, in: Frühmittelalterliche Studien 32 (1998), S. 196–217, zeigt detailliert auf, wie Artus und Brandelidelin über verschiedene Stufen der Annäherung im Konflikt zwischen Gawan und Gramoflanz zu einer gütlichen Einigung finden. Hierzu und zum Folgenden vgl. die Habilitationsschrift von Stephan Breidenbach, Mediation. Struktur, Chancen und Risiken von Vermittlung im Konflikt, Köln 1995. Eine primär juristische Perspektive auf die Mediation liefern Fritjof Haft, Verhandeln. Die Alternative zum Rechtsstreit, München 1992, und Hans-Georg Mähler, „Macht – Gesetz – Konsens“, in: Handbuch Mediation und Konfliktmanagement, hg. von Gerhard Falk, Peter Heintel und Ewald E. Krainz, Wiesbaden 2005, S. 95–104. Die psychologische Komponente berücksichtigen Freddie Strasser und Paul Randolph, Mediation. A Psychological Insight into Conflict Resolution, London/New York 2004.
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Alternative zum Kampf auf Leben und Tod. Das Konsensverfahren der Mediation geht von der Grundstruktur aus, dass sich zwei Parteien streiten und mit einer dritten Person zu einer für beide Seiten akzeptablen Lösung finden. Man kann diese Konstellation auf den âventiure-Ritter, der sich stellvertretend für ein geschädigtes Opfer mit dem Aggressor auseinandersetzt, übertragen. Der höfische Roman zeigt in solchen Situationen, in denen der Ritter als Vertreter des höfischen ordo einer aggressiven Gegenwelt begegnet, meist eine eindeutige Verteilung von Recht und Unrecht, Gut und Böse, wobei der Protagonist auf die Position des Rechts festgelegt ist.15 Eine der Schlüsselfähigkeiten des Mediators ist es, sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen und zu einer adäquaten Einschätzung seiner subjektiven Perspektive zu kommen. Er zeichnet sich durch eine möglichst wertfreie und vorsichtige Sprache aus, die unnötige verbale Konfrontation vermeidet und sich im Gegenteil bemüht, aggressive Aussagen der Gegenseite aufzufangen und in eine neutralere Form zu bringen. Dabei setzt die Mediation auf ein laterales Denken,16 das von einem Argumentationsschritt zum nächsten geht, ohne die Aussagen vorschnell in einem Gut-Böse-Schema zu bewerten. Auf diese Weise soll das kreative Auffinden einer alternativen Lösung erleichtert und das Gespräch aus konventionellen Argumentationsverläufen wie der reaktiven Bezüglichkeit von Vorwurf und Gegenvorwurf herausgeführt werden. Für die mittelalterliche Herrschaftskommunikation ist der Konfliktausgleich über Ratgeber, die im Handlungshintergrund einen Kompromiss aushandeln, der dann öffentlich, etwa in Unterwerfungsritualen oder Wiedergutmachungsgesten, manifest wird, durch die Forschungen von Gerd Althoff erschlossen worden.17 Doch lässt sich diese politische Beratungskommunikation über mehrere Vermittlungsstufen nur bedingt mit der Begegnung zwischen höfischem Ritter und Aggressor im Roman vergleichen. Während die politische Konfliktlösung im Idealfall durch Boten und Mittelsmänner zeitlich und räumlich entzerrt wird und zwei verfeindete Herrscher einander selten begegnen, ohne dass im Vorfeld ein detailliertes Procedere ausgehandelt worden wäre, verlaufen die in der romanhaften Fiktion 15
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Vertritt man einen strengen Mediationsbegriff, der eine strikte Unparteilichkeit des Mediators vorsieht, lässt sich der Terminus der Mediation im Folgenden ohne Weiteres durch den offeneren Begriff der Verhandlung ersetzen. Das Konzept des lateralen Denkens wurde von dem Psychologen Edward De Bono entwickelt, eine Einschätzung findet sich bei Strasser und Randolph (wie Anm. 14), S. 17. Vgl. beispielsweise Gerd Althoff, „Colloquium familiare – colloquium secretum – colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des früheren Mittelalters“, in: Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), S. 145–167, erneut abgedruckt in: ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 157–184; ders., „Compositio. Wiederherstellung verletzter Ehre im Rahmen gütlicher Konfliktbeendigung“, in: Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Klaus Schreiner und Gerd Schwerhoff, Köln u.a. 1995, S. 263–276; ders., „Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft“, in: ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter, S. 99– 125, sowie ders., „Hinterlist, Täuschung und Betrug bei der friedlichen Beilegung von Konflikten“, in: Bereit zum Konflikt – Strategien und Medien der Konflikterzeugung und Konfliktbewältigung im europäischen Mittelalter, hg. von Oliver Auge, Felix Biermann u.a., Ostfildern 2008 (MittelalterForschungen 20), S. 19–29.
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gezielt als spannend konstruierten Dialoge durch die face-to-face-Kommunikation ohne einen deeskalierenden zeitlichen Abstand zwischen den einzelnen Redebeiträgen und fordern schon allein durch das Setting des Gesprächs – die Parteien stehen sich in voller Bewaffnung und somit kampfbereit gegenüber – einen direkten verbalen Schlagabtausch. Ein besonnenes Abwägen der Verhandlungspositionen lässt dieses Dialogarrangement kaum zu, die Möglichkeit einer Konfliktlösung durch Kampf ist wesentlich unmittelbarer als in der vermittelten Form politischer Konfliktkommunikation. Ein Paradebeispiel aggressionsvermeidender Schlichtung im höfischen Roman ist Gauvains Vermittlungsleistung in der Blutstropfenepisode des Perceval18 von Chrétien de Troyes bzw. Wolframs von Eschenbach Adaptation im Parzival.19 Perceval ist angesichts dreier Blutstropfen im Schnee in Liebessehnsucht versunken, der in der Nähe lagernde Artushof schickt Sagremors und danach Kei aus, um Informationen über den fremden Ritter einzuholen. Als Perceval nicht auf die Ansprache reagiert, verstehen die Artusritter dies als Provokation und gehen zum Angriff über. In Chrétiens Roman liegt Gauvains kommunikative Leistung schon vor der eigentlichen Begegnung mit Perceval, indem er sich die Frage stellt, warum sich dieser nach außen höfisch wirkende Ritter in der beschriebenen Weise verhält, und richtig vermutet, dass er in Betrachtungen versunken sein könnte, in penser:20 „[...] Que chevaliers autre ne doit Oster, si com cist dui ont fait, De son penser, quel que il l’ait. [...] 4360 Li chevaliers d’aucune perte Estoit pensis que il a faite, Ou s’amie li est fortraite, Si l’en anuie et en pesoit [...]“. (Perceval, v. 4354–4363) 4355
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Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal / Der Percevalroman oder Die Erzählung vom Gral, übersetzt und hg. von Felicitas Olef-Krafft, Stuttgart 1991 (RUB 8649), v. 4164ff. Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, Frankfurt a.M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 110; Bibliothek des Mittelalters 8), v. 282,12ff. Zur Blutstropfenepisode vgl. Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ‘Parzival’ Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001 (Hermaea 94), mit weiterführender Literatur. Den aggressionsmindernden Effekt von Gawans Worten analysiert Andreas Urscheler, Kommunikation in Wolframs ‘Parzival’. Eine Untersuchung zu Form und Funktion der Dialoge, Bern u.a. 2002 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 38), S. 228–231; vgl. auch Sandra Linden, „Spielleiter hinter den Kulissen. Die Gawanfigur in Wolframs von Eschenbach ‘Parzival’“, in: Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug, hg. von Gisela VollmannProfe u.a., Tübingen 2007, S. 151–166, hier S. 157f. Übersetzung: „kein Ritter darf einen anderen aus seinen Betrachtungen, welchen auch immer, aufschrecken so wie diese beiden eben [...]. Der Ritter grübelte (vielleicht) über einen erlittenen Verlust; (möglicherweise) ist ihm (auch) seine Geliebte geraubt worden, worüber er (nun) voll Gram und Kummer ist“.
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Gauvain nimmt Percevals Perspektive ein und kombiniert scharfsinnig, dass man dem Ritter sein Verhalten nicht als bewusste Handlungen anrechnen dürfe. Als Gauvain schließlich zu Perceval reitet, ist die Situation bereits entschärft, weil die Sonne zwei Blutstropfen im Schnee geschmolzen hat und Perceval langsam aus seiner Trance erwacht. Gauvain reitet behutsam heran und bemüht sich, keinerlei aggressiven Signale auszusenden. Er grüßt Perceval nicht direkt, um anders als seine Vorgänger kein Ausbleiben des Gegengrußes zu riskieren, bekundet aber in einer raffinierten Formulierung seine friedliche Absicht:21 4435
„Sire, je vos eüsse Salüé, s’autretel seüsse Vostre cuer com je sai le mien [...]“. (Perceval, v. 4435–4437)
Perceval erklärt seine Minneversunkenheit (v. 4446), und die Situation ist ohne größeren Gesprächsaufwand entschärft. Wolfram akzentuiert die Episode in seiner Bearbeitung deutlich anders, indem er den Konflikt und damit in der Konsequenz auch Gawans Schlichtungsleistung stärker herausarbeitet. Anders als Gauvain ahnt Gawan, als er zu dem Unbekannten reitet, keineswegs, dass dessen Unansprechbarkeit auf einer Minneversunkenheit und nicht auf aggressiven Absichten beruht. Zudem streicht Wolfram das helfende Eingreifen der Sonne, so dass Parzival unverändert im Bann der Blutstropfen verharrt. Anders als Gauvain reitet Gawan unbewaffnet zu Parzival und geht um des Effekts willen, sein Gegenüber nicht durch Waffen zu provozieren, ein existentielles Risiko ein. Auch er nähert sich möglichst langsam und will zunächst seine Informationslage verbessern: 300,10
er wolde güetlîche ersehen, von wem der strît dâ w#re geschehen. (Parzival, v. 300,9f.)
Als Parzival auf seinen Gruß nicht reagiert, versucht Gawan sorgfältig, den durch die Grußverweigerung drohenden Konflikt nicht zu forcieren. Er benennt zwar seine Irritation, zeigt zugleich aber die Bereitschaft, einen zweiten Verständigungsversuch zu starten: 300,25
„hêrre, ir welt gewalt nu tuon, sît ir mir grüezen widersagt. ine bin doch niht sô gar verzagt, ine bringz an ander vrâge [...].“ (Parzival, v. 300,24–27)
Gawan vertritt einen betont offenen Kommunikationsstil, der dem Gesprächspartner die eigenen Motive offenbart und die Handlungen des anderen nicht vorschnell bewertet, so dass möglichst viele Gesprächsoptionen gewahrt bleiben. Er schildert seinem Gegenüber in objektiver und nicht verurteilender Haltung, was zum Konflikt mit dem Artushof geführt hat, und öffnet zugleich die Perspektive auf eine gütliche Einigung: „des erwirbe ich iu die hulde, / daz der künec l#t die schulde“ (v. 301,1f.). Als Parzival auch auf diese Ansprache nicht reagiert, kann Gawan, wie der Erzähler berichtet (v. 301,8–20), aufgrund seiner eige21
Übersetzung: „Herr, ich hätte Euch gegrüßt, wenn ich Eure Gefühle [wörtlich: Euer Herz – S.L.] meinen gleich wüßte“.
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nen Minneerfahrungen die Situation richtig einschätzen, d.h., er versetzt sich in Parzivals Lage und erkennt dessen Zustand in utramque partem als Minnezwang. Als er das Ziel von Parzivals Aufmerksamkeit erkannt und geistesgegenwärtig die Blutstropfen zugedeckt hat, ist die Situation entschärft. Gawan erklärt dem benommenen Parzival, was passiert ist, und verspricht ihm friedliches Geleit zum Artushof: „da bewar ich iuch vor strîten“ (v. 303,10). Wolframs Szenerie setzt Gawan stärker als handlungslenkenden Mediator ins Bild, der sich durch Parzivals vermeintlich aggressives Verhalten nicht provozieren lässt, sondern sich um eine vorurteilsfreie Bewertung der Situation bemüht, alternative Gesprächsverläufe wagt und so eine Annäherung zwischen Parzival und dem Artushof ermöglicht. Im Vergleich von französischer Quelle und deutscher Bearbeitung zeigt sich eine Tendenz, die im Folgenden mit weiteren Beispielen erhärtet werden soll, nämlich dass das Gesprächsmuster der Mediation im deutschsprachigen Roman ausführlicher und differenzierter zur Entfaltung kommt als in der Romania und von den Autoren in eigenständiger Sinnsetzung gegenüber der Vorlage eingefügt wird, auch wenn sich diese Akzentsetzung, wie zu zeigen sein wird, nicht immer bruchlos in die Handlungslogik fügt.
III. Ritterliche Mediation im ‘echten’ Konfliktfall Man mag einwenden, dass die Blutstropfenepisode keinen wirklichen Konflikt, sondern ein simples Missverständnis zwischen zwei Freunden zeigt und dass das Gespräch mit einem tatsächlichen Aggressor ganz anders verlaufen wäre. Doch erstaunlicherweise finden sich im deutschsprachigen Roman auch in eindeutigen Konfliktsituationen mit einer klaren Verteilung von Gut und Böse ausführliche Mediationsdialoge. Ein auf den ersten Blick eher abgelegenes Beispiel bietet ein Dialog aus dem anonym überlieferten Roman Friedrich von Schwaben.22 Die Jungfrau Osann von Brabant bittet den Protagonisten Friedrich um Hilfe gegen Arminolt von Norwegen, der ihre Eltern ermordet hat und sie nun als Hure an seinen Hof bringen will. Obwohl die Unrechtmäßigkeit von Arminolts Handeln offensichtlich ist, formuliert Friedrich seine Rede gegenüber dem Aggressor auffällig vorsichtig und bittet Arminolt zunächst mit umständlichen Höflichkeitsformeln um Akzeptanz für einen Vermittlungsvorschlag: „[...] held, wes ich dich bitten wil, der bet ist mir ze vil, wan ich dir nit gedienet hân. doch tuon ich deß ûf den wôn, gewerst du mich der gaub, 2000 höld, du mir gelaub, ich das immer verdienen wil untz an meins endes zil [...]“. (Friedrich von Schwaben, v. 1995–2002) 1995
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Friedrich von Schwaben, hg., übersetzt und kommentiert von Sandra Linden, Konstanz/Eggingen 2005.
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Nach dieser Einleitung nennt Friedrich Argumente, warum Arminolt sein Handeln als ungerecht erkennen soll, und appelliert optimistisch an eine Fähigkeit zur Einsicht, die Arminolt im bisherigen Verlauf der Erzählung vermissen ließ. Der Aggressor, der sich von der Rede unbeeindruckt zeigt, lehnt abschätzig jede Form des Ratschlags ab und beschimpft Friedrich herablassend als Dummkopf: „ich raut dir, was du tuost: lêr dich selb, das ist guot. wan du magst mich nit lêrn, wan ich wil meiner êren an dich lâssen, sô ich minst mag. 2020 das ist der tummen schlag, das si sich durch ir tumhait oft vil grôsser arbait underwindent: was frümpt si das?“ (Friedrich von Schwaben, v. 2015–2023) 2015
Trotz der harschen Ablehnung macht Friedrich einen weiteren Gesprächsanlauf, wieder ist sein Versuch einer gütlichen Einigung vergebens, vielmehr prallen die Schlichtungsbemühungen an Arminolts Unerbittlichkeit ab und provozieren lediglich beißenden Spott. Friedrichs Strategien der Deeskalation verfehlen nicht nur ihr Ziel, sie verstärken den Konflikt sogar noch: „umb das klaffen dein / solt du haben die vîndschaft mein“ (v. 2039f.). Eine Entscheidung lässt sich nur im Kampf finden. Obwohl hier das Scheitern einer Mediationsbemühung vorgeführt wird und Friedrich sein proklamiertes Verhandlungsziel nicht erreicht, tut dies der Bewertung des Helden durch den Rezipienten keinen Abbruch. Und so tragen die angesichts der aggressivwütenden Sprache Arminolts eigentlich unpassend konzilianten und höflichen Worte Friedrichs eher zur Selbstdarstellung des Helden bei, als dass sie nachdrücklich an ihren ursprünglichen kommunikativen Zweck einer gütlichen Einigung gebunden wären. Es geht weniger darum, den bereits als unabwendbar akzeptierten Kampf zu vermeiden, als die Figurenzeichnung Friedrichs um die Charakteristik zu bereichern, dass der Held sich auch in aussichtslosen Fällen unermüdlich für eine friedliche Lösung einsetzt. Was zunächst wie eine entlegene Ausnahme, wie eine nicht besonders gelungene Dialoggestaltung eines mäßig begabten Autors anmutet, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als breitere Tradition: Der Autor des Friedrich von Schwaben übernimmt das Gespräch in weiten Teilen nahezu wörtlich aus Wirnts von Gravenberg Wigalois,23 der nach Wolframs Parzival der am häufigsten überlieferte höfische Roman ist. Der belesene Autor des Friedrich von Schwaben hat den Gesprächsverlauf im Wigalois als markant ausgewählt und gibt ihm in der Zitatmontage eine Bedeutung, die das Dialogmuster aus dem Status des sonderbaren Einzelfalls befreit. Das Bemühen um eine gütliche Einigung avanciert also im Repertoire der Gesprächstypen zu einem Muster, auf das der höfische Ritter in Konfliktsituatio23
Es handelt sich um den Dialog zwischen Wigalois und Hojir von Mannesfeld, vgl. Wirnt von Grafenberg, Wigalois der Ritter mit dem Rade, hg. von Johannes M.N. Kapteyn, Bonn 1926 (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 9), v. 2766–2836.
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nen zurückgreifen kann. Doch wo findet sich der Aggressor, der einen solchen Einigungsvorschlag je akzeptiert hätte? In welcher romanhaften Szenerie ist diese kommunikative Strategie erfolgreich und lässt den Rechtsbrecher seine Fehler reumütig wiedergutmachen? Nach Beispielen, in denen das Gesprächsschema sein Ziel erreicht, sucht man in der Literatur der Zeit vergebens: Trifft ein höfischer Ritter im romanhaften Entwurf auf einen Aggressor, der die höfische Ordnung verletzt hat, so mündet diese Begegnung unweigerlich in den Kampf, und zwar ganz unabhängig davon, ob sich der Held zuvor um eine gütliche Einigung bemüht oder nicht.24 Während in der Begegnung zwischen Gawan und dem vermeintlichen Aggressor Parzival vermittelnde Rede den Kampf der beiden Freunde vermeidet, ergibt sich aus dem Gespräch mit einem ‘echten’ Aggressor keine friedliche Einigung. Es stellt sich somit die Frage nach der kommunikativen Intention, die Frage, warum die Helden immer wieder auch in Fällen, deren Handlungsstruktur unweigerlich auf den Kampf zuläuft, dennoch auf der Ebene des Gesprächs eine friedliche Lösung anvisieren. In den Dialogen scheinen zwei höfische Rollenentwürfe aufeinander zu treffen, die nicht ohne Weiteres miteinander vereinbar sind: Zum einen agiert der Protagonist als âventiure-Ritter, der nach Ruhmerwerb im ritterlichen Kampf strebt und über seine Siege eine gesellschaftliche Anerkennung der persönlichen höfischen Exzellenz erreicht. Zum anderen ist sein Verhalten bestimmt durch die Rolle des Friedenswahrers, der die bewaffnete Auseinandersetzung vermeiden und eine für beide Parteien akzeptable friedliche Einigung herbeiführen will. Was man auf den ersten Blick als Bereicherung der Figurenzeichnung durch die aus dem Herrscherideal entlehnte Tugend der Friedenssicherung werten mag, nimmt in der konkreten Ausformulierung der Dialoge oftmals eigenartige Gestalt an, führt zu argumentativen Inkonsequenzen und gesprächslogischen Ambivalenzen, die für die deutschen Übertragungen auch dadurch bedingt sind, dass das Thema der Mediation in der Quelle nicht so zentral angelegt ist. Diese Brüche und ihre möglichen Konsequenzen für den poetischen Entwurf zeigen sich deutlich in Chrétiens25 und Hartmanns26 Darstellung des Gesprächs zwischen Erec und zwei Riesen, die den Ritter Cadoc in grausamer Gefangenschaft halten.
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Als Ausnahme mag in Strickers Daniel von dem Blühenden Tal, hg. von Michael Resler, Tübingen 2 1995 (ATB 92), v. 7593–7782, Daniels Verhandlung mit dem Riesenvater gelten, dessen Aggression gegen den Artushof aber nur aus einer falschen Einschätzung der Sachlage resultiert und der nicht als mutwilliger Bösewicht gezeichnet ist. Chrétien de Troyes, Erec et Enide / Erec und Enide. Altfranzösisch / Deutsch, übersetzt und hg. von Albert Gier, Stuttgart 1987 (RUB 8360). Erec von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler ErecFragmente, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Auflage besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39).
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IV. Erec als höflicher Friedenswahrer oder kampfesmüder Ritter? Nine Miedema hat das Gespräch zwischen Erec und den Riesen einer detaillierten sprechakttheoretischen Analyse unterzogen und die Äußerungen im Spannungsfeld von höfischem und unhöfischem Sprechen verortet.27 Angesichts der vorliegenden Ergebnisse reicht es an dieser Stelle aus, die wichtigsten Gesprächszüge kurz in Erinnerung zu rufen: In Chrétiens Roman sieht Erec Cadoc nackt und wie einen Dieb auf ein Pferd gefesselt, woraufhin Erec die Riesen fragt, welchen Vergehens der Ritter angeklagt sei.28 Obwohl er sich in seiner Anrede an die Regeln der Höflichkeit hält, ist dies weniger eine wirkliche Informationsfrage29 als eine Redeeinleitung, die zügig in eine scharfe Anklage mündet: „Trop laidemant le demenez“ (v. 4382; ‘Ihr behandelt ihn zu grausam’). Erec bewertet das Handeln der Riesen als „Grant viltance“ (v. 4385), als große Untat, es folgt schließlich die energische und bestimmte Forderung: „randez le moi“ (v. 4388; ‘Übergebt ihn mir!’). Der Riese wahrt in den Anreden zwar ebenfalls die formale Höflichkeit, bezeichnet die Aufforderung aber als Dummheit und provoziert mit einer Konditionalkonstruktion den Kampf als logische Konsequenz aus Erecs Worten:30 „Vasax“, font il, „a vos que tient? De molt grant folie vos vient, quant vos rien nos an demandez. S’il vos poise, si l’amandez.“ (Erec et Enide, v. 4391–4394)
Erec entgegnet mit einer expliziten, juristisch verbindlichen Herausforderung: „Traiez vos la, je vos desfi“ (v. 4399: ‘Kommt hierher! Ich fordere Euch heraus’). Es folgt das typische Einschüchterungsritual, in dem der Riese großsprecherisch droht, während Erec unbeeindruckt kontert, und so kann der Kampf schließlich beginnen. Was lässt sich festhalten? Chrétiens Erec beginnt den Dialog mit einer deutlichen Anklage, scheint jedoch zu einer friedlichen Einigung bereit, falls ihm die Riesen den Ritter herausgeben. Doch ist dies weniger eine ernsthafte Mediationsbemühung31 als eine einfache Markierung, dass Erec sich auf der Seite des Rechts befindet. Da sich die Riesen – erwartungsgemäß – nicht verhandlungsbereit zeigen, argumentieren beide Parteien zielstrebig auf 27
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Vgl. Nine Miedema, „Höfisches und unhöfisches Sprechen im Erec Hartmanns von Aue“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen (wie Anm. 1), S. 181–201. Zur Cadoc-Episode vgl. auch Martin H. Jones, „Durch schoenen list er sprach: Empathy, Pretence, and Narrative Point of View in Hartmann von Aue’s ‘Erec’“, in: Blütezeit. Festschrift für L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag, hg. von Mark Chinca, Joachim Heinzle und Christopher Young, Tübingen 2000, S. 291–307, und Ian R. Campbell, „An Act of Mercy: The Cadoc Episode in Hartmann von Aue’s Erec“, in: Monatshefte 88 (1996), S. 4–16, der auch die altnordische Fassung berücksichtigt. Chrétien de Troyes, Erec et Enide, v. 4379–4381. Miedema (wie Anm. 27), S. 199, spricht von einer „Auskunftsfrage, deren Antwort Erec bereits bekannt ist“. Übersetzung: „Krieger“, fuhren sie ihn an, „was geht das Euch an? Dazu veranlaßt Euch Eure große Unbesonnenheit, uns um so etwas zu bitten. Wenn er Euch leidtut, so helft ihm doch!“. Anders Miedema (wie Anm. 27), S. 200.
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den Kampf zu, der bereits in Erecs zweiter Redepartie durch die formelle Herausforderung festgeschrieben wird. In Hartmanns Bearbeitung der Episode wird noch vor dem Dialog mit den Riesen durch eine Innensicht festgestellt, dass Erecs Einstellung ganz dem Ideal des ritterlichen Helfers entspricht: 5430
nû bewegete des ritters smerze sô sêre sîn herze daz er bî im ê w#re erslagen ê er inz h#te vertragen [...]. (Erec, v. 5430–5433)
Die zentrale Tugend des Mitleids führt Erec zu der freiwilligen Bereitschaft, sein Leben für Cadocs Rettung zu riskieren. Warum der Erzähler diese Selbstverständlichkeit höfischer Ritterschaft hier so nachdrücklich betonen muss, offenbart der folgende Dialog mit den Riesen, der nämlich gar nicht recht zu Erecs klarer Zielsetzung zu passen scheint. Mit höflichen Floskeln und respektvoller Anrede erkundigt sich Erec in extrem defensiver Haltung32 nach dem rechtlichen Hintergrund der Misshandlung: „ir herren beide, ichn vrâge iu niht ze leide: durch got muget irz mich wizzen lân, waz hât iu der man getân 5440 den ir dâ habet gevangen? saget, waz hât er begangen? ez enschadet iu niht und ist mir liep [...].“ (Erec, v. 5436–5442)
Wider besseres Wissen fragt Erec beredt, ob der Ritter Mord oder Diebstahl begangen habe, da er augenscheinlich eine so schwere Strafe erdulde. Die Riesen geben sich von dem Wortschwall unbeeindruckt, im Vergleich zur chrétienschen Vorlage hat Hartmann die Aggressivität ihrer Rede signifikant verstärkt: Der Riese beantwortet die höfliche Anrede mit einem distanzlosen „dû“, beschimpft sein Gegenüber als „tum[p]“ (v. 5448) und als „rehte[n] affe[n]“ (v. 5452) und macht Erec sogar auf die mögliche Ansehensschädigung aufmerksam, die er mit seinen Worten riskiert: „[...] dû unwirdest dich daz dû vrâgest alsô vil 5455 daz dir niemen sagen wil. [...]“ (Erec, v. 5453–5455)
Die Beharrlichkeit, mit der Erec nun erneut das doch aussichtslose Gespräch sucht, sprengt den vorgegebenen Rahmen des Dialogs vor dem Kampf. Wäre der Rezipient nicht durch das Vorangegangene von Erecs Mut und höfischer Vorbildlichkeit überzeugt, könnte durchaus der Verdacht aufkommen, dass der Ritter es mit der Angst bekommen hat und vor dem
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Vgl. Miedema (wie Anm. 27), S. 191, die in Erecs Äußerungen eine Abschwächung der Illokutionsindikatoren feststellt und eine daraus resultierende kommunikative Indirektheit als Merkmal höflicher Rede ausweist.
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Kampf gegen die brutalen Riesen zurückschreckt.33 Der Bruch in der Kommunikationslogik wird über eine Erzählerbemerkung geglättet, die Erecs Rede als gezielte taktische Verstellung ausweist: dannoch redete er mit listen / und wânde in sô gevristen (v. 5458f.). Erec verwendet hier die kluge, listige Rede,34 weil er – diese Erklärung legt der Erzähler nahe – Zeit gewinnen will. Dass zwei Parteien in einer Konfliktsituation eine Art hidden agenda führen, weil sie aus dieser Geheimhaltungspraxis strategische Vorteile schöpfen wollen, ist keineswegs ungewöhnlich.35 Wenn Erec gegenüber den Riesen so tut, als wolle er den juristischen Tatbestand als unbeteiligter Dritter neutral prüfen, ist dies eine Form der dissimulatio bzw. der simulatio.36 Was er allerdings mit seiner Verzögerungstaktik bezwecken will, bleibt undeutlich. Unbeirrt fährt Erec mit seiner defensiven Rede fort: Er sei den Riesen ohne böse Absicht gefolgt (v. 5460ff.), was er mit mehreren entschuldigenden Sätzen wie „ich enhân ez niht durch übel getân“ (v. 5462) oder „daz ensî iu niht sw#re“ (v. 5465) verstärkt. Sogar sein Vorwurf an die Riesen bleibt in eine vorsichtige Konditionalkonstruktion eingebettet: „[...] hât dirre man ritters namen, sô möhtet ir iuch immer schamen 5470 daz er des niht geniuzet [...].“ (Erec, v. 5468–5470)
Und selbst sein Verhandlungsziel präsentiert er nicht als Forderung, sondern eher wie eine bittende Frage, die ein unhöfischer Gesprächspartner ebenso gut mit ‘nein’ beantworten kann: „muget ir in durch got lân?“ (v. 5475). Was auf Seiten der Riesen als simple aggressive Beschimpfung begonnen hat, wandelt sich nun zur Metarede, indem der Riese die Form von Erecs Rede kritisiert: „dîn klaffen ist mir ungemach“ (v. 5477). Die Vorteile, die Erec aus seiner beschwichtigenden Rede zieht, sind fraglich: Sein zögerliches Verhalten führt den Riesen keineswegs zu einem friedlichen Einlenken, sondern hat im Gegenteil die Konsequenz, dass er, in provozierender Geste, Cadoc nur noch mehr quält. 5485
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„[...] waz vrumet im dîn vrâge? nû nim dir in ze mâge und hilf im: dest im nôt genuoc.“ im ze sehenne er in sluoc [...]. (Erec, v. 5485–5488)
Wie schnell ein solcher Verdacht beim Aufeinandertreffen zweier Ritter aufkommen kann, mögen die Begegnung zwischen Lanzelet und Walwein in Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet (hg. von Florian Kragl, Berlin/New York 2006, v. 2357–2399) oder Erecs erste Begegnung mit Guivreiz in Hartmanns Roman (siehe unten, S. 131f.) illustrieren. Dass Erec im Gespräch häufig auf Strategien der Verstellung zurückgreift, hat Jones (wie Anm. 27 und Anm. 4) gezeigt. Vgl. Strasser und Randolph (wie Anm. 14), S. 37. Im Verschleiern der Wahrheit wird zugleich eine zweite Wahrheit aktiv geschaffen, d.h., ein verhüllendes und ein produktives Element greifen ineinander, vgl. Gert Ueding und Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, Stuttgart 21986, S. 291f. Zur dissimulativen Rede im literarischen Dialog vgl. auch Bernd Häsner, „Der Dialog: Strukturelemente einer Gattung zwischen Fiktion und Theoriebildung“, in: Poetik des Dialogs. Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis, hg. von Klaus W. Hempfer, Stuttgart 2004 (Text und Kontext 21), S. 13–65, vor allem S. 38–42.
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Mit dem gängigen Argument, dass Taten mehr nützen als Worte, formuliert der Riese hier eine Handlungsaufforderung, die dem Verhaltenskodex des höfischen âventiure-Ritters durchaus entspricht.37 Doch Erec lässt sich weder durch die Kampfaufforderung noch durch die Provokation, die in der verstärkten Misshandlung Cadocs liegt, von seinem Bemühen um eine gütliche Einigung abbringen: 5490
dannoch wolde in Êrec mit güete überwunden hân daz er den ritter h#te lân. (Erec, v. 5489–5491)
Selbst der Erzähler, der Erecs eigenwillige Dialogregie bisher mit rechtfertigenden Erklärungen versehen hat, kann nur noch die Vergeblichkeit dieser kommunikativen Bemühungen attestieren: diu bete was vil gar verlorn, / wan daz er reizete des risen zorn (v. 5492f.). Die Riesen fahren mit ihren Provokationen fort, Leidtragender ist der Ritter Cadoc. Erst als Erec diese Kausalität realisiert, scheinen ihm Zweifel an seiner Dialogführung zu kommen: und als Êrec der degen balt ersach daz er sîn engalt, 5500 daz muote in harte sêre. (Erec, v. 5498–5500)
Der Erzähler bemüht sich, dem nahe liegenden Verdacht der Feigheit entgegenzuwirken, indem er den zögerlichen Erec in eher heroischer als höfischer Wortwahl als degen balt (v. 5498) bezeichnet. Schließlich entscheidet sich der Held doch noch zum Kampf und hat nun tatsächlich den Vorteil, dass die Riesen gar nicht mehr mit einem Angriff rechnen. Doch reicht dieses Überraschungsmoment aus, um Erecs Dialogstrategie zu legitimieren? In der Gesamtsicht scheint Hartmanns Gesprächsregie eigenartig: Er vereindeutigt die Situation, indem er die Brutalität der Riesen verschärft, zugleich gestaltet er eine ausführliche Verhandlungsszenerie, wo es gar nichts zu verhandeln gibt. Er lässt seinen Protagonisten den Gesprächstypus der Mediation in einer Situation verwenden, die gar nicht zu diesem Kommunikationsmuster passt, und so zeigt Erec hier beharrlich eine Art ziellosen Edelmut und Friedenswillen, die ihren zweifelhaften Effekt höchstens in der Selbstpräsentation gegenüber dem textexternen Publikum entfalten. Gerade die Unermüdlichkeit, mit der Erec wiederholt sein Mediationsziel formuliert, bringt den sinnhaften Dialogentwurf zum Kippen, geht über das kommunikativ angemessene und als plausibel akzeptierte Maß, in dem sich der Held als Friedenswahrer präsentieren kann, hinaus. Was bei Chrétien als zügige Anklagerede zum Kampf überleitet, wird bei Hartmann über rund 80 Verse als einseitig bemühte Verhandlung ausgeführt, die dennoch misslingt – ein Eingriff, der sich wohl kaum mit Hartmanns Neigung zu Konkretheit und Ausführlichkeit im Sinne einer dilatatio materiae erklären lässt. Die Forschung hat Hartmanns signifikante Variation der Vorlage bemerkt und Deutungsversuche bereitgestellt: Peter Wiehl hält Erecs Rede für einen ernst gemeinten Be37
Vgl. auch Hartmann von Aue, Erec, v. 5481f. und 5453, wo in ironischer Volte gerade der unhöfische Riese ritterliche Zentraltugenden im Munde führt, dazu treffend Miedema (wie Anm. 27), S. 201.
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schwichtigungsversuch, der zwar misslingt, aber dennoch die höfische Vorbildlichkeit Erecs nicht schmälert.38 In ähnliche Richtung argumentiert Rolf Endres, der die güete (v. 5490) als Erklärung für Erecs Verhalten anbietet: „Warum legt er Wert auf ein Gespräch? Es ist seine güete, die ihn gesprächig werden lässt, statt gleich dreinzuschlagen“.39 Doch ist es mit der güete und der daraus resultierenden Bereitschaft zur Hilfe vereinbar, dass seine Provokation der Riesen, wie er selbst wissen kann, aussichtslos ist und dem Ritter Cadoc lediglich zusätzliche Qualen einhandelt? Die entgegengesetzte These von Susan Clark,40 dass Erec sich verstellt und die Riesen mit seinem tölpelhaften Verhalten in Sicherheit wiegen will, besitzt noch die größte argumentative Schlüssigkeit, dennoch bleiben auch hier einige Irritationsmomente wie etwa die Frage, ob es angemessen ist, für den günstigen Überraschungseffekt billigend eine Steigerung von Cadocs Leiden in Kauf zu nehmen. Miedema erklärt Erecs unermüdliche Höflichkeit als ein exemplarisches Vorführen höfischer Sprechakte in Kontrast zu den unhöfischen Riesen, die dadurch disqualifiziert werden, dass sie die höfische Indirektheit missverstehen.41 Doch auch hier bleibt die Frage, warum Erec so wenig auf die Fehlinterpretation der indirekten Illokution durch die Riesen reagiert und stattdessen unbeirrt an seinem situationsunangemessenen Sprechen festhält. Stellt man die Passage in einen breiteren Kontext, zeigt sich dieses zögerliche Gesprächsverhalten der Erecfigur in Hartmanns Bearbeitung bereits in der ersten Begegnung mit Guivreiz.42 Während Chrétiens Erec vor dem Kampf gar nicht mit dem Zwergenkönig Givret spricht,43 fügt Hartmann einen Dialog ein, der kommunikative Parallelen zur Riesenepisode aufweist, indem wieder ein kampfesunwilliger Erec begegnet. Nach freundlichem Gruß und charmantem Kompliment an Enite taxiert Guivreiz sein unbekanntes Gegenüber richtig als einen Ritter, „der âventiure suochet“ (v. 4340) und im ritterlichen Kampf „den prîs bejagen“ (v. 4345) will. Entsprechend beendet Guivreiz seine Rede mit einer deutlichen Handlungsaufforderung: „nû wert iuch, ritter, ez ist zît“ (v. 4347). Doch Erec will nicht und fällt mit diesem Verhalten aus der Rolle des typischen âventiure-Ritters, der sich im Kampf mit anderen Rittern in die höfische Ruhmhierarchie einordnet. Er entzieht sich der Kampfaufforderung mit einer spitzfindigen Ausrede, indem er auf die unzulässige Kollision von Gruß und Kampf hinweist und den höfischen Gruß als verbindliche Festlegung auf ein friedliches Verhalten interpretiert:44
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Vgl. Wiehl (wie Anm. 1), S. 173. Rolf Endres, Studien zum Stil von Hartmanns Erec, Diss. München 1961, S. 122. Vgl. Susan L. Clark, Hartmann von Aue. Landscapes of Mind, Houston 1989, S. 75f. Vgl. Miedema (wie Anm. 27), S. 193. Hartmann von Aue, Erec, v. 4326–4377. Vgl. Chrétien de Troyes, Erec et Enide, v. 3756–3761. Vgl. Jones (wie Anm. 4), S. 142f., der die Begegnung zwischen Erec und Guivreiz in den allgemeineren Zusammenhang der Leitwörter grüezen und widersagen einordnet. Im Vorfeld der Kampfhandlung – so die These von Jones – wird die peinlich genaue Einhaltung der mit diesen Begriffen umrissenen Verhaltensvorgaben zum Ausweis der Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit des ritterlichen Helden.
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Sandra Linden „[...] jâ butet ir mir iuwern gruoz: wanne würde iu des lasters buoz, bestüendet ir mich dar nâch? [...]“ (Erec, v. 4354–4356)
Ein solcher Sieg wäre „âne ruom“ (v. 4358), und statt des Kampfes fordert Erec für sich nun „gemach“ (v. 4360) – ein Schlüsselwort, das nicht erst seit der verligen-Episode den gefährlichen Beigeschmack unhöfischen Müßiggangs trägt. Die nächste Aussage offenbart: Erec versteht den ritterlichen Kampf als Instrument der Konfliktführung und kann ihn mit dem Argument, „ich habe iu niht getân“ (v. 4361) ablehnen. Doch der höfische Guivreiz, der Erec mittlerweile schon für feige hält,45 lässt sich nicht auf diese Vermeidungsstrategie ein: Er verfolgt den Kampf als Mittel zur ritterlichen Rangfeststellung. Wenn der Kampf kein Zeichen der Feindschaft ist – so argumentiert Guivreiz logisch – tangiert er nicht die Friedensvereinbarung des Grußes (v. 4368–4375). Mit einer klaren Herausforderung (v. 4376) zwingt er Erec zum Handeln, und es kommt zum Kampf, den der Erzähler dazu nutzt, den Verdacht der Feigheit von seinem Helden abzuwenden. In dem Gespräch treffen zwei unterschiedliche Motivationen ritterlichen Kampfes aufeinander,46 und für das literarische Modell des Ruhmgewinns in der âventiure tritt hier nicht etwa der Protagonist ein, sondern der kleine Guivreiz. Doch Hartmann findet eine Möglichkeit, diese irritierende Rollenverteilung zu rechtfertigen, indem er Erecs Rede durch eine erweiterte inquit-Formel als uneigentliches Sprechen ausweist und ihn durch sînen spot (v. 4348) antworten lässt,47 d.h., wie im Dialog mit den Riesen wird eine kommunikative Verstellung, eine Verschleierung der wahren Absichten behauptet, die das Vermeiden der Kampfhandlung zwar de facto ausspricht, aber eine Schlichtung nicht wirklich intendiert.
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Vgl. Hartmann von Aue, Erec, v. 4366f.: der herre gedâhte: „er ist verzaget, / sît er sîne arbeit klaget.“ Auch hier zieht der Ritter sofort den Vorwurf der Mutlosigkeit auf sich, sobald er eine Gelegenheit zum Kampf auslässt. William H. Jackson, Chivalry in 12th Century Germany. The Works of Hartmann von Aue, Cambridge 1994 (Arthurian Studies 34), S. 121, hat den Dialog entsprechend als Diskussion über die legitime Begründung ritterlichen Kämpfens interpretiert und sieht in dieser Episode eine Kampfmotivation aus dem literarischen âventiure-Konzept mit einer eher herrschaftlich-rechtlich fundierten Kampfauffassung konfrontiert. Bezieht man das Personalpronomen auf Erec selbst, formuliert er hier in selbstironischer Wendung einen Scherz. Zur Bedeutung des Personalpronomens in diesem Vers vgl. Ernst Scheunemann, Artushof und Abenteuer. Zeichnung höfischen Daseins in Hartmanns Erec, Breslau 1937, S. 42; Endres (wie Anm. 39), S. 2–5; Rudolf Voss, Artusepik Hartmanns von Aue. Untersuchungen zum Wirklichkeitsbegriff und zur Ästhetik eines literarischen Genres im Kräftefeld von sozialkulturellen Normen und christlicher Anthropologie, Köln/Wien 1983 (Literatur und Leben NF 24), S. 103; Lambertus Okken, Kommentar zur Artusepik Hartmanns von Aue, Amsterdam/Atlanta 1993, S. 120; Martin H. Jones, „Chrétien, Hartmann, and the Knight as Fighting Man: On Hartmann’s Chivalric Adaptation of Erec et Enide“, in: Chrétien de Troyes and the German Middle Ages. Papers from an International Symposium, hg. von dems. und Roy Wisbey, Cambridge 1993, S. 85– 109, hier S. 105.
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V. Der Mediationsdialog in kommunikationssoziologischer Perspektive Die Reihe der Beispiele führt zu der Frage, welche poetologischen Konsequenzen sich ergeben, wenn die Helden nicht ohne Zögern in den Kampf reiten, sondern mit erstaunlicher Beharrlichkeit auch in unpassenden Situationen immer wieder auf das Dialogmuster der Mediation zurückgreifen. Welche Auswirkungen hat diese unterschiedliche Akzentsetzung im deutschen Raum auf den literarischen Entwurf, insbesondere auf die Charakterisierung der Figuren? Es bleibt festzuhalten, dass Erec trotz seines zögerlichen Gesprächsverhaltens in der Bewertung durch Erzähler und Rezipienten keinerlei Schaden nimmt, auch wenn seine Dialogregie nur mühsam mit einer Begründung versehen wird, indem der Erzähler die folgenlosen Schlichtungsversuche als raffinierte List oder Scherz ausgibt. Die Rolle des Mediators ist kein Charakterzug, der harmonisch in die Erecfigur, in die Gestaltung ihrer Psychologie und Handlungslogik, eingebunden ist. Sie wird präsentiert, aber nicht narrativ schlüssig integriert, da sie weder auf der Ebene der Handlungsführung noch auf der der Figurenzeichnung eine Bedeutung erlangt, die über die einzelne Episode hinausreichen würde. Was als kommunikative Volte in bewusster Umgestaltung gegenüber der Vorlage auffällt, scheint über den Moment hinaus keinen nachhaltigen Effekt auf den literarischen Entwurf zu haben, lässt sich nicht als stringent motivierte Änderung in der Konzeption der Erecfigur fassen. Auch die Möglichkeit, Erecs Bemühungen um gütliche Einigung als Schritt in seiner Emanzipation zum verantwortungsvollen Herrscher zu sehen und in eine Entwicklungslinie zu stellen, mag nicht recht überzeugen, denn ein Vermittlungsversuch, der dann doch erfolglos bleibt und den Gegner unbeeindruckt lässt, taugt kaum als effektive Herrschaftsinszenierung. Da Hartmanns Erec durch seine folgenlosen Schein-Mediationsbemühungen Erstaunen beim Rezipienten hervorruft, muss sich der Erzähler durch Zwischenbemerkungen bemühen, die ins Leere laufenden deeskalierenden Kommunikationsstrategien zumindest pro forma in das Gesamtkonzept eines vorbildlichen ritterlichen Restitutionswegs einzufügen. Erecs Bemühungen um eine Schlichtung von Konfliktsituationen und die Vermeidung des ritterlichen Kampfes bleiben punktuell und erlangen, da es ihnen sowohl an logischer Konsequenz als auch an Erfolg auf der Handlungsebene mangelt, nicht die nötige Konstanz, um sich zu einem Charakterzug zu verfestigen. Und so lässt der Protagonist in anderen Situationen nichts von diesem Bemühen um eine Kampfvermeidung merken: In der Auseinandersetzung mit den Räubern48 erwidert Erec auf die Ansprache durch den Gegner gar nichts, sondern schlägt einfach zu, und in der Kommunikation mit Mabonagrin49 ist er es, der den Gegner mit spitzer Rede zum Kampf provoziert. Hartmann, der hier mit einigen flankierenden Beispielen in einer vielleicht unzulässigen Verallgemeinerung als symptomatisch für den deutschsprachigen Roman herausge48 49
Vgl. Hartmann von Aue, Erec, v. 3217–3223 und 3384–3391. Vgl. ebd., v. 9024–9069, sowie die detaillierte Analyse von Jones (wie Anm. 4), S. 153–155, der die Passage mit der Tradition heldenepischer Reizrede verknüpft.
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griffen wurde, scheint die Gestaltung der Erecfigur in diesem Punkt nicht gezielt gegenüber Chrétien ändern zu wollen. Vielmehr zeigt er sich anders als Chrétien an Konstellationen interessiert, die dem festen Gesprächsritual aus Herausforderung, aggressiver Gegenrede und anschließendem Kampfbeginn Alternativen zur Seite stellen, was weniger mit der konkreten Figur im Handlungszusammenhang als mit einem allgemeinen, den Einzeltext übergreifenden Erproben von Kommunikationsformen zu tun hat. Dass eine Figur in der französischen Vorlage sofort in den Kampf stürmt, während das deutschsprachige Pendant umständliche Schlichtungsversuche unternimmt, muss nicht notwendig eine gezielte Umakzentuierung der Figurenpsychologie sein, sondern kann vielmehr aus einem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Dialogmuster für eine immer wieder auftauchende Grundsituation ritterlichen Handelns verstanden werden. Der knappe, zügig auf den Kampf hinleitende Dialog mit dem Aggressor wird im deutschsprachigen Raum zu komplexeren Gesprächen variiert, die das Thema einer möglichen friedlichen Einigung wenn auch nicht in Handlung umsetzen, so doch zumindest anvisieren und im literarischen Dialog spielerisch erproben. Wie breit das Spektrum der Schlichtungsmöglichkeiten im literarischen Diskurs mitunter gesteckt wird, soll ein kurzer Seitenblick auf den Kampf zwischen Tristan und Morolt in Gottfrieds Roman illustrieren.50 Der Konflikt mit Morolt ergibt sich aus einer Geiselforderung, doch erst Tristans aggressiver Akt, sein Boot, mit dem er zum Zweikampf gegen Morolt auf eine Insel übergesetzt hat, treiben zu lassen, schreibt den Kampf als eine Auseinandersetzung auf Leben und Tod fest: Nach dem Kampf ist nur noch ein Boot nötig – so Tristans bissige Rechtfertigung auf Morolts Nachfrage –, weil der Besiegte tot auf der Insel zurückbleiben wird.51 Der Erzähler stigmatisiert Morolt, der immerhin als Stellvertreter Gurmuns und indirekt des römischen Rechts agiert52 und zuvor als anerkannter und vorbildlicher Ritter charakterisiert wurde,53 durch unterschwellige Nebenbemerkungen zum Teufelsbündler,54 um ihn auf die Seite des Unrechts festzulegen und im Kontrast Tristans Rechtsposition zu stärken. Umso mehr überrascht es, dass der vermeintliche Aggressor und Geiselnehmer vor und während des Kampfes deeskalierende Schritte unternimmt und sich bereit erklärt, Tristans Aufbegehren als ungestümen hôchmuot eines jungen Ritters zu ent-
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Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan, hg. von Friedrich Ranke, Dublin/Zürich 151978, v. 6251– 7085. Vgl. ebd., v. 6795–6806. In v. 5904–5911 wird geschildert, dass Gurmun seinen Eroberungszug in Großbritannien mit römischem Placet durchgeführt hat. Laut v. 5979–5998 wird der an Irland zu leistende Zins in jedem fünften Jahr vom römischen Senat geprüft und neu verfügt, vgl. auch Adrian Stevens, „Killing Giants and Translating Empires: The History of Britain and the Tristan Romances of Thomas and Gottfried“, in: Blütezeit (wie Anm. 27), S. 409–426, vor allem S. 420–425. Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan, v. 6510–6520. Vgl. z.B. ebd., v. 6851f.: sus kam er her gerüeret / als den der tiuvel vüeret, oder v. 6906: der veige valandes man.
Mediation als ritterliches Handlungsideal?
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schuldigen und folgenlos bleiben zu lassen.55 Von seinem Auftrag, junge Adlige als Tribut nach Irland zu bringen, kann der Gesandte Gurmuns freilich nicht abstehen, aber er ist noch während des Kampfes zu großzügigen Zugeständnissen gegenüber dem bereits verletzten Tristan bereit. Zwar hat er ihn mit seinem vergifteten Schwert getroffen, doch stellt er dem Gegner zugleich Heilung durch seine Schwester in Aussicht und geht sogar noch weiter: „[...] und ich wil mit dir teilen gesellecliche, swaz ich han, 6960 und wil dir nihtes abe gan, da dich din wille zuo getreit“.56 (Tristan, v. 6958–6961)
Doch Tristan weicht nicht von seiner Position ab: Eine „suone“ (v. 6822 und 6824) ist unmöglich, und so genügt es dem Protagonisten nicht, seinem Gegner die Hand abzuschlagen, sondern er beendet den Kampf nach einer spöttisch-sarkastischen Rede ohne Schonungsangebot57 und schlägt dem Wehrlosen den Kopf ab. Hier geraten im experimentierenden Spiel mit Dialogmustern der Deeskalation sogar die Positionen von Gut und Böse ins Wanken, wenn der vermeintliche Aggressor plötzlich friedliche Absichten formuliert, während der Held eine punktuelle Grausamkeit an den Tag legt, die in eigenartigem Kontrast zu seiner höfischen Vorbildlichkeit steht. Negative Konsequenzen für die Bewertung der Figur durch den Rezipienten ergeben sich aus dieser einzelnen Episode jedoch nicht. Vielmehr wird Tristans unerbittliche Brutalität durch die Abwertung Morolts im Erzählerkommentar gerechtfertigt und gerät angesichts des Siegesjubels ebenso schnell in Vergessenheit wie Morolts wiederholtes Bemühen um eine friedliche Einigung. Bestätigen diese Ergebnisse nicht – so könnte ein Einwand lauten – die anfangs erwähnte These von Herta Zutt, die die Dialoge vor dem Kampf als belangloses Ritual ohne Konsequenzen auf der Sinnebene kennzeichnet? Wohl kaum. Die vorgestellten Mediationsdialoge sind keineswegs bedeutungslos, ihr Sinn ist lediglich auf einer anderen Ebene zu suchen als ausschließlich in der klassischen hermeneutischen Perspektive auf den einzelnen literarischen Entwurf. Er ist zu suchen im Bereich der Kommunikationssoziologie, im Bereich der Pragmatik, die auch eine Perspektive auf zeitgenössische Vorstellungen von idealer höfischfeudaler Interaktion freigibt. Die Textbeispiele haben gezeigt, dass die mangelnde Plausibi55
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57
Vgl. etwa ebd., v. 6807–6819. Auch dass Morolt nach Tristans langer und scharfer Anklagerede (v. 6258–6332) nicht mit einer Gegenrede antwortet, sondern sich zunächst nach Markes Position in dem Konflikt erkundigt (v. 6340–6349), kann man als Strategie der Deeskalation werten. Ob Morolts Offerten an Tristan einen homoerotischen Hintergrund haben, wie Hugo Bekker, Gottfried von Strassburg’s Tristan. Journey through the Realm of Eros, Columbia 1987, S. 116f., meint, oder eher von einem väterlichen Mitgefühl für den jungen Ritter zeugen, mag dahingestellt bleiben. Dass das Gewähren von sicherheit in einem solchen Gerichtskampf dem höfischen Comment entsprochen hätte, zeigen die Beispiele bei Christoph Huber, „Ritterideologie und Gegnertötung. Überlegungen zu den ‘Erec’-Romanen Chrétiens und Hartmanns und zum ‘Prosa-Lancelot’“, in: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993, hg. von Kurt Gärtner, Ingrid Kasten und Frank Shaw, Tübingen 1996, S. 59–73, sowie Martin H. Jones, „Schutzwaffen und Höfischheit. Zu den Kampfausgängen im ‘Erec’ Hartmanns von Aue“, in: ebd., S. 74–90.
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Sandra Linden
lität des Gesprächsverlaufs eine ganze Reihe von Fragen aufwirft: Wieso riskieren die ritterlichen Helden überhaupt den Gesichtsverlust, den das wiederholte Verhandlungsangebot mit sich bringen kann? Warum nehmen sie freiwillig das Risiko auf sich, dass der Gegner sie für ängstlich und feige hält? Wieso schätzen sie die Situation so falsch ein, dass sie überhaupt einen Mediationsversuch starten? All dies sind Fragen, die sich nicht konsistent aus einer Figurenpsychologie beantworten lassen, Fragen, auf die die Texte scheinbar bewusst eine Antwort verweigern. Doch erscheinen diese Fragen nicht mehr ganz so prekär, wenn man die Dialoge in einer den Einzeltext übersteigenden Perspektive betrachtet und sie auf einer allgemeineren kommunikationssoziologischen Ebene als Übungsentwürfe begreift, als das Aufzeigen von Handlungsalternativen zum Konflikt, als experimentierendes und probeweises Durchspielen von Dialogformen jenseits des eingefahrenen Rituals. Die Romanentwürfe setzen sich immer auch damit auseinander, wie sich der vorbildliche Ritter verhalten soll, welche Handlungs- und Gesprächsmuster im fiktiven Raum für ihn skizziert werden können. Die Dialogpassagen scheinen von den Romanautoren mitunter weniger für die textinterne Kommunikationssituation, in die sie sich nur mäßig fügen, als vielmehr mit Blick auf die textexterne Kommunikationslinie entworfen zu sein. Und so avanciert der höfische Roman zum probaten Medium für eine übergeordnete Diskussion über Kampfrituale, Formen der Konfliktführung und Einigung. Wie sich die Vorliebe der deutschsprachigen Autoren für das Dialogziel der Mediation erklären lässt, ob man auf regional unterschiedliche realpolitische Verhandlungsgepflogenheiten unter dem Stichwort des Ratgebertums rekurrieren kann, ob die Konfrontation zahlreicher kleiner, nach territorialer Arrondierung strebender Herrschaften, die im deutschsprachigen Raum nicht so konstant wie in Frankreich durch ein starkes Königtum geordnet wurden, ein Erproben von Schlichtungsmethoden im literarischen Medium attraktiv werden ließ, ob die Vorliebe sich einem Vergleich von literarischer âventiure-Ritterschaft und real fundierter Herrschaftsführung verdankt oder ob die Autoren sich einfach bemühen, dominante Gesprächsnormen abzubilden, die in der Rezipientenschicht allgemeine Wertschätzung besaßen, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Es sollte lediglich festgestellt werden, dass es eine solche Vorliebe gibt und dass gerade der fiktive Raum mit seinen frei konstruierten literarischen Dialogen diese Gesprächsmuster auch und gerade jenseits der Kriterien von Plausibilität und psychologischer Motivation zulassen kann.
III. Gesprächskulturen in komparatistischer Sicht: Latein und Volkssprachen
Nikolaus Henkel
Dialoggestaltung in deutschen und französischen Romanen des 12. Jahrhunderts Das Modell der Dramen des Terenz und Seneca
Im Jahre 1953 veröffentlichte der Münchener Mittellateiner Paul Lehmann einen Aufsatz mit dem Thema „Die Vielgestalt des 12. Jahrhunderts“.1 Er geht hier dem Phänomen des grundsätzlich Neuen in der Literatur dieses Zeitraum nach, das er in den unterschiedlichen Regionen Europas, bei unterschiedlichen Trägern und auf je eigenen Feldern der Hervorbringung wie des Gebrauchs und in verschiedenartigen Institutionen verfolgt. Die volkssprachigen Literaturen dieser Zeit des Neuaufbruchs werden nur beiläufig erwähnt, und dies mit einem gewissen Recht. Innerhalb der Schriftlichkeit dieser Zeit sind die Volkssprachen mit nur etwa 3–5% des gesamten Bestandes vertreten und damit von einer quantitativen Bedeutungslosigkeit, die ganz im Gegensatz zu dem Interesse steht, das den Nationalliteraturen seit dem 19. Jahrhundert entgegengebracht wird.2 Wir vergegenwärtigen uns in der gebotenen Kürze die Rahmenbedingungen. In der Tat ist das ‘lange’ 12. Jahrhundert (mit seinem Einsetzen im ausgehenden 11. Jahrhundert) in der europäischen Kulturgeschichte ein Zeitraum grundsätzlichen Neubeginns. Beobachten lässt sich das auf zahlreichen Feldern der Kultur, u.a. in der Philosophie und Theologie mit Abaelard, den Viktorinern, Bernhard von Clairvaux und Rupert von Deutz, in den artes liberales mit Bernardus Silvestris, Wilhelm von Conches, Wilhelm von Hirsau oder Hildegard von Bingen, in der Geschichtsschreibung etwa mit Sigebert von Gembloux, Frutolf von Michelsberg oder Otto von Freising. Ebenso auch in der Literatur, doch meine ich hier 1
2
Paul Lehmann, „Die Vielgestalt des 12. Jahrhunderts“, zuerst in: Hist. Zs. 178 (1954), S. 225–250; erneut abgedruckt in: ders., Erforschung des Mittelalters, 5 Bde., Stuttgart 1959–1962, hier Bd. 3, S. 225–246 (danach zitiert). Es handelt sich um Schätzwerte, die von der Zeit um 1500 zurückgerechnet wurden. Zu den Größenordnungen im Verhältnis lateinischer gegenüber volkssprachlicher Schriftlichkeit siehe Peter von Polenz, der feststellt, „daß der lateinische Anteil an der deutschen Buchproduktion noch sehr lange dominierte: 90% (1518), 70% (1570), 28% (1740), 14% (1770)“ (Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 1: Einführung, Grundbegriffe, 14. bis 16. Jahrhundert, 2., überarbeitete und ergänzte Auflage, Berlin/New York 2000, S. 212); allgemein dazu auch Nikolaus Henkel, „Lateinisch / Deutsch“, in: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, hg. von Werner Besch und Oskar Reichmann, 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Bd. 4, Berlin/New York 2004 (HSK 2), S. 3171–3182, besonders S. 3178f.
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Nikolaus Henkel
vorerst nur die europäische Literatur, die nämlich in lateinischer Sprache: so etwa Adam von St. Viktor, Marbod von Rennes, Alanus ab Insulis, Walter von Châtillon. Nicht ohne eine gewisse Berechtigung hat man angesichts des omnipräsenten Innovationsschubs dieser Zeit von einer Renaissance des 12. Jahrhunderts gesprochen.3 Diesen nur grob skizzierten Rahmen der lateinischsprachigen Kulturtraditionen und ihres dynamischen und innovativen Aufbruchs ins Gedächtnis zu rufen, erscheint mir sinnvoll, denn nur innerhalb dieses Rahmens ist das Phänomen des sich in eben diesem Zeitraum etablierenden romanhaften Erzählens in der Volkssprache angemessen zu verorten. Wichtig erscheint mir dabei die kulturhistorische Blickrichtung. So sind die germanistisch eingeführten Bezeichnungen ‘vorhöfisch’ und ‘frühhöfisch’ für die frühe Literatur des 12. Jahrhunderts insofern irreführend, als sie retrospektiv, aus der Bewertung der Literatur um 1200 gewonnen sind und einen Status des noch nicht Erreichten benennen. Für unser Anliegen ist hingegen ein grundsätzlicher Perspektivenwechsel ratsam, ja notwendig, nämlich vom Beginn des 12. Jahrhunderts her auf die Anfänge des volkssprachigen Romans zu schauen. Nur aus dieser Perspektive erhält die Frage grundsätzliche Bedeutung, welches die kulturellen, oder enger: die literarischen Bedingungen gewesen sind für die Entstehung der neuen Textreihe des Romans, einer Textreihe, die sich innerhalb weniger Jahre zur Gattung formiert, deren frühe Vertreter sich jedoch nicht auf eine bereits etablierte Praxis des volkssprachlichen Erzählens beziehen konnten. Zu fragen ist also nach den der Gattungsbildung vorausgehenden literarischen Erfahrungen, nach den Modellen narrativer Strukturierung und sprachlichen Gestaltens, nach den poetologischen Prinzipien, die im Bewusstsein der Zeitgenossen präsent sind und das Erzählen in der großen Form, und dies auch noch in der Volkssprache, prägen. Es sind dies Fragen, die sich eigentlich nur aus der Perspektive der Bildungsgeschichte der Zeit beantworten lassen. Solchen Fragen und der Suche nach Antworten ist mein Beitrag gewidmet. Er gilt einem sehr speziellen Problem der Romanliteratur des 12. Jahrhunderts, der Gestaltung der Dialoge in den frühen Vertretern der Gattung und damit – in der Perspektive der Narratologie – den frühesten Ausprägungen des dramatischen Modus innerhalb der Narration.4 Wörtliche Figurenrede innerhalb der Erzählung ist das weitere Feld, innerhalb dessen ein markantes Detail untersucht werden soll, der schnelle Redewechsel.
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Siehe Charles Homer Haskins, The Renaissance of the 12th Century, Cambridge 1927; Gerhart B. Ladner, „Terms and Ideas of Renewal“, in: Renaissance and Renewal in the 12th Century, hg. von Robert L. Benson und Giles Constable, Cambridge/Mass. 1982, S. 1–33; Erwin Panofsky, Die Renaissancen der europäischen Kunst, Frankfurt a.M. 21984. Ebenso wird mehrfach auch die Renaissance der Karolingerzeit betont: Carolingian Culture: Emulation and Innovation, hg. von Rosamond McKitterick, Cambridge 1994; Lay Intellectuals in the Carolingian World, hg. von Patrick Wormald und Janet L. Nelson, Cambridge 2007. Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 6., vermehrte Auflage, München 2007, S. 51–55 (mit weiterführender Literatur).
Dialoggestaltung in deutschen und französischen Romanen des 12. Jahrhunderts
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Worum es geht, zeigt ein Beispiel aus dem Roman d’Eneas (um 1160). Eneas soll auf Geheiß der Götter Karthago und die Königin Dido verlassen; das wirft ihm die liebende Frau vor:5 „[...] Bien sui seüre de morir, quant ge vos vei de mei partir. Sire, por quei m’avez traïe?“ 1750 – „Ge nen ai, veir! la meie amie.“ – „Mesfis ge vos onkes de rien?“ – „Mei n’avez vos fait el que bien.“ – „Destruis ge Troie?“ – „Nenil, Greus.“ – „Fu ce par mei?“ – „Mais par les deus.“ – 1755 „Ai ge vos vostre pere ocis?“ – „Nenil, dame, gel vos plevis.“ – „Sire, por quei me fuiez donc?“ – „Ce n’est par mei.“ – „Et par cui donc?“ „C’est par les deus, ki m’ont mandé [...]“ – (Roman d’Eneas, v. 1747–1759) D: „Ich weiß genau, daß ich sterben werde, da ich euch von mir scheiden sehe. Herr, warum habt ihr mich verraten?“ – E: „Das habe ich nicht, fürwahr! meine Freundin.“ – D: „Habe ich euch jemals etwas Böses angetan?“ – E: „Nur Gutes habt ihr mir getan.“ – D: „Habe ich Troja zerstört?“ – E: „Nein, die Griechen.“ – D: „Geschah dies durch mich?“ – E: „Vielmehr durch die Götter.“ – D: „Habe ich euch euren Vater getötet?“ – E: „Nein, Herrin, das versichere ich euch.“ – D: „Herr, warum flieht ihr mich dann?“ – E: „Das ist nicht von mir aus.“ – D: „Und durch wen sonst?“ – E: „Es geschieht durch die Götter, die es mir aufgetragen haben [...]“.
Früh schon sind solch spezifische Formen der Dialoggestaltung, insbesondere die kurze Wechselrede, auch im deutschen höfischen Roman, vor allem in Eilharts von Oberge Tristrant und im Eneasroman aufgefallen. Moriz Haupt (1843) und Wilhelm Grimm (1846) hatten auf den Zusammenhang mit den frühen französischen Romanen hingewiesen.6 Franz 5
6
Le Roman d’Eneas, übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer, München 1972 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 9), S. 92f. In Interpunktion und Übersetzung weiche ich hier und im Folgenden gelegentlich von den zitierten Textausgaben ab. – Die Handschriften verfahren in der Behandlung des schnellen Redewechsels z.T. unterschiedlich. Heranzuziehen ist deshalb in jedem Fall die große kritische Ausgabe: Eneas. Roman du XII e siècle, hg. von Jean-Jacques Salverda de Grave, 2 Bde., Paris 1925/1929 (Les classiques français du moyen âge 61/62), hier Bd. 2, S. 153. Im Fall der vorliegenden Stelle sind die folgenden Kürzungen zu beobachten: v. 1749f. fehlen in den Handschriften H und I; umfangreicher ist die Kürzung in Handschrift G, wo v. 1751–1759 fehlen. Moriz Haupt, „Zum Eraclius“, in: ZfdA 3 (1843), S. 158–182, hier S. 160; Haupt bezeichnet das Phänomen als „kurze wechselrede“, die „bei Eilhart von Oberge und Heinrich von Veldeke neue manier ist und im jahre 1156 gewiss keinem geläufig war“. – Wilhelm Grimm, „Athis und Prophilias“, in: Abhandlungen der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Philologischhistorische Klasse 1846, S. 347–467, erneut abgedruckt in: ders., Kleinere Schriften, hg. von Gustav Hinrichs, Bd. 3, Berlin 1883, S. 212–336, hier S. 245–247. Zum Fehlen der „kurzen Wechselrede“ in der Heldenepik, im Gegensatz zum französisch geprägten Roman, bemerkte Grimm (mit Verweis auf Karl Lachmann, zu Iwein, v. 3637): „damals war die jugendliche Kunst noch zu un-
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Nikolaus Henkel
Lichtenstein (1877) hatte auch schon das einschlägige Material aus dem Tristrant zusammengestellt.7 Es geht im folgenden Beitrag aber nicht um die Beschreibung des allenthalben im frühen französischen und deutschen Roman zu beobachtenden Verfahrens der Dialoggestaltung; dazu liegen neben den erwähnten älteren Arbeiten jetzt auch neuere Beiträge, u.a. von Maria E. Müller, Anja Becker und Nine Miedema vor.8 Vielmehr geht es in den folgenden Ausführungen um die Frage, welches die vorgängigen Modelle der Dialoggestaltung und hier speziell des schnellen Redewechsels in den frühen Romanen sind.9 Ich gehe zunächst aus von einer bildungsgeschichtlichen Skizze der literarischen Erfahrungsräume, die den allesamt litteraten Autoren höfischer Romane im 12. Jahrhundert zugänglich waren (I.) und verorte in diesem Rahmen die Beschäftigung mit der Dialoggestaltung in der Dramatik der Antike, wie wir sie im Schulbetrieb des Hochmittelalters beobachten können (II.). Ein besonderer Blick soll dann der für das 12. Jahrhundert typischen Textgruppe der sogenannten Elegienkomödie gelten, in der sich die Anwendung dramatischer Dialogstrategien im Zusammenhang der Narration gut verfolgen lässt (III.). Von dort aus soll der Ausgangspunkt für die Einschätzung der Dialoggestaltung im höfischen Roman gewonnen werden. Die Aufmerksamkeit gilt hier insbesondere dem schnellen Redewechsel, in dem der spezifisch dramatische Modus epischen Gestaltens aber besonders zur Geltung kommt (IV.). Zu fragen ist schließlich, wie die Redewechsel in den Handschriften bezeichnet werden (V.) und wie solche Redewechsel im performativen Vollzug hochmittelalterlicher Vorlesekultur zu gestalten waren (VI.).
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schuldig und langte mit einfachen Mitteln aus“ (ebd., S. 245). Vgl. zu einem Einzelfall auch Wilhelm Ludwig Holland, „Die kurze Wechselrede im Altfranzösischen“, in: Germania (hg. von Franz Pfeiffer) 1 (1856), S. 241. Eilhart von Oberge, hg. von Franz Lichtenstein, Straßburg/London 1877 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 19), Nachdruck Hildesheim/New York 1973, S. CLXXIf. Maria Elisabeth Müller, „Vers gegen Vers. Stichomythien und verwandte Formen des schnellen Sprecherwechsels in der mittelhochdeutschen Epik“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 117–137; Anja Becker, Poetik der wehselrede. Dialogszenen in der mittelhochdeutschen Epik um 1200, Frankfurt a.M. 2009 (Mikrokosmos 79), besonders S. 116–131; Nine Miedema, „Stichomythische Dialoge in der mittelhochdeutschen höfischen Epik“, in: Frühmittelalterliche Studien 40 (2006), S. 263–281. Siehe auch den Beitrag von Ricarda Bauschke im vorliegenden Band, insbesondere S. 90–92. Angeregt ist der folgende Beitrag durch die Beschäftigung mit der mittelalterlichen Rezeption zweier römischer Dramatiker im deutschen Mittelalter im Rahmen der entsprechenden Handbuchartikel, siehe: Nikolaus Henkel, „Seneca d.J., Lucius Annaeus“, in: 2VL 8 (1992), Sp. 1080–1099, hier Sp. 1082f.; ders. und Franz Josef Worstbrock, „Terenz“, in: ebd. 9 (1995), Sp. 698–709.
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I. Literarische Erfahrungsräume von umfassender Vielfalt und Differenziertheit eröffnete im frühen und hohen Mittelalter einzig der Bildungsbetrieb der Lateinschulen der Kathedralen und Klöster. Die Lektüre der auctores der antiken und mittelalterlichen Literatur führte zur intensiven Aneignung von Modellen der Gestaltung sowohl im Bereich Poetik allgemein als auch der großräumigen Strukturbildung wie auch der sprachlichen Formung im Detail. Das Studium von Vergils Aeneis beispielsweise zeigte, wie das Modell der epischen Zweiteilung funktionierte, wie innerhalb der Makrostruktur Korrespondenzen und strukturelle Verbindungen gestaltet wurden, wie sich in der Prägung des sprachlichen Details mikrostrukturelle Sinnstiftung erreichen ließ. Die die Lektüre stützende Begleitung durch die spätantiken und mittelalterlichen Kommentare eröffnete darüber hinaus Einblicke in poetologische und stilistische Prinzipien der Gestaltung. Wenn wir die auctores-Handschriften aus dem Schulbetrieb des 11./12. Jahrhunderts studieren, beobachten wir, wie all diese Elemente des Gestaltens sorgfältig durch kommentierende Randbemerkungen oder in eigenen Kommentaren herausgearbeitet wurden. Dabei ging es bei der Beschäftigung mit den auctores keineswegs nur um ein rezeptives Aufnehmen der Texte, sondern vielmehr um ein praktisches Lernen an den Texten, das zur Fähigkeit des eigenen literarischen Gestaltens führen sollte und nachweislich führte. Kaum überschaubar ist die Fülle lateinischer Dichtungen des Hochmittelalters, in denen Sujets der auctores-Lektüre reformuliert, zu neuen, eigenen Dichtungen gestaltet wurden und mit einer veränderten, zeittypischen Perspektivierung versehen sind.10 So kennen wir aus dem 12. Jahrhundert mehrere lateinische Dido-Dichtungen, die nicht mehr den dominierenden Willen der Götter anerkennen, der Aeneas zur Weiterfahrt und Dido in den Tod treibt, sondern das Recht des weiblichen Individuums auf Liebe in den Mittelpunkt stellen.11
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Siehe etwa zur an Texten reichen Ovid-Nachfolge Paul Lehmann, Pseudo-antike Literatur des Mittelalters, Leipzig 1927, Nachdruck Darmstadt 1964; Paul Gerhard Schmidt, „Causa Aiacis et Ulixis I–II. Zwei ovidianische Streitgedichte des Mittelalters“, in: Mittellateinisches Jahrbuch 1 (1964), S. 100–132; Michael D. Reeve, „The Tradition of De tribus puellis“, in: Mittellateinisches Jahrbuch 29 (1985), S. 124–127. Eine neue Reihe von Publikationen kleinerer Pseudo-Ovidiana eröffnet Thomas Klein, „Hallenser Studien zum christlichen Ovid des Mittelalters“, in: Mittellateinisches Jahrbuch 41 (2006), S. 33f.; vgl. ebd., S. 35–52: Vinko Hinz, „Kann denn Liebe Sünde sein? Kleriker im Gefolge der Venus beim mittelalterlichen Ovid“ mit der Publikation und Kommentierung eines 44 Verse umfassenden Gedichts in der Ovid-Nachfolge. Vgl. die Dido-Dichtungen in Sequenzform in: Carmina Burana [CB] 98–100; eine weitere, mit CB 100 verwandte Dichtung veröffentlichte Otto Schumann, „Eine mittelalterliche Klage der Dido“, in: Liber Floridus. Mittellateinische Studien. Paul Lehmann zum 65. Geburtstag am 13. Juli 1949 gewidmet, hg. von Bernhard Bischoff und Heinrich Suso Brechter, St. Ottilien 1950, S. 319–328. Siehe zu den Dido-Dichtungen insgesamt Peter Dronke, „Dido’s Lament: From Medieval Latin to Chaucer“, in: Kontinuität und Wandel. Lateinische Poesie von Naevius bis Baudelaire. Festschrift für Franco Munari, Hildesheim 1986, S. 364–390.
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Bildungsgeschichtlich gesehen, sind die Lateinschulen des hohen Mittelalters einerseits Orte der Vermittlung praktischer und theoretischer Kenntnisse auf den Feldern der artes, andererseits regelrechte Laboratorien kulturellen Lernens, insbesondere auch des kreativen Umgangs mit Sprache sowie mit Literatur und den poetologischen Maßgaben ihrer Gestaltung. Vor dem Hintergrund eines solchermaßen institutionalisierten produktiven Umgangs mit literarischer materia in lateinischer Sprache sind die frühen Zeugnisse volkssprachlichen Erzählens als Ergebnisse eines kulturellen Lernprozesses zu analysieren. Bislang hat im Wesentlichen der französisch-deutsche Kulturtransfer im Mittelpunkt des germanistischen Fachinteresses gestanden. Hier nun wird der europaweit zu beobachtende, gewissermaßen schichtenspezifisch abzubildende Austausch zwischen kulturellem Wissen und literarischer Praxis der lateinischsprachigen Kultur und den in den Volkssprachen sich ausbildenden Kulturen in den Blick gefasst. Insofern sind etwa die frühen französischen Romangestaltungen des Theben-, Troja- oder Eneas-Stoffes, die in den Jahren von etwa 1150–1175 entstehen, zwar innovativ, weil sie die Volkssprache benutzen und damit ein neues Publikum ansprechen.12 Sie ruhen aber auf den Erfahrungen literarisch-sprachlichen Gestaltens, die vorgängig in lateinischer Sprache gemacht wurden und die für den europäischen Kulturraum ganz bezeichnend sind.13
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Vgl. zu dieser Gruppe die Gattungsuntersuchung von Udo Schöning, ‘Thebenroman’ – ‘Eneasroman’ – ‘Trojaroman’. Studien zur Rezeption der Antike in der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts, Tübingen 1991 (Beihefte zur ZfromPh 235). Früh hat darauf schon aufmerksam gemacht Ernst Robert Curtius in seinen in den ausgehenden 30er und beginnenden 40er Jahren in rascher Folge gedruckten Beiträgen zur Literarästhetik des europäischen Mittelalters: „Zur Literarästhetik des Mittelalters“ I–III, in: ZfromPh 58 (1938), S. 1– 50; S. 129–232; S. 433–479; „Dichtung und Rhetorik im Mittelalter“, in: DVjs 16 (1938), S. 435– 475; „Scherz und Ernst in mittelalterlicher Dichtung“, in: Roman. Forschungen 53 (1939), S. 1–26; „Die Musen im Mittelalter. Erster Teil: bis 1100“, in: ZfromPh 59 (1939), S. 129–188; „Theologische Kunsttheorie im spanischen Barock“, in: Roman. Forschungen 53 (1939), S. 145–184; „Theologische Poetik im italienischen Trecento“, in: ZfromPh 50 (1940), S. 1–15; „Der Archipoeta und der Stil der mittellateinischen Dichtung“, in: Roman. Forschungen 54 (1940), S. 105–164; „Mittelalterlicher und barocker Dichtungsstil“, in: Modern Philology 38 (1941), S. 325–333; „Beiträge zur Topik der mittellateinischen Literatur“, in: Corona Quernea. Festschrift für Karl Strecker, Leipzig 1941, S. 1–14; „Topica“, in: Roman. Forschungen 55 (1941), S. 165–183; „Zur Danteforschung“, in: Roman. Forschungen 56 (1942), S. 3–22; „Rhetorische Naturschilderung im Mittelalter“, in: Roman. Forschungen 56 (1942), S. 219–256. – Lediglich einen Extrakt aus diesen Studien bietet das für die breite Öffentlichkeit bestimmte, 1948 erstmals erschienene, in den folgenden Jahren begeistert aufgenommene und in den letzten Jahren wieder ins Bewusstsein gerückte Werk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948; geringfügig überarbeitet: 7. Auflage, Bern/München 1969 u.ö. – Zum bildungsgeschichtlichen Hintergrund literarischen Gestaltens um 1200 siehe beispielhaft Franz Josef Worstbrock, „Dilatatio materiae. Zur Poetik des ‘Erec’ Hartmanns von Aue“, in: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1–30, erneut abgedruckt in: ders., Ausgewählte Schriften, hg. von Susanne Köbele und Andreas Kraß, Bd. 1, Stuttgart 2004, S. 197– 227.
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II. Vor diesem Hintergrund fragen wir nach solchen Modellen der Dialoggestaltung, die zu Beginn des 12. Jahrhunderts eine notwendig breite Präsenz in der Bildungswelt der litterati entwickelt haben und so die Gestaltung von Dialogen im volkssprachlichen Erzählen geprägt haben könnten. Das Epos, sowohl das antike wie auch die Vertreter der Gattung im Mittelalter, boten dazu wenig Einschlägiges. Anders die Dramen der Antike. Dabei ist festzuhalten, dass das römische Drama als performativ gestaltetes Ereignis der Aufführung mit der Antike untergegangen ist. Was geblieben ist, sind die Texte und auch die nur in gewissen Einschränkungen. Der Text der Komödien des Plautus ist bis zu seiner Wiederentdeckung in der Renaissance dem Mittelalter weitgehend unbekannt geblieben.14 Der Querolus, eine Umarbeitung der plautinischen Aulularia, hat als Prosabearbeitung eine beschränkte Resonanz gefunden, und Vitalis von Blois beruft sich in seinen nach plautinischen Mustern angelegten Stücken mehrfach auf Plautus,15 doch ändert das nichts an der grundsätzlich geringen Repräsentanz des gesamten plautinischen Corpus. Ganz anders das wesentlich schmalere Corpus der sechs Komödien des Terenz.16 Ihre Aufführungsgeschichte endet zwar bereits in der augusteischen Zeit. Jedoch der gepflegte stadtrömische Konversationsstil dieser Stücke wie auch die Durchsetzung mit sentenzhaften Prägungen dürften ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass diese Komödien seit der Spätantike und bis ins 16. Jahrhundert als Leseliteratur geschätzt wurden.17 Birger Munk Olsen, 14
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Siehe Texts and Transmission. A Survey of the Latin Classics, hg. von Leighton Durham Reynolds, Oxford 1983, S. 302–307. – Birger Munk Olsen, L’étude des auteurs classiques aux XI e et XII e siècles, Bd. 1–2: Catalogue des manuscrits classiques du IX e au XII e siècle, Paris 1982, Bd. 2, S. 229–241. Zur Bedeutung der Plautus-Handschrift des 10. Jahrhunderts, die Nikolaus Cusanus 1429 in der Kölner Dombibliothek fand und die er dem Kardinal Giordano Orsini nach Rom brachte (heute Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Vat. lat. 3870), siehe Johannes Helmrath, „Diffusion des Humanismus und Antikerezeption auf den Konzilien von Konstanz, Basel und Ferrara / Florenz“, in: Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, hg. von Ludger Grenzmann, Klaus Grubmüller, Fidel Rädle und Martin Staehelin (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, 3. Folge, 263), Göttingen 2004, S. 9–54, hier S. 22 mit weiterer Literatur. Siehe dazu Munk Olsen (wie Anm. 14), Bd. 2, S. 234, sowie die bei Max Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. 3, München 1931, S. 1016, aufgeführten Zeugnisse. Den neueren Forschungsstand fasst zusammen Jürgen Blänsdorf, „Terentius Afer“, in: Der Neue Pauly. Altertum, Bd. 12, Stuttgart/Weimar 2002, Sp. 149–154. Zur Überlieferung siehe die Übersicht in Texts and Transmission (wie Anm. 14), S. 412–420. Die erhaltenen Handschriften verzeichnet Munk Olsen (wie Anm. 14), Bd. 2, S. 583–653; Bd. 3,2, S. 132–138 und 192; Nachträge dazu: ders., „Chronique des manuscrits classiques latins (IXe–XIIe siècles)“, in: Revue d’histoire des textes 21 (1991), S. 37–76. Markant ist die Repräsentanz von Terenz-Zitaten in Florilegien des 9.–12. Jahrhunderts; siehe dazu Birger Munk Olsen, „La popularité des textes classiques entre le IXe et le XIIe siècle“, in: Revue d’histoire des textes 14–15 (1986), S. 169–181, erneut abgedruckt in: ders., La réception de la litté-
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dem wir das Repertorium der früh- und hochmittelalterlichen Handschriften der antiken Autoren verdanken, zählt bis gegen 1200 weit über 100 Handschriften, ein Großteil davon aus dem 12. Jahrhundert, darunter zahlreiche Zeugen mit schulmäßiger Ausstattung (Glossen, Marginalnotizen, Kommentare).18 Gelesen hat man die Komödien des Terenz als Prosatexte der Figurenrede, bei denen in den Handschriften der jeweilige Sprecher durch eine Namenssigle bezeichnet wurde.19 Eingeleitet wurde jede Komödie durch ein den Inhalt knapp zusammenfassendes argumentum sowie durch einen Prolog, in dem das Anliegen des Autors, die Auseinandersetzung mit Gegnern und / oder das Verhältnis zur zeitgenössischen und voraufgehenden Literatur angesprochen wurden. Seit dem 10., vermehrt im 11. und 12. Jahrhundert können wir beobachten, dass die Komödien des Terenz im französischen wie im deutschen Sprachraum zur Schullektüre gehörten und damit im literarischen Erfahrungs- und Sozialisationsraum der klerikal gebildeten litterati präsent waren.20 Ein Beispiel soll zeigen, wie der schnelle Wechsel in der Figurenrede in den Komödien des Terenz aufscheint. Ich nehme es aus der Andria. Verhandelt wird hier das vielfach in der Gattung gestaltete Thema, dass sich junge Leute von den Eltern nicht vorschreiben lassen, wen sie lieben sollen. Der alte Simo, der seinen Sohn gerne verheiraten möchte,
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rature classique au Moyen Age (IX e–XII e siècle), Kopenhagen 1995, S. 21–34; siehe hier die Tabelle S. 29f. Munk Olsen (wie Anm. 14), Bd. 2, S. 583–653. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Williram von Ebersberg in seiner Bearbeitung des Canticum canticorum die Sprecherwechsel von Braut und Bräutigam, Vox synagoge / ecclesiae oder Vox Christi / sponsae als comico stylo angelegt sieht, vgl. zu den voces im Hohenlied: Friedrich Ohly, „Zur Gattung des Hohenlieds in der Exegese“, in: ders., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung, hg. von Uwe Ruberg und Dietmar Peil, Stuttgart/Leipzig 1995, S. 94–112, besonders S. 96: „Die Zuordnung des Hohenlieds zu den Gattungen des Dramas (genus dramaticum oder comicus stilus) [...] zählt zum einigermaßen festen Bestand der Kommentare bis ins hohe Mittelalter“. – Siehe auch Henrike Lähnemann und Michael Rupp, „Von der Leiblichkeit eines ‘gegürteten Textkörpers’. Die ‘Expositio in Cantica canticorum’ Willirams von Ebersberg in ihrer Überlieferung“, in: Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters. Freiburger Kolloquium 2004, hg. von Eckart Conrad Lutz, Berlin 2006 (Wolfram-Studien 19), S. 95–116, besonders S. 99. Walther von Speyer erwähnt in seinem literarisch stilisierten Libellus scolasticus Terenz (wie auch alle anderen Autoren) nur knapp und auf Terenzens Beinamen Afer anspielend: Africa pręsentat secum comoedia Davus (Peter Vossen, Walther von Speyer, Libellus scolasticus. Ein Schulbericht aus dem Jahre 984, Berlin 1962, v. 101, S. 9; siehe auch den Kommentar zur Stelle, ebd., S. 89f.). Winrich von Trier, Konrad von Hirsau und Otloh von St. Emmeram heben ebenfalls die Bedeutung des Terenz für die Bildung ihrer Zeit hervor. Nikolaus von Bibra charakterisiert in seinem Carmen satiricum den Bildungsgang des Juristen Heinrich vor Kirchberg, der neben anderen Autoren auch den listig-gewieften Terenz kenne (Quam fuerit vafer nosti Terentius Afer, ‘du weißt auch, wie klug Terentius Afer gewesen ist’ [Der ‘Occultus Erfordensis’ des Nicolaus von Bibra, hg. von Christine Mundhenk, Weimar 1997 (Schriften des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 3), S. 116, v. 39; Kommentar ebd., S. 313]).
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belauscht gerade seinen Sklaven Davus, der ihm einen Strich durch die Rechung machen will, beim Selbstgespräch und stellt den Sklaven zur Rede:21
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[...] SI: carnufex quae loquitur? DA: erus est neque provideram. SI: Dave. DA: hem quid est? SI: eho dum ad me. DA: quid hĭc volt? SI: quid ais? DA: qua de re? SI: rogas? meum gnatum rumor est amare. DA: id populu’ curat scilicet. SI: hoccin agis an non? DA: ego vero istuc. SI: sed nunc ea me exquirere iniqui patris est [...]. (Terenz, Andria, v. 183–187)
SI: (für sich) Was redet der Halunke da? DA: (für sich) mein Herr! Und ich habe ihn nicht erwartet! SI: Davus. DA: Hm, was ist los? SI: He, komm einmal her! DA: (für sich) Was will er? SI: Was sagst du? DA: Wieso? SI: Du fragst? Man redet, mein Sohn habe ein Liebesverhältnis. DA: Natürlich, um so etwas kümmert sich das Volk. SI: He, hörst du oder nicht? DA: Natürlich tue ich das. SI: Doch wäre es mir als Vater hart, danach weiter zu forschen.
Dialoge mit solch schnellen Redewechseln sind in den Komödien des Terenz ungemein häufig, ja, sie prägen seinen colloquialen Komödienstil.22 Der Gattung Drama entsprechend ergibt sich der narrative Fortgang der Handlung aus der reinen Figurenrede. Ihr Einsatz und Wechsel ist in den Handschriften – vergleichbar den modernen Ausgaben – lediglich gekennzeichnet durch die Namenssiglen der jeweiligen Sprecher.23 In der bildungsgeschichtlichen Situation des europäischen Mittelalters boten solche Texte das ideale Schulungsmaterial für den aktiven colloquialen Gebrauch des Lateinischen. Ihre Attraktivität im mittelalterlichen Schulbetrieb gewannen die Komödien des Terenz als gelesene Texte also einerseits aus dem unterhaltsamen und über die Sentenzen auch didaktisch instrumentalisierbaren Gegenstand, andererseits als Instrument zur Schulung des aktiven Sprachgebrauchs. Die für die Texte des Terenz überkommene Gattungsbezeichnung comoedia hat auch das Mittelalter verwandt, jedoch ganz anders definiert als die Antike, nämlich als Text, der von 21
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Zitiert nach: P. Terenti Afri Comoediae, hg. von Robert Kauer und Wallace M. Lindsay, Oxford 1961. Ich greife nur einige Beispiele von vielen heraus: Andria, v. 23f., 265ff., 301–337, 338–352, 412– 425, 432ff. u.a.m. – Heauton Timoroumenos, v. 77–95, 158–170, 179–193, 242–256, 308–321, 374–380, 400–409 u.a.m. – Eunuchus, v. 207–225, 270–285, 304–330 u.a.m. – Phormio, v. 191– 216, 315–325, 372–401, 539–544 u.a.m. Isidor von Sevilla nutzt diese Eigenschaft zur Gattungsabgrenzung. Es gebe drei Sprechweisen (characteres dicendi), die eine, bei der nur der Dichter spreche (wie in Vergils Landbaugedicht, den Georgica), eine weitere, nämlich die dramatische Sprechweise, in der der Dichter nirgends rede (alium dramaticum, in quo nusquam poeta loquitur, ut est in comoediis et tragoediis). Dazu komme eine dritte ‘gemischte’ (mixtum) Sprechweise, in der sowohl der Dichter als auch eingeführte Figuren sprechen, wie zum Beispiel in der Aeneis (Isidori Hispalensis episcopi Etymologiarum sive Originum libri XX, hg. von Wallace M. Lindsay, Oxford 1911, Nachdruck Oxford 1971, 8,7,11).
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Privatpersonen und fröhlichen Begebenheiten handele, traurig beginne, aber zu einem guten Ende führe. Im Gegensatz dazu steht die tragoedia, die froh beginne, aber in Trauer und Leid ende.24 Diese Definition von tragoedia wird angewandt auf die – auch nach unserem Verständnis der Gattung zugehörigen – Tragödien des Seneca, gilt aber nach mittelalterlicher Anschauung ebenso etwa für das spätrömische Bürgerkriegsepos De bello civili des Lucan, und im Hochmittelalter bezeichnet etwa der Chronist Otto von Freising die von ihm dargestellte Geschichte als tragedia.25 Verglichen mit den Komödien des Terenz bieten die Tragödien des jüngeren Seneca ein ganz entsprechendes Bild von der Gestaltung der Figurenrede.26 Auch dazu ein Beispiel; es stammt aus dem Agamemnon. Als siegreicher Feldherr kehrt Agamemnon aus dem zerstörten Troja in die griechische Heimat zurück, in seinem Gefolge Helena wie auch, als Gefangene, die troische Seherin Cassandra, die Tochter des greisen Priamus, den die Griechen im Heiligtum bei der festlichen Opferfeier vor dem Altar erschlagen haben. Cassandra sieht in unserer Passage das Schicksal des Agamemnon, der von seiner Gemahlin erschlagen werden wird, bereits voraus, während dieser sich dem Siegesjubel hingibt. In schnellen Redewechseln mit Agamemnon, der ihre Vorausdeutung nicht versteht, entwirft Cassandra die düstere Vision von der Parallelität der Tode des Priamus und des siegreichen Agamemnon:27 24
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Früh ist diese Anschauung mit ihrer Definition der Ständeklausel bei Isidor von Sevilla zu beobachten, von wo sie durch das Mittelalter tradiert wurde. Im Kapitel De poetis heißt es: comici privatorum hominum praedicant acta; tragici vero res publicas et regum historias. Item tragicorum argumenta ex rebus luctuosis sunt: comicorum ex rebus laetis (Isidori Hispalensis episcopi Etymologiarum sive Originum libri XX [wie Anm. 23], 8,7,6). Durchaus konsequent werden neben die älteren Autoren der Komödie: Plautus, Accius und Terenz, die jüngeren gestellt, nämlich die Verfasser von Satiren, a quibus generaliter vitia carpuntur, zu denen Isidor die römischen Satiriker Horaz, Persius und Juvenal zählt (ebd., 8,7,7). Siehe hierzu auch Lateinische Comediae des 12. Jahrhunderts, ausgewählt und übersetzt von Joachim Suchomski und Michael Willumat, Darmstadt 1979 (Texte zur Forschung 32), S. 18f. Ottonis episcopi Frisingensis Chronica sive Historia de duabus civitatibus, hg. von Adolf Hofmeister (MGH, Series Scriptores), Hannover/Leipzig 1912, und zwar im Widmungsbrief an Kaiser Friedrich I., hier S. 3, Z. 2 (in modum tragediae), und im Prolog, S. 7, Z. 9f. Siehe zu tragedia bei Otto von Freising auch Fritz Peter Knapp, „Tragoedia und Planctus. Der Eintritt des Nibelungenliedes in die Welt der litterati“, in: Nibelungenlied und Klage. Sage, Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985, hg. von Fritz Peter Knapp, Heidelberg 1987, S. 152– 170. Siehe zu Seneca den zusammenfassenden Bericht von Joachim Dingel, „L. Annaeus Seneca“, in: Der Neue Pauly. Altertum, Bd. 11, Stuttgart/Weimar 2003, Sp. 411–419; zur Seneca-Rezeption siehe auch Henkel, „Seneca d.J.“ (wie Anm. 9). L. Annaei Senecae Tragoediae, hg. von Otto Zwierlein, Oxford 1986, S. 284; siehe auch Otto Zwierlein, Kritischer Kommentar zu den Tragödien Senecas, Wiesbaden/Stuttgart 1986, hier S. 287f. zur oben zitierten Stelle. Vgl. zur Dialoggestaltung insbesondere Seneca, Agamemnon, hg. und kommentiert von Richard John Tarrant, Cambridge 1976, S. 320f. – Eine zweisprachige Ausgabe bietet: Seneca, Sämtliche Tragödien. Lateinisch und deutsch, übersetzt und erläutert von Theodor Thomann, 2 Bde., Zürich 1961/1969.
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A: [...] festus dies est. – C: Festus et Troiae fuit. A: Veneremur aras. – C: Cecidit ante aras pater. A: Iovem precemur pariter. – C: Herceum Iovem? A: Credis videre te Ilium? – C: Et Priamum simul. A: Hic Troia non est. – C: Ubi Helena est, Troiam puto. A: Ne metue dominam famula. – C: Libertas adest. A: Secura vive. – C: Mihi mori est securitas. A: Nullum est periclum tibimet. – C: At magnum tibi. A: Victor timere quid potest? – C: Quod non timet. (Seneca d.J., Agamemnon, v. 791– 799)
Wegen des hier nicht weiter zu entfaltenden Kontextes gebe ich eine leicht kommentierende Übersetzung: A: [...] Dies [der Tag der siegreichen Heimkehr] ist ein Festtag. C: Festlich war der Tag [damals] auch in Troia [als Priamus am Opferaltar erschlagen wurde]. A: Lasst uns die Altäre verehren. C: Gefallen ist vor den Altären der Vater [Priamus]. A: Jupiter wollen wir gemeinsam anflehen. C: Den Jupiter Herceus [den Schützer des häuslichen Friedens, dessen Altar vom Blut des Priamus bespritzt wurde]? A: Du glaubst, Troia vor Augen zu haben? C: Und zugleich Priamus. A: Hier ist aber nicht Troia. C: Wo Helena ist, vermute ich Troia [und ebensolches Unglück]. A: Fürchte auch als Dienerin nicht die Herrin [= Helena]. C: Nun ist die Freiheit da. A: Lebe in Sicherheit. C: Mir ist zu sterben meine Sicherheit. A: Für dich besteht keine Gefahr. C: Doch große für dich. A: Was kann der Sieger fürchten? C: Gerade das, was er nicht fürchtet. [Nämlich, dass er von seiner eigenen Gattin und deren Liebhaber erschlagen werden wird.]
Soweit dieses Beispiel. Stellen wie diese mit solch schnellen Redewechseln finden sich in den Tragödien des Seneca wie auch in der ihm als Vorbild dienenden griechischen Tragödie an zahlreichen Stellen.28 Aber zwischen den Dramen Senecas und denen des Terenz gibt es bedeutende Unterschiede hinsichtlich ihrer bildungsgeschichtlichen Relevanz im Hochmittelalter. Die Überlieferung der Tragödien des Seneca ist deutlich geringer, ihre Verbreitung bis gegen 1200 ist nicht sonderlich ausgeprägt, z.T. auf Florilegien beschränkt und vornehmlich in Italien und Frankreich zu belegen; ihnen fehlt vor allem eine deutlich Präsenz im Bildungszusammenhang der hochmittelalterlichen Lateinschule.29 Selbst im 13. Jahrhundert
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Ich bringe nur einige markante Beispiele für solche schnellen Redewechsel: Hercules furens, v. 425– 430 (Megara – Lycus); v. 1186–1190, 1263–1267, 1297–1302 (Amphitryon – Hercules). – Troades, v. 489–495 (Senex – Andromacha); v. 663–668 (Ulixes – Andromacha). – Medea, v. 168–175 (Medea – Nutrix); v. 493–499, 506–530 (Iason – Medea). – Phaedra, v. 239–246 (Phaedra – Nutrix). – Oedipus, v. 697–704 (Oedipus – Creo). – Thyestes, v. 203–218, 246–266 (Atreus – Satelles); v. 440–445, 482–490 (Tantalus – Thyestes); v. 742–750 (Chorus – Nuntius); v. 1096–1106 (Atreus – Thyestes). – Agamemnon, v. 145–161 (Clytaemnestra – Nutrix); v. 953–977 (Clytaemnestra – Electra). – Dazu könnte man die lediglich Seneca zugeschriebene, im Corpus seiner Tragödien jedoch überlieferte und rezipierte Octavia rechnen. Einschlägige Stellen sind hier v. 184–188 (Octavia – Nutrix); v. 454–461, 581–587 (Nero – Seneca); v. 862–876 (Nero – Praefectus). Siehe dazu Giovanni Brugnioli, „La tradizione manoscritta di Seneca tragico alla luce delle testimonianze medioevali“, in: Memorie della Accademia Nazionale dei Lincei, Classe delle Scienze Morali 8,8,3 (1959), S. 201–287. – Richard H. Rouse, „The A Text of Seneca’s Tragedies in the Thirteenth Century“, in: Revue d’histoire des textes 1 (1971), S. 93–121.
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haben die Tragödien Senecas „keinen Platz im Schulkanon gefunden“.30 Als bildungsgeschichtlich breitenwirksames Modell für die Dialoggestaltung des höfischen Romans kommen sie daher nicht in dem Maße in Frage wie die Komödien des Terenz. Hingegen spricht die repräsentativere Überlieferung der Komödien des Terenz in Frankreich wie im deutschen Sprachraum und ihre Einbettung als Lese- und Studiertext in den Unterricht der hochmittelalterlichen Lateinschule dafür, in den hier gebotenen specimina dialogischen Sprechens, insbesondere auch des raschen Sprecherwechsels genau d a s literarische Modell zu sehen, das für die Gestaltung dialogischer Figurenrede in den lateinischen Elegienkomödien wie auch in den volkssprachigen Romanen des 12. Jahrhunderts einschlägig war.
III. Welche Bedeutung die antike Komödie als Formmuster im 12. Jahrhundert hatte, lässt sich aus einer der Poetiken der Zeit um 1200 entnehmen, dem Documentum de modo et arte dictandi des Galfried von Vinsauf. Sein Ausgangspunkt sind die Äußerungen des Horaz über die Komödie; sie sei aber heutzutage bei Hofe gänzlich verschwunden und gänzlich außer Gebrauch gekommen.31 Doch, so fährt Galfried fort, wolle er ausführen, wie ein scherzhafter Stoff in Art der Komödie zu gestalten sei. Die Wortwahl sei anspruchslos (levis) und alltäglich (communis); wenn es aber um den als Pointe gestalteten Höhepunkt (jocus; finis materiae) gehe, solle die Rede, so eindrücklich es geht, Schlag auf Schlag erfolgen: quanto expressius poterimus sequamur unum idioma per aliud, scilicet ut ita sedeat jocus in uno idiomate sicut in alio. Und Galfried liefert dazu gleich ein Beispiel; es stammt aus De clericis et rustico, einem dialogischen Text des 12. Jahrhunderts aus der Gruppe der Elegienkomödien. Zwei Kleriker, wohl Scholaren, und ein Bauer sind unterwegs auf einer Wallfahrt. Der Mundvorrat, den sie bei sich haben, reicht bestenfalls für zwei, nicht aber für alle drei. Als der Bauer zur Herberge vorangeht, beschließen die beiden Kleriker, also die Intellektuellen in dieser Runde, den Bauern zu betrügen. Zu dritt verabreden sie, derjenige solle sich an dem sparsamen Vorrat sattessen dürfen, der in der Nacht den wundersamsten Traum gehabt habe. Der Bauer, nicht so dumm wie seine Begleiter vermuten – und wie das Stereotyp es will –, wird argwöhnisch. Am Morgen erzählt der eine Kleriker, er habe vom Himmel geträumt und 30
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Eine instruktive und genaue Übersicht über die Geschichte des Tragödientextes von der Antike bis ins 13. Jahrhundert hat Peter Lebrecht Schmidt gegeben: „Rezeption und Überlieferung der Tragödien Senecas bis zum Ausgang des Mittelalters“, in: Der Einfluß Senecas auf das europäische Drama, hg. von Eckart Lefèvre, Darmstadt 1978, S. 12–73, erneut abgedruckt in: ders., Traditio Latinitatis. Studien zur Rezeption und Überlieferung der lateinischen Literatur, hg. von Joachim Fugmann, Martin Hose und Bernhard Zimmermann, Stuttgart 2000, S. 207–246 (danach zitiert), hier S. 244. Siehe auch Henkel, „Seneca d.J.“ (wie Anm. 9), Sp. 1083. [...] hodie penitus recesserunt ab aula et occiderunt in desuetudinem (zitiert nach: Lateinische Comediae des 12. Jahrhunderts [wie Anm. 24], S. 36).
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beschlossen, nicht mehr auf die Erde zurückzukehren, der andere von den Qualen der Hölle, wo man ihn festgehalten und die Rückkehr verwehrt habe. Der Bauer schließlich erzählt, er habe in seinem Traum gesehen, dass beide gewiss nicht zurückkehren würden, der eine nicht aus dem Himmel, der andere nicht aus der Hölle, und deshalb habe er den ganzen Mundvorrat alleine aufgegessen. Galfried von Vinsauf bietet in seiner Poetik als Musterbeispiel für dialogisches Gestalten den Anfang, das erste Distichon dieses Schwanks, in dem einer der drei die anderen auffordert, endlich zur Fahrt an den heiligen Ort aufzubrechen.32 „Consocii!“ – „Quid?“ – „Iter rapiamus!“ – „Quid placet?“ – „Ire Ad sacra!“ – „Quando?“ – „Modo!“ – „Quo? – „Prope fiat ita.“ (De clericis et rustico, v. 1f.) „Ihr Gefährten!“ – „Was ist los?“ – „Rasch auf den Weg!“ – „Was beliebt?“ – „Zum heiligen Ort zu gehen!“ – „Wann?“ – „Jetzt gleich!“ – „Wohin?“ – „Es ist ganz in der Nähe.“
Bemerkenswert ist die hier erreichte Personencharakteristik. Zwei ganz unterschiedliche Temperamente treffen in diesem Dialog aufeinander: Der eine, ein agiler Typ, treibt die Gefährten an, sich doch schleunigst auf den Weg zu machen: „Iter rapiamus“. Der andere, ein Muster an Trägheit, braucht lange, bis er begreift, was los ist, und sucht durch seine Fragen den anderen zu bremsen: „Quid?“ „Quid placet?“ „Quando?“ „Quo?“. Dialogisches Reden wird hier also als Instrument einer genauen Figurencharakteristik eingesetzt. Die Gattung der sogenannten Elegienkomödie ist in Frankreich etwa seit der Mitte des 12. Jahrhunderts nachweisbar, wenig später, wenngleich nur vereinzelt, finden sich Textzeugen auch im deutschen Sprachraum.33 Dabei ist die fachsprachliche Bezeichnung Elegienkomödie für die rund 20, meist aus dem 12. Jahrhundert stammenden Texte dieser Gruppe freilich irreführend.34 Die sogenannten Elegienkomödien nehmen zwar mehrfach auf antike Komödien Bezug, inhaltlich und vor allem mit den Namen der Figuren, doch gehören sie nicht zu der dem Hochmittelalter ja unbekannten Gattung des theatral aufgeführten Dramas. Es handelt sich vielmehr um meist schwankhafte Texte, in denen in der Regel ein Erzähler das Handeln und Sprechen der Figuren darstellt, begleitet und kommen32
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Ebd., S. 37. Der Text, der in nur zwei Handschriften erhalten ist, ist vollständig ediert von Enzo Cadoni, in: Commedie latine (wie Anm. 34), Bd. 2, S. 370–377. Siehe im Einzelnen die Nachweise in den Ausgaben; zu Belegen aus mittelalterlichen Bibliothekskatalogen siehe die Angaben bei Max Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. 3: Vom Ausbruch des Kirchenstreites bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts, München 1931, S. 1011–1040. Eine neuere Zusammenfassung gibt Michele Feo, „Elegienkomödien“, in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986), Sp. 1796f.; eine durch Inhaltsreferate und Materialien zur Überlieferung und Wirkung ergänzte ältere Darstellung bietet Manitius (wie Anm. 33), S. 1011–1040. Einzelausgaben sind bei Feo genannt, Sammelausgaben bieten: La ‘comédie’ latine en France, hg. von Gustave Cohen, 2 Bde., Paris 1931; auf neuerem Stand und mit umfangreichen Einleitungen versehen: Commedie latine del XII e XIII secolo, hg. von Ferruccio Bertini, 6 Bde., Genova 1976 (Bd. 1 und 2)/ 1980/1983/1986/1998.
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tiert. Und Edmond Faral hat bereits früh die Querverbindungen zur etwa zeitgleich entstehenden volkssprachlichen Gattung des Fabliau erkannt und die lateinische Elegienkomödie als „fabliau latin“ bezeichnet.35 Die in den Handschriften der Elegienkomödien mehrfach zu findende Bezeichnung comedia bezieht sich demnach lediglich auf ein inhaltsbezogenes Verlaufsmuster der Handlung, die zu einem guten, heiteren Ende geführt wird,36 nicht auf szenisch-dramatisches Handeln von Rollen im Sinne der antiken Komödie.37 Wie die Komödien des Terenz, so sind auch die Elegienkomödien mehrfach in Handschriften aus dem Schulmilieu überliefert, gehören also früh, vielleicht sogar konzeptionell und von Anfang an zu denjenigen Schultexten, die aus der Klassikerlektüre des Mittelalters produktiv hervorgegangen sind und im Bildungsbetrieb der Zeit eingesetzt wurden, weil sie sich für die Schulung colloquialer Praxis nutzen ließen.38 So bemerkt Stefano Pittaluga anlässlich seiner Edition des Panphilus, dieser Text „fu presto introdotto nelle scuole come testo di studio e considerato un’ auctoritas come un classico“.39 Das wird bestärkt durch das Zeugnis der in drei deutschen Handschriften überlieferten Accessus-Sammlung des 12. Jahrhunderts, die Einleitungen zu den in dieser Zeit benutzten (antiken und mittelalterlichen) Schultexten bieten, darunter auch zum eben erwähnten Panphilus: Dieser Text sei nützlich, weil durch die Lektüre jeder lernen solle, wie er sich ein Mädchen erobert, und er gehöre deshalb in den Bereich der Ethik, weil er von der Gesittung handele.40 Die Textgruppe der sogenannten Elegienkomödien adaptiert ganz offensichtlich das Dialogmodell des schnellen Redewechsels, wie es die Komödien des Terenz als einziges in dieser Zeit repräsentatives Vorbild bieten. Aus dem Studium der antiken Komödientexte wird auch die in den Handschriften der Elegienkomödien vielfach zu beobachtende Werkbezeichnung comedia übernommen, wenngleich in ihrer mittelalterlichen Definition. Diese 35 36
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Edmond Faral, „Le fabliau latin au moyen âge“, in: Romania 50 (1924), S. 321–385. So die im Mittelalter geläufige Definition von comedia, etwa bei Isidor von Sevilla; vgl. Joachim Suchomski, ‘Delectatio’ und ‘Utilitas’. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur, Bern 1975 (Bibliotheca Germanica 18), S. 99–157; zum komplementären Verständnis von tragoedia siehe Isidor von Sevilla, Etymologiae, 18,45, sowie den Beitrag von Knapp (wie Anm. 25). Die Bezeichnung comedia bieten die Handschriften u.a. der Aulularia (La ‘comédie’ latine en France [wie Anm. 34], Bd. 1, S. 73, App.); der Alda (ebd., S. 129); des Milo (ebd., S. 167); des Miles gloriosus (ebd., S. 195); der Lydia (ebd., S. 225, App.); des Babio (ebd., Bd. 2, S. 29, App.). So Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 312, u.a. mit Lydia und Alda, oder Lambach, Stiftsbibliothek, Cod. 100, mit der Alda (vgl. die Abbildungen in Commedie latine [wie Anm. 34], Bd. 6, nach S. 224). Siehe zur Einbettung in den Lektürekanon der Zeit auch Nikolaus Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1988 (MTU 90), S. 34 und Register. Panphilus, hg. von Stefano Pittaluga, in: Commedie latine (wie Anm. 34), Bd. 3, Genova 1980, S. 11–138, hier S. 13. Utilitas est, ut hoc libro perlecto unusquisque sciat sibi pulcras invenire puellas [...]. Ethicae subponitur quia de moribus loquitur (Accessus ad auctores, Bernard d’Utrecht, Conrad d’Hirsau, hg. von Robert B. Constantijn Huygens, Leiden 1970, S. 53).
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Textgruppe scheint mir neben den Komödien des Terenz insofern bedeutsam als Modell für die Dialoggestaltung erzählender Texte im 12. Jahrhundert, als sie die dialogische Figurenrede integriert in ein von einem Erzähler arrangiertes narratives Konzept. Bevor ich zu den volkssprachigen Romanen komme, will ich noch eine mir bemerkenswert erscheinende, wenngleich im Augenblick nur punktuelle Beobachtung mitteilen. Es geht um das lateinische Hexameterepos des Waltharius, der bekanntlich eine Sprossfabel der Nibelungensage für die Bildungsschicht der litterati verfügbar macht. In der fragmentarisch überlieferten Handschrift I aus dem 11. Jahrhundert wird das Werk offensichtlich als Lesetext für den Unterricht der Lateinschule geboten, und zwar mit schulmäßiger lateinischer und seltener deutscher Glossierung.41 Hier werden mehrfach die Einsätze von wörtlicher Personenrede durch ein über den Text gesetztes ait (‘er sagte’) als inquit-Formel gekennzeichnet. So etwa an der folgenden Stelle; Waltharius entgegnet einem der ihn angreifenden Gegner, der von ihm Genugtuung für das Leben eines erschlagenen Verwandten fordert:42 ait
Ille dehinc: „si convocar, quod proelia primus Temptarim [...]“ (Waltharius, v. 702f.)
Es ist klar, dass diese ait-Zusätze nicht in den Hexameter gehören. Aber offenbar hielt es der Glossator für notwendig, den Beginn der (in der Handschrift nicht interpungierten) Figurenrede durch eine solche Glossierung, die als inquit-Formel fungiert, zu markieren.43
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Siehe zur Handschrift und insbesondere zu den deutschen Glossen: Rolf Bergmann und Stefanie Stricker, Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften, 6 Bde., Berlin/New York 2005, Bd. 1, S. 202f. Übersetzung: Er sagte daraufhin: „Wenn mir nachgewiesen wird, dass ich als erster den Kampf aufgenommen habe [...]“. Waltharius, in: Lateinische Dichter des deutschen Mittelalters, Bd. 6: Nachträge zu den Poetae aevi Carolini, Teil 1, hg. von Karl Strecker, Weimar 1951 (MGH, Series Poetae 6,1), S. 24–83, hier S. 52. – Ebd., S. 8f., hat Strecker die verstreute Überlieferung der Fragmente dieser Handschrift zusammengetragen und (neben den hier notierten lateinischen und deutschen Glossen) auch die ait-Belege für v. 617, 702, 752, 798 (vor dem Vers stehend), 1041 notiert. Vgl. zu diesem Phänomen jetzt auch den Beitrag von Benedikt Konrad Vollmann, „Marginalglossen zu den ‘Waltharius’-Fragmenten aus Urbana“, in: ZfdA 135 (2006), S. 336–339. – Im Übrigen treten interlinear notierte Sprecherangaben vielfach auch in der mittelalterlichen Schulüberlieferung der römischen Epiker auf, wo sie ebenfalls als Verständnishilfe dienen. Ein weiteres Zeugnis, wenngleich aus wesentlich späterer Zeit, sind die offenbar im Vorgang der ‘Prosaisierung’ eingesetzten inquit-Formeln in Alpharts Tod. Die einzige erhaltene Handschrift (Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 856, 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts) bietet einen Text, dessen ursprünglich strophische Form weitgehend aufgelöst ist. Die im ehedem mündlichen Vortrag noch markierbaren Sprecherwechsel mussten offenbar im Vorgang der Ab- bzw. Umschrift des ehedem sangbaren Textes in einen Lesetext eigens durch inquit-Formeln markiert werden, worauf Elisabeth Lienert hingewiesen hat, vgl. die Nachweise in: Alpharts Tod – Dietrich und Wenezlan, hg. von Elisabeth Lienert und Viola Meyer, Tübingen 2007 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 3), S. 6.
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IV. Die ab etwa 1150 belegbaren sogenannten Elegienkomödien zeigen, wie dialogisches Sprechen, insbesondere das Verfahren schneller Redewechsel in narrative Texte eingebaut und hier kontextbezogen instrumentalisiert werden konnte. Dieses Verfahren lässt sich auch in den frühen französischen Romanen beobachten. So im Tristanfragment des Berol, wie ein Beispiel zeigen soll: Tristan versucht, zu Isolde zu gelangen, ist aber von einem Gefolgsmann Markes beobachtet worden; dieser sagt seinen Gefährten:44 „[...] Enuit verrez venir, par main.“ „Conment le sez?“ „Je l’ai veü.“ „Tristran?“ „Je, voire, et conneü.“ „Qant i fu il?“ „Hui main l’i vi.“ „Et qui o lui?“ „Cil son ami.“ „Ami? Et qui?“ „Dan Governal.“ 4300 „Ou se sont mis?“ „En haut ostal Se deduient.“ [...]. (Berol, Tristan, v. 4294–4301) 4295
„Heute nacht werdet Ihr ihn [sc. Tristan] kommen sehen, gegen Morgen.“ „Wieso wißt Ihr das?“ „Ich hab ihn gesehen.“ „Tristan?“ „Ja, wirklich, und erkannt.“ „Wann war er da?“ „Heute morgen habe ich ihn dort gesehen.“ „Und wen bei ihm?“ „Seinen Freund.“ „Freund? Wen denn?“ „Herrn Governal.“ „Wohin haben sie sich begeben?“ „In einer großen Herberge vergnügen sie sich.“
Dieses Spiel von Frage und Antwort im raschen Redewechsel hatten wir sowohl in den gelesenen Komödientexten des Terenz als auch in der Elegienkömodie beobachtet. Und es findet sich auch – worauf hier nicht mehr einzugehen ist – im Fabliau. Auch die beginnende deutschsprachige Gattungstradition, die sich auf französische Vorlagen gründet, zeigt die entsprechenden Gestaltungsmuster. Ich gebe dazu ein Beispiel aus dem französischen und dann aus dem deutschen Eneasroman. Eneas, nach dem Seesturm in Afrika gelandet, sendet seine Boten aus, die den Herrn des Landes aufsuchen und um Aufnahme bitten sollen. Die Boten finden die Stadt Karthago, finden die Königin Dido und kommen zurück. Eneas befragt sie. Im Roman d’Eneas lautet die Passage:45 645
650 44
45
[Eneas] „Qu’avez trové?“ – [die Boten] „Nos bien.“ – „Et quei?“ – – „Cartage.“ – „Parlastes al rei?“ – „Nenil.“ – „Por quei?“ – „N’i a signor.“ – „Quei donc?“ – „Dido maintint l’enor.“ – „Parlastes vos o li?“ – „Oïl.“ – „Menace nos?“ – „Par fei, nenil.“ –
Berol, Tristan und Isolde, hg. und übersetzt von Ulrich Mölk, München 1962 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 1), S. 206–208. Siehe auch die Ausgabe Tristan et Yseut. Les premières versions européennes, hg. von Christiane Marchello-Nizia, Paris 1995, S. 116f. Le Roman d’Eneas (wie Anm. 5), S. 40. – Auch hier kürzen zwei Handschriften den schnellen Redewechsel: In den Handschriften A und B fehlen v. 649f. – Heranzuziehen ist deshalb auch hier die große kritische Ausgabe von Salverda de Grave (wie Anm. 5), hier Bd. 2, S. 144.
Dialoggestaltung in deutschen und französischen Romanen des 12. Jahrhunderts
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„Et que dist donc?“ – „Pramet nos bien, seiez segurs, mar criembreiz rien. [...]“ (Roman d’Eneas, v. 645–652) „Was habt ihr vorgefunden?“ – „Gutes für uns.“ – „Und was?“ – – „Karthago.“ – „Spracht ihr mit dem König?“ – „Nein.“ – „Weshalb?“ – „Es gibt dort keinen Herrn.“ – „Was denn?“ – „Dido hat die Herrschaft inne.“ – „Spracht ihr mit ihr?“ – „Ja.“ – „Bedroht sie uns?“ – „Fürwahr, nein.“ – „Und was sagt sie also?“ – „Sie verspricht uns Gutes, ihr sollt in Sicherheit sein und nichts fürchten. [...]“
In Heinrichs von Veldeke Bearbeitung beobachten wir an der entsprechenden Stelle eine direkte, fast ‘übersetzende’ Übernahme des schnellen Redewechsels; hier lautet die Passage:46
610
615
620
her [= Eneas] sprach „waz habet ir funden?“ „allez gût.“ „unde waz?“ „Kartâgô.“ „waz ist daz?“ „ez ist ein borch hêre.“ „dorch got, saget mêre, is si verre?“ „nein, s’is nâ.“ „fundet ir den kunich dâ?“ „da nis kuneges niht.“ „wie denne sô?“ „dâ is diu frouwe Dîdô.“ „gesprâchet ir si?“ „jâ wir tâten.“ „wie fundet ir si?“ „wol berâten.“ „waz enbûtet sie uns?“ „allez gût.“ „meinet sie ez?“ „jâ si tût, sie enphienk uns mit minnen [...].“ (Eneasroman, v. 608–621)
Dazu ein weiteres Beispiel aus dem Tristrant Eilharts von Oberge, um 1180 nach französischer Vorlage, der Estoire, bearbeitet, die aber verloren ist. Wir wissen deshalb nicht, ob der französische Verfasser die nun folgende Stelle ebenso gestaltet hat. In der Badeszene entdeckt Isalde, dass der im Badezuber sitzende Tristrant, der den Drachen besiegt hat, derselbe Mann ist, der auch ihren Oheim im Kampf erschlagen hat. Sie klagt ihn an:47 „dû tête ouch obele wedir mich.“ „nein ich, zwâr.“ „daz meine ich: 1905 dû slûge doch tôd mînen nebin.“ 46
47
Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1986 (RUB 8303). Zu dieser Stelle und zu Veldekes Übernahme der Stichomythie siehe auch Miedema (wie Anm. 8), S. 269f. – Weitgehende Übereinstimmung zeigen etwa auch das Gespräch Didos mit Anna (Roman d’Eneas, v. 1272–1276 – Eneasroman, v. 1449–1480); vgl. weiter Roman d’Eneas, v. 1677–1687 – Eneasroman, v. 2018ff. oder Roman d’Eneas, v. 7887–7804 – Eneasroman, v. 9788–9868, wo Veldeke breiter oder ganz selbständig gestaltet. – Andererseits gibt es zahlreiche Beispiele, in denen Veldeke nicht dem schnellen Redewechsel der Vorlage folgt, z.B. Roman d’Eneas, v. 1750–1758 oder 8961–8992. Eilhart von Oberge (wie Anm. 7), S. 102f.
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„des ted mir nôd.“ „daz wizze ebin: dû mûst in geldin.“ „wâ mete?“ „mit dem lîbe.“ „daz en ist nicht sete daz man lîp gebe umme lîp; 1910 nein, schône zartez wîp, sal ich den setin lernen?“ „jâ dû.“ „daz tû ich gar ungerne.“ [...] (Eilhart von Oberge, Tristrant, v. 1903–1912)
Freilich zeigen die deutschen Texte solche Dialoggestaltung nicht unbedingt dort, wo die Vorlage sie bietet, sondern verfahren nicht selten ganz eigenständig; darauf verweist auch Miedema in ihrem oben (Anm. 8) genannten Beitrag. Haben die deutschsprachigen Autoren also aus dem Vorbild der französischen Literatur gelernt, so wie Moriz Haupt und Wilhelm Grimm das schon vermutet haben?48 Sicherlich, und das erklärt auch, warum der Pfaffe Lambrecht oder die Autoren der Regensburger Kaiserchronik den schnellen Redewechsel nicht kennen. Aber die Arbeiten von Franz Josef Worstbrock zur dilatatio materiae und zum Wiedererzählen haben gezeigt, dass die deutschen Autoren eine eigene Gestaltungskompetenz besaßen und zwar aufgrund ihrer litteraten Bildung, insbesondere ihrer eigenen Kenntnis lateinischer Gestaltungsmuster.49 Diese Beobachtungen können wir nun, wie die Beispiele aus dem französischen Eneasroman und seiner deutschen Bearbeitung zeigen, um die Modelle der Dialoggestaltung erweitern, die aus der Terenz-Lektüre auch im deutschen Sprachraum präsent waren. Dadurch relativiert sich auch die Feststellung von Moriz Haupt, der für den schnellen Redewechsel annahm, es handele sich bei Eilhart von Oberge und Heinrich von Veldeke um eine „neue manier“, die „im jahre 1156 gewiss keinem geläufig war“.50 Haupt sah in diesem Phänomen der Dialogpraxis also nur einen Transfer aus den französischen Vorlagen. Die Tatsache, dass das Modell dieser Gestaltung bildungsgeschichtlich zu verorten ist, zum einen in der im 12. Jahrhundert reich belegten Lektüre des römischen Klassikers Terenz, zum anderen in deren direkter Wirkung auf die lateinische Elegienkomödie, lässt den schnellen Redewechsel in den frühen volkssprachigen Romanen, den französischen wie den deutschen in neuem Licht erscheinen. Gewonnen war damit ein attraktives Element des Erzählens, mit dem sich innerhalb der Vorlese-Situation offensichtlich besondere Effekte erzielen ließen. Freilich gilt dies nur für die Zeit bis gegen 1200, worauf Miedema hingewiesen hat.51 Danach wird, aus welchen Gründen auch immer, der schnelle Redewechsel als spezieller dramatisierender Effekt der Figurenrede kaum noch genutzt. Offenbar hängt auch damit zusammen, dass solche Passagen in der handschriftlichen Überlieferung der französischen wie auch der deutschen Texte
48 49
50 51
Siehe oben, Anm. 6. Worstbrock (wie Anm. 13); ders., „Wiedererzählen und Übersetzen“, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. von Walter Haug, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128–142. Haupt (wie Anm. 6), S. 160. Miedema (wie Anm. 8), S. 279–281.
Dialoggestaltung in deutschen und französischen Romanen des 12. Jahrhunderts
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nicht selten gekürzt werden,52 denn sie akzentuieren zwar die Erzählung, bringen sie aber nicht voran.53
V. Redewechsel dieser Art kann der heutige Leser in ihrer Strukturiertheit leicht erfassen dank der modernen Interpunktion, die unsere Ausgaben bieten. Und ich habe davon auch bei den angeführten Beispielen durchgängig Gebrauch gemacht. Doch ergeben sich nun zwei Fragen, zum einen, ob und wie die Schreiber mittelalterlicher Handschriften die Redewechsel bezeichnet haben, und zum anderen, wie sie innerhalb der Vorlesekultur des Hochmittelalters gestalterisch umgesetzt wurden. Zur ersten Frage: In der frühen Fragmentschicht des Tristrant Eilharts von Oberge findet sich ein Beispiel, das zeigt, wie der Einsatz wörtlicher Rede in einer Handschrift um 1200 bezeichnet werden konnte. Zunächst der Text: Tristrant hat den das Land bedrohenden Drachen erschlagen; der König erfährt davon, will nun aber wissen, wer der Held ist:54 ioh het er [sc. der König] gerne baz vernomen wer den trachen slGge. „daz waere vil ungevGge“, sprah der truhsatze, „daz ih mih vermeze, 1735 ob iz waere gelogen.“ (Tristrant, v. 1730–1735) 1730
Die Frage, wer spricht, ist nicht von vorneherein klar, denn die inquit-Formel ist in die Rede des Truchsessen verlegt. Im Regensburger Fragment des Tristrant vom Anfang des 13. Jahrhunderts55 sind die Verse durchgeschrieben und jeweils durch sogenannte Reimpunkte voneinander getrennt. Weder der Einsatz der Rede noch die eingeschobene inquit-Formel sind irgendwie gekennzeichnet (Abb. 1). Es bedurfte also innerhalb der adligen Vorlesekultur um 1200 eines literarisch versierten Kenners, der sich genau in den argumentativen
52
53 54
55
Eine Untersuchung dieses Phänomens anhand der Überlieferung auf breiterer Basis fehlt; siehe auch oben, Anm. 5 und 45. Relativ häufig sind solche Kürzungen in der Überlieferung des Tristrant, wo die Kurzfassung D an zahlreichen Stellen den schnellen Redewechsel reduziert, vgl. die Passagen v. 646–668; 1893–1937; 2740–2792; 3706–3725; 6207–6254; 7096–7100; 7632–7644; 8159–8174; 8519–8535; 9170–9179. Vgl. Müller (wie Anm. 8), S. 129. So im Fragment Rd, siehe dazu Eilhart von Oberge, Tristrant. Synoptischer Druck der ergänzten Fragmente mit der gesamten Parallelüberlieferung, hg. von Hadumod Bußmann, Tübingen 1969 (ATB 70), S. 3a. Siehe zu den erhaltenen drei Fragmenten dieser Handschrift Bußmann, Eilhart von Oberge (wie Anm. 54), S. XXXIf.; zur Datierung auf das frühe 13. Jahrhundert vgl. Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache, I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, 2 Bde., Wiesbaden 1987, Textband, S. 52, Anm. 198.
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Ablauf eines Dialogs vertieft hatte und im Stande war, solch eine Aufzeichnung zu durchschauen und richtig und vor allem sinnerschließend vortragen zu können. Die etwa zur gleichen Zeit, um 1230, geschriebene Berliner Handschrift von Heinrichs von Veldeke Eneasroman lässt aufgrund ihrer Einrichtung und Interpunktion Sprecherwechsel leichter erkennen.56 Als Beispiel nehme ich die oben bereits zitierte Passage Eneasroman, v. 608–621. Die abgesetzte Notierung der Verse, die der Schreiber nach anfänglichem Experimentieren gefunden hatte, macht die Formstruktur sichtbar; vor allem aber werden die Sprecherwechsel durch die sorgfältige Interpunktion genau markiert (Abb. 2). Die Passage Eneasroman, v. 608–621, lautet dort folgendermaßen (fol. 5vb; Abbreviaturen aufgelöst, u und v normalisiert):57 er sprach waz habet ir funden . Allez guot , waz / karthago . waz ist daz / ez ist ein bGrch here . Durch Got saget mere . fundet ir den kunich da / Sie antwrten ime sa . da enist kuneges niht . wi denne so . Da ist diu fr?we d i d o . gisprachet ir sie / ia wir taten . Wie fundet ir sie . wol berâten . Waz enbiûtet si uns . allez gGt . Meinet si ez / ia siu tGt .
Hier werden die Sprecherwechsel jeweils durch innerhalb der Zeile gesetzte Zeichen genau markiert. Der Schreiber hat sichtlich die Dialogführung durchschaut und mit den wenigen ihm zu Gebote stehenden Mitteln interpungierend strukturiert. Aber auch hier musste ein (Vor-) Leser sehr aufmerksam den Redegang verfolgen, um die einzelnen Redepartikel genau zuordnen und im Vortrag durch Wechsel des Stimmregisters markieren zu können. Doch es scheint, als sei entweder das Instrument solcher Markierung oder aber das Interesse daran in der weiteren Tradierung des Textes verloren gegangen. Die Heidelberger Handschrift des Eneasromans cpg 403 (aus dem Jahr 1419) bietet die Passage zwar in abgesetzten Versen, es fehlen jedoch alle das Verständnis erst ermöglichenden Interpunktionshilfen.58 Die oben zitierte Passage lautet hier (vgl. Abb. 3):
56
57
58
Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 282, fol. 5vb. Siehe dazu: Heinrich von Veldeke, Eneas-Roman. Vollfaksimile des Ms. germ. fol. 282 der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Einführung und kodikologische Beschreibung von Nikolaus Henkel, kunsthistorischer Kommentar von Andreas Fingernagel, Wiesbaden 1992. Der Schreiber verwendet hier den Punkt, wiedergegeben als Punkt, sowie zum Abschluss einer Frage mehrfach ein Häkchen, hier als Virgel / wiedergegeben. Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 403, fol. 4r–255r. Die Handschrift stammt aus der elsässischen Werkstatt von 1418; vgl. zur Beschreibung der Handschrift Lieselotte Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung. Bilderhandschriften aus der Werkstatt Diebold Laubers in Hagenau, 2 Bde., Wiesbaden 2001, Bd. 2, S. 70f.; zur Werkstatt von 1418 ebd., Bd. 1, S. 5–59.
Dialoggestaltung in deutschen und französischen Romanen des 12. Jahrhunderts
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Er sprach waz hant ir funden Allis gGt und was Do sprach cartago waz ist daz Es ist ein burg here [...].
In dieser Gestalt verweigert sich der Text der Sinnerkenntnis. Lichtenstein vermerkt denn auch in seiner Tristrant-Ausgabe zu mehreren Stellen, dass der Schreiber der Heidelberger Handschrift „die kurzen Wechselreden [...] durch rothe Punkte abgrenzt, die indess zuweilen fehlen, oder an falscher Stelle stehn“.59
VI. Der aus den Handschriften sich ergebende Befund zeigt, dass die Interpunktion schon der frühen Zeugnisse aus der Zeit um 1200 eine gewisse Hilfestellung für die Wahrnehmung der Redewechsel durch den Leser bieten konnte. Freilich aus heutiger Sicht weitaus weniger deutlich, als die moderne Interpunktion es vermag, die bei unmarkiertem Sprecherwechsel zusätzlich zu den Anführungsstrichen auch noch den Zeilenumbruch als Markierung nutzt. Es stellt sich aber abschließend noch die Frage, wie solche schnellen Redewechsel im performativen Vollzug hochmittelalterlicher Vorlesekultur zu gestalten waren. Es ist schwer zu beurteilen, ob und inwieweit die heute noch erhaltenen Handschriften als Vortragsmanuskripte genutzt worden sind, ob wir überhaupt berechtigt sind, aus den erhaltenen Handschriften und ihrer Anlage Folgerungen auf die performative Gestaltung der Texte ableiten dürfen. Auch hier gilt wie bei allen Quellengattungen, dass intensiver Gebrauch der Quelle – hier eines Vortragsmanuskripts – Hand in Hand geht mit ihrem Verbrauch, sprich Verlust. Man wird aber bei aller Vorsicht Folgendes feststellen können: Ein (Vor-) Leser innerhalb der Vortragssituation um 1200 musste zusätzlich zu einer genauen Kenntnis des Textes und seiner dialogischen Strukturiertheit auch über die Fähigkeit verfügen, unterschiedliche Stimmregister anzuwenden, eine Fähigkeit, die ohne Weiteres zum handwerklichen Instrumentarium des professionellen Sprechers der Neuzeit gehört. Unabdingbar war diese Fähigkeit insbesondere bei sprachlich nicht-markiertem Redewechsel, der im Vollzug einer gelesenen Aufführung zwar mimisch unterstützt werden konnte, jedoch nur mit dem Mittel des stimmlichen Registerwechsels darstellbar ist. Wiewohl diese Aussage mangels einschlägiger Zeugnisse über die Vorlesekultur um 1200 hypothetisch bleibt, scheint sie mir doch von der Sache her gefordert zu sein.60 59 60
Eilhart von Oberge (wie Anm. 7), S. 53 zu v. 663; S. 105 zu v. 1976. Zur Vortragskultur, vor allem zur mimisch-gestischen Gestaltung, sind vereinzelte Ansätze gemacht worden, so von Hugo Kuhn zum Eingang des dritten Kreuzlieds Hartmanns von Aue („Minnesang als Aufführungsform“, in: Festschrift für Klaus Ziegler, hg. von Eckehard Catholy u.a., Tübingen 1968, S. 1–12, erneut abgedruckt in: ders., Text und Theorie, Stuttgart 1969, S. 182–190). Die Diskussion ist in der Minnesang-Forschung seitdem merklich belebt, siehe vor allem: Peter Strohschneider, „‘nu sehent wie der singet!’. Vom Hervortreten des Sängers im Minnesang“, in: ‘Aufführung’ und ‘Schrift’ im Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Jan-Dirk Müller, Stutt-
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VII. Die Frage, welche Modelle den Autoren hochmittelalterlicher Erzähldichtungen aufgrund ihrer bildungsgeschichtlichen Sozialisation innerhalb der sprachlichen, literarischen und poetologischen Kultur des lateinischen Mittelalters zu Gebote standen, hat den vorliegenden Beitrag geleitet. Die Lesetexte der Terenzkomödien dürften ein wichtiges Modell für die Dialoggestaltung geboten haben, insbesondere bei dem im frühen Roman sonst voraussetzungslos erscheinenden Detail des schnellen Redewechsels. Bei der Beschäftigung mit der bildungsgeschichtlichen Wirkkraft der Terenz-Lektüre im hohen Mittelalter verdienen noch zwei weitere Merkmale dieser Texte Aufmerksamkeit der Mediävistik, weil sie sich mit der Praxis des frühen Romans verknüpfen lassen, aber in anderem Zusammenhang weiter verfolgt werden sollen. Da ist zum einen die Technik des Prologs. Er bietet in den Komödien des Terenz den Ort der Aufnahme des Gesprächs zwischen Autor und Publikum, Möglichkeit der Reflexion über Bedeutung und Wirkung von Literatur, über die Situation des Autors, seine literarischen Gegner, die Verortung des Werks innerhalb der Gattung, dazu auch Ansätze von „Literaturtheorie“.61 Damit stellen die Prologe der Terenz-Komödien für die Schicht der mittelalterlichen litterati ein Modell bereit, das vieles von dem bot, was wir auch in den Prologen der hochmittelalterlichen Romane beobachten können, und zwar ohne dass bislang Anknüpfungspunkte dafür innerhalb der literarischen Tradition aufgezeigt worden wären. Zum anderen ist es der Monolog innerhalb des höfischen Romans, wie ihn zum Beispiel der Troja- oder der Eneasroman mehrfach bieten; wir beobachten ihn etwa dort, wo über Liebe reflektiert wird. Aus unserer Kenntnis der späteren Literatur erscheint uns diese Form literarisch gestalteter personaler Rede aus der Innensicht der jeweiligen Figur selbstverständlich, für die volkssprachliche Literatursituation um die Mitte des 12. Jahrhunderts ist der Monolog indes ein absolutes Novum. Auch hier stellt sich die Frage nach dem Modell solcher Figurenrede, bei der niemand außer dem textexternen Leser oder Hörer gegenwärtig ist. Und auch hier bieten die Komödien des Terenz, sicherlich aber auch die Dichtungen des Ovid als vorgängige Konzepte solcher introspektiven Rede, die als Modelle den litteraten Autoren der Zeit zur Verfügung standen und die sie in die neue Form romanhaften Erzählens wirkungsvoll integrieren konnten.
61
gart/Weimar 1996 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 17), S. 7–30; Helmut Tervooren, „Die ‘Aufführung’ als Interpretament mittelhochdeutscher Lyrik“, in: ebd., S. 48–66. Zum Vortrag romanhafter Dichtung siehe früh und eher beiläufig: Ingrid Hahn, Raum und Landschaft in Gottfrieds ‘Tristan’. Ein Beitrag zur Werkdeutung, München 1963, S. 81, Anm. 20; siehe weiterhin etwa, auch zu den in den Texten ‘eingebauten’ Publikumskontakten: Patrizia Mazzadi, Autorreflexionen zur Rezeption: Prolog und Exkurse in Gottfrieds ‘Tristan’, Triest 2000, S. 142–148; zuletzt Tomas Tomasek, Gottfried von Straßburg, Stuttgart 2007 (RUB 17665), S. 122f. Siehe zum Bestand Hermann Gelhaus, Die Prologe des Terenz. Eine Erklärung nach den Lehren der inventio und dispositio, Heidelberg 1972 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, NF 42).
Dialoggestaltung in deutschen und französischen Romanen des 12. Jahrhunderts
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Ein dritter Sachverhalt sei, anknüpfend an die Modellhaftigkeit der Schullektüre der römischen Klassiker, noch angesprochen: der Literaturkatalog. Bei Gottfried von Straßburg ist er zum ersten Mal zu beobachten und zeitigt von hier aus auch eine – wenngleich auf das 13. Jahrhundert begrenzte – Wirkung. Dass auch die in den Schulen des Hochmittelalters gelesene römische Literatur solche Literaturkataloge bot, lag bislang außerhalb der Beobachtung, und man kann sicher sein, daß Gottfried von Straßburg mit solchen Katalogen vertraut war; dem wäre weiter nachzugehen, wozu hier nicht der Ort ist. Es scheint also, dass die im 12. Jahrhundert sich neu formierende Literatur in den Volkssprachen grundsätzlicher als bisher geschehen auf die Modelle hin zu befragen ist, die zu ihrer Konstituierung beigetragen haben, und dass es sich lohnt, danach zu fragen, welche Vorstellungen über Werkstruktur, sprachliche Gestaltung und poetologische Prinzipien in den Köpfen derjenigen litterati steckten, die es unternahmen, erstmals Romane in der Volkssprache zu schreiben oder solche ‘weiterschreibend’ und neu gestaltend in eine andere Sprache hinüberzubringen.
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Abb. 1: Eilhart von Oberge, Tristrant, Fragment Rd (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 69, fol. 1r; Ausschnitt)
Dialoggestaltung in deutschen und französischen Romanen des 12. Jahrhunderts
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Abb. 2: Heinrich von Veldeke, Eneasroman, Hs. B (Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 282, fol. 5vb; Ausschnitt)
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Abb. 3: Heinrich von Veldeke, Eneasroman, Hs. H (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 403, fol. 16r; Ausschnitt)
Nine Miedema
Die Redeszenen in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst
I. Einleitung Der Herzog Ernst gehört, als sogenanntes ‘Spielmannsepos’,1 zu denjenigen vorhöfischen deutschsprachigen Texten, die im 12. Jahrhundert aller Wahrscheinlichkeit nach ohne unmittelbare lateinische oder französische Vorlage entstanden sind.2 Der Text wurde mehrfach überarbeitet, sowohl in deutscher als auch in lateinischer Sprache; er bietet damit geradezu idealtypische Voraussetzungen für Überlegungen zu den je eigenen Charakteristiken der Poetik der literarischen Redeszene in der Volkssprache und im Lateinischen. Die Kernfabel sei einleitend kurz wiederholt: Herzog Ernst von Bayern ist der Sohn Herzogin Adelheids, die (in zweiter Ehe) mit Kaiser Otto verheiratet ist. Ernst überwirft sich aufgrund einer Intrige des Pfalzgrafen Heinrich mit seinem Stiefvater, führt einen immer aussichtsloser werdenden Krieg gegen ihn und sieht sich so schließlich gezwungen, sein Land zu verlassen. Er bricht 1
2
Der Gattungs b e g r i f f (‘Spielmannsepik’) ist bekanntlich in der Altgermanistik umstritten, da sehr zweifelhaft ist, ob eine ‘Berufsgruppe’ von Spielmännern die Verfasser dieser Texte gewesen sein kann (vgl. Walter Johannes Schröder, Spielmannsepik, Stuttgart 21967 [Sammlung Metzler 19], S. 1–8). Auch die Existenz der Gattung als solcher wird zum Beispiel von Hans-Joachim Behr vehement bestritten, siehe Hans-Joachim Behr, „Spielmannsdichtung“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Jan-Dirk Müller u.a., Bd. 3, Berlin/New York 2003, S. 474– 476. Differenzierter zum Mangel an gemeinsamen Beschreibungskriterien für die Texte der Spielmannsepik Rüdiger Brandt, „‘Spielmannsepik’. Literaturwissenschaft zwischen Edition, Überlieferung und Literaturgeschichte. Ein nicht immer unproblematisches Verhältnis“, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 37.2 (2006), S. 9–49. Für den vorliegenden Beitrag ist die Gattungsproblematik nicht von ausschlaggebender Bedeutung; wichtig erscheint lediglich festzuhalten, dass für den Herzog Ernst (wie auch für die anderen Texte, die der ‘Spielmannsepik’ zugerechnet werden) kein unmittelbares Abhängigkeitsverhältnis des deutschen von einem französischen oder lateinischen Text nachweisbar ist (Brandt, S. 41). Zu den von Max Wetter, Quelle und Werk des Ernst-Dichters, Teil 1: Deutsche Geschichte und westfränkisches Achtermäre, Würzburg 1941 (Bonner Beiträge zur deutschen Philologie 12), herausgearbeiteten Parallelen zur französischen Chanson d’Esclarmonde siehe zusammenfassend Jürgen Kühnel, „Zur Struktur des Herzog Ernst“, in: Euphorion 73 (1979), S. 248–271, hier S. 249. Alle Vermutungen zu lateinischen oder französischen Vorlagen bleiben mangels erhaltener Textgrundlagen Spekulationen.
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Nine Miedema
zusammen mit einer kleinen Gefolgschaft von treuen Männern, allen voran Graf Wetzel, ins Heilige Land auf, landet aber aufgrund eines Sturms in ausgesprochen fabelhaften Gefilden. Im Land Grippia, das vom monströsen Volk der Kranichmenschen bewohnt wird, versucht er die Befreiung einer (menschlichen) Prinzessin, kann sie jedoch nicht retten.3 Er selbst flieht mit seinen Getreuen vor der Übermacht der Kranichmenschen und verliert anschließend auf dem Magnetberg fast alle seine Männer, da diese den Hungertod sterben. Es gelingt letztlich nur einigen wenigen, den Magnetberg zu verlassen, indem sie sich in Tierhäute einnähen und von Greifen forttragen lassen. Im Land Arimaspi freundet sich Ernst daraufhin mit den Zyklopen und den Pygmäen an und bekämpft verschiedene weitere Fabelwesen. Er kämpft im Heiligen Land gegen die Heiden, bevor er schließlich wieder nach Deutschland zurückkehren und sich mit Kaiser Otto versöhnen kann.
Die wohl älteste Fassung des Textes ist die nur fragmentarisch erhalten gebliebene deutsche Fassung A, die zwischen 1176 und 1181 entstanden sein dürfte,4 zeitlich somit wohl vor dem ersten höfischen Antikenroman in deutscher Sprache, dem Eneasroman Heinrichs von Veldeke (um 1180), und vor dem ersten deutschsprachigen Artusroman, dem Erec Hartmanns von Aue (frühestens um 1185). Die Entstehungszeit der deutschen Fassung B des Herzog Ernst ist um 1198–1208 anzusetzen.5 Für die Überlegungen im Folgenden dient die Tabelle auf Seite 184–191 als Basis, auch wenn diese im gegebenen Rahmen nicht vollständig besprochen werden kann. Die Tabelle enthält Angaben zu allen denjenigen Redeszenen in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst, die direkte Rede verwenden.6 Dabei fällt auf, dass die Tabelle in der letzten Spal3
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„Der Mißerfolg zeigt, daß der mögliche Ansatzpunkt einer Minnehandlung nicht weiter von Interesse war“ (Uwe Meves, Studien zu König Rother, Herzog Ernst und Grauer Rock [Orendel], Frankfurt a.M. u.a. 1976 [Europäische Hochschulschriften I 181], S. 156). Auf die von dieser Kernfabel erheblich abweichende spätmittelalterliche Liedfassung G kann hier nicht näher eingegangen werden. Charakteristisch für diese Fassung ist z.B., dass die Prinzessin überlebt und von Ernst zu ihrem Vater zurückgebracht wird; damit wird ein in den anderen Fassungen vorhandenes „persönliches Defizit des Helden“ getilgt, vgl. Otto Neudeck, „Ehre und Demut. Konkurrierende Verhaltenskonzepte im ‘Herzog Ernst B’“, in: ZfdA 191 (1992), S. 177–209, hier S. 199. Herzog Ernst. Eine Übersicht über die verschiedenen Textfassungen und deren Überlieferung, hg. von Hans-Joachim Behr, Göppingen 1979 (Litterae 62), S. 9. Zitiert wird nach folgenden Ausgaben: Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch, in der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausgabe von Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A hg., übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Bernhard Sowinski, Stuttgart 21979 (RUB 8352– 8357) (Fassung A und B; vgl. zu diesen Fassungen ergänzend Cornelia Weber, Untersuchung und überlieferungskritische Edition des Herzog Ernst B mit einem Abdruck der Fragmente von Fassung A, Göppingen 1994 [GAG 611]); Thomas Ehlen, Hystoria ducis Bauarie Ernesti. Kritische Edition des ‘Herzog Ernst’ C und Untersuchungen zu Struktur und Darstellung des Stoffes in den volkssprachlichen und lateinischen Fassungen, Tübingen 1996 (ScriptOralia 96; A23) (Fassung C); Odo von Magdeburg, Ernestus, hg. und kommentiert von Thomas A.-P. Klein, Hildesheim 2000 (Spolia Berolinensia 18) (Fassung E); Gesta Ernesti ducis. Die Erfurter Prosa-Fassung der Sage von den Kämpfen und Abenteuern des Herzog Ernst, hg. von Peter Christian Jacobsen und Peter Orth, Erlangen 1997 (Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften 82) (Fassung Erf). Herzog Ernst. Eine Übersicht (wie Anm. 4), S. 12. Die Entscheidung, die Untersuchung auf diejenigen Szenen einzuschränken, die direkte Rede enthalten, geschah aus pragmatischen Gründen. Es gibt in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst keine ausführlichen Redeszenen, die nur in indirekter Rede wiedergegeben werden; die
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te sehr häufig auf Halbdialoge und halbdirekte Dialoge verweist.7 Dies ist ein Charakteristikum, das der Herzog Ernst mit vielen anderen frühen deutschen Erzähltexten teilt, wie Werner Schwartzkopff bereits im Jahr 1909 beschrieben hat:8 Er führte aus, dass die vorhöfischen Texte deutlich weniger direkte Rede enthalten als die höfischen. Schwartzkopff und insbesondere auch Wolfgang Schulte beschrieben des Weiteren, dass Ansätze zu einer Gesprächskultur, oder genauer: zur literarischen Darstellung einer Gesprächskultur, in frühen Texten wie dem Herzog Ernst noch kaum vorhanden sind.9 Im Fall des Herzog Ernst ist an der Tabelle erkenntlich, dass von den 101 Redeszenen, die direkte Rede verwenden,10 insgesamt lediglich 37 Dialoge in direkter Rede enthalten, d.h. Redeszenen, in denen m e h r e r e Sprecher in direkter Rede zu Wort kommen. Unter diesen 37 Dialogen sind 26 nach dem einfachen Modell aufgebaut, dass der Initialsprecher, in der Regel der standesmäßig Überlegene oder der im Erzählkontext Wichtigere, eine Äußerung tätigt und der Angesprochene daraufhin bestätigend antwortet.11 Antwortet der An-
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Hinzunahme von kurzen Redeberichten wie er gruozte schône sîne man / und bôt in michel êre (Fassung B, v. 100f.), dô hiez er im bereiten / swaz er dar zuo solde hân (ebd., v. 114f.) oder nâch ir sune sie sande sân / und bat in daz er k#me / und dise rede vern#me (ebd., v. 402–404) hätte den Rahmen der Untersuchungen gesprengt. – Gelegentlich inszeniert die Erzählerinstanz eine mündliche Vortragssituation, wobei sie indirekte Rede einsetzt: ich sage iu daz der künic rîch / hôher tugende kunde phlegen (ebd., v. 222f.). Terminologie nach Wolfgang Schulte, ‘Epischer Dialog’. Untersuchungen zur Gesprächstechnik in frühmittelhochdeutscher Epik (Alexanderlied – Kaiserchronik – Rolandslied – König Rother), Bonn 1970, S. 27, Anm. 21; siehe außerdem Jane Emberson, Speech in the ‘Eneide’ of Heinrich von Veldeke, Göppingen 1981 (GAG 319), S. 21f. Beim Halbdialog spricht eine Figur eine andere direkt an, worauf jedoch keine Antwort in direkter oder indirekter Rede folgt; beim halbdirekten Dialog spricht eine Figur eine andere direkt an und erfolgt die Antwort in indirekter Rede. Die einflussreiche Studie von Peter Wiehl, Die Redeszene als episches Strukturelement in den Erec- und Iwein-Dichtungen Hartmanns von Aue und Chrestiens de Troyes, München 1974 (Bochumer Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft 10), fällt hinter diesem Forschungsstand zurück; mit ihr auch die jüngste Untersuchung zu mittelalterlichen Redeszenen: Anja Becker, Poetik der wehselrede. Dialogszenen in der mittelhochdeutschen Epik um 1200, Frankfurt a.M. u.a. 2009 (Mikrokosmos 79), siehe dort S. 58–69. Werner Schwartzkopff, Rede und Redeszene in der deutschen Erzählung bis Wolfram von Eschenbach, Berlin 1909, Nachdruck New York/London 1970 (Palaestra 74), S. 12f. Ebd., S. 39f., 42–44; Schulte (wie Anm. 7), S. 90–94. Keine Fassung des Herzog Ernst enthält alle 101 Redeszenen. Die nachfolgenden Zahlen verschieben sich jedoch nur unwesentlich, wenn sie für die einzelnen Fassungen errechnet werden. Vgl. Schulte (wie Anm. 7), S. 27. In der Regel erfolgt der turn der wichtigsten Figur bzw. der Figur, die die für den Handlungsverlauf wichtigste Äußerung tätigt, in direkter Rede, wonach die Antwort zumeist in indirekter Rede steht. Es kommt jedoch auch vor, dass die Rede des ersten Sprechers zum Teil in indirekter Rede wiedergegeben wird (so z.B. in den Nr. 35, 37 u.ö. der Tabelle), und gelegentlich erfolgt die Rede des ersten Sprechers ganz in indirekter Rede, so bei Nr. 71 und 76. Außerdem ist auch die umgekehrte Reihenfolge nachweisbar: Dasjenige, was die weniger wichtige Figur äußert, wird in indirekter Rede wiedergegeben, wonach die wichtigere Figur in direkter Rede reagiert (vgl. Nr. 5, 20, 62, 100). In der Tabelle wird die Aufteilung in direkte und indirekte Rede nicht erfasst.
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gesprochene nicht bestätigend, folgt ggf. ein weiterer turn des ersten (und eventuell auch des zweiten) Sprechers, jedoch geschieht dies in lediglich elf der 101 Fälle in direkter Rede.12 Der Herzog Ernst geht in seinen frühesten Fassungen somit noch von einem einfachen Dialogmodell aus; anders als die hoch- und späthöfischen Texte, allen voran der Parzival Wolframs von Eschenbach,13 zeigen die frühen Texte zwar Interesse an wohlformulierten Einzelreden, nicht aber an einer Gesprächsführung im eigentlichen Sinne. Wer spricht, spricht mit Autorität; Persuasion erfolgt durch den Inhalt einer monologisch gehaltenen Rede, durch einen Verweis auf konsensfähiges Wissen, durch einen Appell an unumstrittene Tugenden, nicht jedoch durch Gesprächsstrategien.14 Ein Beispiel für diese einfachen Dialogstrukturen sei aus der Fassung A zitiert. Als Herzog Ernst im Konflikt mit Kaiser Otto allmählich seine hoffnungslose Lage erkennt, ruft er seine Mannen zu sich und richtet sich in einer langen Ansprache (in einem langen halbdirekten Dialog) an sie.15 Er skizziert die Verwüstung seines Landes (A, v. 1–10; B, v. 1758– 176716) sowie seine ehrenhaften Absichten (A, v. 11–14; B, v. 1768–1771) und beschreibt, dass die Gefolgsmänner ihm bis hierhin treu gefolgt seien (A, v. 15–22; B, v. 1772–1779),
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Nr. 8, 21, 32, 63, 64, 72, 76, 81, 85, 95, 98. Gerade zu Wolframs Parzival sind in den letzten Jahren mehrere Monographien erschienen, die sich speziell der Figurenrede widmen: Andreas Urscheler, Kommunikation in Wolframs ‘Parzival’. Eine Untersuchung zu Form und Funktion der Dialoge, Bern u.a. 2002 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 38); Martin Schuhmann, Figurenrede in Wolframs Parzival und Titurel, Heidelberg 2008 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 49). Unter den Texten, die den ‘Spielmannsepen’ zugerechnet werden, weisen der König Rother und zum Teil auch der Salman und Morolf eine etwas höhere Komplexität der Dialoge auf; dagegen lassen sich die Beobachtungen zum Herzog Ernst sowohl mit den ‘Spielmannsepen’ Orendel und St. Oswald gut vergleichen als auch mit anderen frühen Texten wie dem Alexanderlied und dem Rolandslied. Im Herzog Ernst sind allerdings die Ratsszenen selten, die in den anderen frühen Texten mit einiger Lebendigkeit und Komplexität gestaltet sind, da im Rat verbal Konsens erreicht werden muss. Vgl. dazu Carmen L. Grosse, Counsel Scenes in Precourtly Epics, the Nibelungenlied and Kudrun. Their Structure and Dramatic Function, Diss. University of Massachusetts 1981; Joachim M.J. Peeters, Rat und Hilfe in der deutschen Heldenepik. Untersuchungen zu Kompositionsmustern und Interpretation individueller Gestaltungen, Diss. Nijmegen 1981; Joseph M. Sullivan, Counsel in Middle High German Arthurian Romance, Göppingen 2001 (GAG 690). In B umfasst die Ansprache (vgl. Nr. 34 der Tabelle) etwa 80 Verse (v. 1752–1835). Die Rede ist in Fassung A nicht vollständig erhalten geblieben, dürfte aber dort nicht viel kürzer gewesen sein. Zitiert wird hier das Prager Fragment IV nach Sowinski (wie Anm. 4), S. 346–348; die Kursivierung der konjizierten Stellen wird hier nicht übernommen (vgl. zum exakten Wortlaut dieser Stelle in der Handschrift A Weber [wie Anm. 4], S. 270–275). – Auch Neudeck (wie Anm. 3), S. 185– 189, geht auf diese Passage ein, jedoch arbeitet er mit Bezug auf die Schuldthematik unterschiedliche inhaltliche Akzente zwischen den Fassungen A und B heraus, ohne Berücksichtigung der formalen Differenzen. In B geht der Beschreibung der Verwüstung von Ernsts Land ein Lob der Treue der Angesprochenen voran: v. 1752–1757.
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die Lage sei aber inzwischen hoffnungslos, die Flucht somit unvermeidlich (A, v. 23–36, B, v. 1780–180917). Zitiert sei hier nur der darauffolgende letzte Teil der Ansprache:
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„[...] nu wil ig varen over mere ind sûchen dat heilige graf ind wil dâ jâr inde dag an godes dîniste sîn. nu manen ig ûg, lieven frunt mîn, dat ir mir zu derre nôde helfet einmôde: sô duit ir frumelîche. wand ig inmag dit rîche langir niet gebûwen. nu soldir degenis trûwe an mir bescheinen, ind lâzit mig niet eine varen ûzer duseme lande. des hât ir wîgande allesament êre, ind ig verschuldent iemer mêre al di wîle dat ig leven“, sprag der tûrlîcher degen. Dô sprâchen di helede gûde al in eime mûde, die dâ gesamenet wâren, si wolden zwâre lâzen kint inde wîf inde wolden den lîf sezzen an ein urdeil, ind wolden ûffe gût heil sament ime varen over mere: dat inmogte in nieman irweren, it indêde der doit.
In der zitierten Passage beschreibt Ernst seine Absicht, ins Heilige Land zu fahren (A, v. 37–40; B, v. 1810–1825); er ruft zur Einmütigkeit auf, zur concordia oder unanimitas (A, v. 4318), sowie zur fides oder fidelitas, zur Treue (A, v. 4719).
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Die Fassung B betont im Anschluss die Problematik der êre stärker als Fassung A: Die Kreuznahme erlaube es den Männern, sich „mit êren“ (B, v. 1816) zurückzuziehen. Neu ist in diesem Zusammenhang außerdem die Begründung für die Kreuznahme, das Schuld- bzw. Sündeneingeständnis: „wir haben wider gote getân“ (v. 1818). Auffälligerweise wird dieser Aspekt in Fassung B deutlich weniger betont. Die Verse 41–44 lauten dort: „nu bite ich iuh mâg unde man / alle gemeine / daz ir mich niht eine / lât varn von dem lande“, v. 1826–1829. Zum wichtigen Stellenwert der Einmütigkeit in den frühen deutschen Erzähltexten siehe den Artikel von Martin H. Jones in diesem Band, insbesondere S. 69–71 (mit weiterer Literatur). Die Fassung B verzichtet an dieser Stelle auf den Appell an die Gefolgschaftstreue. Aufgrund der lückenhaften Überlieferung von A lässt sich nicht mehr feststellen, ob der in B zu Anfang der Rede erfolgende Hinweis, „wan ich ie triuwe an iu vant“ (B, v. 1757), in A ebenfalls erhalten war, so
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Ernsts Rede ist nach den Regeln der klassischen Rhetorik aufgebaut:20 Im exordium (fehlt in A aufgrund der mechanischen Verluste; B, v. 1752–1757) wirbt Ernst durch seine captatio benevolentiae um die Aufmerksamkeit und Sympathie seiner Gefolgsleute (vgl. seine Benennung der textinternen Zuhörer als „friunt mîn“, B, v. 1752, und den Verweis auf ihre „triuwe“, B, v. 1757). Die narratio (A, v. 1–20; B, v. 1758–1777), die als Sachverhalt die aussichtslose Lage skizziert, wird wirkungsvoll mit einer erneuten captatio beendet (A, v. 21f.; B, v. 1778f.). In der argumentatio (A, v. 23–40; B, v. 1780–1825) stellt Ernst die Konsequenzen dieser Lage dar: Die Flucht ist die logische Folge aus der narratio, sie wird von Ernst als „wîslîchen [...] entwîchen“ (B, v. 1807f.; fehlt A) und als ein Verhalten „mit êren“ bezeichnet (B, v. 1816; fehlt A). Die peroratio (A, v. 41–54; B, v. 1826–1835) fasst den Appell in erneuter direkter Anrede der Zuhörer zusammen. Die Gestaltung der Ansprache lässt so kaum eine andere Möglichkeit zu: Die Gefolgsmänner reagieren begeistert und entsprechen Ernsts Appellen im Ganzen, überbieten sie sogar noch durch den Verweis auf die Bereitschaft, freiwillig Frau und Kinder zu verlassen (A, v. 59f.; B, v. 1842f.).21 Betrachtet man die sprachliche Gestalt der Rede unter sprechakttheoretischem Gesichtspunkt, so zeigt sich, dass Ernsts Illokutionen explizit gemacht werden und ihm keine indirekten Sprechakte oder sprachliche Mehrdeutigkeiten bzw. Doppelbödigkeiten zugeschrieben werden. Das Stilmittel der dissimulatio wird in Ernsts Ansprache somit vermieden.22 Dies wird erkennbar z.B. durch die die Intention des Sprechers hervorhebenden Formen wie „wil ig“ (in A v. 37 und 39; B benutzt diese Formulierung nur in v. 1756) und
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dass die Fassung A mehrfach auf die Gefolgschaftstreue verwiesen hätte, oder ob der Bearbeiter von B den Hinweis auf die Treue vom Ende an den Anfang der Rede verschob. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 3. Auflage mit einem Vorwort von Arnold Arens, Stuttgart 1990, § 260–442. In der Fassung B sind die einzelnen Bestandteile der Rede schärfer voneinander getrennt als in Fassung A. In A ist der Anfang der Redeszene nicht erhalten geblieben, in B nutzt der Erzähler jedoch die inquit-Formel bzw. die Redeeinleitung, um Ernst explizit als wîslîche handelnd (v. 1742) darzustellen; der Erzähler arbeitet also sorgfaltig darauf hin, dass dem Initialsprechakt der AUFFORDERUNG Folge geleistet wird, und setzt Ernst vom Pfalzgrafen Heinrich ab, der zwar ebenso persuasive Reden formulieren kann (B, v. 680–716, in A im Saganer wie im Prager Bruchstück kürzer), von vornherein jedoch vom Erzähler als der ungetriuwe man bezeichnet wird (Fassung B, v. 671, 814, ähnlich v. 673 [dort auch in A]), der mit valsch âne riuwe handelt (ebd., v. 674; im Saganer Bruchstück, v. 107, und im Prager Fragment I, v. 41, überliefert die Fassung hier bit listen) und ein lügenlîche m#re verbreitet (ebd., v. 677; diese Angabe fehlt in A im Saganer wie im Prager Bruchstück). Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 305 (ähnlich S. 311), misst der dissimulatio als einem angeblich grundsätzlichen Charakteristikum höfischer Rede allzu großes Gewicht bei; dennoch ist festzuhalten, dass die Möglichkeit, indirekte Sprechakte zu verwenden oder die Illokution insbesondere direktiver Sprechakte zu verschleiern, zu den erst in höfischer Literatur nachweisbaren Gesprächstechniken gehört (vgl. dazu Nine Miedema, „Höfisches und unhöfisches Sprechen im Erec Hartmanns von Aue“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Tübingen 2007 [Beiträge zur Dialogforschung 36], S. 181–201).
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„manen ig“ (A, v. 41).23 In A, v. 44, wird mit „sô duit ir frumelîche“ explizit das erhoffte Verhalten der Gefolgschaft bewertet (fehlt in B), ähnlich wie in A, v. 51f.: „des hât ir [...] êre“ (in B v. 1830f.). In A, v. 47 und 49, finden sich mit „nu soldir“ und „lâzit“ explizit imperativische, direktive Konstruktionen (zu B vgl. unten, Anm. 35); und wirkungsvoll kommissiv endet Ernst seine Rede mit „ig verschuldent iemer mêre“.24 Ernst legt seine Gesinnung, seine Absichten und Erwartungen in dieser Ansprache somit explizit offen; er ist als Opfer der Intrigen Heinrichs und dadurch als vertrauenswürdiger Sprecher eingeführt worden25 und spricht für alle intra- wie extradiegetischen Rezipienten erkennbar die Wahrheit.26 So verwundert es nicht, dass alle zustimmen und sich ihrerseits kommissiv auf ihr zukünftiges Verhalten festlegen (A, v. 56–66; B, v. 1836–1849). Dass diese Zustimmung nur in indirekter Rede wiedergegeben wird, lässt, wie oben angedeutet, die asymmetrische Hierarchie der Sprecher erkennbar werden. Dadurch, dass den textinternen handelnden Figuren kein Freiraum für Einwände gegeben wird (oder auch: gegeben zu werden braucht), wird auch der textexterne Rezipient zum Einstimmen aufgefordert. Eine Erzählspannung kommt durch die skizzierten Pläne Herzog Ernsts für die Zukunft auf, weniger aber durch die kaum dynamische Gestaltung des Dialoges selbst. In gewissem Sinne verzögert die Rede den Handlungsverlauf: Sie verweist (abgesehen von der Mitteilung des Plans, ins Heilige Land zu ziehen, v. 37–40) inhaltlich kaum auf neue Aspekte, sondern rekapituliert bereits Bekanntes; sie demonstriert die rhetorische Kunst des Redners (und des Autors). Sie beweist dessen persuasive Kompetenz, die weniger argumentativ als vielmehr autoritativ und durch Vermittlung wahrer, konsensfähiger Inhalte entwickelt wird, sie verweist aber nicht auf dessen eventuelle Gesprächsführungskompetenz: Eine Gesprächsführung ist bei diesem linearen27 Dialogmodell nicht notwendig. Dialoggrammatisch gesehen ist dies das einfachste Modell eines gelingenden Dialoges, das konversationsanalytisch betrachtet wenig Stoff für eine tiefergehende Analyse bietet.
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Die Fassung B formuliert hier „nu bite ich“ (v. 1826); vgl. unten, Anm. 35. A, v. 53, Übersetzung: „Ich werde es euch, so lange ich lebe, lohnen“; in B analog in v. 1832– 1835. Vgl. in A im Saganer Bruchstück v. 106f., im Prager Fragment I v. 40f. Parallel, jedoch ausführlicher, B v. 654–679 (u.ö.; die anderen wertenden Verse von B, die hier aufgeführt werden könnten, sind aufgrund der Textverluste nicht in A überliefert). Mangels erhaltener Fragmente kann hier nicht auf die Erzählerrede in A verwiesen werden; es sei die Annahme erlaubt, dass der Erzählverlauf in A in diesem Bereich nicht wesentlich von B abwich. Vgl. in B v. 1752–1755 (Rede Ernsts) mit v. 1747–1750 (Erzählerrede); v. 1758–1761 (Rede Ernsts) mit v. 1734–1737 (Erzählerrede); v. 1769f. (Rede Ernsts) mit v. 1424–1447, v. 1528f., v. 1686 (Erzählerrede); usw. Schwartzkopff (wie Anm. 8), S. 39, bezeichnet diese Form der Dialogführung wertend als „primitiv[.]“ (im Original durch Sperrung hervorgehoben), womit er der Komplexität der Gestaltung der Einzelrede nicht gerecht wird.
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II. Die Unterschiede zwischen den Fassungen des Herzog Ernst: A und B Vom Text der deutschsprachigen Fassung A ist lediglich 10% erhalten geblieben,28 so dass zuverlässige Aussagen über das Verhältnis zwischen A und B kaum formuliert werden können.29 Hans-Joachim Behr vermerkt zum Verhältnis zwischen A und B, „die immer wieder behauptete ‘Verhöfischung’ [...] des Stils“ in B sei „eine philologische Übertreibung“.30 Er geht zwar auf die Reimkorrekturen in B ein,31 setzt dann jedoch fort: „Ansonsten aber sind kaum Eingriffe in die Textgestalt von A zu bemerken“.32 Dem muss im Bereich der Redeszenen widersprochen werden, wie am folgenden Textbeispiel demonstriert werden soll. Als Kaiser Otto einen Hoftag in Speyer einberuft, entschließt sich Ernst, den Kaiser bzw. den Pfalzgrafen Heinrich dort aufzusuchen. Die Fassung A bietet hier ausschließlich einen Erzählerbericht, während Fassung B eine Gedankenrede in direkter Rede einfügt:33 Fassung A (Prager Fragment II) 20
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Fassung B
Ernest de helit gût de havede einen grimmichen mût: dat bescheinede wale der degin hêr. dô intwalter niet mêr, wande ime leide was gedân.
Herzog Ernst. Eine Übersicht (wie Anm. 4), S. 8–12. Die beiden vollständig überlieferten Handschriften der Fassung B weichen untereinander ab: b kürzt gegenüber a die beschreibenden Passagen und ändert das Reimschema, vgl. ebd., S. 13f., 43. Siehe zu diesem Komplex auch Meves (wie Anm. 3), S. 133–136. Ebd., S. 13. Zur Höfisierungstendenz in B siehe Esther Ringhandt, Das ‘Herzog Ernst’-Epos. Vergleich der deutschen Fassungen A, B, D und F, Diss. masch. FU Berlin 1955; Meves (wie Anm. 3), S. 140; Neudeck (wie Anm. 3), S. 182f.; Ehlen (wie Anm. 4), S. 37–49. Ob diese Tendenz parallel verläuft zu einer möglichen Entwicklung von Texten, die stärker von mündlichen Erzähltraditionen geprägt wären (A), zu eindeutiger in der Schriftkultur verankerten Werken (B), sei dahingestellt; der Herzog Ernst bietet innerhalb der Gruppe der ‘Spielmannsepen’ aufgrund der erhalten gebliebenen Textzeugen für solche Untersuchungen grundsätzlich bessere Voraussetzungen als etwa die erst sehr spät überlieferten Epen Orendel oder Salman und Morolf (vgl. Brandt [wie Anm. 1], S. 25). „Überblickt man allein diejenigen Passagen des HE-B, die direkt mit A verglichen werden können, so zähle ich bei etwa 560 Versen immerhin 13 unreine Reime, obwohl der Autor gerade auf die Vermeidung von Reimbrechungen besonderen Wert gelegt zu haben scheint, da sich die etwa 1100 Zusatzverse des ‘Herzog Ernst B’, die sich aus dem Verhältnis der A-Fragmente zu ihren textlichen Entsprechungen in B errechnen lassen, im wesentlichen als Reimkorrekturen entpuppt haben dürften, sofern die noch feststellbaren Unterschiede zwischen A und B als symptomatisch für den Gesamtumfang der Texte vorausgesetzt werden können“ (Herzog Ernst. Eine Übersicht [wie Anm. 4], S. 13). Ebd. Vgl. Nr. 23 der Tabelle im Anhang dieses Beitrags. Weber (wie Anm. 4), S. 249, druckt den exakten Wortlaut der Prager Handschrift ab, zitiert wird hier jedoch erneut nach Sowinski (wie Anm. 4), S. 343f.
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dô nam he zvêne sîne man der ellen he wale irkande. hine ze Franken he dô rande zu einer burg, di hîz Spîre: di steit nog bîme Rîne. da besaz de kuninc einen hof.
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Der keiser hâte einn hof geleit ze Spîre. do im daz was geseit, dô dâhter: „benamen, ich muoz dar, swie ich halt dar umbe gevar. ich muoz komen über Rîn zuo den vîenden mîn die mir daz leit habent getân“. do erwelte er zwêne sîne man der ellen er bekande, mit den er dâ hin rande.
In den vorhöfischen Epen wird die Gedankenrede in direkter Rede, eingeleitet durch denken als inquit-Verb bzw. als verbum sentiendi / credendi, ausschließlich für negativ skizzierte Figuren verwendet, deren falsche, berechnende oder verräterische Gedanken auf diese Weise dargestellt werden können (so in den althochdeutschen Texten und noch im Rolandslied und im König Rother).34 Erst durch den Einfluss der französischen Texte und durch die sich im späten 12. Jahrhundert festigenden Vorstellungen vom höfischen Stil deutscher Texte wird es üblich, auch bei positiv besetzten Figuren Einblick in die Gedankengänge zu gewähren. Die höfischen Epen demonstrieren, dass es im Sinne der höfischen Sozialisation Gedanken gibt, die aus Höflichkeit verschwiegen werden sollten, und werten somit die dissimulatio auf. In diesem Sinne können in höfischen Texten die Pläne und sonstigen Gedanken der Protagonisten in direkter Gedankenrede mitgeteilt werden, ohne dass damit negative Konnotationen verbunden sind – wie hier in der Herzog Ernst-Fassung B, im Gegensatz zu A, die die Gedankenrede an dieser Stelle meidet. Die zitierte Passage liefert damit ein Beispiel für die Höfisierungstendenzen, die die Fassung B im Vergleich zu A zumindest in der Gestaltung der Redeszenen aufweist.35
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Siehe dazu Nine Miedema, „Gedankenrede und Rationalität in der mittelhochdeutschen Epik“, in: Wolfram-Studien 20 (2008), S. 119–160. Ergänzen ließe sich, dass die für die höfische Rede als charakteristisch zu bezeichnende Abschwächung der Illokutionsindikatoren bei Direktiva (‘kommunikative Indirektheit’, vgl. Miedema [wie Anm. 22], S. 190) in Ernsts Anrede nur in Fassung B zu finden ist: In A formuliert Ernst explizit im Imperativ („ind lâzit mig niet eine / varen ûzer duseme lande“, v. 49f.), in B bezeichnet er seine eigene Aufforderung dagegen, deren Illokution abschwächend, als Bitte: „nu bite ich iuch [...], / daz ir mich niht eine lât varn“ (v. 1826–1829). Vergleichbar ist, dass Ernst in A in v. 47 imperativisch „nu soldir“ formuliert, während er in B an dieser Stelle, die Illokution erneut abschwächend, die 1. Person Plural verwendet: „nu suln w i r “ (v. 1807; vgl. v. 1810: „daz w i r füeren“).
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III. Die Unterschiede zwischen den Fassungen des Herzog Ernst: B, C, E und Erf Die lateinischen Fassungen des Herzog Ernst könnten auf eine (nicht erhaltene) gemeinsame lateinische Vorlage zurückgehen; vermutet wird dies u.a. aufgrund der in allen lateinischen Fassungen vorhandenen, identischen Zitaten aus klassischen Texten.36 Dass dieser vermuteten lateinischen Urfassung ihrerseits eine deutsche Fassung voranging, ist annehmbar, wird jedoch seit den Untersuchungen von Peter Christian Jacobsen und Peter Orth wieder neu diskutiert.37 Auffällig ist, dass beide lateinische Prosa-Texte, C und Erf, z.B. im Bereich der Beschreibung der Schiffsausrüstung und der Waffen deutsche Einsprengsel enthalten, und zwar zum Teil an den gleichen Stellen; dies mag als ein Indiz dafür gelten, dass zumindest d i e s e lateinischen Fassungen aus einer deutschen Vorlage schöpften.38 Die Datierung der Erfurter Prosa-Fassung ist seit der Neuveröffentlichung des Textes erneut umstritten; sie ist auf jeden Fall vor 1222 entstanden, wohl um 1200, vielleicht aber auch etwas früher.39 Auffällig ist die sehr starke Raffung des Textes; die Tabelle zu Ende des vorliegenden Beitrags zeigt, dass dabei insbesondere die Redeszenen gekürzt bzw. gestrichen wurden. Erf enthält lediglich 26 Stellen, die direkte Rede verwenden. Es gibt allerdings in Erf auch einzelne zusätzliche Redeszenen, die wegen dieser Tendenz zur abbreviatio besondere Aufmerksamkeit verdienen. So überliefert die deutsche Fassung B etwa an der Stelle, als Ernst und Wetzel in der Burg der Kranichmenschen die gefangen genommene Prinzessin entdecken, keine Verbalisierung ihres Leides aus der Figurenperspektive. In B ist die Darstellung der Prinzessin mit deutlichen Signalen versehen, dass sie das Mitleid der textinternen und -externen Rezipienten verdient;40 ihr Sprechakt 36
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Zu den Abhängigkeitsverhältnissen der einzelnen Fassungen siehe in jüngster Zeit insbesondere Ehlen (wie Anm. 4), S. 95–100; Jacobsen und Orth (wie Anm. 4), S. 1–46 (mit Verweis auf ältere Untersuchungen). Ehlen (wie Anm. 4), S. 97f.; Jacobsen und Orth (wie Anm. 4), S. 6–46. Zusammenfassend Klein (wie Anm. 4), S. XLIV–XLVI, der von einer gemeinsamen Vorlage für C, Erf u n d E ausgeht. – Paul Gerhard Schmidt, „Germanismen im ‘Herzog Ernst C’?“, in: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter. 1100–1500. Regensburger Colloquium 1988, hg. von Nikolaus Henkel und Nigel F. Palmer, Tübingen 1992, S. 158–163, äußert sich kritisch zu angeblich vom Deutschen geprägten S a t z konstruktionen in Fassung C. Herzog Ernst. Eine Übersicht (wie Anm. 4), S. 25f.; Jacobsen und Orth (wie Anm. 4), S. 46–55. Für die Beschreibung des jâmer[s] (B, v. 3120, 3140, 3150, 3174, 3272, 3383, 3490) und der nôt (v. 3121, 3254, 3304, 3435, 3570) der Prinzessin, die Ernst und Wetzel erbarmte[n] (v. 3258, 3264), wird einiger deskriptiver Aufwand betrieben – beschrieben werden etwa ihre Einsamkeit (v. 3141–3143), ihre Tränen (v. 3107, 3144–3148, 3254) bzw. rotgeweinten Augen (v. 3251– 3253), die Küsse des Königs von Grippia (v. 324f., siehe oben), die Tatsache, dass sie nicht essen will (v. 3241). Ihre Einsamkeit (vgl. auch v. 3250) ist im Zusammenhang mit den fremden Wesen mit einem existenziell bedrohlichen und immer wieder hervorgehobenen Kommunikationsproblem verbunden (v. 3151–3159, 3254f., 3260–3263, 3282f.). Die Möglichkeit der Kommunikation ist im Herzog Ernst insgesamt ein zentrales Thema, so etwa auch bei den Zyklopen, die aussagen, sie würden die fremden deutschen Männer gut behandeln wollen, obwohl sie ihre Sprache nicht ver-
Die Redeszenen in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst
175
selbst, das Klagen, wird zwar benannt (v. 3256, 3262), es wird jedoch der Phantasie des Rezipienten überlassen, sich vorzustellen, in welcher Form sie ihre Klage äußert. Erf formuliert dagegen einen Klagemonolog in direkter Rede aus (in der Tabelle ist dies die Nr. 45): Fassung B
Fassung Erf41
als dicke er [= der König der Grippianer] sie kuste, 3245 den snabel stiez er ir in den munt. solh minne was ir ê unkunt die wîl sie was in Indîâ. dô muoses sich in Grippîâ sô getâner minne nieten 3250 under unkunden dieten. Man muost der edelen frouwen ir liehten ougen schouwen von weinen trüebe unde rôt. diu enmohte ir starken nôt
(II, Z. 293– 310)
sola captiva domina non comedit neque bibit et, quas eius ori blandicias rex rostro suo admovisset, parum curabat, que non recreacionem ei, sed horripilacionem magis exhibebant. Inter hec lacrimose conquesta infortunia sua et neces parentum suorum hoc modo inprecata est:
leider nieman dâ gesagen.
3255
do vernam ir weinen und ir klagen Ernst der fürste hêre. „Cunctorum Domine, ut quid in hanc lucem veni, quare tot malis communico, cui neminem reservasti ex hiis, qui me fovere meque manutenere habeant? [...] Heu me, quibus oculis respicere, quomodo diligere queam, qui michi utrumque parentem et eorum exercitum abstulerunt! Heu me,
41
stünden (Fassung B, v. 4584–4593; vgl. auch v. 4490, 4539). Im Land Arimaspi ist das Erlernen von sprachlicher Verständigung möglich (v. 4631) und auch bei den Pygmäen gibt es keine Verständigungsprobleme (v. 4938f.), während die verbale Kommunikation in anderen Zusammenhängen physisch unmöglich erscheint (wie bei den Kranichmenschen in Grippia) oder aus anderen Gründen gar nicht erst versucht wird, z.B. aufgrund der eindeutigen Aggression seitens der Plathüeve (v. 4689f.) und Riesen (v. 5025–5038). Übersetzung N.M.: Nur die gefangene Dame aß und trank nicht, und es kümmerte sie nicht, welche Schmeicheleien der König mit seinem Mund, mit seinem Schnabel hervorbrachte, [Schmeicheleien,] die für sie keine Erleichterung, sondern vielmehr Grauen verursachten. Währenddessen, weinend, klagte sie laut über ihr unglückliches Schicksal und die Ermordung ihrer Eltern, und betete auf diese Art und Weise: „Unser aller Herrgott, warum habe ich dieses Licht erblickt, warum wird mir so viel Unglück zuteil, ich, um deretwillen du keinen von denen geschont hast, die mich zu unterstützen und zu schützen hätten? [...] Weh mir, mit welchen Augen könnte ich diejenigen ansehen, wie könnte ich diejenigen lieben, die mir beide Eltern und deren Heer vernichtet haben! Weh mir, dass es niemanden gibt, der mich von diesen Wesen befreien könnte! Nähme ich doch nicht mehr die lebensstiftenden Atemzüge, sondern wäre ich doch heute bereits Tochter des Todes geworden! Nun wird mir mein Elend immerwährend sein, mir, der Gefangenen mit diesem monsterhaften Gatten, dessen Sprache ich nicht verstehe, dessen Äußeres Grauen hervorbringt, dessen Stimme Barbarei erklingen lässt. Wie der König, so sein Volk. [Sie sind] alle Vögel in Bezug auf ihre Schnäbel und Köpfe, sie sprechen nicht wie Menschen. Und was wird nun aus mir?“.
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Nine Miedema quod nemo est, qui me nunc liberet ab hiis! Utinam vitales iam non caperem auras, sed filia mortis essem hodie! Et nunc perpetuus luctus erit michi captive cum hoc monstruoso coniuge, cuius vocem non agnosco, cuius species horrorem parturit, cuius vox barbariem sonat. Qualis rex, talis populus eius. Omnes in rostris et capitibus aves, loquuntur non homines. Et nunc quid superest michi?“
Die Sprache der Prinzessin schafft in der Fassung B zwar ein entscheidendes Bindeglied zwischen ihr und Herzog Ernst (er versteht, dass sie klagt), während sie keine Verbindung zwischen ihr und dem König von Grippia herstellen kann (der König versteht nicht, dass sie klagt, oder es kümmert ihn nicht). Die Feststellung jedoch, d a s s Ernst (im Gegensatz zu den Grippianern) die Prinzessin versteht, genügt dem Erzähler der Fassung B, es wird nicht näher ausgestaltet, w a s Ernst versteht. Die Prinzessin verfügt in der Fassung B in dieser Szene über eine Stimme, nicht aber über Worte.42 Die Erfurter Fassung erkennt die Chance, an dieser Stelle eine Klage in direkter Rede einzuführen – ein literarisches Stilmittel, das die frühen deutschen Texte noch sehr verhalten verwenden, das jedoch mit der lateinischen Tradition des planctus (z.B. über die französischen Antikenromane, etwa den Roman d’Eneas43) auch Eingang in die deutsche Epik fand. Vermischt wird die Klage mit dem Gebet, indem die Prinzessin Gott direkt anspricht (vgl. die Anrede „Cunctorum Domine“ und den sprechaktbezeichnenden Verbalkomplex „inprecata est“). Betrachtet man diese Klage näher, so zeigt sich, dass in ihr verschiedene Zitate und Anspielungen enthalten sind: „Qualis rex, talis populus eius“ z.B. gehört zu den mehrfach belegten Sprichwörtern unbekannter Herkunft.44 Wichtig ist im hiesigen Zusammenhang jedoch insbesondere, dass hier mit „cuius vox barbariem sonat“ Vergils Aeneis anzitiert
42
43
44
Vgl. auch v. 3255, 3282f., 3428f., 3435. Sprechend tritt die Prinzessin in der Fassung B erst in v. 3503–3573 auf, d.h. in der Sterbeszene. Vgl. z.B. Eneas’ Klage über Pallas, im französischen Text v. 6147–6208, im deutschen v. 217,27– 219,13 (Le Roman d’Eneas, übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer, München 1972 [Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 9]; Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1986 [RUB 8303]). Vgl. Richard Leicher, Die Totenklage in der deutschen Epik von der ältesten Zeit bis zur Nibelungen-Klage, Breslau 1927 (Germanistische Abhandlungen 58); Wilhelm Neumann, Die Totenklage in der erzählenden deutschen Dichtung des 13. Jahrhunderts, Emsdetten 1933. – Auch die Fassung D des Herzog Ernst ergänzt eine Klagerede der Prinzessin, siehe Herzog Ernst D (wahrscheinlich von Ulrich von Etzenbach), hg. von Hans-Friedrich Rosenfeld, Tübingen 1992 (ATB 104), v. 2757–2776. Vgl. Jacobsen und Orth (wie Anm. 4), S. 116.
Die Redeszenen in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst
177
wird.45 Der Erzähler gibt im Prolog einen Hinweis darauf, dass er solche Versatzstücke verwenden wird: Hier findet sich einer der wenigen Belege für die Ankündigung eines Zitates (Unde Tulius [...] inquit).46 Die nachfolgenden Zitate und Anklänge sind nicht, wie diese, als auctoritates gestaltet, sondern erfolgen ohne jede Quellenangabe. Die Erfurter Fassung verarbeitet auf diese Art und Weise Sprachmaterial aus fremden, inbesondere antiken Texten und passt es, ohne den ursprünglichen Kontext zu funktionalisieren, syntaktisch und inhaltlich dem neuen Kontext an. Auf der Figurenebene bleiben die Zitate funktionslos; Ernst etwa gibt in seinen eigenen Gesprächsbeiträgen in keiner Weise zu erkennen, dass er die Vergil ähnlichen Worte als solche erkannt hat. Es liegt somit in der Erfurter Fassung eine im Sinne des Handlungsverlaufs retardierende Klage in Gebetsform vor, die den Sinn erfüllt, das Leid der Prinzessin deutlicher zu konturieren und die rhetorische Kompetenz (die Beherrschung der amplificatio durch sermocinatio) des souverän agierenden, gebildeten Erzählers unter Beweis zu stellen, eine Kompetenz, die sich (für Eingeweihte erkennbar) an antiken Texten schult. Vergleichbares lässt sich anhand der Fassung E (des Ernestus Odos von Magdeburg) nachweisen, auch wenn diese Versfassung deutlich andere Akzente setzt: Die sehr ausführliche Klage der Prinzessin (E V, v. 302–344) enthält hier eine Liste von Völker- und Ländernamen, „die Odo dazu dien[t], seine Kenntnisse und Belesenheit zu zeigen“ sowie die rhetorische amplificatio zu demonstrieren.47 Als Quelle dienten die Etymologiae Isidors, die Imago mundi des Honorius Augustodunensis, die Naturalis historia des Plinius und die Alexandreis Walthers von Châtillon,48 womit weniger auf literarische Vorbilder zurückgegriffen wird als vielmehr insbesondere auf Sachtexte. Der Rückgriff auf antike Texte in den Fassungen Erf und E ist an sich für lateinische Erzähltexte nicht gerade ungewöhnlich, und er ist nicht nur in Redeszenen zu finden. Es sei jedoch betont, dass dies ein entscheidender Unterschied der lateinischen zu den deutschen Erzähltexten darstellt: Während sich die lateinischen Fassungen Erf und E mit antikem Bildungsgut brüsten und die antiken Texte auch in den Redeszenen als Steinbruch für eigenes Erzählen verwenden, finden sich in den deutschen Fassungen des Herzog Ernst sehr wohl intertextuelle Hinweise, jedoch keine vergleichbaren Versatzstücke aus Prätexten.49
45
46 47
48
49
Vgl. Vergil, Aeneis. Lateinisch / Deutsch, hg. und übersetzt von Johannes Götte, Darmstadt 61983, v. I, 327f.: „namque haud tibi voltus / mortalis, nec vox hominem sonat“ (Übersetzung, ebd.: „Du trägst kein sterbliches Antlitz, keines Menschen Wort klingt so“). In der praefatio Z. 11f., siehe Jacobsen und Orth (wie Anm. 4), S. 85. Birgit Gansweidt, Der ‘Ernestus’ des Odo von Magdeburg. Kritische Edition mit Kommentar eines lateinischen Epos aus dem 13. Jahrhundert, München 1989 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 39), S. 23. Siehe dazu zuletzt Klein (wie Anm. 4), S. XLIf. und 112f., mit Verweis auf ältere Forschungsliteratur. Als intertextueller Verweis kann z.B. in der Fassung D das Motiv des Herzenstausches verstanden werden (Rosenfeld [wie Anm. 43], v. 232, 367).
178
Nine Miedema
Die Fassung C ist die ausführlichste lateinische Prosa-Fassung;50 sie entstand wohl ebenfalls im frühen 13. Jahrhundert. Von ihrem ersten Herausgeber, Moriz Haupt, 1849 als „ein rhetorisches prachtstück gelehrter geschmacklosigkeit“ bezeichnet, das außerdem insbesondere im Bereich der descriptiones „mit ermüdender pedanterie“ geschrieben sei,51 wurde sie lange Zeit in der Forschung kaum gewürdigt; seit 1996 liegt allerdings die bereits zitierte Edition von Thomas Ehlen vor, die einen neuen Blick auf die Qualitäten und Eigenheiten dieses Textes erlaubt. Insgesamt deutet C die Kernfabel in nicht unerheblichem Maße um. Die wichtigste Veränderung ist, dass C den Stoff der Tendenz nach einer Heiligenlegende angleicht, als deren Mitte die Kaiserin Adelheid fungiert;52 Adelheid nimmt in C entsprechend deutlich breiteren Raum ein als in den anderen Fassungen. Dies zeigt sich nicht nur am Schluss des Textes bei der Wiedergabe der Wunder, die sie wirkte,53 sondern auch bereits an wichtigen früheren Stellen, wie etwa in der Szene der Versöhnung von Kaiser Otto und Herzog Ernst: Während Adelheid in B, E und der Erfurter Fassung zwar anwesend ist, jedoch nicht in das Gespräch eingreift, erhält sie in C eine vermittelnde, auch in direkter Rede sprechend handelnde Rolle (siehe in der Tabelle im Anhang dieses Beitrags Nr. 98). Ausführlicher besprochen sei erneut die Klage der Prinzessin (links erneut die hier leicht gekürzte Erfurter Fassung mit dem Versatzstück aus Vergils Aeneis, rechts die Fassung C).
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Herzog Ernst. Eine Übersicht (wie Anm. 4), S. 22f.; Ehlen (wie Anm. 4), S. 175–186. Der Text ist zwar in Prosa geschrieben, es handelt sich dabei jedoch um „Prosadichtung mit hohem rhetorischem Aufwand und gelegentlich eingefügten metrischen oder rhythmischen Versen“; Ehlen (wie Anm. 4), S. 112. Darüber hinaus finden sich Passagen in Reimprosa sowie rhythmische Satz- und Kolonschlüsse, siehe ebd., S. 120–130. Moriz Haupt, „Herzog Ernst“, in: ZfdA 7 (1849), S. 193–303, hier S. 290. Siehe dazu Herzog Ernst. Eine Übersicht (wie Anm. 4), S. 21 (Hervorhebung im Original): „Als der erste Herausgeber MORITZ [!] HAUPT diesen Text als ‘ein rhetorisches prachtstück gelehrter geschmacklosigkeit’ [...] bezeichnete, konnte er nicht ahnen, daß er damit eine Formulierung geprägt hatte, die noch über hundert Jahre später der ‘Herzog Ernst’-Forschung als allgemein anerkannte Charakterisierung dieser Bearbeitung und damit gleichzeitig als willkommene Begründung für interpretatorisches Desinteresse dienen würde“. Ehlen (wie Anm. 4), S. 95–168, überschreibt eines seiner Kapitel mit der Überschrift „Umdeutung der Geschichte vom Ächter und Kreuzritter zur tropologisch ausgerichteten Heiligenlegende“. Von Anfang an wird Adelheids Heiligmäßigkeit betont, was zu einem gewissen Widerspruch zwischen Ottos Wunsch, sie zu ehelichen, und ihrer Keuschheit führt (ebd., S. 139–151). Vgl. Schmidt (wie Anm. 38), S. 163, für eine Beschreibung der „hybride[n] Mischung aus Roman und Hagiographie“ in Fassung C. Ehlen (wie Anm. 4), S. 390–393.
179
Die Redeszenen in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst Fassung Erf
Fassung C54
II, [...] sola captiva domina non comedit Z. 293– neque bibit et, quas eius ori blandicias 310 rex rostro suo admovisset, parum curabat,
S. 293,2– at bella nil flectitur hiis domi294,3 cella, ymmo querelabunda et
que non recreacionem ei, sed horripilacionem magis exhibebant. Inter hec lacrimose conquesta infortunia sua et neces parentum suorum hoc modo inprecata est: „[...] Heu me, quibus oculis respicere, quomodo diligere queam, qui michi utrumque parentem et eorum exercitum abstulerunt! Heu me, quod nemo est, qui me nunc liberet ab hiis! Utinam vitales iam non caperem auras, sed filia mortis essem hodie! Et nunc perpetuus luctus erit michi captive cum hoc monstruoso coniuge, cuius vocem non agnosco, cuius species horrorem parturit, cuius vox barbariem sonat. [...]“
tremebunda predonem suum regem sibi basia rostro longo et acuto infigentem torvo visu indignissime stupida inspicit et infelicissimam se proclamans ait: „Infelix ego homo, quis me liberabit de corpore mortis huius! Gracia Domini nostri per Ihesum Christum Dominum.“ Hec et similia verba eiulatoria fundentem domicellam audiens dux Hernestus [...] ait: „E:a age, rumpamus moram et istam in summo discrimine positam virginem ab ista biformium monstrorum captiuitate exoluamus.“
Auch C nutzt somit die Gelegenheit zu einer ausformulierten Klage. Diese überrascht zunächst formal, durch die Selbstbezeichnung der Prinzessin als „homo“ („Infelix ego homo“), einen Begriff, der zwar für den Menschen allgemein stehen kann, insbesondere aber für den Mann verwendet wird (und leicht hätte ausgelassen oder ersetzt werden können). Sie überrascht des Weiteren inhaltlich, durch die Kombination von Klage und unmittelbar anschließendem Dank („Gracia Domini nostri“). Auch hier steht ein Zitat im Hintergrund, welches hier allerdings, anders als in der Erfurter Fassung des Herzog Ernst, vollständig und ohne Anpassung an den neuen syntaktischen bzw. semantischen Kontext wiedergegeben wird; gerade dadurch entstehen die inhaltlichen und formalen Reibeflächen, die wohl als Signal zu werten sind.
54
Übersetzung N.M.: Doch die schöne Jungfrau wird dadurch keineswegs umgestimmt, im Gegenteil, klagend und zitternd schaut die Entsetzte, sehr empört, mit verzerrtem Gesicht, ihren Entführer, den König, an, der ihr mit seinem langen und scharfen Schnabel Küsse aufzwingt; und spricht, sich entsetzlich unglücklich nennend: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leib? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn“. Als Herzog Ernst die diese und vergleichbare Klagewörter äußernde Jungfrau hörte [...], sagte er: „Wehe, auf! Lasst uns das Zögern aufgeben und lasst uns diese Jungfrau, in höchste Not gebracht, aus der Gefangenschaft dieser monströsen Zwitterwesen erlösen“.
180
Nine Miedema
Entscheidend ist, dass es sich beim gesamten turn der Prinzessin um ein wörtliches Zitat aus dem Römerbrief des Paulus handelt: Infelix ego homo, quis me liberabit de corpore mortis huius! Gratia Dei per Iesum Christum Dominum nostrum.55 Hierdurch wird ein völlig neuer Interpretationsraum eröffnet: Obwohl auch dieses Mal intradiegetisch keine unmittelbare Reaktion seitens der anderen Figuren darauf erfolgt, dass hier die Bibel zitiert wird, ist für die textinternen und -externen Zuhörer, sofern sie das Zitat identifzieren können, eindeutig erkennbar, dass die Prinzessin eine Christin ist, so dass ihre Befreiung von Anfang an besonderes Gewicht erhält. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Prinzessin mit dem Römerbrief eine Bibelstelle zitiert, in der sich der Sprecher selbst der Unzulänglichkeit bezichtigt. So heißt es einleitend zur im Herzog Ernst C zitierten Stelle in Rm 7,12–16:56 Itaque lex quidem sancta et mandatum sanctum et iustum et bonum. [...] Scimus enim quod lex spiritalis est, ego autem carnalis sum, venundatus sub peccato. Quod enim operor, non intellego. Non enim quod volo, hoc ago, sed quod odi illud facio. Si autem quod nolo illud facio consentio legi quoniam bona. Das Gesetz ist heilig, und das Gebot ist heilig, gerecht und gut. [...] Wir wissen, daß das Gesetz selbst vom Geist bestimmt ist; ich aber bin Fleisch, das heißt: verkauft an die Sünde. Denn ich begreife mein Handeln nicht: Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, erkenne ich an, daß das Gesetz gut ist.
Das Kapitel, das als Zitatkontext mitzudenken ist, behandelt somit die Gebote Gottes und die Fehlbarkeit des Menschen. Wer einsieht, dass er aufgrund seiner Sündhaftigkeit und Körperlichkeit immerwährend dazu gezwungen wird, dasjenige zu tun, was er verabscheut, da es seiner Seele schadet, bestätigt durch diese Einsicht die Gerechtigkeit der Gebote Gottes. So endet das Kapitel des Römerbriefes schließlich (Rm 7,25): Igitur ego ipse mente servio legi Dei, carne autem legi peccati.57 In diesem Kontext wird verständlich, warum die Prinzessin zunächst den Wunsch nach dem Tod äußern kann, um unmittelbar daran anschließend Gott zu loben: Nur durch die Bewusstwerdung der Sündhaftigkeit des Körpers wird der Weg zum Verständnis der Gerechtigkeit Gottes zugänglich. Die Fassung C des Herzog Ernst braucht nicht das gesamte Kapitel des Römerbriefes zu zitieren, da die zunächst im Kontext der Erzählung irritierenden Sätze den Kern des im Prätext, d.h. in der Bibel, behandelten Komplexes von Sünde, daraus resultierender Gotteserkenntnis und daraus wiederum resultierendem Dank exakt abbilden. Dass der Römerbrief hier nur zufälligerweise, als sprachliches Versatzstück, zitiert würde, erscheint kaum denkbar; vielmehr
55
56
57
Biblia sacra iuxta Vulgatam versionem, hg. von Robertus Weber, 2 Bde., Stuttgart 1969: Rm 7,24f. Ergänzt wurde eine Interpunktion nach den Regeln des modernen Sprachgebrauchs. Übersetzung zitiert nach: Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel, neu bearbeitete und erweiterte Ausgabe deutsch, hg. von Alfons Deissler und Anton Vögtle, Freiburg i.Br. u.a. 1985. Übersetzung (ebd.): Es ergibt sich also, daß ich mit meiner Vernunft dem Gesetz Gottes diene, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde.
Die Redeszenen in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst
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wird hier wohl, anders als in den Fassungen E und Erf, bewusst eine neue Sinnschicht ergänzt. Ausgehend von dieser These liest sich auch Ernsts nachfolgender Gesprächsbeitrag („E:a age, rumpamus moram et istam in summo discrimine positam virginem ab ista biformium monstrorum captiuitate exoluamus“) unter veränderten Zeichen. Auch hier wird zitiert, aber indirekter als bei der Klage der Prinzessin. Ernsts Redebeitrag ist an die Aeneis Vergils angelehnt, und erneut ist anzunehmen, dass hierin für den Eingeweihten ein besonderer literarischer Witz liegen sollte: Bei Vergil lautet die entsprechende Stelle: „heia age, rumpe moras! varium et mutabile semper / femina“.58 Wer den Anfang des Zitats erkannte, wird sich möglicherweise auch an die misogyne Fortsetzung erinnert haben; vielleicht wird sich ein entsprechender Rezipient darüber amüsiert haben, dass hier anzitiert wird, alles Unglück der Prinzessin sei letztlich lediglich als Strafe für die Unbeständigkeit des weiblichen Geschlechtes zu werten. Relevant erscheint außerdem der Zitatkontext in der Aeneis: Unmittelbar nach dieser Aufforderung wird Eneas Dido verlassen und wird Dido sterben; parallel stirbt auch die indische Prinzessin kurz nach dieser Passage. Ernst ist an ihrem Tod nicht ganz unschuldig – wie auch Aeneas eine gewisse Schuld am Tod der Dido trägt. Für den extra- und metadiegetischen Diskurs sind die genannten Zitate, die sich um viele weitere ergänzen ließen,59 wichtige Mittel, neue literarische und geistlich-weltanschauliche Sinndimensionen zu eröffnen, zumindest, soweit das textexterne Publikum dem vorausgesetzten Bildungsstand entspricht. Die Retardierung auf der Handlungsebene, die durch die Dialoge entstehen kann, bedeutet in solchen Fällen auf einer ganz anderen Ebene eine Beschleunigung, eine Herausforderung an den (im Idealfall) rasch und wendig mitdenkenden textexternen Rezipienten, eine Kommunikation mit diesem über die Köpfe der intradiegetischen Figuren hinweg. So zeichnet sich die auf den ersten Blick Zitate ungelenk aufnehmende Fassung C gerade durch die signalhafte Verweigerung der Anpassung der Zitate an den neuen Kontext aus. Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass der Bearbeiter der Fassung C bewusst auf die Brüche hinweisen wollte, auf die Übergänge zwischen Erzählung und Fremdzitat. Eines seiner Ziele bei der Textherstellung dürfte es gewesen sein, die Rezipienten zu einer Diskussion darüber anzuregen, aus welchen Prätexten jeweils zitiert wird und warum diese ausgewählt wurden. Anders als Thomas Ehlen sehe ich im beschriebenen Umgang mit Zitatgut keine bloße Reminiszenz der „Kommunikationsbedingungen der Klostergemeinschaft [...], deren Hauptcharakteristikum ist, daß [...] schriftliche Texte durch Diktat erlernt und memoriert werden und [...] offenbar so sehr Teil der Alltagssprache sind, daß der Sprecher souverän über sie verfügt und keineswegs ‘nachschlagen’ muß, will er sie mehr oder minder genau 58
59
Vergil, Aeneis (wie Anm. 45), v. IV,569f. Übersetzung (ebd.): „Auf denn, ohne Verzug! Ein buntveränderlich Etwas bleibt das Weib!“ – Es spricht textintern Merkur als Bote. Obwohl Ehlen (wie Anm. 4) sowie Jacobsen und Orth (wie Anm. 4) in ihren Ausgaben die nachweisbaren Zitate kennzeichnen, steht eine systematische Aufarbeitung der Bedeutung der Prätexte im jeweiligen Kontext der Zitate noch aus.
182
Nine Miedema
zitieren“.60 Es dürfte dem Autor der Fassung C, anders als denjenigen der Fassungen Erf und E, nicht auf „mehr oder minder genau[es]“ Zitieren angekommen sein, sondern auf ausgesprochen präzises, bewusstes und im Kontext sinngebendes. Für diese Sinngebung, deren Entschlüsselung als intellektuelles Spiel verstanden werden darf, sind die (vom Textrezipienten zu rekonstruierenden) Zitatkontexte mindestens genau so wichtig wie das Zitat selbst. Ehlen beschreibt, dass die skizzierten Zitate, insbesondere diejenigen in Versform, im Herzog Ernst C vor allem in Bittgebeten an Gott und in sonstigen Reden der handelnden Figuren zu finden sind.61 Er kommentiert diese Tatsache nicht weiter, im Rahmen der vorgegebenen Thematik verdient sie jedoch besondere Aufmerksamkeit, da dies als ein Hinweis darauf interpretiert werden kann, dass der Autor der Fassung C den skizzierten Umgang mit Zitaten nicht nur auf der Ebene literarischer Dialoge einüben wollte, sondern auch auf derjenigen alltäglicher Gespräche. Vorstellbar ist, dass Lateinlernende als Adressaten des Textes zu denken sind; möglicherweise ist der Gebrauchskontext in der Schule zu sehen, in der man anhand eines bekannten Erzählstoffes und unter Verwendung manchmal eindeutiger, manchmal eher versteckter Zitate die Fähigkeit der Schüler trainieren wollte, Zitate zu erkennen und sie in entsprechenden Situationen gegebenenfalls selbst ebenfalls im Gespräch zu verwenden. So wäre die „ermüdende[.] pedanterie“ des Autors der Fassung C bei der Gestaltung seiner Redeszenen nicht als Unvermögen zu interpretieren, sondern als der bewusste Versuch, ein ideales Redeverhalten einzuüben. Dieses Verfahren ist sprachspezifisch in dem Sinne, dass es hier um Latein als Fremdsprache geht; es ist kulturspezifisch in dem Sinne, dass hier eine Klerikerkultur im Hintergrund steht, die zwar (wie die weltlich-höfische Kultur auch) über literarische Kompetenz verfügt, darüber hinaus aber Sprachkompetenz und geistliche Bildung erwerben soll.
IV. Fazit Die vorliegenden Untersuchungen geben lediglich erste Einblicke in die Möglichkeiten, die die Erforschung der Redeszenen in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst bietet. Erkennbar wird, dass die Fokussierung auf die Redeszenen neue Interpretationsaspekte sichtbar werden lässt, die als Schritte in die Richtung der Formulierung einer impliziten Poetik verstanden werden können. Im Vergleich zwischen den lateinischen und den deutschen Fassungen des Textes zeigt sich, an sich wenig überraschend, wie unterschiedlich die Poetik der lateinischen und der deutschen Literaturen im 12. und frühen 13. Jahrhundert ist. Nicht näher besprochen wurde hier der Aspekt, dass etwa die lateinische Fassung E durch das Einfügen von antiken Göttern und von Personifikationen als handelnde Figuren, durch descriptiones nach antikem 60 61
Ebd., S. 100. Siehe die Übersicht ebd., S. 127–129.
Die Redeszenen in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst
183
Modell und durch andere stilistische Verfeinerungen einen Stil zu kreieren versucht, der als imitatio der antiken Texte angesehen werden kann; von solchen Stilidealen sind alle deutschen Fassungen weitgehend unberührt. Nicht eingehender behandelt wurde außerdem der Aspekt, dass die deutsche Fassung D die Höfisierungstendenz, die hier für die Fassung B im Vergleich zu A annehmbar gemacht wurde, noch stärker fortsetzt, und damit (trotz des Fehlens einer unmittelbaren französischen Vorlage) französische Stilmuster imitiert; von solchen Stilidealen sind die lateinischen Fassungen weitgehend unberührt. Nicht thematisiert wurden die frühneuzeitlichen Fassungen des Herzog Ernst; auch deren Redeszenen sind noch nicht untersucht worden, ihre Analyse würde aber mit Sicherheit zeigen, dass im 15. und 16. Jahrhundert neue Vorstellungen vom idealen (literarischen) Sprechen erkennbar werden. Um die Poetik der lateinischen und deutschen Literatur oder auch lediglich die Poetik des mittelalterlichen Dialoges präzise beschreiben zu können, bedarf es noch vieler weiterer Einzeluntersuchungen. So gilt es, weiterhin Bausteine zu sammeln. Im Bereich der Funktionen, die den literarischen Redeszenen zugeschrieben werden können, ist der skizzierte bewusste Umgang mit Zitaten besonders hervorzuheben, die sich in C in den Redeszenen signifikant häufen und darauf verweisen, dass insbesondere in den lateinischen Texten ein Spiel mit Prätexten gespielt wird. Die Bedeutung der literarischen Dialoge lässt sich in solchen Fällen erst wirklich ermitteln, wenn die Vorlagen gekannt und interpretierend einbezogen werden. Gerade die vielgeschmähte Fassung C zeigt, dass hier versucht wird, ein Redeverhalten vorzuführen und einzuüben, das nicht nur im literarischen, sondern möglicherweise auch im alltäglichen Gebrauch bewusst Zitate und Versatzstücke aus verschiedenen Prätexten einsetzt. Nur durch den ursprünglichen Kontext der in den Dialogen verwendeten Zitate kann im Rahmen des neuen Textes ein Interpretationsraum eröffnet werden, der dem alten Stoff einen neuen Sinn einschreibt.
184
Nine Miedema
Übersicht über die Redeszenen in Herzog Ernst A/B, C, E und Erf Die Tabelle setzt diejenigen Redeszenen parallel, die inhaltlich vergleichbar sind, ohne dass damit vollkommene Übereinstimmung zwischen den Fassungen postuliert werden soll. Nr.
B (A)
C
E
Erf
Kommentar / Inhalt
1.
B, v. 266–272
C --
E I, v. 251– 258
Erf --
Halbdialog Otto [– Fürsten] (Suche nach einer Ehefrau).
2.
B, v. 288–291, 302–312
C --
E I, v. 270– 279
Erf --
Halbdialog Fürsten [– Otto] (Vorschlag, Adelheid zu ehelichen; in B zunächst Beratung der Fürsten untereinander im Wechsel direkter und indirekter Rede, danach in indirekter Rede die Mitteilung des Beschlusses).
3.
B, v. 336–345
C --
E I, v. 309– 313
Erf --
Dialog Bote – Adelheid (Empfang von Ottos Botschaft; in E Halbdialog Bote).
4.
B, v. 352–392
C --
E I, v. 283– 303
Erf --
(‘Halbdialog’:) Brief Otto [– Adelheid] in direktem Zitat.
5.
B, v. 414–425
C, S. 226f.
E I, v. 325– 332
Erf --
Halbdirekter Dialog [Adelheid –] Ernst (Reaktion auf Brief; in C Dialog).
6.
B, v. 582–601
C, S. 228
E I, v. 441– 444
Erf --
Halbdialog Otto [– Ernst] (Annahme als Sohn) (in C als oratio[.] bezeichnet).
7.
B --
C --
E II, v. 19
Erf --
Monolog Invidia (Plan).
8.
B, v. 680–852 (A Pr I, v. 45– 65; Sa IIv, v. 112–114)
C, S. 230–233
E II, v. 32– 172
Erf I, Z. 67– 127
Dialog Pfalzgraf Heinrich – Otto (Verleumdung Ernsts).
9.
B --
C, S. 235
E --
Erf --
Halbdialog Ernst [– Bote] (Unschuldsbeteuerung) (in C mit Zitat in der direkten Rede).
10.
B, v. 921–948
C --
E --
Erf --
Halbdialog Wetzel [– Ernst] (Rat, die Ursachen des Konflikts in Erfahrung zu bringen).
11.
B --
C --
E II, v. 269– 272
Erf --
Halbdialog Victoria [– Merkur] (Botenauftrag).
12.
B --
C --
E II, v. 286– 288
Erf --
Halbdialog Merkur [– Somnus] (Botenauftrag).
185
Die Redeszenen in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst 13.
B --
C --
E II, v. 318– 340
Erf --
Dialog Wetzel – Ernst (eingeschlafenes Heer Heinrichs).
14.
B --
C --
E II, v. 369– 386
Erf --
Halbdialog Ernst [– Gefolgsleute] (Triumph über das Heer Heinrichs).
15.
B --
C --
E III, v. 5–26
Erf I, Z. 189– 191
Dialog Ernst – Bote – Adelheid (über einen Boten vermittelt Ernst eine Nachricht an Adelheid, sie reagiert darauf in direkter Rede; in Erf Halbdialog Ernst [– Bote]).
16.
B, v. 967–1014
C, S. 238–241
E III, v. 30– 64
Erf I, Z. 196– 207
Dialog Adelheid – Otto (Adelheid verteidigt Ernst) (in C Zitate in der direkten Rede; in C unterstützt von vox de celo).
17.
B, v. 1030– 1039
C --
E III, v. 76– 82
Erf --
Halbdialog Adelheid [– Bote] (Nachricht an Ernst).
18.
B --
C --
E III, v. 85– 113
Erf --
Halbdialog Bote [– Ernst] (Nachricht von Adelheid).
19.
B --
C --
E III, v. 115– 133
Erf --
Halbdialog Ernst [– Gott] (Gebet).
20.
B, v. 1048– 1091
C --
E --
Erf I, Z. 225– 235
Halbdirekter Dialog [Ernst –] Bote (Nachricht von Adelheid) (in Erf Dialog).
21.
B, v. 1110– 1176
C --
E --
Erf --
Dialog Boten – Otto (Nachricht von Ernst).
22.
B, v. 1200– 1242 (A Pr II, v. 1–19)
C, S. 242
E --
Erf --
Halbdialog Ernst [– Gefolgsleute] (Beteuerung Unschuld, Racheversprechen).
23.
B, v. 1245– 1249 (A Pr II: Gedankenrede fehlt)
C --
E --
Erf --
Gedankenrede Ernst (Absicht, den Kaiser in Speyer zu treffen).
24.
B, v. 1294– 1315
C, S. 245f.
E III, v. 184– 198
Erf I, Z. 247– 250
Halbdialog Ernst [– Heinrich] (Schmähung des Toten).
25.
B, v. 1357– 1388
C --
E III, v. 222– 241, 248–259
Erf I, Z. 262– 268
Halbdialog Otto [– Heinrich / – Gefolgsleute] (Klage über Tod Heinrichs, Aufforderung zu Rache).
26.
B --
C, S. 248
E --
Erf --
Halbdialog Adelheid [– Heinrich] (Klage über Tod Heinrichs).
186
Nine Miedema
27.
B, v. 1398– 1425
C --
E --
Erf --
Dialog Otto – Gefolgsleute (Rache für Tod Heinrichs).
28.
B --
C, S. 251f.
E --
Erf --
Halbdialog Bote [– Herzog von Sachsen] (Hilfegesuch Ernsts).
29.
B, v. 1613– 1617
C --
E --
Erf --
Halbdialog Ernst [– Boten aus Regensburg] (Aufgabe der Stadt).
30.
B, v. 1630– 1634
C --
E --
Erf --
Halbdirekter Dialog Otto [– Gefolgsleute] (Zustimmung zur Kapitulation).
31.
B, v. 1743
C --
E --
Erf --
Halbdialog Ernst [– Gefolgsleute] (Begründung für Aufgabe des Krieges).
32.
B --
C, S. 253–256
E --
Erf --
Dialog Herzog von Sachsen – Otto (Vermittlungsversuch) (in C mit Zitaten in der direkten Rede).
33.
B --
C, z.B. S. 260
E --
Erf, z.B. Pr., Z. 11–14
[‘Halbdialog’: Zitate aus literarischen Texten seitens des Erzählers.]
34.
B, v. 1752– 1849 (A Pr IV, v. 1–54)
C, S. 260–263
E IV, v. 16– 57
Erf I, Z. 330– 353
Halbdirekter Dialog Ernst [– Gefolgsleute] (Aufruf, ihm ins Heilige Land zu folgen) (in E und Erf Dialog).
35.
B, v. 1914– 1961
C --
E IV, v. 84– 102
Erf --
Dialog Gefolgsleute – Ernst (Beschluss zu fahren; Dank).
36.
B --
C --
E IV, v. 143– 146
Erf --
Halbdialog Ernst [– Christus] (Gebet).
37.
B, v. 2086– 2107
C --
E --
Erf --
Dialog Ernst – Kaiser von Konstantinopel (Dank für Hilfe / Bitte um urloup).
38.
B, v. 2258– 2287
C, S. 277f.
E IV, v. 161f., 198–206, 246–260
Erf II, Z. 59–71
Dialog Ernst – Gefolgsleute (Trost / Dank für Ankunft in Grippia) (in C und Erf halbdirekter Dialog Ernst; in E 2x Halbdialog, 1x Dialog; in Erf mit Zitat in der direkten Rede).
39.
B, v. 2317– 2352
C, S. 279f.
E IV, v. 268– 280
Erf II, Z. 80–82
Dialog Gefolgsleute – Ernst (menschenleere Burg, Ernsts Verhaltensvorschlag) (in C Halbdialog Ernst; in Erf Halbdialog Gefolgsleute).
40.
B, v. 2399– 2445
C, S. 282–285
E IV, v. 299– 312
Erf --
Halbdialog Ernst [– Gefolgsleute] (Verhaltensvorschlag).
187
Die Redeszenen in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst 41.
B, v. 2485– 2527
C --
E IV, v. 326– 332
Erf --
Dialog Ernst – Wetzel (Plan, allein zur Burg zurückzukehren) (in E Halbdialog Ernst).
42.
B, v. 2703– 2733
C --
E V, v. 35–40
Erf --
Dialog Ernst – Wetzel (Plan, ein Bad zu nehmen) (in E Halbdialog Ernst).
43.
B, v. 2763– 2792
C --
E V, v. 53–59
Erf --
Halbdialog Wetzel [– Ernst] (Ermahnung zurückzukehren).
44.
B, v. 2938– 2994
C --
E V, v. 103– 122
Erf II, Z. 220– 240
Dialog Ernst – Wetzel (Plan für Verhalten gegenüber Grippianern; in Erf mit Zitat in der direkten Rede).
45.
B --
C, S. 293
E V, v. 182– 196
Erf II, Z. 298– 310
Monolog Prinzessin (Klage; in C und Erf mit Zitaten in der direkten Rede).
46.
B, v. 3267– 3360
C, S. 294
E V, v. 203– 241
Erf II, Z. 315– 347
Dialog Ernst – Wetzel (Plan zur Befreiung der Prinzessin) (in C mit Zitat in der direkten Rede).
47.
B --
C --
E V, v. 263– 266
Erf --
Halbdialog Ernst [– Wetzel] (Aufruf zu handeln).
48.
B --
C, S. 295f.
E V, v. 278f.
Erf --
Halbdialog Gefolgsmann Grippia [– Gefolgsleute] (Warnung).
49.
B, v. 3434– 3439
C --
E --
Erf II, Z. 367– 371
Halbdialog Ernst [– Wetzel] (Einsicht, dass sie zu spät sind).
50.
B, v. 3462– 3573
C, S. 296f.
E V, v. 281– 360
Erf II, Z. 378– 403
Dialog Ernst – Prinzessin (in C Halbdialog Prinzessin) (Klage) (in E gefolgt von Gebet Ernsts).
51.
B, v. 3735– 3776
C, S. 301
E VI, v. 13– 30
Erf II, Z. 454– 472
Halbdialog Ernst [– Gefolgsleute] (Aufruf zum tapferen Kampf).
52.
B --
C --
E VI, v. 49– 56
Erf --
Halbdialog Ernst [– Fortuna] (Gebet).
53.
B, v. 3929– 3966
C, S. 305f.
E VI, v. 104– 123
Erf III, Z. 20–50
Halbdialog Gefolgsmann Ernst [– Ernst / Gefolgsleute] (Warnung vor Magnetberg).
54.
B, v. 3970– 3983
C, S. 306–309
E VI, v. 132– 142
Erf --
Halbdialog Ernst [– Gefolgsleute] (Aufforderung zu Gebet) (zitiert in C Kreuzlied).
55.
B --
C, S. 310f.
E VI, v. 197– 209
Erf --
Halbdialog Ernst [– Christus] (Gebet) (in E Halbdialog Gefolgsleute).
188
Nine Miedema
56.
B, v. 4169– 4201
C, S. 312
E VI, v. 215– 228
Erf III, Z. 109– 121
Halbdirekter Dialog Wetzel [– Ernst / Gefolgsleute] (Plan zur Flucht vom Magnetberg), in B (nach Auskunft der Gefolgsleute) sowie C, E und Erf (Auskunft Erzähler) von Gott eingegeben (in Erf Halbdialog).
57.
B, v. 4223– 4243 (A Ma 2b, v. 55–68)
C --
E VI, v. 235– 238
Erf --
Halbdirekter Dialog Wetzel [– Ernst / Gefolgsleute] (Ernst und Wetzel werden als erste fliehen) (in E Halbdialog).
58.
B --
C, S. 316
E --
Erf --
Dialog Ernst – Gefolgsleute (zurückgelassener Gefolgsmann).
59.
B, v. 4400– 4415
C --
E --
Erf --
Dialog Ernst – Wetzel (Plan, ein Floß zu bauen).
60.
B --
C, S. 320–322
E --
Erf --
Halbdialog aller Gefolgsleute Ernsts [– Christus] (Gebet).
61.
B, v. 4528f.
C --
E --
Erf III, Z. 145
Halbdialog Ernst [– Gefolgsleute] (Aufforderung, sich in Gottes Hand zu geben).
62.
B, v. 4578– 4593
C --
E --
Erf --
Halbdirekter Dialog [Zyklopenkönig –] Zyklopengraf (Herkunft Ernst).
63.
B --
C, S. 325–327
E --
Erf --
Dialog Ernst – Zyklopen (Bitte um Essen und Kleidung, bisheriges Schicksal).
64.
B --
C, S. 328f.
E --
Erf --
Dialog Ernst – Zyklopenkönig (Bedrohung durch Sciapoden).
65.
B, v. 4760– 4771
C --
E VII, v. 69– 72
Erf --
Halbdialog Zyklopenkönig [– Ernst] (Dank, Belehnung).
66.
B --
C, S. 330f.
E --
Erf --
Dialog Ernst – Zyklopenkönig (Bedrohung durch Panotier).
67.
B --
C --
E VII, v. 135– 147
Erf --
Halbdialog Zyklopen [– Ernst] (Lobgesang).
68.
B --
C --
E VII, v. 155– 177
Erf --
Halbdialog Zyklopen [– Ernst] (Beschreibung u.a. der Pygmäen).
69.
B, v. 4942
(C, S. 338f.)
E --
Erf --
Halbdialog Ernst [– Pygmäen] (Treueversprechen) (in C Dialog Gefolgsleute Ernst – Pygmäen).
189
Die Redeszenen in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst 70.
B, v. 4984– 4999
C --
E --
Erf III, Z. 354– 356
Dialog Pygmäenkönig – Ernst (Ablehnung der Thronwürde, Dank) (in Erf halbdirekter Dialog Ernst).
71.
B --
C --
E VII, v. 220– 225, 229–236
Erf --
Halbdialog Giganten [– Giganten / Zyklopenkönig] (Tributforderung).
72.
B, v. 5056– 5088
C, S. 333
E VII, v. 240– 260
Erf III, Z. 380– 392
Dialog Zyklopenkönig – Ernst / Zyklopen (Bedrohung durch Giganten) (in C Halbdialog Ernst; in E Dialog Zyklopen – Ernst; in Erf halbdirekter Dialog Ernst).
73.
B, v. 5090– 5110
C --
E VII, v. 262– 279
Erf --
Halbdialog Zyklopenkönig [– Gigantenbote] (Tributverweigerung).
74.
B, v. 5123– 5164
C, S. 333
E VII, v. 283– 303, 309–322
Erf III, Z. 400– 417
Dialog Gefolgsleute Gigantenkönig (Ratschläge an Gigantenkönig) (in C und Erf Halbdialog Gigantenbote; in E Dialog Gigantenbote – Gigantenkönig, gefolgt von Ansprache Gigantenkönig; in Erf mit Zitat in der direkten Rede).
75.
B, v. 5182– 5200
C --
E VII, v. 341– 353
Erf III, Z. 434– 442
Halbdialog Ernst [– Zyklopen] (Streitplan gegen Giganten; in Erf mit Zitat in der direkten Rede).
76.
B, v. 5340– 5403 (A Kl 1rb ohne direkte Rede)
C, S. 341–343
E VIII, v. 32– 53
Erf IV, Z. 15–24
Dialog Ernst – Kaufleute (Möglichkeit der Reise nach Jerusalem) (in B, C und E weitgehend halbdirekter Dialog Kaufleute, unterbrochen durch Ernsts Fragen in indirekter Rede; in C mit Zitaten in der direkten Rede).
77.
B --
C --
E VIII, v. 66– 68
Erf --
Halbdialog Ernst [– Gott] (Gebet).
78.
B, v. 5461– 5463
C --
E --
Erf --
Halbdirekter Dialog Mohrenkönig [– Ernst] (Willkommensgruß).
79.
B, v. 5473– 5501
C --
E VIII, v. 88– 96
Erf --
Dialog Ernst – Mohrenkönig (Freundschaftsbeteuerung).
80.
B --
C, S. 345–347
E VIII, v. 120–137
Erf --
Halbdialog Ernst [– König von Indien / Gefolgsleute] (Aufruf zu Gottesvertrauen) (in E Dialog Ernst – König von Indien).
190
Nine Miedema
81.
B --
C, S. 348–350
E --
Erf --
Dialog König von Indien / Ernst – Gefolgsleute (Gottesvertrauen) (in C mit Zitaten in der direkten Rede).
82.
B --
C, S. 351
E --
Erf --
Halbdialog Wetzel [– Ernst] (Rat).
83.
B --
C, S. 352
E --
Erf --
Halbdialog Wetzel [– Ernst] (Warnung).
84.
B --
C --
E VIII, v. 153–156
Erf --
Halbdialog Ernst [– Christus] (Gebet).
85.
B --
C, S. 354–363
E VIII, v. 218–221
Erf --
Dialog Ernst – König von Babilonien – König von Indien (Gefangenschaft, Bekehrung, Abschied) (in E halbdirekter Dialog Ernst).
86.
B --
C, S. 364f.
E --
Erf --
Halbdialog Ernst [– Gott] (Gebet).
87.
B --
C, S. 365
E --
Erf --
Halbdialog Wetzel [– Gott] (Gebet).
88.
B, v. 5734– 5740
C --
E --
Erf --
Halbdialog Gefolgsleute Otto (Vergebung für Ernst).
89.
B --
C, S. 367
E --
Erf --
Gedankenrede Adelheid (Verlangen, Ernst wiederzusehen) (in C: ait intra se).
90.
B --
C, S. 368
E --
Erf --
Dialog Otto – Adelheid (Ernsts Rückkehr).
91.
B --
C, S. 370
E --
Erf --
Halbdialog der Menge (Bewunderung für Ernst).
92.
B --
C, S. 372f.
E --
Erf --
Halbdialog Ernst [– Gott] (Gebet).
93.
B, v. 5832– 5844
C --
E --
Erf --
Halbdialog Gefolgsmann Ernst [– Ernst / Wetzel] (Aufforderung, zum Hoftag nach Bamberg zu kommen).
94.
B --
C, S. 374
E --
Erf --
Halbdialog Ernst [– Wetzel] (Plan, Adelheid zu treffen).
95.
B, v. 5870– 5881
C, S. 375–377
E VII, v. 338– 351
Erf IV, Z. 178– 182
Halbdialog Adelheid [– Ernst] (in C Dialog Ernst – Adelheid; in E Dialog Adelheid – Ernst; in Erf halbdirekter Dialog Ernst; in C und Erf mit Zitat in der direkten Rede).
96.
B --
C, S. 379f.
E --
Erf --
Dialog Otto – Adelheid (Schönheit).
191
Die Redeszenen in den verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst 97.
B --
C, S. 380f.
E --
Erf --
Halbdialog Bischof von Bamberg [– Menge] (Predigt).
98.
B, v. 5924– 5957
C, S. 382–385
E VIII, v. 376–378
Erf IV, Z. 220– 222
Dialog Fürsten – Otto (Otto vergibt ihm als einem Unbekannten, will widerrufen, wird davon abgehalten) (in C Dialog Ernst – Otto – Adelheid; in E und Erf halbdirekter Dialog Otto).
99.
B --
C, S. 388f.
E --
Erf --
Halbdirekter Dialog Otto [– Ernst] (Versöhnung).
100.
B, v. 5973
C --
E --
Erf --
Halbdirekter Dialog [Otto –] Ernst (Auskunft über Ernsts Gefolge).
101.
B --
C, S. 391
E --
Erf --
Dialog Otto – Adelheid (Wunder).
Angela Schrott
Von der Lebendigkeit der Heiligenleben Traditionen der Dialoggestaltung bei Gonzalo de Berceo
Die hagiographischen Werke Gonzalos de Berceo1 werden zu Recht als Texte charakterisiert, die das Handeln der Figuren in hohem Maße durch Redeszenen darstellen.2 Diese Ausformung wird vor allem in komparatistischer Perspektive vor der Folie der lateinischen Vorlagen deutlich. Im Zentrum des hier unternommenen Vergleichs, für den ich auf die Vida de San Millán de la Cogolla (um 1230)3 und ihre lateinische Vorlage, die Vita Beati Emiliani,4 zurückgreife, steht die Frage, aus welchen Traditionen jenseits der lateinischen Vitenliteratur die mimetische Inszenierung von Rede und Dialog in der Vida de San Millán schöpft. Denn die Übertragung in die Volkssprache ist nicht allein ein sprachlicher, sondern auch ein kultureller Übergang, der in der zeitgleichen Herausbildung des mester de clerecía als volkssprachliche Gattung gelehrter Klerikerdichtung seinen Niederschlag findet. Dieser sprachlich-kulturelle Transfer wird auf der Grundlage eines sprachwissenschaftlich fundierten Modells der Traditionen des Sprechens methodologisch vertieft, das es ermöglicht, Traditionen der Dialoggestaltung in einem linguistisch-philologischen Brückenschlag zu analysieren.5
1
2
3
4
5
Zu nennen sind ferner die Vida de Santo Domingo de Silos, die Vida de Santa Oria und die marianische Mirakelsammlung Milagros de Nuestra Señora. Gonzalo de Berceo, Vida de San Millán de la Cogolla, estudio y edición crítica por Brian Dutton, London 21984, hier S. 229; vgl. auch: Vida de Santo Domingo de Silos, hg. von Teresa Labarta de Chaves, Madrid 1972, hier S. 28f.; Milagros de Nuestra Señora, edición, prólogo y notas de Fernando Baños, Barcelona 1997 (Biblioteca clásica 3), hier S. LV. Der Text wird nach folgender Edition zitiert: Vida de San Millán de la Cogolla, edición y comentario de Brian Dutton, in: Gonzalo de Berceo, Obra completa, coordinado por Isabel Uría, Madrid 1992, S. 117–249. Textgrundlage ist Brian Duttons Edition der Vita Beati Emiliani de san Braulio, in: Dutton (wie Anm. 2), S. 209–229. Angela Schrott, Fragen und Antworten in historischen Kontexten. Ein Beitrag zur historischen Dialoganalyse und zur historischen Pragmatik am Beispiel altspanischer literarischer Texte, Habilitationsschrift, Ruhr-Universität Bochum 2006.
194
Angela Schrott
I. Historische Dialoganalyse und Traditionen des Sprechens Die historische Dialoganalyse als Teilbereich der historischen Pragmatik deutet Dialogakte und Dialogformen als geschichtliche Lebensformen und untersucht, welche Traditionen des Sprechens bei der Lösung kommunikativer Aufgaben Anwendung finden.6 Da das Sprechen als Tätigkeit in der Geschichte stehender Subjekte immer historisch vermittelt ist, haben die Traditionen des Sprechens eine geschichtliche Dimension und sind daher wandelbare Größen. Um diese Traditionen als Wissensbestände analytisch zu differenzieren, wird das für Sprach- und Literaturwissenschaft gleichermaßen relevante System der Sprachkompetenz nach Eugenio Coseriu zugrunde gelegt, das ich im Folgenden zu einem Modell der (historischen) Dialoganalyse umdeute. Ausgangspunkt ist, dass das Sprechen „eine universelle allgemein-menschliche Tätigkeit“ ist, die von den Sprechern als „Vertretern von Sprachgemeinschaften mit gemeinschaftlichen Traditionen des Sprechenkönnens individuell in bestimmten Situationen“ realisiert wird:7 Abb. 1: Regeln und Traditionen des Sprechens nach Coseriu Ebene
Gesichtspunkt Tätigkeit (energeia)
Wissen (dynamis)
universell
Sprechen im Allgemeinen
allgemein-universelle Regeln des Sprechens
historisch
Einzelsprache
idiomatische Traditionen
individuell
Diskurs
Diskurstraditionen
Produkt (ergon)
Text
Grundsätzlich kann das Sprechen unter drei Gesichtspunkten betrachtet werden: als Tätigkeit (energeia), die beständig neues Wissen schafft, als gegebenes Wissen (dynamis), auf das die Sprecher zurückgreifen, und als Produkt des Sprechens (ergon). Diese drei Gesichtspunkte können auf drei Eigenschaften der Rede – universell, historisch und individuell – bezogen werden.8 Das Sprechen ist zunächst „allgemein-universell“, da es von übereinzelsprachlichen Regeln geprägt ist, die als kognitive und semiotische Fähigkeiten dem Sprechen in allen 6
7
8
Zur historischen Dialoganalyse vgl. Gerd Fritz, „Geschichte von Dialogformen“, in: Handbuch der Dialoganalyse, hg. von dems. und Franz Hundsnurscher, Tübingen 1994, S. 545–562, hier S. 557f.; Andreas H. Jucker, Gerd Fritz und Franz Lebsanft, „Historical Dialogue Analysis: Roots and Traditions in the Study of the Romance Languages, German and English“, in: Historical Dialogue Analysis, hg. von dens., Amsterdam/Philadelphia 1999 (Pragmatics and Beyond 66), S. 1–33, hier S. 7–9; Schrott (wie Anm. 5), S. 86–102; Jörg Kilian, Historische Dialogforschung. Eine Einführung, Tübingen 2005 (Germanistische Arbeitshefte 41), hier S. 11–15. Eugenio Coseriu, Sprachkompetenz. Grundzüge der Theorie des Sprechens, Tübingen 1988, hier S. 70; Schrott (wie Anm. 5), S. 19. Zum (modifizierten) Schema vgl. Schrott (wie Anm. 5), S. 19f. Zu den im Folgenden erörterten Ebenen der Sprachkompetenz und den Typen des Wissens vgl. Coseriu (wie Anm. 7), S. 95f. und 121–125; Schrott (wie Anm. 5), S. 13–36.
195
Von der Lebendigkeit der Heiligenleben
Sprachen und Kulturen zugrunde liegen. Zugleich ist das Sprechen in dem Sinne „historisch“, dass es sich immer in bestimmten Sprachen (Spanisch, Deutsch etc.) manifestiert, deren idiomatische Traditionen als „Traditionen des Sprechenkönnens“ eine (Sprach-) Geschichte haben. Und da jeder Sprecher in konkreten Sprechsituationen als Individuum agiert, ist die Rede zugleich „individuell“. In der individuellen, situationsgebundenen Rede selegieren die Sprecher diejenigen sprachlichen Mittel, die der gestellten kommunikativen Aufgabe – sei es eine Begrüßung, sei es ein höflich abgefederter Bittbrief – angemessen sind. Leitfaden bei dieser Auswahl sind die „Diskurstraditionen“, die als sprachbezogenes kulturelles Wissen das Sprechen anleiten. Als kulturelles Wissen unterliegen die Diskurstraditionen wie die idiomatischen Traditionen dem geschichtlichen Wandel, so dass zur Historizität der Sprachen noch die Geschichtlichkeit der Diskurstraditionen hinzutritt.9 Alle drei genannten Wissensbestände konvergieren im Text als Produkt individueller und situationsgebundener Sprechtätigkeit. Pragmalinguistische bzw. dialoganalytische Untersuchungen berücksichtigen implizit immer alle drei Wissensbestände, sie können jedoch jeweils einen Wissenstyp fokussieren und auf diese Weise drei verschiedene Perspektiven entwickeln:10 Abb. 2: Wissensbestände und Perspektiven der (historischen) Dialoganalyse universelle Ebene des Sprechens im Allgemeinen
historische Ebene der Einzelsprachen
individuelle Ebene der Diskurse
allgemein-universelle Regeln idiomatische Traditionen des Sprechens
Diskurstraditionen
allgemein-universelle Dialoganalyse
Dialoganalyse der Diskurstraditionen
einzelsprachliche Dialoganalyse
Die drei Perspektiven der (historischen) Dialoganalyse
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Zum Zusammenwirken sprachlicher und kultureller Traditionen des Sprechens vgl. auch Eugenio Coseriu, Textlinguistik, hg. und bearbeitet von Jörn Albrecht, dritte und erweiterte Auflage, Tübingen/Basel 1994, hier S. 49–52. Zur (romanistischen) Diskussion um Status und Funktionen der Diskurstraditionen vgl. Brigitte Schlieben-Lange, Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung, Stuttgart u.a. 1983, S. 15 und 104–106; Peter Koch, „Diskurstraditionen: Zu ihrem sprachtheoretischen Status und ihrer Dynamik“, in: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, hg. von Barbara Frank, Thomas Haye und Doris Tophinke, Tübingen 1997 (ScriptOralia 99), S. 43–79, hier S. 45f.; ders., „Tradiciones discursivas y cambio lingüístico: El ejemplo del tratamiento vuestra merced en español“, in: Sintaxis histórica del español y cambio lingüistico: Nuevas perspectivas desde las tradiciones discursivas, hg. von Johannes Kabatek, Madrid/Frankfurt a.M. 2008, S. 43– 79, hier S. 53–64; Franz Lebsanft, „Kommunikationsprinzipien, Texttraditionen, Geschichte“, in: Historische Pragmatik und historische Varietätenlinguistik in den romanischen Sprachen, hg. von Angela Schrott und Harald Völker, Göttingen 2005, S. 25–44, hier S. 30–32. Schrott (wie Anm. 5), S. 77.
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Die „allgemein-universelle Dialoganalyse“ fragt nach allgemeinen Regeln, die allen Sprachen und Kulturen gemeinsam sind, wogegen die „einzelsprachliche Dialoganalyse“ die idiomatischen Traditionen in einer pragmatisch-funktionalen Perspektive analysiert. Die „Dialoganalyse der Diskurstraditionen“ schließlich akzentuiert die kulturellen Traditionen des Sprechens. Eine Untersuchung, die sich den Traditionen der Dialoggestaltung bei Gonzalo de Berceo widmet, konzentriert sich auf den Gesichtspunkt der Wissensbestände (dynamis) und fokussiert dabei die Diskurstraditionen als kulturelle Anleitungen zum dialogischen Sprechen. Die Deutung eines altspanischen Textes und seiner lateinischen Vorlage impliziert dabei zugleich den Gesichtspunkt des ergon, denn die überlieferten Texte sind „Produkte“ vergangener Diskurse,11 die als Tätigkeit (energeia) nicht mehr zugänglich sind und deren sprachliche und kulturelle Traditionen nur fragmentarisch rekonstruiert werden können. Als Traditionen des Sprechens sind idiomatisches Wissen und Diskurstraditionen besonders eng verbunden. So brauchen Diskurstraditionen das sprachliche Wissen, um sich als sprachbezogene kulturelle Traditionen überhaupt manifestieren zu können, sie können jedoch von einer Sprache in die andere übertragen werden und sind in diesem Sinne einzelsprachunabhängig.12 Idiomatische Traditionen und Diskurstraditionen unterscheiden sich allerdings darin, dass ein lateinischer oder altspanischer Text durchgängig von den idiomatischen Traditionen des Lateinischen bzw. des Altspanischen geprägt ist, wogegen sich in ein und demselben Text verschiedene Diskurstraditionen überlagern können – Beispiele einer solchen Kopräsenz liefern die dialogischen Redeszenen in der Vida de San Millán. Eine Besonderheit betrifft die Gemeinschaften, die beide Wissenstypen tragen. So bilden idiomatische Traditionen aus eigener Kraft eine Gemeinschaft, denn für die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft ist die Sprache – das Spanische, Altspanische oder das Deutsche – identitätsstiftend. Im Fall der Diskurstraditionen dagegen erfolgt die Gemeinschaftsbildung in umgekehrter Richtung: Die Sprecher gehören nicht zusammen, weil sie gemeinsame Diskurstraditionen anwenden, sondern sie haben sich als kulturelle Gemeinschaft formiert und verwenden deshalb bestimmte, ihnen gemeinsame Diskurstraditionen.13 Und während Sprachgemeinschaften relativ große Makrostrukturen bilden, sind kulturelle Gruppierungen, die Diskurstraditionen tragen, meist kleinräumiger und bilden Mikrostrukturen, welche die Sprachgemeinschaften wie ein feines Netz durchziehen. Denn Diskurstraditionen wie das Grüßen oder das Bitten werden zwar von vielen Sprechern beherrscht, doch elaboriertere Gattungstraditionen wie die Predigt oder das Heiligenleben beherrschen nur sehr wenige Sprecher. Damit ist bereits ein weiteres Charakteristikum von Diskurstraditionen angesprochen, nämlich deren unterschiedliche Komplexität. Prinzipiell fungieren sowohl Grußformeln als auch Gattungen wie das Heiligenleben als kulturelle ‘Anleitung’ zum Sprechen. Doch während eine Grußformel eine ‘für sich stehende’ Diskurstradition ist, setzt sich die Gattung 11
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Die Begriffe „Diskurs“ und „Text“, die oft synonym gebraucht werden, werden hier zur Unterscheidung von Tätigkeit (energeia) und Produkt (ergon) genutzt. So kann etwa eine Tradition des Bittens (‘Könnten Sie mir bitte das Brot geben?’) oder eine literarische Tradition wie das Sonett prinzipiell von einer Sprache in die andere übersetzt werden. Coseriu (wie Anm. 7), S. 86; Schrott (wie Anm. 5), S. 34–36.
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komposit aus mehreren Diskurstraditionen zusammen, die gestalthaft ein historisch-normhaftes Ensemble bilden.14 In diesem Sinne sind Gattungen wie die Predigt oder das Heiligenleben komplexe und historisch verfestigte Kombinationen von Diskurstraditionen. Von solchen Konfigurationen, die als Gattungen die Vida de San Millán und ihre lateinische Vorlage prägen, ist im nächsten Abschnitt die Rede.
II. Die Vida de San Millán de la Cogolla – Traditionen des Heiligenlebens zwischen Latein und Volkssprache Vor der Folie des einleitend besprochenen Modells der Traditionen des Sprechens werden im Folgenden die Vida de San Millán und ihre Vorlage als (literarische) Gattungen in systematische Relation zu den sprachlichen und kulturellen Wissensbeständen gesetzt, um auf diese Weise die bekannten literarischen Entwicklungen aus pragmalinguistischer Sicht zu deuten. Die altspanische Vida de San Millán und ihre heterogenen (Diskurs-) Traditionen erschließen sich im Kontext des Übergangs zwischen lateinischer Klerikerkultur und volkssprachlicher Kultur. Das Diktum Max Wehrlis,15 die volkssprachliche Literatur des Mittelalters sei ein einziger großer Prozess der Aneignung und Umwandlung des antiken und christlichen Erbes, gilt im Fall des mester de clerecía in besonderer Weise.16 Denn der mester überträgt als innovative Gattung Stoffe und Wissensbestände der lateinischen Schriftkultur in die volkssprachlich-mündliche Kultur und etabliert so eine Verbindung zwischen den „Bildungswelten“17 der litterati und der illitterati. Beide Bildungswelten fungieren als voneinander geschiedene „Diskursuniversen“,18 die jeweils über ein eigenes Ensemble kommunikativer Praktiken und Gattungen verfügen und unterschiedlichen lebensweltlichen Bereichen angehören. Als Diskursuniversen bilden lateinische Klerikerkultur und volkssprachliche Kultur damit zwei sprachlich und kulturell abgrenzbare Domänen, die von verschiedenen Sprechergruppen 14
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Wolf-Dieter Stempel, „Gibt es Textsorten?“, in: Textsorten. Differenzierungskriterien aus linguistischer Sicht, hg. von Elisabeth Gülich und Wolfgang Raible, Frankfurt a.M. 1972, S. 175–179, hier S. 176. Max Wehrli, Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poetologische Einführung, Stuttgart 1984, hier S. 48. Zum mester de clerecía vgl. Ramón Menéndez Pidal, Poesía juglaresca y origenes de las literaturas románicas, Madrid 61957, hier S. 275–279; Hans Flasche, Geschichte der spanischen Literatur, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts, Bern/München 1977, hier S. 108–173; Hans Ulrich Gumbrecht, Eine Geschichte der spanischen Literatur, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1990, hier S. 52f.; Manuel Alvar, „Gonzalo de Berceo como hagiógrafo“, in: Gonzalo de Berceo, Obra completa (wie Anm. 3), S. 29–59, hier S. 33f. und 47f.; Manfred Tietz, „Mittelalter und Spätmittelalter“, in: Spanische Literaturgeschichte, hg. von Hans-Jörg Neuschäfer, Stuttgart/Weimar 1997, S. 1–68, hier S. 31–33. Wehrli (wie Anm. 15), S. 34f. Zum Begriff des „Diskursuniversums“ vgl. Schlieben-Lange (wie Anm. 9), S. 139f. und 146f.
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getragen werden. Hagiographische Texte wie die Heiligenleben Gonzalos de Berceo leisten die Einkleidung und Adaption lateinisch-christlicher Stofftraditionen und Lehren für die illitterati und schreiben sich so in den Impetus des 12. und 13. Jahrhunderts ein, die religiösen Wissensbestände der clerici in die Volkssprache zu übertragen.19 Wenn Gonzalo de Berceo als clericus um 1230 die lateinische Vita Beati Emiliani in die Volkssprache überträgt,20 dann versetzt er den Text damit in den „kommunikativen Haushalt“21 der mündlichvolkssprachlichen Kultur. Diese Grenzüberschreitung bedingt, dass die Vita nicht allein übersetzt, sondern auch diskurstraditionell umgeformt und an die volkssprachliche Bildungswelt adaptiert wird. Diese Übertragung der Vita Beati Emiliani in das Altspanische wird durch die ‘Unfestigkeit’ der Heiligenviten vorbereitet, die als Gebrauchstexte bereits innerhalb der lateinischen Bildungswelt durch eine hohe Varianz charakterisiert sind. So finden sich bei Heiligenviten oft Dubletten in Vers und Prosa. Während die Prosaviten im sermo humilis gehalten sind und für die öffentliche liturgische Lesung im größeren Kreis der Ordensbrüder und Gläubigen gedacht sind, dienen die rhetorisch elaborierteren Versfassungen dem Studium der scolastici im Kloster.22 Diese innerlateinische Varianz bereitet den Boden für den grenzüberschreitenden Übergang in die Volkssprache und für die umfassende Umformung im mester de clerecía. Die wichtigste Vorlage für Gonzalos Vida de San Millán de la Cogolla ist, wie bereits erwähnt, die um 640 entstandene Vita Beati Emiliani des Braulio,23 die sich als historischnormhaftes Ensemble von Diskurstraditionen aus der Geschichtsschreibung und aus der ars 19
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Zu hagiographischen Texten des spanischen Mittelalters und zu Gonzalo de Berceo vgl. Uda Ebel, Das altromanische Mirakel, Heidelberg 1965, hier S. 20–25; Flasche (wie Anm. 16), S. 129–149; Fernando Baños Vallejo, La hagiografía como género literario en la edad media. Tipología de doce Vidas individuales castellanas, Oviedo 1989, hier S. 32–58 und 135–207; Albert Gier und John Esten Keller, „Les formes narratives brèves en Espagne et au Portugal“, in: Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters: Les formes narratives brèves (Vol. 5, T. 1/2, Fasc. 2), hg. von Wolf-Dieter Lange, Heidelberg 1985, S. 15–151, hier S. 16–33. Isabel Uría Maqua, „Clerecía y letras vernáculas en el siglo XIII“, in: Gonzalo de Berceo, Milagros de Nuestra Señora (wie Anm. 2), S. IX–XXVI, hier S. IX–XIII; Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen/Basel [1952] 111993, hier S. 389–391. Thomas Luckmann, „Allgemeine Überlegungen zu kommunikativen Gattungen“, in: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit (wie Anm. 9), S. 11–17, hier S. 16. Heinz Hofmann, „Artikulationsformen historischen Wissens in der lateinischen Historiographie des hohen und späten Mittelalters: 7. Biographisch orientierte Geschichtsschreibung“, in: Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters: La littérature historiographique des origines à 1500 (Vol. 11, T. 1/2), hg. von Hans Ulrich Gumbrecht, Ursula Link-Heer und Peter-Michael Spangenberg, Heidelberg 1987, S. 518–617, hier S. 534f.; Dieter von der Nahmer, Die lateinische Heiligenvita, Darmstadt 1994, hier S. 172f. Braulio war Schüler Isidors von Sevilla und wirkte von 631 bis 651 als Bischof von Zaragoza. Gonzalo de Berceo verweist an einer Stelle der Vida de San Millán explizit auf seine Quelle (Str. 137d): Braulio lo diz que ovo la verdad escrivida. Zu Braulio vgl. Carlos H. Lynch und Pascual Galindo, San Braulio, obispo de Zaragoza, Madrid 1950, hier S. 255–278; Franz Brunhölzl, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. 1, München 1975, hier S. 91f.
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praedicandi speist. Denn mittelalterliche Heiligenviten gelten als personenzentrierte Formen der Geschichtsschreibung, in denen sich als Spiegel des christlichen ordo historisch überprüfbare Fakten und theologisch geglaubte Wahrheit verbinden.24 Darüber hinaus werden Heiligenviten von der ars praedicandi beeinflusst und stehen im Zeichen der Didaxe.25 So war die Vita Beati Emiliani für die liturgischen Lesungen am Fest des Heiligen gedacht: Der Text wurde in lectiones aufgeteilt, die dann als Exempla in die Predigten integriert wurden.26 Die Vida de San Millán dokumentiert die Hybridität des mester de clerecía, da sich in diesem Text die für die Heiligenvita konstitutiven Diskurstraditionen der Historiographie und der ars praedicandi mit den Traditionen mündlich-volkssprachlicher Dichtung überlagern. Die amplificationes und Umformungen, die Gonzalo vornimmt, sind überwiegend von den Traditionen und Gattungen der Mündlichkeit beeinflusst, in deren Diskursuniversum er sich durch die Übersetzung begibt.27 Diese Prägung zeigt sich in den Stofftraditionen und in der sprachlichen elocutio des Textes. So ist zwar Braulios Vita die alleinige Vorlage für den Großteil des Textes (Str. 1–361),28 doch integriert Gonzalo auch volkssprachliche Stofftraditionen um den Grafen Fernán González (Str. 362–489).29 Im Vergleich zur Vita zeigt sich, dass Gonzalo zwar der Chronologie seiner Quelle Kapitel für Kapitel folgt, sich jedoch 24
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Hans Ulrich Gumbrecht, „Menschliches Handeln und göttliche Kosmologie: Geschichte als Exempel“, in: Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters: La littérature historiographique des origines à 1500 (Vol. 11, T. 1/3), hg. von Hans Ulrich Gumbrecht, Ursula Link-Heer und Peter-Michael Spangenberg, Heidelberg 1987, S. 869–951, hier S. 899f.; Hofmann (wie Anm. 22), S. 520f. Zur Verbindung von Hagiographie und Geschichtsschreibung vgl. ebenfalls Stephanie Haarländer, Vitae episcoporum. Eine Quellengattung zwischen Hagiographie und Historiographie, untersucht an Lebensbeschreibungen von Bischöfen des Regnum teutonicum im Zeitalter der Ottonen und Salier, Stuttgart 2000, hier S. 1–12. Zur Heiligenvita und zum Einfluss der ars praedicandi vgl. von der Nahmer (wie Anm. 22), S. 170–178; Phyllis B. Roberts, „Ars praedicandi“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 1064–1071. Zur Heiligenvita als didaktisch angelegte Gattung vgl. Gumbrecht (wie Anm. 24), S. 899f. und 934, sowie Haarländer (wie Anm. 24), S. 32, 79 und 533. Nach Lynch und Galindo (wie Anm. 23), S. 262, finden sich in den Handschriften entsprechende Spuren einer Aufteilung in Lektionen. Zu den Diskurstraditionen der mittelalterlichen Predigt vgl. auch Heinz-Günther Schöttler und Albert Biesinger, „Mittelalter“, in: Albrecht Beutel u.a., „Predigt“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 7, Tübingen 2005, Sp. 45–96, hier Sp. 59–64. Alvar (wie Anm. 16), S. 38 und 40f. Die Integration der juglaria zeigt sich in zahlreichen epischen Formeln und Epitheta (vgl. etwa Vida de San Millán, Str. 32b, 58b, 405a und 416b). Gerhard Koberstein, Estoria de San Millán. Textkritische Edition, Münster 1964, hier S. 81f. Nach Koberstein wurden zwei Handschriften der Vita Beati Emiliani im Kloster San Millán überliefert: Liber de vita et mirabilibus sancti emiliani presbyteri et confessoris christi (Ms. 47, fol. 30ss.) und Vita Sancti Emiliani Presbyteri et Confessoris (Ms. 10, fol. CVrss.). Herausgegriffen wird das Motiv eines Gelübdes, das auf die Initiative des Grafen Fernán González hin zu Gunsten des Klosters San Millán vollzogen wurde. Vgl. Dutton (wie Anm. 2), S. 208, und Dutton (wie Anm. 3), S. 121.
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zugleich durch amplificationes von ihr entfernt.30 Diese Erweiterungen speisen sich zu einem großen Teil aus den Topoi und Strukturen der cantares de gesta und der mit ihnen verbundenen Techniken der juglaría als mündliche performance-Kultur, mit deren Hilfe Gonzalo wie ein juglar einen neuen Text erzeugt. So erscheint etwa Millán als Held epischen Zuschnitts und die fiktionale Erzählerfigur wird als mit dem Publikum interagierender juglar gestaltet.31 Diese Wandlung der Diskurstraditionen spiegelt sich auch in der veränderten Rezeption der altspanischen Vida, denn während die lateinischen Viten im Rahmen der Liturgie oder in der relativ homogenen Klostergemeinschaft zur Belehrung der Mönche vorgelesen wurden, hat der mester de clerecía ein Publikum, in dem sich litterati und illitterati mischen32 und vor dem die Vidas vermutlich als paraliturgische Chansons de Saints im Stil einer juglaresken performance vorgetragen wurden.33 Damit zeigt sich der Transfer zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht allein in den volkssprachlichen Texten als „Produkten“, sondern auch in der Entstehung einer neuen Gattung, in der sich Diskurstraditionen in neuer Weise zu einem kulturellen Ensemble verfestigen. Der mester de clerecía, für den Gonzalo ein früher und zentraler Repräsentant ist, erscheint so als Brückenschlag zwischen volkssprachlich-mündlichen Traditionen und Klerikerkultur. Der so aus literaturwissenschaftlicher Sicht skizzierte Übergang zwischen den Diskursuniversen kann im Modell der Traditionen des Sprechens präzisierend abgebildet werden. Das Altspanische (bzw. seine diatopischen Varietäten) konstituiert kraft seiner idiomatischen Traditionen eine Sprachgemeinschaft, die litterati und illitterati gleichermaßen umfasst – die altspanische Sprachgemeinschaft beherbergt damit Sprecher, die ganz unterschiedlichen kulturellen Konfigurationen angehören. Doch während die illitterati auf die volkssprachliche Bildungswelt begrenzt sind, haben die litterati Anteil an einem weiteren Diskursuniversum und konstituieren sich über die (exklusivere) schriftlich-lateinische Kultur als Gemeinschaft der clerici. Diese Besonderheit der lateinischen und der volkssprachlichen Bildungswelt wird kontrastiv zu heutigen Sprach- und Kulturgemeinschaften deutlich. Betrachtet man etwa die spanische oder deutsche Sprachgemeinschaft der Gegenwart, dann gehören die Sprecher b e i d e r Sprachen den verschiedensten kulturellen Gruppierungen an. Beide Sprachgemeinschaften sind hinsichtlich der Diskurstraditionen, welche die Sprecher des Spanischen bzw. des Deutschen beherrschen, kleinräumig differenziert und hetero30
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Dutton (wie Anm. 2), S. 209–229, listet Weglassungen und amplificationes Gonzalos de Berceo in einer Zusammenschau auf. Zu juglaresken Elementen bei Gonzalo de Berceo vgl. Menéndez Pidal (wie Anm. 16), S. 274–276; Joaquín Artiles, Los recursos literarios de Berceo, Madrid 1968, hier S. 107–123 und 241f.; Dutton (wie Anm. 2), S. 188–191; Alvar (wie Anm. 16), S. 37f. Isabel Uría Maqua, „La forma de difusión y el público de los poemas del mester de clerecía del siglo XIII“, in: Glosa 1 (1990), S. 99–116; von der Nahmer (wie Anm. 22), S. 170–178. Vermutlich waren die Zuhörer zu einem großen Teil Pilger, die auf dem Weg nach Santiago de Compostela im Kloster Station machten. Paul Zumthor, La poésie et la voix dans la civilisation médiévale, Paris 1984, hier S. 19. Nach Dutton (wie Anm. 2), S. 185, wurde das Werk von „juglares piadosos“ vorgetragen.
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gen. Im Mittelalter gilt dies ebenfalls für die Volkssprachen, in denen sich litterati und illitterati mischen, jedoch nicht für das Lateinische, das Sprache und Kultur zugleich ist. Denn das ‘lateinische Mittelalter’ ist primär eine Kulturgemeinschaft, die sich zugleich durch die Beherrschung des Lateinischen sekundär als Sprachgemeinschaft manifestiert. Damit ist der seltene Fall gegeben, dass eine Kulturgemeinschaft völlig mit einer Sprachgemeinschaft kongruent ist. Vor der Folie des Modells der ‘Traditionen des Sprechens’ bildet sich die lateinische Klerikerkultur damit als Synthese kulturellen und idiomatischen Wissens ab. Grundsätzlich betreffen Übersetzungen sowohl sprachliche Traditionen als auch Diskurstraditionen, denn der Text als ‘Objekt’ der Translation ist immer durch kulturelle Traditionen geprägt. Allerdings schlägt sich der kulturelle Transfer bei Übersetzungen in unterschiedlichem Maße nieder. Denn wenn die Rezipienten der Übersetzung über einen ähnlichen kommunikativen Haushalt verfügen wie die Produzenten des Ausgangstextes, dann ändern sich die kulturellen Traditionen des Textes in vielen Fällen kaum merklich. Anders sieht es allerdings aus, wenn die Rezipienten des übersetzten Textes nicht nur einer anderen Sprachgemeinschaft angehören, sondern auch in einem anderen kommunikativen Haushalt leben. Dieser Fall charakterisiert die Übertragung der lateinischen Vita in die Volkssprache. Denn durch die Dualität der mittelalterlichen Bildungswelten ist die sprachliche Übertragung primär ein kultureller Transfer, so dass die prinzipiell einzelsprachunabhängigen Diskurstraditionen hier nicht intakt von einer Sprache in die andere übertragen werden können.34 Der Einfluss mündlich-volkssprachlicher Diskurstraditionen zeigt sich kontrastiv zu den lateinischen Vorlagen im gesamten hagiographischen Werk Gonzalos in der Aufwertung dialogischer Redeszenen, in denen Dialogrepliken als direkte Rede inszeniert werden.35 Die für die cantares de gesta charakteristische mimetische Darstellung der Figuren prägt auch die Vida de San Millán. Die Präsentation der Figuren als dialogisch interagierende Sprecher ist dabei vor der Folie der performance zu sehen, denn im Vortrag konnte der juglar die 34
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Diese Korrelation sprachlicher und kultureller Übertragung lässt auch das mittelalterliche Konzept einer ‘freien’ Übersetzung in einem anderen Licht erscheinen: Lateinische Texte werden nicht ‘frei’ in die Volkssprache übersetzt, weil das mittelalterliche Übersetzungskonzept das so nahe legen würde, sondern vice versa: Weil man vom Latein in die Volksprache übersetzt, muss man den Text diskurstraditionell umwandeln und fordert folglich einen großen Freiraum des Übertragens ein. Zum Verhältnis von Latein und Volkssprachen vgl. auch Raymund Wilhelm, „Die scientific community – Sprachgemeinschaft oder Diskursgemeinschaft? Zur Konzeption der Wissenschaftssprache bei Brunetto Latini und Jean d’Antioche“, in: Die romanischen Sprachen als Wissenschaftssprachen (Romanistisches Kolloquium XXIV), hg. von Wolfgang Dahmen u.a., Tübingen 2010 (Tübinger Beiträge zur Linguistik 524), S. 121–153, hier S. 128f. Nach Gier und Keller (wie Anm. 19), S. 33, betrifft der Anteil direkter Rede in der Vida de San Millán 66 von insgesamt 489 Strophen und entspricht damit 13% des Textes. Die späteren Werke – die Vida de Santo Domingo mit ca. 25% (197 von 777 Strophen) und die Vida de Santa Oria mit 34% (70,5 von 205 Strophen) – weisen hier eine steigende Tendenz auf. Vgl. auch Dutton (wie Anm. 2), S. 229; Labarta de Chaves (wie Anm. 2), S. 28f.; und Baños (wie Anm. 2), S. LV.
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direkte Figurenrede reaktualisieren und so den Effekt mündlich-lebendiger Rede erzeugen. Greift man diejenigen Redeszenen der Vida de San Millán heraus, in denen Anrede und Erwiderung zumindest teilweise in direkter Rede präsentiert werden, dann erweist sich, dass diese dialogischen Rededarstellungen ihre eigene Architektur haben und in fein ziselierten Filiationen stehen. Sie etablieren Relationen der Analogie und der Kontrastierung, akzentuieren zentrale Situationen im Leben Milláns und fungieren so als Leitfaden für das Textverständnis. So präsentiert das erste Libro, das der Berufung Milláns gewidmet ist, die zentralen Wendepunkte in zwei nach dem Muster des Lehrdialogs36 gestalteten Gesprächen. Im ersten Dialog bekundet Millán seinen Willen, als Einsiedler zu leben, im zweiten dagegen fordert ihn Bischof Dimio auf, wieder im Dienst der Kirche unter Menschen zu wirken37 – beide Redeszenen kontrastieren also zwei verschiedene Modelle der imitatio Christi. Im Unterschied dazu nutzt das zweite Libro mimetische Rededarstellungen vor allem, um Millán als Wunder wirkenden Heiligen und Kämpfer gegen das Böse zu präsentieren. So wird etwa die humilitas einer gelähmten Frau im Kontext des Heilungswunders als Dialog mit Millán inszeniert38 und mit der ebenfalls in direkter Rede abgebildeten superbia des Verräters Abundancio kontrastiert.39 Noch feiner strukturiert sind die Korrespondenzen zwischen den Redeszenen, die Millán im Kampf gegen das Böse zeigen – die für die linguistisch-philologischen Interpretationen ausgewählten Textabschnitte stammen aus dieser Filiation.
III. Die Lebendigkeit eines Heiligenlebens: Dialogische Redeszenen zwischen clerecía und juglaría III.1. How to Do Things with Words – Milláns Rededuell mit Belzebup In seiner ersten Auseinandersetzung mit dem Teufel wird Millán von Belzebup zum Zweikampf herausgefordert und besiegt den Angreifer kraft seines Gebets. Diese Herausforderung hat in der lateinischen Vita ein Vorbild, das als Redeszene gestaltet ist:40 Accidit quadam die ut palestrite Regis eterni occurreret in via ostis generis humani, talibusque eum verbis affatur: „Si vis ut quid uterque possit experiamur viribus, certamen agrediamur“. Hec 36
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Zum Lehrdialog vgl. Hannes Kästner, Mittelalterliche Lehrgespräche. Textlinguistische Analysen, Studien zur poetischen Funktion und pädagogischen Intention, Berlin 1978. Vida de San Millán, Milláns Gespräch mit San Felices (Str. 16b–19d) und sein Dialog mit Dimio (Str. 80–90). Ebd., Str. 146–149. Die Kranke bittet Millán um Heilung (Str. 146b–147d, direkte Rede), er heilt sie durch sein Gebet (Str. 148, Redebericht); es folgen die Dankesworte der Geheilten (Str. 149bc). Ebd., Str. 283–287: Millán ermahnt den abtrünnigen Abundancio (Str. 283, Redebericht), dieser beschimpft Millán (Str. 284cd, direkte Rede), der ihm den Tod im Kampf prophezeit (Str. 286a– 287d, direkte Rede). Braulio VII, in: Dutton (wie Anm. 2), S. 216. Duttons Edition der Vita Beati Emiliani basiert auf dem Ms. F, Real Academia de la Historia, Ms. Emilianense 10 (olim F18), fol. 105r–110r.
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dum hec dicendo compleverat et eum visibili corporalique adtrectatione adierat, diuque pene nutantem vexabat. Atque ille mox ut Christum precibus efflagitavit, trepidum gressum opitulatione divina confirmavit et ylico refugam desertoremque spiritum liquefactum in auras vertit. Si cui hoc fortasse videtur incredibile invisibilem nimirum spiritum esse adtrectabilem, salvo mistico intellectu, aperiat quomodo Iacob divine pagine narrent cum angelo quamvis bono fuisse luctatum. Ego tamen hoc ut dixerim: minori audacia Sathan temptasse servum quam dominum, Emilianum quam Christum, hominem quam Deum, creaturam quam Creatorem. Eines Tages geschah es, dass dem Ringer des ewigen Königs auf dem Weg der Feind des Menschengeschlechts begegnete und ihn mit diesen Worten ansprach: „Wenn Du willst, dass wir mit Hilfe der Körperkraft erproben, was jeder von uns beiden vermag, wollen wir den Wettstreit beginnen“. Noch während er dies sagte, hatte er dies bereits getan und ihn mit sichtbarer und körperlicher Berührung angegriffen, und lange riss er den beinahe Wankenden hin und her. Doch sobald jener Christus mit Gebeten inständig anflehte, stärkte er seinen trippelnden Schritt mit göttlichem Beistand und sogleich verwandelt er den geschwächten, zurückweichenden und flüchtigen Hauch in ein Wehen. Wenn das jemandem vielleicht unglaublich scheint, dass man einen ohne Zweifel unsichtbaren Geist berühren kann (außer durch geheimnisvolle Geisteskraft), möge er darlegen, wie die Heiligen Schriften erzählen können, dass Jakob mit einem Engel gekämpft hat, so gut dieser auch gewesen sein mag. Ich will dennoch Folgendes sagen: Satan brauchte weniger Mut, um den Diener anzugreifen als den Herrn, um Aemilian anzugreifen als Christus, um den Menschen anzugreifen als Gott, um das Geschöpf anzugreifen als den Schöpfer.41
Die lateinische Vorlage gibt den Kampf als Redeszene wieder, was im primär diegetischberichtenden lateinischen Text Braulios eine markierte Präsentationsform darstellt.42 Die in direkter Rede wiedergegebene Herausforderung zum Kräftemessen wird von einem physischen Angriff des (in der Vita namenlosen) Teufels begleitet, der den Heiligen zunächst ins Wanken bringt, bis dieser dank seines Gebets göttlichen Beistand erhält. Im Unterschied zur Provokation des Teufels wird Aemilians Antwortreaktion – sein Gebet und die Abwehr des Angriffes – nur knapp angedeutet. Die asymmetrisch gestaltete Wiedergabe des Kampfes geht in einen Erzählerkommentar über, der das Geschehen über die biblische Analogie zu Jakobs Ringen mit dem Engel43 im christlichen ordo lokalisiert – ein für die Vita typischer Primat der Didaxe, der sich in zahlreichen Kommentaren niederschlägt, welche die narratio des Heiligenlebens gleichsam als Exegese begleiten. Damit wird die Vita Beati Emiliani, die in der Tradition der ars praedicandi als Exempel in Predigten44 eingebaut wurde, ihrerseits durch ein Exempel angereichert und bildet so im Akt der (liturgischen) lectio als ‘Exempel im Exempel’ eine mise en abyme.
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Ludwig Fesenmeier (Erlangen-Nürnberg) danke ich herzlich für die beiden Übersetzungen aus der Vita Beati Emiliani (Braulio VII und XVIII). Zum didaktischen Duktus der lateinischen Heiligenviten vgl. Haarländer (wie Anm. 24), S. 32, 79 und 533; Gumbrecht (wie Anm. 24), S. 899f. und 934. Einige lateinische Viten enthalten nach Haarländer (ebd.) im Prolog Lehrdialoge, welche die angemessene Rezeption der Vita didaktisch thematisieren, die Texte selbst enthalten jedoch kaum Dialoge. Vgl. Erstes Buch Mose, Kapitel 32, Vers 23–33 (Jakobs Kampf am Jabbok). Vgl. Schöttler und Biesinger (wie Anm. 26), Sp. 59–64.
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In der Vida de San Millán findet sich der korrespondierende Zweikampf exponiert am Beginn des zweiten Buches. Millán, der aus Berceo wieder an den Ort seines Wirkens als Eremit zurückgekehrt ist, wird von Belzebup (Str. 111a) zum Kampf herausgefordert:45 113a 113b 113c 113d 114a 114b 114c 114d 115a 115b 115c 115d 116a 116b 116c 116d 117a 117b 117c 117d 118a 118b 118c 118d 119a 119b 119c 119d 120a 120b 120c 120d
„Millán“ – disso el demon – „aves mala costumne, eres muy cambiadiço, non traes firmedumne; semejas en tos dichos que traes mansedumne, amarguan tos fechos plus que la fuert’ calumne. Quando primeramientre venist’ en est logar, non te paguesti d’elli, ovist’ lo a dessar; entresti a los montes por a mí guerrear, diziés que al poblado nunqa qerriés tornar. En cabo quando eras cerca del passamiento, de tornar a poblado prísote gran taliento; tornesti a Verceo, sovist’ y poco tiempo, plazié con las tues nuevas poco a ess’ conviento. Dessest Santa Olalia por grand aliviamiento, no lis dissisti gracias en tu espidimiento; aún agora quieres fer otro poblamiento ¡bien me ten por babieca si yo te lo consiento. Dezir t’ hé una cosa ca téngola asmada, qe la luchemos ambos quál terrá la posada; déssela el caído, cosa es aguisada, finqe en paz el otro, la guerra destajada.“ Luego qe esso disso la bestia enconada quiso en el sant’ omne meter mano irada abraçarse con elli, pararli çancajada, mas no li valió todo una nuez foradada. El confessor precioso fizo sue oración, „Sennor, qe por tos siervos deñest prender passión, tú me defendi oy d’esti tan fuert’ bestión com’ él sea vençudo e yo sin lisión.“ Luego qe Millán ovo la oración finida ovo toda la fuerça el dïablo perdida; fue la sua grand sobervia en el polvo caída tanto que non ganara nada enna venida.
(113) „Millán“, sagte der Teufel, „du hast eine schlechte Angewohnheit, du bist sehr wankelmütig, du hast keine Standhaftigkeit, in deinen Worten erscheinst du sanft, deine Taten schmecken aber bitterer als dicker Ruß. (114) Als du zum ersten Mal an diesen Ort kamst, hat er dir missfallen und du hast ihn verlassen, du bist in das Gebirge gegangen, um mit mir zu kämpfen; du sagtest, du wolltest nie mehr zurück in von Menschen bewohnte Gebiete gehen. (115) Doch als du dem Tode nahe warst, erwachte in dir der Wunsch, wieder unter Menschen zu leben; du kehrtest nach Berceo zurück, doch du bliebst nur kurz, das gefiel angesichts deines guten Rufes der Gemeinschaft dort wenig. (116) Die heilige Eulalia ließest du leichtfertig allein, beim Abschied sagtest du ihr keinen Dank, und nun möchtest du dich wieder an einem anderen Ort niederlassen – du musst mich für sehr dumm halten, wenn du glaubst, dass ich dir das zugestehe! (117) Ich werde dir sagen, was ich mir ausgedacht habe, nämlich dass wir durch einen Kampf entscheiden, wer diesen Ort besitzen soll; der Verlierer muss gehen, das ist nur vernünftig, der 45
Zitiert nach der Edition Duttons (wie Anm. 3).
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Sieger darf unbehelligt bleiben, der Kampf ist dann entschieden“. (118) Sobald der wuterfüllte Unhold das gesagt hatte, wollte er auch schon zornig Hand an den heiligen Mann legen, mit ihm ringen, ihm ein Bein stellen, aber all das nützte ihm herzlich wenig. (119) Der vortreffliche Mann Gottes sprach sein Gebet: „Herr, der du für deine Diener das Leiden auf dich genommen hast, schütze mich heute vor diesem überaus starken Teufel, damit er besiegt werde und ich unverletzt bleibe“. (120) Kaum hatte Millán sein Gebet beendet, da hatte der Teufel schon seine ganze Kraft eingebüßt. Sein großer Hochmut war ganz und gar in den Staub geworfen worden, so dass er im Zweikampf nichts mehr gewinnen konnte.46
Der Teufel, der Millán wie ein erfahrener Kämpfer an einer strategisch günstigen engen Wegstelle auflauert (angostura, Str. 112c), reizt diesen zunächst durch Beleidigungen, die Episoden von Milláns heiligmäßigem Wirken verunglimpfend als Manifestationen von Schwäche und Wankelmut umdeuten (Str. 113a–116d) und in eine Aufforderung zum Zweikampf münden, die sich auch in der lateinischen Vorlage findet (Str. 117a–d). Doch während Aemilian den Angriffen des Teufels zunächst wehrlos ausgesetzt ist, setzt Millán sofort zur Gegenwehr an und bietet anders als in der lateinischen Vorlage in keinem Augenblick ein Bild der Schwäche: Millán spricht ein in direkter Rede wiedergegebenes Gebet (Str. 119b–d), an dessen Ende Belzebup kraftlos zurückbleibt (Str. 120). Eine wichtige Veränderung betrifft die Herausforderung zum Kampf. Denn während es bei Braulio um ein nicht näher bestimmtes Kräftemessen geht, dient der Zweikampf in der Vida dazu, die Frage der Herrschaft über ein Territorium zu entscheiden, und beinhaltet daher ein feudales Herrschaftskonzept. Auffällig ist auch, dass der Angriff Belzebups durch die Nennung einiger Kampftechniken (Str. 118) an Plastizität gewinnt.47 Zudem attackiert der Teufel Millán anders als in der lateinischen Vorlage erst, als er seine verbale Provokation beendet hat. Beide Neuerungen nähern Belzebups Herausforderung der Technik des verbalen Duells und des ritual challenging an48 und rücken die Auseinandersetzung so in die Tradition der Zweikämpfe zwischen Kriegern, wie sie in den cantares de gesta erzählt
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Die Übersetzungen aus dem Altspanischen stammen von der Verfasserin. Der Kampf wird mit dem Fachterminus venida (Str. 120d) bezeichnet. Die venida bezeichnet die Phase des Schwertkampfs, nachdem beide Parteien das Schwert präsentiert haben. Der Terminus ist in der Fechtkunst noch geläufig (vgl. den entsprechenden Eintrag im Diccionario de la Real Academia, Madrid 211992). Zum verbal duelling vgl. Marcel M.H. Bax, „Historische Pragmatik. Eine Herausforderung für die Zukunft. Diachrone Untersuchungen zu pragmatischen Aspekten ritueller Herausforderungen in Texten mittelalterlicher Literatur“, in: Diachrone Semantik und Pragmatik. Untersuchungen zur Erklärung und Beschreibung des Sprachwandels, hg. von Dietrich Busse, Tübingen 1991 (Reihe germanistische Linguistik 113), S. 197–215, hier S. 198f.; ders., „Ritual Levelling: The Balance between the Eristic and the Contractual Motive in Hostile Verbal Encounters in Medieval Romance and Early Modern Drama“, in: Historical Dialogue Analysis (wie Anm. 6), S. 35–80, hier S. 43– 62; vgl. auch Kilian (wie Anm. 6), S. 95–98; Martin H. Jones, „nû wert iuch, ritter, ez ist zît (Erec, v. 4347). Zum verbalen Vorfeld des ritterlichen Zweikampfes in deutschen Artusromanen des 12. und 13. Jahrhunderts“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 139–156, hier S. 140–142 und 152f.
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werden.49 So wie in epischen Texten die Qualitäten des Gegners als Kämpfer in Zweifel gezogen werden, unternimmt Belzebup eine ethische Demontage des Heiligen, die selbst den Konflikt der bereits verfeindeten Gegner nicht auslöst, sondern viemehr dazu dient, als Ritual den physischen Kampf einzuleiten.50 Doch anders als in den Dialogmustern des verbalen Duells und des ritual challenging, wo eine Herausforderung die nächste provoziert,51 besteht Milláns Reaktion nicht in einer an den Angreifer adressierten (provokanten) Antwort, sondern in einem an Gott gerichteten Gebet um Beistand, in dem der Herausforderer lediglich mitangesprochener Dritter ist. Damit verweigert er Belzebup die vom ritual challenging geforderte Antwort und setzt die von diesem begonnene Dialogform nicht fort. Vielmehr überführt er das verbale Duell in ein Gespräch mit Gott, das darauf abzielt, den Angriff abzuwehren. Der Heilige reagiert verbal auf die Provokation, verweigert jedoch der ‘Anrede’ des Herausforderers die vom Ritual geforderte ‘Erwiderung’. Denn Millán wählt eine andere Strategie: Er weiß, wie man betend mit Worten Taten vollbringt – How to Do Things with Words – und raubt dem Angreifer mit ‘Wortgewalt’ seine Kräfte.52 Während diese Kraft des Wortes in der Vita lediglich berichtet wird, inszeniert die Vida das Sprechen des Heiligen Wort für Wort als Handeln: Die humilitas des Betenden besiegt durch die Kraft des Wortes die superbia (Str. 120c) des Angreifers. Durch diese Modifikationen wird der Zweikampf nicht mehr allein im heilsgeschichtlichen Kontext des Kampfes von Gott und Teufel gesehen, den Braulio ausleitend beschwört. Vielmehr wird der christliche ordo von der feudalen Ordnung und ihren Traditionen des Kämpfens überlagert. Diese neue Traditionalität zeigt sich noch expliziter in der Bewertung des Kampfes durch den Erzähler, der Milláns Heldentat als buena fazanna (Str. 122d) rühmt, die von Generation zu Generation erzählt werden wird.53 Die Vida rückt so in den Kontext mündlicher Traditionen des Erzählens ein und der Text thematisiert zugleich seine eigene Tradierung als erzählende Verlebendigung des Produktes „Text“. 49
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Analog strukturierte Passagen in den altspanischen cantares de gesta wären z.B. die exemplarischen Herausforderungen zum Kampf in der cortes-Szene des Cantar de mio Cid, in denen die Gefolgsleute des Cid die Gegner ihres Herrn zum Gerichtskampf fordern; vgl. Cantar de mio Cid, hg. von Alberto Montaner, Barcelona 21993 (Biblioteca clásica 1), v. 3270–3389. Nach Bax, „Historische Pragmatik“ (wie Anm. 48), S. 208f., sollten verbale Kämpfe ursprünglich den physischen Kampf vermeiden, sie wurden im Mittelalter jedoch in ihr Gegenteil verkehrt und dienten dazu, den Kampf unter Rittern unausweichlich zu provozieren. Vgl. auch ders., „Ritual Levelling“ (wie Anm. 48), S. 43–50. Bax, „Historische Pragmatik“ (wie Anm. 48), S. 207f., und ders., „Ritual Levelling“ (wie Anm. 48), S. 50. Zum Zusammenspiel von „Reizrede“ und nonverbalen Kampfhandlungen vgl. auch Jones (wie Anm. 48), S. 152f. Eine Parallelsituation findet sich am Ende der Vida, wenn der greise Millán die Verleumdungen des Teufels (Str. 263c–265d) in einer wortgewaltigen Gegenrede zurückweist (Str. 267a–269d), die dem Teufel erneut seine Kraft raubt. In beiden Dialogen ist Sprechen – wie in der frühen speech act theory postuliert – ein Handeln; vgl. John L. Austin, How to Do Things with Words, Oxford 1965. Vida de San Millán (Str. 122cd): mientre el sieglo sea e durare Espanna / siempre será contada esta buena fazanna (Übersetzung: Solange dieses Jahrhundert andauert und solange es Spanien gibt, wird diese vortreffliche Heldentat erzählt werden).
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Darüber hinaus schmückt der Erzähler Millán mit dem Beinamen des Cid als bon campeador (Str. 123a) und reiht ihn so in die Tradition epischer Heroen ein. Dadurch wird die von Braulio gezogene Parallele zu Jakob durch die Referenz auf den Cid substituiert – Referenzrahmen für die Analogie ist nicht mehr die Bibel, sondern der Cantar de mio Cid. Der Dialog wird so nicht nur als Redeszene ausgebaut, sondern zugleich auch um einen Deutungskontext erweitert. Durch die Einbindung der Dialogform des ritual challenging und durch die explizite Analogiesetzung integriert Gonzalo eine mündlich-volkssprachliche Diskurstradition der gesta in das Heiligenleben und überblendet den von der Vita aufgespannten heilsgeschichtlichen Kontext mit einer juglaresken Tradition. Und während in der lateinischen Vita diese Analogie explizit-kommentierend etabliert wird, genügen in der Vida de San Millán wenige juglareske Formeln, um die Redeszene in ein anderes Diskursuniversum zu transferieren und dabei zugleich den didaktischen Duktus der ars praedicandi durch die prägnante Diktion der cantares de gesta zu ersetzen.
III.2. Dialog ohne Vorbild – das concilio der Dämonen Während der Kampf mit Belzebup Milláns Präsentation als Kontrahent des Teufels einleitet, fungiert die folgende Szene als Fluchtpunkt, die sämtliche Inszenierungen des Heiligen als Kämpfer wieder aufnimmt. Dazu zählt neben dem Kampf mit Belzebup eine Episode, in der Millán dem Knecht des Tuencio in Form eines Frage-Antwort Dialogs in einem Heilungswunder fünf Dämonen austreibt (Str. 164–166). Außerdem werden drei weitere Teufelsaustreibungen diegetisch-berichtend erzählt, wobei die Vertreibung der Dämonen aus dem Haus Onorios ausführlicher beschrieben wird, allerdings ohne Rekurs auf eine Redeszene.54 Diese zunächst in unverbundener Juxtaposition präsentierten Episoden werden dann in Form eines concilio (Str. 203b) zusammengeführt, in dem die von Millán besiegten Teufel auf Rache sinnen (Str. 203–214) und den Heiligen vernichten wollen. Diese Konstellation ist eine Innovation Gonzalos. Denn bei Braulio findet sich zwar das Motiv eines Anschlags auf den Heiligen, doch hat die Redeszene darin kein Vorbild:55 Quid plura? Tanta illi viro erat copia sanctitatis, tanta custodia divine virtutis tantumque imperium superne auctoritatis ut cum multitudo concurreret inerguminorum, non modo ne levi quidam vestigio pateret pavidus, sed etiam concluderet se cum illis omnibus solus, ubi eos erat per divinam gratiam curaturus. Sed et plerumque, cum lectulo membra dedisset, gestiebant eum ignibus concremare, incensamque stipulam deportabant usque ad eius lectulum, quam illic applicantes, vim amitebat ardoris. Identidem hoc ipsum molientes pernoctabant incassum laborantes, itaque ubi ille hoc persentiebat, ad imperium illius amentes se invicem vinculis conligabant, eorumque manus dabant saluti adiumentum, cum cor eorum insania esset plenum. Nam illud reticere non debeo quod per se mundo patere iam video. 54
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Es sind dies die Heilung von Proseria und Nepocïano (Str. 171–176) und die Heilung Colombas (Str. 177–180) sowie die erwähnte Austreibung der Dämonen aus dem Haus des Onorio (Str. 181– 198). Braulio XVIII, in: Dutton (wie Anm. 2), S. 220.
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Was weiter? Jener Mann verfügte über eine so große Frömmigkeit, über eine so große göttliche Tugend und ein so großes himmlisches Ansehen, dass er, wenn eine große Menge Teufel zusammenkam, nicht nur nicht einmal einen kleinen Schritt furchtsam zuließ, sondern sich sogar zusammen mit jenen allen alleine dort einsperrte, wo er sie mit göttlicher Gunst bekehren wollte. Aber auch sehr oft dann, wenn er die Glieder auf das Bett gestreckt hatte, verlangten sie heftig danach, ihn mit Feuer zu verbrennen, und das entfachte Stroh brachten sie bis zu seinem Bett, wo es, als sie es dort anbrachten, die Kraft der Hitze entließ. Dies mehrfach versuchend brachten sie die Nacht herum, wobei sie sich erfolglos abmühten, denn sobald jener dies deutlich spürte, banden sie sich auf seinen Befehl hin ganz von Sinnen gegenseitig mit Fesseln, und ihre Hände leisteten der Rettung Beistand, weil ihr Herz voll des Wahnsinns war. Denn jenes darf ich nicht verschweigen, auch wenn ich sehe, dass es schon an sich der Welt offenkundig ist.
Wie der Textausschnitt belegt, wird bei Braulio eine Beratung der rachsüchtigen Teufel weder mimetisch als Redeszene dargestellt noch diegetisch erzählt. Die Vita berichtet lediglich, wie Aemilian sich (als Probe seiner Standhaftigkeit) unter die Teufel begibt, die ihn verbrennen wollen, ihm jedoch dank göttlicher Hilfe nicht schaden können. Damit hat die umfassendste dialogische Redeszene in der Vida keinerlei Vorbild bei Braulio. Diese (sich wiederholende) Bewährungsprobe der lateinischen Vorlage wandelt Gonzalo in eine einmalige Verschwörung gegen den Heiligen um und macht daraus einen kompositorischen Fluchtpunkt, in dem alle Episoden von Milláns Kampf gegen das Böse zusammenlaufen. Der folgende Textausschnitt illustriert den Kern dieser Beratung:56 207a 207b 207c 207d 208a 208b 208c 208d 209a 209b 209c 209d 210a 210b 210c 210d 211a 211b 211c 211d 212a 212b 212c 212d 214a 56
Disso el qe luchara con él en Sant Pelayo: „Oídme compañeros si avedes desmayo veed quáles espaldas e quáles cuestas trayo – contra nos non fue fecho nunqa tan mal ensayo.“ Los cinco que sacara del siervo de Tüencio ovieron con sue cuita a romper el silencio; dissieron: „Compañeros, essi vuestro lazerio non es após el nuestro nulla luz nin nul precio.“ El uésped de Onorio qe fue mal segudado, sedié man’ a maxiella plañiendo so mal fado; dizié qe de vergüença non istrié a poblado, de Millán el sobervio si non fuesse vengado. Tant’ avién qe veer en esta pestilencia, que non podién tractar nulla otra sentencia; pero non adrimavan seso nin sapïençia por qe vençer podiessen la mala rependencia. Levantóse en medio un de los rencurosos, fizo malas señeras e gestos alevosos; „Oídme“, diz, „concejo, somos todos astrosos, si non, por tal vil omne non seriemos plorosos. Mas asmo un consejo, por seso lo entiendo, ayuntémosnos todos, la tiniebra cadiendo, prendamos señas fajas en las manos ardiendo, demos fuego al lecho cuando yoguier’ dormiendo“. [...] Semejólis a todos qe era buen consejo [...].
Zitiert nach der Edition Duttons (wie Anm. 3).
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(207) Da sprach derjenige, der mit ihm in Sant Pelayo kämpfte: „Hört mich an, Gefährten, wenn Ihr verzagt seid, seht, wie mein Rücken und meine Rippen aussehen, noch nie ist uns so übel mitgespielt worden“. (208) Die fünf, die er [Millán] dem Knecht des Tuencio ausgetrieben hatte, brachen mit ihrem Kummer das Schweigen; sie sagten: „Gefährten, was Ihr erlitten habt, ist verglichen mit unserem Elend weder verdienstvoll noch glänzend“. (209) Der Gast des Onorio, der hart verfolgt worden war, saß da, die Wange in die Hand gestützt, und beweinte sein schlimmes Los. Er sagte, er traue sich wegen seiner Schmach nicht mehr unter die Leute, bevor er nicht an Millán, dem Hochmütigen, gerächt sei. (210) Sie waren so sehr mit diesen falschen Anschuldigungen beschäftigt, dass sie keine andere Entscheidung mehr behandeln konnten; aber es gelang ihnen nicht, ihren Verstand und ihre Klugheit so zu vereinigen, dass sie ihren schlimmen Gram hätten überwinden können. (211) In ihrer Mitte erhob sich einer der Beschwerdeführer, er machte schlechte Zeichen und heimtückische Gesten. „Mitglieder dieses Rates“, sagte er, „hört mich an, uns ist großes Unglück widerfahren, nur wegen dieses schändlichen Mannes müssen wir weinen und klagen. (212) Aber ich habe einen Plan, den ich für vernünftig halte. Wenn es dunkel wird, wollen wir uns alle zusammentun, wir nehmen jeder brennende Fackeln in die Hände und zünden sein Bett an, wenn er schläft“ [...]. (214) Allen schien das ein guter Rat zu sein.
In der Beratung melden sich die Teufel in der Reihenfolge ihres Auftretens in der Vida zu Wort. Den Anfang macht der Teufel, den Millán in Sant Pelayo besiegte (Str. 207b–d) – es handelt sich also um den von Millán bezwungenen Belzebup. Daraufhin ergreifen die fünf Teufel, die der Heilige dem Diener Tuencios austrieb, das Wort (Str. 208cd); die Klage des aus dem Haus Onorios verjagten Teufels wird dagegen in indirekter Rede wiedergegeben (Str. 209). Nachdem die Klagen der Versammelten zunächst nicht in einen gemeinsamen Plan münden, formuliert ein Teufel, der mit dem juristischen Fachterminus rencuroso als einer der ‘Beschwerdeführer’57 bezeichnet wird, in direkter Rede einen consejo, d.h. er schlägt auf der Grundlage der Wortmeldungen einen Plan vor (Str. 211c–213), dem die Versammlung dann zustimmt (Str. 214).58 Eine kompositorische Besonderheit dieses Dialogs besteht darin, dass im concilio diejenigen als Redner auftreten, die auch in den jeweiligen Episoden durch direkte Rede repräsentiert waren, wogegen diejenigen, über die nur diegetisch berichtet wurde, auch im concilio nicht zu Wort kommen. Auf diese Weise erfährt nicht nur die jeweilige Episode, sondern auch die Art ihrer Präsentation eine Reprise. Für das concilio der Teufel bietet sich als Modell – der im Text verwendete Terminus concilio (Str. 203b) legt es nahe59 – der Bereich der Kirche und des Klosters an. Damit kann der Rat der Teufel als Parodie auf kirchliche Konzilien gelesen werden,60 die dann im Kontext von Kloster und Klerikerkultur ihre (selbstreferentielle) Wirkung entfaltete. Eine solche parodistische Deutung wird von der zum Teil komisierenden Darstellung der Teufel gestützt. Denn während der Plan in der Vita durch das ‘Strohwunder’ und die Verwirrung der 57 58
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Dutton (wie Anm. 2) spricht hier von einem „término forense“. Dieser Teufel, der im consejo als Wortführer den höchsten Rang einnimmt und dessen Name (tabuisierend) nicht genannt wird, tritt in den bereits erzählten Episoden nicht auf. Vgl. die Anmerkung in der Edition Duttons (wie Anm. 2). Vgl. auch den Eintrag concilio in: Sebastián de Covarrubias Orozco, Tesoro de la lengua castellana o española, Madrid 1611. Vgl. Wehrli (wie Anm. 15), S. 271–274; María Rosa Lida de Malkiel, „Nuevas notas sobre el ‘Libro de Buen Amor’“, in: Nueva Revista de filología hispánica 13 (1959), S. 17–82, hier S. 35– 38.
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Teufel misslingt, scheitern die Verschwörer in der Vida im Stil einer Farce: Die Flammen versengen den wenig feuerfesten Teufeln die Bärte, woraufhin sie in Streit geraten und sich gegenseitig verprügeln (Str. 215–221).61 In dieser Lesart bedient sich die Parodie als Folie der Institution Kirche und der Beratungsform ‘Konzil’ und verbleibt damit im Rahmen der Gattung Heiligenleben sowie der Diskurstraditionen des religiösen Diskursuniversums. Plausibel erscheint jedoch noch eine weitere Deutung, die über das Diskursuniversum der Klerikerkultur hinausgeht. Denn auch wenn der (latinisierende) Begriff des concilio einleitend fällt (Str. 203b), ist der bei weitem am häufigsten verwendete Terminus das erbwörtliche consejo.62 Die Struktur der Ratsszene, die Komposition der Wortmeldungen, die mit dem Vorschlag des Ranghöchsten enden, der (erwartungsgemäß) die Zustimmung des Rates findet – dies alles ist ein calque der Beratung, die ein Feudalherr mit seinen Gefolgsleuten abhält. Beratungsszenen mit analoger Struktur finden sich mehrfach an prominenter Stelle im Cantar de mio Cid und im Poema de Fernán González zur Inszenierung feudaler Machtstrukturen.63 Die in der feudalen Lebenswelt beheimatete Dialogform des consejo findet sich aber auch in der Vida de San Millán, und zwar in der auf epischen Erzähltraditionen basierenden votos-Erzählung des dritten Buches (Str. 362–489).64 Die erste Darstellung eines Rates führt hier vor, wie die Ratgeber des Königs Abderraman zum Angriff auf die Christen raten (Str. 401c–407d). Das Gegenstück dazu ist die Beratung der christlichen Kämpfer, in der König Don Remiro (Str. 421c–424d) und Graf Fernán González (Str. 427c– 431c) das Wort ergreifen, wobei letzterer das bereits erwähnte Gelübde zu Gunsten des Klosters San Millán vorschlägt. Der Einfluss der juglaría zeigt sich also nicht allein in einer Präferenz für mimetische Dialoggestaltung, sondern auch im Interaktionsmuster des consejo, das integral aus den cantares übernommen wird. Auf diese Weise steht der ‘Rat der Teufel’ in Analogie zu den Beratungsszenen des dritten Buches, in denen die consejos im ursprünglichen Kontext episch-juglaresker Stofftraditionen erscheinen. Das concilio dagegen liefert eine hybride Variante des consejo, da hier die mündliche Tradition der feudalen Lebenswelt mit einer parodistisch verwendeten Dialogform der Klerikerkultur verbunden wird.
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Diese Lesart ist bei Braulio nicht angelegt. Allerdings finden sich auch lateinische Heiligenviten, die gezielt Strategien der Komisierung einsetzen. Vgl. Curtius (wie Anm. 20), S. 265 und 425–428. Von einem consejo ist in den Versen 211c, 212a, 213c und 214a die Rede. Zur Illustration des consejo vgl. Cantar de mio Cid (wie Anm. 49), v. 666–678, v. 1885–1893; vgl. auch: El Conde Fernán González, in: Reliquias de la poesía épica española publicadas por Ramón Menéndez Pidal, Madrid 1951, S. 34–180, hier die Verse 65a–66b, 344a–352d, 302a–314b. Zu Ratsszenen zwischen Herr und Vasallen vgl. Rosemarie Deist, Gender and Power. Counsellors and their Masters in Antiquity and Medieval Courtly Romance, Heidelberg 2003, hier S. 204–227. Zu Normen und Strategien des Beratens im Mittelalter vgl. auch Joseph M. Sullivan, Counsel in Middle High German Arthurian Romance, Göppingen 2001 (GAG 690), hier S. 10–13 und 30–33.
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IV. Traditionen der Dialoggestaltung: Mündlichkeit und Lebendigkeit Die für den mester de clerecía konstitutive Hybridität zeigt sich exemplarisch in der Gestaltung der analysierten Redeszenen, in denen Diskurstraditionen der mündlich-volkssprachlichen und der schriftlich-lateinischen Kulturen überblendet werden. Dabei wird im Fall des verbalen Duells eine Redeszene der Vita ausgebaut und mit Elementen des ritual challenging angereichert, wogegen das concilio der Teufel, das als ausführlichste Redeszene in der Vida kein Vorbild bei Braulio hat, zwei Deutungshorizonte verknüpft, da der Dialog sowohl als Parodie auf kirchliche Konzilien als auch als variatio der feudalen consejos gelesen werden kann. Diese unterschiedliche Qualität der Amplifikationen erschließt sich erst vor der Folie der lateinischen Vita Beati Emiliani und untermauert so den Erkenntniswert eines komparatistischen Ansatzes für die Heiligenleben Gonzalos de Berceo. Die Deutung dieser bisher primär literaturwissenschaftlich beschriebenen Überblendungen aus einer (sprachwissenschaftlichen) Sicht der Traditionen des Sprechens belegt, dass die Ausformung von Gattungen und das Spannungsfeld von lateinischer und volkssprachlicher Kultur durch das (linguistische) Modell der Diskurstraditionen präzisierend vertieft werden kann, was für eine enge Vernetzung literarischer und sprachwissenschaftlicher Ansätze in der (historischen) Dialoganalyse spricht. Die bei Gonzalo beobachtbare amplificatio dialogischer Redeszenen – kontrastiv zu den (monologischen) Diskurstraditionen der die Prosaviten prägenden ars praedicandi – bewirkt eine Fokussierung von Rede und Dialogizität. Denn durch die Integration der cantares de gesta favorisiert der mester de clerecía gegenüber den lateinischen Vorlagen eine Kultur der Mündlichkeit, in der Dialoge als absichtsvoll gestaltete „lebendige gesprochene Sprache“ mit einem expressiven Mehrwert verbunden werden65 – eine Akzentverschiebung, die innerhalb des kommunikativen Haushalts auf eine Aufwertung der Gesprächskultur in der Bildungswelt der clerici hindeutet. Die auf diese Weise im mester de clerecía durch die Aufwertung mündlicher Diskurstraditionen geleistete ‘Verlebendigung’ entfaltet nun im Kontext volkssprachlich-religiöser Texte eine weitere Funktion. Denn indem Gonzalo die lateinische Vorlage durch mimetische Redegestaltungen mit Elementen des sprachlichen Alltags anreichert, integriert er zugleich vermehrt ‘realistische’ Details des mittelalterlichen Lebens in den Text. Dabei ist das „Alltäglich-Realistische“ nach Erich Auerbach66 keine bloße Ausschmückung der didaktischen lateinischen Viten, sondern ein wesentliches Element volkssprachlich-christlicher Kunst, deren Bewegung „aus der fernen Legende und ihrer figürlichen Ausdeutung in die alltäglich-zeitgenössische Wirklichkeit“ hineinführt. Die Dialoge bewirken so eine Aktualisierung des Heiligenlebens in der Lebenswelt der Rezipienten und integrieren die Zuhörer in 65
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Wolf-Dieter Stempel, „Zur Frage der Repräsentation gesprochener Sprache in der altfranzösischen Literatur“, in: Mimesis und Simulation, hg. von Andreas Kablitz und Gerhard Neumann, Freiburg i.Br. 1998 (Rombach Litterae 52), S. 235–254, hier S. 253f. Erich Auerbach, „Adam und Eva“, in: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern/München [1946] 71982, S. 139–166, hier S. 153.
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die Geschichte. Die von den cantares de gesta inspirierte mimetische Dialoggestaltung leistet so als Widerschein des sprachlichen Alltags eine Konkretisierung der ‘fernen Legende’ und bewirkt, dass der didaktische Impetus der (lateinischen) Heiligenviten sich mit den Traditionen volkssprachlicher Mündlichkeit verbindet und im mester de clerecía zu einer vitalen und wirkmächtigen Synthese findet.
IV. Gesprächskulturen in komparatistischer Sicht: Volkssprachen
Gert Hübner
wol gespr#chiu zunge Meisterredner in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur
Im Partonopier-Prolog erläutert Konrad von Würzburg, dass ein bescheiden jungelinc dreierlei Nutzen aus poetischen Texten (getihte) in Gestalt von rede oder sanc ziehen könne (v. 1–15):1 Erstens erfreuen sie das Ohr mit ihrem süßen Klang, zweitens lehren sie hovezuht. Der dritte nutz besteht darin, daz diu zunge wirt / gespr#che sêre von in zwein (nämlich von rede und sanc). Dichtung soll demnach, über die horazischen Standardfunktionen von delectare und prodesse hinaus, Fertigkeit im Reden vermitteln. Über die erst seit dem späten 15. Jahrhundert belegte Eindeutschung des Terminus eloquentia mit ‘Wohlredenheit’2 verfügte Konrad nicht, doch kommt er dieser Wortbildung schon halbwegs nahe, wenn er die Zunge seines Protagonisten Partonopier einmal als wol gespr#chiu bezeichnet.3 Dass Dichtung die Eloquenz des männlichen Nachwuchses schult, legt ein Vers aus einem
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Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur, Turnei von Nantheiz, Sant Nicolaus, Lieder und Sprüche, hg. von Karl Bartsch, Wien 1871. Forschungsüberblicke bei Horst Brunner, „Konrad von Würzburg“, in: 2VL 5 (1985), Sp. 272–304; Rüdiger Brandt, Konrad von Würzburg, Darmstadt 1987 (Erträge der Forschung 249); Hartmut Kokott, Konrad von Würzburg. Ein Autor zwischen Auftrag und Autonomie, Stuttgart 1989; Rüdiger Brandt, „Literatur zu Konrad von Würzburg 1987–1996“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 236 (1999), S. 344– 369; ders., „Literatur zu Konrad von Würzburg 1997–2008“, in: ebd. 246 (2009), S. 300–330. Die jüngere Forschung zum Partonopier referieren Annette Gerok-Reiter, Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik, Tübingen/Basel 2006 (Bibliotheca Germanica 51), S. 247–256; Jutta Eming, Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. bis 16. Jahrhunderts, Berlin/New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 39), S. 170–176; Armin Schulz, Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik, Tübingen 2008 (MTU 135), S. 409–412. Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 14,2, Leipzig 1960, Nachdruck München 1999 (dtv 59045), Sp. 1174f. Als Konrads Partonopier zum ersten Mal spricht, bittet er Gott in Todesangst um Beistand, weil er sich im Wald verlaufen hat; der Erzähler kommentiert: sîn wol gespr#chiu zunge / got alsus vil tiure bat (v. 552f.). Im französischen Text (vgl. Anm. 6) gibt es an der entsprechenden Stelle keine Figurenrede, die sich als eloquent beurteilen ließe; es wird nur erzählt, dass Partonopeus Gott um Hilfe angerufen habe (v. 681).
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Horaz-Brief nahe: Os tenerum pueri balbumque poeta figurat.4 Wenn Konrad die Vermittlung von Redefertigkeit neben derjenigen von hovezuht eigens erwähnt, stellt das innerhalb der deutschen höfischen Prologtopik meiner Kenntnis nach eine Besonderheit dar;5 die folgenden Überlegungen sollen unter anderem darauf hinweisen, dass beides auch in der Erzählung selbst nicht unbedingt zusammenfällt.
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Übersetzung: Den zarten und stammelnden Mund des Knaben formt der Dichter, Epistulae II,1,126, zitiert nach: Horaz. Sämtliche Werke. Lateinisch / Deutsch, hg. von Bernhard Kytzler, Stuttgart 2006 (RUB 18446), S. 602. Die unmittelbar anschließenden Verse besagen, dass der Dichter das Ohr des Knaben von anstößigen Reden fortlenke und ihn moralisch bessere. – Die Episteln stehen neben den Satiren und der Ars poetica im Zentrum der mittelalterlichen HorazRezeption; vgl. Maria-Barbara Quint, Untersuchungen zur mittelalterlichen Horaz-Rezeption, Frankfurt a.M. u.a. 1988 (Studien zur klassischen Philologie 39), S. 8 und passim. Der Anfang von II,1 ist das Vorbild für ein Gedicht des Archipoeta (ebd., S. 39). II,1,126 ist als Sentenz auch in Florilegiensammlungen überliefert; vgl. Hans Walther, Proverbia sententiaeque latinitatis medii aevi, Bd. 3, Göttingen 1965, S. 674, Nr. 38c. Im zwar schon angejahrten, aber immer noch umfassendsten Motivkatalog „Zweck der Kunst und Absicht des Dichters“ bei Bruno Boesch, Die Kunstanschauung in der mittelhochdeutschen Dichtung von der Blütezeit bis zum Meistergesang, Bern/Leipzig 1936, S. 27–112, kommt nichts dergleichen vor; die Partonopier-Stelle ist als Beleg für den delectare et prodesse-Topos verbucht (S. 65). Die vorliegenden Interpretationen leiden darunter, dass sie das Vorbild in den Epistulae nicht berücksichtigen: Wolfgang Monecke, Studien zur epischen Technik Konrads von Würzburg, Stuttgart 1968 (Germanistische Abhandlungen 24), S. 26–28, versteht die Stelle als „Zerlegung des prodesse (sittliche Belehrung und Redeschulung)“ und führt die Differenzierung auf die „fortschreitende Rhetorisierung des Stils“ in der späteren höfischen Dichtung zurück. Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 21992, S. 343f., ordnet den letzten Aspekt der Trias nicht weiter in die Tradition poetologischer Reflexion ein und deklariert ihn als gegenüber den anderen beiden Aspekten nebensächlich („die Wortgewandtheit, die durch literarische Bildung erreicht werden kann, zielt auf die rhetorische Komponente der poetischen Tradition. Ihre Erwähnung bleibt hier jedoch eher beiläufig [...]“). Ähnlich wie Monecke deutet Trude Ehlert, „Zu Konrads von Würzburg Auffassung vom Wert der Kunst und von der Rolle des Künstlers“, in: JOWG 5 (1988/89), S. 79–94, die „Aussonderung der Redekunst aus den höfischen Fertigkeiten“ (S. 82) als Zweiteilung des prodessePrinzips. Ähnlich wie Haug sieht Werner Schröder, Text und Interpretation III. Zur Kunstanschauung Gottfrieds von Straßburg und Konrads von Würzburg nach dem Zeugnis ihrer Prologe, Stuttgart 1990, S. 160, die „rhetorische Schulung, Anleitung zu gewählter Ausdrucksweise durch bloßes Zuhören oder Lesen“ angesprochen. Susanne Rikl, Erzählen im Kontext von Affekt und Ratio. Studien zu Konrads von Würzburg ‘Partonopier und Meliur’, Frankfurt a.M. u.a. 1996 (Mikrokosmos 46), S. 209, interpretiert die Trias dagegen als Darstellung eines handlungsanleitenden Erkenntnisprozesses: Konrad verfolge „den Weg des gesprochenen Wortes, das, als Klang über das Sinnesorgan wahrgenommen, fortschreitet zum Herzen, wo seine Lehre enthüllt und eingeprägt wird. Wenn dies geschehen ist, wenn sinnlicher Genuß und intellektueller Gewinn aus dem Gesprochenen, Gehörten, Begriffenen gewonnen worden sind, kann wiederum in angemessener Weise gesprochen werden“. Rikl zufolge bezieht sich dieser Prozess auch, wenn nicht gar in erster Linie auf die Produktion von Dichtung im Sinn des imitatio-Prinzips.
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Der gelehrte, aber anonym gebliebene Verfasser der Textvorlage Konrads, des altfranzösischen Partonopeu de Blois aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts,6 rekurriert in seinem Prolog allein und sehr ausführlich auf das moralische prodesse. Gemäß dem Funktionstypus des exemplarischen Erzählens, den das Wort exemple ausdrücklich aufruft und der hier geradezu idealtypisch, wenn auch wohl mit ironischer Distanz beschrieben wird, beansprucht er für seinen Roman, Vorbild für Gutes und Warnung vor Schlechtem zu bieten (v. 93–134). Konrads zusätzliche Akzentuierung tritt nach seinem Prolog auch in der descriptio des Protagonisten zutage, wo unter den Kennzeichnungen zahlreicher guter Eigenschaften wieder das Adjektiv gespr#che begegnet (v. 300). Der Mund des französischen Partonopeu ist in der entsprechenden Passage nicht etwa redegewandt, sondern gut zum Küssen (a bien baisier, v. 569). Ich will im Folgenden die Frage aufwerfen, welchen Erkenntniswert es haben könnte, Figurenreden im höfischen Roman als Vorbild für Eloquenz zu verstehen. Dieser Zugriff verschiebt die weithin gewohnte narratologische Orientierung der Analyse von Figurenreden zugunsten eines Interesses an der mehr oder weniger großen Vorbildlichkeit von Figurenreden für die historischen Modelladressaten der Erzählung.7 Die sprachliche Faktur und die erzähltechnischen Funktionen von Figurenreden im Rahmen der narrativen Textkonstruktion sollen dabei zwar nicht außer Acht gelassen werden, weil sie mehr oder weniger große Vor6
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Eine Transkription der Handschrift P des Partonopeu, die den Untersuchungen von André Moret, L’originalité de Conrad de Wurzbourg dans son poème: ‘Partonopier und Meliur’, Lille 1933, und Wolfgang Obst, Der Partonopier-Roman Konrads von Würzburg und seine französische Vorlage, Diss. Würzburg 1976, zufolge Konrads Vorlage unter allen Überlieferungszeugen des französischen Romans am Nächsten steht, ist unter der Internet-Adresse http://www.hrionline.ac.uk/partonopeus zugänglich (Stand 1. November 2010). Die prinzipielleren Unterschiede zwischen den beiden von den erhaltenen Handschriften repräsentierten Fassungen des französischen Textes lassen sich anhand der jüngsten Ausgabe gut erkennen: Le Roman de Partonopeu de Blois. Édition, traduction et introduction de la rédaction A (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, 2986) et de la Continuation du récit d’après les manuscrits de Berne (Burgerbibliothek, 113) et de Tours (Bibliothèque municipale, 939), hg. von Olivier Collet und Pierre-Marie Joris, Paris 2005. Ich zitiere nach dieser Ausgabe, habe die Stellen, auf die ich mich beziehe, aber jeweils in der Internet-Edition von P überprüft. Die Datierungsvorschläge für den Partonopeu reichen von den 50er bis zu den 80er Jahren des 12. Jahrhunderts; Collet und Joris lassen die Frage in ihrer Ausgabe nach einem langen Referat der jüngeren Diskussion (S. 14–22) offen. Konrads Prolog erklärt ausdrücklich, dass ein französisches Buch als Bearbeitungsgrundlage diente (v. 209f.); das ‘Wiedererzählen’ ist hier, wie in vielen anderen Fällen, weniger Stoffbearbeitung als vielmehr konkrete Textbearbeitung. Was den berühmten Dank an den Übersetzer Heinrich Marschant anlangt, den Konrad mangels eigener Kenntnis des Französischen brauchte (franzeis ich niht vernemen kan, v. 212), so sollte man in Rechnung stellen, dass Altfranzösisch für einen des Mittellateinischen gut Kundigen, und dies war Konrad gewiss, zwar nicht unmittelbar zugänglich, aber auch nichts völlig Fremdes gewesen sein kann. Beobachtungen und Mutmaßungen zur Textbearbeitung finden sich bei Moret und Obst. ‘Modelladressat’ ist im Sinn von Umberto Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München/Wien 1987, gemeint als theoretisches Objekt der vom Autor mittels der Textstrukturierung betriebenen Rezeptionslenkung; es geht also um die Frage, welche Figurenreden mit welchen Mitteln als mehr oder weniger vorbildlich zu erkennen gegeben werden.
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bildlichkeit indizieren können; sie stellen jedoch nicht das eigentliche Erkenntnisinteresse dar. Vielmehr geht es um die kulturellen Modelle von Kommunikationskompetenz, die Erzählungen ihren Adressaten vorstellen und mit denen sie gewissermaßen Antworten auf die Frage ‘How to do things with words’ geben. Ehe ich mich meinen Beispielen, nämlich Konrads Partonopier und seiner altfranzösischen Vorlage, zuwende, will ich ein paar methodische Vorüberlegungen anstellen. Ein erster heuristischer Weg, modellhafte Eloquenz in höfischen Romanen zu identifizieren, führt über die Tradition der Dichtungstopik. Der Blick richtet sich dann vor allem auf jene von Horaz als Purpurlappen (purpurei panni) verspotteten Textpassagen,8 die die zeitgenössischen Kenner als poetische Musterstücke zu identifizieren wussten, also beispielsweise Liebesmonologe, Briefe, Totenklagen, descriptiones aller Art. Darunter sind die descriptiones eher eine Angelegenheit der Erzählerrede, die anderen Typen eher eine der Figurenrede. Alle sind sie insofern Ausweis exemplarischer Eloquenz, als der Dichter, indem er sie einsetzt, eine erkennbaren Mustern verpflichtete Formulierungskunst vorführt, die sich den Traditionen des lateinischen Grammatik- und Rhetorikunterrichts und der davon beeinflussten lateinischen Textproduktionspraxis verdankt.9 Dass die mittels dieser Musterstücke vorgeführte Eloquenz in der Lebenswirklichkeit unmittelbar verwertbar war, wird man in den meisten Fällen – auch wenn wir es mangels Quellen eigentlich nicht wirklich wissen können – eher bezweifeln.10 Indes manifestiert sich Vorbildlichkeit in höfischen Romanen, die exemplarische Kompetenzen ja gern in wirklichkeitsfernen Handlungskonstruktionen situieren, auch sonst nicht unbedingt in Gestalt direkt nachzuahmender Modelle; Partonopier und Meliur ist dafür ein prototypisches Beispiel. Ein zweiter heuristischer Weg, vorbildliche Eloquenz in höfischen Romanen zu identifizieren, führt über die Einbettung von Figurenreden in Handlungskonstruktionen. Der Blick richtet sich dann in erster Linie auf Figurenreden, deren kommunikatives Glücken oder Scheitern sich im Handlungsverlauf erweist, also beispielsweise auf rituelle Kommunikationsakte wie Begrüßungen, Abschiede, Beratungen und dergleichen mehr. Der Gedanke an eine direkte Verwertbarkeit in der Lebenspraxis liegt in solchen Fällen näher als bei den poetischen Musterstücken, weil höfische Eloquenz hier eher als verbale Variante von hovezuht erscheint. Geradezu ein Musterbuch solcher Redefertigkeiten ist der Jüngere Titurel;
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Ars poetica, v. 14–19 (Horaz, Sämtliche Werke [wie Anm. 4], S. 630). Vgl. zur Schultradition insbesondere Alexandru N. Cizek, Imitatio et tractatio. Die literarischrhetorischen Grundlagen der Nachahmung in Antike und Mittelalter, Tübingen 1994 (RhetorikForschungen 7); zu den Reflexen in der deutschsprachigen höfischen Dichtung Gert Hübner, Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ‘Geblümten Rede’, Tübingen/Basel 2000 (Bibliotheca Germanica 41). Immerhin bietet die Heroldsdichtung zumindest seit dem 14. Jahrhundert Beispiele für einen ‘Sitz im Leben’ höfischer Eloquenz beispielsweise in Totenklagen; vgl. etwa Silvia Schmitz, „Das Ornamentale bei Suchenwirt und seinen Zeitgenossen. Zu strukturellen Zusammenhängen zwischen Herrschaftsrepräsentation und poetischen Verfahren“, in: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. von Hedda Ragotzky und Horst Wenzel, Tübingen 1990, S. 279–302.
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nicht zuletzt sein Erfolg belegt die historische Bedeutung dieser Funktion narrativer Dichtung. Ich gehe im Folgenden den zweiten Weg, konzentriere mich dabei jedoch ausschließlich auf argumentative Figurenreden, die das Ziel verfolgen, in strittigen Fragen einen Standpunkt durch die Angabe von Gründen durchzusetzen. Solche Figurenreden können besonders interessante Fälle von Redefertigkeit abgeben, vor allem wenn sie Eloquenz nicht bruchlos mit hovezuht zusammenfallen lassen. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die von Chrétien de Troyes und Hartmann von Aue auf je eigene Art und Weise genüsslich inszenierte Argumentationsfertigkeit Lunetes, deren Zweckrationalität alles hinwegfegt, was Laudine nach der Tötung ihres Ehemanns an handlungsleitenden Normvorstellungen aufzubieten hat und anfangs befolgen will.11 Auch jenseits solcher Spannungsphänomene sind argumentative Figurenreden besonders interessant, wenn der jeweilige Handlungsverlauf die persuasive Wirkungsmacht des Wortes vorführt. Argumentative Eloquenz war bekanntlich der eigentliche Kerngegenstand der klassischen antiken Rhetorik, einer weit verbreiteten Einschätzung nach jedoch nicht der des Rhetorik- und Dialektikunterrichts im 12. und 13. Jahrhundert.12 Persuasive Argumentation ist der antiken Vorstellung nach nötig, wenn die Wahrheit in strittigen Fragen nicht logisch 11
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Chrétien de Troyes, Le Chevalier au lion ou le Roman d’Yvain. Édition critique d’après le manuscrit B.N. fr. 1433, hg., übersetzt und kommentiert von David F. Hult, Paris 1994, v. 1597–1784; Hartmann von Aue, Gregorius, Der Arme Heinrich, Iwein, hg. und übersetzt von Volker Mertens, Frankfurt a.M. 2004 (Bibliothek deutscher Klassiker 189; Bibliothek des Mittelalters 6), Iwein, v. 1796–2072. Vgl. dazu Tobias Zimmermann, „Den Mörder des Gatten heiraten? Wie ein unmöglicher Vorschlag zur einzig möglichen Lösung wird. Der Argumentationsverlauf im Dialog zwischen Lunete und Laudine in Hartmanns Iwein“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 203–222. Für eine Revision dieser Einschätzung plädiert Peter von Moos, „Rhetorik, Dialektik und civilis scientia im Hochmittelalter“, in: Dialektik und Rhetorik im früheren und hohen Mittelalter, hg. von Johannes Fried, München 1997 (Schriften des Historischen Kollegs 27), S. 133–155, der die von Boethius und Victorinus ausgehende Theorietradition einer „Rhetorik und Dialektik verbindenden Leitidee der argumentativen persuasio oder programmatischen Intentionalität“ (S. 143) sowie die theologische Einschätzung der Rhetorik als „Willensbewegerin“ (S. 147, rhetorica facit velle) akzentuiert: Beides entfaltete seine Wirksamkeit besonders im 12. und 13. Jahrhundert und kristallisierte in der Rhetorica novissima Boncompagnos da Signa. Auch wenn man der These gern folgen will, „daß anspruchsvoller Rhetorik-Unterricht im Mittelalter primär der inventio galt, also bereits auf das zielte, was die Perelman-Schule heute Argumentation, Persuasion und Problematisierung nennt, während die in der Mediävistik oft maßlos überschätzte und einseitig als ‘Rhetorik’ ausgegebene isolierte Stillehre (elocutio), wie sie etwa in der frühen Ars dictaminis oder in den französischen Poetiken erscheint, vollkommen randständig blieb“ (S. 155), wird man an der ‘vollkommenen Randständigkeit’ doch Zweifel hegen und an einer Differenzierung zwischen mehr und weniger ‘anspruchsvollem’ Rhetorikunterricht festhalten müssen. Konrads von Würzburg poetische Praxis freilich scheint mir der Annahme, dass Rhetorik für ihn erheblich mehr bedeutete als elocutio, nicht entgegenzustehen, so dass ich es wagen möchte, die folgenden Überlegungen für kompatibel mit von Moos’ Position zu halten.
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deduzierbar ist. Im 12. und 13. Jahrhundert wurden im durchschnittlichen Rhetorikunterricht vorzugsweise Formulierungsverfahren vermittelt; Argumentationsverfahren waren Gegenstand der Dialektik, die freilich logische Beweisprozeduren und nicht eloquente Persuasionstechniken zu lehren hatte. Eine quaestio etwa dient dem Dialektiker der Deduktion der Wahrheit, nicht der beredten Durchsetzung eines Standpunkts. In höfischen Romanen wird gleichwohl gelegentlich eine persuasive Eloquenz im ursprünglichen rhetorischen Sinn dargestellt, die nicht mit dialektischer Wahrheitsableitung zusammenfällt. Konrads von Würzburg junger Ritter Engelhard beispielsweise benutzt sein Argumentationsgeschick vor dem Gericht des Königs, um einen Geschlechtsverkehr mit der Königstochter zu leugnen, bei dem er erwischt wurde; indem er in der Konfrontation mit dem Augenzeugen die Unwahrscheinlichkeit des Geschehens mit großer rhetorischer Raffinesse begründet, lügt er erfolgreich.13 Hier wird nicht nur eine ins genus iudicale fallende Eloquenz vorgeführt, deren Verhältnis zur hovezuht problematisch ausfällt; hier dient Argumentation darüber hinaus auch der Verdrehung der Wahrheit und nicht ihrer Deduktion. Die Erzählung indes tut alles, um nicht nur Nachsicht, sondern geradezu Bewunderung für ihren beredt lügenden Protagonisten zu evozieren. Man muss also durchaus die Frage aufwerfen, in welchen Zusammenhängen und auf welche Weise höfische Romane der argumentativen Rede Wirkungsmacht zuschreiben und persuasive Eloquenz als vorbildlich darstellen. Argumentationsfertigkeit lässt sich dabei gewiss nur als ein Teil jener praktischen Kompetenz verstehen, die Konrad mit dem Ausdruck gespr#chiu zunge bezeichnen wollte – aber eben doch als Teil davon, und zwar möglicherweise als einer, der nicht immer in der Demonstration sprachkünstlerischen Stilisierungsvermögens und höfischer Handlungsnormen aufgeht. Argumentationsfertigkeit wäre folglich als Bestandteil eines kommunikativen Habitus (im Bourdieuschen Sinn praktischer Kompetenz14) zu analysieren, den höfische Romane vorführen, indem sie Eloquenz exemplifizieren. Eine Verfolgung dieses Gedankens wird nicht allein davon absehen, die erzähltechnischen Funktionen von Figurenreden in das Zentrum der Analyse zu stellen; sie wird das Interesse außerdem auch nicht vorrangig auf die Verarbeitung dialektischen oder rhetorischen Technikwissens in der Faktur von Figurenreden lenken.15 Obwohl beide Aspekte eine Rolle spielen müssen, rückt das Interesse an der Modellierung eines kommunikativen Habitus eher die ‘Situationen des Argumentierens’16 im höfischen Roman in den Mittelpunkt, weil ein Habitus situationsgerecht eingesetztes Handlungswissen ist. 13
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Vgl. Konrad von Würzburg, Engelhard, hg. von Ingo Reiffenstein, 3., neubearbeitete Auflage der Ausgabe von Paul Gereke, Tübingen 1982 (ATB 17), v. 3671–4125. Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a.M. 1985; ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987. Wie Konrad von Würzburg seine rhetorischen und dialektischen Schulkenntnisse in Figurenreden zur Geltung brachte, hat insbesondere Wiebke Freytag, „Zur Logik wilder aventiure in Konrads von Würzburg Paris-Urteil“, in: JOWG 5 (1988/89), S. 373–395, anhand der Parisurteil-Episode im Trojanerkrieg vorgeführt, wo die drei Göttinnen ihre Vorzüge in einem Redewettstreit rühmen. Ich variiere damit den Titel des Sammelbands Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, hg. von Ludger Lieb und Stephan Müller, Berlin/New York 2002.
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In diesem Sinn will ich im Folgenden exemplarisch Situationen des Argumentierens in Konrads Partonopier und in seiner altfranzösischen Vorlage untersuchen. Die Wahl der beiden Texte beruht darauf, dass sie gewissermaßen eine kleine Kulturgeschichte höfischer Einstellungen zu argumentativer Eloquenz nahelegen. Zum einen enthalten beide mehrere Episoden (im Folgenden I. bis III.), in denen sich das Verhältnis zwischen rationaler Argumentation und mehr oder weniger ritueller Interaktion sehr unterschiedlich ausnimmt. Zum anderen führen beide recht offen vor, wie das Argumentieren als eine aus der Klerikerkultur stammende Kompetenz unter die Ritter kommt (im Folgenden IV. bis VI.). Anhand der Unterschiede zwischen den etwa 100 Jahre auseinander liegenden Texten lässt sich dabei erahnen, wie sich manche Einstellungen gegenüber argumentativer Eloquenz in der Geschichte des höfischen Romans änderten.17 Selbstverständlich liegt es mir fern, den Partonopeu als Ausgangs- und den Partonopier als End- oder gar Zielpunkt einer linearen Entwicklung ausgeben zu wollen; die beiden Texte scheinen mir aber die Möglichkeit zu eröffnen, Schlaglichter auf den steigenden Wert zu werfen, den die argumentative Eloquenz zugeschrieben bekommt. Welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten den Verlauf dieses Wandels bestimmten, wäre erst noch zu ergründen.
I. Partonopier und Meliur im Bett Ich beginne mit einer Episode, in der Konrad argumentative Eloquenz als Fall von hovezuht erscheinen lässt; dem sprachlichen Handeln eignet dabei jedoch eine höfische Vorbildlichkeit, die dem körperlichen, mit dem es einhergeht, mangelt. Die erste Streitfrage, die Konrad in argumentativen Figurenreden verhandeln lässt, lautet, ob Partonopier bei der unsichtbaren Meliur im Bett übernachten darf (v. 1320ff.); das vom Protagonisten verfolgte Ziel besteht zunächst nur darin, die nötige Ruhe nach vorangehenden Strapazen zu finden. Partonopier trägt mehrere Begründungen für seinen Wunsch vor; Meliur verlangt, dass er gehen soll. Die Auseinandersetzung führt nicht zu einer Entschei17
Einer spezifischen Interessenlage von Konrads Basler Adressaten wird man die Differenzen nach den Untersuchungen von Ursula Peters, Literatur in der Stadt. Studien zu den sozialen Voraussetzungen und kulturellen Organisationsformen städtischer Literatur im 13. und 14. Jahrhundert, Tübingen 1983 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 7), kaum noch zuschreiben wollen; die ausdrückliche Erwähnung der hovezuht und ihre unverminderte Relevanz in der Handlung ist einer der vielen Belege dafür, dass die städtischen Eliten um 1300 nach Möglichkeit keine Abgrenzung gegenüber der höfischen Tradition wollten. Die Wertschätzung rhetorischer Kompetenzen setzt einen Zugang zur lateinischen Bildungstradition voraus, den man nicht nur Konrad, sondern auch seinem Basler Publikum unterstellen darf. Mit dem Blick beispielsweise auf Gottfried von Straßburg wird man freilich auch dies nicht für eine ‘späthöfische’ Besonderheit halten wollen. Konrads eigener Bildungshorizont wird besonders eindrucksvoll anschaulich am Beispiel der Studien zu den Quellen des Trojanerkriegs und ihrer Bearbeitung bei Elisabeth Lienert, Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg ‘Trojanerkrieg’, Wiesbaden 1996 (Wissensliteratur im Mittelalter 22), S. 30–222.
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dung; beide brechen den Dialog ab (ir zweier rede was gedigen / unde ir strît ze nihte gar, v. 1510f.). Der Erzähler erklärt das damit, dass beide auf Geschlechtsverkehr aus sind (v. 1521–1554). Partonopier wird handgreiflich (v. 1566–1569), Meliur spielt die Empörte (v. 1570–1577). Nun debattieren die beiden eine weitere Frage, nämlich ob Meliur Partonopiers sexuelles Begehren erfüllen soll. Partonopier hält eine lange Rede, die die argumentative Topik der höfischen Liebeswerbung einsetzt (v. 1586–1630): Eine Dame ist dazu verpflichtet, den Liebesschmerz ihres aufrichtigen Verehrers zu heilen. Meliur weist ihn knapp zurück mit der Bemerkung, auf seine „sp#hen wort“ keineswegs eingehen zu wollen (v. 1640f.). Partonopier droht in der weiterhin topischen Fortsetzung der Werbungsrede mit seinem Liebestod (v. 1642–1666). Als Meliur sich erneut weigert, zwingt er sie zum Geschlechtsverkehr, von dem der Erzähler allerdings weiß, dass er auch für sie höchstes Glück gewesen sei (v. 1688–1738). Danach klärt Meliur Partonopier darüber auf, dass sie ihn zu sich entführen ließ, um ihn zu heiraten (v. 1739–1930). Ein junger Mann versucht, eine unsichtbare Frau zu überreden, in ihrem Bett übernachten und mit ihr schlafen zu dürfen: Das ist weder eine einfach vom Stoff vorgegebene noch eine lediglich die höfische Fassung ovidianischer ars amatoria inszenierende, sondern eine zu höchster Artifizialität getriebene Situation, die vielleicht nicht von ungefähr den Gedanken an die schulischen Übungen evoziert: Als adlocutiones verfasste man im Unterricht Reden für Figuren in bekannten Dramen- und Epensituationen nach dem Muster ‘Was hat x gesagt, als ...’.18 Bei Konrads Verlaufskonstruktion fällt indes auf, dass Partonopiers argumentative Bemühungen handlungstechnisch ergebnislos ausfallen: Beide Persuasionsversuche erweisen sich im Nachhinein als überflüssig, weil sich die Situation einem Plan der Dame verdankt, und beide Persuasionsversuche brechen in körperlichem Agieren ab – Partonopier bleibt zuerst einfach liegen und nötigt Meliur dann. In Konrads französischer Vorlage verhält sich dies anders. Partonopeu nämlich verhandelt mit der Unsichtbaren nur die Übernachtungsfrage (v. 1165–1236). Melior gibt nicht nach, wird jedoch von seinen Reden zu Tränen gerührt, die ihn wiederum veranlassen, sexuell aktiv zu werden. Als sie ihn empört zurückweist, sagt er gar nichts mehr, sondern setzt seine Zudringlichkeit fort. Die Werbungsrede, die bei Konrad ergebnislos bleibt, existiert hier nicht. Was Konrad eingefügt hat, ist das poetische Musterstück höfischer Persuasionskunst par excellence, die eloquente Liebeswerbung. Es versteht sich, dass sie zu Konrads Zeit schon eine lange Geschichte hat; man hat es mit einem Minneliedtext in Reimpaarversen zu tun, einer kleinen Minnerede, die ihren literarischen Traditionsbezug und damit ihren Status als purpureus pannus mittels ihrer Topik offen zu erkennen gibt. Zur Vorbildlichkeit gehört indes nicht nur die Beherrschung des Redemusters, sondern ebenso der Habitus, den die Situationseinbettung zum Ausdruck bringt: Der höfische Mann 18
Vgl. Priscian, Praeexercitamina VIIII,27–28; Prisciani Institutionum grammaticarum libri XIII– XVIII, hg. von Heinrich Keil. Prisciani Opera minora, hg. von Martin Herz, Leipzig 1859 (Grammatici latini 3), S. 437f. Vgl. dazu Cizek (wie Anm. 9), S. 276–285.
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hält bei Konrad eine kunstgerechte Minnerede, ehe er körperlich aktiv wird. Das zeigt eine Kultiviertheit, die die weniger vorbildliche, aus der französischen Vorlage aber gleichwohl übernommene Gewaltanwendung konterkariert; bei Partonopeu dagegen wiegt keine Wohlredenheit den kruden Sieg des Begehrens auf. Die höfische Funktionalität argumentativer Rede bindet Konrad dabei aber nicht an die persuasive Macht des Wortes im Handlungsverlauf, sondern an seinen situationsgerechten Einsatz, der hovezuht zum Ausdruck bringt: Die gespr#chiu zunge lenkt nicht das Wollen und Handeln des Interaktionspartners, legitimiert aber das eigene Wollen und Handeln; sie dient als Nachweis dafür, dass man über den richtigen Habitus verfügt.19 So artifiziell sich die erzählte Situation auch ausnimmt, führt sie doch vor, dass argumentative Eloquenz ein Bestandteil höfischer Kultiviertheit ist. Insofern sie diese Funktion unabhängig von ihrem persuasiven Erfolg erfüllt, erscheint sie freilich als Bestandteil eher rituellen Kommunikationsverhaltens.
II. Sornagiurs Kriegsrat Beide Texte inszenieren indes auch die persuasive Macht des Wortes. Beim Kriegsrat des Heidenkönigs Sornagiur vor der Schlacht gegen die Christen hat Konrad die Beratungsreden verlängert, ohne ihren thematischen Aufbau und ihre Konsequenzen zu verändern. Argumentative Kompetenz macht in dieser Episode keinen allzu vorbildlichen Eindruck, sondern einen eher zweifelhaften. Sornagiur möchte, wie er in seiner Eingangsrede ausführt, die Kampftaktik beraten (v. 4076–4099). Der zweite Redner, König Lôemêr, ignoriert diese Themenvorgabe jedoch. Er rät dazu, auf den Kampf zu verzichten und stattdessen die Tributangebote der Feinde anzunehmen; das Argument ist ihre Übermacht (v. 4106–4186). Der dritte Redner, König Fabruîn, spricht sich für den Kampf aus; das Übermacht-Argument weist er damit zurück, dass die Ehre zu kämpfen gebiete (v. 4192–4220). Der vierte Redner, König Marufîn, rät vom Kampf ab. Als zusätzliches Argument führt er an, dass die Feinde im Recht seien, so dass sich ein Einwand gegen das Ehre-Argument ergibt (v. 4254–4326). Der fünfte Redner, König Fursîn, möchte kämpfen. Auch er führt ein zusätzliches Argument ein und weist die Argumente der Gegenpartei zurück: Die Feinde würden angesichts ihrer Überlegenheit die versprochenen Tribute nicht zahlen; die Ehre hätte größeres Gewicht als das Recht (v. 4334–4392). 19
Ob Anja Kühne, Vom Affekt zum Gefühl. Konvergenzen von Theorie und Literatur im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg ‘Partonopier und Meliur’, Göppingen 2004 (GAG 713), S. 281, das Verhältnis zwischen körperlichem Begehren und Rede mit der Interpretation als „Einkleidung der ausgelebten Begierde in höfische Umgangsformen“ tatsächlich trifft, scheint mir fraglich; ähnlich schon Obst (wie Anm. 6), S. 146; zutreffender finde ich Rikls (wie Anm. 5), S. 95, Deutung, Meliur eröffne „mit dem Gespräch Partonopier verbalen Raum, zu beweisen, daß er ein in der minne geschulter ist“. – Vgl. zur Szene außerdem Rüdiger Schnell, „Ovids ‘Ars Amatoria’ und die höfische Minnetheorie“, in: Euphorion 69 (1975), S. 132–159, hier S. 151f.; Gerok-Reiter (wie Anm. 1), S. 269f.; Eming (wie Anm. 1), S. 184–190; Schulz (wie Anm. 1), S. 415–418.
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Der letzte Redner ist Graf Mareis, der Chefratgeber Sornagiurs, von niederer Geburt und hauptamtlicher Bösewicht des Romans. Mareis schlägt sich mit dem Hinweis auf die Übermacht der Feinde auf die Seite der Kriegsgegner und räumt das pragmatische Argument der Kriegsbefürworter aus dem Weg: Man solle so tun, als ob man kämpfen wolle, um einen möglichst günstigen Frieden auszuhandeln (v. 4410–4514). Das Ehre-Argument ignoriert er; die beiden Kriegsbefürworter und Sornagiur halten den Rat dann auch für feige. Doch die Mehrheit der Versammlung stimmt für Mareis’ Vorschlag; Sornagiur ist wütend. Es ist offensichtlich, dass das Beratungsritual einen falschen Verlauf nimmt.20 Die Versammlung berät eine Frage, die Sornagiur gar nicht aufgeworfen hatte; die Beratung führt nicht zum Konsens, sondern zu einem Sornagiurs Ehre bedrohenden Ergebnis. Fehllaufende Beratungen haben als episches Versatzstück die Funktion, Defekte im Lager der Gegner des jeweiligen Protagonisten deutlich zu machen; einen Modellfall dafür bieten der französische und der deutsche Eneasroman mit der beständigen Einigkeit im trojanischen und der wachsenden Uneinigkeit im italienischen Herrschaftsverband.21 Im Fall von Sornagiurs Kriegsrat kommt die Wirkungsmacht der argumentativen Rede gerade im Scheitern des Rituals zur Geltung. Bei Konrad ist das, genauso wie in seiner Vorlage, durch die sorgfältige Gestaltung des Argumentationsverlaufs zum Ausdruck gebracht. Der jeweilige Redner bestreitet stets das Argument seines Vorredners und führt ein neues Argument ein, gegen das sich der jeweilige Nachredner wendet. Die mehrmalige Wiederholung verleiht der gesamten Sequenz etwas durchaus Schulmäßiges; man muss dabei nicht gleich an die scholastische Disputation denken, denn unter dem Etikett refutatio gehörte dergleichen zu den elementaren Aufsatzübungen des Grammatikunterrichts.22 Indem die Erzählung die Figur Mareis schlechtmacht, wertet sie ihren Standpunkt ab; Mareis hat wegen seiner niederen Herkunft kein Ehrgefühl. Doch dient die Episode, auch wenn die sozialhistorischen Interpretationen dabei gewiss nicht falsch lagen,23 nicht allein 20
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Zu Beratungsszenen in der Heldenepik, wo der Verlauf des Rituals (anders als im höfischen Roman) oft ungestört von jeder kontroversen Argumentation dargestellt ist, vgl. Jan-Dirk Müller, „Ratgeber und Wissende in heroischer Epik“, in: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 124– 146. Le Roman d’Eneas. Édition critique d’après le manuscrit B.N. fr. 60, übersetzt, hg., und kommentiert von Aimé Petit, Paris 1997, v. 3896–3991, 4194–4325, 6600–6895; Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1986 (RUB 8303), v. 4835–4946, 5313–5532, 8428–8739. Vgl. Priscian, Praeexercitamina V,15 (wie Anm. 18), S. 434; dazu Cizek (wie Anm. 9), S. 230, 233, 246. Die Schlechtigkeit unadeliger Aufsteiger ist ein Kernthema des französischen Romans; Konrad hat es nicht getilgt, aber zurückgenommen (Obst [wie Anm. 6], S. 189–212). Die auf die französischen Verhältnisse des späteren 12. Jahrhunderts zugeschnittenen lehnsrechtlichen Kategorien sind dabei so generalisiert, dass die aufsteigerfeindliche Einstellung den Interessen von Konrads stadtadeligen Auftraggebern entsprechen konnte; vgl. Trude Ehlert, „In hominem novum oratio? Der Aufsteiger aus bürgerlicher und aus feudaler Sicht: Zu Konrads von Würzburg ‘Partonopier und Meliur’ und zum altfranzösischen ‘Partonopeus’“, in: ZfdPh 99 (1980), S. 36–72. Dass sich das ständisch ex-
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der Diskreditierung des Aufsteigers. Mareis, der Emporkömmling, ist im Rat der Könige der Debattenkönig. Seine Argumentation hat Erfolg, er gewinnt die Mehrheit der Versammlung für seinen Standpunkt. Hier wird in der Tat die Macht persuasiver Rede in einer – nach zeitgenössischen Maßstäben – öffentlich verhandelten Streitfrage dargestellt; dies ist deliberative Beredsamkeit par excellence. Der Erfolg der Rede fällt jedoch mit dem Scheitern der Konsensbildung und der kollektiven Handlungsfähigkeit zusammen. Die gespr#chiu zunge ist effizient, aber unter der Bedingung defizitärer Ordnung – des dem Aufsteiger eingeräumten Status – ein Bestandteil defizitärer Ordnung. Als Exemplifikation vorbildlicher Eloquenz wird man das nicht verstanden haben, in Konrads Text ebenso wenig wie im französischen. Es ist eine Exemplifikation erfolgreicher Eloquenz, gegenüber deren Wirkungsmacht beide Texte Misstrauen schüren, weil das gelungene kommunikative Ritual in diesem Fall einen größeren Wert beanspruchen müsste als der Persuasionserfolg.
III. Partonopier und der König vor dem Zweikampf Bei Konrad gibt es indes auch den vorbildlichen Persuasionserfolg. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür bietet die Episode, in der Partonopier den französischen König überredet, gegen Sornagiur zum Zweikampf antreten zu dürfen. Konrad hatte dabei offensichtlich auch eine Reminiszenz an die Auseinandersetzung zwischen Marke und Tristan vor dem Morolt-Kampf bei Gottfried von Straßburg im Sinn; bemerkenswerter ist jedoch das Verhältnis zur französischen Vorlage. Partonopier beharrt in drei längeren Reden (v. 4818–4848, 4893–4928, 4952–4976) gegenüber dem ablehnenden König auf seinem Wunsch. Die Argumente, die er zur Begründung anführt – seine Verwandtschaft mit dem König, seine Todesbereitschaft, die Aussicht auf Ruhm und sein Gottvertrauen – wiederholt er dabei obstinat. Der König argumentiert mit Hinweisen auf Partonopiers Jugend, Sornagiurs Kampfkraft und die drohende Todesgefahr zweimal ausführlich dagegen (v. 4854–4892, 4930–4951), ehe er widerstrebend zustimmt (v. 4984–5002). Der Erzähler bewertet den Sieg Partonopiers ausdrücklich als Überredungserfolg: Sus hete dô Partonopier / den künic edel unde fier / mit sînen worten überkomen (v. 5003–5005). Konrad hat hier die Figurenreden gegenüber dem französischen Text erheblich verlängert und im Zusammenhang damit auch die Konstruktion der dargestellten kulturellen Praxis verändert. Partonopeu fällt dem König eingangs zu Füßen (v. 2750) und bittet darum, kämpfen zu dürfen; die Rede ist zwei Verse lang (v. 2751f.). Der König erweist ihm Gnade, indem er ihn aufhebt (v. 2753f.), lehnt die Gewährung der Bitte aber ab (v. 2755–2770). Partonopeu entzieht sich der ausdrücklich als amistié bezeichneten (v. 2772) und damit als amicitiaklusive Denken der städtischen Eliten von dem des höfischen Adels gleichwohl nicht prinzipiell unterschied, betont Ursula Peters, „Roman courtois in der Stadt. Konrads von Würzburg ‘Partonopier und Meliur’“, in: LiLi 12 (1982), Heft 48, S. 10–28.
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Ritual charakterisierten Geste des Königs, fällt erneut auf die Knie (v. 2771f.) und droht damit, den König nie wieder sehen zu wollen, wenn dieser seinen Wunsch nicht erfüllt; die Drohung wird in zwei Versen indirekter Rede referiert (v. 2773f.). Der König, ergriffen von Leid und Zorn (duel et ire, v. 2775), hebt Partonopeu unter Tränen auf und gesteht ihm den Zweikampf zu (v. 2775–2791). Partonopeu bittet Gott um Beistand (v. 2792–2794), fällt dem König nochmals zu Füßen und küsst sie. Der König hebt ihn ein letztes Mal auf. Konrads Partonopier fällt dem König eingangs ebenfalls zu Füßen (v. 4813–4816); von weiteren Kniefällen, Aufhebungen, Zurückweisungen der Aufhebung und Küssen ist jedoch nicht die Rede. Im französischen Text wird der Konflikt mittels der Symbolbedeutungen des körperlichen Rituals ausgetragen und beigelegt; an Partonopeus wenigen Worten hat die Erzählung ein herzlich geringes Interesse. Im deutschen Text beruht Partonopiers Erfolg dagegen auf seiner gespr#chen zunge. Konrad löst das Ritual durch Persuasion ab; als situationsgerechter Habitus erscheint dabei das insistierende Vielreden: Dem obstinaten Knien des Rituals entspricht die obstinate Eloquenz als angemessenes und deshalb erfolgreiches persuasives Sprachhandeln. Die drastische Verlängerung der Figurenrede ist keine dilatatio materiae, sondern ein Instrument zur Erzeugung persuasiver Emphase, ein Amplifikationsmittel im klassischen Sinn der antiken Rhetorik.24 In beiden Texten ist der Zweikampf zwischen Partonopier und Sornagiur, der einen der zentralen Handlungsknoten darstellt, übrigens das – was Sornagiur anbelangt allerdings mittelbare – Ergebnis der beiden besprochenen Episoden, des Kriegsrats der Heiden und der Einsetzung Partonopiers zum Kämpfer durch den König. Der französische Text macht den Zweikampf zum Ergebnis eines gescheiterten Rituals, das den schädlichen Erfolg persuasiver Rede freisetzt, und eines geglückten Rituals, das keiner persuasiven Rede bedarf. Bei Konrad ist das geglückte Ritual durch erfolgreiche Persuasion ersetzt, so dass beide Episoden zusammen den Erfolg von Persuasion – einmal sehr zweifelhafter, einmal durchaus vorbildlicher – und nicht den Gegensatz zwischen gescheitertem und geglücktem Ritual inszenieren.
IV. Der Erzbischof und Partonopier In einer zweiten Episode, in der der französische Dichter vom Erfolg persuasiver Rede erzählt, präsentiert er zugleich eine Vorstellung von der kulturellen Heimat der Eloquenz.
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Die Differenz zwischen dem antiken und dem mittelalterlichen Amplifikationsbegriff wurde wiederholt hervorgehoben; vgl. insbesondere Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München [11948], 101984, S. 481f.; Franz Josef Worstbrock, „Dilatatio materiae. Zur Poetik des ‘Erec’ Hartmanns von Aue“, in: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1–30; Barbara Bauer, „Amplificatio“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 445–471. Auf Gemeinsamkeiten verweist dagegen unter anderem Cizek (wie Anm. 9), S. 125f.
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Als es Partonopeus Mutter nicht gelingt, den Sohn zur Sichtbarmachung Meliors zu bewegen, engagiert sie den Erzbischof von Paris, der ihn überreden soll. Der gelehrte Dichter wendet sich eigens an seine adeligen Adressaten (entendes seignor, v. 4369), um sie auf die Wortmacht des Bischofs vorzubereiten, der des Redens (respektive Predigens) sehr kundig ist und Vernünftiges schön zu formulieren weiß (Qui molt est sages de sermon / Et molt seit bel dire raison; v. 4351f.). Man gewinnt den Eindruck, dass der Dichter, den sein gelehrter Prolog als Kleriker ausweist, sowohl die Bewunderung seiner adeligen Rezipienten für die klerikale Redegewalt als auch ihren Argwohn vorwegnehmen wollte und deshalb die Kompetenz, über die er gewiss selbst verfügte, mit einer bemerkenswerten Distanziertheit behandelte: Ein Leichtes sei es dem Bischof gewesen, Partonopeu zu verführen (sosduire, v. 4368; das Lexem kann auch ‘betrügen’ bedeuten) und ihm Fesseln anzulegen (lier, v. 4372) mit einer ihn auf Umwegen einkreisenden Rede (v. 4369f.). Der eloquente Umweg besteht darin, dass der Bischof zunächst Partonopeus höfische Qualitäten lobt, um sie dann als Gaben Gottes und schließlich als Verpflichtung zur Sorge um das Seelenheil zu klassifizieren. Die 40 Verse lange, ausdrücklich als solche bezeichnete Predigt (v. 4373–4416; sermon, v. 4372) bringt Partonopeu dazu, sein Verhältnis zu Melior als Sünde zu beurteilen und zu beichten; nach der Beichte verpflichtet ihn der Bischof, Melior sichtbar zu machen. So deutlich der Erzähler die rhetorische Kompetenz des Bischofs einleitend mit raison in Verbindung bringt – die Wirkung der Rede lässt er als einen fast schon magischen Vorgang erscheinen: Der Bischof habe Partonopeu mit seinem falschen Lob (losenge) ganz verzaubert (encanté), so dass er seinen Willen völlig bestimmt habe (v. 4425f.). Insofern er den Respekt vor der Macht des Wortes als argwöhnischen inszeniert, scheint der Dichter die Einstellung seines Publikums reflektieren zu wollen, dessen Sympathien Partonopeu und nicht dem Bischof gelten müssen. Konrad hat den Handlungsverlauf beibehalten. Die Vorstellung des Bischofs ähnelt der Vorlage; er ist bescheiden, wîs, gespr#che, künste rîch (v. 7482f.) und greift Partonopier auf rhetorischen Umwegen von hinten an (nu hœrent, wie der bischof / den tugende rîchen hinder greif. / mit rede manegen umbesweif / begunde er machen; v. 7538–7541). Von Verführung und Freiheitsberaubung ist allerdings keine Rede. Die Predigt, die auch Konrad ausdrücklich als solche bezeichnet (v. 7647) und deren regelgerechte Konstruktion er nicht gerade verbirgt,25 ist – nicht zuletzt dank einer hinzugefügten Schilderung der Höllenqualen – auf 100 Verse verlängert (v. 7546–7646). Die Wirkung stellt Konrad als nicht weniger drastisch, aber nicht als staunenswert dar (v. 7647–7665); Partonopier bricht angesichts der Schilderung von Himmel und Hölle in Tränen aus, doch entfällt die metaphorische Assoziation des Vorgangs mit Zauberei. Später, als sich Partonopier im Angesicht von Meliurs Schönheit über den Erzbischof ärgert, verflucht er die Schule, die diesem solches Wissen
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Den Aufbau der Predigt nach den Regeln der Predigtlehre und ihre affektive Wirkung auf Partonopier analysiert Rikl (wie Anm. 5), S. 53f.
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vermittelt hat: „verwâzen sol diu schuole sîn, / dar inne er wart sô wîse, / daz er mich ûz dem prîse / der êren hât gevellet“ (v. 7934–7937).26 Eloquenz ist immer noch eine Klerikerfertigkeit, aber sie erscheint nicht mehr als befremdliches Können. Wenn die Macht des Wortes beschrieben wird, liegen nicht Begriffe der Magie, sondern allein solche der Schulgelehrtheit nahe. Zwar vermag die Klerikerkompetenz den adeligen Lebenswert êre zu gefährden, aber sie ist das Ergebnis von Schulwissen. Weil sie den Zielen der hovezuht auch entgegenstehen kann, muss man ihr mit Argwohn begegnen; doch handelt es sich dabei nun um einen Argwohn gegenüber dem Durchschauten. Beide Romane führen die Erinnerung mit sich, dass die Persuasion zum Wissensbestand der gelehrten Klerikerkultur gehört. Sicher ist es kein Zufall, wenn die poetische Imagination des gelehrten Dichters dem adeligen Laien die Kleriker-Eloquenz als eine im Sinn der ars praedicandi kunstgerecht gebaute Predigt begegnen lässt. Gerade Konrad führt Rhetorik dabei in einer Weise als Methode zur handlungsleitenden Affekterzeugung vor, die fast schon das Attribut ‘klassisch’ verdient. Indes ist der historische Horizont dieser Konstruktion in der Relevanz der Wirkungsfunktion movere fundiert, die Augustinus als Kenner der klassischen Rhetorik in die Predigtlehre übernahm und die gerade in der ars praedicandi und in der volkssprachlichen Predigtpraxis des 13. Jahrhunderts zu neuen Ehren kam.27
V. Walther und seine Brüder Schon der französische Text präsentiert darüber hinaus eine Vorstellung davon, wie die Kompetenz der Kleriker unter die Ritter kommt.28 Konrad hat dies aufgegriffen und konzeptionell zugespitzt, dabei aber auch wieder die unterstellte kulturelle Praxis etwas anders konstruiert.
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Die Formulierung ist eine Facette von Konrads Darstellung und Bewertung rhetorischer Kompetenz im Partonopier; ihren Sinn verdankt sie diesem vom Text hergestellten Kontext. Schwer fällt es mir deshalb, mit Cora Dietl, „Die Verurteilung von 1277 literarisch. Eine gewagte Lesart von Konrads von Würzburg ‘Partonopier und Meliur’“, in: Ars und Scientia im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Ergebnisse interdisziplinärer Forschung, hg. von Cora Dietl und Dörte Helschinger, Tübingen/Basel 2002, S. 139–159, bei der hier getadelten Schule an die Universität Paris (S. 146) und das Verbot der radikalaristotelischen Lehrsätze von 1277 zu denken. Vgl. De doctrina christiana, IV,27–58; Aurelius Augustinus, Die christliche Bildung (De doctrina christiana), Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Karla Pollmann, Stuttgart 2002 (RUB 18165), S. 172–206; zu ars praedicandi und Predigt vgl. die Artikel von Phyllis B. Roberts sowie Albrecht Beutel u.a., in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 1064–1071, und Bd. 7, Tübingen 2005, Sp. 45–96. Die Episode gehört, ebenso wie die im Anschluss behandelte, zu den Fortsetzungspartien des Partonopeu de Blois, die möglicherweise von einem anderen Dichter, aber in geringem zeitlichen Abstand zum Kernroman produziert wurden; der Forschungsstand ist in der Einleitung zu der in Anm. 6 genannten Ausgabe referiert.
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Ernoul, einer der christlichen Krieger, hat fünf Söhne, die mit ihm gegen die Heiden kämpfen und dabei zu nahe an deren Lager geraten. Einer der Söhne, Gautier, rät dem Vater in einer drei Verse langen Rede zum Rückzug (v. 12514–12516). Alos, der älteste Bruder, wirft ihm unter Zustimmung der Jüngeren Bequemlichkeit und Feigheit vor; Gautiers Ratschlag rühre daher, dass er schon zu lange Kleriker sei (v. 12517–12521). Gautier antwortet ironisch: Die Herren dürften sich freuen, dass Kleriker vorausschauend („porvoiant“, v. 12522) seien, er wolle ihnen gern die letzte Beichte abnehmen, sollten sie den Kampf fortzusetzen gedenken (v. 12522–12529). Ernoul, der Vater, beendet den Streit: Gautier rede oft gut wegen seiner Schulbildung („Gautiers dit souvent bien, que bon fust il letrés“, v. 12531). Man werde sich zurückziehen; Alos’ „estoltie“ (v. 12533; wie bei mhd. stolz reicht das Bedeutungsspektrum von ‘Kühnheit’ bis ‘Torheit’) habe schon früher geschadet. Es zieme sich für einen Ritter nicht, derart übermütig zu reden („qu’il soit si sorparlés“, v. 12534, eigentlich ‘so geschwätzig zu sein’); ein Ritter werde geschätzt, wenn er viel tue und wenig rede (v. 12530–12536). Konrads Arnold wirft seinem Ältesten ebenfalls vor, töricht zu reden, und belehrt ihn darüber, dass sich Spott für einen Ritter nicht gezieme. Dass der Ritter viel tun und wenig reden solle, fehlt jedoch erwartungsgemäß. Stattdessen lobt Arnold am Ende die Schule, weil Walther so gute Ratschläge zu geben wisse (v. 19674–19702). Diese wie auch die vorangehenden Änderungen zielen recht offensichtlich darauf, Klugheit im Unterschied zur Vorlage mit kluger Rede geradewegs zu identifizieren: Walther erteilt den Ratschlag eingangs nicht einfach, sondern begründet ihn ausführlich, was statt drei Versen 20 in Anspruch nimmt (v. 19598–19618). Ehe Alius antwortet, erklärt der Erzähler Walthers Redefertigkeit damit, dass er schriftgelehrt war und viel gelesen habe, weil er, um Kleriker zu werden, zur Schule gegangen, dann aber doch leie und ritter geworden sei. Deshalb konnte er sô rîche wîse lêre geben (v. 19619–19631, Zitat v. 19629). Da Konrads Walther kein Kleriker mehr ist wie sein Vorbild Gautier, sondern ein Laie mit klerikaler Schulbildung, führt seine Gegenrede auf Alius’ Feigheits-Vorwurf nicht ironisch die Überlegenheit des Geistlichen als eines heilsvermittelnden Beichtvaters ins Feld, sondern weist die Beleidigung in ritterlicher Ernsthaftigkeit zurück. Klugheit besteht bei Konrad nicht allein in der Erkenntnis der Situation und des situationsgerechten Handelns, sondern zugleich in der argumentativen Begründung dieser Erkenntnis in der Rede, durch die die Erkenntnis erst Wirkungsmacht gewinnt. Die Differenzen zwischen beiden Texten machen deutlich, wie grundlegend Konrad den Rang der Eloquenz in der Beurteilung ritterlichen Verhaltens verändert hat: Der französische Vater (der allerdings zuvor selbst schon als nicht gerade wortfauler Ratgeber aufgetreten war) kann unmittelbar nacheinander Gautier für seine Schriftgelehrtheit loben und Alos für unritterliches Vielreden tadeln; Konrads Arnold kann das nicht mehr, weil Walthers Klugheit die Klugheit seiner Rede ist und weil sich klerikale und ritterliche Kompetenz dabei nicht mehr unterscheiden, sondern verbinden. Freilich greift der Walther des späten 13. Jahrhunderts dann, nicht anders als der 100 Jahre ältere Gautier, die Heiden allein an, um den Brüdern seine Tapferkeit zu beweisen.
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Die der Klerikerschule verdankte Klugheit geht unverändert mit einem Handeln nach der Richtschnur adeliger Ehre einher; und wo die Ehre bedroht ist, kann nach wie vor der Affekt das Verhalten beherrschen. Gleichwohl öffnet der französische Roman in dieser Episode jenen Weg, auf dem Konrads Roman ein gutes Stück weiter vorangekommen ist: Die auf Schulbildung beruhende Vernunft ist dem Ritterideal einverleibt und erweist sich als Vernunft der argumentativen Rede.
VI. Anshelms Argumentationskunst Neben dem Bösewicht Marés gibt es im französischen Roman unter den Rittern noch einen zweiten Meisterredner, der indes zu den Guten gehört: Ansel, den zum Christentum bekehrten Sohn eines Heidenkönigs.29 Seine Argumentationsfertigkeit wird in einem Dialog mit Partonopeu vorgeführt. Ansel schmäht einen Marés ähnlichen Emporkömmling als Bauernsohn („filz a vilain“, v. 10817), was Partonopeu zu dem Einwand veranlasst, Christus habe die Niederen erwählt und dadurch erhöht (v. 10887). Ansel erwidert, die Jünger hätten zwar wenig besessen, seien aber nicht von niederer Herkunft gewesen (v. 10895). Sollte Christus doch einige Bauernsöhne erwählt haben, so um seine Macht zu zeigen, die die Fehler der Schlechten zum Guten wandeln könne. Partonopeu wundert sich über das Urteilsvermögen (sens, v. 10930) des jungen Mannes, will es aber genauer auf die Probe stellen (espermenter, v. 10931) und beginnt mit einer Examinierung Ansels, der nun regelrecht abgefragt wird. Die Erzählung signalisiert, dass Partonopeu das eher zu seinem eigenen Vergnügen als um der Sache willen veranstaltet (v. 10931f., 10941). Der gelehrte Dichter zwingt seinen Figuren gleichsam die Rollen von Magister und Schüler im Unterricht auf. Mir geht es im Folgenden nur um Form und Präsentationsweise der Argumente, nicht um den Inhalt. Partonopeu formuliert jeweils eine These, die dann von Ansel widerlegt wird; das Prinzip wird mehrmals hintereinander umgesetzt. Gott hat Bauern und Adelige mit derselben Hand geschaffen (v. 10933): Gott hat auch den Esel und den Löwen mit derselben Hand geschaffen, ohne dass beide denselben Rang hätten. Alle Menschen stammen gleichermaßen von Adam und Eva ab (v. 10942): Die Geschichte der Söhne Isaaks zeigt, dass Gott unter Geschwistern den einen erwählt und den anderen verwirft. Der römische Konsul Seran regierte trotz niederer Herkunft vorbildlich (v. 10969): Er war nicht tugendhaft, sondern hatte nur Angst, sein Amt zu verlieren. Der Bauernsohn Xerxes beherrschte Persien im Auftrag König Labans vorbildlich (v. 11011): Xerxes’ Abstammung ist unsicher; bei niederer Herkunft hätte er nicht edel gehandelt. Niedrig Geborene handeln stets niedrig, wie das Beispiel von Marés zeigt. Ansel argumentiert mit Exempla, die er entweder selbst einführt oder von Partonopeu vorgegeben bekommt. Der Geltungsanspruch der Argumente beruht entweder auf der Kenntnis 29
Zur Anshelm-Episode vgl. Schulz (wie Anm. 1), S. 448–455.
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eines Beispiels, das Partonopeus These widerlegt (Esel und Löwe, Jakob und Esau), oder auf der richtigen Deutung des von Partonopeu vorgegebenen Beispiels (Jesus und die Jünger, Seran, Xerxes). Vorgeführt wird deshalb epistemische Überlegenheit: Der Rückgriff auf das richtige Sachwissen beweist die Wahrheit. Der exemplarischen Form der Argumente entspricht ihre Präsentation als Examinierung. Dieser Streitdialog ist in der Partonopeu-Handschrift P, die Konrads Vorlage unter den erhaltenen Überlieferungszeugen am nächsten steht,30 auf den ersten Gesprächszug – Stand und Besitz der Jünger – gekürzt. Daraus lässt sich zwar nicht zwingend schließen, dass es sich in Konrads Vorlage ebenso verhielt; freilich würde eben dies erklären, weshalb der Beginn des Dialogs bei Konrad ähnlich, seine Fortsetzung jedoch ganz anders verläuft:31 Gegen Anshelms Schmährede wendet Partonopier ein, dass Gott die Armen liebe, wie man an den Jüngern Christi sehe (v. 17642); wie also könne man die Armen derart schelten? Anshelm beantwortet diese Frage mit einer einzigen langen Rede (v. 17654–17760); Partonopier veranstaltet keine Prüfung. Die Argumente entsprechen auch inhaltlich nicht denjenigen in der ungekürzten Partonopeu-Fassung;32 neben der Präsentationsweise geht es mir aber wieder nur um ihre Form. Anshelm beginnt mit einer These: Wenn Arme zu Reichtum kommen, stellen sie eine Gefahr für die Adeligen dar. Begründet wird die Regel mit einem Analogievergleich: Ein von Natur aus großer Fluss richtet wenig Schaden an, aber kleine Bäche, die durch den Regen anschwellen, bringen Unheil. Dann greift Anshelm den Einwand Partonopiers auf, dass Christus die Armen liebe, beurteilt ihn zunächst als wahr, schränkt seine Geltung jedoch gleich ein: Gott liebt diejenigen, die ihre Armut bereitwillig erdulden; die hoffärtigen Armen aber sind Gott verhasst. Den Fall der Dulder belegt er mit dem Beispiel der Jünger, die wenig Besitz, aber eine edle Einstellung hatten. Ganz anders verhält es sich im Fall des hoffärtigen Armen, der nach Reichtum strebt; der hat die Einstellung einer Giftschlange, wie das Beispiel Mareis zeigt. Zum Schluss stellt Anshelm fest, dass es nichts Schlimmeres gebe als den niedrig geborenen Bösewicht, der zu Reichtum gekommen sei. Dass diese Rede wohlstrukturiert ist, bringen Gliederungssignale an die diskursive Oberfläche: Seine These leitet Anshelm ein mit „ich enkan / iu gesagen anders niht“ (v. 17654f.), den aufgegriffenen Einwand Partonopiers mit „ir sprechent, daz“ (v. 17670), den zustimmenden Teil seiner Reaktion auf den Einwand mit „daz ist ouch endelichen wâr“ (v. 17674), den Einwand gegen den Einwand mit „swer aber“ (v. 17678), die abschließende Feststellung mit „ich bin des ûf ein ende komen“ (v. 17712). Jeder halbwegs gebildete Rezipient konnte die typische Struktur der quaestio erkennen: These, Gegenthese, Einschränkung des Geltungsanspruchs der Gegenthese (die responsio nach dem unverwechselbaren, hier nahezu terminologisch markierten ‘das ist wahr, aber’-Schema) und Entschei-
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Vgl. oben, Anm. 6. Vgl. dazu Obst (wie Anm. 6), S. 90–92, der allerdings für sicher hält, dass die Passage in Konrads Vorlage genauso wie in P gekürzt war. Die inhaltlichen Unterschiede behandelt Ehlert (wie Anm. 5), S. 64–67.
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dung zugunsten der These (die hier ebenfalls nahezu terminologisch angekündigte determinatio). Ob Konrad das in seiner Vorlage womöglich doch vorhandene Streitgespräch verändert oder mit Anshelms Rede den dort gekürzten Dialog amplifiziert hat, kann im hier verfolgten Zusammenhang als zweitrangig gelten; wichtiger scheint mir, dass der gelehrte volkssprachliche Dichter des späten 13. Jahrhunderts seine ritterliche Figur die Wahrheit nicht mehr exemplarisch beweisen lässt wie der des späten 12. Jahrhunderts. Konrad präsentiert nicht in erster Linie abfragbares Sachwissen, sondern die zu seiner Zeit professionelle dialektische Kompetenz: Das scholastische Vertrauen darauf, dass das strenge Schema der quaestio eine zuverlässige Maschine der Wahrheitsfindung sei, leuchtet auch in der Beweisführung des jungen Meisterredners Anshelm auf. In der Form einer quaestio hatte Konrads erklärtes Vorbild Gottfried von Straßburg im Tristan-Prolog bewiesen, dass es richtig ist, wenn unglücklich Liebende Geschichten von unglücklicher Liebe rezipieren.33 Die dialektische Kompetenz war hier freilich die des Erzählers, nicht die einer Figur, und ihr Ort lag außerhalb der eigentlichen Erzählung im Prolog. Gottfried ist der Dialektiker; sein Tristan, auch wenn er mit einem Bein in der Klerikerkultur steht, erweist sich als Argumentationskünstler erst, wenn er monologisch mit sich selbst spricht, um die Ehe mit der falschen Isolde zu rechtfertigen. Wenn Konrad die gespr#che zunge kluger Jünglinge vorführt, stattet er sie im Extremfall sogar mit professioneller dialektischer Kompetenz aus: Anshelm kann, was im Tristan nur der Erzähler kann. Persuasive Argumentation in dialogischer Rede scheint mir bei männlichen Figuren in höfischen Erzählungen zunächst auf wenige Standardsituationen wie Liebeswerbungen und Beratungen beschränkt gewesen zu sein. Daneben konzentriert sich persuasive Eloquenz anfangs in merkwürdiger Weise auf weibliche Helferfiguren, die Fürstinnen zu überzeugen versuchen. Kämen in den Texten Hofkleriker vor, die Fürsten beraten, dann hätten sie womöglich die rhetorische Fertigkeit jener Jungfrauen. Im Partonopeu de Blois gehört Meliors Schwester Urrake zu diesem Typus; seine berühmteste Kristallisation ist Lunete. Das Phänomen durchzieht die Geschichte höfischer Erzählungen; als weitere markante Aktualisierung ließe sich etwa die namenlose Zofe im deutschen Mauricius von Craûn nennen. Wenn der argumentative Einsatz von Konrads Irekel im Wesentlichen dem weit älteren französischen Vorbild folgt,34 spricht das für eine gewisse Konstanz von Figurentyp, Funktion und Kompetenz. Weniger traditionell ist meines Erachtens dagegen das Ausmaß, in dem die 33
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Vgl. Hans Fromm, „Gottfried von Straßburg und Abaelard“, in: Festschrift für Ingeborg Schröbler zum 65. Geburtstag, hg. von Dietrich Schmidtke und Helga Schüppert, Tübingen 1973 (PBB 95, Sonderheft), S. 196–216, erneut abgedruckt in: ders., Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 173–190, hier S. 186f. Rikl (wie Anm. 5), S. 107–147, analysiert die Relation der Figuren Meliur und Irekel bei Konrad ausführlich und interpretiert sie mit Recht als Inszenierung der Auseinandersetzung zwischen affektgeleitetem und rational beherrschtem Handeln. – Vgl. zur Funktion der Figur zuletzt Schulz (wie Anm. 1), S. 428f., 433–444.
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argumentative Eloquenz in Konrads Romanen bei den Rittern selbst angelangt ist und ihren Habitus prägt. Wenn man die höfische Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts von ihrem ursprünglichen Impetus her als das Projekt versteht, die Bedeutungsordnungen der laienadeligen Kultur mit den Mitteln der Klerikerkultur zur Darstellung zu bringen, dann wird der Blick auf die Literaturgeschichte den Verdacht evozieren, dass die Mittel unweigerlich und in wachsendem Ausmaß die Bedeutungsordnungen beeinflussten. Die Rolle argumentativer Persuasion und dialektischer Beweisführung im höfischen Roman scheint mir ein Modellbeispiel dafür zu sein. Als Episteme wie als kulturelle Praktik sind sie Produkte der lateinischen Bildungsinstitutionen. Es waren die gelehrten höfischen Dichter, die sie in ihre Texte importierten und ihnen nach und nach einen immer wirkungsmächtigeren Rang in den Ordnungen des Wissens und Handelns zuschrieben, die sie mit den erzählten Geschichten modellhaft inszenierten. Wenn Konrad rituelle Interaktion zwischen zwei Adeligen durch Persuasion ersetzt, wenn er den Ritter zum Dialektiker macht, kristallisiert der Prozess zu fast schon unmittelbarer Anschaulichkeit. Die Verbindung von chevalerie und clergie, das Konzept des rîters der gelêret was – sie waren für das Projekt der höfischen Dichtung von Beginn an konstitutiv. Und doch wird ein Unterschied greifbar, wenn man Konrad neben Chrétien und Hartmann oder neben den Partonopeu de Blois hält. Anfangs scheinen die Dichter die von der clergie bezogene Gelehrtheit eher als Methode verstanden zu haben, um dem chevalerie-Ideal Geltung zu verschaffen, das sie selbst, ungeachtet seiner tatsächlichen Herkunft, wohl als genuin laienadelig einschätzten. Als die Geschichte des höfischen Romans in deutscher Sprache sich ihrem Ende näherte, redeten die ritterlichen Figuren schon fast wie die Gelehrten – allerdings im Unterschied zu ihnen auf Deutsch und in Versen. Es ist der Sprung des Prozesses in die Selbstreflexivität, wenn Konrad behauptet, dass die Dichtung außer hovezuht auch Eloquenz vermitteln soll. Was von Anfang an das Mittel der höfischen Dichter war, wird hier zum Zweck der Dichtung erhoben. Es hätte von dieser Position aus keines weiten Wegs mehr bedurft, um einen dem humanistischen ähnlichen Dichtungsbegriff – freilich bezogen auf die vulgaris eloquentia – zu erreichen; zu dessen konstitutiven Bestandteilen gehörte später jedenfalls, dass die Dichtung den zarten und stammelnden Mund der Knaben – nicht anders als vorbildliche Prosa indes und vorrangig durch die klassischen Sprachen – eloquent zu machen habe.35 Konrad von Würzburg war einem solchen Dichtungsbegriff offenbar recht nahe. Sein gesamter Sprachgebrauch führt volkssprachliche Wohlredenheit vor und zeigt uns deshalb das eleganteste Mittelhochdeutsch, das erhalten geblieben ist – in der Überlieferung einiger anderer Werke glücklicherweise auch unbeschadeter als beim Partonopier. Argumentationsfertigkeit erscheint dabei als Bestandteil vorbildlicher Eloquenz, die indes viel mehr 35
Exemplarisch entwickelt etwa in Melanchthons Encomion eloquentiae von 1523; Philipp Melanchthon, Glaube und Bildung. Texte zum christlichen Humanismus. Lateinisch / Deutsch, ausgewählt, übersetzt und hg. von Günter R. Schmidt, Stuttgart 1989 (RUB 8609), S. 152–181.
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Gert Hübner
umfasst und deren Exemplifizierung Aufgabe der Dichtung ist. Es wäre völlig verfehlt, dies als Ausweg eines ansonsten ratlosen Spätgeborenen einzuschätzen, dem im Herbst der höfischen Dichtung neben der Lehrhaftigkeit nur noch die Spielwiese der Formkunst blieb. Dass Dichtung Eloquenz ist, exemplifiziert und vermittelt, stellte im späteren 13. Jahrhundert nicht die letzte Verteidigungsposition einer untergehenden Tradition dar; es war ein weit in die Zukunft weisender Gedanke. Was hätte nicht daraus werden können, hätte Konrad von Würzburg Nachfolger gefunden.
Katharina Mertens Fleury
Dimensionen machtvoller Worte Zur Gestaltung von Umbruchsituationen in der deutschen Artus- und Gralsepik und in ihren französischen Vorlagen
Worten kann die Macht zukommen, die Welt zu verändern.1 Dass dies auch für fiktionale Kontexte relevant ist, kann am frühesten mittelhochdeutschen Artusroman, dem Erec Hartmanns von Aue, beispielhaft verdeutlicht werden.2 Denn dort sind es gesprochene Worte, die einen Umbruch herbeiführen zwischen dem Moment hohen Ansehens, das Erec im ersten Teil der Erzählung erlangt hat, und dem zweiten Teil, dem âventiure-Zyklus.3 Der Kampf gegen Iders hat Erec im ersten Teil der Erzählung Ruhm eingebracht, er hat am Artushof große Ehre erlangt und Enite zur Frau erhalten. Mit ihr nach Karnant heimgekehrt, privilegiert er bekanntlich seine private Zweisamkeit: dô kêrte er allen sînen list / an vrouwen Ênîten minne (v. 2929f.).4 Diese Minne verändert seine Haltung: sîn site er wandeln began (v. 2934), und die Liebe führt zur Gleichgültigkeit gegenüber seinen Aufgaben 1
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Vgl. als einen grundlegenden Text der Performativitätsdebatte John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte / How to Do Things with Words, bearbeitet von Eike von Savigny, Stuttgart 2002 (RUB 9396), insbesondere die achte Vorlesung (S. 112–125, besonders S. 117f. und 124); vgl. dazu auch Sibylle Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2001 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1521), S. 139f. Vgl. zu intradiegetischen Wirkungen Elke Koch, Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 2006 (Trends in Medieval Philology 8), S. 58. Vgl. zum Handlungscharakter von Sprache in mittelalterlicher Literatur Paul Michel, „Mit Worten tjostieren. Argumentationsanalyse des Dialogs zwischen dem Abt und Gregorius bei Hartmann von Aue“, in: Germanistische Linguistik 1–2/79 (1979), S. 195–215. Eines der zentralen Themen dieses Romans ist jenes vom Reden und Schweigen. Siehe dazu die Forschungslage zusammenfassend Joachim Bumke, Der Erec Hartmanns von Aue. Eine Einführung, Berlin 2006, S. 113–128, hier S. 113. Vgl. ebd., S. 74–77. Vgl. erstmals zum doppelten Kursus Hugo Kuhn, „Erec“, in: Festschrift für Paul Kluckhohn und Hermann Schneider, hg. von ihren Tübinger Schülern, Tübingen 1948, S. 122– 147, hier S. 134; vgl. auch Hans Fromm, „Doppelweg“, in: Werk – Typ – Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur, hg. von Ingeborg Glier und Gerhard Hahn, Stuttgart 1969, S. 64–79, und Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Darmstadt 1992, S. 91–107; zur „inneren Krise“ Erecs vgl. S. 99. Der Text wird hier zitiert nach Erec von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Auflage besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39).
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Katharina Mertens Fleury
als Herrscher und gegenüber dem ritterlichen Turnier (v. 2954–2958). Zwar fördert er weiterhin seine Ritter (v. 2959–2964), doch partizipiert er nicht mehr selbst am höfischen Tun. Seine Untergebenen murren über diese veränderten Zustände, denn die höfische Freude liegt brach: die vor der vreude phlâgen, / die verdrôz vil sêre dâ / unde rûmten imz sâ (v. 2977–2979; vgl. auch v. 2989). Aufgrund seines Verhaltens sinkt seine Geltung am Hof: ein wandelunge an im geschach: / daz man im ê sô wol sprach, / daz verkêrte sich ze schanden (v. 2984–2986). Knappen und Ritter beklagen sich, schieben jedoch Enite die Schuld für diese Entwicklungen zu (v. 2996–2998). Diese vernimmt die Kritik des Hofs (v. 3000f.), sie fühlt sich riuwic (v. 3002), sucht nach Lösungen (v. 3004–3006), wagt aber nicht, Erec die Kritik zuzutragen (v. 3011f.). Sie denkt über die Worte des Hofes nach (v. 3023; vgl. v. 3032) und klagt darüber, als sie Erec schlafend wähnt. Doch er hört die Klagen sehr wohl (v. 3033) und lässt sie sich wiederholen. Erec beschließt aufgrund dieser Worte, mit Enite aufzubrechen. Dies hat Parallelen in der französischen Vorlage. Auch in Chrétiens de Troyes Erec et Enide, der Vorlage für die deutschsprachige Erzählung, bewirkt die parole des Versagens bzw. der blasme5 den Aufbruch. Es ist somit nicht ein Gestus oder eine Handlung, sondern erst die Rede, die zum zweiten Handlungsteil überleitet. Worte fassen dabei Verfehlungen rückblickend zusammen, dienen damit der Reflexion des bereits Geschehenen, machen Verborgenes offenbar (v. 3037). Sie markieren und bewirken zudem einen Wandel und werden so zum Anstoß für den zweiten âventiureWeg.6 Solche Phänomene können an Redeszenen anderer Artusromane beobachtet werden, die an vergleichbaren Umbruchsmomenten vorkommen.7 Eine ähnliche Funktion wie Enites Rede besitzt Lunetes Auftritt am Artushof in Hartmanns von Aue Iwein und Cundries Erscheinen am Plimizœl in Wolframs von Eschenbach Parzival. Beide Figuren führen den Protagonisten ihre Verfehlungen vor, sie bewirken in diesen Romanen den Aufbruch der Protagonisten vom Artushof.8 Ihren Reden kann aufgrund ihrer Wirkung ein besonderes performatives Potential 5
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Chrétien de Troyes, Érec et Énide, in: Chrétien de Troyes, Œuvres complètes, hg. von Daniel Poirion, Paris 1994 (Bibliothèque de la Pléiade 408), S. 1–169, v. 2475; 2492; 2499; 2523; 2535; 2546; 2556f.; 2572f.; 2588–2595. Im französischen Text macht sich Enide des Sprechens ‘schuldig’ (v. 2507; 2558ff.), vgl. dazu Britta Bußmann, „Do sprach diu edel kuenegin ... Sprache, Identität und Rang in Hartmanns ‘Erec’“, in: ZfdA 134 (2005), S. 1–29, hier S. 13 und 24. Vgl. zur Abgrenzung der Szene als eine in sich geschlossene Einheit von Ort, Zeit, Gruppierung und anwesenden Figuren Peter Wiehl, Die Redeszene als episches Strukturelement in den Erecund Iwein-Dichtungen Hartmanns von Aue und Chrestiens de Troyes, München 1974 (Bochumer Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft 10), S. 63. Zur Vergleichbarkeit dieser Reden siehe auch Volker Mertens, Der deutsche Artusroman, Stuttgart 1998 (RUB 17609), S. 126. Der durch die Rede eingeleitete Einschnitt ist im Perceval und Parzival weniger markant als im Yvain und Iwein, vgl. auch Horst Brunner, Interpretationen. Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen, Stuttgart 1993 (RUB 8914), S. 105; Walter Haug, „Die Symbolstruktur des höfischen Romans und seine Auflösung bei Wolfram von Eschenbach“, in: DVjs 45 (1971), S. 668–705, erneut abgedruckt in: ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 483–512.
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zugemessen werden, performativ hier im Sinn der sprachlichen Herbeiführung einer grundlegenden Zäsur innerhalb der erzählten Welt. Die Untersuchung konzentriert sich damit auf intradiegetische Zusammenhänge, nicht aber auf die performativen Potentiale rezeptionslenkender Strukturen.9 Weil solche Zäsuren innerhalb der Erzählung offensichtlich sind, soll hier vielmehr gefragt werden, wie diese Wirksamkeit im Roman konstituiert wird. So sollen hier die verschiedenen Dimensionen der Macht dieser Reden untersucht werden.10 Die Analyse nutzt dabei das Verfahren des close readings,11 beschreibt die Argumentationsstrukturen,12 berücksichtigt zudem die jeweilige narrative Einbettung der Reden und deren implizite Poetik. Weil es sich hier vornehmlich um Botenszenen handelt, werden auch die im Text angelegten Autorisierungsreferenzen und -strategien betrachtet. Dabei soll untersucht werden, welche Eigenheiten die deutschsprachigen Reden besitzen. Dies kann im Vergleich mit den französischen Vorlagen, mit Chrétiens de Troyes Yvain ou le Chevalier au Lion und Perceval ou le Conte du Graal erarbeitet werden.
I. In Chrétiens Yvain ou le Chevalier au Lion und Hartmanns Iwein wird bereits der Beginn der Iwein-Handlung durch Worte, nämlich durch einen âventiure-Bericht motiviert.13 Zu 9
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Vgl. zur Mehrdeutigkeit des Performativitätsbegriffs: Uwe Wirth, „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“, in: ders., Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002 (Suhrkamp Wissenschaft 1575), S. 9–90. Vgl. zur Gesprächsrhetorik und -analyse Werner Kallmeyer, „Einleitung. Was ist Gesprächsrhetorik?“, in: Gesprächsrhetorik. Rhetorische Verfahren im Gesprächsprozess, hg. von dems., Tübingen 1996 (Studien zur deutschen Sprache 4), S. 7–18, hier S. 7. Damit konzentriert sich diese Analyse auf die Texte selbst. Sie stellt sich allerdings nicht in Opposition zu anderen Lektüren, die außertextuelle Faktoren, wie beispielsweise zeitgenössische Wissenshorizonte, Aspekte der Handschriftenüberlieferung bzw. soziale Kontexte der Überlieferung einbeziehen. Vgl. Gerd Fritz, „Grundlagen der Dialogorganisation“, in: Handbuch der Dialoganalyse, hg. von dems. und Franz Hundsnurscher, Tübingen 1994, S. 177–201, hier S. 193f. Vgl. grundlegend Helmut Henne und Helmut Rehbock, Einführung in die Gesprächsanalyse, Berlin/New York 42001. Vgl. zu Dialogsequenzen Franz Hundsnurscher, „Dialog-Typologie“, in: Handbuch der Dialoganalyse, S. 203–238, hier S. 217; Anne Betten, „Analyse literarischer Dialoge“, in: ebd., S. 519–544; Ernest W.B. Hess-Lüttich, „Gesprächsanalyse in der Literaturwissenschaft“, in: Text- und Gesprächslinguistik, hg. von Klaus Brinker, Berlin/New York 2001 (HSK 16.2), S. 1640–1655. Die vorliegende Analyse verwendet linguistische bzw. sprachphilosophische Paradigmen unter Berücksichtigung der innerliterarischen Eigenlogiken. Vgl. Haug (wie Anm. 3), S. 131. Im Folgenden wird der französische Text zitiert nach Chrétien de Troyes, Yvain ou le Chevalier au Lion, in: Chrétien de Troyes, Œuvres complètes (wie Anm. 5), S. 337–503, der deutschsprachige nach Hartmann von Aue, Iwein, Text der siebenten Ausgabe von Georg F. Benecke, Übersetzung und Nachwort von Thomas Cramer, 4. überarbeitete Auflage, Berlin/New York 2001.
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Anfang der Erzählung beschreibt ein Ritter namens Calogrenant / Kalogrenant am Artushof, wie er beim Quellenabenteuer versagt hat, und so zieht Yvain / Iwein aus, um das Abenteuer selbst zu bestehen. Der Protagonist gelangt zu der Quelle, provoziert mit dem Guss auf den Stein den Verteidiger des Orts, den Ritter Esclados / Ascalon. Der Zweikampf zwischen beiden endet für den Quellenritter tödlich, doch noch auf der Verfolgungsjagd gerät Yvain / Iwein zwischen die Tore der Burg. Nur durch die listige Vermittlung der Dienerin Lunete, durch den Einsatz eines Zauberrings, wird er gerettet und befreit, durch die Unterstützung Lunetes erwirbt der Protagonist die Hand und das Land der Witwe Laudine.14 Auf dem Höhepunkt ritterlicher Karriere angelangt, folgt der Protagonist dem Rat seines Freundes Gawan.15 Er verabschiedet sich für ein Jahr von seiner Gemahlin Laudine und bricht auf, sich in Turnieren zu bewähren und seinen Ruhm am Artushof zu mehren, und versäumt bekanntlich den ihm gesetzten Termin. Dieses Versäumnis wird zum Auslöser für die Krise. In dem Moment, als Iwein sich seiner Schuld bewusst wird, erscheint die Botin Laudines am Artushof. Bereits der Beginn ihrer Rede grenzt aus: Im französischen Text schließt sie Yvain vom Gruß aus (v. 2718–2720), weil er sich als Betrüger, als Untreuer, als Schwindler ausgezeichnet habe (v. 2721–2723). Die Botin begründet ihre Anschuldigungen mit dem Hinweis, Yvain habe gegen die Regeln der Liebe verstoßen. Sie führt dies in Referenz auf den Topos des Herzenstauschs detailliert aus: Weil Yvain seiner Dame das Herz gestohlen habe (v. 2730), sei er nicht ein Liebender, sondern ein Dieb. Der Liebende nämlich bewahre das Herz als Kostbarkeit auf und bringe es wieder zurück. So aber habe Yvain Laudine den Tod gebracht: „Messire Yvains la dame a morte, / Qu’ele cuidoit qu’il li gardast / Son cuer, et si li raportast“ (v. 2744–2746). Ihre Erläuterungen sind als Dichotomien formuliert, wodurch die beiden Liebenden in der Rhetorik der Rede bereits auseinanderstreben: Yvain habe nicht an sie gedacht, die Frist nicht respektiert. Laudine hingegen habe sich während seiner Abwesenheit unablässig an ihn erinnert („Trestoz les jorz et toz les tans“, v. 2757), 14
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Vgl. zu den kommunikativen Strategien, die diese Konstellationen ermöglichen, Tobias Zimmermann, „Den Mörder des Gatten heiraten? Wie ein unmöglicher Vorschlag zur einzig möglichen Lösung wird. Der Argumentationsverlauf im Dialog zwischen Lunete und Laudine in Hartmanns Iwein“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 203–222. Der deutschsprachige Text stellt explizit eine Referenz zu Hartmanns Erec her (vgl. Iwein, v. 2783–2798). Siehe dazu Brunner (wie Anm. 8), S. 123; Peter Kern, „Text und Prätext. Zur Erklärung einiger Unterschiede von Hartmanns Iwein gegenüber Chrétiens Yvain“, in: Chevaliers errants, demoiselles et l’Autre. Höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. Festschrift für Xenja von Ertzdorff, hg. von Trude Ehlert, Göppingen 1998 (GAG 644), S. 363– 373, hier S. 367. Walter Haug, „Das Spiel mit der arthurischen Struktur in der Komödie von Yvain / Iwein“, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, hg. von Friedrich Wolfzettel, Tübingen 1999, S. 99–118, hier S. 117f., fasst deshalb die Iwein-Problematik sogar als Entfaltung der Erec-Thematik auf. Vgl. auch ders., „Für eine Ästhetik des Widerspruchs. Neue Überlegungen zur Poetologie des höfischen Romans“, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997, hg. von Nigel Palmer und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1999, S. 211–228, hier S. 223.
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die Tage gezählt, schlaflose Nächte verbracht, wie wahrhaft Liebende es eben tun: „Ensi li lëal amant font“ (v. 2762). Aus den Anschuldigungen wird deutlich, dass sich echte Liebe durch eine beständige gegenseitige Erinnerungsleistung auszeichnet. Der Bruch der Regeln der Liebe, zurückgeführt auf den Mangel an Erinnerung, wird zum Argument für die Trennung Laudines von Yvain.16 Doch habe er auch Lunette betrogen (v. 2767f.),17 die die Heirat zwischen Laudine und Yvain arrangiert hat. Da er Laudine vergessen habe, so solle er nun im Gegenzug selbst vergessen werden. Die Botin verkündet somit das Ende von Laudines Sorgen um Yvain (v. 2769), er brauche auch nicht mehr zu seiner Gemahlin zurückzukehren (v. 2771). Dem Befehl, den Ring zurückzugeben (v. 2772), folgt der Vollzug unmittelbar: Lunette nimmt Yvain den Ring (v. 2779) und verabschiedet sich (v. 2782).18 Hartmanns Iwein bietet gegenüber der Vorlage zwei wichtige Veränderungen. Zum einen hat er die Rede um ca. ein Viertel verlängert, zum anderen ist es Lunete, die spricht. Damit erhält die Rede der von den Ereignissen Mitbetroffenen ein anderes Gewicht. Der Eingang ihrer Rede ist jedoch ähnlich wie bei Chrétien, denn auch hier wird Iwein aus der Zahl der zu Grüßenden ausgegrenzt.19 Hier ist es Lunete, die seinen Ausschluss mit dem Argument begründet, er sei „unm#re“ (v. 3117) und ein Verräter (v. 3118). Lunete legt – im Namen Laudines sprechend – Iwein zur Last, dass bei ihm Schein und Sein (v. 3120), Wort und Gesinnung („wort“ und „muot“, v. 3125f.) voneinander abweichen. Außerdem habe er sich an Verteidigungsunfähigen vergriffen. Lunete vermutet, er habe sich sein Handeln wohl nur deshalb erlaubt, weil Laudine eine Frau ist, weshalb Iwein ihren „widerslac“ (v. 3130), ihre Rache nicht zu fürchten brauche. Ansonsten hätte er wohl darauf verzichtet, ihr Böses anzutun („daz er ir lasters hât getân“, v. 3132). Denn ihm schien es wohl nicht genug, Laudines Mann zu erschlagen, sondern er nahm ihr auch noch „lîp und êre“ (v. 3136). Wenn ihre weiblichen Vorzüge nichts bei Iwein ausrichten konnten (v. 3137ff.), hätte er sich wenigstens Lunete zuliebe besser um Laudine kümmern sollen. Schließlich habe sie, Lunete, ihm doch das Leben gerettet (v. 3137–3144): „[...] Her Îwein, sît mîn vrouwe ir jugent, schœne, rîcheit, unde ir tugent, wider iuch niht geniezen kan, 3140 wan gedâhtet ir doch dar an 16
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Xenia von Ertzdorff, „Spiel der Interpretation. Der Erzähler in Hartmanns Iwein“, in: Festgabe für Friedrich Maurer zum 70. Geburtstag am 5. Januar 1968, hg. von Werner Besch, Siegfried Grosse und Heinz Rupp, Düsseldorf 1968, S. 135–157, hier S. 142f., schlägt hier vor, von einer Beleidigung oder einem Eidbruch zu sprechen. Lunette wird hier nicht explizit genannt, sondern ihr Name ist nur aus dem Kontext erschließbar. Sie empfiehlt alle Gott an, außer dem, der sie in großer Bedrängnis ließ. Vgl. auch v. 1188–1193. Die ‘Verschwörung’ Iweins mit Lunete kam u.a. dadurch zustande, dass er der einzige der Artusgesellschaft war, der sie gegrüßt hat. Indem sie Iwein den Gruß hier versagt, zeichnet sich in der Relation zwischen den beiden deutlich ein Umschwung ab. Oliver Bätz, Konfliktführung im Iwein des Hartmann von Aue, Aachen 2003, S. 176, ist der Ansicht, dass damit eine Umkehrung der Situation und auch Iweins Exklusion aus der Artusrunde ausgedrückt werde.
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Katharina Mertens Fleury waz ich iu gedienet hân? und het sî mîn genozzen lân: ze welhen staten ich iu kam, dô ich iuch von dem tôde nam. [...]“
Lunete klagt sich selbst an, durch ihre Vermittlungsleistung schuldig geworden zu sein. Sie erinnert sich an ihr eiliges Vorgehen, das darauf abzielte, dass Laudine sich selbst und ihr Land in Iweins Hände gab (v. 3157–3163):20 „[...] unz daz sî iu mit vrîer hant gap ir lîp unde ir lant, daz ir daz soldet bewarn. 3160 nû hânt ir sô mit ir gevarn daz sich ein wîp wider die man niemer ze wol behüeten kan. deiswâr uns was mit iu ze gâch. [...]“
Damit zitiert sie bedauernd Vergangenes, erklärt, was er mit dem erworbenen Gut hätte tun sollen: Es wäre zu bewahren und beschützen gewesen, besseren Lohn hätte dessen Erwerb verdient (v. 3164). Lunete legt Iwein Untreue zur Last, weshalb Treue ihm jetzt „unm#re“ (v. 3174) sei. Allen, die Treue und Ehre lieben, soll Iwein künftig missfallen. Ja, sie verkündet, dass er ab jetzt für treulos zu halten sei: „Nû tuon ich disen herren kunt / daz sî iuch haben vür dise stunt / vür einen triuwelôsen man“ (v. 3181–3183). Wenn Treue und Ehre ihm lieb seien, müsse sich sogar der König immer seiner Schande bewusst sein, wenn er Iwein weiterhin als Ritter bezeichne. Auch solle Iwein künftig von Laudine fernbleiben, sie werde ohne ihn zurechtkommen, sie verlangt ihren Ring zurück (vgl. v. 3191–3196). Lunete kündigt ihm die Forderungen Laudines nicht nur an, sondern nimmt Iwein auch gleich den Ring vom Finger (v. 3193–3199),21 verneigt sich vor dem König und geht davon. Die Rücknahme des Rings, der die Verbindung zu Laudine repräsentiert, besiegelt in beiden Werken die Inhalte der Rede: Iwein verliert Laudine, ihre Liebe und seine Herrschaft in ihrem Reich. Die beiden Reden weisen verschiedene Gewichtungen auf und damit verschiedene Begründungen für den Verlust von Frau und Land. Der französischsprachige Text setzt mit der Verhandlung der Regeln der Minne und dem Topos des Herzenstauschs seinen Akzent auf das Liebesverhältnis zwischen Yvain und Laudine. Allein quantitativ nehmen die Reflexionen zu echter und falscher Minne, zu Herzenstausch und Betrug mehr als die Hälfte der Rede ein (v. 2721–2747). Ein weiterer Teil der Rede widmet sich Yvains Vergessen (ab v. 2748) und schließt mit der Beendigung des Liebesverhältnisses. So wird deutlich, dass 20
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Vgl. ebd., S. 176f. In seinen Erläuterungen akzentuiert Bätz sehr den Vertragscharakter der Verbindung. Bätz, ebd., S. 179, interpretiert die Ringrücknahme als Akt der Vertragsaufhebung: die in minne gefundene Lösung werde aufgehoben. Damit interpretiert er den Ring als Symbol für eine Abmachung. Von Ertzdorff (wie Anm. 16), S. 142f., definiert die Unterschiede zwischen Chrétiens und Hartmanns Version als Differenz zwischen Liebes- und Ehrekonflikt. Der Ring repräsentiere bei Hartmann Ehre und Land.
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Yvains Status auf der Grundlage der Minne basiert. Diese Argumentation korrespondiert mit Aspekten der Vorgeschichte: Bereits in ihrer ersten Begegnung versichert Yvain, er liebe Laudine mehr als sich selbst (v. 2032), ja er wolle für sie leben oder sterben (v. 2034). Er verspricht ihr, die Quelle für sie zu verteidigen (v. 2037), und Laudine bietet ihm im Gegenzug ihre Hand und ihren Frieden an (vgl. auch v. 2616f. und 2642–2662). Als Yvain dann mit der Artusgesellschaft von Laudine fortreitet, hebt der Erzähler hervor, dass der Protagonist sein Herz bei seiner Dame zurückgelassen habe, und nur sein beseelter Körper fortziehe (vgl. v. 2642–2662). Die Botin betont wiederum in ihrer Rede, dass auch Laudine Yvain ihr Herz überließ.22 Die Referenzen auf den Herzenstausch deuten tatsächlich auf eine Liebesbindung hin. Doch schon bei Yvains Aufbruch werden erste Spannungen deutlich: In der Abschiedsszene kündigt Laudine ihm bereits die Folgen für ein Terminversäumnis an. Wenn er die Rückkehr zur rechten Zeit versäume, so werde ihre Liebe in Hass umschlagen (v. 2566–2569): „[...] Mes l’amors devanra haïne, Que j’ai en vos, toz an soiez Seürs, se vos trespassïez Le terme que je vos dirai. [...]“
Nur schwer lasse sich dann ein Waffenstillstand oder neuer Frieden vereinbaren (v. 2668). Doch die an das Versprechen gebundenen Ansprüche stehen jenen des Artushofs entgegen. Der Erzähler deutet bei Yvains Aufbruch zur Turnierfahrt an, dass Gauvain seinen Freund Yvain nach Ablauf der Frist gewiss nicht ziehen lassen werde (v. 2669–2671). Die Kollision zwischen diesen konträren Ansprüchen, jenem Laudines und jenem des Artushofs, ist aufgrund dieser Konstellationen vorprogrammiert. Diese Spannungen werden in der Rede der Botin argumentativ ausgeführt. Sie macht nicht nur die Ansprüche Laudines geltend, sondern auch die latenten Disharmonien rhetorisch explizit; der Bruch, den die Worte herbeiführen, ist ein Bruch der Herzensverbindung. Auch der deutschsprachige Text verhandelt normative Aspekte. Inhaltlich steht hier jedoch weniger die Regelhaftigkeit affektiver Relationen im Vordergrund. Hier wird eine auf Treue basierende, gegenseitige Leistung thematisiert. Die von Iwein erwartete Leistung wird auch durch elfmalige Wiederholung des Begriffs der triuwe charakterisiert und dessen ‘Inhalt’ innerhalb der Rede als Wahrnehmung seiner Pflichten als Ehemann und Herrscher 22
Daher findet auch bei Chrétien ein Herzenstausch statt. In diesem Punkt differiert Volker Mertens, „Stellenkommentar zum Iwein Hartmanns von Aue“, in: Hartmann von Aue, Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein, hg. und übersetzt von Volker Mertens, Frankfurt a.M. 2004 (Bibliothek deutscher Klassiker 180; Bibliothek des Mittelalters 6), S. 769–1051, hier S. 1014f., der sich nur auf die Verse 2639–2657 bezieht. Siehe zum Topos des Herzenstauschs insbesondere den Aufsatz von Nigel F. Palmer, „Herzeliebe, weltlich und geistlich. Zur Metaphorik vom ‘Einwohnen im Herzen’ bei Wolfram von Eschenbach, Juliana von Cornillon, Hugo von Langenstein und Gertrud von Helfta“, in: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium, Oxford 7.–11. September 2005, hg. von Burkhard Hasebrink, Hans-Jochen Schiewer, Almut Suerbaum und Annette Volfing, Tübingen 2007, S. 199–226.
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definiert. Entsprechend hätte sich Iwein für die vermittelten Vorteile gegenüber seiner Frau oder zumindest gegenüber Lunete durch pflichtbewusstes Handeln erkenntlich zeigen müssen. Wenn beide Reden die zurückliegende Vermittlungsleistung der Dienerin Laudines thematisieren, so ist auch nach der Bedeutungskonstitution dieser Figur zu fragen. Tatsächlich ist Lunete innerhalb der Erzählung jene Figur – neben Yvain / Iwein –, die aufgrund ihrer Botenfunktion mit beiden Gesellschaftsbereichen bereits in einem Austausch steht bzw. stand. Sie bildet insofern eine Figur der Integration zwischen dem Herrschaftsbereich der Laudine und dem des Königs Artus. An ihr wird auch eine Integrationsproblematik vorgeführt. Als Gesandte Laudines war sie am Artushof einst eine Ausgegrenzte, denn es grüßte sie dort niemand außer Yvain (v. 1002–1020) bzw. Iwein (v. 1181–1195). Er bot ihr eine gesellschaftliche Anerkennung am Artushof. Dafür dankbar, kam sie dem zwischen den zwei Falltüren des Tors der Burg Gefangenen zu Hilfe und arrangierte durch ihre List die Hochzeit zwischen Laudine und Iwein. Sie ist ihrerseits jene, die Iwein am Hof der Laudine eingliedert. Wie Iwein für sie zur Figur der Integration am Artushof wurde, so fungierte sie im Gegenzug als Integrationsfigur im Reich der Laudine. Als durch List und Intrige vermittelter, nicht aber durch eigentlichen Verdienst erworbener Status erscheint dieser in beiden Werken jedoch als zerbrechlich.23 Im deutschsprachigen Text erschöpft sich die Funktion Lunetes jedoch nicht in der Vermittlung der Verbindung zwischen dem Protagonisten und Laudine, sondern sie ist auch Überbringerin der Nachricht am Artushof, Sprecherin der Rede. Nur hier ist jene Person, die Iweins Status herbeigeführt hat, explizit auch jene, die ihn wieder zerstört. Genau dadurch unterläuft sie aber die Rhetorik ihrer Rede. Denn obwohl sie sich im deutschsprachigen Text argumentativ auf die weibliche Machtlosigkeit, das Unvermögen der Frau, sich mit Waffen zu rächen (v. 3129f.), beruft, haben ihre Worte doch verlustreiche Konsequenzen für Iwein. Durch ihre Rede führt sie einen ‘Schlag’ aus. Es wird damit auch eine Eigenlogik verbaler Macht deutlich, denn in ihrer Rede und durch ihre Worte wird klar, dass diese eine den Waffen ähnliche Funktion übernehmen können. Für die Erklärung der Wirkung dieser Rede lohnt sich besonders der Blick auf die Gestaltung der Figur Yvains / Iweins, da sich an ihr die Wirkung der Rede zeigt. Yvain steigen bei der Erinnerung an den versäumten Termin die Tränen in die Augen, und er muss das Weinen unterdrücken. Das Bewusstwerden des Versäumnisses und das Erscheinen der Botin vollziehen sich fast simultan: Tant pansa qu’il vit venir / Une dameisele a droiture (v. 2706f.). Der deutschsprachige Text hingegen legt die Akzente nicht auf den Affekt, sondern auf eine Bewusstseinstrübung. Auch bei Hartmann erinnert sich der Protagonist an seine Verfehlungen, sein Denken ist von düsteren Vorahnungen überschattet. Diese Wendung nach Innen ist von einer Kommunikationsstörung und einem Wahrnehmungsmangel begleitet: Iweins Herz wird (zu spät) bei dem Gedanken von senlîcher triuwe (v. 3089) erfasst. Aufgrund seiner riuwe schwinden ihm das Bewusstsein und seine Kommunikations23
Vgl. Anette Sosna, Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200. Erec, Iwein, Parzival, Tristan, Stuttgart 2003, S. 124f.
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fähigkeit: daz er sîn selbes vergaz / und allez swîgende saz (v. 3091f.). Es versagt auch seine Wahrnehmungsfähigkeit für sein gesellschaftliches Umfeld: er überhôrte und übersach / swaz man dâ tete unde sprach (v. 3093f.). Iwein wird für seine Umwelt unempfänglich, er verhält sich hier schon, als er ein tôre w#re (v. 3095).24 Lunetes Auftreten trifft Iwein also nicht unvorbereitet. Die Semantik des Toren nimmt im deutschsprachigen Text sogar Iweins Reaktion auf die Rede vorweg. Hier ist es noch ein ‘als ob’, später irrt er als Minnetor (vgl. v. 3254f.) durch die Wildnis: der lief nû harte balde / ein tôre in dem walde (v. 3259f.). Es wird deutlich, dass Lunete als Botin der Laudine den bereits durch die Reflexionen des Protagonisten angebahnten Ausschluss aus den Gesellschaftsbereichen bewirkt. Iwein wiederum konkretisiert diese Ausgrenzung selbst durch seine Reaktion der Flucht und den Bewusstseinsverlust. Bei Iweins brüskem Aufbruch in den Wald beurteilt er seine Verfehlungen und die Konsequenzen in seiner Gedankenrede reflexiv: in hete sîn selbes swert erslagen (v. 3224). Selbst zu Worten unfähig, läuft Iwein aus dem sozialen Umfeld fort, rennt schließlich nackt in die Wildnis. Wurde in Lunetes Rede kritisiert, dass „wort“ und „muot“ (v. 3125f.) Iweins differieren, so zeigt sich hier eine Kongruenz zwischen Kommunikationsunfähigkeit, innerem Zustand geistiger Verwirrung und Austritt aus den in der Erzählung konstituierten Räumen. Betrachtet man Kontext und Rede, so lässt sich daraus schließen, dass die schlagkräftige Rede Lunetes hier eine verstärkende, katalytische Wirkung hat. Was in der Rede verbal präsent wird,25 konkretisiert sich durch die Flucht des Protagonisten. Damit wird auch deutlich, dass die soziale Ausgrenzung Iweins nicht im eigentlichen Sinn durch gesellschaftlichen Druck erwirkt wird. Die Botinnen Laudines verhandeln Logiken und Normen der Laudine-Welt, die mit jenen des Artushofs konkurrieren. So ist der Artushof – dessen Regeln der Protagonist prinzipiell gefolgt und treu geblieben ist – für die ‘andere’ Logik der Botenreden scheinbar unempfänglich. Artus zeigt dem Beschuldigten vielmehr seine Anteilnahme, in Hartmanns Text hat er sogar Mitleid mit Iwein (Iwein, v. 3240–3243), in beiden Texten fordert der König den Hof auf, nach dem 24
25
Sosna, ebd., S. 124 mit Anm. 47, schließt daher auf die „Unvereinbarkeit beider Bereiche im Bewusstsein des Protagonisten“. Zudem schiebt sich hier eine Vorausdeutung auf bœsiu m#re (v. 3096) mit einem Kommentar des Erzählers ein: im wîssagete sîn muot, / als er mir selbem ofte tuot: / ich siufte, sô ich vrô bin, / mînen künftegen ungewin: / sus nâhte im sîn leit (v. 3097–3101). Der Erzähler überträgt diesen Wandel subjektivierend auf eigene Erfahrungen, versetzt sich in die Situation Iweins hinein. Er vollzieht damit einen Brückenschlag zwischen der Situation des Erzählers und der Figur. Er appelliert an das implizite Publikum, eine ähnliche Haltung der Teilnahme am erzählten Geschehen einzunehmen (nû seht wâ dort her reit, v. 3102). Das impliziert die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler, charakterisiert die Instanz jedoch als in der ersten Person sprechend. Genannt sei hier mit Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie. Rezeptionslenkende Strukturen mittelalterlicher Texte in Bearbeitungen des Willehalm-Stoffs, Berlin/New York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 50), S. 72–78, eine der neueren Arbeiten. Diese Differenzierung hat sich in der Forschung allgemein durchgesetzt und wird seit der Analyse von Günter Mecke, Zwischenrede, Erzählerfigur und Erzählhaltung in Hartmanns von Aue ‘Erec’ (Studien über die Dichter-Publikums-Beziehung in der Epik), Diss. München 1965, wiederholt im Zusammenhang mit der Artusepik aufgegriffen.
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Ritter zu suchen (Yvain, v. 2811–2815; Iwein, v. 3244). Die Rede wirkt daher einzig auf Iwein ein, führt seinen Perspektivenwechsel vollends herbei. Der Protagonist selbst betrachtet sich als entehrt, ihm schwindet das Bewusstsein, er entzieht sich dem sozialen Kontext des Artuskreises. Diese individuell bestimmte Ausgrenzung ist auch bei Hartmann nicht nur eine soziale, sondern vor allem eine Ausgrenzung im Affekt: Iwein ergreifen zorn unde ein tobesuht (v. 3233).26 In beiden Redeszenen wird eine individuelle Ausgrenzung vorgenommen, werden Verletzung und Tod auch explizit metaphorisch aufgerufen. Im französischen Text wird das Liebesvergessen als Tod bezeichnet. Laudine erleidet diesen und erlegt Yvain implizit dasselbe auf. Im deutschsprachigen Text spricht Iwein im Anschluss an Lunetes Rede metaphorisch vom Tod durch sein eigenes Schwert. Bezieht man diese Aspekte mit ein, dann gewinnt die Szene an Kontur.27 Die Konsequenz der Rede liegt tatsächlich darin, dass Yvain / Iwein aus den Gesellschaftskreisen ausgegrenzt, ja verbal ‘gestrichen’ wird und sich der Protagonist durch den Entzug aus dem gesellschaftlichen Rahmen selbst ‘streicht’. Dieser soziale ‘Tod’ charakterisiert innere Zustände der Krise, das Vergessen und die Flucht als den Verlust ritterlicher Seinsweise. Dieses Ende ist zugleich ein Neubeginn, diese Redeszene eine markante Umbruchstelle. Denn es öffnet sich zugleich der Raum für eine narrative Neukonstitution des Protagonisten als Ritter mit dem Löwen.28
II. Auch in Chrétiens Perceval und in Wolframs Parzival ergibt sich die Krise durch einen Fehler des Protagonisten. Dieser liegt hier bekanntlich im Frageversäumnis auf der Burg des kranken Fischer- bzw. Gralskönigs. Der Szene folgt eine Reihe weiterer âventiuren. Erst nach der Aufnahme des Protagonisten am Hof des Königs Artus brechen die Unheil verkündenden Botinnen in einen festlichen Artuskreis ein. Bei Chrétien wird bereits drei Tage lang ein großartiges Fest auf Carlion gefeiert, als ein höchst hässliches Fräulein, eine laide damoisele (v. 4618), auf einer falve mule (v. 4612) heranreitet.29 Sie ist mit einer Reitpeit26
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Die Forschung hat Iweins Zustand als Melancholie gedeutet. Vgl. Mertens (wie Anm. 22), S. 1018, mit Literaturangaben. Diese Deutung besitzt allerdings einen eher definitorischen Charakter, der weniger die narrativen Prozesse beschreibt. Siehe dazu den Vergleich zwischen Metapher und Symbol von Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, 5. durchgesehene Auflage, Göttingen 2004 (Kleine Reihe V&R 4032), S. 77. Folgt man Haug, „Für eine Ästhetik des Widerspruchs“ (wie Anm. 15), S. 224, so führt der Iwein die „Unintegrierbarkeit des Zufalls“ vor. Die Thematik des Zufalls wird innerhalb der untersuchten Redesequenz jedoch kaum deutlich. Die Zitate folgen Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal / Der Percevalroman oder Die Erzählung vom Gral, übersetzt und hg. von Felicitas Olef-Krafft, Stuttgart 1991 (RUB 8649); Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, Frankfurt a.M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 110; Bibliothek des Mittelalters 8).
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sche (corgie, v. 4613) ‘bewehrt’ und besitzt aufgrund ihrer schwarzen Zöpfe, ihrer schwarzen Haut, ihres Gesichts, das in Vergleichen mit Tieren beschrieben wird, und des buckligverbogenen Körpers ein höchst unhöfisches Aussehen. So weist der Erzähler darauf hin, dass – wenn die Vorlage nicht lüge – es selbst in der Hölle keine so hässlichen Wesen gebe (v. 4616–4619): Et se les paroles sont voires Tels com li livres les devise, Onques rien si laide a devise Ne fu neïs dedens enfer.
Die damoisele erscheint ohne eine Erklärung über ihre Herkunft und unmotiviert auf Carlion. Sie vertritt keinen Gesellschaftsbereich, sie spricht nicht stellvertretend für eine abwesende Person. Doch ihr Aussehen lässt darauf schließen, dass sie Unheil repräsentiert und verbreitet, dass sie schlechte Nachricht bringt. Auch die laide damoisele schließt in ihrer Rede Perceval aus der Reihe der Gegrüßten aus, denn jeder sei verhasst, der ihn grüße: „Et dehais ait qui te salue“ (v. 4648). Sie begründet dies damit, dass er die rechte Gelegenheit verpasst habe, das Glück zu ergreifen: „Que tu ne la recheüs mie / Fortune quant tu l’encontras“ (v. 4650f.). Glück hätte das Fragen bedeutet, genauer: nach der Lanze, aus deren weißer Spitze ein Blutstropfen quoll (v. 4656–4658), und nach dem Gral und wen man damit bediene (v. 4659–4661). Perceval sei nun selbst unglücklich („maleürous“, v. 4662), denn er habe die Situation erkannt und trotz der vielen Möglichkeiten nicht gefragt (v. 4665–4668): „A mal eür tu [te] teüsses“ (v. 4669). Hätte Perceval gefragt, so wäre der Fischerkönig, der nun verzweifle, doch genesen (v. 4671f.) und der Frieden für sein Land gesichert gewesen (v. 4673), was ihm nun für immer versagt bleiben werde (v. 4674). Als Konsequenz werden Damen ihre Ehemänner verlieren (v. 4678), Länder verwüstet (v. 4679), Jungfrauen in Not geraten (v. 4680), verwaist zurückbleiben (v. 4681) und viele Ritter den Tod finden (v. 4682). Percevals Fragen hätte die Heilung des Fischerkönigs bewirken können, womit seine Regierungsfähigkeit wiederhergestellt und Frieden garantiert wäre. Das Schweigen bringt nun Verzweiflung, Tod und Chaos. Ein Szenario des Kriegs ist somit die Folge des Frageversäumnisses. Schuld an all dem ist Perceval: „Tot cist mal esteront par toi“ (v. 4683). Somit sind der Fischerkönig und sein Land nun vom Unglück betroffen – und das malheur überträgt sich auch auf Perceval selbst. Eine vergleichbare Übertragung hatte sich in einer vorangehenden Szene bereits im Gespräch zwischen Perceval und seiner germaine cousine (v. 3600) vollzogen. Perceval begegnete ihr nach seinem Aufbruch von der Burg des Fischerkönigs mitten in der Wildnis. Er traf sie dort trauernd, ihren im Kampf gefallenen Geliebten beklagend. Das Gespräch mit ihr situiert sich außerhalb gesellschaftlicher Bereiche in einem Kontext des individuellen Unglücks und der Trauer. In diesem Dialog stehen dazu kohärente Problemstellungen im Vordergrund und damit auch die persönlichen Konsequenzen von Percevals Versagen. Kaum hat der Namenlose intuitiv erahnt, dass er Perchevax li Galois heißt (v. 3575), ruft sie, wegen seines Frageversäumnisses voller Zorn, dass sich sein Name geändert habe: „Tes nons est changiés, biax amis“ (v. 3581). Er heiße nun „Perchevax li chaitis! – [...] Perchevax
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maleürous“ (v. 3582f.) – ‘Perceval, der Elende, der Unglückliche’! Ein Identitätswechsel deutet sich damit an. Dieser wird durch die Rede der laide damoisele am Artushof auch in die Öffentlichkeit getragen. Blickt man auf den Fortgang der Erzählung, wird deutlich, dass die vor versammelter Festgesellschaft gehaltene Rede der laide damoisele bei ähnlicher Informationsvergabe in viel höherem Maß als jene der germaine cousine als Antrieb für die weitere Erzählung fungiert. Deutlich wird dabei auch, dass die zweite Rede weniger die Konsequenzen für Percevals Identität, sondern vielmehr öffentliche und politische Aspekte akzentuiert. Diese Inhalte entsprechen dem sozialen Raum der Rede, denn Perceval bricht unverzüglich zur Gralssuche auf. Die Rede regt überdies die gesamte Festgesellschaft zu ritterlicher Aktivität an, bewirkt durch die Bekanntgabe weiterer fremder âventiuren den Aufbruch Percevals, Gauvains und weiterer 50 Ritter. Perceval verpflichtet sich nach der Verfluchung durch die laide damoisele öffentlich zu einer unentwegten Suche nach ritterlichen Abenteuern. Er gelobt, bevor er nicht die Geheimnisse der blutenden Lanze und des Grals ergründet habe, wolle er nicht zwei Nächte nacheinander im selben Haus übernachten, nicht von neuen Wegen Nachricht erhalten, ohne zu prüfen, wohin sie führen, und nicht von einem überlegenen Ritter hören, ohne mit ihm zu kämpfen (v. 4727–4740). Der Fokus der Erzählung folgt Percevals rastlosem Weg nicht, sondern schwenkt im Weiteren auf den zweiten Protagonisten des Romans über. Gauvain steht erstmals für rund 1500 Verse ganz im Vordergrund. Perceval verschwindet nun temporär völlig aus dem Blickfeld, gerät fast in Vergessenheit und wird bei seinem Wiedererscheinen nach einer erzählten Zeit von fünf Jahren selbst als Vergessender beschrieben. Perceval ist ohne Erinnerung an Gott und Kirche durch die Welt gezogen, auf der Suche nach fremden Abenteuern, estranges aventures (v. 6217–6238, Zitat v. 6227). Seine Geschichten bleiben unerzählt. Die nun folgende Parzivalszene am Karfreitag handelt vielmehr von seiner Schuld, Reue und Buße, von ritterlichem Ideal und der Feier der Eucharistie an Ostern. Die Bedeutung des Frageversäumnisses wird hier neu kontextualisiert, normativ anders eingebunden und erklärt. Folglich wird es in diesem Zusammenhang nicht mehr aus der Perspektive von Glück und Unglück betrachtet. Aus der Semantik des Unglücks, des malheur, wird nun eine des Schmerzes, des doel, und der Sünde (vgl. v. 6381), das Frageversäumnis gleitet aus dem ursprünglichen Bedeutungszusammenhang in einen anderen (vgl. v. 6409). Das Reden über das Frageversäumnis ist im Perceval Chrétiens de Troyes durch die Kontexte geprägt, in denen sie formuliert werden, und durch die Figuren, die sie aussprechen. Auch die ‘Macht’ der Worte ist durch sie geprägt. Im Parzival Wolframs von Eschenbach wird die vergleichbare Rede nicht nur erweitert, sondern auch in ihrer Gestaltung insgesamt bedeutend verändert. Die Figur der Botin erhält innerhalb der Erzählung bei weitem mehr Gewicht als die laide damoisele. Dies einerseits durch die Namensgebung – die maget heißt hier Cundrie – und andererseits durch die umfassende Konstitution und kontextuelle Einbindung der Figur. Cundrie stammt aus dem Orient, gehört dem Hof zu Munsalvæsche an und leistet Botendienste. Sie ist dadurch direkt mit der Gralswelt verbunden, repräsentiert jedoch auch das ‘Andere’, die Andersartigkeit im
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Vergleich zum Artushof.30 In ihrer Funktion schließt sie die zentralen Orte der beiden Teile der Haupthandlung des Romans zusammen,31 denn sie ist nicht nur Mitglied des Gralshofs, sondern gibt an, sie sei gerade unterwegs nach Schastelmarveile, dem Ziel der Abenteuer Gawans.32 Der Komplexität des von ihr Repräsentierten und der damit verbundenen Ambivalenz entsprechen die Inhalte von Cundries Anklagerede. Sie bringt der höfischen Artusrunde pîn (v. 312,18). Bei ihrer Ankunft im Artuskreis hält sie allen vor, dass die Artusrunde entehrt sei („tavelrunder ist entnihtet“, v. 314,29), weil sie Parzival aufgenommen habe (v. 315,5– 10). Wegen Parzival versagt Cundrie der gesamten Runde ihren Gruß (v. 315,17–19). Abweichend von den Vorgaben des französischen Texts wird er von ihr somit nicht ausgeschlossen, sondern als Grund für den Verlust des Ansehens aller genannt. Ihre Anschuldigungen zielen im Folgenden weniger auf gesellschaftliche, sondern vielmehr auf ontologische Aspekte ab. Die Figur der Cundrie spiegelt dies. Diese maget, die von so unhöfischer Gestalt und doch in ihrer witze kurtoys (v. 312,22) ist, trägt prächtige Kleidung (v. 313,4– 13) und wirkt in diesem Rahmen des Artusfests dennoch als freuden schûr (v. 313,6). Die in ihrem Aussehen ebenfalls durch Tiervergleiche (v. 313,20–22, 313,29, 314,5–9) charakterisierte Gralsbotin Cundrie ist noch ambivalenter, noch grotesker gezeichnet als die laide damoisele: Ihre schwarzen Haare gleichen harten Schweinsborsten, ihre Nase einer Hundeschnauze. Aus dem Mund ragen Zähne wie von einem Eber, die Augenbrauen sind zu hochaufragenden Zöpfen geflochten, die Ohren sehen aus wie Bärenohren und die Hände wie Affenhände, deren Finger mit Löwenkrallen versehen sind. Cundrie repräsentiert und präsentiert in dieser Szene nicht nur parrierte Menschenbilder, sondern sie spricht auch darüber. Denn sie kontrastiert gleich zu Beginn ihrer Rede ihr eigenes abstoßendes Äußeres mit ihrer lauteren inneren Gesinnung (v. 315,24f.). Die Dispositionen des äußerlich schönen Parzival charakterisiert sie umgekehrt. Seine innere Hässlichkeit ist durch das Frageversäumnis bedingt: „dô der trûrge visch#re / saz âne freude und 30
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Ingrid Kasten, „Häßliche Frauenfiguren in der Literatur des Mittelalters“, in: Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, hg. von Bea Lundt, München 1991, S. 256– 276, besonders S. 272, sieht die Hässlichkeit als Metapher für das Andere, Ausgegrenzte. Vgl. hingegen Paul Michel, Formosa deformitas. Bewältigungsformen des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur, Bonn 1976, S. 17, zum hier ebenso präsenten Antagonismus zwischen äußerer Hässlichkeit und innerer Schönheit. Vgl. außerdem Klaus Ridder, „Gelehrtheit und Hässlichkeit im höfischen Roman“, in: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (18. bis 20. März 1999), hg. von dems. und Otto Langer, Berlin 2002 (Körper, Zeichen, Kultur 11), S. 75–95, hier S. 84. Ridder (ebd.), S. 86, hebt hervor, dass „sich die Figur an einer zentralen Schnittstelle der im Roman dominierenden Erzählwelten“ befindet. Im 9. Buch versorgt Cundrie die um Schiunatulander trauernde Sigune in ihrer Klause mit Nahrung aus Munsalvæsche. In der Figur der Cundrie läuft Wissen über die fiktionale Welt und Bildungswissen zusammen, denn sie fungiert innerhalb des Erzählzusammenhangs als Informationsträgerin und -vermittlerin und wird außerdem explizit als gebildet geschildert (v. 312,19–25; vgl. v. 782,1– 16). Durch ihre Herkunft repräsentiert sie auch jene Welt, zu der Gahmuret in der ‘Elternvorgeschichte’ aufbricht und aus der sein Sohn, Parzivals Halbbruder Feirefiz, entstammt.
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âne trôst, / war umb irn niht siufzens hât erlôst“ (v. 315,28–30); sie bezichtigt ihn der Untreue (v. 316,2) und beklagt das Frageversäumnis (v. 316,3). Die Affizierung durch das Leid des Gralskönigs formuliert sie in einer imperativischen Satzkonstruktion: „sîn nôt iuch solt erbarmet hân“ (v. 316,3). Und sie wirft Parzival innere Regungslosigkeit vor: Der König habe ihm doch die Last des Jammers vorgeführt und Parzival habe nicht reagiert. In ihrer Rede wird die vermeintliche Leere des Herzens mit jener des Mundes parallelisiert (v. 316,5f.). Er sei auch von größtem „valsch“ (v. 316,18). In ihrer Rede kommen nun auch heilsgeschichtliche Inhalte ins Spiel. Die Gralsbotin bezeichnet Parzival als verflucht, ja zur Hölle benannt (v. 316,7–9), sie qualifiziert sein Schweigen als Sünde (v. 316,23f.). Ihre Formulierungen fallen insofern noch schärfer aus als in der französischen Vorlage, denn dort fehlt die Heilsdimension, dort ist er lediglich verhasst („dehais“, v. 4648), heißt „maleürous“ (v. 4662). Wie schon im Iwein beobachtet, zielt auch hier die Kritik auf die Untreue (v. 316,2) und die Ehre des Protagonisten (v. 316,11–15): „[...] ir heiles pan, ir s#lden fluoch, des ganzen prîses reht unruoch! ir sît manlîcher êren schiech, und an der werdekeit sô siech, 316,15 kein arzet mag iuch des ernern. [...]“
Die Fluchtirade, die Cundrie Parzival entgegenschleudert, zeichnet sich durch eine Anreihung von Vergleichen aus. In ihrer Rede ist Parzival der Bann des Heils, der Fluch der s#lde und überhaupt des Lobes unwert. Männliche Ehre sei ihm fremd, und an der Würde sei Parzival medizinisch unheilbar krank. Gefragt habe er nicht, obwohl doch er auf Munsalvæsche alles sah (v. 316,26f.). Nun aber sei der Lohn vertan: Als Fragender hätte er über die Dinge des Grals herrschen können, wäre ihm die Krone des Heils („s#lden krône“, v. 254,24), die höchste Würde („hôhe ob den werden“, v. 254,25) zuteil geworden, hätte er die Herrschaft über die Dinge der Erde erhalten können (v. 254,26f.). Cundrie weist darauf hin, dass Parzival das Fragen mehr eingebracht hätte, als selbst bei den Heiden in Tabronite zu holen wäre (v. 316,30). Ähnliches hatte bereits Parzivals Cousine Sigune berichtet (v. 254,20–30). Damit werden die Vorgaben des französischsprachigen Textes an zwei Stellen um dieses Element höchsten Lohns für das Fragen ergänzt. Es ergibt sich daraus deutlich ein neuer Akzent, in dem sich weltliche und jenseitige Heilsgewinnung ergänzen. Cundries Rede wiederholt einen Aspekt, den Sigune bereits vermittelt hat: die Verdorbenheit des Protagonisten aufgrund des Frageversäumnisses. Denn bereits Parzivals Cousine hatte ihn verflucht. Als sie nach Parzivals Aufenthalt auf Munsalvæsche erfährt, dass er sich dort nicht nach dem Ergehen des Gralskönigs erkundigt hat, bezeichnet sie ihn als entehrt und verflucht: „gunêrter lîp, verfluochet man!“ (v. 255,13). Sie bezichtigt ihn bitterer Treulosigkeit: „dâ diu galle in der triuwe / an iu bekleip sô niuwe“ (v. 255,15f.). Lag in der Begegnung mit Sigune der Akzent auf der individuellen Verantwortung und triuwe, so liegt in der Szene am Plimizœl der Schwerpunkt der Vorwürfe nicht wie bei Chrétien auf der Verfehlung an der Gesellschaft, am Kollektiv, sondern der Argumentationsgang konzentriert sich auf die Anklage einer individuell begründeten Schuld. Dies erhärtet sich in
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Cundries weiterer Rede, denn ihre Vorwürfe verbinden sich mit Informationen über seine Familie. Erstmals erfährt Parzival von seinem Halbbruder Feirefiz (v. 317,4) und erhält neue Informationen über seine Eltern. Doch diese Informationen dienen wiederum einer Kontrastierung, stellen eine genealogische Differenz her. Im Vergleich mit Gahmuret und Herzeloyde (vgl. v. 317,11–318,4) stehe Parzival ihnen an „prîs“, „triuwe“ und „êre“ nach. Dieser Vergleich gipfelt in einer Klage (v. 318,1–4): „[...] nu ist iwer prîs ze valsche komn. ôwê daz ie wart vernomn von mir, daz Herzeloyden barn an prîse hât sus missevarn!“
Cundries Rede setzt daher in umfassender Weise den Protagonisten herab. Die Klage über Parzivals Versäumnis schließt inhaltlich die Aspekte einer auf die Person des Anfortas ausgerichteten Mitleidsfrage mit heilsgeschichtlichen, individuellen und genealogischen Dimensionen zusammen.33 Durch diese Zusätze ergibt sich eine Neuakzentuierung. Liegt das Gewicht in der Rede der damoisele auf der öffentlichen Funktion Percevals, so verschiebt sich dies im Parzival hin zu einer ontologischen Qualifizierung Parzivals und seiner Relation zu Anfortas. Die Semantik, Metaphorik und folglich Regelhaftigkeit, die dabei verwendet wird, ist die der Krankheit. Der von Cundrie kritisierte innere Zustand Parzivals wird auf eine Ebene des impliziten Vergleichs mit Anfortas gesetzt, dem körperlich versehrten und mit medizinischen Mitteln nicht heilbaren Gralskönig. Daraus ergibt sich eine Parallelisierung: Parzivals Würde erreicht den Zustand des Körpers des leidenden und unerlösten Anfortas.34 Dies führt dazu, dass Analogien in den Vordergrund treten. Parzival wird durch die Verfluchungen und die Herabsetzung in das Leiden des Gralskönig ‘hineingezogen’. Daher erscheint Parzivals Entehrung aufgrund der verwendeten Semantik implizit, durch die Metaphorisierung der Ehre, als eine Form des Mit-Leidens mit Anfortas.35
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Es sind Aspekte, die in der letztlich durch Parzival gestellten Frage wieder deutlich werden. Als Parzival vor Anfortas steht, ruft er zunächst die Trinität an und fragt dann seinen Onkel: „œheim, waz wirret dier?“ (v. 795,29). Die heilsgeschichtliche Dimension der wirksamen Frage wird durch das Aufrufen der Legende des Heiligen Silvester (v. 795,30) und der Erweckung des Lazarus (v. 796,1f.) sinnfällig. Dabei werden die vergeblichen Heilungsversuche erst im 9. Buch dargelegt; vgl. die Verse 479,10– 12; 480,10–483,18. Vgl. zum Krankheitsmotiv auch Tomas Tomasek, „Kranke Körper in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur. Eine Skizze zur Krankheitsmotivik“, in: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur (wie Anm. 30), S. 97–115, hier S. 111. Vgl. zur Analogie zwischen beiden Figuren auch Alois Wolf, „Interpretatio christiana der Schöpfung als Exemplum für Wolframs Erzählweise“, in: Exempla: Studien zur Bedeutung und Funktion exemplarischen Erzählens, hg. von Bernd Engler und Kurt Müller, Berlin 1995 (Schriften zur Literaturwissenschaft 10), S. 21–54, hier S. 49. Vgl. dazu Katharina Mertens Fleury, Leiden lesen. Bedeutungen von compassio um 1200 und die Poetik des Mit-Leidens im Parzival Wolframs von Eschenbach, Berlin/New York 2006 (Scrinium Friburgense 21), S. 172.
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Cundries Auftreten setzt sich insbesondere von der französischen Vorlage durch den höchsten Grad affektiven Berührtseins ab.36 Aufgrund ihrer Affekte wird sie schon zu Beginn der Szene als eine Person charakterisiert, die sich nicht unter Kontrolle hat: ein magt gein triwen wol gelobt, / wan daz ir zuht was vertobt (v. 312,3f.). Auch ihre Worte münden schließlich in einen Tränenstrom aus Herzens-triuwe (v. 318,6–10). Sie jammert laut über die Unerlöstheit des Anfortas (v. 318,30) und ihre übergroße Trauer besitzt Analogien zu jener der Gralsgesellschaft der ersten Szene auf Munsalvæsche. Denn beim Anblick der Lanze beginnen die anwesenden Ritter unvermittelt laut zu klagen (dâ wart geweinet unt geschrît, v. 231,23), ja so heftig zu weinen, dass die Bevölkerung von 30 Ländern nicht so viele Tränen vergießen könne (daz volc von drîzec landen / möhtz den ougen niht enblanden, v. 231,25f.).37 Die um das Geschick des Anfortas laut klagende und weinende, von der Sorge eingenommene Gralsbotin (Cundrî was selbe sorgens pfant, v. 318,5) vertritt in diesem Aspekt hier den Gesellschaftskreis um Anfortas. Noch im Davonreiten vergießt sie Tränen und klagt über den Jammer der bisher mit Anfortas mitleidenden und folglich noch unerlösten Gralsgesellschaft: „ay Munsalv#sche, jâmers zil! / wê daz dich niemen trœsten wil!“ (v. 318,29f.).38 Ihr affektiver Zustand der Trauer affiziert, überträgt sich auch auf die Anwesenden (v. 319,12–19): Cunnewâr daz êrste weinen huop, daz Parzivâl den degen balt Cundrîe surzier sus beschalt, 319,15 ein alsô wunderlîch geschaf. herzen jâmer ougen saf gap maneger werden frouwen, die man weinde muose schouwen. Cundrîe was ir trûrens wer.
Die Rede führt also wie im Iwein nicht zu einer direkten Ausgrenzung, nicht zu einem unmittelbaren Aufbruch, sondern der Artushof partizipiert an der verkündeten und gezeigten Trauer. Doch wird im Verlauf der Szene auch Parzivals Fremdheit in diesem Kreis deutlich, die Unverfügbarkeit seines Leidens und Mit-Leidens. Im Anschluss an die Verfluchungsszene – dies fehlt bei Chrétien – wird die Problematik angemessenen Tröstens im Kreis des Artushofs verhandelt.39 Da auch Gawan in dieser Szene entehrt wird, weil Kingrimursel ihn 36
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Siehe dazu auch Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, 8., völlig neu überarbeitete Auflage, Stuttgart/Weimar 2004 (Sammlung Metzler 36), S. 76: Cundries Seele sei von „christlichem Mitleid und wahrer triuwe geprägt“. Ridder (wie Anm. 30), S. 86, hebt auch ihre Mitleidsfähigkeit hervor, spricht jedoch insgesamt von einer „pathetischen Überzeichnung der Verfehlung Parzivals“. Vgl. grundsätzlich zum Aspekt der Affizierung Christina Lechtermann, Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur um 1200, Berlin/New York 2006 (Phil.Stud.u.Qu. 191). Auch die Vorführung der Lanze, mit der die Wunde des Anfortas behandelt wurde, löst somit eine hoch emotionale Reaktion des Mitleids aus. Munsalvæsche trägt hier metonymischen Charakter. Vgl. Eberhard Nellmann, „Stellenkommentar“, in: Wolfram von Eschenbach, Parzival (wie Anm. 29), S. 443–803, hier S. 621.
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vor versammeltem Hof des Mords beschuldigt hat (v. 321,10), zeigen die Mitglieder des Hofs den beiden Rittern ihr Mitleid: dâ was trûren âne zal (v. 326,10). Die Anteilnahme am Geschick Gawans und Parzivals entspricht jedoch den begrenzten Fähigkeiten der höfischen Runde, denn der Erzähler weist darauf hin: si trôsten se als si kuonden (v. 326,14).40 Parzival bleibt in diesem Kreis untröstlich (v. 329,16–24; 330,21). Er wünscht sich, wie durch Cundries Tränen ‘angesteckt’, dass sein Herz den Augen Tränen geben möge (v. 330,21f.). Er klagt noch in dieser Szene ähnlich wie Cundrie über das Geschick des Anfortas: „ay helfelôser Anfortas, / waz half dich daz ich pî dir was?“ (v. 330,29f.).41 Dieser Ausruf kann auch als Zeichen für eine Subjektivierung der Anschuldigungen betrachtet werden. Mit den Informationen, die Parzival von Sigune erhalten hat, weiß er bereits um seine Verfehlungen, und er gibt kund, dass er alles wieder gut machen möchte (v. 255,21ff.). In der Blutstropfenszene denkt er nicht nur an Condwiramurs, sondern auch an den Gral (v. 296,5). Das Wissen um seine persönlichen Aufgaben scheint bereits in den vorangehenden Szenen präsent zu sein, die Rede Cundries jedoch den Anstoß für seinen weiteren Weg zu geben. Denn erst ab dieser Szene drückt Parzival seine Untröstlichkeit über das Leid des Anfortas (vgl. auch v. 330,21f.), die der höfisch-arthurischen Freude entgegensteht, verbal aus: „ine wil deheiner freude jehn, / ine müeze alrêrst den grâl gesehn, / diu wîle sî kurz oder lanc“ (v. 329,25–27). Die Trauer treibt Parzival vom Artushof fort: vil diens im dâ meneger bôt: / den helt treip von in trûrens nôt (v. 331,17f.). Dass sich dies auf Anfortas bezieht, belegt Parzivals bereits zitierter Ausruf: „ay helfelôser Anfortas, / waz half dich daz ich pî dir was?“ (v. 330,29f.). Seine Trauer und sein Mit-Leid bedeuten fortan auch eine Hinwendung zu Anfortas und eine Partizipation am Leid der Gralsgesellschaft. Die für ihn nun ‘bestimmte’ Gralssuche ist mit der Sehnsucht nach seiner Gemahlin Condwiramurs verbunden (vgl. v. 333,23–30). Parzival klagt später Sigune sein Leid (v. 441,5; 441,10–13; 442,5–8) und dann auch Trevrizent (v. 461,1–26), ja sogar noch bei seiner zweiten Einkehr am Artushof bricht er voller Trauer wieder auf (v. 732,1–29) und unterstellt: „got wil mîner freude niht“ (v. 733,8). Wie schon bei Trevrizent (v. 488,12f.) wird ihm bewusst, dass er von seiner Trauer nicht befreit ist: „ich pin trûrens unerlôst“ (v. 733,16).42 Die Trauer entfremdet Parzival von der Sphäre des Artushofs. Er verschwindet hinter der letztlich arthurisch ausgerichteten Problematik der Gawanerzählung. Lediglich punktuell scheint sein Geschick, seine Gralssuche und Sehnsucht nach seiner Gemahlin innerhalb des Gawanteils auf. Dort ist Parzival als roter Ritter im Kampf vor Bearosche in der Gegenpartei Gawans präsent und verpflichtet unterlegene Ritter zur Partizipation an seinen Aufgaben, denn diese sollen sich an der Gralssuche beteiligen oder sich in den Dienst Condwiramurs’ 40
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Die tatsächliche Reichweite des Trostvermögens der Artusrunde zeigt sich am Beispiel des Clamide. Aufgrund des ‘Verlusts’ der Hoffnung auf Condwiramurs meint er, er hete mêr verlorn / dan iemen der dâ möhte sîn / unt daz ze scharpf w#r sîn pîn (v. 326,16–18; vgl. auch v. 327,25). Vgl. auch Bumke (wie Anm. 36), S. 77f., der den Aufbruch Parzivals durch sein Mitleid mit Anfortas motiviert sieht. Hervorzuheben ist hier die Übereinstimmung der Lexik: unerlôst wird sowohl für Anfortas wie auch Parzival verwendet.
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Katharina Mertens Fleury
stellen (v. 388,28–389,12). Als Gawan diese Zusammenhänge erfährt, denkt er an Parzival (v. 392,20–29). Schließlich wird auf Schanpfanzun auch Gawan aufgetragen, sich an der Gralssuche zu beteiligen (v. 424,15–425,26; vgl. v. 428,23–26 und 432,29f.; 503,27–30). Die Parzivalhandlung gerät somit temporär zwar weitgehend in Vergessenheit, wird jedoch in Verknüpfung mit der Gawanhandlung durch die Nennung und Übertragung von Parzivals Hauptaufgaben, wîp und grâl, ‘zitiert’.43
III. Die untersuchten Redesequenzen sind Teil von Stationen des Umbruchs, bringen Fehler der Protagonisten ans Licht der Öffentlichkeit und bewirken einen sozialen Ausschluss der Protagonisten: Yvain und Iwein rennen in die Wildnis, Perceval und Parzival verlassen den Artushof und werden lange Zeit nicht mehr erwähnt. Die Protagonisten ‘verschwinden’ somit mehr oder minder weit aus dem Gesichtskreis der narrativ konstruierten Gesellschaftskreise. Die untersuchten Reden weisen in ihrer Wirkung daher Ähnlichkeiten auf, es ergeben sich aber auch Unterschiede auf der Ebene der Inhalte der Reden, der Ausgestaltung der Figuren und der Kausalitäten. Versuche einer einheitlichen Kategorisierung dieser Reden scheinen deshalb a priori zu scheitern. Klar ist jedoch, dass sie Verfehlungen präsent machen und eine Aufbruchssituation herbeiführen. Es ist daher weniger nach einer begrifflichen Klärung dieser Redeszenen zu suchen, sondern eher nach der Konstituierung der Macht dieser Worte. Die Sprecherinnen fungieren zum Teil als Botinnen,44 repräsentieren spezifische narrative Erzählräume und beziehen daraus ihre Autorität. Nur die laide damoisele in Chrétiens Perceval fällt aus diesem Rahmen heraus, denn sie erscheint unmotiviert. Die Reden greifen in der Handlung Vorangehendes auf, verweisen auf Künftiges, klagen an, problematisieren, kritisieren, diffamieren, verfluchen und zerstören. Die Worte der Sprecherinnen üben Vergeltung für Fehler, evozieren Regelhaftigkeiten, zeichnen Szenarien der versäumten Möglichkeiten und des Verlusts. In ihrer Argumentation variieren die Reden zwar, sie machen jedoch Spannungen zwischen Gesellschaftsbereichen deutlich. Die Sprecherinnen sind über Semantiken und Logiken charakterisiert, die der Welt der Laudine bzw. des Grals eigen sind; sie scheinen aus ihnen ihre performative ‘Macht’ zu beziehen und stellen sie explizit oder implizit dem präsenten Kontext der Artuswelt gegenüber. In Chrétiens Yvain liegt der Akzent auf dem Minnediskurs, in Hartmanns Iwein auf Konzepten von Liebes- und Herr43
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Vgl. Michael Waltenberger, „Hermeneutik des Verdacht-Seins. Über den interpretativen Zugang zu mittelalterlichen Erzählwelten“, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbands 49 (2002), S. 156–170, hier S. 158. Vgl. zum Parzival: Andreas Urscheler, Kommunikation in Wolframs ‘Parzival’. Eine Untersuchung zu Form und Funktion der Dialoge, Bern u.a. 2002 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 38), S. 131–135.
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scherverantwortung, triuwe und êre. Letzteres trifft tendenziell auch für den Parzival zu. Daneben evoziert Cundrie auch heilsgeschichtliche, genealogische und individuelle Aspekte, sie verdeutlicht zudem implizit und explizit Formen des Mit-Leidens. Während die Rede der laide damoisele die Objekte, die Lanze und den Gral, als Ziel der erwünschten Frage angibt, das Versäumnis somit politische Konsequenzen hat, weist Cundries Rede ontologische Schwerpunkte auf. Cundries geharnischte Rede zielt durch das Aufrufen dieser Konzepte vermehrt darauf ab, Parzival in seiner Seinsweise wie auf affektiver Ebene in Frage zu stellen und zu treffen. Bezüglich dieser Wirkungsweisen weist Lunetes Rede Widersprüche auf. Denn während sie die Racheunfähigkeit der Frauen thematisiert, so steht dem das tatsächliche Resultat ihrer Rede entgegen. Es sind ihre Worte, die hier zu ‘Waffen’ werden. Zusätzlich ist das Wort durch den verdeutlichenden Gestus begleitet. Wird nämlich in den Iwein-Texten der Bruch durch die Rücknahme des Rings symbolisch vollzogen, so unterstreicht Cundrie die Inhalte des Gesagten durch ihr affektives Auftreten. Das Gesagte wird so auch vorgeführt und bekräftigt. Man könnte somit meinen, die Wirksamkeit der Reden sei durch die Untersuchung dieser Aspekte geklärt. Dem scheint jedoch zu widersprechen, dass die Protagonisten bereits vor dem Auftreten der Sprecherinnen um ihre Verfehlungen wissen. So liegt es nahe, zu folgern, dass es vornehmlich der öffentliche Raum ist, der den Reden ihre Schlagkraft verleiht. Dem widerspricht, dass der jeweilige soziale Rahmen, der je in der Artusgesellschaft besteht, den Protagonisten nicht ausgrenzt, sondern vielmehr seine Solidarität und sein Mitleid zeigt. Es ist nicht der soziale Raum selbst, der den Ausschluss herbeiführt, sondern die Tatsache, dass die Kritik im öffentlichen Raum ausgesprochen wird. Dabei wird offensichtlich, dass in diesen Reden das dem Artushof jeweils ‘Andere’ an den Protagonisten herangetragen wird. Dies wiederum entfremdet den Protagonisten dem Artushof. Die Worte im öffentlichen Raum wirken so als Katalysator für einen Erkenntnis- bzw. Perspektivenwechsel des Protagonisten. Resümierend wird deutlich, dass sich die Macht der Worte aus einem Komplex von Aspekten ergibt. Indem die hier untersuchten Reden Vorangehendes öffentlich angreifen, Verfehlungen publik machen und Verluste vor Augen führen, üben sie ihre spezifische Wirkung auf das angesprochene Individuum aus. Insofern ‘streichen’ sie Vorangehendes performativ ‘durch’, regen gleichzeitig zu Neuem an und führen so zum Umbruch in der Handlung.
Monika Unzeitig
Die Kunst des ironischen Sprechens Zu den Keie-Szenen in Chrétiens Yvain und Hartmanns Iwein
I. Keie als unhöfischer Redner im Kreise höfischer Gesprächspartner Die französische wie die deutsche erzählende Literatur des Mittelalters spiegelt höfische Gesprächskultur, spiegelt Formen der Höflichkeit und Regeln des Sprechens miteinander. Die Redeszenen zeigen: Das Beherrschen der Kommunikationsregeln gehört zum Selbstverständnis der höfischen adligen Gesellschaft.1 Genannt seien exemplarisch die deutschen Texte und dabei mitgedacht stets die altfranzösischen Fassungen: der Eneasroman des Heinrich von Veldeke, der Tristan des Gottfried von Straßburg und die Artusromane von Hartmann und Wolfram. So wie Höflichkeit und Eloquenz der Rede die Hofmitglieder auszeichnen, so ist das Nicht-Beherrschen dieser höfischen Redekonventionen Zeichen für Fehlverhalten. Dieses kann auf eine fehlende höfische Erziehung verweisen, wie Parzivals unangemessenes Grußverhalten den Idiolekt des tumben belegt;2 oder das Nicht-Einhalten dieser Regeln verweist auf im Affekt unbeherrschtes, unhöfisches Verhalten, wie es zum Beispiel der Graf gegenüber Enite in seiner Begierde und Wut demonstriert.3 Vor dem Hintergrund dieser hier skizzierten höfischen Gesprächskultur fällt auf, dass im Artusroman durch Chrétien in seinem Yvain eine Figur etabliert wird, die sich nicht nur durch partiell unhöfisches Reden disqualifiziert, sondern sich durch die Gewohnheit ihres unhöfischen Redens auszeichnet: Keie. Dies ist umso auffälliger, als Keie in seiner Funkti-
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Vgl. Nine Miedema und Franz Hundsnurscher, „Einleitung“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, hg. von dens., Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 1–17, hier S. 3f.; vgl. Joachim Bumke, „Höfischer Körper – Höfische Kultur“, in: Modernes Mittelalter. Bilder einer populären Epoche, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a.M./ Leipzig 1994, S. 67–102; zur höfischen Sprache siehe S. 72–80. Vgl. Andreas Urscheler, Kommunikation in Wolframs ‘Parzival’. Eine Untersuchung zu Form und Funktion der Dialoge, Bern u.a. 2002 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 38), S. 32 und 281. Vgl. Hartmann von Aue, Erec, v. 6515–6549; Textausgabe: Erec von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Auflage besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39).
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on als Truchsess bzw. Seneschall für die Etikette am Hof zuständig ist, also sehr wohl das höfische Sprechen kennt und auch beherrscht. Als solchen Kenner höfischer Umgangsformen führt ihn Chrétien zunächst in seinem ersten Artusroman Erec et Enide auch vor. Der besiegte Yder nähert sich dem Artushof; Keu und andere Ritter stehen auf der Galerie. Keu erblickt als Erster die heranreitende Dreiergruppe: Ritter, Dame, Zwerg. Aufmerksam informiert er Gauvain, dann die Königin und begleitet diese zur Galerie, damit sie selbst überprüfen könne, ob es sich um die Personen handelt, denen sie und Erec begegnet sind. Aufmerksam, freundlich, ganz comme il faut ist seine Rede wie auch sein Verhalten.4 Von der höflichen Rede Keus, der Gauvain mit „Sire“ tituliert und die Königin mit „Dame“ anredet, sticht der autoritäre, fast ruppige Ton Gauvains ab, mit dem er Keu auffordert, die Königin zu holen: „Hé! seneschax, car l’apelez!“ (v. 1107; ‘He, Seneschall, ruft sie doch her!’). Diese Gesprächsszene hat Hartmann radikal gekürzt und in Erzählbericht umgesetzt, so dass eine herausgehobene positive Präsentation Keies durch Rede und Verhalten fehlt.5 Verständlich, denn dieses Bild will so gar nicht zu dem später folgenden Auftritt Keus in jener Episode von Chrétiens Roman passen, in der er Erec zur Einkehr am Artushof zwingen will. Grußlos, respektlos begegnet Keu dem Helden, versucht diesen nach unverschämter wie auch erfolgloser Aufforderung, ihn zu begleiten, gefangen zu nehmen, greift ihm in die Zügel. In dem folgenden Zweikampf stößt Erec den unbewaffneten Keu mit umgedrehter Lanze vom Pferd.6 Das Motiv des Pferdeverlustes ist seitdem fest mit der Keie-Figur verbunden.7 Hartmann, der diese Szene übernimmt, jedoch auch ändert,8 fügt in diesem Zusammenhang für das Publikum einen längeren, erklärenden Exkurs über Keies seltsames Verhalten ein, der mit dem Hinweis schließt:
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Textausgabe: Chrétien de Troyes, Erec et Enide. Erec und Enide. Altfranzösisch / Deutsch, übersetzt und hg. von Albert Gier, Stuttgart 1987 (RUB 8360). Diese erste, von der Forschung kaum beachtete Szene, in der Keu sich als aufmerksamer und umsichtiger Seneschall präsentiert, passt offensichtlich nicht zu dem in der Folge von Chrétien entworfenen Bild, es sei denn, man unterstellt, dass seine Worte der Verstellung dienen und Keu sich erhofft, von Erecs Niederlage (öffentlich, mit den anderen!) zu hören. Ich sehe aber keine Hinweise im Text, die eine solche Interpretation erlauben, vgl. v. 1085–1136. Hartmann von Aue, Erec, vgl. v. 1152–1170. Allerdings werden Gawan und Keie in freundschaftlicher Verbundenheit und Eintracht beschrieben. Vgl. ebd., v. 3937–4053. Besonders nachdrücklich verbindet die Tristan-Fortsetzung des Heinrich von Freiberg das Motiv des Pferdeverlustes mit dem Spott über Keie, v. 2076–2087 und 2168–2187 sowie v. 2192–2203 (Textausgabe: Heinrich von Freiberg, Tristan und Isolde, Originaltext nach der Florenzer Handschrift ms. B.R. 226 von Danielle Buschinger, Versübersetzung von Wolfgang Spiewok, Greifswald 1993 [WODAN 16; Greifwalder Beiträge zum Mittelalter 1]). Vgl. Hartmann von Aue, Erec, v. 4629.22–4832; ergänzt ist zum Beispiel nach dem Kampf die Forderung Erecs an Keie, seinen Namen zu nennen, der dieser auch nachkommt, vgl. v. 4744– 4784.
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von sînem valsche er was genant Keiîn der quâtspreche. (v. 4663f.)
Mit diesen Versen ist im mittelhochdeutschen Erec-Roman schon formuliert, was bei Chrétien erst mit dem Yvain zum Thema gemacht wird: nämlich die Sprache Keies.9 Allerdings ist die Bezeichnung Keies als quâtspreche eine Konjektur von Moriz Haupt10 und im Lexer unter Hinweis auf diese einzige Belegstelle mit „der übel spricht, verleumder“ wiedergegeben.11 Die mittelhochdeutsche Wortbildung quâtsprëche kann auf die Verbindung des Adjektivs quât, im Sinne von ‘böse, schlimm’, und dem Substantiv sprëche (swm.)12 zurückgeführt, oder als Kompositum zweier Substantive, nämlich quât: ‘Kot’ und sprëche verstanden werden. Beide Wortbildungsmöglichkeiten scheinen im Vergleich mit anderen Komposita möglich.13 Die Handschriften bieten andere Formulierungen. Die Ambraser Handschrift setzt für das Epitheton einen Relativsatz: Chay der chot sprach, und in den Wolfenbütteler Fragmenten findet sich die Lesart keye dr quat _. Diese ist, auch mit Bezug auf den nachfolgenden Reim rehte, zu ergänzen: quat s[pehte]. speht und spehter sind im Lexer belegt, in der Bedeutung von ‘Schwätzer’, spehte allerdings nicht.14 Auch wenn damit die Handschriften nicht wie die Herausgeberkonjektur ein griffig formuliertes Beiwort zur Keie-Figur bieten, so soll hier vor allen Dingen interessieren, dass auch in den Handschriften-Varianten Keies Sprechen gemeint ist, d a s Merkmal der Figur ihr Sprechen ist.15 In der Forschung ist die Bezeichnung quâtspreche je nach Referenzrahmen interpretiert worden.16 Entweder versteht man mit Bezug auf die Textpassage in Hartmanns Erec die Formulierung quâtspreche als Bezeichnung für eine Person, die absichtlich Falsches sagt, 9 10
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In Chrétiens Erec et Enide steht Keues Handeln aus Hinterlist im Vordergrund. Siehe Erec. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, zweite Ausgabe von Moriz Haupt, Leipzig 1871, S. 386, Anmerkung zu v. 4664. Mittelhochdeutsches Handwörterbuch von Matthias Lexer, zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke – Müller – Zarncke, 3 Bde., Leipzig 1869–1872, Nachdruck Stuttgart 1979, dort Bd. 1, Sp. 1531, unter kâtsprëche. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Adjektiv quât in der Bedeutung von ‘böse, schlimm’, Bd. 2, Sp. 316, und den Eintrag zu quât, kat, stn. in der Bedeutung von ‘Kot’, ebd., Sp. 316. Ebd., Sp. 1112. Vgl. quâtt#ter im Sinne von „übel-, missetäter“, ebd., Sp. 317, und quâtwërc in der Bedeutung von „wurfmaschine, um kot u. dgl. zu werfen“, ebd. Vgl. außerdem die Bezeichnungen für Keie der arcsprechende, v. 2931, und der arcspreche Keiîn, v. 5939, im Lanzelet des Ulrich von Zatzikhoven, Textausgabe: Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet. Eine Erzählung, hg. von Karl A. Hahn, mit einem Nachwort und einer Bibliographie von Frederick Norman, Frankfurt a.M. 1845, Nachdruck Berlin 1965. Siehe in der Textausgabe des Erec (wie Anm. 3) den Kommentar von Kurt Gärtner zu v. 4664. Dies gilt für die Keie-Figur im Artusroman Chrétiens und Hartmanns; bei Eilhart von Oberge ist Keie in der Szene mit Tristan und dem Artushof vor allen Dingen als Intrigant gezeichnet. Vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Andreas Daiber, Bekannte Helden in neuen Gewändern? Intertextuelles Erzählen im ‘Biterolf und Dietleib’ sowie am Beispiel Keies und Gaweins im ‘Lanzelet’, ‘Wigalois’ und der ‘Crone’, Frankfurt a.M. u.a. 1999, S. 118, Anm. 19.
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hinterlistig handelt; oder aber man übersetzt, wie z.B. Thomas Cramer, schon mit Blick auf den Iwein den Begriff mit „Schandmaul“17 und setzt so bei Hartmann die Kenntnis des französischen Yvain und eine auf dieser Grundlage bereits geplante Figurenkonzeption voraus.18 Die Szenen mit Keie sind prominent und in der Forschung unter dem Aspekt ihrer Funktion für die Handlung und die Erzählung,19 der Figurenkonzeption sowie der strukturellen Bedeutung behandelt worden, die sie im Roman haben. Dabei wurden die Dialoge in diesen Szenen zwar in die Analysen z.T. miteinbezogen, waren aber nicht allein Gegenstand. Gerade die Kennzeichnung der Keie-Figur durch ihre Sprache20 lädt dazu ein, Keies Redeweise, doch ebenso die Gegenrede der Hofmitglieder zu untersuchen und dabei genauer in den Blick zu nehmen, w i e in diesen Redeszenen gesprochen wird. Dabei konzentriere ich mich auf die drei Keie-Szenen in Chrétiens Yvain und Hartmanns Iwein zu Romanbeginn.
II. Analyse der Redeszenen: ironisches Sprechen II.1. Die erste Keie-Szene Chrétiens Roman Yvain21 beginnt mit der Schilderung der nachfestlichen Hofszenerie: Der König schläft, die Ritter sitzen zusammen, Calogrenant erzählt eine Geschichte; Bewegung
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Vgl. Hartmann von Aue, Erec, mittelhochdeutscher Text und Übertragung von Thomas Cramer, Frankfurt a.M. 221999, v. 4664: „Keiin das Schandmaul“. So würde der deutsche Verfasser Hartmann von Aue im Zuge des literarischen Transfers in seinen ersten Artusroman bereits Kenntnisse aus Chrétiens weiteren Artusromanen einbauen. Es läge also keine eins zu eins Werkrezeption vor. Vgl. z.B. Jürgen Haupt, Der Truchseß Keie im Artusroman. Untersuchungen zur Gesellschaftsstruktur im höfischen Roman, Berlin 1971. Siehe auch Berndt Volkmann, „Costumiers est de dire mal. Überlegungen zur Funktion des Streites und zur Rolle Keies in der Pfingstszene in Hartmanns Iwein“, in: bickelwort und wildiu m#re. Festschrift Nellmann zum 65. Geburtstag, hg. von Dorothee Lindemann, Göppingen 1995 (GAG 618), S. 95–108. Gegenüber Volkmann, der noch betont, dass die Keie-Szene bislang wenig beachtet worden sei, hat sich in den letzten Jahren die germanistische Forschung gerade dem Erzählanfang im Iwein-Roman gewidmet. Vgl. z.B. Franziska Wenzel, „Keie und Kalogrenant. Zur kommunikativen Logik höfischen Erzählens in Hartmanns Iwein“, in: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion, hg. von Beate Kellner, Ludger Lieb und Peter Strohschneider, Frankfurt a.M. 2001, S. 89–109. Vgl. zur literarischen Tradierung und Reflexion dieses Aspekts auch Thomasin von Zerklære, Der Wälsche Gast (Textausgabe: Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, hg. von Heinrich Rückert, mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann, Berlin 1965), v. 1059– 1078, insbesondere v. 1066–1070: ê was ein Key, nu ist ir mêr. / ez schînt daz Parzivâl nien lebet, / wan der her Key nâch êren strebet / mit lüge und mit unst#tekeit, / mit spotte und mit schalkeit. Textausgabe: Chrétien de Troyes, Yvain, übersetzt und eingeleitet von Ilse Nolting-Hauff, München 1962 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters 2). Abweichungen von der Übersetzung ins Deutsche werden im Folgenden kenntlich gemacht.
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kommt auf, als die Königin sich fast unbemerkt zu den Rittern setzt und Calogrenant aufspringt. An dieser Stelle wird der Erzählbericht von Keies Rede abgelöst: […] „Par De, Calogrenant! Mout vos voi or preu et saillant, Et certes mout m’est bel, que vos Estes li plus cortois de nos […]“. (v. 71–74) […] „Bei Gott, Calogrenant, ich sehe Euch hier sehr beherzt und gelenkig, und es ist mir gewißlich sehr lieb, daß Ihr der höfischste von uns allen seid. […]“
Diese Gesprächseröffnung könnte so zitiert durchaus als Kompliment an Calogrenant verstanden werden. Aber der Erzähler stellt der Rede eine überdeutliche Sprechercharakterisierung voran, die gleich mit vier Adjektiven anzeigt, wer diese Worte sagt: 70
Et Kes, qui mout fu ranposneus, Fel et poignanz et afiteus, Li dist: (v. 69–71)
Und Keu, der sehr schmähsüchtig,22 bösartig, scharfzüngig und verletzend war, sagte zu ihm:
Neben diesem Signal für den Rezipienten, nicht allzu Freundliches aus dem Munde des Sprechers Keu zu erwarten, lässt auch der Nachsatz in der Rede Keues die Ironie der lobenden Worte für die Zuhörer der Hofgesellschaft unmissverständlich werden:23 75
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„[…] Et bien sai, que vos le cuidiez, Tant estes vos de san vuidiez; S’est droiz que ma dame le cuit, Que vos aiiez plus que nos tuit De corteisie et de proesce. Ja le leissames por peresce, Espoir, que nos ne nos levames, Ou por ce, que nos ne deignames! Par ma foi! sire, non feïmes, Mes por ce, que nos ne veïmes Ma dame, ainz fustes vos levez.“ (v. 75–85)
„[…] Und ich weiß wohl, daß Ihr Euch eben das einbildet, so sehr seid Ihr von allen guten Geistern verlassen und es ist nur billig, daß meine Herrin auch glaubt, daß Ihr mehr höfische Sitte und Tugend habt als wir alle. Wir haben es ja aus Trägheit unterlassen aufzustehen, oder weil wir uns zu gut dazu waren! Bei meiner Treu, nein, Herr! Sondern darum, weil wir die Herrin erst gesehen haben, als Ihr schon aufgestanden wart.“ 22
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Nolting-Hauff (ebd.) übersetzt mit „zänkisch“; es sollte aber doch die negative Bedeutung der verletzend gemeinten Redeweise deutlicher betont werden. Zur Markierung von Ironie in der altfranzösischen und mittelhochdeutschen Literatur vgl. Dennis H. Green, „On Recognising Medieval Irony“, in: The Uses of Criticism, hg. von Albert P. Foulkes, Bern/Frankfurt a.M. 1976 (Literaturwissenschaftliche Texte. Theorie und Kritik 3), S. 11–55; Green zeigt in seinen Beispielanalysen, wie im Text deutliche Signale der Ironie für den Rezipienten auf verschiedenen Ebenen (Erzählerstimme, Vokabular, Kontext usw.) eingebaut werden können. Vgl. auch ders., Irony in the Medieval Romance, Cambridge 1979, dort zur zitierten Stelle S. 23 und 203.
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Die Argumentation ist raffiniert aufgebaut: Das über Calogrenants höfisches Verhalten ausgesprochene Lob wird erstens als falsche Selbsteinbildung Calogrenants entlarvt, dann in einem zweiten Schritt als mögliche Wahrnehmung durch die Königin unterstellt, aber im Weiteren als falsch erwiesen, da den vorgestellten möglichen Annahmen widersprochen wird, die zu diesem Urteil führen könnten, nämlich dem Fehlverhalten der anderen Ritter aus Trägheit oder Arroganz.24 Die unmittelbare Replik kommt von der Königin: Der erste Satz ihrer Rede folgt direkt, ohne inquit-Formel, auf die letzten Worte Keues und bildet so respondierend den zweiten Vers im Reimpaar: 85
„[…] Ma dame, ainz fustes vos l e v e z . “ „Certes, Kes! Ja fussiez c r e v e z “ (v. 85f.)
„[…] die Herrin, als Ihr schon aufgestanden wart.“ „Gewiß Keu! Ihr wäret schon geplatzt“.
Diese Technik der Reimpaarbrechung in Verbindung mit nachgestellter inquit-Formel in v. 87 lässt sich bei Chrétien immer wieder beobachten; sie fügt Redeende und Redeanfang im Paarreim zusammen, so dass auch das Reimwort stichwortgebend und stichworterwidernd wirkt.25 Der Redewechsel ist dadurch deutlich beschleunigt, das Sprechtempo erhöht. Guenièvres Antwort geht hier bei Chrétien nicht auf Keues Argumentation ein, sondern ist offene Kritik an Keues unhöfischer Redeweise. „Certes, Kes! Ja fussiez crevez“, Fet la reïne, „au mien cuidier, Se ne vos poïssiez vuidier 24
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Vgl. dazu auch die sehr detaillierte Darstellung bei Wiebke Freytag, „rehte güete als wahrscheinlich gewisse lêre: Topische Argumente für eine Schulmaxime in Hartmanns Iwein“, in: Chrétien de Troyes and the German Middle Ages. Papers from an International Symposium, hg. von Martin H. Jones und Roy Wisbey, Cambridge 1993, S. 165–217, hier S. 193f. Beispiele mit nachgestellter inquit-Formel: Königin – Keue: v. 91/93; Calogrenant – Keue: v. 123/124; Königin – Calogrenant: v. 141/142 – ohne inquit-Formel, da aus dem Kontext Sprecherbezug eindeutig; Yvain – Keue: v. 589/590; Keue – Königin: v. 611/612; Königin – Yvain: v. 629/639; demgegenüber erfolgen die Sprecherzuweisungen in Hartmanns Erec überwiegend durch vorangestellte inquit-Formel mit Sprechercharakterisierung. Siehe zur unterschiedlichen Platzierung der inquit-Formel für die Markierung der direkten Rede bei Chrétien und Hartmann auch Frank Brandsma, „Knights’ Talk: Direct Discourse in Arthurian Romance“, in: Neophilologus 82 (1998), S. 513–525, insbesondere S. 514–516 und Tabelle S. 522. Vgl. in diesem Zusammenhang zur Dialogverknüpfung auch die Untersuchung zu voran- und nachgestellter inquit-Formel im Nibelungenlied unter besonderer Berücksichtigung der Verteilung der Sprecherindizierung und ihrer Funktion: Franz Hundsnurscher, „Dialogverknüpfung im Nibelungenlied“, in: Verstehen durch Vernunft. Festschrift für Werner Hoffmann, hg. von Burkhardt Krause, Wien 1997, S. 165–176. Hundsnurscher zeigt, dass die inquit-Formel nicht nur zur Sicherung des Sprecherbezugs und Markierung der direkten Rede relevant ist, sondern gibt ein differenziertes Funktionsprofil, das für die nachgestellte inquit-Formel eine besondere Ausdrucksqualität der Emphase nachweist, S. 174f. Siehe hierzu auch ders., „Das literarisch-stilistische Potential der inquit-Formel“, in: Formen und Funktionen von Redeszenen (wie Anm. 1), S. 103–115, insbesondere S. 107, 110, 115.
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Del venin, don vos estes plains. Enuieus estes et vilains De ranposner voz conpaignons.“ (v. 86–91)
„Gewiß Keu! Ihr wäret schon geplatzt“, spricht die Königin,26 „wie ich glaube, wenn Ihr Euch nicht von dem Gift entleeren könntet, von dem Ihr voll seid. Unleidlich und ungezogen seid Ihr, Eure Gefährten zu schmähen.“
Die weiteren Kommentare zu Keues Reden bestätigen: Costumiers est de dire mal: Es ist seine Gewohnheit zu schmähen (v. 134). Calogrenant spricht aus, was am Hof alle wissen:
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„A miauz vaillant et a plus sage, Mes sire Kes! que je ne sui, Avez vos dit sovant enui; Que bien an estes costumiers. Toz jorz doit puïr li fumiers Et taons poindre et maloz bruire, Enuieus enuiier et nuire.“ (v. 112–118)
„Besseren und Klügeren als mir, Herr Keu! habt Ihr oft Gehässigkeiten gesagt; das ist nun einmal so Eure Art. Der Misthaufen muß allezeit stinken, die Bremse stechen und die Hummel brummen, der Gehässige andere ärgern und kränken.“
So durch die Aussagen der Hofgesellschaft beschrieben, braucht es im Folgenden keine weitere Sprechercharakterisierung durch den Erzähler. Mit dieser Eingangsszene in Chrétiens Yvain ist Keie als Figur des notorischen Schmähredners27 am Artushof etabliert und allgemein bekannt, nur zu offenkundig ist seine gewohnheitsmäßig unhöfische Sprechweise. Hartmann von Aue28 gestaltet die Eingangsszene und auch Keies Rede ironischer, bissiger. Auf der narrativen Ebene wird Keie durch das von ihm geschilderte Verhalten und durch die erklärenden Erzählerhinweise entlarvt. Anders als in Chrétiens Romanfassung schläft Keie nach dem Fest ein:
26
27
28
Die inquit-Formel habe ich in der Übersetzung analog zur Stellung im altfranzösischen Text platziert, d.h. anders als Nolting-Hauff in ihrer Übersetzung, die sie nach „Keu!“ setzt. Zur Figur und der Erklärung ihres Verhaltens vgl. z.B. Jacques E. Merceron, „De la ‘mauvaise humeur’ du sénéchal Keu: Chrétien de Troyes, littérature et physiologie“, in: Cahiers de Civilisation médiévale 41 (1998), S. 17–34. Merceron deutet die Figur als cholerischen Typus und damit auch das Verhalten als von Natur aus bedingt. Siehe auch Andreas Kraß, „Neidische Narren. Diskurse der Missgunst im Iwein Hartmanns von Aue und im Narrenschiff Sebastian Brants“, in: LiLi 29 (2005), S. 92–109. Kraß sieht die Figur des Keie bei Hartmann durch habituellen Neid gekennzeichnet und leitet dies argumentativ von der Formulierung der Königin in ihrem Vorwurf an Keie ab, in dem sie ihn des nîdes bezichtigt, siehe Kraß, S. 93f. Fraglich ist allerdings, ob die Semantik von mhd. nît so eindeutig auf ein ‘Psychogramm des Neiders’ verweist. Sicher nicht richtig ist der im Folgenden, S. 100, hergestellte Bezug zum Narrenschiff, Kapitel 53, über die stechenden Bienen: Die stechenden Bienen finden sich bei Sebastian Brant, aber nicht, wie behauptet, bei Chrétien und Hartmann; dort sind es die stechenden Hummeln. Textausgabe: Hartmann von Aue, Iwein, Text der siebenten Ausgabe von Georg F. Benecke, Übersetzung und Nachwort von Thomas Cramer, 4. überarbeitete Auflage, Berlin/New York 2001.
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75
Monika Unzeitig Gâwein ahte umb wâfen: Keiî leite sich slâfen ûf den sal under in: ze gemache ân êre stuont sîn sin. (v. 73–76)
Keies falsches Verhalten wird ausdrücklich betont, wenn es bei der sich anschließenden Nennung der Ritter, die bei der Erzählrunde zusammensitzen, von Keie heißt, dass er in ihrer Nähe liegt und zwar zuhtlôse (v. 90). Als dann Kalogrenant aufspringt, der Königin entgegeneilt und sich verneigt, könnte der Kontrast zum schlafenden, liegenden Keie kaum größer sein. Damit setzt die Erzählung Keie räumlich deutlich abseits von der Gruppe der anderen Ritter und betont zudem sein auffallend unhöfisches Verhalten. Umso mehr kontrastiert damit Keies Vorwurf gegenüber Kalogrenant, sich unhöfisch zu verhalten.29 Keie spricht als Vertreter der anwesenden Ritter, grenzt Kalogrenant mit einem kollektiven ‘wir’ aus der Gruppe aus und bedient sich einer sophistischen Beweisführung30 sowie der Übertreibung und auch der Unterstellung, um Kalogrenant des unsolidarischen Verhaltens zu überführen. Ginovers Gegenrede ist ausführlicher und wird ausdrücklich als A n t w o r t angekündigt: des antwurt im diu künegîn (v. 136). Die Replik setzt also weniger emphatisch unmittelbar31 als bei Chrétien ein und ist weniger empörter Verweis, d a s s Keie unangemessen spottet, als vielmehr Reflexion der Art und Weise, w i e Keies Rede funktioniert, eine Expertise über seine Art zu sprechen, sein site. Ginovers Entgegnung entlarvt Keies Redeweise als sophistisch: „der bAste ist dir der beste / und der beste der bAste“ (v. 144f.) und nimmt ihr damit den ironischen Effekt; die Rede der Königin ist allerdings ihrerseits ironisch, wenn sie sagt:
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„[…] eins dinges ich dich trœste: daz man dirz immer wol vertreit, daz kumt von dîner gewonheit, daz dûs die bœsen alle erlâst und niuwan haz ze den vrumen hâst. dîn schelten ist ein prîsen wider alle die wîsen. […]“ (v. 146–152)
Wenn Keie geglaubt hat, durch seine Argumentationsstrategie zu überzeugen, hat er sich geirrt. Die Königin hat seine Redeweise durchschaut, kennt seine Rhetorik; nur konsequent ist es, sein Prinzip der ironischen, gegenteiligen Rede bloßzustellen, seine sophistische Verdrehung von gut und bAse wiederum zu verkehren und durch diese erneute Umkehrung zur Richtigstellung zu kommen, das heißt, sein Schelten als Lob zu verstehen. Die von Keie intendierte Wirkung seiner Rede ist verpufft, wird als nur zu bekannte Methode ironisch 29
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31
Zur ironischen Autorkritik bei Hartmann von Aue vgl. Silvia Ranawake, „Zu Form und Funktion der Ironie bei Hartmann von Aue“, in: Wolfram-Studien 7 (1982), S. 75–116. „Sophistisch“ verstehe ich im pejorativen Sinn (vgl. dazu ausführlich die Darstellung bei Freytag [wie Anm. 24], S. 195–201); das Lob ist nicht nur gegenteilige Rede, sondern zugleich Täuschung über den tatsächlichen Sachverhalt und Verdrehung der Wahrheit. Vgl. zum emphatischen Ausdruckswert bei dialogischem Anschluss mit nachgestellter inquit-Formel Hundsnurscher, „Dialogverknüpfung“ (wie Anm. 25), S. 174f.
Die Kunst des ironischen Sprechens
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abgewendet. Bei Hartmann wird also der ironischen Redeweise Keies ebenso ironisch entgegnet, dabei aber nicht mit inhaltlichen Argumenten auf seine Rede eingehend, sondern durch die kluge Analyse der Königin, die sich damit in ihrer Gegenrede Keie überlegen zeigt. Nicht von ungefähr verändert Hartmann daher gegenüber Chrétien zudem die Anredeform zwischen Ginover und Keie, lässt die Königin den Truchsess duzen und ohne Titel ansprechen: „Keiî, daz ist dîn site“ (v. 137). Eine kleine Verschiebung der Sprecherpositionen, die umso auffälliger ist, als sich die Hofgesellschaft sonst ihrzt, sich mit Namen u n d vorangestelltem Titel („her“, „mîn herre“ usw.) anredet. Ginovers Duzen und ihre auf den Namen reduzierte Anrede an dieser Stelle fällt aber auch im Vergleich mit ihrer später folgenden zweiten Gegenrede auf, die sie nach Keies Spottrede gegen Iwein hält und in der sie Keie wieder ihrzt und ihn auch wieder korrekt tituliert: „Her Keîi“, sprach diu künegîn, / „iuwer zunge müez gunêret sîn“ (v. 837f.). Daher lässt sich das du in ihrer ersten Antwort als bewusst gewähltes Redemittel interpretieren, das mit ‘herablassendem’, zurechtweisendem Ton Distanz schafft und Überlegenheit gegenüber Keie demonstriert.32 In seiner Erwiderung gesteht Keie der Königin ihre Überlegenheit wohl zu:33 165
„[…] ich enpfâhe gerne, als ich sol, iuwer zuht und iuwer meisterschaft“. (v. 164f.)
Mit diesen Worten unterstellt er sich der Königin wie in einem Verhältnis von Schüler und Lehrer; dass diese Unterordnung und Anerkennung ihrer sprachlichen Stärke aufrichtig gemeint ist, darf allerdings bezweifelt werden. Denn „gerne“ nimmt er ihre kluge Antwort sicher nicht hin und er bedient sich auch in der Weiterführung der Argumente dieser Rolle des Zurechtgewiesenen, um Ginover als allzu strenge Herrin vorzuführen und bei ihr Nachsicht gegenüber seiner Person anzumahnen.34 Erstes Zwischenfazit: Während also die Eingangsszene bei Chrétien Keu als Experten in der Kunst des Beleidigens durch seine ironische Redeweise vorführt und die Figurencharak32
33 34
Zu den Anredeformen und der Semantik der Anrede im Kontext der jeweiligen Gebrauchssituation vgl. Otfrid Ehrismann, „Heroische und höfische Kommunikation“, in: Kommunikationsformen im Wandel der Zeit. Vom mittelalterlichen Heldenepos zum elektronischen Hypertext, hg. von Gerd Fritz und Andreas H. Junker, Tübingen 2000 (Beiträge zur Dialogforschung 21), S. 259–281, hier S. 264, 268 und 279, zu Hartmann S. 266. Ehrismann kann anhand seiner Dialogbeispiele aus heroischer und höfischer Dichtung zeigen, wie unterschiedlich durch die Wahl von du und ir die Relation der Gesprächspartner situativ festgelegt werden kann und dass nur eine textspezifische und kontextbezogene Analyse die semantische Akzentuierung erfasst. Zur Interpretation der Stelle vgl. auch Gustav Ehrismann, „Duzen und Ihrzen im Mittelalter“, in: Zeitschrift für Deutsche Wortforschung 5 (1903/04), S. 127–220, hier S. 140. Anders Keues kritische Reaktion bei Chrétien, vgl. v. 92–104. Hier scheint mir auch Keie auf die Konvention in der adligen Erziehung anzuspielen, dass Frauen zu schweigen haben. Vgl. dazu z.B. Trude Ehlert, „Ein vrowe sol niht sprechen vil. Körpersprache und Geschlecht in der deutschen Literatur des Hochmittelalters“, in: Chevaliers errants, demoiselles et l’Autre. Höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. Festschrift für Xenja von Ertzdorff zum 65. Geburtstag, hg. von Trude Ehlert, Göppingen 1998 (GAG 644), S. 145–171.
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tersierung durch Erzähler und Hofgesellschaft im Vordergrund steht, bietet Hartmanns Dialoggestaltung in der ersten Keie-Szene darüber hinaus bereits eine Vorstellung und Reflexion des ironischen Sprechens als Kommunikationsstils am Hof.
II.2. Die zweite Keie-Szene Dies geschieht bei Chrétien in der zweiten Keie-Szene durch Kommentierung und erwidernde Fortführung der ironischen Rede. Yvain ist Keues Ziel des Spotts, und Yvain demonstriert seine verbale Überlegenheit. Nachdem Calogrenant die schließlich fortgesetzte Erzählung über seine misslungene Aventiure beendet hat, erklärt Yvain, er als Verwandter wolle seine schmachvolle Niederlage rächen: „J’irai vostre honte v a n g i e r “ (v. 589). Diese Racheankündigung bildet das Stichwort für Keues Redeeinsatz (wieder mit Reimpaarbrechung): „Bien pert qu’il est aprés m a n g i e r “ (v. 590: ‘Man sieht, daß das Essen erst gerade vorüber ist’). Hier spricht der erfahrene Truchsess, der mit den Tischsitten vertraut ist! 590
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„Bien pert qu’il est aprés mangier,“ Fet Kes, qui teire ne se pot. „Plus a paroles an plain pot De vin, qu’an un mui de cervoise. L’an dit que chaz saous s’anvoise. Aprés mangier sanz remuër Va chascuns Noradin tu*r Et vos iroiz vangier Forré! Sont vostre panel anborré Et voz chauces de fer froiiees Et voz banieres desploiiees? Or tost, por De, mes sire Yvain! Movroiz von anuit ou demain? Feites le nos savoir, biaus sire, Quant vos iroiz a cest martire; Que nos vos voldrons convoiier. N’i avra prevost ne voiier, Qui volantiers ne vos convoit. Et je vos pri, comant qi’il soit, N’an alez pas sanz noz congiez; Et se vos anquenuit songiez Mauvés songe, si remanez!“ (v. 590–611)
„Man sieht, daß das Essen erst gerade vorüber ist“, spricht Keu, der nicht schweigen konnte, „ein Becher voller Wein faßt mehr Worte als ein Eimer Bier. Man sagt, daß Katzen im Rausch übermütig werden. Nach dem Essen geht jeder, ohne sich vom Fleck zu rühren, Noradin erschlagen, und Ihr werdet Forré rächen gehen! Sind Eure Sattelkissen gut gestopft und Eure Eisenschuhe geputzt, und flattern Eure Fahnen schon? Nur schnell, bei Gott, Herr Yvain! wann brecht Ihr auf, heute abend oder morgen? Laßt es uns wissen, lieber Herr, wann Ihr Euren Leidensweg antretet; denn wir wollen Euch das Geleit geben. Kein Vogt noch Büttel, der Euch nicht gern ein Stück Weges begleitet. Und wie dem auch sein mag, ich bitte Euch, nicht fortzureiten, ohne von uns Abschied zu nehmen; und wenn Ihr heute nacht einen schlechten Traum habt, so bleibt!“
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Eine rhetorisch kunstvoll gestaltete Rede: Die Unterstellung, mit Worten allein statt mit Taten in den Kampf zu ziehen, kontrastiert mit der mittels Fragen imaginierten Vorbereitung zum Aufbruch, dem Angebot für Geleit und Unterstützung. Perfide wird dieses evozierte Bild des ausziehenden Ritters mit dem eines von Albträumen heimgesuchten Feiglings konterkariert. Ich übergehe Ginovers heftige Kritik an Keues Rede (v. 612–629), die unmittelbar anschließt, da hier Yvains Kommentar zu Keues Verspottung interessieren soll. Yvains Antwort ist an die Königin gerichtet, dabei aber ein Sprechen über Keue: 630
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„Certes, dame! de ses ranposnes“, Fet mes sire Yvains, „ne me chaut. Tant puet et tant set et tant vaut Mes sire Kes an totes corz, Qu’il n’i iert ja muëz ne sorz. Bien set ancontre vilenie Respondre san et corteisie, Si ne fist onques autremant. Or savez vos bien, se je mant […].“ (v. 630–638)
„Gewiß, Herrin“, spricht Herr Yvain, „seine Schmähungen kümmern mich nicht. Soviel weiß, vermag und gilt Herr Keu an allen Höfen, daß er dort weder stumm noch taub werden wird. Wohl weiß er auf Gehässigkeiten verständig und höfisch zu antworten, und nie hat er anderes getan. Nun wißt Ihr wohl, ob ich lüge […]“.
Lehrbuchmäßig, so wie zum Beispiel in Quintilians Ausbildung des Redners beschrieben, ist hier die Gegenrede ironisch formuliert, wird das Gegenteil ausgedrückt von dem, was man sagen will. In Quintilians Rhetorik heißt es:35
35
M. Fabii Quintiliani, Institutionis Oratoriae Libri XII / Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. und übersetzt von Helmut Rahn, Darmstadt 1972, VIII 6,54. Der Verweis auf Quintilian soll nicht unterstellen, dass die Autoren unmittelbar auf seine Rhetorik Bezug nehmen, denn wie bekannt Quintilians Rhetorik im Mittelalter war bzw. in welchem Umfang sie bekannt war, ist unsicher. Vgl. zur Verbreitung und Kenntnis der Rhetorik Quintilians im Mittelalter: Paul Lehmann, „Die Institutio oratoria des Quintilianus im Mittelalter“, in: Philologus. Zeitschrift für das klassische Altertum 89 (1934), S. 347–383 (Lehmann berücksichtigt besonders die unterschiedliche Rezeption im französischsprachigen und deutschsprachigen Raum im Kontext der handschriftlichen Überlieferungszeugen); siehe auch Otto Seel, Quintilian oder Die Kunst des Redens und Schweigens, Stuttgart 1977, insbesondere S. 240–246; Gert Ueding und Bernd Steinbrink, Grundriss der Rhetorik, Stuttgart 1986, S. 62. Auch wenn die heute erhaltene handschriftliche Vermittlung nur eine unvollständige Kenntnis von Quintilians Rhetorik indiziert, so bezeugt die Wertschätzung und damit auch die Lektüre desselben ein Autor wie Thomasin von Zerklære, der Quintilian zu den drei besten Rhetorikern zählt, vgl. Der Wälsche Gast (wie Anm. 20), v. 8947f.: die besten wâren Tulljus / Quintiljân, Sîdônjus. Zu überlegen ist in diesem Zusammenhang auch, ob sich Chrétiens Inszenierung mündlicher Rede und ihre Ausgestaltung überhaupt notwendigerweise an der lateinischen Rhetorik orientiert oder ob Vorbild die Gesprächskultur seiner Zeit ist, wie dies Stempel vorschlägt, vgl. Wolf-Dieter Stempel, „La ‘modernité’ des débuts: la rhétorique de l’oralité chez Chrétien de Troyes“, in: Le passage à l’écrit des langues romanes, hg. von Maria Selig, Barbara Frank und Jörg Hartmann, Tübingen 1993 (ScriptOralia 46), S. 275–298, hier S. 288 und 295–297.
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Zu der Art von Allegorie aber, in der das Gegenteil ausgesprochen ist, gehört die Ironie. […] Diese erkennt man entweder am Ton, in dem sie gesprochen wird, oder an der betreffenden Person oder am Wesen der Sache; denn wenn etwas hiervon dem gesprochenen Wortlaut widerspricht, so ist es klar, daß die Rede etwas Verschiedenes besagen will. […] [In der Form der Ironie] ist es statthaft, indem man zu loben vorgibt, eine Herabsetzung und, indem man zu tadeln vorgibt, ein Lob auszudrücken.
Yvains Rede spricht Lob aus, doch gemeint ist, wie der Nachsatz an die Königin zu erkennen gibt, Tadel. Yvain imitiert damit auch Keues Verfahren, durch verstelltes Lob herabzusetzen, so wie es dieser in seiner Rede gegenüber Calogrenant getan hat. Das vergleichbare Verfahren des ironischen Sprechens in den Reden lässt zugleich den Unterschied erkennen: Yvains ironische Formulierung bezeichnet den wirklichen Sachverhalt, etwas, das wahr ist; Keues ironische Reden unterstellen etwas, das n i c h t wahr ist. Keies Reden sind, wie es bei Hartmann heißt, „valsche rede“ (Iwein, v. 2511), oder bei Chrétien „mal dire“ (Yvain, v. 621). In diesem Sinne der Verkehrung sind sie nicht nur ironisch, sondern sophistisch. Aus diesem Zusammenhang lässt sich auch Yvains weitere Ausführung verstehen: ‘Ich will nicht dem Kettenhund g l e i c h e n , der die Zähne fletscht, weil ein anderer Köter ihn anknurrt’ (v. 646–648).36 Die Sophisten werden im Mittelalter als ‘Zähne fletschende Hunde’ beschimpft.37 Zwar spricht Yvain ironisch, aber nicht sophistisch. Er distanziert sich damit von Keies Art der gegenteiligen Rede. Er unterscheidet zwischen eigenem ironischem Sprechen und Keues sophistischem Sprechen, das es n i c h t zu erwidern gilt. Diese Differenzierung, die Yvain in seiner Rede hier vornimmt, entspricht so auch der Erkenntnis, welche die Königin in Hartmanns Roman schon zu Beginn von Keies gegenteiliger Redeweise gibt. Auf Yvains Worte folgt keine Gegenrede mehr, Keue bleibt stumm. Artus hat die Aufregung unter den Rittern um das Aufstehen vor der Königin verschlafen und tritt erst in diesem Moment zur sitzenden Gesprächsrunde: Alle springen auf! Diese uneingeschränkt von allen gleichzeitig aufmerksame perfekte höfische Reaktion darf sicher als ironische Erzählerpointe zur ersten Keie-Szene gedeutet werden;38 besonders ausdrücklich missfällt Artus das Aufspringen seiner Ritter in Hartmanns Roman.39 36
37 38
„Ne vuel pas sanbler le gaignon, / Qui se hericë et regringne, / Quant autre mastins le rechingne“. In der Übersetzung wird mastins mit „Köter“ wiedergegeben; damit soll das deutsche Wort offensichtlich die häufig beleidigend und gering schätzend gemeinte Bedeutung von altfranzösisch mastin ausdrücken. Allerdings sollte man wissen, dass altfranzösisch mastin auch einen großen Kampfund Hofhund bezeichnet. Vgl. Adolf Tobler und Erhard Lommatzsch, Altfranzösisches Wörterbuch, Bd. 5, Wiesbaden 1963, Sp. 1238–1242. Hinweis bei Freytag (wie Anm. 24), S. 201, Anm. 122, mit Verweis auf den Anonymus Aurelianensis. Diese Situationsironie ist in ihrem Bezug zur ersten Keie-Szene und zur ersten Keie-Rede auch sprachlich deutlich markiert und zwar durch die Wiederaufnahme von saillir (im Yvain, v. 67f., 72 und 654) und von springen (im Iwein, v. 106 und 885). Dabei ist in Chrétiens Fassung die Ironie noch deutlicher signalisiert, da Keue Calogrenant mit Rückgriff auf sein Aufspringen vor der Königin in seinem ironischen Lob das Adjektiv saillant zuweist, im Sinne von ‘behende’. Dieses zunächst positiv zu verstehende Attribut verkehrt aber Keues ironische Kritik am Aufspringen vor den anderen ins Gegenteil. Zum Begriff der ‘Situationsironie’ siehe Dennis H. Green, „ALIENI-
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Zweites Zwischenfazit: Chrétien nutzt die zweite Keue-Szene, um vorzuführen, dass Keues Spottreden für die Hofmitglieder Anlass sind, auch ironisch zu antworten und ironisches Sprechen zu thematisieren. Auch Hartmann verfährt in dieser zweiten Szene sehr ähnlich und zeigt, wie Chrétien, Iwein in seiner Erwiderung verbal souverän, ironisch.40
II.3. Die dritte Keie-Szene Mit der dritten Keie-Szene schließt sich der Handlungsbogen. Yvain hat in der Zwischenzeit – was der Artushof aber nicht weiß – die Brunnenaventiure erfolgreich bestanden, ist Laudines Ehemann und Herrscher über das Land geworden. Als die Artusgesellschaft am Brunnen eintrifft, ergreift Keue wieder als erster das Wort und mokiert sich, dass Yvain noch nicht da sei: 2180
„Ahi! qu’est ore devenuz Yvains, quant il n’est ça venuz, Qui se vanta aprés m a n g i e r , Qu’il iroit son cosin v a n g i e r ? […]“ (v. 2179–2182)
„Ahi!41 Was ist nun aus Yvain geworden, daß er nicht mit uns hergeritten ist, obgleich er doch nach dem Essen prahlte, er würde seinen Vetter rächen? […]“
Aus Keues Mund klingt die Interjektion „Ahi“ nur spöttisch; gezielt greift er in seiner Rede eben jenes Reimpaar „mangier“ / „vangier“ (wie in v. 589f.) wieder auf und zitiert so seinen eigenen Redewechsel mit Yvain vor dem Aufbruch. Diese Stichworte sind Anlass für die weiteren Invektiven gegen den abwesenden Yvain, dem Keue Feigheit und leeres Selbstlob unterstellt: Die Feigen redeten laut von sich, aber die Tapferen schwiegen von ihren Rittertaten (v. 2183–2206). An dieser Stelle nun greift Gauvain ein; niemand wisse, was Yvain geschehen sei. Mit dem Argument, Yvain habe aus höfischem Anstand nie Schlechtes über ihn, Keu, gesagt, bringt Gauvain ihn zum Schweigen.42
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41
42
LOQUIUM. Zur Begriffsbestimmung der mittelalterlichen Ironie“, in: Verbum et Signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Studien zu Semantik und Sinntradition im Mittelalter, hg. von Hans Fromm, Wolfgang Harms und Uwe Ruberg, München 1975, Bd. 2, S. 119–159, hier S. 155–159. Vgl. Yvain, v. 649–660; Iwein, v. 879–892. Vgl. Iwein, v. 855–878. Siehe auch schon die Sprechercharakterisierung mit der inquit-Formel: Her Iwein lachet unde sprach (v. 855). In der Übersetzung lasse ich „Ahi!“ stehen, auch um den akustischen Effekt im altfranzösischen Text wiederzugeben; die Übersetzung von Nolting-Hauff mit „Ei ja!“ ist zwar ein mögliches deutsches Äquivalent einer spöttisch klingenden Interjektion, aber die vokalische Klangfolge ist in Chrétiens Text eben eine andere. Gauvain spricht dabei aber nicht ironisch, erwidert also nicht mit gleichen Mitteln Keues Spott. Es fällt auf, dass Gauvains / Gaweins Redeanteile in den Artusromanen Chrétiens und Hartmanns sowie Wolframs – soweit ich feststellen konnte – überhaupt nicht ironisch markiert sind.
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Als der Herr des Brunnens heranreitet, erbittet sich Keu das Vorrecht vom König, als Erster zu kämpfen, und wird von Yvain vom Pferd geworfen. Die Szene in ihrem Ablauf ist bekannt, sie bildet seit dem Erec-Roman ein Erzählmuster, das alle späteren Artusromane wiederaufnehmen. Mit der Niederlage im Kampf gegen den Gegner und dem Verlust des Pferdes hätte Chrétien die Figur des Keu seine Schmähworte durch seine physische Unterlegenheit entgelten lassen und so die Szene beenden können, zumindest der Romanheld Yvain begnügt sich damit.43 Chrétien lässt die verbale Schmähung Keues diesen aber auch hörbar entgelten: Et fu assez, qui dire sot: „Ahi, ahi! come or gisiez Vos, qui les autres despisiez! 2265 Et neporquant s’est il bien droiz, Qu’an le vos pardoint ceste foiz Por ce qu’ains mes ne vos avint.“ (v. 2262–2267) und mancher enthielt sich nicht zu sagen: „Ahi, ahi!44 Wie liegt Ihr nun da, der Ihr die andern verachtet! Gleichwohl ist es billig, wenn man es Euch diesmal durchgehen läßt, weil es Euch noch nie widerfahren ist.“
Die Hofgesellschaft intoniert, wie im Chor, mit einem wörtlichen und zugleich verdoppelnden Echo zu Keues Worten: „Ahi, ahi“, die ironische Rede über Keues Niederlage; natürlich wissen alle, dass es eben nicht das erste Mal ist, dass er im Kampf u n t e r l e g e n ist.45 Durch diese zwar ironische, aber zugleich (wörtlich genommen) euphemistische46 Rede ist eine ‘äußere’ Höflichkeit gewahrt; so ist der kollektive Spott nicht moralisch kritisierend, nicht ehrenrührig.47 Weder die Niederlage im Kampf noch die spöttischen Worte der Hofmitglieder sind eine ernsthafte Bestrafung. Die eigentliche Schmach und Schande erfährt Keue unmittelbar danach durch die Feststellung des wahren Sachverhaltes, als Yvain sich dem König namentlich zu erkennen gibt und damit Keues Behauptung von Yvains Feigheit auf diesen selber als Verleumdung zurückfällt.48 43
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Plus d’enui feire ne li quiert / Mes sire Yvains (v. 2258f.; Übersetzung: Eine größere Kränkung [vgl. Übersetzung Nolting-Hauff: „Denkzettel“] hat ihm Herr Yvain nicht zugedacht). Chrétien greift hier die Bezeichnung enui wieder auf, die schon Calogrenant in seiner Erwiderung gegenüber Keu zur Kennzeichnung seiner Art und seiner Rede verwendet hat: v. 90 und 114/118. Vgl. oben, Anm. 41; Nolting-Hauff übersetzt an dieser Stelle mit „Ei, ei!“. Keu ist schon in Erec et Enide gegen Erec unterlegen, und gegen Meleaganz wird er im Lancelot seine Niederlage einstecken, der sich romanintern in ein enges Zeitverhältnis zum Yvain setzt. Vgl. zu Ironie und Euphemismus auch Quintilian (wie Anm. 35), VIII,57. Anders die Funktionen des kollektiven Verspottens z.B. in der Kleinepik, vgl. Sebastian Coxon, „der werlde spot. Kollektives Höhnen und Verlachen in der Kleinepik des Strickers“, in: Die Kleinepik des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme, hg. von Emilio González und Victor Millet, Berlin 2006, S. 102–116. Yvain, v. 2279–2282: Lors s’est mes sire Yvains nomez, / S’an fu Kes de honte assomez / Et maz et morz et desconfiz, / Qu’il dist, qu’il s’an estoit foïz (Übersetzung: Da hat Herr Yvain seinen Namen genannt, und Keu war mit Schande bedeckt, schachmatt gesetzt und gedemütigt und vernichtet, weil er gesagt hatte, er habe sich davon gemacht).
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Hartmann gestaltet die Redeabschnitte in dieser Szene anders; zunächst lässt er Keie auch seine Spottrede über den abwesenden Iwein beginnen, in der er auch an die Aufbruchszene erinnert und Iwein als Worthelden imaginiert, der mit etwas mehr Alkohol im Blut auch zwölf Riesen erschlagen hätte: nû was der herre Keiî vrô daz er ze spottenne vant. er sprach „her Kâlogrenant, wa ist iuwer neve her Îwein? ez schînet noch als ez dô schein und ich w#nez immer schîne: 2460 sîn rede was nâch wîne, dô er iuch hie mit worten rach. ouwî wie er sluoc und stach! w#r im ein trinken noch getragen, er hete zwelf risen erslagen. […]“ (v. 2454–2464) 2455
Im Folgenden wird Keies Spottrede über den abwesenden Iwein zur unfreiwilligen Selbstironie, indem er sich anders als bei Chrétien nicht nur allgemein über das Verhalten der feigen und tapferen Ritter auslässt, sondern sich selbst und sein Verhalten zum Vorbild stilisiert: „[…] Ez swachet manec bœse man den biderben swâ er iemer kan: ern begât deheine vrümekheit, und ist im gar ein herzeleit swem dehein êre geschiht. 2490 nû seht, des entuon i c h niht, wan i c h einem iegelîchen man sîner êren wol gân: i c h prîs in swâ er rehte tuot, und verswîge sîn laster: daz ist guot. 2495 ez ist reht daz m i r gelinge: wan ezn sprichet vonme dinge nieman minre danne i c h . iedoch sô vürdert er sich, swâ sich der bœse selbe lobet; 2500 wand niemen vür in gerne tobet, der sîne bôsheit prîse.“ (v. 2485–2501) 2485
Keie meint sehr ernst, was er sagt; Selbstkritik oder gar Selbstironie kennt er nicht. Seine Rede wirkt aber auf die Hofgesellschaft unbeabsichtigt ironisch und scherzhaft, denn was er beschreibt, ist das Gegenteil von dem, was er ist: 2505
diu rede dûhte si gämelich, daz er sich dûhte alsô guot: wan alsô schalclîchen muot gewan nie rîter dehein. (v. 2504–2507)
Hartmann hat gegenüber Chrétiens Fassung diese Passage ergänzt. So gewinnt durch die kommentierende Reaktion der Zuhörer die ernste Redeabsicht Keies einen ironischen Effekt
270
Monika Unzeitig
und provoziert zum Lachen. Durch die analytische Gegenrede der Königin in der ersten Keie-Szene wurde die ironische Redeabsicht der Schmährede aufgehoben; hier in dieser dritten Szene nun gerät die ernste Redeabsicht (durch den Redeinhalt) zur ungewollten Ironie. Auch Hartmann schließt die dritte Keie-Szene mit einem ironischen Kommentar, den er allerdings Iwein in den Mund legt: done wolder im niht mêre tuon dehein unêre, wan daz er schimpflichen sprach, 2590 dô er in vor im ligen sach „war umbe liget ir dâ durch got? nû wârn sî doch ie iuwer spot den âne ir schulde misselanc. vielet ir sunder iuwern danc? 2595 michn triege danne mîn wân, ir habet ez g e r n e getân: ezn mohte iu anders niht geschehen. ir woldet niuwan g e r n e sehen welch vallen w#re. 2600 ez ist doch lasterb#re.“ (v. 2587–2600)
Mit Iweins Spöttelei erhält die Situation eine zusätzliche komische Leichtigkeit, die sie so bei Chrétien nicht hat. Iwein greift ein schon von Keie benutztes Ironiesignal in der Rede auf („gerne“) und insistiert mit der zweifachen Verwendung auf der ironischen Redeabsicht. Den Hofchor lässt Hartmann nicht auftreten; er begnügt sich mit dem Hinweis auf Keies Niederlage im Kampf und die hörbare Reaktion mit lasterlîchem schalle (v. 2645). Aber beide, Chrétien und Hartmann, beschließen Keies Niederlage im Verstummen verbal durch einen ironischen Kommentar.49 Dies schließt kompositorisch den Handlungsbogen und zeigt auch, dass mit dem ironischen Lob Keie zwar indirekt kritisiert, aber nicht diskreditiert wird: Der Tadel entehrt nicht, ist nicht beleidigend gemeint.
III. Ironisches Sprechen als Variante höfischer Gesprächskultur Nach der vorgestellten Dialoglektüre der drei Keie-Szenen im Artusroman an dieser Stelle ein letztes Fazit: Schon zu Romanbeginn, mit der ersten Redeeröffnung durch Keie angekündigt, erweist sich die ironische Ausformung der Gesprächssequenzen als wesentliches 49
Hartmann lässt seinen Erzähler vor Keies Kampf mit Iwein noch eine Verteidigungsrede halten, v. 2565–2574: Das Publikum solle trotz Keies übler Sprechweise nicht dessen Tapferkeit übersehen; ihm gebühre Achtung als Held, hätte man ihm sonst doch nicht das Hofamt des Truchsessen überlassen. Wie ernst dieses Plädoyer für den Protagonisten genommen werden kann, ist nicht festzustellen. Denn in der Folge schildert der Erzähler zwar positiv Keies kämpferische Leistung in der Tjost, schildert aber auch die Niederlage mit komisierendem Effekt: dâ mite wart ouch er gesant / ûz dem satel als ein sac, / daz ern weste wâ er lac (v. 2584–2586). Das Bild vom Pferdesturz wie ein Sack ist bereits im Erec verwendet, mit dem gleichen Reimpaar: sac – lac, vgl. Erec, v. 4730f.
Die Kunst des ironischen Sprechens
271
Kennzeichen der Keie-Szenen.50 Die Streit- und Konfliktsituationen sind nicht Wortgefechte mit plumpen Verbalinjurien, sondern zeichnen sich durch hohe Eloquenz aus; souverän beherrscht die adlige Hofgesellschaft den Stil des uneigentlichen Sprechens. Gleichwie Spannungen durch ironisches Sprechen provoziert werden, wird ironisches Sprechen zur Abwehr der Provokation und Deeskalation genutzt. Wird im Artusroman auf die Provokation von Außen durch kämpferische Handlung reagiert, so entspricht diesem Weg der Konfliktlösung für die interne Provokation der Kampf mit Worten.51 Ironie ist eine Strategie verbaler Gewalt und auch verbaler Gewalterwiderung zwischen den Mitgliedern am Artushof.52 Die Wortgefechte werden gleichwohl weniger inhaltlich argumentierend ausgetragen, sondern ihr Gegenstand und ihre Methode ist die Kunst des uneigentlichen Sprechens. Chrétiens und Hartmanns Gesprächsgestaltung zielt gleichermaßen darauf ab, die rhetorische Kunst des ironischen Sprechens vorzuführen. Während aber für die Rede, wie schon Quintilian betont, ein wesentliches Ironiesignal der Ton ist, in dem gesprochen wird,53 so kann die schriftliterarisch fixierte Rede im Roman diesen ironischen Ton nicht unmittelbar hörbar machen. Erst in der mündlichen Vermittlung ist dies realisierbar.54 Der Text kann aber für den Vortrag und die Rezeption Ironiesignale einbauen, damit die Redeteile ironisch artikuliert oder verstanden werden; so fungiert zum Beispiel in Chrétiens Yvain die deutliche Sprechercharakterisierung des schmähsüchtigen, bösartigen, scharfzüngigen, verletzenden Keu als Regieanweisung für den Vortragenden und als Verständnishilfe für den Rezipienten. Darüber hinaus ist für den Yvain festzustellen, dass die Rede in den Keue-Szenen 50
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Umso auffälliger ist, dass Herta Zutt, König Artus. Iwein. Der Löwe. Die Bedeutung des gesprochenen Worts in Hartmanns ‘Iwein’, Tübingen 1979 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 23), bei ihrer Analyse der Eingangsszene den Aspekt des ironischen Sprechens überhaupt nicht erwähnt, vgl. S. 32–34. Sie interpretiert die Redeszene als Diskurs über höfische Normen; dementsprechend konzentriert sich ihre Bewertung von Keies Sprechhandlung auf die Feststellung der Schmähung von Kalogrenants êre. In diesem Kontext zieht sie des Weiteren einen Vergleich zwischen Keie und König Artus, S. 35: „Im Bereich des gesprochenen Wortes ist Keii Kontrastfigur zu Artus, der vorbildlich im Umgang mit Sprache ist“. Da diese Bemerkung nicht weiter begründend ausgeführt wird, bleibt sie mir unverständlich, denn gerade in der Eingangsszene spricht König Artus nicht (er hat sich ja zurückgezogen), und auf den ganzen Roman bezogen, wäre zu prüfen, ob König Artus stets vorbildlich spricht. Vgl. dazu auch Yvains Vergleich mit der Kampftechnik zur Beschreibung seiner Taktik in Erwiderung auf Keues Schmährede: „Que cil ne fet pas la meslee, / Qui fiert la premiere colee, / Ainz la fet cil, qui se revange“ (v. 641–643; Übersetzung: nicht der siegt im Gefecht, der den ersten Schlag führt, sondern ihn vergilt). Vgl. zur Funktion der ironischen Rede in Chrétiens Perceval und Wolframs Parzival in der Blutstropfenszene auch die Dialoge zwischen Keue / Keie und Gauvain / Gawein. Anders in Homers Ilias: Der berühmte Schmähredner Thersites wird nach seinem Vortrag von Odysseus mit dem Zepter verprügelt, blutig geschlagen, bis die Tränen fließen. Vgl. Zweiter Gesang, v. 212–277, nach: Homer, Ilias, Übersetzung, Nachwort und Register von Roland Hampe, Stuttgart 2004 (RUB 249). Siehe Quintilian (wie Anm. 35), VIII,6,54 und auch IX,1,29. Vgl. zur suggestiven Wirkung der Redeszenen im mündlichen Vortrag die Ausführungen von Urscheler (wie Anm. 2) zu Wolframs Parzival, S. 71–77.
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Monika Unzeitig
durch sprachliche Mittel wie Reimpaarbrechung, Reimzitate, respondierende Interjektionen („Ahi, ahi“) auf einen komischen und ironischen Effekt hin gestaltet ist, so dass diese laut artikuliert notwendig ironisch wirkt. Der gereimte Text entfaltet mit den ihm eigenen künstlerischen Mitteln seinen ironischen Ton, unüberhörbar. Damit wird aber weit mehr als nur die ironische Figurenrede intoniert; auch die ironische Textintention wird für den Rezipienten hörbar inszeniert. Ebenso setzt Hartmann die Ironisierung zur Komik ein, aber eher durch Mittel wie die Figurenrede selbst oder durch die Verkehrung von Redeabsicht und Redewirkung. Besonders wichtig ist in Hartmanns Bearbeitung der ersten Keie-Szene Ginovers kommentierende Analyse der Keie-Rede. Sie zeigt, dass die Kunst des ironischen Sprechens nicht nur beherrscht wird, sondern dass sie auch durchschaubar und beschreibbar ist. Durch Ginover und auch durch Yvains bzw. Iweins Gegenreden wird zudem deutlich, inwiefern Keies Reden nicht nur ironische, sondern auch sophistische Reden sind und damit unhöfisch. So gegen bösartige Verkehrungen abgegrenzt, gehört das ironische Sprechen zum Kommunikationsstil am Artushof und ist höfische Gesprächskultur. Auf diese Weise lassen sich die Keie-Szenen im Yvain / Iwein auch als Instruktion über die Erscheinungsformen der Ironie lesen.
Annette Volfing
si sprach hin zim en franzoys: / ob ichz iu tiuschen sagen sol, / mir tuont ir m#re niht ze wol Zur Betonung sprachlicher Differenz in den Dialogen des mittelhochdeutschen höfischen Romans
Im mittelhochdeutschen höfischen Roman steht der allgemeine Prestigewert gewisser Fremdsprachen außer Frage. Latein, zum Beispiel, wird nicht nur mit Gelehrsamkeit verbunden, sondern auch mit Erotik,1 vor allem in den Erzählungen der Kinderminne, in welchen die Kinder sich im Lauf des Lateinunterrichts verlieben.2 Französisch bleibt aber die Primärsprache der höfischen Interaktion. Als die heidnische Königin in Flore und Blanscheflur zum ersten Mal Französisch hört, erkennt sie sofort die hövescheit, die dieser Sprache nachgesagt wird, und bittet ihre neue Gefährtin um Französischstunden, obwohl es für sie keinen dringenden pragmatischen Grund gibt, diese Sprache zu lernen: sî dûhte ir sprâche selts#ne, sô süeze und sô höveschlich 1
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Im Tristan Gottfrieds von Straßburg (hg. von Rüdiger Krohn nach dem Text von Friedrich Ranke, Stuttgart 1984 [RUB 4471–4472], v. 17361) singen die Vögel in der Minnegrotte auf Latein. Obwohl diese Aussage möglicherweise eher metaphorisch als wörtlich zu verstehen ist, unterstreicht sie sowohl die Erotik wie auch die Exklusivität dieser Sprache: Wie Vogelgesang ist Latein den meisten Menschen unverständlich. Zu den Sprachen im Tristan siehe Teil II dieses Aufsatzes. Zu sprechenden Vögeln im höfischen Roman siehe auch Wirnt von Grafenberg, Wigalois, hg. von Johannes M.N. Kapteyn, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, v. 2517f.: und einen sitich, der wol sprach / swaz er sprechen wolde; und Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel, hg. von Werner Wolf (I–II,2) und Kurt Nyholm (II,2); Albrechts Jüngerer Titurel, hg. von Kurt Nyholm (III,1–2), 5 Bde. (I; II,1; II,2; III,1; III,2), Berlin 1955–1992 (DTM 45, 55, 61, 73, 77), in welchem der Erzähler die gelehrten, aber theologisch unaufgeklärten Heiden mit Vögeln vergleicht, die zwar Deutsch sprechen, aber ohne den Sinn ihrer eigenen Aussagen zu verstehen (Str. 2604,2). Als narrative Bestätigung der Vorstellung, dass nicht nur Vögel, sondern alle Tiere ‘sprechen’, siehe das Fragment Abor und das Meerweib (Karl Bartsch, „Abor und das Meerweib“, in: Germania 5 [1860], S. 105–108), in welchem der Ritter Abor auf magische Weise lernt, die Sprache aller Tiere zu verstehen. Für die Art und Weise, wie Lateinunterricht eine Rolle in der Kinderminne spielen kann, siehe Flore und Blanscheflur. Eine Erzählung von Konrad Fleck, hg. von Emil Sommer, Quedlinburg/Leipzig 1846 (Bibl.d.ges.dt.Nat.-Lit. 12), v. 840–842. Zum Gebrauch von Ovid in den Schulen siehe Ralph Hexter, Ovid and Medieval Schooling: Studies in Medieval School Commentaries on Ovid’s ‘Ars Amatoria’, ‘Epistulae ex Ponto’, and ‘Epistulae Heroidum’, München 1986 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 38).
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Annette Volfing daz sî dicke fleiz sich daz sî ir iht vern#me, swie sî sant ir ze rede k#me. sî bat sich franzois lêren. (v. 532–537)
Auch in Mai und Beaflor gilt Französisch als besonders „kurtois“. Obwohl die Römerin Beaflor in der Lage ist, sich mit dem Griechen Mai in dessen Sprache zu unterhalten, schlägt sie sofort einen Sprachwechsel vor:
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die süeze vrowe in gerne sach. minneclîch si zuo im sprach: „getar ich iuch gevrâgen, sô lât iuchs niht betrâgen. ir dunket mich sô kurtois: herre, kunnet ir iht franzois?“ (v. 57,7–12)3
Die Konvention, die besagt, dass Französisch mit einem besonderen ästhetischen Reiz ausgestattet sei, liegt auch einer späteren Episode zugrunde, in welcher Beaflors Pflegevater dem jungen Mai anbietet, dass sie ihm irgendeine Erzählung auf Französisch vorlesen könne: 230,30
„[...] welt ir lenger hinne wesen, ich laze iu mîne tohter lesen swelch m#re ir welt in franzois. mîn tohter ist sô kurtois, und welt ir zabelen mit ir, daz kan si wol: daz habet ûf mir. [...]“ (v. 230,29–34)4
Die Kombination dieses bedingungslosen Respekts vor Latein und Französisch mit der Tatsache, dass viele mittelhochdeutsche höfische Romane eine echte oder erfundene fremdsprachliche Quelle erwähnen, erzeugt eine potentielle Spannung zwischen der Sprache – oder d e n Sprachen – der intradiegetischen Interaktion und der Sprache, in welcher die Erzählung vermittelt wird. Einige Erzähler spielen mit dieser Spannung, indem sie betonen, dass die Dialoge nicht die genauen Worte der Protagonisten wiedergeben. Das Parzival-Zitat im Titel dieses Aufsatzes, das sich auf Cundries Anschuldigungen gegen den Helden bezieht,5 wirft ein Schlaglicht nicht nur auf den Gegensatz zwischen Französisch und Arabisch, sondern auch auf den zwischen Französisch und Deutsch. Während das erste Paar
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Mai und Beaflor: Eine Erzählung aus dem dreizehnten Jahrhundert, Leipzig 1848 (Dichtungen des deutschen Mittelalters 7). Ein Herausgeber ist nicht genannt. Vgl. auch die Episode im Willehalm von Orlens (Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens, hg. von Victor Junk, Berlin 1905 [DTM 2]), in welcher betont wird, dass der Text, den der Held seiner Geliebten Amelie und den anderen Mitgliedern des englischen Hofs vorliest, da mit er sich in liebte baz (v. 3928), auf Französich verfasst war. Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 110; Bibliothek des Mittelalters 8), v. 314,20–22.
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intradiegetisch dem Gegensatz zweier Sprach- und Kulturgemeinschaften entspricht, unterstreicht das zweite die Unterschiede, die Protagonisten und Publikum trennen. Obwohl ein Autor pragmatische Gründe haben mag, durch seinen Erzähler die Verwendung der französischen Sprache unterstreichen zu lassen (z.B. um zu erklären, wie ein Gast aus dem exotischen Osten sich mit den Mitgliedern des Artushofs verständigen kann), hat diese Hervorhebung der Fremdsprache weitere literarische und narratologische Implikationen. Die Erklärung, eine Protagonistenaussage sei in Wirklichkeit kein echtes Zitat, sondern eine Übersetzung, unterstreicht die Rolle des Erzählers auf Kosten der Illusion, das Publikum habe einen unmittelbaren Zugang zur Erzählwelt. In Veldekes Eneit wird zum Beispiel betont, dass Lavine ihren Brief an Eneas auf Latein verfasst.6 Da der Text keine weiteren vergleichbaren Sprachspezifizierungen enthält, ist die Bedeutung dieses Details nicht leicht zu bewerten.7 Ist seine Funktion, uns etwas über Lavine zu erzählen – z.B., dass sie gebildet ist oder sogar, dass sie ein gewisses Potential für erotische Raffinesse besitzt? Ist es ungewöhnlich für sie, auf Latein zu schreiben, oder würde sie immer diese Sprache benutzen? Liegt der Sinn womöglich in der Verbindung von Latein mit ‘Schriftlichkeit’ im Allgemeinen8 oder mit Briefen im Besonderen?9 Veldekes Behandlung dieses Details ist auch von narratologischer Bedeutung. Im Gegensatz zum Erzähler im Roman d’Eneas, der einfach berichtet, dass die Prinzessin den Brief auf Latein schreibt,10 wendet sich Veldekes Erzähler an die Mitglieder des Publikums und bietet ihnen seine Hilfe an, indem er andeutet, dass die ‘wirklichen’ Worte der Lavine ihnen nicht zugänglich seien: Welt ir nN horen, waz si screip In sconem latine? (v. 286,22f.)
Diese Hervorhebung der Erzählerrolle distanziert den Brief nicht nur vom Publikum, sondern auch von Lavine selbst – im Gegensatz zur Darstellung in der Berliner Bilderhand6
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Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar, hg. von Hans Fromm, mit den Miniaturen der Handschrift und einem Aufsatz von Dorothea und Peter Diemer, Frankfurt a.M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 77; Bibliothek des Mittelalters 4), v. 10792f. Drei andere Briefe werden im Lauf der Erzählung erwähnt, aber ohne Angaben zur Sprache oder direkte Zitate: Lavines Mutter an Turnus (v. 125,31–126,7), Turnus an seine Verbündeten (v. 129,35–130,6), Eneas an seine Verbündeten (v. 335,38–336,8). Henning Wuth, „was, strâle und permint. Mediengeschichtliches zum Eneasroman Heinrichs von Veldeke“, in: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, hg. von Horst Wenzel, Berlin 1997 (Phil.Stud.u.Qu. 143), S. 63–76, hier S. 67. Siehe Rolf Köhn, „Latein und Volkssprache, Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Korrespondenz des lateinischen Mittelalters“, in: Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Kongressakten zum ersten Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen 1984, hg. von Joerg Fichte, Berlin 1986, S. 340–356 (besonders S. 346f.). Le Roman d’Eneas, übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer, München 1972 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 9), v. 8776–8778: Adonc leva de la fenestre / et quist tost encre et parchemin / si a escrit tot en Latin [...]. Es gibt keinen entsprechenden Liebesbrief in Vergils Aeneis.
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Annette Volfing
schrift, in welcher die Textrolle, die Lavine auf Deutsch beschriftet, sich wie eine Verlängerung ihres Körpers entfaltet.11 Theoretisch hätte man einen solchen visuellen Eindruck der Einheit von Schreiberin und Text auch mit einer lateinischsprachigen Beschriftung auf der Rolle erzielen können – obwohl die Bedeutung der Schrift dann vielleicht nicht allen Benutzern der Handschrift zugänglich gewesen wäre. Schließlich kann die erwünschte Kombination von ‘Authentizität’ (Latein) und Zugänglichkeit (Deutsch) nur durch die Einmischung des Erzählers zustande kommen. In diesem Aufsatz wird zuerst darauf eingegangen werden, wie sich Wolfram und Gottfried in Bezug auf die Fremdsprachenproblematik erzählstrategisch unterscheiden. Sodann wird mit besonderer Berücksichtigung von Albrechts Jüngerem Titurel und Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich die Frage erörtert, inwieweit das Fehlen einer unmittelbaren französischen Vorlage die Darstellung von Sprache und sprachlicher Differenz im nachklassischen deutschen Artusroman beeinflusst.
I. Im Parzival ist die sprachliche Konfiguration der Erzählwelt relativ einfach. Trotz flüchtiger Hinweise auf eine Reihe anderer Sprachen12 sind eigentlich nur zwei von Bedeutung: Französisch13 und Arabisch (heidensch).14 Die Aussparung der keltischen Sprachen ist be11
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Berliner Bilderhandschrift (Ms. germ. fol. 282), fol. 71r. Zum Bildprogramm siehe Nikolaus Henkel, „Bildtexte. Die Spruchbänder in der Berliner Handschrift von Heinrichs von Veldeke Eneasroman“, in: Poesis et pictura. Festschrift Dieter Wuttke, hg. von Stefan Füssel und Joachim Knape, Baden-Baden 1989, S. 1–47; Christoph L. Diedrichs und Carsten Morsch, „Bewegende Bilder. Zur Bilderhandschrift des Eneasromans Heinrichs von Veldeke in der Berliner Staatsbibliothek“, in: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten, hg. von Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger, Berlin 2006 (Phil.Stud.u.Qu. 195), S. 63–89. Bei der Schlacht vor Bearosche werden z.B. Bêde schottesch und walsch / [...] dâ gerüefet sunder valsch (Parzival, v. 357,7f.). Wenn Kaylet Gahmuret bestätigen will, dass alle ihn bewundern, evoziert er die sprachliche Diversität der höfischen Welt: Des jehent hie gar die zungen: / Er sî Bertûn oder Yrschman, / Od swer hie wälhisch sprâche kan, / Franzois od Brâbant [...] (v. 85,14– 17). Von diesen verschiedenen zungen mag diejenige von Brabant dem Deutschen nahekommen; laut Wolframs Willehalm, v. 126,6f. (Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen hg. von Joachim Heinzle, Tübingen 1994 [ATB 108]), sind die Einwohner von Flandern und Brabant von tiuschem lande. Da die Loherangrin-Episode am Ende des Werkes in Brabant stattfindet, darf man vermuten, dass die deutsche Sprache schließlich auch eine gewisse intradiegetische Rolle spielt, obwohl dies nie explizit gemacht wird. Zu Wolframs Umgang mit dem Französischen siehe Michael Curschmann, „The French, the Audience and the Narrator in Wolfram’s Willehalm“, in: Neophilologus 59 (1975), S. 548–562; Christian Kiening, „Umgang mit dem Fremden: Die Erfahrung des ‘französischen’ in Wolframs ‘Willehalm’“, in: Wolfram-Studien 11 (1989), S. 65–85; Eberhard Nellmann, „Produktive Mißverständnisse: Wolfram als Übersetzer Wolframs“, in: Wolfram-Studien 14 (1996), S. 134–148; Ulrich Wyss, „Herbergen ist loischiern genant. Zur Ästhetik der fremden Wörter im ‘Willehalm’“, in: Blütezeit. Festschrift für L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag, hg. von Mark Chinca, Joachim
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sonders auffällig; obwohl Wolfram zwischen Franzosen und Bretonen unterscheidet,15 findet sich kein Hinweis auf eine etwaige Begünstigung der bretonischen Sprache vonseiten des Berteneisen Artus. Französisch ist ebenfalls die Muttersprache des Waleisen Parzival, dessen Mutter ihn als „bon fiz“, „scher fiz“, „bea fiz“ anredet.16 Um die intradiegetische Hegemonie des Französischen zu etablieren, erwähnt der Erzähler nicht nur die Tatsache, dass gewisse Gespräche ursprünglich auf Französisch geführt worden seien,17 sondern bietet auch manchmal kurze Geschmacksproben der angeblichen Originalaussagen, etwa wenn der Kaplan der Königin Ampflîse sich an Gahmuret wendet: 76,10
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en franzois er in gruozte sân. „bien sei venûz, bêâs sir, mîner frouwen unde mir. daz ist rêgîn de Franze: die rüeret dîner minnen lanze.“ (v. 76,10–14)18
Heinzle und Christopher Young, Tübingen 2000, S. 363–382. Zur Darstellung von sprachlicher Diversität und Mehrsprachigkeit im Willehalm siehe Kathryn Starkey, Reading the Medieval Book. Word, Image, and Performance in Wolfram von Eschenbach’s Willehalm, Notre Dame 2004 (Poetics of Orality and Literacy), S. 23–46. Starkey bespricht auch die Art und Weise, wie Wolframs Erzähler sich als unzulänglichen Übersetzer aus dem Französischen darstellt (S. 38–41). Zu Wolframs mentaler Topographie siehe Elisabeth Schmid, „... rehten franzoiser het er gern gehabet mêr ... Zu einigen Scheidelinien auf der mentalen Landkarte von Wolframs ‘Willehalm’“, in: Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, hg. von Hartmut Kugler, Berlin/New York 1995, S. 127–142. Schmid macht darauf aufmerksam, dass Wolfram mit verschiedenen Graden vom ‘Französischsein’ operiert: Während Menschen aus Burgund und aus der Provence auch als Franzosen in einem sehr allgemeinen Sinn gelten, muss man sie von den ‘echten’ Franzosen aus der Region um Paris unterscheiden. Im Parzival sprechen alle aus dem Osten Zugereisten heidensch, ein Terminus, der, soweit man es aus Cundries astronomischem Diskurs (v. 782,5–12) ableiten kann, Arabisch bedeutet. Vgl. Paul Kunitzsch, „Die Planetennamen im ‘Parzival’“, in: Zeitschrift für deutsche Sprache 25 (1969), S. 169–174; ders., „Die Arabica im ‘Parzival’ Wolframs von Eschenbach“, in: Wolfram-Studien 2 (1974), S. 9–35, besonders S. 29; ders., „Erneut: Der Orient in Wolframs ‘Parzival’“, in: ZfdA 113 (1984), S. 79–111. Die Heiden im Willehalm benutzen hingegen viele verschiedene Sprachen und können sich nicht alle gegenseitig verstehen. Zur Vielfalt heidnischer Sprachen im Willehalm siehe Paul Kunitzsch, „Caldeis und Côati“, in: DVjs 49 (1975), S. 372–377. Z.B. Parzival, v. 429,8: ez w#r Franzeis od Bertûn. Parzival, v. 113,4 und 140,6. Vgl. Almut Suerbaum, „Siben sterne si dô nante heidensch. Language as a Marker of Difference in Wolfram’s Parzival and Adolf Muschg’s Der Rote Ritter“, in: Oxford German Studies 33 (2004), S. 37–50, hier S. 46, „Whenever we are reminded that the language of Arthur’s court and that of his friends and alliances is French, this is done not in French but in Middle High German [...]. We can only understand Cundrie through the mediation of the narrator“. Bei den französischen Floskeln, denen man in mittelhochdeutschen Texten begegnet, wird wenig acht auf die Regeln der Grammatik gegeben; Hauptsache ist, dass das deutsche Publikum die Formulierung als französisch erkennt und den Sinn versteht. In Parzival, v. 76,11, wäre bien seis venûz die korrekte Form. Ich bin Tony Hunt dankbar für seine Hilfe mit der altfranzösischen Grammatik. Vgl. auch Anm. 44.
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Obwohl die vielen Hinweise auf französische Dialoge insgesamt zu einem eindeutigen Bild kultureller Praxis beitragen, findet man mehrere Einzelfälle, in denen die nachdrückliche Betonung des Französischen merkwürdig unmotiviert und überflüssig wirkt. In welcher Sprache sollte die französische Königin sonst mit einem angevin flirten? Wenn Parzival vor dem Artushof auftritt und die Lehre des Trevrizent en franzoys [...] zin allen (v. 786,3) erklärt, gibt es eigentlich keine andere sprachliche Möglichkeit. Das Publikum gewöhnt sich schnell daran, sogar von den Heiden Französisch zu erwarten,19 und das wiederholte Beharren auf den Französischkenntnissen von Cundrie und Ekuba zerstört jegliches Überraschungsmoment.20 Die Funktion dieser vielen sprachlichen Angaben ist unterschiedlich. Bei Parzivals Rede vor dem Artushof liegt der Schlüssel möglicherweise in der Inklusivität: Da Französisch die einzige Sprache ist, die von allen, Christen wie Heiden, verstanden wird, dient die Formel en franzoys eigentlich nur als amplificatio von zin allen. Im Falle von Ampflîses Botschaft hingegen dient das doppelte Bestehen auf dem Französischen eher dazu, den glamour und die erotische Ausstrahlung der Königin zu unterstreichen.21 Die Verwendung französischer Termini innerhalb der Botschaft spiegelt die Art und Weise wider, wie auch der Erzähler sich französischer Termini bedient, nicht nur um die körperliche Schönheit gewisser Protagonisten zu unterstreichen,22 sondern auch, um sich selbst als kultivierten Menschen darzustellen.23
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Vgl. Nellmann (wie Anm. 5), S. 483: „Französisch wird als die Sprache angesehen, die auch Heiden, wenn sie gebildet sind, sprechen und verstehen“. Belakane, Cundrie, Ekuba und Feirefiz bestätigen alle diese Grundregel. Zur kulturellen Dominanz des Französischen siehe auch Heiko Hartmann, Gahmuret und Herzeloyde. Kommentar zum zweiten Buch des Parzival Wolframs von Eschenbach, Herne 2000, S. 163 (zu Parzival, v. 76,10). Ekubas Beherrschung der französischen Sprache wird im Parzival, v. 329,11–13, ausdrücklich formuliert. Was Cundrie angeht, erwähnt der Erzähler nicht nur die allgemeine Tatsache, dass sie Latein, heidensch und Französisch beherrscht (v. 312,20f.), sondern er betont auch, dass ihre zwei Reden vor dem Artushof auf Französisch formuliert sind (v. 314,20 und 779,11). Zu Ampflîse als literarischer Gestalt siehe Elke Brüggen, „Schattenspiele. Beobachtungen zur Erzählkunst in Wolframs ‘Parzival’“, in: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 171–186; Christoph März, „Anphlise und Wolfram: eine mésalliance“, in: ZfdA 121 (1992), S. 20–36. Dies gilt besonders für Condwiramurs, deren Name sich öfters mit bea curs or bea flurs reimt (v. 187,22f.: diu truoc den rehten bêâ curs. / der name ist tiuschen schœner lîp), und für den geheilten Amfortas (v. 796,5f.: swaz der Franzoys heizt flôrî, / der glast kom sînem velle bî). Um dieser Verknüpfung der französischen Sprache mit einer etwas gezierten Form von höfescheit gerecht zu werden, führt Kühn (wie Anm. 5) sogar einige Gallizismen in die neuhochdeutsche Übersetzung ein, wie etwa „Monsieur Brandelidelin“ für mîn hêr Brandelidelîn (Parzival, v. 85, 27). Starkey (wie Anm. 13), S. 39, erörtert die Tatsache, dass Dichter Französisch sowohl für soziale als auch für didaktische Zwecke verwendeten und weist auf die bekannte Stelle im Wälschen Gast Thomasins von Zirclaria hin (hg. von Heinrich Rückert, Quedlinburg 1852 [Bibl.d.ges.dt.Nat.-Lit. 30], Nachdruck Berlin 1965), in der das Vermischen von Deutsch und Französisch empfohlen wird (v. 41f.: swer strîfelt sîne tiusche wol / mit der welhsche sam er sol). Zu dieser Stelle siehe auch Nicola Zotz, „Sprache des Hofes – Sprache der Liebe. Französisch als
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Was Cundrie angeht, dient die Präzisierung, dass sie Französisch spricht, dazu, ihre Position am Rand des kulturellen und anthropologischen Spektrums zu unterstreichen. Ihr groteskes Aussehen macht aus ihr eine Außenseiterin auch unter den Heiden, die sich im Übrigen den abendländischen, ‘arturischen’ Maßstäben angepasst haben. Obwohl Cundries modische Kleider und ihre Beherrschung des Französischen auf einen Wunsch hinweisen, in die Artuswelt integriert zu werden, bleibt sie stets eine Figur am Rande dieser Welt – obwohl sie nicht mehr in den Osten gehört, kann sie nie als ‘normal’ nach westlichen Maßstäben gelten.24 Der Nachdruck, mit dem der Erzähler auf Cundries westliche Kleidung und ihre sprachlichen Fähigkeiten eingeht, macht einmal mehr deutlich, dass trotz all ihrer Anstrengungen ihre Integrationsbemühungen letztlich fruchtlos bleiben, zumindest auf der rein sozialen Ebene.25 Als Cundrie zum zweiten Mal vor dem Artushof erscheint, zeigt sie aber, dass sie trotz dieser Bemühungen ihre heidnischen Wurzeln nicht vergessen hat: Indem sie in ihrer französischen Rede arabische astronomische Termini verwendet, beweist sie nicht nur die Überlegenheit der arabischen Wissenschaften; wie Almut Suerbaum gezeigt hat, verstärkt sie dabei auch das kulturelle Band zwischen sich und Feirefiz, der auch seine „roots in a world at the margins“ hat.26 Die Bürde der genetischen Abnormalität bildet ein weiteres Band zwischen den beiden: Obwohl Feireifiz als anziehend dargestellt wird, unterscheidet ihn seine schachbrettartige Pigmentierung offensichtlich von anderen Menschen, Heiden wie auch Christen.27
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Sprache der Distanz im ‘Tristan’“, in: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg, hg. von Christoph Huber und Victor Millet, Tübingen 2002, S. 117–129, hier S. 117. Cundries absonderliches Aussehen beschreibt der Erzähler ausführlich im Parzival, v. 313,1– 314,10 und 780,15–28. Bei der Frage nach Cundries Ausgrenzung muss man aber zwischen der gesellschaftlichen und der geistigen Ebene unterscheiden. Cundrie wird zwar nie als ‘normal’ nach westlichen Maßstäben gelten, zeigt aber durch ihre affektive Teilnahme am Leiden des Amfortas und des Parzival, wie sehr sie doch in der Gralsgemeinschaft verortet ist. Katharina Mertens Fleury, Leiden lesen. Bedeutungen von compassio um 1200 und die Poetik des Mit-Leidens im ‘Parzival’ Wolframs von Eschenbach, Berlin/New York 2006 (Scrinium Friburgense 21), S. 173, argumentiert: „Cundrie führt eben auch die Überwindung von Verworfenheit und Ausgrenzung an ihrer Person vor. Spricht nämlich ihr Äußeres – das Wolfram als Kompositum tierischer Körperteile konstruiert – von Verfehlung, Fremdheit und heidnischem Anderssein, so wird dies durch den inneren Affekt des Mitleids überholt, verdeutlicht sich an ihr die Möglichkeit einer Integration des Anderen in die westliche Heilswelt und die Gralsgesellschaft“. Dorothea Böhland, „Integrative Funktion durch exotische Distanz. Zur Cundrie-Figur in Wolframs Parzival“, in: Böse Frauen – Gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Ulrike Gaebel und Erika Kartschoke, Trier 2001 (Literatur Imagination Realität 28), S. 45–58, unterstreicht die Hybridität dieser Gestalt, indem sie Cundries geographische Beweglichkeit als integrativ deutet: Cundrie verbinde die verschiedenen Domänen (Orient, Gralsgemeinschaft, Artushof), indem sie zwischen ihnen hin und her wechselt. Suerbaum (wie Anm. 17), S. 43. Feirefiz’ Französisch wird als fließend, aber doch irgendwie deplaziert dargestellt: der sprach dô höfschlîche, / en franzois, daz er kunde, / ûz heidenischem munde [...] (v. 744,26–28). Es bleibt
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Obschon die meisten Neuankömmlinge aus dem Osten danach streben, sich an die Artusrunde zu assimilieren, gibt es eine große Ausnahme: Malcreatüre, Cundries Bruder und Quasi-Doppelgänger (v. 519,21–23), der die hövescheit genauso vehement ablehnt, wie seine Schwester sich um Integration bemüht. Seine Einstellung wird auch sprachlich reflektiert, sowohl in seinem eigenen Diskurs als auch in der Art und Weise, wie Orgeluse ihn anredet. Da Gawein keine Schwierigkeiten hat, Malcreatüres Schmährede zu verstehen, darf man davon ausgehen, dass sie auf Französisch formuliert ist und dass Malcreatüre also diese Sprache beherrscht (v. 520,17–26). Durch seinen Missbrauch der französischen Sprache unterminiert Malcreatüre, der ironisch als kurtoys (v. 519,30) bezeichnet wird, die mit der Sprache verbundene Kultur von Höflichkeit und höfischem Ritual.28 Malcreatüres problematische Einstellung zum Französischen wird dadurch unterstrichen, dass Orgeluse ihm gewisse Anweisungen auf heidensch (v. 529,20) gibt, als sie ihn wegschickt. Die genauen Inhalte dieser Aufträge werden nicht expliziert, lassen sich aber aus dem Handlungsverlauf erschließen. Wie Wolfgang Mohr gezeigt hat, soll Malcreatüre folgende Botschaft an Lischoys Gwelljus übermitteln: „Beseitige zuerst den Spitzbuben Urjans und triff uns dann auf dem Turnieranger vor Schastel Marveile; dort hast du mit meinem Begleiter, der den Klepper des Knappen reitet, ein leichtes Spiel“.29 An dieser Stelle ist Orgeluses Sprachwahl sinnvoll, weil Gawein nichts von ihrem unfreundlichen Plan verstehen soll. Trotzdem überrascht die Tatsache, dass sie überhaupt fähig ist, Aufträge auf heidensch zu formulieren. In mittelhochdeutschen Erzählungen lernen aristokratische Europäer exotische Sprachen meistens nur als Folge ihrer Orientfahrten.30 Die andere Standarderklärung
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unklar, ob der Erzähler auf Mängel bei Feirefiz’ Aussprache aufmerksam macht oder ob er einfach darauf hinweist, dass Französisch nicht Feirefiz’ natürliches Medium ist. Auf jeden Fall unterstreicht diese Stelle aber, wie schwierig es ist, sprachliche und kulturelle Grenzen zu überschreiten. Es bestehen gewisse Ähnlichkeiten zwischen den jeweiligen Angriffen der beiden Geschwister auf Gawein und Parzival. Obwohl Cundries Kritik an Parzival nicht völlig unberechtigt ist, ist ihre Schärfe unangemessen, was später durch ihre tränenreiche Entschuldigung bei Artus und bei Parzival selbst bestätigt wird (v. 779,12–16). Wie ihr Bruder hat Cundrie sich deshalb der Zerstörung der höfischen Freude schuldig gemacht (v. 312,30: vil hôher freude se nider sluoc). Vgl. Böhland (wie Anm. 25), S. 54: „Cundrie schmäht Artus und beschimpft Parzival in einer Weise, die allen friedlichen Konventionen am Hofe widerspricht“; und Mertens Fleury (wie Anm. 25), S. 172, die Cundries sozialen Verstoß als Ausdruck ihrer affektiven Intensität deutet: „Ihr Ausdruck des Mitleids mit Anfortas durchbricht – wie die Klage der Gralsgesellschaft beim Anblick der Lanze – die höfischen Konventionen von zuht und mâze“. Wolfgang Mohr, „Zu den epischen Hintergründen in Wolframs ‘Parzival’“, in: Medieval German Studies Presented to Frederick Norman, London 1965, S. 174–187, hier S. 178; wieder abgedruckt in: ders., Wolfram von Eschenbach, Aufsätze, Göppingen 1979 (GAG 275), S. 138*–151*, hier S. 142*. Während Willehalm das bekannteste Beispiel für die Vertiefung des Helden in eine andere Sprachwelt bietet, soll auch daran erinnert werden, dass Herzog Ernst mehr als ein Jahr damit verbringt, die Sprache der Arimaspî zu erwerben, bei denen er sich aufhält (Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. In der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausgabe von Karl
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dafür, warum ein Europäer Arabisch gelernt hat, bezieht sich auf reine Gelehrsamkeit und Forschungseifer (veranschaulicht am Beispiel Kyots). Orgeluse wird aber weder als besonders gelehrt noch als weit gereist dargestellt. Ihr Kontakt zum Magier Clinschor mag vielleicht ansatzweise als Erklärung dafür dienen, dass der Erzähler ihr Kenntnisse zuschreibt, die, obwohl nicht unbedingt ‘schwarz’ oder verboten,31 doch sehr ungewöhnlich für eine Frau ihres Hintergrunds sind.32 Natürlich kann es für eine intrigante Frau ganz praktisch sein, eine Geheimsprache zu beherrschen, die nur der Diener, aber sonst niemand aus der höfischen Welt versteht. Dass sie sich die Mühe gegeben hat, diese Sprache zu lernen, ist aber möglicherweise auch durch andere Faktoren bedingt. Wenn man Malcreatüres aggressives Wesen mit in Betracht zieht, wird die Annahme plausibel, sie habe diese Sprache zum Teil deswegen gelernt, damit sich der Umgang mit ihm weniger problematisch gestaltet. Wie man Orgeluses Mehrsprachigkeit auch erklären mag, hat die Tatsache, dass sie zu einem Diener Arabisch spricht, der im Französischen völlig kompetent ist, ein unverkennbares Einwirken auf das Machtverhältnis zwischen den beiden, als Individuen wie als Vertreter ihrer Kulturen. Während die ‘höfischen’ Heiden alle bereit sind, sich aus Respekt vor Artus Französisch anzueignen (und möglicherweise als Ausdruck gewisser ‘Rassenkomplexe’, die laut Michael Dallapiazza einen zentralen Teil ihrer psychologischen Konstruktion bilden),33 gewinnt man den Eindruck, dass der sture Integrationsgegner Malcreatüre Orgeluse fast dazu zwingt, sich im Umgang mit ihm seinen Konditionen zu unterwerfen: Er ist bereit, das zu tun, was ihm befohlen wird – aber nur, wenn sie ihn auf die richtige Weise fragt. Indem er dem Westen seine Spra-
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Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A, hg. und übersetzt von Bernhard Sowinski, Stuttgart 1970 [RUB 8352–8357], v. 4629–4631). Mit magischen Mitteln geht das Lernen von Fremdsprachen natürlich viel schneller: Im Wigalois (wie Anm. 1), v. 329–334, muss die Königin nur einen Zaubergürtel umbinden, um jede Sprache verstehen zu können. Gerbert von Aurillac (Papst Silvester II.) bildet ein historisches Beispiel dafür, dass Arabischstudien bereits zum Ruf eines Nigromantikers führen konnten. Vgl. Hans-Henning Kortüm und Ute Lindgren, „Gerbert von Aurillac“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, München/Zürich 1989, Sp. 1300–1302. Vgl. Walthers von der Vogelweide Formulierung: bî einem zouber#re Gêrbrehte (Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, hg. von Christoph Cormeau u.a. nach der Ausgabe von Karl Lachmann, Berlin/New York 1996, 12.VII.2 [L. 33,22]). Für eine übergreifende Analyse der Figur Orgeluse siehe Martin Baisch, „Orgeluse: Aspekte ihrer Konzeption in Wolframs von Eschenbach Parzival“, in: Schwierige Frauen – Schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters, hg. von Alois M. Haas und Ingrid Kasten, Bern 1999, S. 15–33. Michael Dallapiazza, „Der Orient im Werk Wolframs von Eschenbach“, in: Deutsche Kultur und Islam am Mittelmeer: Akten der Tagung Palermo, 13.–15. November 2003, hg. von Laura Auteri und Margherita Cottone, Göppingen 2005 (GAG 725), S. 107–119, hier S. 113. Zur Frage nach dem Orientalismus (im Sinn von Edward Said, Orientalism, New York 1979) im Parzival siehe Arthur Groos, „Orientalizing the Medieval Orient. The East in Wolfram von Eschenbach’s ‘Parzival’“, in: Kulturen des Manuskriptzeitalters. Ergebnisse der Amerikanisch-Deutschen Arbeitstagung an der Georg-August-Universität Göttingen vom 17. bis 20. Oktober 2002, hg. von Arthur Groos und Hans-Jochen Schiewer unter Mitarbeit von Jochen Conzelmann, Göttingen 2004 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit 1), S. 61–86.
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che praktisch aufzwingt, gelingt es ihm (wie Cundrie in ihrem astronomischen Diskurs), der Hegemonie des Französischen und der Einseitigkeit des Integrationstriebs etwas entgegenzuhalten. Man könnte aber Orgeluses Bereitschaft, sich auf Arabisch zu äußern, auch als Zeichen von Mitleid mit Malcreatüre deuten, dessen Situation im Westen etwas unglücklich zu sein scheint. Dieser Ansatz führt logischerweise zu einem Vergleich mit der Art und Weise, wie Willehalm die heidnische Sprache benutzt, um den einsamen und nachtragenden Rennewart für sich zu gewinnen.34 Da eine Nebenfigur wie Malcreatüre nicht mit derselben psychologischen Tiefe wie Rennewart ausgestattet ist, muss dieser Vergleich natürlich vorläufig bleiben – und die Mehrsprachigkeit gewisser Protagonisten ist sowieso im Parzival nicht handlungstragend im Gegensatz zum Willehalm, wo die Überlebenschancen des Helden dadurch gesteigert werden, dass er sich für einen arabischsprechenden Heiden ausgeben kann.35 Wenn man aber diese Stelle als indirekte Anweisung versteht, Malcreatüres Position als kulturell und geographisch Vertriebenen in Betracht zu ziehen, tritt die Menschlichkeit dieser abstoßenden Gestalt plötzlich in den Vordergrund. Dieser Ansatz entspricht Wolframs Bewertung von anderen mit Makeln behafteten Gestalten (er warnt z.B. davor, Orgeluse voreilig zu verurteilen),36 und Malcreatüres asoziales Verhalten soll ebenfalls nicht unbedingt als Zeichen eines grundsätzlich bösen oder primitiven Wesens verstanden werden. Insofern dient Orgeluses Gebrauch des Arabischen gewissermaßen dazu, die in seinem französischen Namen implizierte Schmähung zu kompensieren. Im Parzival funktionieren die Sprachangaben auf zwei Ebenen. Der intradiegetische Gegensatz zwischen Französisch und Arabisch entspricht den kulturellen Konturen der Artuswelt, während der extradiegetische Gegensatz zwischen Französisch und Deutsch die Rolle des Erzählers als eines sprachlichen Vermittlers hervorhebt. Diese zwei Ebenen werden im Titelzitat prägnant auf den Punkt gebracht, in dem nicht nur Cundries Fähigkeit hervorgehoben wird, die arabisch-französische Sprachgrenze zu überschreiten, sondern auch die Rolle des Erzählers als eines Übersetzers vom Französischen ins Deutsche. Die Tatsache, dass diese beiden sprachlichen Nahtstellen sich auf verschiedenen Erzählebenen befinden, entspricht dem unterschiedlichen Status der zwei wichtigsten Informationsquellen, die dem Erzähler angeblich zu Verfügung stehen. Einerseits beteuert er seine Abhängigkeit von Kyots schriftlicher Fassung, die wiederum auf der des Flegetanis basiere,37 andererseits höre er nur auf Vrou Aventiure.38 34
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Starkey (wie Anm. 13), S. 35, betont die Tatsache, dass Willehalms Gebrauch der heidnischen Sprache hier wichtige militärische Folgen hat. Vgl. ebd., S. 33. Parzival, v. 516,3f. Z.B. ebd., v. 416,28–30: swaz er en franzoys dâ von gesprach, / bin ich niht der witze laz, / daz sage ich tiuschen fürbaz; v. 431,2: ich sage iu als Kyôt las. Ebd., v. 433,1–434,10. Für eine Neubewertung des Verhältnisses zwischen Vrou Aventiure und dem Erzähler siehe Nigel F. Palmer, „Herzeliebe, weltlich und geistlich. Zur Metaphorik vom ‘Einwohnen im Herzen’ bei Wolfram von Eschenbach, Juliana von Cornillon, Hugo von Langenstein und Gertrud von Helfta“, in: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX.
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Der intradiegetische Gegensatz zwischen Arabisch und Französisch entspricht der Verteilung dieser Sprachen zwischen Flegetanis und Kyot, die beide dieselbe Erzählwelt wie die Protagonisten bewohnen. In derselben Weise wie Cundries astronomischer Diskurs den Wert der arabischen Sprache und des arabischen Wissens auch innerhalb der französischsprechenden Artuswelt bekräftigt, bildet Flegetanis’ arabischer Traktat, trotz seiner Mangelhaftigkeit, den Ausgangspunkt für ein Verständnis des Grals. Der wirkliche Durchbruch kommt aber erst, als der Europäer Kyot sich dafür entscheidet, die heidnische Sprache zu erlernen. Indem er Orgeluses Beispiel folgt und sich mit dem sprachlich ‘Anderen’ aktiv auseinandersetzt,39 gewinnt er Zugang, wenn nicht zu ‘sich selbst’, so doch zu gewissen Einsichten, die für den christlichen Glauben und folglich für seine eigene kulturelle Identität zentral sind. Obwohl Kyot ein weiteres intradiegetisches Beispiel dafür darstellt, wie sprachliche Grenzen überschritten werden können, unterstreicht das Vrou-Aventiure-Gespräch nicht nur den grundsätzlichen Unterschied zwischen Erzählung und Erzählwelt, sondern auch die Aussparung der deutschen Sprache aus der letzteren. Vrou Aventiure konkurriert nicht mit den schriftlichen Quellen – es ist eher so, dass diese Quellen innerhalb ihres mündlichen Berichts verortet sind. Insoweit stellt die Erzählung sich nicht als die Übersetzung irgendeiner schriftlichen Fassung dar, und es ist sogar zweifelhaft, ob der Erzähler als der Übersetzer von Cundries Reden zu verstehen ist. Angesichts des Paradoxons, dass die Sprache von Vrou Aventiure nicht identisch mit der Sprache der Protagonisten ist, muss man akzeptieren, dass Cundries Worte in einem gewissen Sinn stets nur auf Deutsch existiert haben.
II. Obwohl sich Gottfrieds Tristan angeblich nur auf eine einzige (französischsprachige) Quelle bezieht, ist die sprachliche Konfiguration der Erzählwelt hier bei weitem nicht so eindeutig wie im Parzival:40 Anstatt dem Publikum einen binären Gegensatz zwischen zwei Primärsprachen zu präsentieren, ist hier eine ganze Reihe europäischer Sprachen – die dem Sprachgenie Tristan fast alle zugänglich sind – als gleichrangig anerkannt. Dazu kommt noch, dass Gottfrieds Erzähler anscheinend nur ungern präzisiert, in welcher Sprache sich die Protagonisten unterhalten. Nur einmal gibt er eindeutige Informatio-
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Anglo-German Colloquium. Oxford, 7.–11. September 2005, hg. von Burkhard Hasebrink, HansJochen Schiewer, Almut Suerbaum und Annette Volfing, Tübingen 2007, S. 315–342, hier S. 318– 322. Parzival, v. 453,11–17: Kyôt der meister wol bekant / ze Dôlet verworfen ligen vant / in heidenischer schrifte / dirre âventiure gestifte. / der karakter â b c / muoser hân gelernet ê, / ân den list von nigrômanzî. Tristan, v. 150f., führt Thômas von Britanje als der âventiure meister ein. Obwohl Thomas sein Werk auf Französisch schrieb, soll er seine Informationen angeblich aus britûnschen buochen (v. 152) gezogen haben. Gottfrieds Erzähler behauptet, er habe Thomas’ Fassung durch weitere Forschungen in beider hande buochen / walschen und latînen (v. 158f.) ergänzt.
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nen zur Sprachwahl der Figuren: Wenn Curvenal zu seinem Erstaunen Tristan in Gegenwart der zwei Isolden findet, eröffnet er den Dialog auf Französisch (v. 10716–10722). Tristan wechselt aber zum Bretonischen, der Sprache von Parmenie, um ihm zu versichern, dass alles in bester Ordnung sei. Curvenals Entscheidung zugunsten des Französischen mag durch seine allgemeine Unsicherheit in einer unerwarteten Situation bedingt sein oder durch Höflichkeit den Damen gegenüber, die trotz ihrer Gelehrsamkeit vielleicht kein Bretonisch verstanden hätten.41 Auch indirekte Schlussfolgerungen erlauben keine größere Sicherheit. So erweist sich die naheliegende Annahme, dass Marke und Tristan sich entweder auf Französisch unterhalten haben müssen (weil dies die Sprache der höfischen Welt ist) oder auf Bretonisch (weil Thomas’ französischer Text auf bretonischen Quellen basiert) in dem Moment als unhaltbar, als Marke Tristan fragt, ob er die vier Sprachen („britûnsch“, „gâlois“, „latîne“, „franzois“) auch sprechen könne, in denen er eben gesungen habe.42 Wenn dieses Gespräch in irgendeiner der genannten Sprachen stattgefunden hätte, hätte sich ein Teil dieser Frage erübrigt. Französisch wird aber insofern bevorzugt, als der Erzähler einige leicht verständliche französische Wörter in die Gespräche aufnimmt,43 manchmal in solchem Umfang, dass dabei eine makaronische Mischsprache entsteht: Marke sach Tristanden an: „vriunt“ sprach er „heizestû Tristan?“ „jâ hêrre, Tristan; dêu sal!“ „dêu sal, bêâs vassal!“ 3355 „mercî“, sprach er, „gentil rois, edeler künec curnewalois [...]“ (v. 3351–3356)44
Diese Praxis liefert aber keine Erklärung für das Rätsel der ‘Originalsprache’, da unklar bleibt, ob diese Gespräche vollständig auf Französisch stattgefunden haben sollen oder ob wir uns vorzustellen haben, dass sie in einer anderen europäischen Sprache geführt und von den Protagonisten mit einigen französischen Floskeln verziert wurden. Wenn man Französisch für die ‘Originalsprache’ hält, wird der Erzähler für die Entscheidung verantwortlich, wieviel er übersetzen soll, um sie seinem deutschen Publikum verständlich zu machen, und wieviel er in der ‘Originalsprache’ lassen soll. Wenn man aber davon ausgeht, dass die ‘Originalsprache’ eine andere ist, eröffnet sich die Möglichkeit, den Protagonisten die Ver41
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Irisch und Bretonisch sind eigenständige Sprachen, obwohl sie zu derselben Sprachfamilie gehören. Vgl. Lambertus Okken, Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg, 2. Ausgabe, Amsterdam 1996 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 57–58), S. 34f. (zur Bedeutung von Britanje) und 48 (zu Parmenie und zu Thomas’ Begriff von Tristan als ‘Bretone’). Tristan, v. 3691f. Tristan kann sich auch mit Norwaegen, Îrlandaeren, / Almânjen, Schotten unde Tenen (v. 3702f.) unterhalten. Der Erzähler bedient sich auch einiger französischer Floskeln, besonders im Kontext von Musik und Literatur, z.B. einen senelîchen leich als ê / de la cûrtoise Tispê (v. 3615f.); la dûze Îsôt, la bêle. / si sang ir pasturêle, / ir rotruwange und ir rundate, / schanzûne, refloit und folate / wol unde wol und alze wol (v. 8071–8075). „[D]êu sal“ ist sehr gekürzt: „Dieu te salve“ wäre die korrekte Form.
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antwortung für den ansatzhaften Gebrauch des Französischen zuzuschreiben, auch wenn es sich bei solcher Psychologisierung der Figuren lediglich um eine mögliche Herangehensweise an den Text handelt. Diese beiden Ansätze sind in der Forschungsliteratur bereits erörtert worden. Anna Sziraky weist auf die Vorliebe des Erzählers für die „wiederholte Übernahme der französischen Sprache im werkimmanenten Dialog“ hin und behauptet, es sei, „als liesse er die Gestalten seiner Vorlage direkt auftreten“.45 Nicola Zotz verfolgt dagegen eine psychologisierende Argumentation, indem sie angibt, die französischen Floskeln dienten als Schutzmechanismus für Protagonisten, die Distanz schaffen wollen. Ihr zufolge zeigt die Anwendung des Französischen nicht nur die Höflichkeit und Bildung dieser Figuren, sondern auch ihre „geringe emotionale Beteiligung“.46 Französische Floskeln seien deshalb besonders beliebt in Situationen, in denen die Figuren sich nicht ganz wohl fühlten: „Schon allein dadurch, daß sich die Figuren da, wo sie auch deutsch miteinander reden könnten, für die Verwendung des Französischen, also einer Fremdsprache, entscheiden, ist eine Gesprächssituation als distanziert markiert“.47 Zotz’ Deutung des Französischen als Zeichen emotionaler Distanz ist nicht nur für die frühen Szenen am Hof Markes ergebnisreich, sondern auch für das lameir-Rätsel und für den folgenden Liebesdialog. Ihre binäre Gegenüberstellung von Deutsch und Französisch lässt sich aber nicht mit ihrem psychologisierenden Ansatz zu den französischen Floskeln vereinbaren. Da Deutsch auf keinen Fall die Originalsprache der intradiegetischen Kommunikation sein kann, können es nicht die Protagonisten sein, die sich mit der Frage auseinandersetzen, ob sie Deutsch oder Französisch reden sollen. Nur der Erzähler ist in der Lage, sich zwischen Französisch und Deutsch zu entscheiden. Das Problem wird noch komplizierter angesichts eines deutlichen Wiederholungsmusters. An den makaronischen Stellen vermittelt die moderne Interpunktion eindeutig den Eindruck, dass die Protagonisten zweimal dasselbe sagen, indem sie ihre eigenen französischen Aussagen übersetzen: 3260
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„dêu sal le roi et sa mehnîe. künec und sîne massenîe die gehalte got der guote!“ (v. 3259–3261)48
Anna Sziraky, Éros Lógos Musiké: Gottfrieds ‘Tristan’ oder eine utopische renovatio der Dichtersprache und der Welt aus dem Geiste der Minne und Musik?, Bern 2003 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 38), S. 210, Anm. 378. Dies heißt nicht unbedingt, dass die Gespräche ursprünglich auf Französisch stattgefunden haben sollen, sondern nur, dass Gottfrieds Erzähler angeblich das vermittelt, was Thomas auf Französisch aufzeichnete. Zotz (wie Anm. 23), S. 122. Ebd., S. 120. Vgl. auch Tristan, v. 3140f.: „juvente bêle et la riant, / diu schoene jugent, diu lachende“; v. 3206: „nû hin!“, sprach er „allez avant!“; v. 3269–3272: „dê duin dûze âventûre / si dûze crêatûre: / got gebe süeze âventiure / sô süezer crêatiure!“
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Es ist sehr unwahrscheinlich, dass reale Gespräche solche mehrsprachigen Wiederholungen enthalten. In der Tat richten sich die innerdialogischen Übersetzungen an das textexterne Publikum und nicht an die anderen Protagonisten. In der Vortragssituation könnten die Doppelformulierungen als übersetzende Einschaltungen des Erzählers verstanden werden. Man muss also sehr vorsichtig sein, wenn man versuchen will, den Sprachwechsel in den Dialogen psychologisch zu interpretieren. Die Wiederholungen machen es daher auch schwieriger, Sziraky zu folgen und die Äußerungen der Protagonisten direkt mit ihren Entsprechungen in Thomas’ Werk zu identifizieren. Man kann zwar Zotz insoweit zustimmen, als man den französischen Stellen die rhetorische Funktion zuschreiben kann, dem Publikum Andeutungen über die inneren Zustände der Protagonisten zu geben; dies hilft aber nicht weiter, wenn man wissen möchte, ob die Gespräche ‘ursprünglich’ auf Französisch oder in einer anderen Sprache geführt wurden. Die Tatsache, dass diese Frage unbeantwortbar ist, mag sogar zur Werkkonzeption gehören: Wenn man die den ganzen Text durchziehende Bedeutung von List, Verkleidung und sprachlicher Manipulation in Betracht zieht, ist es nicht unpassend, dass Tristans ‘wirkliche’ Sprache und Äußerungen nicht fassbar bleiben sollen.
III. Unter den relativ wenigen Hinweisen auf Fremdsprachen, die sich im nachklassischen Roman finden,49 sind einige von beträchtlicher narratologischer und poetologischer Bedeutung. Der Erzähler des Jüngeren Titurel drängt sich noch auffälliger in die Diskurse der Protagonisten hinein als der Tristan-Erzähler. Dies zeigt sich besonders an einem langen Stück interdiegetischer Erzählung, wo Ekuba, wieder einmal in der Rolle der weltgewandten Vermittlerin zwischen Ost und West,50 den Artushof mit Klatsch über Secundilles viele Freier unterhält. Dabei nennt sie nicht nur einige von Feirefiz’ Geliebten beim Namen, sondern erklärt auch deren Bedeutung: Iedoch so pflak er minne der kunigin Alberosen. lip, lant, ir sinne het im verselt diu sueze ‘liljen rosen’ (alsus genant so was ir nam zedFte ze Proventz in der sprache, ob Kyot niht entriegen kan die lFte.[)] (Str. 5354) Diu ander Barbidele, der name sich glosieret ‘noch lieber dann diu sele’ (Str. 5355,1f.) 49
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In den Tristanfortsetzungen findet man einen sehr begrenzten Gebrauch des Französischen bei Begrüßungen. Vgl. Heinrich von Freiberg, Tristan, hg. von Alois Bernt, Halle a.d.S. 1906, Neudruck Tübingen 1978, v. 1199: „dêus sal, kurteis kumpân“; v. 1850 „bêamis, gentil Gâwân“; Ulrich von Türheim, Tristan, hg. von Thomas Kerth, Tübingen 1979 (ATB 89), v. 574–577: welt ir, ich sag iu waz er las: / „ei, Tristan, bêâs âmîs! / du hâst verlorn dîner triuwen prîs / an mir, ;sôt der armen“. In Wolframs Parzival ist es Ekuba, die dem Helden von der Existenz seines Bruders erzählt (v. 328,2–329,10; 747,26–28).
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‘In herzen gar beslozzen’, daz spricht endFt Clauditte, in herzen unverdrozzen minnet er die. seht, daz ist diu dritte! (Str. 5358,1f.)
Ekubas Erwähnung von Kyot, der ja viele Generationen nach ihr lebt, ist an sich bereits bemerkenswert.51 Noch auffälliger ist aber in diesem Zusammenhang ihr Gebrauch der glossierenden Wendungen zedFte oder endFt. Eigentlich dienen diese Wendungen nur dazu, eine Erklärung oder Definition einzuführen, und haben deshalb nicht unbedingt etwas mit der Übersetzung in eine andere Sprache zu tun. In der Praxis bestehen aber starke semantische Verbindungen zwischen dFte und diutsch.52 Besonders in Prologen und Epilogen wird der Ausdruck ze dFte öfter verwendet, um die Neugestaltung des Erzählstoffes auf Deutsch zu beschreiben.53 Obwohl die Alberose-Strophe diesen Ausdruck mit der Sprache Kyots verbindet, wäre es natürlich, die Clauditte-Strophe so zu lesen, als bezöge sie sich auf das Deutsche, wie etwa ‘„Clauditte“ heißt auf Deutsch ...’. Indem Ekuba diese Formel in Anspruch nimmt, scheint ihre intradiegetische Rolle als französischsprechende Erzählerin vorübergehend mit der des Wolfram-Erzählers zu verschmelzen, der die ganze Erzählung auf Deutsch vermittelt. Mein letztes Beispiel zur Mehrsprachigkeit stammt aus dem Wilhelm von Österreich,54 einem Text, der auf den ersten Blick kein großes Interesse für Fremdsprachen zeigt. Der 51
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Zu Kyots Rolle als Übersetzer bei den Interpretationen dieser Namen siehe Annette Volfing, Medieval Literacy and Textuality in Middle High German: Reading and Writing in Albrecht’s Jüngerer Titurel, New York 2007, S. 39 und 86. Zur semantischen Verbindung von ze diute mit ze diutsche siehe Heinz Thomas, „Zur Geschichte des Wortes deutsch vom Ende des 11. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts“, in: Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, hg. von Andreas Gardt, Berlin/New York 2000, S. 47–101, hier S. 57: „Die Grundbedeutung von diuten und ze diute aber lag unverkennbar in ihrem Bezug auf die Sprache und den damit zu offenbarenden Sinn, und diese Sprache stand im Gegensatz zur Sprache der Gelehrten, war Sprache des ungelehrten Volkes, war in einem engeren Sinn eine ganz bestimmte, war die deutsche Sprache: ze Latine diuten, das war kaum möglich“. Thomas zeigt auch, wie leicht sich in den Handschriften ze diute zu ze tewtsch ändert. In narrativen Zusammenhängen können Hinweise auf die deutsche Sprache auch dazu dienen, die Verständlichkeit (oder Unverständlichkeit) der vermittelten Inhalte zu betonen. Wenn der Abt in Hartmanns Gregorius sagt: „Sun, dû hâst mir vil geseit, / manec diutsch wort vür geleit, / daz mich sêre umbe dich / wundern muoz, crêde mich, / und weiz niht war zuo daz sol: / ich vern#me kriechisch als wol“ (Hartmann von Aue, Gregorius. Der gute Sünder, hg. von Friedrich Neumann, Stuttgart 1959 [RUB 1787/87a/b], v. 1625–1630), haben die Hinweise auf die Sprachen einfach die rhetorische Funktion, die Bestürzung des Abts angesichts von Gregorius’ Plänen zu unterstreichen. Es wäre fehl am Platz, diese Gegenüberstellung von Deutsch und Griechisch als auskunftstragend zu deuten, etwa in dem Sinn, dass die Klosterinsel im deutschen Sprachraum liege, und dass der Abt und Gregorius sich tatsächlich auf Deutsch unterhielten. Belege bei Carl Lofmark, The Authority of the Source in Middle High German Narrative Poetry, London 1981 (Bithell Series of Dissertations 5), S. 48–50. Siehe auch die Übersichtsdarstellung „Translatorische Terminologie im Mittelalter“, in: Hans J. Vermeer, Das Übersetzen im Mittelalter, 3 Bde., Heidelberg 1996 (Wissenschaft 4), hier Bd. 2, S. 329–340. Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich aus der Gothaer Handschrift, hg. von Ernst Regel, Berlin 1906 (DTM 3).
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Held selbst wird in einem deutschsprachigen Gebiet geboren, und obwohl er viel unterwegs ist, wird nie die Frage danach erörtert, wie sich die Österreicher mit den Heiden von Zyzya verständigen können. Es gibt auch keine – echte oder erfundene – französische Quelle, die das Prestige der französischen Sprache erhöhen würde. Der Autor-Erzähler ist aber nicht bereit, völlig auf den Topos vom Erzählen als Übersetzen zu verzichten. In den diversen Beteuerungen seiner literarischen Unzulänglichkeit betont er abwechselnd seine Schwierigkeiten, etwas mit betFte zu erzählen und etwas ze tFtschen sinnen zu bringen.55 Dadurch entsteht der Eindruck, das Übersetzen aus einer anderen Sprache bilde einen Teil der allgemeinen Herausforderung des literarischen Unterfangens. Die Quelle, die der Erzähler angeblich übersetzt oder bearbeitet, ist ein fragwürdiger Augenzeugenbericht, der auf Latein verfasst und von keinem anderen in Auftrag gegeben worden ist als vom König Agrant von Zyzya, dem Vater von Wilhelms Geliebter Aglye: 19560
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hie mit ain ende hat daz bGch. ich Hanns der schrib#r dis aventFr ahtb#r ich in latine geschriben vant. von Zyzya kFnc Agrant hiez si also beschriben. mannen und wiben die eren walten, den ichs han getFtscht, durch daz si verstan waz triwe und werdes leben si. (v. 19560–19569)
Die Unzuverlässigkeit des bösen Agrant als Zeuge ist in der Forschungsliteratur öfters besprochen und im Kontext von Johanns spielerisch-subversiver Einstellung zur Historiographie verstanden worden – handelt es sich doch um ein Werk, dessen Protagonistin zu derselben Generation wie Titurel gehört (und die also um das Jahr 500 leben sollte), das aber auch Ereignisse aus dem Dritten Kreuzzug in die Handlung einbezieht.56 Die überraschende Wahl der lateinischen Sprache für diese Chronik dient fast als Parodie des lateinischen Augenzeugenberichts am Ende der Klage,57 obwohl ja auch der Parzival mit einer wenig überzeugenden ‘Quellenfiktion’ spielt, wobei die Sprache (d.h. Französisch und nicht Provenzalisch) nur eines von vielen Rätseln bildet. Der Hinweis auf die Quelle am Schluss des Werkes rückt das Verhältnis zwischen Deutsch und Latein in den Vordergrund und lädt das Publikum dazu ein, eine frühere Episode jetzt aus einer ausgesprochen poetologischen Perspektive zu betrachten. Es handelt 55
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Vgl. Den brief si balde do Fberlas: / Daz darin geschriben was, / Daz sage ich iu mit betFte (v. 7415–7417) mit Ez was so vil daz ichs niht kan / Ze tFtschen sinnen bringen (v. 10574f.). Zu diesem idiosynkratischen Ansatz zur Historizität siehe Cora Dietl, „du bist der aventFre fruht. Fiktionalität im Wilhelm von Österreich Johanns von Würzburg“, in: Fiktionalität im Artusroman. Dritte Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft in Berlin vom 13.– 15.2.1992, hg. von Volker Mertens und Friedrich Wolfzettel, Tübingen 1993, S. 171–184, hier S. 173–175. Vgl. Die Klage, hg. von Elisabeth Lienert auf der Grundlage des Textes von Karl Bartsch, Paderborn 2000 (Schöninghs mediävistische Editionen 5), v. 4295–4319.
Zur Betonung sprachlicher Differenz in den Dialogen des höfischen Romans
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sich um die Episode, in welcher der Held, allein im Wald, einer männlichen Personifikation der aventiure begegnet;58 einem intradiegetischen Gegenstück, könnte man sagen, zu der herkömmlich weiblichen Vrou Aventiure, die man aus anderen Werken kennt und mit der sich auch der Erzähler dieses Werkes auf extradiegetischer Ebene unterhält.59 Die Grenzen zwischen Erzähler und Protagonist werden erneut absichtlich verwischt. Während die eben erwähnte Ekuba-Rede aus dem Jüngeren Titurel ein Beispiel dafür bietet, wie sich der Erzähler in den Diskurs einer Protagonistin einmischen kann, ist es im Wilhelm von Österreich umgekehrt: Hier erlebt ein Protagonist eine dialogische Begegnung, die normalerweise dem Erzähler vorbehalten ist. Der Held, erstaunt über das Aussehen dieser allegorischen Gestalt (die dem wilden Mann im Iwein nicht unähnlich ist), unterzieht sie einer gelehrten Befragung zu ihrer Natur und Konstitution. Das Thema der Sprache tritt hervor, da diese Interrogation mit vielen gelehrten lateinischen Termini angereichert ist, die der aventFr hauptman (v. 3140) in seiner Antwort ins Deutsche zurückübersetzt: die vier complexione, der du von sinnen dinen, mich vragest in latinen, 3305 die wil ich nach diner kFr mit tFtscher rede legen fFr. (v. 3302–3306)
Auf einer Ebene reflektiert dieser Dialog den Übersetzungsvorgang, auf dem das Werk als Ganzes angeblich basiert: Input auf Latein und Output auf Deutsch. Die Tatsache, dass der aventFr hauptman Latein zugunsten des Deutschen zu verwerfen scheint, vermittelt aber den Eindruck, Johann wolle diese Gestalt von der schriftlichen Quelle distanzieren – auf ähnliche Weise, wie bei Wolfram der deutsche Diskurs von Vrou Aventiure auf einer anderen Ebene stattfindet als die schriftlichen Äußerungen von Kyot und Flegetanis. Schließlich unterstreicht diese allegorische Begegnung die Irrelevanz des Lateinischen: Obwohl der aventFr hauptman behauptet, der Held habe ihn in latinen ausgefragt, ist dies nicht wirklich der Fall: Wilhelm hat, abgesehen von einigen eingestreuten lateinischen Wendungen, Deutsch gesprochen. Insofern entspricht die Oberflächlichkeit des Lateinischen in seinem Diskurs dem spielerischen Lippenbekenntnis, das der Erzähler zum Topos der ‘historischen’ lateinischen Quelle ablegt. Wie bei Wolfram dient die Personifikation der aventiure also dazu, zu unterstreichen, wie der Autor-Erzähler auf Deutsch selbstständig agieren und sich behaupten kann. Obwohl Johann die Praxis früherer Autoren aufgegeben hat, die intradiegetische Anwendung von Fremdsprachen als Zeichen für soziale Verhältnisse zu benutzen, verbleibt doch das Bedürfnis, die Sprache der Erzählung in einen hypothetischen Gegensatz
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Zur weiteren Diskussion dieser männlichen Personifikation siehe Albrecht Juergens, ‘Wilhelm von Österreich’: Johanns von Würzburg ‘Historia Poetica’ von 1314 und Aufgabenstellungen einer narrativen Fürstenlehre, Frankfurt a.M. 1990 (Mikrokosmos 21), S. 396–401. Der Erzähler wendet sich an Vrawe Aventuer in v. 889. Zu Vrou Aventiure im Parzival siehe Palmer (wie Anm. 38), und zu dieser Personifikation im Jüngeren Titurel siehe Volfing (wie Anm. 51), S. 75–96.
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Annette Volfing
zu einer anderen Sprache zu setzen – und diesen Gegensatz in der Form eines Dialogs zu formulieren. Die hier vorgestellte Reihe von Beispielen verdeutlicht, wie unterschiedlich Sprachgrenzen im höfischen Roman lokalisiert und funktionalisiert werden. Für die Dichter wäre es natürlich die einfachste Lösung, gar nicht auf die Frage von Fremdsprachen einzugehen, sondern stillschweigend die Aussagen der in fremden Ländern wohnenden Protagonisten so weiter zu vermitteln, als wären sie auch ursprünglich auf Deutsch geäußert worden. Dass so viele Dichter zumindest teilweise auf diese Lösung verzichten, unterstreicht ihr Bewusstsein vom narratologischen und poetologischen Potential dieser Sprachgrenzen. Bei Gottfried, wie auch bei Wolfram, gilt die deutsch-französische Sprachgrenze grundsätzlich als Fiktionsgrenze, indem sie dazu dient, den Unterschied zwischen den intra- und extradiegetischen Welten hervorzuheben. Da die Erzähler in beiden Werken dennoch Geschmacksproben vom französischen Diskurs anbieten, stellt sich die Frage, ob die altfranzösischen Einsprengsel im Text die Erzählwelt vielleicht doch näher an das Publikum rücken? Wenn die Fiktionsgrenze als reine Sprachgrenze inszeniert wird, dann liegt die Welt der Fiktion doch gar nicht in grundsätzlich unerreichbarer Ferne: Insoweit, als die Mitglieder des höfischen Publikums fähig sind, auch nur ansatzweise französisch miteinander zu parlieren, könnte es ihnen naheliegen, sich selbst zu den Bewohnern der Erzählwelt zu zählen. Dennoch unterscheiden sich Wolfram und Gottfried darin, wie sie sonst die intradiegetische(n) Sprachlandschaft(en) gestalten. Wolfram legt offensichtlich Wert darauf, die Sprachangehörigkeit der Protagonisten zu präzisieren: Man weiß genau, wer französisch spricht und wer arabisch. Diese arabisch-französische Sprachgrenze wird dann instrumentalisiert, um die Begegnung zwischen Ost und West und die kulturelle Ausgrenzung gewisser Protagonisten zu thematisieren. Für das Publikum gilt die arabische Sprache prinzipiell als fremd und unverständlich, und die heidnischen Floskeln, die in Cundries astronomischem Vortrag vorkommen, machen einen ganz anderen Eindruck als die französischen Floskeln, die von Ampflîses Kaplan benutzt werden. Obwohl aber arabische Vorkenntnisse überhaupt nicht zu erwarten sind, könnte man argumentieren, dass die arabischen Worte, die Orgeluse Malcreatüre ins Ohr flüstert, schließlich auch das Publikum zu einer Übersetzungsleistung im übertragenen Sinn zwingen, wenn es – wie Mohr – rekonstruiert, was sie gesagt haben muss. Hier deutet die Sprachwahl an, dass es um ein Rätsel geht, das dem Rezipienten aufgegeben ist.60 Gottfried dagegen ist eben nicht bereit, die intradiegetischen Sprachgrenzen sehr genau festzulegen, so dass die grundsätzliche Frage danach, in welcher Sprache Tristan und Isolde ihre intimen Gespräche geführt haben, unbeantwortet bleibt. Die eigenartige Wiederholungstechnik innerhalb vieler Gespräche, in der die französischen Floskeln übersetzt werden, unterstreicht auch die Tatsache, dass es dem Erzähler nicht in erster Reihe um das Abbilden von Alltagssprache geht.
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Zu Wolframs Vorliebe für Rätsel siehe Harald Haferland, „Die Geheimnisse des Grals: Wolframs ‘Parzival’ als Lesemysterium?“, in: ZfdPh 113 (1994), S. 23–51.
Zur Betonung sprachlicher Differenz in den Dialogen des höfischen Romans
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Bei Wolfram betrifft die Frage von sprachlicher Differenz nicht nur die intradiegetischen Protagonisten, sondern auch extradiegetische Instanzen wie Flegetanis, Kyot und Vrou Aventiure, die jeweils Arabisch, Französisch und Deutsch repräsentieren. Diese Vorliebe für komplexe Hierarchien von pseudo-historischen und allegorischen Erzählerinstanzen, die zum festen Bestandteil der Wolframrezeption wird, tritt bei Albrecht und bei Johann von Würzburg deutlich hervor. Trotzdem sind die intradiegetischen Sprachgrenzen hier bei Weitem nicht so wichtig wie im Parzival. Während bei Wolfram Fremdsprachen auf allen Ebenen von Belang sind, thematisieren diese späteren Autoren Sprachen nur in Bezug auf die Erzählerrolle, d.h. im theoretisch anspruchsvollsten Zusammenhang. Sprachliche Differenz wird nicht länger in den intradiegetischen Dialogen zwischen Figuren aus verschiedenen Kulturen betont, und auch das für Wolfram und Gottfried beobachtete Prinzip der allgemeinen Übereinstimmungen von Sprachgrenze und Fiktionsgrenze ist nicht länger so markant: Wahrscheinlich, weil sie nicht direkt mit französischen Vorlagen arbeiten, legen diese Dichter weniger Wert darauf, eine Gegenüberstellung zwischen französischsprechenden Protagonisten und deutschsprechendem Publikum zu etablieren. Dementsprechend dienen die (sparsamen) Hinweise auf Fremdsprachen fast ausschließlich als spielerische Ausarbeitungen der Erzählerrolle, indem diese Instanz sich entweder (wie bei Albrecht) in die Dialoge der Protagonisten einmischt, um gewisse Namen ins Deutsche zu übersetzen, oder sich (wie bei Johann) auf einen mehrsprachigen Dialog mit der Personifikation der aventiure einlässt.*
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Ich danke Kerstin Rüther und Regula Forster für ihre vielen nützlichen Kommentare zu diesem Aufsatz.
Rita Schlusemann
Scone tael Zur Wirkmacht der Rede männlicher und weiblicher Figuren in deutschen und niederländischen Reynaert-Epen
Im späten Mittelalter ändern sich aufgrund der nahezu serienmäßigen Produktion von Handschriften und der Herstellung gedruckter Schriften die Bedingungen von Literaturentstehung grundlegend. Damit geht eine Änderung der Wahrnehmung und Rezeption einher, die sich durch die wirtschaftliche Blüte vor allem im niederländischen und deutschen Hanseraum manifestiert. Ab dem Ende des 14. Jahrhunderts wird die Wirkmacht von Worten in einem breiten öffentlichen Raum offenkundig. Vor allem die sich dynamisch entwickelnden Städte Antwerpen, Gent und Brügge werden von einer zunehmend schriftlichen Wortkultur geradezu überflutet.1 Fiktionale wie nicht-fiktionale Literatur, so erfährt man in dieser Zeit, birgt große Wirkung und Überzeugungskraft, vor allem in der akustischen Darbietung einer öffentlichen Vorführung oder Vorlesung und durch die Vervielfältigungs- und Verbreitungsmöglichkeiten der warenmäßigen Handschriftenproduktion und des Buchdrucks. Zu einem der am häufigsten reproduzierten epischen Stoffe gehören bis heute die Geschichten von dem Fuchs Reynaert. Verschiedene Reynaert-Versionen erweisen sich von Beginn an als Bestseller in der Zeit des frühen Buchdrucks, aber auch die Überlieferung von ReynaertHandschriften hält an. Im Mittelpunkt der Geschichten steht bekanntlich der Konflikt zwischen dem König als Herrscher und Richter und seinem Vasallen, dem Fuchs Reynaert. Im Tierepos stehen die Macht der Sprache und das Verhältnis von Worten und Taten im Mittelpunkt. Indem Autoren Tiere sprechen lassen, verleihen sie den vermenschlichten Tieren eine fortwährende Ambiguität, denn die Protagonisten handeln wie Menschen, bleiben aber immer als Tiere erkennbar. Sprechende Tiere können durch die Distanz zum menschlichen Dasein in der dialogischen Interaktion sehr gut die Grenzen der Wirkmacht menschlicher Sprache darlegen, aber eine Tiergeschichte kann auch besonders gut zeigen, wie Sprache gebraucht und zielgerichtet eingesetzt wird.2 Durch die Sprachfähigkeit der Tiere 1
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So Herman Pleij in seiner Literaturgeschichte zur niederländischen Literatur von 1400 bis 1560 (Herman Pleij, Het gevleugelde woord. Geschiedenis van de Nederlandse literatuur 1400–1560, Amsterdam 2007 [Geschiedenis van de Nederlandse literatuur 2], im Besonderen S. 22–53). Siehe hierzu Paul Wackers, De waarheid als leugen. Een interpretatie van Reynaerts historie, Utrecht 1986. Bereits vor mehr als 20 Jahren machte Bax auf den Nutzen der Analyse fiktionaler Dialoge für Untersuchungen zur Sprache in historischen Kommunikationssituationen aufmerksam (Marcel H. Bax, „Die lebendige Dimension toter Sprachen. Zur pragmatischen Analyse von
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Rita Schlusemann
werden die Rezipienten immer wieder an den fiktionalen Charakter der Geschichte erinnert. Im Unterschied zum Menschen sind die Tiere in ihrem Verhalten konstant und ihr Verhalten ist vorhersehbar, so dass der Rezipient die in der Figurenrede der tierischen Sprecher zum Ausdruck kommenden Intentionen und auch die verdeckten Intentionen aus einer Distanz wahrnehmen kann. Das älteste Epos der Reynaert-Tradition, die niederländische Version Van den vos Reynaerde (VdvR),3 schrieb ein Autor namens Willem zwischen 1179 und 1279 als Bearbeitung der ersten Branche des französischen Roman de Renart.4 Fragmente einer Handschrift des VdvR werden auf das Ende des 15. Jahrhunderts datiert.5 Auf dem Hoftag wird Reynaert verschiedener Verbrechen beschuldigt und zum Tode verurteilt. In einer öffentlichen Beichte beschuldigt er seine wichtigsten Gegner und auch einige Verwandte des Hochverrats, erweckt durch die
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Sprachgebrauch in historischen Kontexten“, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 11 [1983], S. 1–21; ders., „Historische Pragmatik. Eine Herausforderung für die Zukunft. Diachrone Untersuchungen zur Erklärung und Beschreibung des Sprachwandels“, in: Diachrone Semantik und Pragmatik. Untersuchungen zur Erklärung und Beschreibung des Sprachwandels, hg. von Dietrich Busse, Tübingen 1991 [Reihe germanistische Linguistik 113], S. 197–215; ders., „Ritual Levelling. The Balance between the Eristic and the Contractual Motive in Hostile Verbal Encounters in Medieval Romance and Early Modern Drama“, in: Historical Dialogue Analysis, hg. von Andreas H. Jucker, Gerd Fritz und Franz Lebsanft, Amsterdam/Philadelphia 1999 [Pragmatics & beyond NS 66], S. 38–80). Siehe auch Anne Betten, „Analyse literarischer Dialoge“, in: Handbuch der Dialoganalyse, hg. von Gerd Fritz und Franz Hundsnurscher, Tübingen 1994, S. 519–544. Jörg Kilian, Historische Dialogforschung. Eine Einführung, Tübingen 2005 (Germanistische Arbeitshefte 41), S. 32, bietet eine kurze Übersicht zur linguistischen Erforschung von Dialogen im Alt- und Mittelhochdeutschen bis 2005. Siehe als Einführung zu dem Themenkomplex in der Romanistik und Anglistik: Andreas H. Jucker, Gerd Fritz und Franz Lebsanft, „Historical Dialogue Analysis. Roots and Traditions in the Study of the Romance Languages, German and English“, in: Historical Dialogue Analysis, S. 1–34. Van den vos Reynaerde, hg. von Bart Besamusca und André Bouwman, Amsterdam 2002 (Reynaert in tweevoud 1); Of Reynaert the Fox. Text and Facing Translation of the Middle Dutch Beast Epic, hg. von André Bouwman und Bart Besamusca, übersetzt von Thea Summerfield, Amsterdam 2009. Siehe auch Van den vos Reynaerde, Deel 1: Teksten, diplomatisch uitgegeven naar de bronnen vóór het jaar 1500, hg. von Wytze Gs. Hellinga, Zwolle 1952, und Hans Rijns, De gedrukte Nederlandse Reynaerttraditie. Een diplomatische en synoptische uitgave naar de bronnen vanaf 1479 tot 1700, Hilversum 2007 (Middeleeuwse studies en bronnen 100). Hierbei handelt es sich um eine Sammlung von in „branches“ aufgeteilten Geschichten, die Pierre de St.-Cloud um 1175 verfasste. Eine deutsche Übersicht zur Reynaert-Tradition bietet das Nachwort zu Reynaerts historie. Mittelniederländisch – Neuhochdeutsch, hg. und übersetzt von Rita Schlusemann und Paul Wackers, Münster 2005 (Bibliothek mittelniederländischer Literatur 2), S. 411–414. Es handelt sich um die 1971 entdeckten Brüsseler Fragmente (Brussel, Koninklijke Bibliotheek, Hs. IV 744). Für einen Überblick der verschiedenen Textzeugen siehe Jan Goossens, Reynaerts historie – Reynke de vos. Gegenüberstellung einer Auswahl aus den niederländischen Fassungen und des niederdeutschen Textes von 1498, Darmstadt 1983 (Texte zur Forschung 42). Die lateinische Übersetzung dieses Epos, Reynardus vulpes, die bereits vor 1279 entstand, ist in einer Inkunabel aus dem 15. Jahrhundert erhalten.
Zur Wirkmacht der Rede in deutschen und niederländischen Reynaert-Epen
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Nennung eines versteckten Schatzes die Habgier des Königspaars, wird begnadigt und darf als Pilger den Hof verlassen. Als der dem Fuchs als Begleitung mitgeschickte Hase von Reynaert getötet und der Hasenkopf dem König als Botschaft präsentiert wird, kommen sein Verrat und die Schwäche des Königs ans Tageslicht. Der Fuchs flieht mit seiner Familie. Die Nachfolgedichtung, das Versepos Reynaerts historie (RH), besteht aus 7809 Versen. RH ist eines der erfolgreichsten Werke der niederländischen Literatur: Die ganze europäische Reynaert-Tradition des 15. bis 19. Jahrhunderts geht auf diesen Text zurück.6 Der Text, bei dem die Prozesshandlung verdoppelt wird,7 entstand zwischen ca. 1373 und 1470 in Flandern. Die beiden erhaltenen Textzeugen stammen wiederum aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts: Eine vollständige Handschrift wird auf etwa 1470 datiert und eine fragmentarische stammt aus dem Jahre 1475.8 Reynke de vos (RdV) schließlich entstand 1498 in Lübeck als mittelniederdeutsche Adaptation einer nicht erhaltenen niederländischen Reimvorlage.9 Diese Vorlage stand dem bruchstückhaft erhaltenen niederländischen Reimdruck von Reynaerts historie, den Gheraert Leeu zwischen 1487 und 1490 in Antwerpen druckte, sehr nahe.10 Die Reynaert-Werke werden zur Gattung der Epik gerechnet, der Anteil der direkten Rede ist sehr hoch – es gibt darüber hinaus viele Passagen indirekter Rede, die bei der folgenden Berechnung nicht mit einfließen. In VdvR liegt der Anteil direkter Rede bei 53,1%, im entsprechenden Teil von RH und RdV bei etwa 60%. Im zweiten Teil bestehen RH und RdV sogar jeweils zu etwa 90% aus wörtlicher Rede.11 Der Anteil der wörtlichen Rede verteilt sich in RH auf die Figuren mit dem höchsten Redeanteil wie folgt: Reynaert 2326 Verse, die Äffin Rukenau 852 Verse, der Wolf Ysegrim 230 Verse, der König 172 Verse, die Krähe Corbout 67 Verse, das Kaninchen Lampreel 48 Verse, der Dachs Grimbaert 40 Verse, die Wölfin Eerswijnde 33 Verse und die Königin 32 Verse. 6
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Editionen: Reynaerts historie, hg. von Paul Wackers, Amsterdam 2002 (Reynaert in tweevoud 2); siehe auch die in Anm. 4 genannte kommentierte Edition von Schlusemann und Wackers; außerdem die beiden synoptischen Editionen von Hellinga und jetzt von Rijns (beide wie Anm. 3). Der erste Teil folgt im Großen und Ganzen Van den vos Reynaerde, jedoch bleibt der Fuchs mit seiner Familie in seinem Bau Mauperthuus. Eine zweite sich anschließende Prozesshandlung besteht vor allem aus vielen Reden und Gegenreden. Letztendlich entscheidet ein Zweikampf zwischen Fuchs und Wolf, den der Fuchs aufgrund der guten Ratschläge der Äffin für sich entscheiden kann, woraufhin ihn der König zum Geheimen Rat und Reichverweser ernennt. Siehe die Übersicht bei Goossens (wie Anm. 5), S. XII. Textausgabe bei Goossens (ebd.). Eine Faksimileausgabe bietet: Reinke de vos, Lübeck 1498. Nachdruck des einzigen vollständig erhaltenen Exemplars in der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel (32.14 Poet.), mit einem Nachwort von Timothy Sodmann, Hamburg 1976. Eine Übersicht der Tradition bei Goossens (wie Anm. 5). Darüber hinaus erschien bereits 1479 in Gouda eine ebenfalls von Gheraert Leeu gedruckte Prosainkunabel. 1481 druckte William Caxton eine englische, nahezu wortgetreue Übersetzung der niederländischen Inkunabel und 1489 einen Nachdruck (dazu im Einzelnen Rita Schlusemann, Die hystorie van reynaert die vos und The History of Reynard the fox. Die spätmittelalterlichen Prosabearbeitungen des Reynaert-Stoffes, Frankfurt a.M. [u.a.] 1991 [Europäische Hochschulschriften, Reihe 1 1248]). Auf 4328 Verse entfallen in RH 3866 Verse auf direkte Rede.
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Rita Schlusemann
Die Sprache spielt in der Reynaert-Epik eine herausragende Rolle, vor allem im Hinblick darauf, dass hier Tiere sprechen. Die Diskrepanz zwischen Worten und Taten sei ein hervorstechendes Merkmal der Epen, so Paul Wackers.12 Worte würden verwendet, um unerwünschtes Verhalten zu verbergen oder das Verhalten des anderen zum eigenen Vorteil zu manipulieren. Worte und vor allem auch Lügen dominieren die Realität in VdvR und in RH, wobei der ‘Unwahrheitsgehalt’ der Lügen in RH im Unterschied zu VdvR nicht mehr ermittelbar ist. Die Lügen in RH werden autonom und bestimmen die Erzählwirklichkeit.13 Während in VdvR das Verhältnis zwischen Gier und Lügen das zentrale Thema ist, möchte der Autor von RH den Einfluss von Lügen in der Gesellschaft zeigen sowie das Ausmaß der Manipulation der Realität durch Lügen und Lügner.14 In der Reynaert-Epik wird die Bedeutung der kommunikativen Funktion von Sprache auch ganz allgemein thematisiert. Sprechende Tiere können dadurch, dass sie Sprachmittel einsetzen, die ihnen von Natur aus fremd sind, besonders anschaulich zeigen, wie Sprache von männlichen und weiblichen Figuren in Dialogen als Machtinstrument gebraucht werden kann. Mit seinen Worten, die eine Realität schaffen, gelingt es dem Fuchs, seine Opponenten aufgrund ihrer eigenen Habgier zu überreden und zu manipulieren.15 Seine persuasiven Sprechakte glücken in den meisten Fällen. Zu den Dialogpartnern des Fuchses gehören nicht nur die Boten (der Bär Bruun, der Kater Tibaert und der Dachs Grimbaert), sein wichtigster Gegner (der Wolf) und der König, sondern auch die Königin, die Wölfin und nicht zuletzt Reynaerts Ehefrau. In den verschiedenen Reynaert-Epen spielen außer den sprachlichen Äußerungen des Fuchses Reynaert die Äußerungen der weiblichen Tiere eine äußerst wichtige Rolle, die in der bisherigen Forschung vernachlässigt wurde.16 Verschiedene weibliche Tiere treten an entscheidenden Stellen in der Reynaert-Epik auf. Im Laufe der Textgeschichte erhöht sich die Bedeutung weiblicher Figuren quantitativ und qualitativ. Im Unterschied zu VdvR tritt z.B. in RH als neue Figur die Äffin Rukenau mit einer beinahe 500 Verse langen Rede rettend intervenierend auf, die Reynaerts Moment der Sprachlosigkeit – 12
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Paul Wackers, „Words and Deeds in the Middle Dutch Reynaert Stories“, in: Medieval Dutch Literature in its European Context, hg. von Erik Kooper, Cambridge 1994 (Cambridge Studies in Medieval Literature 21), S. 131–147. Den intertextuellen Verweisen in VdvR geht André Bouwman nach, „Taaldaden. Over intertekstualiteit in Van den vos Reynaerde“, in: Op avontuur. Middeleeuwse epiek in de Lage Landen, hg. von Jozef D. Janssens u.a., Amsterdam 1998 (Nederlandse literatuur en cultuur in de Middeleeuwen 18), S. 125–144. Wackers (wie Anm. 12), S. 142. Ebd., S. 144. Siehe auch den Abschnitt „Verbale geweld“ im Nachwort zu Reynaerts historie, Ausgabe Wackers (wie Anm. 6), S. 338–340, und in Reynaerts historie, Ausgabe Schlusemann und Wackers (wie Anm. 4), S. 426–428. Der Blick richtet sich hier vor allem auf die Manipulation der Wirklichkeit durch den Fuchs Reynaert. Wackers (wie Anm. 12), S. 144. Eine Ausnahme bildet die Rhetorik der Äffin Rukenau in ihrer Rede. Siehe hierzu Wackers (wie Anm. 12), S. 140f., der die Funktion ihrer Rede beschreibt, die auf den ersten Blick einen unorganisierten Eindruck macht, jedoch durch ihre Länge und scheinbare Verworrenheit zu dem Ziel führt, dass Reynaert letztendlich als treuer Ratgeber des Königs erscheint. Ihr gelingt es, dass Reynaert wieder sprechen und somit seine Verteidigung fortsetzen kann.
Zur Wirkmacht der Rede in deutschen und niederländischen Reynaert-Epen
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den einzigen in der ganzen Reynaert-Epik – überbrückt17 und herbeiführt, dass Reynaert noch einmal die Gelegenheit bekommt, sich zu verteidigen (RH, v. 5243). Ihre rhetorische Kompetenz wurde bereits von Paul Wackers und Jan Goossens ausführlich erörtert.18 Anhand einer Auswahl vieler möglicher Situationen in den Epen soll zunächst die Persuasionskraft der Worte Reynaerts herausgearbeitet werden, d.h. im Vordergrund steht die Frage, auf welche Weise es ihm gelingt, bei seinen Dialogpartnern einen Wechsel in der Einstellung, eine Standpunktveränderung zu bewirken.19 Seine hervorragenden, in den Gesprächen zutage tretenden Redetechniken offenbaren die Mechanismen von Sprache und Gewalt,20 im Besonderen die gelingende Beeinflussungs- und Affizienzkraft von Sprache. Eine solche beeinflussende und den Hörer affizierende Sprache sei mit dem Erzähler von RH als scone tael (RH, v. 1099)21 bezeichnet. Diese den Dialogpartner in der Kommunika17
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Reynaert en weet nu wat spreken / so doorzeer wart hi vervaert. / Hem dunct, het gaet al achterwaert / ende al sijn raet en baet hem niet. / Ontfermelic staet hi ende siet. / Bleeck van verwen wart hi gedaen. / Hi en weet niet wat bestaen (Übersetzung: Reynaert weiß nun nicht, was er sagen soll, solch eine große Angst hat er. Ihm scheint, es gehe alles bergab und seine ganzen Listen nützten ihm nichts. Mitleid erregend steht er da und schaut. Er wird ganz bleich im Gesicht. Er weiß nicht, was noch helfen kann; RH, v. 4711–4717, nach Schlusemann und Wackers [wie Anm. 4]). Jan Goossens, „Die Rede der Äffin in ‘Reynaerts Historie’ und im ‘Reynke de Vos’“, in: Jan Goossens, Reynke, Reynaert und das europäische Tierepos. Gesammelte Aufsätze, Münster u.a. 1998 (Niederlande-Studien 20), S. 53–60; zuerst erschienen in: Varietäten der deutschen Sprache. Festschrift für Dieter Möhn, hg. von Jörg Hennig und Jürgen Meier, Frankfurt a.M. 1996 (Sprache in der Gesellschaft 23), S. 55–62. Joachim Knape, „Persuasion“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 874–907. Dabei geht es nicht nur darum, von der Intention des Sprechers auszugehen, sondern das Handlungsspiel von einer interaktiven Perspektive aus zu betrachten. Siehe hierzu Edda Weigand, Sprache als Dialog. Sprechakttaxonomie und kommunikative Grammatik, Tübingen 22003 (Linguistische Arbeiten 204). Joachim Knape, „Gewalt, Sprache und Rhetorik“, in: Ethik und Ästhetik der Gewalt, hg. von Julia Dietrich und Uta Müller-Koch, Paderborn 2006, S. 57–78. Mit diesem Adjektiv kombiniert tritt das Substantiv tael in der Reynaert-Epik häufiger auf: z.B. scone tale, met scoenre tael (VdvR, v. 1870, 3085); myt schoenre tael, opdat hair tael wair te scoonre, mit scoenre tael (RH, v. 3085, 4185, 7655). In einer längeren Passage in RH erläutert der Erzähler in Reynaerts Worten das Prinzip der scone tael in Lügen ausführlich: Viel ontwee enyge logen die hoor redene mocht geliken, sy lietense mede door striken, 4185 op dat hair tael wair te scoonre. Nyet dat die luegenaer waeir coenre mit verrade inder reden begyn, mer die reden wil dair in ymmer sijn ende wantse wel clede, 4190 so laet hise dair varen mede. Neve, dus moet men hier ende dair nu liegen ende dan zeggen wair, dreigen, smeken, bidden ende vloeken
Wenn [ihnen] eine Lüge einfiel, die zu ihren Worten passte, dann fügten sie sie darin ein, damit ihre Sprache um so schöner würde. Nicht dass der Lügner am Anfang seiner Worte mit der Lüge großzügig sein müsste, aber sie muss immer vom Sinn her hineinpassen, und wenn sie sich gut einfügt, dann lässt er sie mit hineingleiten. Vetter, so muss man manchmal lügen und dann wieder die Wahrheit sagen, drohen, schmeicheln, bitten und fluchen
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tionssituation umstimmende Fähigkeit besitzt ebenso die Königin, wie an der Situation, als sie ihren Mann zu einer Meinungsänderung bewegt, gezeigt werden soll. Trotz zugenommener Bedeutung in RH und auch im RdV wurden die Wölfin Ghyremod und die Füchsin Ermeline wenig beachtet. Das Beispiel der Wölfin demonstriert, wie sich sprachliche Gewalt auch gegen den Sprecher selbst richten kann. In seiner indogermanischen Wurzel bedeutet „Gewalt“ nach Jacob Grimm „kraft haben, macht haben, über etwas verfügen“.22 Im Laufe der Zeit habe sich eine Ausdehnung des Bedeutungsumfangs von potestas zu violentia entwickelt,23 so dass die Gegensätze von jus und violentia in dem Wort „Gewalt“ vereinigt worden seien. Die Verwendung des Wortes „Gewalt“ habe sich in bedeutendem Maße gesteigert. Seit dem 18. Jahrhundert habe es in der negativen Bedeutung violentia Eingang in die Rechtsprechung gefunden.24 Unter Gewalt wird in meinem Beitrag demnach sowohl die Ausübung von Macht im illegitimen Sinn (violentia) wie im legitimen Sinn (potestas) verstanden. Das semantisch-geschichtliche Feld von Kraft, Stärke und Wirkung wird hier ausdrücklich einbezogen. Man denke in diesem Zusammenhang auch an Lexeme wie „Sprachgewalt“, „gewaltig“ und niederländisch „geweldig“ in der Bedeutung ‘prächtig’. Literaturwissenschaftliche, historische und philosophische Überlegungen zum Thema Sprache und Gewalt wurden in den letzten Jahren verstärkt angestellt. Der von Steffen R. Herrmann, Sybille Krämer und Hannes Kuch herausgegebene Sammelband Verletzende Worte, Symposien wie Blutige Worte oder Gewalt in der Sprache. Rhetoriken verletzenden Sprechens,25 um nur drei Beispiele zu nennen, richten den Blick auf die Verletzungsmacht des ende ellic op sijn hooft zoeken. Die die werelt wil hantieren ende een luegen wil vysieren ende op hair scoonste dan setten voort ende so bewympelen dair mense hoort, mit doeken die hi dair om wijnt, 4200 datmense voor die wairheit mynt, die en is sijn meyster niet ontlopen. Can hise so subtilic knopen, dat hi niet en stamert in sijn tael ende dan dat hi gehoort is wael, 4205 neve, dese mach wonder maken. 4195
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und jeden an seiner schwächsten Stelle angreifen. Wer in der Welt standhalten möchte und sich eine Lüge ausdenkt, sie dann als etwas sehr Schönes präsentiert und sie so [mit darumgewickelten Tüchern] einkleidet, dass man sie, wenn man sie hört, mehr als die Wahrheit liebt, der ist seinem Meister nicht davongelaufen. Wer sie so fein verknüpfen kann, dass er nicht stottert, während er spricht, und ihm gut zugehört wird, Vetter, der kann Wunder bewirken.
Jacob Grimm, „Gewalt“, in: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 16 Bde., Leipzig 1854–1960, Bd. 6, Sp. 4910–5094, hier Sp. 4911 (benutzt wurde die Internetversion mit der URL http://germazope.uni-trier.de/Projects/DWB, 28.02.2007). Ebd., Sp. 5084, zum 16. Jahrhundert. Jochen Hofmann, „Anmerkungen zur begriffsgeschichtlichen Entwicklung des Gewaltbegriffs“, in: Aggression und Gewalt. Anthropologisch-sozialwissenschaftliche Beiträge, hg. von Alfred Schöpf, Würzburg 1985 (Studien zur Anthropologie 9), S. 259–272. Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung, hg. von Steffen R. Herrmann, Sybille Krämer und Hannes Kuch, Bielefeld 2007; Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Jut-
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Wortes, vornehmlich aus der Perspektive des Vollziehens einer Handlung. Wenn man hingegen die Wirkungsmacht von Worten in der dialogischen Interaktion unabhängig von ihrem verletzenden Charakter betrachtet, kommen vor allem solche Sprechakte zum Tragen, die den Dialogpartner beeinflussen, somit auf die Veränderung von Verhältnissen gerichtet sind. Den Ausgangspunkt der Betrachtungen bildet die Gricesche Unterscheidung zwischen dem im Sprechakt geäußerten Sagen und dem Meinen, der so genannten Implikatur. Nach Herbert P. Grice ist eine Äußerung eines Sprechers S für einen Adressaten A wahr, wenn der Sprecher eine Äußerung x tätigt mit der Absicht a) eine bestimmte Reaktion beim Adressaten zu erzeugen, b) der Adressat denkt, dass der Sprecher a) intendiert und c) der Adressat a) aufgrund von b) erfüllt.26 Somit sind nicht nur die intendierten Wirkungen auf den Hörer, sondern auch die Erwartungen des Hörers an den Sprecher thematisiert. Darüber hinaus dient Judith Butlers sprachphilosophische These, das Verhältnis von Sprache und Gewalt in Interrelationen zu denken und weniger dem Subjekt als der Sprache eine Handlungsmacht zuzusprechen, als Folie.27 Butler modifiziert John L. Austins Sprechakttheorie und setzt nicht ein sprechendes Subjekt zur Äußerung einer Handlung voraus. Vielmehr wird die Handlungsmacht der Sprache der Souveränität eines Sprechers übergeordnet.28 Für die Sprache als Machtinstrument bedeutet dies, dass sprachliche Äußerungen ein Trugbild der Souveränität, ein Selbstzerstörungspotential, in sich tragen können. Die Kraft einer Sprechhandlung wird nach Butler durch den vorherigen Sprachgebrauch in der Gesellschaft hervorgebracht. Der Sprecher sei in der Hinsicht verantwortlich, dass er das Gesprochene als Zitat wieder in der Gesellschaft in Umlauf bringe und wiederbelebe.29 Zu unterscheiden sind misslingende oder scheiternde performative Sprechakte („failed performatives“), denn ein Sprechakt kann eine Handlung sein, ohne eine Wirkung nach sich zu ziehen, und glückende, gelingende performative Sprechakte („felicitous performatives“), die eine Wirkung erzielen.30
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ta Eming und Claudia Jarzebowski, Göttingen 2008 (Berliner Mittelalter und Frühneuzeitforschung 4); Gewalt in der Sprache. Rhetoriken verletzenden Sprechens, hg. von Sybille Krämer u.a., München u.a. 2010. Zu Grice siehe u.a. Werner Abraham, „Intentions and the Meaning of Utterances“, in: Dialoganalyse II. Referate der 2. Arbeitstagung. Bochum 1988, hg. von Edda Weigand und Franz Hundsnurscher, Tübingen 1989 (Linguistische Arbeiten 230), S. 49–69. Judith Butler, Excitable Speech. A Politics of the Performative, New York 1997 (dt.: dies., Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M. 2006 [Edition Suhrkamp 2414]). „Excitable speech“ ist wörtlich zu übersetzen mit „erregende, aufpeitschende“ Sprache. In der niederländischen Übersetzung erscheint der Titel als Opgefokte taal (‘aufpeitschende, aufgeregte Sprache’: dies., Opgefokte taal. Een politiek van de performatief, Amsterdam 2007), der der Bedeutung des Wortes „excitable“ eher entspricht. Ein neues Vorwort der Autorin zur aktuellen politischen Situation in den Niederlanden begleitet die niederländische Übersetzung. Die Verweise in meinem Beitrag beziehen sich auf die Seiten in der deutschen Übersetzung. Ebd., S. 36. Ebd., S. 67f. In der deutschen Übersetzung „verfehlte“ und „geglückte“ performative Äußerungen (ebd., S. 33).
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Die Analyse von Dialogen vor dem Hintergrund der Sprechakttheorie soll erstens eine grundsätzliche Erörterung des Glückens sprachlicher Gewalt in der dialogischen Interaktion der Reynaert-Epen zeigen. Zweitens soll eine Neubewertung der Bedeutung der genannten weiblichen Figuren in der Reynaert-Epik als solcher erfolgen. In der bisherigen Forschung zur Reynaert-Tradition werden die Täuschungen Reynaerts vor allem vor dem Hintergrund seiner List, der moralischen Verwerflichkeit seiner Lügen sowie der Habgier seiner Gegner betrachtet.31 Das geht einher mit einem sehr negativen Fuchsbild, das den Fuchs als Verkörperung des Teufels sieht, der über die dominierenden Eigenschaften des perfiden Handelns und der Verwendung intellektueller Mittel verfügt. Zugleich aber imponiert und fasziniert die Sprachgewalt der Fuchsgestalt.32 Das gelingende Täuschen bzw. Lügen als Sprechakt setzt Fertigkeiten und Fähigkeiten des Sprechers voraus, aber auch die Erfolge der Täuschungen, die durch die sprachlichen Äußerungen und Reaktionen der anderen Figuren deutlich werden. Die persuasive Eloquenz des Fuchses in den dialogischen Interaktionen verläuft nach einem festen Muster der Verhandlung: „Negotiation thus implies the concept of effective [...] interaction. Meaning is always persuasion [and] [...] implies using some power“.33 Reynaert vermag den Dialogpartner in der Interaktion zu einem Handeln zu bewegen, das die ursprüngliche Meinung und Haltung des Adressaten korrigiert. Zum Erfolg der sprachlichen Äußerungen Reynaerts trägt die Diskrepanz zwischen Sagen und Meinen bei. Das ‘Sagen’ eines Sprechers wird dem ‘Meinen’ gegenübergestellt, das nicht mit dem ‘Sagen’ kongruiert. Man kann zwei kommunikative Strategien unterscheiden: 1. der Sprecher sagt etwas, ohne an die Kompetenz, mit welcher der Adressat reagieren kann, zu denken; 2. der Sprecher sagt etwas, indem er das Wissen, die Haltung und Gefühlswelt des Adressaten mit einschätzt und berücksichtigt.34 In den drei Reynaert-Epen VdvR, RH und RdV wird diese Fähigkeit Reynaerts schon am Anfang deutlich, als er nacheinander die Boten des Königs, den Bären und den Kater, in die Falle lockt.35 Reynaert begrüßt seinen Gegner schmeichelnd und nennt aufgrund seiner Berücksichtigung der Gefühls- und Wunschwelt des Adressaten ein Objekt, das Begierde auslöst: Honig bei dem Bären und Mäuse bei dem Kater. Der Gegner reagiert aufgeregt, wie die Worte des Bären entblößen: „Help, doer die doot, Reynaert, / maect gi den honich so onwaert?“ 31 32
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Wackers (wie Anm. 2); Wackers (wie Anm. 6). Jo Reynaert, „Botsaerts verbijstering. Over de interpretatie van Van den vos Reynaerde“, in: Spiegel der letteren 38 (1996), S. 44–61, erneut abgedruckt in: Pade crom en menichfoude. Het Reynaert-onderzoek in de tweede helft van de twintigste eeuw, hg. von Hans van Dijk und Paul Wackers, Hilversum 1999 (Middeleeuwse studies en bronnen 67), S. 267–283. Edda Weigand, „Games of Power“, in: Negotiation and Power in Dialogic Interaction, hg. von ders. und Marcelo Dascal, Amsterdam/Philadelphia 2001 (Amsterdam studies in the theory and history of linguistic science, Series 4 214), S. 63–76. Siehe Abraham (wie Anm. 26). Man beachte die Dialoge in der Bärenepisode: VdvR, v. 524–706; RH, v. 547–726; RdV, v. 488– 630; in der Katerepisode: VdvR, v. 1067–1199; RH, v. 1091–1220; RdV, v. 955–1065. Gerhard H. Arendt, Die satirische Struktur des mittelniederländischen Tierepos ‘Van den vos Reynaerde’, Köln 1965, und Bouwman (wie Anm. 12) sprechen von einer festen Liststruktur.
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(RH, v. 628f.).36 Der Fluch verrät nicht nur die Gier des Bären, sondern indem dieser seine Begierde über den Verstand siegen lässt, liefert er sich zugleich dem Fuchs aus. Ein weiteres Indiz dafür ist, dass in VdvR der Bär Bruun in dieser Gefühlslage während der Unterredung mit Reynaert das Anredepronomen vom ‘Ihr’ zum ‘du’ wechselt (VdvR, v. 562).37 Dieser Wechsel zeigt an, dass der Bär eine Freundschaft zum Fuchs wünscht, die seiner offiziellen Rolle als Bote des Königs diametral entgegensteht. Die Superiorität des Sprechers Reynaert besteht darin, dass er den Hörer etwas glauben lässt, was Letzterer zuvor als irreal eingeschätzt hat, in diesem Fall die Möglichkeit, vom Fuchs große Honigwaben angeboten zu bekommen. In dieser Kommunikationssituation nutzt Reynaert das Wissen von zwei ‘Welten’, der ‘Welt’ der angenommenen Umstände (es gibt keinen Honig) und der erzählten Welt (es gibt Honig, den der Bär möchte). Für beide Welten gilt, dass der Bär gierig auf Honig ist, d.h. der Sprecher, Reynaert, berücksichtigt die Welt des Bären. Letzterer wechselt von einem Nicht-Wissen oder Nicht-Glauben zu einem Wissen oder Glauben über die Anwesenheit des Honigs. Reynaert lockt den Bären mit einem Honigversprechen und fügt hinzu: „Ghi sult noch heden hebben sonder waen / Also vele als ghi moghet ghedraghen“.38 Da zuvor vom Honig die Rede war, bezieht der Bär als Adressat der Äußerung die Aussage vereindeutigend und fehlinterpretierend auf den Honig. Reynaert ist es gelungen, den Bären mit dem magischen Wort Honig seines Verstandes zu berauben, indem er den Bären dazu bringt, nur an das von ihm Gewünschte zu denken. Der Erzähler fügt in einem auktorialen Kommentar hinzu: Reynaert meende van groten slaghen.39 In dem Wort meende tritt die Diskrepanz zwischen dem wirklich Gesagten – Reynaert bleibt in seiner Aussage undeutlich – und dem vermeintlich Gesagten – der Bär bezieht die Aussage auf den Honig – zutage. Diese Kommunikationssituation ist von einer Asymmetrie der Weltberücksichtigung des Sprechers und des Hörers gekennzeichnet. Nicht die Lüge als solche ist erfolgreich, sondern die sprachliche Handlung der Verführung und Verlockung in eine Welt, die der Wunschwelt des Adressaten entspricht. Der Fuchs spiegelt seinen Gegnern mit scone tael eine vom Adressaten erwünschte Welt vor. Scone tael kann somit als Fähigkeit bezeichnet werden, den Hörer unter Berücksichtigung seiner Weltsicht zu einer Haltungs- und Einstellungsveränderung zu bewegen. Willem, der Autor des VdvR, formuliert das metaphorisch folgendermaßen: Dat hi sal weder mede blanden / Dien si sullen drincken met scanden.40 Die Persuasion funktioniert auf folgende Weise: Ein Sprecher, in diesem Fall Reynaert, weiß, dass etwas nicht der Fall ist, behauptet jedoch etwas, das der Wunschwelt des Hörers, 36 37
38 39 40
Übersetzung: „Tod und Teufel, Reynaert, haltet Ihr Honig für so minderwertig?“ Zum Gebrauch der Anredeformen in VdvR siehe Frank Lulofs, „Over het gebruik van ‘du’ in de Reynaerd“, in: Pade crom en menichfoude (wie Anm. 32), S. 71–92. In RH (v. 629) und RdV (v. 565) wechselt der Bär in dieser Situation nicht die Anredeform, allerdings behält er in RH den Fluch bei (v. 627). In RdV wird auch dieser abgeschwächt. Übersetzung: „Ihr werdet noch heute so viel davon haben, wie Ihr tragen könnt“ (VdvR, v. 636f.). Übersetzung: Reynaert meinte große Schläge (VdvR, v. 638). Übersetzung: dass er [Reynaert] wieder einen Honigtrank bereiten wird, den sie mit Schande trinken werden (VdvR, v. 2177f.).
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in diesem Fall des Bären, entsprechen könnte und bewegt Letzteren dazu, die Geltung der Aussage, hier die Nennung und Anwesenheit des Honigs, selbst handelnd zu vollziehen. Eine gelingende Täuschung ist als illokutionärer wie als perlokutionärer Akt zu verstehen: Durch die Behauptung wird sie vollzogen und realisiert, und die Hörer werden – in vielen Fällen – zu Mitspielern.41 Das gilt für den Bären und den Kater, ist aber für das Königspaar von noch größerer Tragweite. Durch seine scone tael als Prototyp der gelingenden performatives führt Reynaert die Mitwirkung von Königin und König herbei. Die Begnadigung erfolgt zwar letztendlich durch den König, aber zu dieser Entscheidungsfindung trägt in den drei Werken nicht unmaßgeblich die Königin bei, eine von der bisherigen Forschung vernachlässigte, aber äußerst wichtige Figur, die durch ihre sprachlichen Mittel den Machtverlust des Königs mit initiiert. Von VdvR über RH zu RdV kann man zudem eine Zunahme ihrer sprachlichen Einmischung feststellen, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Als Reynaert bereits am Galgen steht, beginnt er zu beichten und weckt die Empathie der auf dem Hoftag anwesenden Versammlung, indem er von seinem Wandel vom unschuldigen Kind zum Mörder erzählt (VdvR, v. 2065–2138; RH, v. 2097–2156; RdV, v. 1981– 2035). Unmerklich leitet er in einer Digression zu einer Verunglimpfung des Wolfes über und erwähnt beiläufig einen Schatz. Nach einer expliziten Aufforderung durch die Königin schildert Reynaert ausführlich, wie Hochverrat ihn zum Diebstahl und Verstecken des Schatzes animierte (VdvR, v. 2151–2490; RH, v. 2169–2511; RdV, v. 2054–2358). Er bezieht in das Mordkomplott seine Gegner und einige seiner Verwandten ein, um seine eigene Glaubwürdigkeit zu erhöhen, wie der Erzähler betont: Dyt dede he al in der andacht / Datmen synen worden des to beth geue macht / Dat he alzo myt syner sprake / Syne uyende brochte in de suluen sake.42 Daraufhin führt das Königspaar ihn aus der Ratsversammlung (VdvR, v. 2492; RH, v. 2514; RdV, v. 2361). Mit dieser Handlung nehmen König und Königin eine Trennung zwischen der Ratsversammlung auf der einen Seite sowie sich selbst und Reynaert auf der anderen Seite vor. Sie stellen sich somit auf eine Stufe mit Reynaert.43 Durch die gemein41
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Sie werden zu Mitspielern, indem sie sich dazu verleiten lassen, die Uneindeutigkeit zu vereindeutigen. So ist auch die Lüge – Dietz spricht von der „Kunst des Lügens“ – eine Täuschungshandlung, die Handlungen der Getäuschten nach sich zieht, d.h. die Getäuschten stimmen der Täuschung zu, erkennen sie als wahr an und vollziehen sie praktisch (Simone Dietz, Die Kunst des Lügens. Eine sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer Wert, Reinbek 2003 [rororo 55652]). Siehe auch Werner Röcke, „Überwältigung und Faszination. Die literarische Kunst der Lüge in Mittelalter und früher Neuzeit“, in: Homo mendax. Lüge als kulturelles Phänomen im Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung, hg. von Ulrich Ernst (= Das Mittelalter 2 [2004]), S. 155– 168, hier S. 162. Übersetzung: Das machte er schon mit der Absicht, dass man seinen Worten umso mehr Macht geben würde. Dass er auf diese Weise mit seiner Sprache seine Feinde in dieselbe Lage brachte (RdV, v. 2133–2136). Im RdV wird somit der damit verbundene Machtfaktor direkt benannt; nicht so in VdvR, v. 2233–2237, und RH, v. 2254–2258. Indem sie sich zu ihm auf eine Stufe stellen, leiten der König und die Königin auch visuell die Wende in der Erzählung ein. Dieses wird im RdV auch in den Abbildungen durch den Positionswechsel des Fuchses vom Galgen auf das Podest zwischen König und Königin illustriert (siehe
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same Bitte nach der Preisgabe des Schatzverstecks begeben sie sich von einer politischen Machtebene (potestas) auf eine persönliche Ebene. Das dann folgende Verhandlungsgespräch verläuft in Van den vos Reynaerde auf folgende Weise: 2495
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Ende baden hem dat hi wel dade Ende hi hem wijsde sinen scat. Ende alse Reynaerd horde dat, Sprac hi: „Soudic hu wijsen mijn goet, Heere coninc, die mi hanghen doet? So waer ic huut minen zinne!“ „Neen, Reynaert,“ sprac die coninghinne, „Mine heere sal hu laten leven Ende sal hu vriendelike vergheven Allegader sinen evelen moet Ende ghi sult voertmeer sijn vroet Ende goet ende ghetrauwe.“ Reynaerd sprac: „Dit doe ic, vrauwe, Indien dat mi de coninc nu Vaste ghelove hier voer hu Dat hi mi gheve sine hulde Ende hi al mine sculde Wille vergheven ende omme dat So willic hem wijsen den scat, Den coninc, aldaer hi leghet.“ Die coninc sprac: „Ic ware ontweghet, Wildic Reynaerde vele gheloven. Hem es dat stelen ende dat roven Ende dat lieghen gheboren int been.“ Die coninghinne sprac: „Heere, neen! Ghi moghet Reynaerde gheloven wel. Al was hi hier tevoren fel, Hi nes nu niet dat hi was. Ghi hebt ghehoert hoe hi den das Ende sinen vader hevet bedreghen Met morde, die hi wel beteghen Mochte hebben andren dieren, Wildi meer zijn argertieren Ofte fel ofte onghetrauwe.“ Doe sprac die coninc: „Gentel vrauwe, Al waendic dat mi soude scaden, Eist dat ghijt mi dorret raden, So willict laten up hu ghenent Dese vorworde ende dit covent Up Reynaerts trauwe staen. Ne waer ic segghe hem sonder waen: Doet hi meer eerchede,
Und baten ihn, dass er es täte und er ihnen den Schatz zeige. Und als Reynaert das hörte, sprach er: „Wenn ich Euch mein Gut zeigte, Herr König, dem, der mich erhängt, dann wäre ich außer Sinnen!“ „Nein, Reynaert,“ sprach die Königin, „mein Herr wird Euch leben lassen. Und er wird seine böse Gesinnung Euch gegenüber freundlich aufgeben und Ihr werdet dann klug und gut und treu sein.“ Reynaert sprach: „Das mache ich, Herrin, falls mir der König nun fest vor Euch verspricht, dass er mir seine Huld gebe und mir all meine Schuld vergeben wolle und dann werde ich ihm, dem König, den Schatz zeigen, dort, wo er liegt.“ Der König sprach: „Ich wäre irr, wenn ich Reynaert viel glauben würde. Ihm ist das Stehlen und das Rauben und das Lügen angeboren.“ Die Königin sprach: „Herr, nein! Ihr könnt Reynaert wohl glauben. Auch wenn er zuvor böse war, er ist nicht mehr, der er war. Ihr habt gehört, wie er den Dachs und seinen Vater des Mordplans bezichtigt hat, er hätte andere Tiere (des Mordes) bezichtigen können, wenn er weiter noch bösartig oder böse oder untreu wäre.“ Da sprach der König: „Edle Herrin, auch wenn ich denke, es könne mir schaden, weil Ihr Euch traut es mir zu raten, so will ich, auf Euch vertrauend, diese Bedingung und diese Übereinkunft von Reynaerts Treue abhängig machen. Aber ich sage ihm unumwunden: Falls er wieder Unrecht begeht,
zum Zusammenhang zwischen Text und Bild Rita Schlusemann, „Zur Bedeutung von Gewalt in der Reynaert-Epik des 15. Jahrhunderts“, in: Violence in Fifteenth-Century Text and Image, hg. von Edelgard DuBruck und Yael Even [= Fifteenth-Century Studies 27 (2002)], S. 217–237), Abb. 19–21, bzw. die Abbildungen R 40, 43 und 46 in Jan Goossens, Die Reynaert-Ikonographie, Darmstadt 1983 [Texte zur Forschung 47]). Die anderen Tiere dahingegen befinden sich unten.
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Rita Schlusemann Alle die hem ten tienden lede Sijn belanc, sullent becoepen.“44
werden es alle, die bis zum zehnten Grad mit ihm verwandt sind, büßen.“
Dem Basisdialogtyp „grammar of bargaining“45 entsprechend erhält man folgende Verhandlungsstruktur: Sp 1 Sp 2 Sp 1’ Sp 2 Sp 1’’ Sp 1’ Sp 1’’
Aufforderung König und Königin (v. 2494f.) Weigerung Reynaert (v. 2497–2499) Angebot Königin (v. 2500–2505) Ablehnung und Gegenangebot Reynaert (v. 2506–2513) Weigerung Gegenangebot König (v. 2514–2517) Widerspruch Königin (v. 2518–2527) Annahme König (v. 2528–2537)
Die Verhandlung endet mit Dese vorworde ende dit covent (v. 2532). Nach der anfänglichen Aufforderung durch König und Königin reagiert Reynaert weigernd, indem er auf die Funktion des Königs als Richter, der ihn zum Tod durch Erhängen verurteilt hat, verweist. Die Königin versteht die dahintersteckende Bedeutung – was durch ihren Ausruf „Neen, Reynaert“ (v. 2500) deutlich wird – in dem Sinne, dass Reynaert das Schatzversteck nicht seinem Henker preisgeben würde. Sie greift in die Staatsgeschäfte ein und verspricht Reynaert eine Begnadigung unter der Bedingung, dass er rechtschaffen und treu werde. Aber diese Macht steht ihr nicht zu, somit ist ihr Versprechen ein leeres Versprechen. Sie äußert einen Sprechakt, der nur bei Zustimmung des Königs perlokutionär erfolgreich wäre. Reynaert durchschaut dieses und weigert sich, das Angebot anzunehmen, indem er ein Gegenangebot formuliert: der König müsse die Begnadigung selbst versprechen. Er erkennt, dass die Königin sich unrechtmäßig die Macht eines herrschaftlichen Versprechens zugeeignet hat. Der König weigert sich, das Gegenangebot Reynaerts anzunehmen, womit die Verhandlung eigentlich schon beendet ist (v. 2514–2517). Aber durch den Widerspruch der Königin („Heere, neen!“, v. 2518) wird die Verhandlung wieder aufgenommen. Die Königin agiert als Vermittlerin zwischen Reynaert und dem König und überredet schließlich ihren Mann mit verschiedenen Argumenten, das Angebot Reynaerts anzunehmen. Der König lässt sich durch die Worte der Königin zum Untergang seiner Macht verführen. Die Sprechakte der Königin gelingen in Bezug auf den König, da Letzterer sich umstimmen lässt. Während zu Beginn der Beichte das Verhältnis von Sprache und Macht in einer asymmetrischen Beziehung zwischen dem König als Herrscher und Richter und dem Fuchs Reynaert als Verurteiltem charakterisiert werden kann, d.h. die Sprache dient als Mittel der Machtausübung des Herrschers, hat sich hier das Verhältnis umgekehrt. Den drohenden Worten des Königs, bei neuerlichen Verbrechen Reynaerts ihn und seine Verwandten (bis zum zehnten
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Vgl. entsprechend RH, v. 2515–2562, und RdV, v. 2362–2410. In diesen beiden Texten qualifiziert der König vor seiner Drohung der Rache die Worte Reynaerts als „woorden schoon“ (RH, v. 2558; siehe auch RdV, v. 2405). Weigand (wie Anm. 33), hier S. 79.
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Grad der Verwandtschaft) zu verfolgen (v. 2535–2537), folgt am Ende das jämmerlichste Urgebrüll (dat vreeselicste gheluut, v. 3387), dem der Leopard Einhalt gebietet. Der König reagiert mit „Dat ic recht mi selven hate“ (‘dass ich mich geradezu selbst hasse’, v. 3403). Die drohenden Worte haben sich durch die aktive Intervention der Königin gegen den König selbst gerichtet. Reynaert hat den Machtkampf mit sprachlichen Mitteln für sich entschieden. Die narrative Dimension der Beichte als elaborierte Erzählung über die begangenen Sünden entwickelt sich zu einem direktiven Gespräch, indem die Königin sich durch Reynaerts Persuasionskunst täuschen lässt und infolgedessen mit ihren sprachlichen Mitteln den anfänglichen Widerstand ihres Mannes überwindet. Ihre Sprechakte sind somit einerseits erfolgreich, was die Beeinflussung ihres Mannes betrifft, aber sie leiten andererseits auch gleichzeitig den Untergang ein, denn sie unterliegt Reynaert, der durch sein in der Sprechhandlung vorgetäuschtes Wissen Spielraum und immer mehr Macht erhält. In RH und in RdV ist die aktive Rolle der Königin weiter ausgearbeitet worden, sogar bereits vor dem Verhandlungsgespräch. Im RdV ergreift sie bereits vor der Ratsversammlung das Wort und fordert Reynke auf, die Wahrheit über den Schatz zu erzählen: Van den vos Reynaerde46
Reynaerts historie47
Reynke de vos48 DE konnygynne sprack wedder an: „Reynke latet vns recht vorstan Van desser sake. de warheyt vast Vp dat yuwe sele blyue vmbelast“. (RdV, v. 2085–2088)
Bi der coninghinnen rade,
Der coninghinne jammerde van desen ende bat den coninc op genaden, om te scutten meerre scaden, dat hi den volc bode sylency ende Reynaert gave audiency sijn tael te spreken al uut. (RH, v. 2229–2234)
Vort sprack de konnygynne myt tFchten: „Reynkens nod entfermet my sere Hir vmme bydde ik yw myn here Doet reynken etlyke gnade Vp dat na blyue grotter schade Latet ene nu in desser stunt Vns wytlyk doen. de rechten grunt Vnde dat eyn yslyk swyghe styl Vp dat he nu spreke dat he wyl“. (RdV, v. 2112–2120)
Die zeere ontsach des sconinx scade. (VdvR, v. 2209f.)
Die Königin in RdV versucht früher als in VdvR und in RH, in die Staatsangelegenheiten einzugreifen. Die zweite Textstelle, in allen drei Epen vorhanden, zeigt die allmähliche Stei46 47
48
Übersetzung: Durch den Rat der Königin, die sehr den Schaden des Königs fürchtete. Übersetzung: Die Königin war deswegen unglücklich und bat den König nachdrücklich, um mehr Schaden zu verhindern, dem Volk Ruhe zu gebieten und Reynaert Gehör zu verschaffen, damit er seine Geschichte vollständig erzählen könne. Übersetzung: Die Königin sprach wieder: „Reynke, lasst uns diese Sache recht angehen, der Wahrheit gemäß, damit Eure Seele unbelastet bleibe“. – Dann sprach die Königin: „Reynkes Not erbarmt mich sehr. Deswegen bitte ich Euch, mein Herr, erweist Reynke Gnade, damit großer Schaden ausbleibe. Lasst ihn nun jetzt uns den wahren Grund sagen, und dass ein jeder schweige, damit er nun spreche, was er will“.
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gerung der aktiven Sprechhandlung im Text: in VdvR lediglich als sprechaktbezeichnendes Subjekt, in RH in indirekter Rede, in RdV in direkter Rede. Die Königin bittet ihren Gemahl, Reynaert Gnade zu gewähren und ihn sprechen zu lassen. Das veranlasst den Erzähler in RdV zu dem Kommentar, dass kein Herr in unrechter Weise auf seine Frau hören solle: Dat neyn here in vnrechter wyse schal horen syneme wyue.49 Die Königin habe nicht aus Barmherzigkeit für Reynke gebeten, sondern vmme ghyrycheyt vmme den schat den se mede begherde.50 Dem niederdeutschen Bearbeiter ist daran gelegen, die Königin aktiver als in den Vorgängerversionen auftreten zu lassen und ihr auf diese Weise eine größere Schuld zuzuweisen. Dieses zeigt sich ebenfalls, als sie im zweiten Teil des Textes, im Unterschied zu RH, gemeinsam mit der Äffin Reynkes Vorzüge für den Königshof betont.51 Die auf den ersten Blick geringfügigen Verschiebungen zeigen in diachroner Perspektive eine Zunahme der sprachlichen Aktivität der Königin, deren Schuld für die falschen Beurteilungen aufgrund der weitreichenden Folgen dieser Einmischung im Laufe der Textgeschichte zunimmt. Die sprachlichen Handlungen der Königin als gelingende und misslingende Sprechakte an einer für die Entwicklung des Geschehens entscheidenden Phase führen somit in immer größerer Verantwortlichkeit zum Untergang der Königsherrschaft. Die Worte richten sich gegen den Sprecher selbst. Dieses nicht kontrollierbare Potential von Worten zeigt ebenso eine Episode aus dem Reynke de vos, die gegenüber VdvR und RH neu hinzugefügt wurde. Sie demonstriert, wie sich vor allem eine in großer Erregtheit ausgeführte sprachliche Handlung gegen den Sprecher richten kann, in diesem Fall die der Wölfin Ghyremod. Der zweite Königsbote, der Kater Hyntze, wird bekanntlich in der Scheune des Pastors in einer Schlinge gefangen, so dass Reynke ihn verspottet (RdV, v. 1078–1089). An dieser Stelle fügt der niederdeutsche Dichter einen Einschub ein (RdV, v. 1079–1166), in welchem er von der Vergewaltigung der Wölfin durch den Fuchs erzählt. Der Fuchs begibt sich zunächst zur Wolfshöhle und spricht dort die Wolfskinder als seine „alder leuesten steffkynder“ an (seine ‘allerliebsten Stiefkinder’; RdV, v. 1111). Die der Wölfin von ihren Kindern geschilderte Beschimpfung des Fuchses, als seien die Wolfskinder seine Stiefkinder, führt zu einer emotionalen Destabilisierung Ghyremods. Entsetzt ob dieser Nachricht schwört sie Rache: „Dar vor schal en slan de mord“ (‘Dafür wird er sterben’; RdV, v. 1122). Die mündlich vermittelte Nachricht der Beschimpfung schafft eine Wirklichkeit, so dass die Wölfin in den Bann der Worte gerät: „Reynke wat synt dyt vor worde / De ik van mynen kynderen horde“.52 Als sie bei ihrer Verfolgungsjagd auf ihn trifft, droht sie zornig und wütend, „dar vor kryge gy eyn quad jar“.53 Doch ihre in den Worten ausgedrückte Intention der Schädigung Reynaerts verkehrt sich ins Gegenteil. Bei 49
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52 53
RdV, Prosaglosse nach Kapitel 21, S. 215, Abschnitt 3. Übersetzung: Dass kein Herr in unrechter Weise auf seine Frau hören solle. Ebd.; Übersetzung: aus Gier wegen des Schatzes, den sie begehrte. Vgl. RH, v. 5046–5051, und RdV, v. 4742–4773, hier beginnend mit Dyt sulfste sprack ock de konnygynne. Übersetzung: „Reynke, was sind das für Worte, die ich von meinen Kindern hörte“ (RdV, v. 1127f.). Übersetzung: „Dafür bekommt Ihr ein schlechtes Jahr“ (RdV, v. 1130).
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ihrer Verfolgungsjagd bleibt sie in einem Mauerspalt stecken, so dass Reynke sich ihr von hinten nähern und sie vergewaltigen kann. Ihre physische Überlegenheit unterliegt ihrer Sprachgewalt. Ghyremod äußert Sprechhandlungen der Rache und der Drohung unter größter emotionaler Erregtheit. Sie erliegt dem Trugschluss, ihre ‘gewaltandrohenden’ Worte gingen einher mit souveräner Macht. Mit anderen Worten, wer annimmt, excitable speech gehe einher mit Kontrolle, erliegt der Illusion der Souveränität von Sprechhandlungen. Wer wie Ghyremod ohne Kontrolle erregte Sprache spricht, macht sich verwundbar.54 Bei Ghyremod misslingt ihre Drohung als perlokutionärer Sprechakt völlig. Der Erzähler des Reynke de vos hat diese Diskrepanz zwischen Lokution und Perlokution erkannt, wenn er in einem auktorialen Kommentar sagt: Se meende to vordedyngen er ere / Men se leet dar der blyuen noch mere.55 Gyremod wird auf diese Weise zu einem Prototyp für das „Trugbild der Souveränität“, die sich ins Gegenteil verkehren kann.56 In der dazugehörigen Glosse heißt es: Dat seste is dessem uyften wes ghelyk. wente mannich is de myt kyuen. myt schelden. efte myt wrekender hant wyl syne ere beschermen efte vor gherychte. wo dat is. vnde yodoch denne syk suluen meer berochtyget. dat sus na bleue. wan he duldich were vnde gheue gode dat gherychte. alze de here in deme ewangelio vns leret. wente do de wulffynne. myt kyue vnde mit wrake ere ere wolde beschermen der se doch nicht vele en hadde. do ersten wart yd luetbar vnde openbar ere vneddelheyt vnde krech dar to eyne schande to der anderen. wo wol yd ere menynge nicht en was. dat se myt ghe walt vnde myt lyst des vosses meer wart geschendet. (RdV, S. 109) Das sechste ähnelt dem fünften. Denn es gibt manchen, der mit Schimpfen und Schelten oder mit rächender Hand oder an einem Ort vor Gericht seine Ehre beschützen möchte, und sich jedoch dann selbst mehr richtet, was unterbleiben würde, wenn er geduldig wäre und Gott das Richten überlassen würde, wie der Herr uns im Evangelium lehrt. Denn als die Wölfin mit Schimpfen und mit Rache ihre Ehre beschützen wollte, von der sie nicht viel besaß, da erst wurde ihre Unedelheit deutlich und öffentlich, und dadurch kam eine Schande zu der nächsten, obwohl es ihre Absicht nicht war, dass sie mit Gewalt und List des Fuchses mehr geschändet wurde.
Die Sprechakte der Wölfin werden geäußert in einem Zustand des Zorns und der Wut, sie liegen außerhalb ihrer rationalen Kontrolle. Voraussetzung für den Mangel an Kontrolle ist eine starke innere Affizierung, hier verursacht durch die Verunglimpfung ihrer Kinder. Erregte Sprache, das Keifen und Schelten der Wölfin als hate speech, wird zu einem Auslöser für eine gerade nicht beabsichtigte Wirkung. Dem eigenen Sprechen wohnt eine selbstzerstörerische Kraft inne, die der Sprecher, in diesem Fall die Wölfin, nicht realisiert. Die Erfolglosigkeit ihres Drohens bewirkt öffentlich den Verlust ihrer Ehre und eine Zunahme ihres Gesichtsverlustes. Sie wird im RdV durch ihre Worte zu einer Mittäterin gegen sich selbst. Indem der Reynke-Autor bereits zu Beginn seines Verstextes diesen Wirkungszusammenhang von innerer Gemütsverfassung und gesprochenen Worten im Erzähltext wie in der anschließenden Glosse thematisiert, macht er die Bedeutungsdimension der fiktionalen 54
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Über die Wirksamkeit kontrollierter erregter Sprache äußert sich Reynaert, als er hervorhebt, dass man schmeicheln, drohen und fluchen muss, um sein Ziel zu erreichen (RH, v. 4191–4193). Übersetzung: Sie wollte ihre Ehre verteidigen, aber sie verlor sie da noch mehr (RdV, v. 1163f.). Butler (wie Anm. 27), S. 32.
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Tierepik als Exempel der Wirkmacht von Sprache explizit. Zugleich bietet er offen eine Folie für alle sich anschließenden Dialogpartien des Textes. Ebenfalls in unterschiedlicher Weise ist die Rolle der Füchsin Ermeline in den drei Reynaert-Werken angelegt. In VdvR tritt sie lediglich am Ende der Erzählung auf, als Reynaert und der Hase Cuwaert den Fuchsbau betreten (v. 3092–3114, 3133–3199, 3318–3329). Die Füchsin Ermeline erscheint nur in zehn Versen über mehrere Sprecheinsätze verteilt als sprechende Figur, dabei ist ihre Rolle auf die einer fragenden und gehorsamen Ehefrau beschränkt, z.B. „Wat ghiften es dat?“ oder „Reynaert, wat mach dat zijn?“.57 Als Reynaert sie bittet, mit ihr in eine Einöde zu flüchten, ihr von seinen Lügen und Versprechen dem König gegenüber erzählt und sie dann auffordert, ihm zu folgen, gehorcht sie ihm ohne Widerworte: Si daden hem alle up die vaert: / Ermeline ende heere Reynaert / Ende hare jonghe welpkine.58 Wenn Reynaert sagt, „Ghereet hu, vrauwe Hermeline“,59 begibt sie sich ohne zu zögern mit den Kindern auf den Weg. Auch in RH tritt Ermeline zunächst fragend in Erscheinung mit „Lieve Reynaert, segget my: / hoe is u vergaen die vaert?“.60 Reynaert bietet ihr und den Kindern den Hasen als Speise an und nachdem sie sich wie in VdvR zunächst für die Gabe des Königs bedankt hat, fordert Reynaert sie zur Mahlzeit auf: „Eet dat gi muecht. / Hy sels genoech voor ons betalen. / Hy en geert niet bet dan wijt halen“.61 Der Dialog entwickelt sich auf folgende Weise: Sp 1 Sp 2 Sp 1 Sp 2 Sp 1
Reynaert: Aufforderung zur Mahlzeit, der König begehre nichts anderes (RH, v. 3137–3139) Ermeline: Widerspruch und Aufforderung (RH, v. 3140–3142), Beginn der Verhandlung Reynaert: Einwilligung und Vorschlag (RH, v. 3143–3183) Ermeline: Widerspruch und Gegenvorschlag (RH, v. 3184–3204) Reynaert: Einwilligung (RH, v. 3205–3220)
Nachdem Reynaert ihr versichert hat, dass ihnen der König Kuwaert den Hasen als Sühneopfer geschenkt habe, reagiert sie mit den Worten: „Reynaert, gi spot, ic waen. / Doet my die wairheit verstaen / hoe gi van daen gecomen zijt“.62 Die Füchsin bezeichnet in ihrem ersten Redebeitrag nach der Aufforderung zur Mahlzeit Reynaerts Sprechakt als Spott und entlarvt seine Lüge. Erst danach gibt Reynaert zu, dem König und der Königin übel mitgespielt zu
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Übersetzung: „Welche Geschenke sind das?“; „Reynaert, was kann das sein?“ (VdvR, v. 3144 und 3151). Übersetzung: Sie machten sich alle auf den Weg, Ermeline und Herr Reynaert, und ihre jungen Welpen (VdvR, v. 3326–3328). Übersetzung: „Macht Euch bereit, Dame Hermeline“ (VdvR, v. 3321). Übersetzung: „Lieber Reynaert, wie ist Euch die Reise ergangen?“ (RH, v. 3099). Übersetzung: „Esst, so viel Ihr mögt. Er wird uns ausreichend entschädigen. Nichts wünscht er sich lieber, als dass wir sie annehmen“ (RH, v. 3137–3139). Übersetzung: „Reynaert, ich glaube, Ihr spottet. Sagt mir die Wahrheit, wie Ihr von dort entkommen seid“ (RH, v. 3140–3142). Im RdV erkundigt sich die Füchsin lediglich danach, wie Reynke entkommen konnte (RdV, v. 2894f.).
Zur Wirkmacht der Rede in deutschen und niederländischen Reynaert-Epen
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haben: „ic heb gehuuft den coninc myt vlijt / ende sijn wijff, die coninghinne“.63 Reynaert sieht sich nun genötigt, ihr einen Vorschlag zur Flucht in einen anderen, mit guten Speisen gefüllten Wald zu unterbreiten. Die sich daran anschließenden verführerischen Angebote, hier Quellen von ‘süßer Art’, reine und klare Bäche, ‘süße Luft’ und Überfluss (RH, v. 3161– 3165), verleiten die Füchsin Ermeline im Gegensatz zu den anderen Figuren wie der Königin, der Wölfin, aber auch dem König, dem Bären, dem Kater und dem Wolf nicht. Seinen Vorschlag zu flüchten lehnt sie kategorisch und bestimmt ab, in einem längeren Sprechakt von 21 Versen (RH, v. 3184–3204), beginnend mit: „Ic en rade ons niet“, sprac Ermelijn, / „te varen in een ander woestijn“.64 Als Argumente schließt sie an, dass es ihnen in einer anderen Wildnis fremd und elend erginge, dass er ein Meister der Nachbarn sei, die Burg Schutz böte und sie sehr viele Seitenwege kennen, so dass sie bei Gefahr rechtzeitig entkommen könnten. Sie beendet ihre Rede mit einer harschen Kritik an Reynaerts Schwur dem König gegenüber, übers Meer zu fahren. Ihr resolut vorgebrachtes Gegenangebot zu bleiben, in Kombination mit ihren stichhaltigen Begründungen, überzeugt Reynaert. Er willigt in den Gegenvorschlag ein: „Ic wil hier bliven nu gijt my raet“.65 Zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte ordnet sich der Fuchs in einer dialogischen Verhandlung gegen seinen ursprünglichen Willen endgültig unter. Im Gespräch mit seiner Frau versagt Reynaerts Handlungsmodell der Verführung und Manipulation, hingegen siegt Ermelines Überzeugungsakt.66 Ihre Aufforderung zum Verbleib macht die zweite Prozesshandlung in RH und den Nachfolgedichtungen erst möglich. Die Füchsin spielt somit auf drei Ebenen eine wichtige Rolle: 1. Der Autor setzt sie ein, um aufgrund ihrer Intervention die Handlung mit einem zweiten Prozesstag fortführen zu können. 2. Als Adressatin der Lügengeschichte über das Geschenk des Königs ist sie durch ihre Benennung der Sprechhandlung Reynaerts in der Lage, sich von der Scheinwelt Reynaerts nicht täuschen zu lassen und ihn zur wahrheitsgemäßen Erzählung zu animieren. 3. Die Verhandlung zwischen Reynaert und seiner Frau zeigt, dass auch Reynaerts sprachliche Äußerungen von ihm nicht vollständig kontrolliert werden können, wenn der Adressat den Unterschied zwischen Sagen und Meinen erkennt. Reynaerts Bemerkung, der König begehre nichts Anderes, als ihnen den Hasen zu schenken, soll be-
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Übersetzung: „ich habe den König und auch seine Frau, die Königin, hinters Licht geführt“ (v. 3143f.). Gehuuft vom Verb huven kann ein Denominativ zu huuf (‘Hoden’) sein, vgl. Kommentar zu v. 1221 in der Ausgabe von Schlusemann und Wackers (wie Anm. 4). Übersetzung: „Ich rate uns davon ab, in eine andere Einöde zu reisen“ (RH, v. 3184f.). Übersetzung: „Auf Euren Rat hin möchte ich jetzt hier bleiben“ (RH, v. 3212). Zum grundsätzlichen Gegensatz zwischen den Handlungsmodellen der Beeinflussung und der Manipulation siehe Knape (wie Anm. 19), S. 75f.
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wirken, dass sich die Füchsin in Sicherheit wähnt, bewirkt jedoch durch den hyperbolischen Charakter, der seine Schadenfreude verrät, dass sie ihm nicht glaubt. Die Situation wie die auktorialen Worte des Erzählers zeigen, dass die Wölfin ebenso wie die Königin nicht in einer Opferrolle agieren, sondern zu Mitspielerinnen, ja sogar Täterinnen werden, die Wölfin als Täterin gegen sich selbst, die Königin als Täterin gegen sich selbst, den König und letztendlich gegen den Staat. Nur die Füchsin erweist sich durch ihre Fähigkeit, die Weltsicht des Fuchses zu durchschauen, in der Lage, dessen Täuschungen zu benennen und zu erkennen. Damit zeigt sie, dass auch er der Illusion der grundsätzlichen Souveränität über die eigene Sprachgewalt, der scone tael, erliegt.
Personen-, Werk- und Sachregister
Abaelard 32, 139 abbreviatio / brevitas 93, 99–101, 103f., 174 Adam von St. Viktor 140 adaptation courtoise 12 adlocutiones 222 aemulatio 85, 93 Aggressor 117f., 120f., 124–126, 134f. Alanus ab Insulis 140 Alber, Visio Tnugdali 8 Albrecht, Jüngerer Titurel 218, 276, 286, 289 Aliscans 86, 95–99, 104, 106–115 Alltagssprache / Alltagsgespräche 5, 17f., 56, 150, 181–183, 211f. Alpharts Tod 153 amplificatio 91–93, 97, 101, 103f., 177, 199f., 211, 226, 232, 278 Anonymus Aurelianensis 266 Anrede / Anredeformen 127f., 170, 173, 176, 202, 206, 256, 263, 277, 280, 301 Appell 70, 76, 125, 168–170, 243 argumentatio / argumentieren 29, 32, 35, 45, 71, 91, 93, 114, 121, 125–127, 130, 132, 157, 170f., 219–225, 229–233, 237, 239, 241f., 248, 252, 260–263, 267, 271, 304, 309 ars praedicandi 31, 191, 196–199, 203, 207, 211, 227f. Auctor ad Herennium 55 Aufführung siehe Performanz / Aufführung(ssituation) Aurelius Augustinus 32, 228 – De doctrina christiana 228 – Soliloquia 6 Aushandeln / Aushandlungsdialog 18, 36, 121
Autor 8, 12–14, 36, 86f., 91–94, 97, 99, 120, 124f., 136, 142, 146, 148, 156, 160, 171f., 182, 217, 243, 262, 265, 275, 289, 291, 293f., 296, 301, 307, 309 Autoreferenzialität / autoreferentielle Selbstinszenierung 90, 92–94, 98, 104 Autorrolle / Autor-Erzähler 97f., 288f. Bekehren / Bekehrungsgespräch 17, 19–26, 28–32, 190, 208, 230 – siehe auch Religionsgespräch Beleidigung / Beschimpfung 54, 58, 76f., 98, 102, 111f., 119, 125, 128f., 202, 205, 229, 239, 263, 266, 270, 306 Benoît de Sainte Maure, Roman de Troie 99– 103 Beowulf 41 Bernardus Silvestris 139 Bernhard von Clairvaux 139 Berol, Tristan et Isolde 154 Bibel 12, 24, 180, 207 Bitte(n) siehe Sprechakttypen, -verben Blasphemie 9 Boethius 219 Boncompagno da Signa, Rhetorica novissima 219 Brant, Sebastian, Narrenschiff 261 Braulio 198 – Vita Beati Emiliani 193, 198f., 203, 205–208, 210f. brevitas siehe abbrevatio / brevitas Cantar de mio Cid 206f., 210 cantares de gesta 200f., 205–207, 211f. captatio benevolentiae 170
312 chanson de geste 12f., 95, 97, 107f. Chanson de Roland 63–84, 95 Chrétien de Troyes 87f., 91, 233 – Erec et Enide 87, 126f., 131, 236, 256f., 268 – Perceval 6, 87f., 97, 122f., 236f., 244– 246, 252, 271 – Yvain 87, 91, 118f., 236–242, 244, 252, 255–272 Chronik / Chronistik 74, 148, 288 Cicero 33, 55 De clericis et rustico 150f. descriptiones 178, 182, 218 determinatio 232 Dialektik 5, 13, 219f., 232f. Dialoganalyse, historische 4, 194f., 211 Dialoggrammatik 4, 18, 171 Dialogschritte 43–45, 47f., 50 Dialogtypologie – Dialogtypen 5, 12, 18, 64, 66 – Halbdialog 12, 64, 66f., 70–72, 74, 76, 78, 82, 167, 184–191 – halbdirekter Dialog 167f., 184–191 – kompetitiver Dialog 35, 108, 117 – konfliktärer / konfrontativer Dialog 43, 49, 51, 55–57, 118 – siehe auch Streiten / Streitrede – Polylog 70 diegetische Verfahren / Diegesis 3, 7, 90, 95, 171, 180f., 203, 207–209, 235, 237, 274– 277, 282f., 285–287, 289–291 – siehe auch Figurenrede dilatatio materiae 85, 99, 103f., 130, 156, 226 Diskurstraditionen 194–201, 207, 210f. – siehe auch idiomatische Traditionen Diskursuniversum 197, 199f., 207, 210 dissimulatio siehe simulatio / dissimulatio Drama 19, 91, 142, 145, 146f., 151 – siehe auch Elegienkomödie; Komödie (comoedia); Seneca d.J.; Terenz; Tragödie (tragoedia) Eilhart von Oberge, Tristrant 141f., 155–157, 159, 162, 257 Elegienkomödie 142, 150–152, 154, 156 elocutio 199, 219 Eloquenz 13, 215, 217–222, 225–229, 232– 234, 255, 271, 300
Personen-, Werk- und Sachregister Epilog 63, 287 Erzählbericht 45f., 256, 259 Erzähler / Erzählerfigur 3f., 7, 12, 19, 42, 88, 90f., 93, 96f., 102, 104, 107, 109, 110, 112– 115, 123, 128–130, 132–134, 151, 153, 167, 170, 176f., 186, 188, 200, 206f., 215, 222, 225, 227, 229, 232, 241, 243, 245, 251, 259, 261, 264, 266, 270, 273–291, 297, 301f., 306f., 310 Erzählerkommentar 13, 46, 59, 91, 96, 98, 101, 103, 114, 135, 203, 215, 301, 306f. Erzählerrede 6, 45f., 66, 81f., 91, 100, 171, 218 Estoire (Tristan) 155 Exempla 8, 199, 230 exordium 170 extrapolatio 91 Fabliau 8f., 152, 154 Figurenrede 3, 5f., 12, 14, 36, 43, 63–66, 74f., 79–82, 87, 90, 98, 140, 146–148, 150, 153, 156, 160, 168, 202, 215, 217–221, 225f., 272, 294 Fiktion / Fiktionsgrenze 21, 36, 40, 43, 56, 94, 121, 136, 200, 235, 247, 288, 290f., 293f., 307 Fremdsprachen(problematik) 13, 182, 273– 276, 281, 285–287, 289–291 Friedrich von Schwaben 124f. Frutolf von Michelsberg 139 Fürstenspiegel 2, 8 Galfri(e)d von Vinsauf, Documentum de modo et arte dictandi 150f. Gebet siehe Sprechakttypen, -verben Gedankenrede 3, 172f., 185, 190, 243 gender-spezifisches Sprechen 12, 64, 119, 232, 293–310 genus iudicale 220 Gerbert von Aurillac (Papst Silvester II.) 281 Gesprächskultur 5, 10, 12–14, 167, 211, 255, 265, 270, 272 – siehe auch höfisches / unhöfisches Sprechen; Höflichkeit Gestik / nonverbale Kommunikation 2–4, 49, 52, 159, 206 Gewalt / Sprache und Gewalt 56f., 206, 227, 271, 297–300, 307, 310 Gilbert de la Porrée 32
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Personen-, Werk- und Sachregister Glossierung 146, 153, 307 Gonzalo de Berceo 193, 196, 200f., 207, 211 – Milagros de Nuestra Señora 193 – Vida de San Millán de la Cogolla 193, 196–202, 204–211 – Vida de Santa Oria 193, 201 – Vida de Santo Domingo de Silos 193, 201 Gottfried von Straßburg 161, 221 – Tristan 6, 134f., 225, 232, 255, 273, 283–286 Gruß / Grüßen siehe Sprechakttypen, -verben Habitus (kommunikativer) 220, 222f., 226, 233 Halbdialog siehe Dialogtypologie Handschriften – Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preuß. Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 282 (mit Abb. 2) 158, 163, 276 – Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preuß. Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 856 153 – Brussel, Koninklijke Bibliotheek, Hs. IV 744 294 – Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 403 (mit Abb. 3) 158, 164 – Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 69 (mit Abb. 1) 162 – Lambach, Stiftsbibliothek, Cod. 100 152 – Vatikan, Biblioteca Apostolica Vaticana, Cod. Vat. lat. 3870 145 – Venedig, Bibliotheca Nazionale Marciana, Codex Marcianus fr. VIII [= 252] 106 – Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 312 152 Hartmann von Aue 64, 233, 258, 262 – Erec 6, 63, 87f., 94, 118, 128–133, 166, 235f., 255–257, 260, 270 – Gregorius 287 – Iwein 6f., 87–89, 91, 94, 118f., 141, 219, 236–244, 248, 250, 252, 258, 261, 266f., 269f., 272, 289 Heiligenlegende / Heiligenleben 178, 193, 196–199, 202f., 207, 210f. Heinrich von Freiberg, Tristan und Isolde 256, 286
Heinrich von Veldeke 64, 156 – Eneit / Eneasroman 88–93, 141, 154– 156, 158, 163f., 166, 224, 255, 275 Heldenepik 13, 77, 141, 224 Herbort von Fritzlar, Liet von Troye 86f., 99– 104 Herzog Ernst 165–191, 280 Hildegard von Bingen 139 höfischer Roman / roman courtois 64, 80, 95, 97, 107, 117, 120–122, 125, 136, 141f., 150, 160, 217f., 220f., 224, 233, 273f., 290 höfisches / unhöfisches Sprechen 5, 52, 87, 117–122, 125–132, 135f., 170, 172f., 218, 221–223, 255f., 260–262, 266, 270, 272 Höflichkeit 3, 7, 58, 118f., 124f., 127f., 131, 173, 195, 255f., 268, 280, 284f. Homer, Ilias 271 Honorius Augustodunensis, Imago mundi 177 Horaz 148, 215 – Ars poetica 93, 216, 218 – Epistulae 216 hovezuht 215f., 218–221, 223, 228, 233 idiomatische Traditionen 194–196, 200f. – siehe auch Diskurstraditionen illitterati siehe litterati / illitterati Illokution 7, 131, 170, 173, 302 Illokutionsindikatoren 128, 173 imitatio 183, 216 Implikatur 299 indirekte Rede 3, 7, 46, 64, 66, 93f., 100f., 107, 114, 166f., 171, 184, 189, 209, 226, 295, 306 – siehe auch Redebericht inquit-Formeln 13, 87, 89, 90f., 94, 97f., 101, 102, 117, 132, 153, 157, 170, 173, 177, 260– 262, 267 Interpunktion 157–159, 285 Ironie 8, 13, 119f., 130, 132, 217, 229, 258f., 261–272, 280 Isidor von Sevilla 198 – Etymologiae 147f., 152, 177 Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich 276, 287, 289 juglaría 199f., 202, 210 Kaiserchronik 17–32, 156 Kalevala 35–59
314 Kampfdialog / Schlachtrede 108f., 112, 114 Die Klage 288 Klage(n) siehe Sprechakttypen, -verben Klerikalität / clerecía / clergie 12, 20, 146, 150, 182, 193, 197f., 200f., 209–211, 221, 227–230, 233 Komödie (comoedia) 145–148, 150–154, 160 – siehe auch Drama Komparatistik 6–12, 14, 64, 104, 118, 193, 211 König Rother 168, 173 Pfaffe Konrad, Rolandslied 8, 12, 63–84, 168, 173 Konrad von Hirsau 146 Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur 215–234 Konversation (Begriff) 3 Laikalität 10, 31f., 228f., 233 Laisse 66–69, 72, 74–76, 80, 82–84, 95, 110 – laisses parallèles 74, 79, 95 – laisses similaires 68, 82, 95 Pfaffe Lambrecht 156 – Alexanderlied 168 Latein 10–12, 139f., 143f., 147, 149f., 152f., 156, 160, 165, 174, 176–178, 182f., 193, 196–198, 200–203, 205, 207f., 210–212, 217f., 221, 233, 265, 273–278, 288f. Lehrdialog 11, 202f. litterati / illitterati 145f., 153, 160f., 197f., 200f. Lokution und Perlokution 302, 304, 307 Lönnrot, Elias 39–42, 47–50 Lüge(n) 8f., 40, 48–51, 53f., 56f., 59, 220, 245, 265, 296–298, 300–303, 308f. Macht (verbale) 223, 225, 227f., 235, 237, 242, 246, 252f., 293, 296, 299, 302, 304 – siehe auch Gewalt / Sprache und Gewalt Mai und Beaflor 274 Marbod von Rennes 140 Marie de France, Lais 87 Mauricius von Craûn 232 Mediator / Mediationsdialog 92, 117–136 Melanchthon, Philipp, Encomion eloquentiae 233 mester de clerecía 193, 197–200, 211f. mimetische Verfahren / Mimesis 90, 95, 193, 201f., 208, 210–212
Personen-, Werk- und Sachregister – siehe auch Erzählbericht; Erzähler / Erzählerfigur; Erzählerkommentar; Erzählerrede; indirekte Rede; Redebericht Minnerede 222f. mise en abyme 203 Monolog 3, 6, 12f., 18f., 64, 66, 76, 92, 96, 98, 100, 103, 107f., 160, 168, 175, 184, 187, 211, 218, 232 Mündlichkeit / Schriftlichkeit 1, 5, 10f., 13f., 18f., 36, 39, 41–43, 46f., 49f., 75, 87, 95, 139, 153, 156, 167, 172, 181, 197, 200, 202, 206f., 210–212, 265, 271, 275, 282f., 289, 293, 306 – siehe auch Performanz / Aufführung(ssituation); Vorlesen / Vorlesekultur narratio 170, 203 Nibelungenlied 35–59, 260 Nikolaus von Bibra, Carmen satiricum 146 nonverbale Kommunikation siehe Gestik / nonverbale Kommunikation obszönes Sprechen 9 Odo von Magdeburg, Ernestus 177 Orendel 168, 172 St. Oswald 168 Otloh von St. Emmeram 146 Otto von Freising 32, 139, 148 Ovid 143, 160, 273 – Ars Amatoria 222 Panphilus 152 Parodie 209–211, 288 Partonopeus de Blois 215, 217, 221–223, 225–228, 230–233 Performanz / Aufführung(ssituation) 3, 9, 13f., 19, 41f., 50, 91, 95, 142, 145, 153, 158–160, 167, 200f., 235–237, 252f., 271, 286, 290 peroratio 170 Persuasion 13, 168, 170f., 219f., 222f., 225f., 228, 232f., 296f., 300f., 305 Pierre de St.-Cloud, Roman de Renart 294 Plato 26 Plautus 145 – Aulularia 145 Plinius, Naturalis historia 177 Poema de Fernán González 210 Poetik siehe Rhetorik und Poetik Prahlrede 63
Personen-, Werk- und Sachregister
315
Predigt siehe ars praedicandi Priscian, Praeexercitamina 222, 224 Prolog 63, 146, 148, 160, 177, 203, 215–217, 227, 232, 287 Publikum / Zuhörer 4, 9, 13, 19, 86, 93–95, 100, 103f., 107, 114f., 130, 144, 160, 170, 180f., 200, 211, 221, 227, 243, 256, 259, 275, 277f., 283f., 286, 290f. – siehe auch Performanz / Aufführung(ssituation); Rezipient
Prolog; refutatio; responsio; simulatio / dissimulatio; Topos / Topik; variatio roman courtois siehe höfischer Roman / roman courtois Roman d’Éneas 87–93, 141, 154f., 176, 224, 275 Rudolf von Ems – Der guote Gêrhart 8 – Willehalm von Orlens 274 Rupert von Deutz 139
quaestio 220, 231f. Querolus 145 Quintilianus, Marcus Fabius, Institutio Oratoria 265, 268, 271
Salman und Morolf 168, 172 Schlachtrede siehe Kampfdialog / Schlachtrede Schlichten siehe Mediator / Mediationsdialog Schmähen / Schmährede 76, 98, 185, 201, 230f., 261, 265, 268, 270f., 280, 282 schneller Redewechsel 140–142, 147f., 149, 152, 154–157, 159f., 260 – siehe auch Stichomythie Schriftlichkeit siehe Mündlichkeit / Schriftlichkeit Schweigen 9, 209, 235, 245, 248, 263, 267 Selbstgespräch / Soliloquium 6, 98, 101, 147 Selbstlob 8, 267 Seneca d.J. 88, 148–150 – Agamemnon 148f. – Hercules furens 149 – Medea 149 – Octavia 149 – Oedipus 149 – Phaedra 149 – Thyestes 149 – Troades 149 sermocinatio 177 Sigebert von Gembloux 139 simulatio / dissimulatio 129, 170, 173 Soliloquium siehe Selbstgespräch / Soliloquium Spielmannsepik 165, 168, 172 Spotten / Spottrede 8, 23, 77, 87, 110f., 118, 125, 135f., 218, 229, 256, 262f., 265, 267– 270, 306, 308 Sprechakttypen, -verben 299 – beschuldigen 48, 53f., 56, 59, 77, 243, 251, 294 – beten 6, 20, 23f., 26, 29, 108, 110, 130, 175–177, 182, 185–190, 202f., 205f. – bewerten 53, 123, 127, 171, 225
Ratsszene 63, 168, 210 – siehe auch Sprechakttypen, -verben Redeankündigung siehe inquit-Formeln Redebericht 3, 7, 101, 167, 202 – siehe auch indirekte Rede Redeszene (Begriff) 1–4 Redewechsel siehe Sprecherwechsel / Redewechsel (turn) refutatio 224 Reim 107, 157, 172, 178, 222, 257, 260, 264, 267, 270, 272, 278, 295 Reizrede 77, 118, 133, 206 Religionsgespräch 31, 110f. – siehe auch Bekehren / Bekehrungsgespräch Renaut de Beaujeu, Bel Inconnu 87 responsio 231 Reynaerts historie 295–298, 300–309 Reynke de Vos 295, 298, 300–308 Rezipient 11–13, 36f., 44f., 47, 57, 76, 91, 94, 101, 125, 128, 133, 135f., 171, 174f., 181f., 201, 211, 227, 231, 259, 271f., 290, 294 – siehe auch Publikum / Zuhörer Rhetorik und Poetik 7, 10, 13f., 55, 85, 93, 143, 150f., 165, 170, 182f., 218–220, 226, 228, 237f., 242, 262, 265 – siehe auch abbreviatio / brevitas; aemulatio; amplificatio; argumentatio / argumentieren; determinatio; dilatatio materiae; elocutio; Eloquenz; Epilog; Exempla; exordium; extrapolatio; genus iudicale; imitatio; narratio; peroratio;
316 – bitten 23, 26, 28f., 89, 108, 110f., 124, 127, 129, 154, 173, 186, 188, 196, 202, 215, 225f., 264, 268, 273, 297, 303, 305f., 308 – Dank(en) 23, 111, 179, 186, 188f., 202, 204, 217, 308 – demütigen 45, 49, 52f., 58 – drohen 76–78, 110, 119, 123, 127, 155, 222, 226, 297, 304–307 – (ver-)fluchen 8, 98, 101, 227, 246, 248– 250, 252, 297, 301, 307 – (auf-)fordern 48f., 50, 54f., 68f., 72, 79, 95, 111, 127, 129–132, 151, 153, 170f., 173, 181, 185, 187–190, 202, 205f., 240, 243, 256, 302, 304f., 308f. – fragen 6f., 22f., 29, 58, 76, 78f., 127, 129, 134, 151, 154, 189, 207, 221f., 224, 231, 244–249, 253, 265, 285f., 288, 308 – grüßen 39, 44–46, 52, 58f., 123, 131f., 189, 195f., 218, 238f., 242, 245, 247, 255f., 286, 300 – herausfordern 44–50, 52–54, 58f., 78, 118, 127f., 132, 134, 181, 202–206, 288 – hochstapeln / tiefstapeln 45, 47–50, 52– 59 – insistieren 18, 44, 52–54, 58, 226, 270 – (an-)klagen 6, 8, 92f., 95, 97f., 101, 103, 108, 117, 127, 130, 132, 135, 175–179, 181, 185, 187, 209, 218, 236, 245, 247– 250, 252, 280 – provozieren 40, 45–54, 58, 120, 122– 125, 127, 129–131, 133, 203, 205f., 238, 270f. – (be-)raten 23, 25f., 46, 69, 72, 96, 114, 119, 121, 125, 136, 155, 158, 184, 189f., 209f., 223–225, 232, 238, 295f., 302f., 305, 309 – schwören 8, 111, 206, 306, 309 – vorwerfen 46, 49–51, 55, 119, 121, 129, 132, 229, 248f., 261f. – zurückweisen 44, 48f., 52–54, 58, 68, 206, 222, 226 Sprecherwechsel / Redewechsel (turn) 3, 11, 13, 18, 90f., 142, 146, 153, 157–159, 167f., 180, 267 Stichomythie 87, 90–92, 94, 100, 117, 155 – siehe auch schneller Redewechsel
Personen-, Werk- und Sachregister Streiten / Streitrede 3, 12, 24, 31, 35f., 38– 41, 58, 69, 71, 75, 78, 105f., 108, 110f., 113, 119, 120f., 210, 221, 225, 229, 231f., 271 Der Stricker – Daniel von dem Blühenden Tal 6, 126 – Karl 63–84 Terenz 88, 145–150, 152–154, 156, 160 – Andria 146f. Thomas von Bretagne 283f. Thomasin von Zerklære, Der Wälsche Gast 2, 258, 265 Topos / Topik 93, 200, 216, 218, 222, 238, 240f., 288f. Tragödie (tragoedia) 148–150, 152 – siehe auch Drama Triumphieren / Triumphrede 29, 75f. Übersetzung 155, 199, 201, 217, 275, 277, 282–289, 291 Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet 6, 129, 257 variatio 85, 92, 95, 211 Vergil – Aeneis 143, 147, 176–178, 181, 275 – Georgica 147 Victorinus 219 Vitalis von Blois 145 Volkssprache 8, 10, 139f., 144f., 150, 152f., 156, 160f., 165, 193, 197–201, 207, 211f., 228, 232f. Vorlesen / Vorlesekultur 13, 142, 156f., 159, 274 Vorwurf siehe Sprechakttypen, -verben Waltharius 153 Walt(h)er von Châtillon 140 – Alexandreis 177 Walther von Speyer, Libellus scolasticus 146 Werben / Werbungsrede 222, 232 Wilhelm von Conches 139 Wilhelm von Hirsau 139 Willem, Van den vos Reynaerde 294–297, 300–303, 305f., 308 Williram von Ebersberg, Expositio in Cantica canticorum 146 Winrich von Trier 146 Wirnt von Grafenberg, Wigalois 125, 273, 281
317
Personen-, Werk- und Sachregister Wolfram von Eschenbach 92, 255, 267, 276 – Parzival 6, 87f., 97, 104, 118, 122–125, 168, 236, 244, 246–253, 255, 271, 274, 276–283, 286, 288, 291 – Willehalm 85f., 88, 95–99, 101f., 104– 115, 276f., 280, 282
Ywain and Gawain 120 Zitat 9, 12, 26, 51, 125, 145, 174, 176f., 179– 187, 189f., 240, 252, 267, 275, 299 Zuhörer siehe Publikum / Zuhörer