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German Pages 328 Year 2007
Beiträge zur Dialogforschung
Band 36
Herausgegeben von Franz Hundsnurscher und Edda Weigand
Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik Herausgegeben von Nine Miedema und Franz Hundsnurscher
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-75036-4
ISSN 0940-5992
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http: //www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Einband: Laupp & Göbel GmbH, Nehren
Inhaltsverzeichnis
Nine Miedema und Franz
Hundsnurscher
Einleitung
1
I. Medien und Gattungen Anja Becker Dialogszenen in Text und Bild Beobachtungen zur Leidener Wigalow-Handschrift
Katharina
19
Philipowski
Strophisches und stichisches Sprechen Medientheoretische Überlegungen zur Figurenrede in höfischer Epik und Heldenepik
43
Maryvonne Hagby Die Dialoge im Leben der Yolanda von Vianden Inhaltliche, funktionale und gattungsgeschichtliche Überlegungen
73
Monika Unzeitig Konstruktion von Autorschaft und Werkgenese im Gespräch mit Publikum und Feder
89
II. Textübergreifende formale Fragestellungen Franz
Hundsnurscher
Das literarisch-stilistische Potential der inquit-Formel
103
Maria E. Müller Vers gegen Vers Stichomythien und verwandte Formen des schnellen Sprecherwechsels in der mittelhochdeutschen Epik
117
VI
Inhaltsverzeichnis
Martin H. Jones nü wert iuch, ritter, ez ist zit (Erec, v. 4347) Zum verbalen Vorfeld des ritterlichen Zweikampfs in deutschen Artusromanen des 12. und 13. Jahrhunderts
139
III. Exemplarische Untersuchungen Elke Ukena-Best Konfliktdialoge im Eneasroman Heinrichs von Veldeke
157
Nine Miedema Höfisches und unhöfisches Sprechen im Erec Hartmanns von Aue
181
Tobias Zimmermann Den Mörder des Gatten heiraten? Wie ein unmöglicher Vorschlag zur einzig möglichen Lösung wird der Argumentationsverlauf im Dialog zwischen Lunete und Laudine in Hartmanns Iwein
203
Harald Weydt Falken und Tauben im Nibelungenlied Wie lässt man es zum Kampf kommen, wenn man keine Macht hat?
223
Martin Schuhmann Li Orgueilleus de la Lande und das Fräulein im Zelt, Orilus und Jeschute Figurenrede bei Chretien und Wolfram im Vergleich
247
Henrike Lähnemann Haken schlagende Reden Der Beginn des neunten Buchs des Parzival
261
Cora Dietl Die Frage nach der Frage Das zweite Sigune-Gespräch bei Wolfram und Albrecht
281
VII
Inhaltsverzeichnis
Christiane Krusenbaum und Christian Seebald ze guote jehen Pragmatisches und literarisches Sprechen im Guoten Gerhart Rudolfs von Ems
Personen-, Orts- und Sachregister
...
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315
Nine Miedema und Franz
Hundsnurscher
Einleitung
Redeszenen gehören (neben descriptiones
und Erzählerkommentaren) zu den wichtigsten
gestalterischen Mitteln, die dem Autor eines literarischen Textes zur Verfügung stehen. Eberhard Lämmert beschreibt in seiner klassischen Darstellung der „Bauformen des Erzählens"1 die Verwendung von Dialogen (insbesondere von ,,zitierte[r] Figurenrede" 2 ) als Mittel zur Figurengestaltung sowie zur Ordnung und Schürzung erzählter Abläufe; weiterführend geht er auf die Möglichkeiten der Strukturierung eines Erzähltextes durch Redeszenen ein. Als Funktionen von Gesprächen in der Handlung führt er aus, dass diese logische Bindeglieder zwischen einzelnen Bestandteilen der Erzählhandlung bilden oder intra- bzw. extradiegetische Geschichte vergegenwärtigen können. 3 Zu ergänzen wäre, dass die Ge-
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3
Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart/Weimar 9 2004, S. 202-214. Der vorliegende Sammelband bezieht sich auf die Dialoge als Bestandteile der Großepik, nicht auf den Dialog als literarische Gattung (vgl. dazu Peter von Moos, „Gespräch, Dialogform und Dialog nach älterer Theorie", in: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, hg. von Barbara Frank u.a., Tübingen 1997 [ScriptOralia 99], S. 235-250). - Die Beiträge für diesen Sammelband wurden nach den (hier eher konservativ angewandten) Richtlinien der Neuen Rechtschreibung vereinheitlicht (Duden. Die deutsche Rechtschreibung, Mannheim u.a. 242006). Für ihre Hilfe bei dieser Vereinheitlichung und vielen weiteren redaktionellen Aufgaben (wie etwa der Überprüfung von Zitaten und den Vorarbeiten für das Register) sei Teresa Cordes, Juliane Kirsch und Markus Kremer (Münster) sehr herzlich gedankt. Terminologie nach Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 7 2007, S. 51. Lämmert (wie Anm. 1), S. 231-233. Emest W.B. Hess-Lüttich definiert den Dialog in etwas umständlicher, wenn auch umfassender Formulierung als „wechselseitige Verständigungshandlung vermittels eines (potentiell plurimedial codierten) Verständigungmediums zwischen (realen oder fiktiven) Partizipienten unter Einschluß der Summe ihrer äußeren (semiotisch manifestierten) und inneren (psychisch-kognitiv regulierten) Handlungen, und die ihn auf diese Weise abgrenzt von einem engeren Terminus Gespräch, verstanden als sprachliche, vorzugsweise mündliche Gemeinschaftshandlung zweier oder mehrerer Kommunikatoren in direktem oder technisch vermitteltem Kontakt und geteilter Situationsgebundenheit, sowie von einem weiter eingeschränkten Terminus Konversation, (im Deutschen) verstanden als Alltagsgespräch mit überwiegend 'phatischer Funktion' [...] in 'natürlicher', als 'zwanglos' definierter Redekonstellation, und einem Terminus Diskurs, (im Deutschen [...]) verstanden als Äußerungsmodus im Sinne einer generellen Reflexionslogik kommunikativen Handelns bzw. Zeichengebrauchs [...], insbesondere [...] in methodisch kontrollieren Erörterungen" (Ernest W.B. Hess-Lüttich, „Gesprächsanalyse in der Literaturwissenschaft", in: Text- und Gesprächslinguistik. Linguistics of Text and Conversation. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. An International Handbook of Contemporary Research, hg. von Klaus Brinker u.a., Bd. 2, Berlin/New York 2001 [HSK 16.2], S. 1640-1655, hier S. 1640; Hervorhebungen im Original). In der Literaturwissenschaft wird selten präzise zwischen
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Nine Miedema und Franz Hundsnurscher
spräche selbst Elemente der Handlung sind: Funktional sind sie nicht von anderen Formen des Handelns unterscheidbar. Obwohl Lämmert seine Ausführungen insbesondere für moderne Erzähltexte entwickelte, lassen sich seine Ergebnisse ohne größere Einschränkungen auch auf mittelalterliche Erzählungen übertragen.4 Bereits in den althochdeutschen Texten wird ein ausgeprägtes Bewusstsein von den Möglichkeiten des Einsatzes bestimmter Formen der Rede, insbesondere der Reizrede erkennbar, deren Funktion als selbstständiges Handlungselement unmittelbar einleuchten dürfte;5 während die frühmittelhochdeutschen Erzählungen in Bezug auf die Ausgestaltung von Dialogszenen eher zurückhaltend verfahren, 6 erweist sich danach insbesondere die Zeit der 'mittelhochdeutschen Klassik' als diejenige, in der sich erstmalig in der deutschen Literatur eine Vielfalt der Formen und Funktionen von literarischen Redeszenen nachweisen lässt, die derjenigen moderner Erzähltexte vergleichbar scheint. Gleichzeitig ist gerade diese literarische Epoche durch einen ungewöhnlich hohen Grad der Reflexion über die rhetorischen und narratologischen Mittel und Techniken literarischen Erzählens gekennzeichnet.
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den Begriffen „Dialog" und „Gespräch" unterschieden. - Der Terminus „Redeszene" verweist auf die Einbettung von Dialogen in literarische, hier insbesondere: epische Zusammenhänge. Lämmert (wie Anm. 1), S. 219-223, geht selbst auf den Dialog zwischen Oringles und Enite in Hartmanns von Aue Erec ein, er bezieht sich somit nicht nur auf moderne Beispiele. Die wenigen Zeugnisse für die auf mündlicher Tradition beruhenden althochdeutschen heldenepischen Erzähltexte machen von Dialogen vielfachen Gebrauch, vgl. z.B. das Hildebrandslied. Dass jedoch darüber hinaus auch die lateinisch gebildete Klerikerschicht, die die althochdeutschen Bibelübersetzungen schuf, vom literarischen Mittel der sermocinatio (vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 3 1990, § 820-825, 1131-1132) sehr bewussten Gebrauch machte, führte jüngst Wolfgang Haubrichs aus: Wolfgang Haubrichs, „Heilige Fiktion? Die Gestaltung gesprochener Sprache in Otfrids von Weißenburg Liber Evangeliorum. Vier Fallbeispiele zur inneren Sprachreflexion des karolingischen Dichtertheologen", in: Vox, Sermo, Res. Beiträge zur Sprachreflexion, Literatur- und Sprachgeschichte vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Festschrift für Uwe Ruberg, hg. von Wolfgang Haubrichs u.a., Stuttgart/Leipzig 2001, S. 99-122; ders., „Rituale, Feste, Sprechhandlungen. Spuren oraler und laikaler Literatur in den Bibelepen des Heliand und Otfrids von Weißenburg", in: Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D.H. Green, hg. von Mark Chinca und Christopher Young, Turnhout 2005 (Utrecht Studies in Medieval Literacy 12), S. 37-66. Speziell zu den Reizreden s. Marcel M.H. Bax, „Rules for Ritual Challenges: Α Speech Convention among Medieval Knights", in: Journal of Pragmatics 5 (1981), S. 423-444; ders., „Rites of Rivalry. Ritual Interaction and the Emergence of Indirect Language Use", in: Journal of Historical Pragmatics 1 (2002), S. 61-106. Vgl. Werner Schwartzkopff, Rede und Redeszene in der deutschen Erzählung bis Wolfram von Eschenbach, Berlin 1909, Nachdruck New York/London 1970 (Palaestra 74), und insbesondere Wolfgang Schulte, „Epischer Dialog". Untersuchungen zur Gesprächstechnik in frühmittelhochdeutscher Epik (Alexanderlied - Kaiserchronik - Rolandslied - König Rother), Diss. Bonn 1970: Die frühen Texte bevorzugen zwar „lange und wortreiche Reden" (S. 9), dabei ist jedoch „schon ein zweimaliger Sprecherwechsel in der frühmhd. Epik selten" (S. 90), denn es werden nach Schultes Untersuchungen „mehr Reden miteinander ausgetauscht, als daß man miteinander redet" (ebd.).
Einleitung
3
Für diesen Prozess der Literarisierung und der Bewusstwerdung poetologischer wie fiktionaler Prinzipien in Deutschland 7 gab zweifellos der französisch-höfische Kulturkreis den Anstoß. Auffällig ist jedoch, dass sich die deutschen Autoren bereits früh von ihren Vorlagen emanzipierten: 8 In der Entwicklung von neuen literarischen Redesituationen und -formen, von Vorstellungen einer normierten (sich allerdings noch nicht nach lich
schrift-
fixierten Regeln richtenden 9 ) Streit-, Gesprächs- und Konversationskultur, von
einem Bewusstsein der vielfältigen Möglichkeiten des Handelns durch Sprache oder auch der Manipulation durch verbale Handlungszüge weichen die deutschen Texte signifikant von ihren französischen Quellen ab. Eine Vielzahl mittelalterlicher Texte verweist auf die Wichtigkeit, mit zühten zu sprechen bzw. sich um kiuschiu wort zu bemühen. 10 Thomasin von Zerklaere gibt im Wälschen Gast (1215/1216) gleich zu Beginn des ersten Buches an: [E]in ieglich biderbe man sol/zallen
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8
9
10
ztten sprechen wol/ode
tuon ode gedenken (v. 143—
Vgl. dazu Gertrud Grünkorn, Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200, Berlin 1994 (Phil. St.u.Qu. 129); Matthias Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994 (GRM, Beiheft 12). Zu den Formen der selbstständigen Weiterführung poetologischer Prinzipien in der deutschsprachigen Literatur unter besonderer Berücksichtigung der Redeszenen s. Karen Pratt, „Direct Speech - A Key to the German Adaptor's Art?", in: Medieval Translators and Their Craft, hg. von Jeanette Beer, Kalamazoo 1989 (Studies in Medieval Culture 25), S. 213-246. S. außerdem demnächst Ricarda Bauschke-Hartung, Herbort von Fritzlar, 'Liet von Troye'. Antikenrezeption als Diskursmontage und Literaturkritik, Habil. masch. 2006 (im Druck), sowie Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik: Komparatistische Perspektiven, hg. von Monika Unzeitig, Nine Miedema und Franz Hundsnurscher (erscheint in der Reihe „Beiträge zur Dialogforschung"). Der zuletzt genannte Sammelband beruht auf einer Tagung, in deren Rahmen eine Bibliographie zu den Redeszenen in der mittelhochdeutschen Epik zusammengestellt wurde, die unter folgender Adresse zugänglich ist: http://www.fblO.uni-bremen.de/redeszenen Vgl. Peter von Moos, „Zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit: Dialogische Interaktion im lateinischen Hochmittelalter", in: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), S. 300-314, hier S. 305: Trotz der ,,vergebliche[n] Suche nach einer formellen Gattung im Sinne einer Ars dialogica" zeigen „seit der karolingischen Zeit viele geschriebene (fiktive) Dialoge überaus feinsinnige Argumentationsstrukturen [...], die bestimmte Bildungsvoraussetzungen annehmen lassen. Metasprachliche Andeutungen innerhalb solcher Dialoge führen zu dem Schluß, daß abgesehen von wohlbekannten Gattungsmodellen auch verbreitete Schulregeln der Rhetorik oder Dialektik und Leitlinien verschiedener gruppenspezifischer Moralsysteme (Mönchs-, Fürsten-, Studenten-Ethik u.a.) modifiziert einer eigenen, mündlich unterrichteten und geübten Gesprächskunst dienstbar gemacht wurden". Vgl. auch ders. (wie Anm. 1), S. 241f. Wigalois der Ritter mit dem Rade von Wirnt von Gravenberc, hg. von Johannes M.N. Kapteyn, Bd. 1: Text, Bonn 1926 (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 9), v. 1240; Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, hg. von Heinrich Rücken, mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann, Quedlinburg/Leipzig 1852, Nachdruck Berlin 1965, v. 389. Vgl. auch Albrechts Jüngerer Titurel, Str. 2958,1-3: Sprechen und gebaren mit hovschen siten riche, / des sol man gerne varen, daz man zu hove kunne hoveliche / werben gen den herren und den vrowen (zitiert nach: Albrecht, Jüngerer Titurel, hg. von Werner Wolf und Kurt Nyholm, 4 Bde., Berlin 1955-1995 [DTM 45, 55, 56, 73, 77, 79]).
Nine Miedema und Franz Hundsnurscher
4
145) - das Sprechen wird hier somit an erster Stelle genannt, insbesondere an der Sprache erkenne man den biderbe[n]
Menschen. [B]eidiu zuht und hiifscheit / koment von der ge-
wonheit, äußert Thomasin wenig später (v. 657f.): Das richtige höfische Verhalten, auch das sprachliche, ist nach seinen Vorstellungen erlernbar. So beschreibt Joachim Bumke, dass die fiktionale Literatur des 12. Jahrhunderts in Deutschland zu einem ,,ästhetische[n] Erziehungsprozeß" geführt habe, bei dem die auf der Schriftkultur beruhende höfische Literatur der 'mittelhochdeutschen Klassik' in kurzer Zeit die älteren, stärker auf mündlicher Tradition basierenden Texte abgelöst habe;" dabei benennt Bumke die „Sprachkultur [als] ein Merkmal höfischer Erziehung" 12 und gibt an, dass die „höfische Kultur von den Betroffenen selbst i n
erster
Linie
als Sprachkultur begriffen wurde". 13
Bisher wurde jedoch kaum näher untersucht, auf welche Art und Weise sich die Darstellung der Möglichkeiten verbaler Auseinandersetzung in den höfischen Epen von derjenigen in älteren Texten, wie etwa der Heldenepik, den frühen deutschen Heiligenviten oder den chansons de geste, unterscheidet. Insgesamt gilt, trotz wichtiger Pionierarbeiten 14 und
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Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München "2005 (dtv 30170), S. 707f. S. außerdem ebd., S. 437 (mit Textbeispielen), 426. Vgl. auch Harald Haferland, Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1989 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10). Bumke (wie Anm. 11), S. 437. Joachim Bumke, „Höfische Kultur. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme", in: PBB 114 (1992), S. 414-492, hier S. 478 (Hervorhebung F.H. / N.M.). Vergleichbar ders., „Höfischer Körper - höfische Kultur", in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a.M./Leipzig 1994, 1999 (insel taschenbuch 2513), S. 67-102, hier S. 73. Zu den frühen Beispielen gehören Schwartzkopff (wie Anm. 6) und Schulte (wie Anm. 6); vgl. außerdem Hans-Joachim Gernentz, Formen und Funktionen der direkten Reden und Redeszenen in der deutschen epischen Dichtung von 1150-1299, Habil. masch. Rostock 1952. Spezielle Formen von Redeszenen wurden aus literaturwissenschaftlicher Sicht untersucht von Helmut Peetz, Der Monolog bei Hartmann von Aue. Mit einem Anhang: Der Monolog bei Ulrich von Zatzikhoven und Wirnt von Grevenberg, Diss. Greifswald 1911; Cecilie Eckler, Der Monolog im älteren mittelhochdeutschen Epos, Darmstadt 1924; Emil Walker, Der Monolog im höfischen Epos. Stil- und literaturgeschichtliche Untersuchungen, Stuttgart 1928 (Tübinger Germanistische Arbeiten 5); Hans Eggers, „Der Liebesmonolog in Eilharts 'Tristrant'", in: Euphorien 45 (1950), S. 275-304; Hadumod Bußmann, „Der Liebesmonolog im frühhöfischen Epos. Versuch einer Typbestimmung am Beispiel von Eilharts Isalde-Monolog", in: Werk - Typ - Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur, hg. von Ingeborg Glier u.a., Stuttgart 1969, S. 45-63. Zur Analyse spezieller Dialogsituationen in mittelhochdeutschen epischen Texten s. Walther Bolhöfer, Gruß und Abschied in althochdeutscher und mittelhochdeutscher Zeit, Diss. Göttingen 1912; Hermann Bauß, Studien zum Liebesdialog in der höfischen Epik, Würzburg 1937; Renate Roos, Begrüßung, Abschied, Mahlzeit. Studien zur Darstellung höfischer Lebensweise in Werken derZeit von 1150-1320, Bonn 1975; Hannes Kästner, Mittelalterliche Lehrgespräche. Textlinguistische Analysen, Studien zur poetischen Funktion und pädagogischen Intention, Berlin 1978; Franz Lebsanft, Studien zu einer Linguistik des Grußes. Sprache und Funktion der altfranzösischen Grußformen, Tübingen 1988 (Beihefte zur Zeitschrift für ro-
Einleitung
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Fallstudien zu einzelnen Texten 15 , dass die Untersuchungen auf dem Gebiet der Redeszenen in der mittelhochdeutschen Epik aus literaturwissenschaftlicher Perspektive noch relativ selten sind. Dabei zeigt sich, dass die in der literaturwissenschaftlichen Forschung häufig wenig beachtete linguistische Dialogforschung verschiedene methodische Ansätze entwickelt hat, die neue Forschungsperspektiven eröffnen. Viel versprechend erschiene eine konsequente Verknüpfung sprach- und literaturwissenschaftlicher Methoden, wie sie speziell für die mittelalterlichen Epen bisher kaum erst versucht worden ist. So formuliert Jörg Kilian in seiner jüngst erschienenen Einführung zur historischen Dialogforschung, 16 „dass es eine 'Historische Dialogforschung' als anerkannte Teildisziplin der germanistischen Linguistik und als Dach der mittlerweile überaus zahlreichen Einzeluntersuchungen noch gar nicht gibt, diese Disziplin vielmehr erst zu begründen ist". Diese zu entwickeln sei „eine interdisziplinäre Herausforderung, möglicherweise ein Wagnis, aber kein unkontrolliertes Abenteuer, denn die herangezogenen linguistischen Teildisziplinen, deren sich die historische Dialogforschung bedient, stellen Ansätze, Kategorien und Hilfsmittel zur Verfügung, die den Weg durch die dialogische Sprachgeschichte des Deutschen gangbar machen". In der Forschungspraxis seien vorläufig „methodische Flexibilität und Offenheit wichtiger als methodische Reinheit". Obwohl Kilian die unterschiedlichsten Aspekte und Möglichkeiten der Analyse historischer, auch literarischer Dialoge anspricht, 17 geht er kaum auf die Frage nach der Funktion der Dialoge im Gesamt der Werke oder auch im Gesamt der Literatur Uberhaupt ein. Die „überaus zahlreichen Einzeluntersuchungen", die Kilian erwähnt, 18 beziehen sich nur in
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manische Philologie 217); Joseph M. Sullivan, Counsel in Middle High German Arthurian Romance, Göppingen 2001 (GAG 690). Vgl. etwa Friedhilde Göppert, Die Rolle der Reden im 'Nibelungenlied', Diss. Marburg 1944; Peter Wiehl, Die Redeszene als episches Strukturelement in den Erec- und Iwein-Dichtungen Hartmanns von Aue und Chrestiens de Troyes, München 1974 (Bochumer Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft 10); Dieter Krauss, Redegattungen und Redearten im 'Rolandslied' sowie in der 'Chanson de Roland' und in Strickers 'Karl'. Studien zur Arbeitsweise mittelalterlicher Dichter, Göppingen 1972 (GAG 64); Jane Emberson, Speech in the 'Eneide' of Heinrich von Veldeke, Göppingen 1981 (GAG 319). Jörg Kilian, Historische Dialogforschung. Eine Einführung, Tübingen 2005 (Germanistische Arbeitshefte 41), S. IX, 9f. Vgl. auch Helmut Rehbock, „Ansätze und Möglichkeiten einer historischen Gesprächsforschung", in: Text- und Gesprächslinguistik (wie Anm. 3), S. 961-970; HessLüttich, „Gesprächsanalyse" (wie Anm. 3). Für die Forschungsdesiderate aus Sicht der mittellateinischen Forschung s. von Moos (wie Anm. 9). Kilian (wie Anm. 16), S. 12f., beschreibt die unterschiedlichen Dimensionen, die die historische Dialogforschung annehmen kann: die Untersuchung der sprachlichen Strukturen, der pragmatischen Funktionen, der sozialen Bedingungen, der Genese und Evolution des Dialogs, des Sprachwandels. Seine Ausführungen zu den pragmatischen Funktionen (S. 86-111) der Dialoge können aus literaturwissenschaftlicher Sicht nicht überzeugen, da sich Kilian hier insbesondere auf die Funktion der Redebeiträge in ihrem unmittelbaren Kontext bezieht und narratologische Aspekte außer Betracht lässt. Vgl. auch die von Ernest W.B. Hess-Lüttich, „Gesprächsformen in der Literatur", in: Text- und Gesprächslinguistik (wie Anm. 3), S. 1619-1632, hierS. 1625-1629, genannten „Fallstudien".
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Nine Miedema und Franz Hundsnurscher
Einzelfällen auf Texte des Mittelalters. Hervorzuheben sind in diesem Bereich diejenigen Analysen, die sich einzelnen Dialog- bzw. Sprechakttypen in historischen Erzählungen widmen; 19 eine verbindliche Dialogtypologie wurde auch für die modernen Dialoge erst in Ansätzen entwickelt, 20 und deren Anwendbarkeit für die mittelalterlichen Texte wäre erst noch zu erforschen (vermutet werden darf, dass sich die verschiedenen Dialogtypen im Laufe der Jahrhunderte maßgeblich veränderten).21 - Einzelne weitere Beiträge wenden die Methoden der Konversations- und Dialoganalyse auf Epen des 12. und 13. Jahrhunderts an.22 Aufgrund der hohen Komplexität von Wolframs von Eschenbach Parzival und seinen 19
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Alexander Schwarz, Sprechaktgeschichte. Studien zu den Liebeserklärungen in mittelalterlichen und modernen Tristandichtungen, Göppingen 1984 (GAG 398). Vgl. auch Brigitte SchliebenLange, „Für eine historische Analyse von Sprechakten", in: Sprachtheorie und Pragmatik, hg. von Heinrich Weber und Harald Weydt, Bd. 1, Tübingen 1976, S. 113-119; dies, und Harald Weydt, „Streitgespräch zur Historizität von Sprechakten", in: Linguistische Berichte 60 (1978), S. 65-78; Andreas Wagner, „Wie sich Sprechakte historisch verändern", in: Sprache - Sprechen - Handeln, hg. von Dieter W. Haiwachs und Irmgard Stütz, Bd. 2, Tübingen 1994, S. 181-187. Wilhelm Franke, Elementare Dialogstrukturen. Darstellung, Analyse, Diskussion, Tübingen 1990 (Reihe Germanistische Linguistik 101); Franz Hundsnurscher, „Dialog-Typologie", in: Handbuch der Dialoganalyse, hg. von Gerd Fritz und Franz Hundsnurscher, Tübingen 1994, S. 203-238; Hess-Lüttich, „Gesprächsformen" (wie Anm. 18), S. 1621-1625 (mit Angabe weiterführender Literatur). Der konsequenteste Versuch der Übertragung von Frankes Dialogtypologie auf einen Roman des Mittelalters ist Andreas Urscheler, Kommunikation in Wolframs 'Parzival'. Eine Untersuchung zu Form und Funktion der Dialoge, Frankfurt am Main u.a. 2002 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 38); unabhängig von diesem Ansatz: Peter Lebrecht Schmidt, „Zur Typologie und Literarisierung des frühchristlichen lateinischen Dialogs", in: Christianisme et formes litteraires de l'antiquite tardive en Occident [...], hg. von Alan Cameron, Genf 1977 (Entretiens sur l'antiquite classique 23), S. 101-190. Vgl. außerdem Gerd Fritz, „Geschichte von Dialogformen", in: Handbuch der Dialoganalyse (wie Anm. 20), S. 545-562. Vgl. zur Frage nach der grundsätzlichen Rekonstruierbarkeit mittelalterlicher Sprechakte auch Peter von Moos, „Die Kunst der Antwort. Exempla und dicta im lateinischen Mittelalter", in: Exempel und Exempelsammlungen. 2. Tagung des Arbeitskreises 'Spätmittelalter und Frühe Neuzeit', hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1991, S. 24-58. Den Anstoß gab Brigitte Schlieben-Lange, ,,'Ai las - que planhs'? Ein Versuch zur historischen Gesprächsanalyse am Flamenca-Roman", in: Romanische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1979, S. 1-30. S. darüber hinaus Harald Weydt, „Streitsuche im 'Nibelungenlied': Die Kooperation der Feinde. Eine konversationsanalytische Studie", in: Literatur und Konversation. Sprachsoziologie und Pragmatik in der Literaturwissenschaft, hg. von Ernest W.B. Hess-Lüttich, Wiesbaden 1980, S. 95-114; Ernest W.B. Hess-Lüttich, Kommunikation als ästhetisches Problem, Tübingen 1984 (Kodikas, Code: Supplement 10) (mit Kapitel zum Helmbrecht Wernhers des Gartenaere); Dagmar Neuendorff, „Das Gespräch zwischen Parzival und Trevrizent im IX. Buch von Wolframs 'Parzival'. Eine diskursanalytische Untersuchung", in: Neophilologica Fennica, hg. von Leena Kahlas-Tarkka, Helsinki 1987 (Memoires de la Societe Neo-Philologique de Helsinki 45), S. 267-294; Edda Weigand, „Historische Sprachpragmatik am Beispiel: Gesprächsstrukturen im 'Nibelungenlied'", in: ZfdA 117 (1988), S. 159-173. Vgl. außerdem z.B. Marcel M.H. Bax, „Historische Pragmatik. Eine Herausforderung für die Zukunft. Diachrone Untersuchungen zu pragmatischen Aspekten ritueller Herausforderungen in Texten mittelalterlicher Literatur", in: Diachrone Semantik und Pragmatik. Untersuchungen zur Erklärung und Beschreibung des
Einleitung
1
Dialogszenen verwundert es kaum, dass die Redeszenen gerade dieses Romans bereits mehrfach zum Gegenstand der historischen Dialogforschung (mit literatur- oder sprachwissenschaftlichem Schwerpunkt) geworden ist; 23 auch das Nibelungenlied dieser Perspektive bereits mehrfach betrachtet.
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wurde unter
Zu betonen ist jedoch, dass für weitaus
Sprachwandels, hg. von Dietrich Busse, Tübingen 1991, S. 197-215. - Eine Übersicht über die wichtigste sprachwissenschaftlich orientierte Forschungsliteratur zum generellen Thema der Analyse (auch moderner) literarischer Dialoge bis 2005 bietet Hess-Lüttich, „Gesprächsanalyse" (wie Anm. 3); ders., „Gesprächsformen" (wie Anm. 18); ders., „Literarische Gesprächsformen als Thema der Dialogforschung", in: Dialogue Analysis IX: Dialogue in Literature and the Media. Selected Papers from the 9th 1ADA Conference Salzburg 2003, Bd. 1: Literature, hg. von Anne Betten und Monika Dannerer, Tübingen 2005 (Beiträge zur Dialogforschung 30), S. 85-98. S. außerdem Anne Betten, „Einige grundsätzliche Überlegungen zur Beschreibung alltagssprachlicher und literarischer Dialoge", in: Dialoganalyse. Referate der 1. Arbeitstagung Münster 1986, hg. von Franz Hundsnurscher und Edda Weigand, Tübingen 1986 (Linguistische Arbeiten 176), S. 3-12; dies., „Analyse literarischer Dialoge", in: Handbuch der Dialoganalyse (wie Anm. 20), S. 519-544. 23
Vgl. neben der in Anm. 21 und 22 genannten Literatur z.B. Bernd Schirok, „Trevrizent und Parzival. Beobachtungen zur Dialogführung und zur Frage der figurativen Komposition", in: ABäG 10 (1976), S. 43-71; Karl Bertau, „Frouwe, wie stet iwer not? Parzivals Frage vor der Frage", in: Perceval - Parzival hier et aujourd'hui et autres essais sur la litterature allemande du Moyen Age et de la Renaissance, hg. von Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok, Greifswald 1994 (WODAN 48), S. 11-14; Waltraud Fritsch-Rößler, „Lachen und Schlagen. Reden als Kulturtechnik in Wolframs 'Parzival', in: Verstehen durch Vernunft. Festschrift für Werner Hoffmann, hg. von Burkhardt Krause, Wien 1997 (Philologica Germanica 19), S. 75-98; Tomas Tomasek, „Sentenzen im Dialog. Einige Beobachtungen zum Profil der Gawein-Figur im X. Buch des 'Parzival' Wolframs von Eschenbach", in: Sprachspiel und Bedeutung. Festschrift für Franz Hundsnurscher zum 65. Geburtstag, hg. von Susanne Beckmann u.a., Tübingen 2000, S. 481-488; Anja Becker, „Parzivals redegewandter Vater. Zur Einschätzung Gahmurets und der Auszugsszene (Pz. 4,27-13,8), in: Focus on German Studies 9 (2002), S. 155-174; Alun Tiplady, „Dialog im 'Parzival'. Zu Form und Funktion des Modalverbgebrauchs", in: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999, hg. von Nikolaus Henkel u.a., Tübingen 2003, S. 61-74.
24
Neben der in Anm. 15 und 22 genannten Literatur sei verwiesen auf Peter von Polenz, „Der Ausdruck von Sprachhandlungen in poetischen Dialogen des deutschen Mittelalters", in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 9 (1981), S. 249-273; Stefan Sonderegger, „Gesprochene Sprache im 'Nibelungenlied'", in: Hohenemser Studien zum Nibelungenlied, hg. von Achim Masser, Dornbirn 1981 (Montfort. Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs Heft 3/4 1980), S. 360-369; Franz Hundsnurscher, „Dialogverknüpfung im 'Nibelungenlied'", in: Verstehen durch Vernunft (wie Anm. 23), S. 165-176; Elaine C. Tennant, „Prescriptions and Performatives in Imagined Cultures. Gender Dynamics in 'Nibelungenlied' Adventure 11", in: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, hg. von Jan-Dirk Müller und Horst Wenzel, Stuttgart/Leipzig 1999, S. 273-316; Alan Robertshaw, „The Art of Conversation in the 'Nibelungenlied': Siegfried and Hagen", in: Blütezeit. Festschrift für L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag, hg. von Mark Chinca u.a., Tübingen 2000, S. 221-229; Stephan Müller, „Datenträger. Zur Morphologie und Funktion der Botenrede in der deutschen Literatur des Mittelalters am Beispiel von 'Nibelungenlied' und 'Klage'", in: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, hg. von Ludger Lieb und Stephan Müller, Berlin u.a. 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 20 = 254), S. 89-120; Nine Miedema, „Die Gestaltung der
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Nine Miedema und Franz
Hundsnurscher
die meisten mittelalterlichen Epen keine systematischen Untersuchungen der Formen und Funktionen ihrer Dialoge vorliegen. Um die Forschungslücken in Ansätzen schließen zu können oder zumindest zu neuen Untersuchungen anzuregen, fand vom 16.-18. Juni 2005 in Münster eine von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte Tagung zu den „Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik" statt, deren 15 Vorträge von den Dialog- und Monologszenen ausgehende Interpretationen mittelhochdeutscher Großepen darboten. 25 Der vorliegende Sammelband stellt das Ergebnis dieser Tagung dar; ein Beitrag (Almut Suerbaum, „List, Lüge und Geheimnis in Gottfrieds Tristan: Zur Bedeutung der Drachenkampfszene") konnte aus Zeitgründen nicht für die Drucklegung überarbeitet werden, neu hinzu kam die Untersuchung von Tobias Zimmermann. Die Beiträge im vorliegenden Band liefern Bausteine, die zu einem besseren Verständnis der Theorie und Praxis mittelalterlichen sprachlichen Handelns sowie auch der mittelalterlichen Poetik der literarischen Redeszene führen können. Es fällt auf, dass die meisten Beiträge von den mittelhochdeutschen 'Klassikern' ausgehen: Der Ansatz einer Fokussierung auf die Figurenrede erlaubt einen neuen Zugriff auf die Texte, der in vielerlei Hinsicht zu innovativen Resultaten führt. Dabei zeichnen sich die einzelnen Beiträge durch eine Methodenvielfalt aus, die der von Kilian beschriebenen ähnlich ist; um einen allgemein gültigen methodischen Ansatz entwickeln zu können, bedarf es wohl auch weiterer detaillierter Einzelanalysen. Der Band eröffnet mit zwei Beiträgen, die medientheoretische Aspekte der Untersuchung von Dialogen ansprechen. 26 Anja Becker widmet sich der Umsetzung von im Text vorgegebenen Dialogszenen in Bilder am Beispiel des Wigalois Wirnts von Grafenberg, dessen Text im Leidener Codex Ltk 537 reich bebildert worden ist. Die Miniaturen dieses Codex bilden die entsprechenden Szenen nicht schlicht ab, sondern entwickeln ihre eigene Interpretation des Epos: Gelegentlich folgen sie dem Text sehr genau, an anderen Stellen jedoch akzentuieren sie die vorgegebenen Inhalte um, z.B. indem sie im Text vorhandene Halbdialoge im Bild zu Dialogen umgestalten und so eine in der entsprechenden Szene im Text nicht vorgegebene Symmetrie der Sprecher erschaffen. Sehr deutlich werden so die unterschiedlichen Vorzüge und Beschränkungen, die die Medien Text und Bild jeweils zur
25
26
Redeszenen im ersten Teil des Nibelungenliedes: Ein Vergleich der Fassungen *A/*B und *C", in: Ze Lorse bi dem münster. Das Nibelungenlied (Handschrift C). Literarische Innovation und politische Zeitgeschichte, hg. von Jürgen Breuer, München 2006, S. 45-82. Die Untersuchung von Redeszenen in indirekter Rede (im Redebericht) wäre gesondert zu untersuchen. Zur Sonderform der Gedankenrede s. demnächst Nine Miedema, „Gedankenrede und Rationalität in der mittelhochdeutschen Epik", in: Wolfram-Studien (im Druck). Mediale Differenzen, insbesondere die Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, spielen auch in den Beiträgen von Maria E. Müller und Monika Unzeitig eine wichtige Rolle.
Einleitung
9
Darstellung komplexer Inhalte und Beziehungsgeflechte bieten.27 - Katharina Philipowski stellt die These auf, dass die Redeszenen in der (mündlich konzipierten) Heldenepik grundsätzlich von denjenigen der (schriftlich konzipierten) höfischen Epik abweichen. Sie beschreibt für die Heldenepik und die höfische Epik kontrastiv Differenzen in der Figurenrede in den Bereichen „Monolog und Dialog", „Exkurs im Monolog" und im Brief als einer Sonderform der dialogischen Kommunikation.28 Auf diese Art und Weise kann die Analyse von Redeszenen zur Präzisierung der Formulierung von Gattungsdifferenzen verwendet werden; dass hier weitere Untersuchungen vielversprechend wären, zeigt auch Maryvonne Hagbys Untersuchung eines Textes, der im Schnittpunkt von höfischem Epos, Heiligenlegende und Biographie liegt, dem Leben der Yolanda von Vianden. Dass die Protagonistin in diesem Text eine historische Figur der (zur Zeit der Entstehung des Textes) jüngeren Vergangenheit ist, kann den Anlass zur Gestaltung der auffällig alltagsnahen Dialoge gegeben haben;29 so wird hier möglicherweise im bewussten Kontrast zu den höfischen Epen der Anspruch auf historische Faktizität erhoben. Erweitert sei, dass außerdem nach dem je individuellen Umgang einzelner Autoren mit den Gestaltungsmöglichkeiten der Redeszenen gefragt werden könnte: Auch innerhalb einer Teilgattung dürften, trotz der gattungsverbindenden oder vielleicht sogar -konstituierenden Gemeinsamkeiten in der Figurenrede, erhebliche Unterschiede zwischen den Texten der einzelnen jeweiligen Autoren feststellbar sein, die bei einer näheren Untersuchung deren Autorprofile schärfer zu umreißen helfen könnten.30 Monika Unzeitig weist auf die Reflexion über die verschiedenen Entstehungsphasen eines Werkes hin, die sich in den Geleitworten zu den Epen findet. Einen Kulminationspunkt erreicht diese bei Thomasin von Zerklaere im Paradox der Beschreibung fingierter 27
28
Auch Henrike Lähnemann geht auf die Veränderungen ein, die die Umsetzung eines Textes in das Medium des Bildes mit sich bringt. Auf die Besonderheiten des Briefes als Medium des 'Gesprächs' geht Hess-Lüttich, „Gesprächsformen" (wie Anm. 18), S. 1623, kurz ein. Vgl. auch von Moos (wie Anm. 9), S. 305, S. 307. Zu beachten bleibt allerdings, dass der Brief zwar selten Monolog im eigentlichen Sinne ist, da er sich immer explizit an ein Gegenüber richtet und sich auf dieses einlässt, die Briefschreiber sich gleichzeitig jedoch der nicht-mündlichen Kommunikationssituation, bei der zudem die eventuelle Antwort mit erheblicher Verzögerung kommt, bewusst bleiben. Die Gefahr der Brieffälschung untersucht Astrid Inga Bußmann (Erlangen) in ihrem Projekt „verkerte briefe"; auch dieser Aspekt der prekären Authentifizierung der 'Gesprächsbeiträge' im Brief verdeutlicht die grundsätzlichen Unterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation.
29
Zu den generellen Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion mündlicher Alltagssprache anhand literarischer Texte s. z.B. Betten, „Analyse" (wie Anm. 22), S. 533-538; Bumke, „Bestandsaufnahme" (wie Anm. 13), S. 479 mit Anm. 231; Hess-Lüttich, „Gesprächsformen" (wie Anm. 18), S. 1619-1621 (mit weiterer Literatur). Unabhängig von der Frage, ob die Dialoge im Leben der Yolanda von Vianden tatsächlich Formen natürlicher Konversation abbilden, ist jedoch zu betonen, dass sie sprachlich signifikant von denjenigen in anderen mittelalterlichen Texten abweichen.
30
Diese Frage erörtert z.B. Franz Hundsnurscher in seiner Untersuchung der inquit-V*ovme\n in diesem Band.
10
Nine Miedema und Franz
Hundsnurscher
Schriftlichkeit (d.h. in der Beschreibung der angeblich zehn Monate dauernden Niederschrift des Wälschen Gastes) mithilfe fingierter Mündlichkeit (in Gestalt eines Dialoges des Autors mit seiner Feder). Obwohl, wie bereits erwähnt, die Entstehung höfischer Erzählwerke wohl als schriftgestützt zu betrachten ist, bevorzugten die Autoren in ihren Propemptika demnach eine Autorkonstruktion, die dem Kontext mündlicher Tradierung entspricht. Durch solche Dialoge mit extradiegetischen Figuren oder Personifikationen 31 , wie auch durch die fingierte Kontaktaufnahme mit dem extradiegetischen Publikum 32 , wird die intendierte Rezeption auf spielerische Art und Weise gelenkt, anders als im sich stärker autoritativ und didaktisierend gerierenden Erzählerexkurs. Wichtig erscheint dabei außerdem, dass für solche Sonderformen des Dialogs antike Texte Modell standen; es zeigt sich so einmal mehr, dass nicht nur eine Berücksichtigung der unmittelbaren Vorlagen für die mittelhochdeutschen Epen notwendig ist, sondern darüber hinaus auch eine Auseinandersetzung mit sonstigen klassischen Erzähltexten. Es folgen Beiträge, die sich auf textübergreifende formale Fragestellungen konzentrieren. Franz Hundsnurscher erörtert in seinem Beitrag das Erzählen als ein kommunikatives Handeln, in dessen Rahmen die Figurenrede durch inquit-Fame\n
als eine markierte Form
der Handlung gekennzeichnet wird. Das intendierte Verständnis der Sprechakte innerhalb der Erzählung kann durch die erweiterte m^Mii-Formel gesteuert werden, einerseits durch die Verwendung spezifischer Sprechaktverben, andererseits durch Präpositionalphrasen und adverbiale Bestimmungen. Die inquit-Formel,
als wichtigste Schaltstelle zwischen Er-
zähler und intradiegetischen Figuren auf der einen, zwischen Autor und extradiegetischen Rezipienten auf der anderen Seite, verbalisiert etwa Sprechweise, Adressierung und Begleitumstände und ermöglicht somit Referenzzuweisungen. Position und Aufbau der inquit-Formeln. die zudem, wie die Beispielanalysen nahelegen, individuelle Unterschiede zwischen einzelnen Autoren erkennen lassen, kommt damit eine besondere, bisher kaum näher untersuchte Bedeutung zu. - Maria E. Müller beschreibt das Stilmittel der Stichomythie (des zeilenweise Sprecherwechsels), die oberflächlich das Erzähltempo zu beschleunigen scheint, im Erzählzusammenhang jedoch häufig eher eine retardierende Digression bedeutet, die die Virtuosität des Autors zur Schau stellt. Insbesondere in Heinrichs von Veldeke Eneasroman tritt sie ausschließlich in liminalen Situationen auf und strukturiert damit den Erzählverlauf; andere Autoren scheinen dagegen das Stilmittel der schnellen Wechsel-
31
32
Vgl. zu den Dialogen mit Personifikationen auch die Ausführungen von Katharina Philipowski sowie von Henrike Lähnemann im vorliegenden Band. Vgl. dazu auch Johannes Singer, ,,'nü swic, lieber Hartman: ob ich ez errate?' Beobachtungen zum fingierten Dialog und zum Gebrauch der Fiktion in Hartmanns 'Erec'-Roman (7493-7766)", in: Dialog. Festschrift für Siegfried Grosse, hg. von Gert Rickheit und Wigurd Wichter, Tübingen 1990, S. 59-74; Ulrich Müller, „Godefroi de Leigni - Chretien de Troyes - Lancelot, le Chevalier de la Charrette: Ein Autor im Gespräch mit seinem Publikum?", in: Sprachspiel und Bedeutung (wie Anm. 23), S. 461-470.
Einleitung
11
rede weniger reflektiert einzusetzen. Dass die volle Wirksamkeit der Stichomythie nur in der Aufführungssituation, im Medium der Mündlichkeit erreicht werden kann, dürfte ein Grund dafür sein, dass die späten, zunehmend f ü r die stille Lektüre konzipierten Erzähltexte die schnelle Wechselrede nicht mehr verwenden. 3 3 Eine ähnliche Entwicklung zeichnet Martin H. Jones nach: Die heldenepische Idee der Reizrede im Vorfeld eines Kampfes findet sich zwar gelegentlich auch noch in den Artusromanen, sie wird dort aber anders umgesetzt. Die Reizrede ist in der Artusepik nicht länger notwendig, um einen Kampf herbeizuführen, sie erlaubt jedoch (teilweise in stark literarisierter Form, vgl. etwa die Verwendung von Stichomythie) z.B. die Thematisierung der Etablierung von Freundschaftsverhältnissen oder auch des widersagens
und damit der rechtlichen Folgen, die der Kampf
haben wird. Die darauffolgenden exemplarischen Untersuchungen zu einzelnen Epen sind grob nach der Chronologie der Texte, denen sie sich widmen, angeordnet. In diesem Rahmen werden in einigen Fällen insbesondere narratologische Aspekte betont. So vergleicht Elke UkenaBest die in den Tod führenden Konfliktdialoge 3 4 zwischen Eneas und Dido auf der einen Seite und Lavinia und der Königin auf der anderen Seite; nicht nur deren Dialogsituationen lassen Vergleichsmomente erkennen, sondern auch ihr Verlauf, der hier in jeweils drei Stadien unterteilt wird. Henrike Lähnemann bespricht in ihrem Beitrag, dass das zu Anfang des neunten Buches von Wolframs von Eschenbach Parzival im Dialog mit vrou
Aventiure
skizzierte Problem des sukzessiven Erzählens von Gleichzeitigem bzw. übergreifend Verknüpftem auch durch syntaktische turbatio abgebildet wird, für die möglicherweise die antiken und mittelalterlichen Rhetoriken die Basis bildeten. 35 Spätere Bearbeiter des Textes entwickeln diese hochkomplexen syntaktischen Klammerstrukturen, die als ein Beispiel für den Haken schlagenden Stil Wolframs interpretiert und editorisch kaum angemessen wiedergegeben werden können, in Text und Bild auf ihre j e eigene Art und Weise weiter. Cora Dietl stellt die „Frage nach der Frage" anhand von W o l f r a m s Parzival und Albrechts Jüngerem Titurel dar: Die f ü r das Verständnis und die Struktur des Textes zentralen Dialoge zwischen Sigune und Parzival zeigen in W o l f r a m s Fassung des Stoffes, dass das vermittelte, im Dialog erarbeitete Erkennen dann notwendig wird, wenn die Erkenntnis aufgrund eigener Wahrnehmung versagt. Albrecht dagegen reduziert gegenüber Wolfram die Irr-
33
34 35
In Bezug auf die Formen der mittelalterlichen Redeszenen gehört die Stichomythie zu den auffälligsten Phänomenen; sie wurde von verschiedenen Beiträgern hervorgehoben (vgl. den entsprechenden Eintrag im Register). Auf andere Sonderformen des Sprechens im Dialog, wie etwa auf elliptische Satzkonstruktionen, wäre gesondert einzugehen. Terminologie nach Frankes Typologie, s. oben, Anm. 20. Damit wird erneut deutlich, dass eine stärkere Berücksichtigung der Rhetoriken und Poetiken der Antike und des Mittelalters für die Untersuchung der Redeszenen ein dringendes Forschungsdesiderat ist; vgl. auch von Moos (wie Anm. 9), S. 302, S. 309; Hess-Lüttich, „Gesprächsanalyse" (wie Anm. 3), S. 1641-1644.
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Nine Miedema und Franz
Hundsnurscher
wege, die der Protagonist beschreitet, und ermöglicht dadurch ein schnelleres „Fragen nach der Frage". Das Scheitern des zweiten Sigune-Dialogs selbst deckt bei Wolfram nicht nur Parzivals kommunikative Defizite auf, sondern zeigt, dass auch Sigune an entscheidender Stelle versäumt, Parzival Fragen zu stellen, wodurch Parzivals Frageversäumnis weniger isoliert erscheint. Albrecht dagegen entproblematisiert die Dialoge. Martin Schuhmann skizziert anhand eines Vergleichs zwischen Chretiens de Troyes Perceval
und Wolframs von Eschenbach Parzival,
dass für Wolfram das Ziel der Charak-
terisierung von (Neben-)Figuren durch Dialoge ein untergeordnetes ist: Wichtiger ist die Darstellung der Wirkung der Figuren auf den Protagonisten. So betont Wolfram in der Jeschute-Szene (auch in Jeschutes eigenen Redebeiträgen) die latente Erotik der Situation, die allerdings in diesem Fall ihre Wirkung auf Parzival verfehlt. Orilus' Redebeiträge dienen bei Wolfram, anders als bei Chretien, dem Zweck, einerseits den Diskurs über Leitthemen wie die Mesalliance (bzw. die Minnethematik überhaupt) szenenübergreifend weiterzuführen, andererseits gegenüber Chretien neue Verknüpfungsmöglichkeiten zu anderen Artusepen bzw. -Stoffen zu gestalten. 36 Christiane Krusenbaum und Christian Seebald untersuchen die Handlungs- und Erzählebenen im (überwiegend als Redeszene inszenierten) Guoten Gerhart des Rudolf von Ems, die einerseits eine pragmatisch orientierte (lehrhafte), andererseits eine autoreflexiv-poetologische Lektüre zulassen. Anhand der Untersuchung der Ebenen der histoire und des discours zeigt sich auffälligerweise, dass in diesem Text die Stimmen des Erzählers, der Figur Gerhart und der sonstigen intradiegetisch erzählenden Figuren kaum unterscheidbar sind. So findet sich einerseits eine Pluralisierung der Erzählerstimmen, die auf die diskursive Offenheit des Textes verweist, während gleichzeitig die Reduktion der stilistischen Differenzen zwischen den erzählenden Figuren ein einheitliches literarästhetisches Konzept propagiert. Stärker sprachwissenschaftlich orientiert argumentieren einige weitere Beiträge. Nine Miedema skizziert die im Erec Hartmanns von Aue programmatisch vorgeführten Extreme höfischen und unhöfischen Sprechens, wobei sich im Sinne der Sprechakttheorie insbesondere die (auch für die modernen Regeln verbaler Höflichkeit charakteristische) Abschwächung der Illokutionsindikatoren der Direktiva als ein Kennzeichen des neuen höfischen Umgangstons benennen lässt. Hartmann greift in diesem Punkt deutlich in seine französische Vorlage ein und zeigt, da die unterschiedlichen Illokutionstypen z.T. benannt und
36
Dies im Sinne von Lämmerts 'Vergegenwärtigung intra- und extradiegetischer Geschichte', s. oben, S. 1. Komparatistisch im Sinne des Vergleichs von verschiedensprachigen Fassungen des gleichen Stoffes verfahren auch die Beiträge von Ukena-Best, Miedema und Zimmermann. Dieser äußerst fruchtbare komparatistische Ansatz wurde inzwischen in einer zweiten Tagung vertieft; vgl. demnächst Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik: Komparatistische Perspektiven (wie Anm. 8).
13
Einleitung
kommentiert werden, ein besonderes Bewusstsein der für höfisches Sprechen konstitutiven Dialogformen. Tobias Zimmermann analysiert dagegen den Dialog zwischen Lunete und Laudine in Hartmanns Iwein, durch den sich Laudine zur Heirat des Mörders ihres verstorbenen Ehemannes entschließt, streng argumentationslogisch. Eine tragende Rolle erhält dabei ein von Lunete angewandter Syllogismus, durch den ihre Argumentationsstruktur zwar einen strikt logischen (und dadurch handlungsfunktional zwingenden) Charakter erhält, dessen psychologische Glaubwürdigkeit allerdings bereits von den Zeitgenossen gelegentlich kritisiert wurde. Harald Weydt führt durch zentrale Szenen des
Nibelungenliedes
und weist im Sinne der Konversationsanalyse nach, dass Hagen und Kriemhild von Anfang des zweiten Teiles des Nibelungenliedes
an vordergründig kontraoperativ zu handeln
scheinen, unterschwellig jedoch kooperieren. Zum Abschluss dieser Einführung seien die bisher besprochenen möglichen Funktionen der Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik noch einmal systematisch zusammengefasst und mit Blick auf zukünftige Forschung weitergeführt. Redeszenen 'verlebendigen', je unterschiedlich nach dem Medium und dem Gattungszusammenhang, in dem sie verwendet werden (Becker, Philipowski, Hagby, Müller), den Inhalt eines Erzähltextes; sie charakterisieren durch ihre fingierte Ünmittelbarkeit und Authentizität die sprechenden Figuren 37 (auch und gerade in ihren Relationen zu ren
ande-
intra-, z.T. auch extradiegetischen Figuren: Ukena-Best; Krusenbaum und Seebald;
Schuhmann; Zimmermann) und lassen durch die verschiedenen Figurenperspektiven in Ansätzen Dialogizität entstehen. Die Untersuchung des Einsatzes von Sonderformen der Dialoggestaltung, wie etwa der Stichomythie (Müller), erlaubt es, sowohl die Figurencharakterisierung als auch sonstige narratologische Prinzipien (wie Aufbau und Struktur) näher zu beschreiben. Obwohl der Wiedergabe gesprochener Sprache nach Piaton eher mimetische als diegetische Qualitäten zugeschrieben werden, 38 gestaltet sich das Verhältnis von rein abbildender
37
Vgl. die Angaben von Lämmert, oben, S. 1. S. zuletzt Monika Schausten, „Ich bin, alse ich hän vernomen, ze wunderlichen maeren komen. Zur Funktion biographischer und autobiographischer Figurenrede für die narrative Konstitution von Identität in Gottfrieds von Straßburg 'Tristan'", in: PBB 123 (2001), S. 24-48; Ludger Lieb, „Erzählen am Hof. Was man aus einigen Metadiegesen in Wolframs von Eschenbach 'Parzival' lernen kann", in: Literatur und Macht im mittelalterlichen Thüringen, hg. von Ernst Hellgardt u.a., Köln 2002, S. 109-125; Dieter Seitz, „Das verweigerte Gespräch. Dimensionen der Personengestaltung im 'Herzog Ernst'", in: 'Spielende Vertiefung ins Menschliche'. Festschrift für Ingrid Mittenzwei, hg. von Monika Hahn, Heidelberg 2002 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 37), S. 345-358.
38
Martinez und Scheffel (wie Anm. 2), S. 23f. Dabei ist allerdings, wie bereits angedeutet (vgl. Anm. 29), nicht davon auszugehen, dass literarische Figurenrede natürliche Alltagssprache naiv abbildet: Sogar im Fall der den alltagssprachlichen Gewohnheiten möglicherweise relativ nahen Dialoge im Biographie-haften Leben der Yolanda von Vianden (Hagby) oder in der Stichomythie
14
Nine Miedema und Franz
Hundsnurscher
'Figurenselbstcharakterisierung' durch direkte Rede und erzählerrelatierter Narration vielmehr komplexer: Nicht nur der Erzähler, sondern auch die Figuren können entscheidende Informationen mitteilen (Schuhmann; Krusenbaum und Seebald), so dass Redeszenen (sogar in der stark komprimierten Form der Stichomythie: Müller) narrative Funktionen übernehmen können.39 Auch wenn der Erzähler scheinbar hinter seine sprechenden Figuren zurücktritt, lenkt er die Rezeption der Dialoge durch seine Gestaltung der inquit-Formeln (Hundsnurscher) oder durch Erzählerkommentare (Miedema). Auf diese Art und Weise charakterisiert Figurenrede nicht nur die Figuren selbst, sondern gerade auch den Erzähler. Es entsteht dadurch ein Spielraum für Reflexion über Poetizität, Narration und Fiktionalität (Krusenbaum und Seebald; Philipowski), insbesondere in den Dialogen mit Personifikationen oder mit dem fingierten extradiegetischen Rezipienten (Unzeitig; Lähnemann). Auch wenn dieser Aspekt keinesfalls erschöpfend behandelt worden ist, scheinen sich insbesondere diesbezüglich die stärksten Unterschiede zwischen den einzelnen Teilgattungen der mittelhochdeutschen (vielleicht auch generell: der mittelalterlichen) Epik zu ergeben. Die Analyse der Redeszenen erweist sich als insgesamt gut geeignet, die Differenzen zwischen Teilgattungen der Epik und zwischen einzelnen Autoren sowie auch die Formen der adaptation courtoise im Deutschen präziser auszuarbeiten. Wichtig wäre es, in einem folgenden Schritt auch die Kleinepik,40 die Chronistik41 oder etwa den Prosaroman in die Überlegungen einzubeziehen. Darüber hinaus ist zu vergegenwärtigen, dass Sprechen Handeln ist, im literarischen Text ebenso wie in der Alltagssprache: Auf der Meta-Ebene ist das Erzählen an sich eine (monologische) sprachliche Handlung (Hundsnurscher), deren (durch rezeptionslenkende Begleittexte nur in Ansätzen zu steuernde) Wirkung sich der Beobachtung durch den Autor
39
40
41
(Müller) verweist die Versform darauf, dass auch hier eine literarische Stilisierung vorgenommen wurde. Auch dies im Sinne der von Lämmert beschriebenen 'Vergegenwärtigung intradiegetischer Geschichte', s. oben, S. 1. S. dazu den Sammelband Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Harald Haferland und Michael Mecklenburg, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19). Vgl. (neben der in Anm. 22 genannten Literatur zum Helmbrecht) Cristina Azuela, „L'activite orale dans la nouvelle medievale. Les 'Cent Nouvelles Nouvelles', le 'Decameron' et les 'Contes de Canterbury'", in: Romania 115 (1997), S. 519-535; Tobias Bulang, „Aporien und Grenzen höfischer Interaktion im 'Mauritius von Craün'", in: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, hg. von Beate Kellner u.a., Frankfurt a.M. u.a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 207-229; Frank Wittchow, „Eine Frage der Ehre. Das Problem des aggressiven Sprechakts in den Facetien Bebels, Mulings, Frischlins und Melanders", in: Zeitschriftßr Germanistik, NF 2 (2001), S. 336-360. Vgl. Hans Fromm, „Die Disputationen in der Faustinianlegende der Kaiserchronik. Zum literarischen Dialog im 12. Jahrhundert", in: Deutsche Literatur und Sprache von 1050-1200. Festschrift für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag, hg. von Annegret Fiebig und Hans-Jochen Schiewer, Berlin 1995, S. 51-69.
15
Einleitung
entzieht (Unzeitig). Auf der Mikro-Ebene ist j e d e Figurenrede notwendigerweise ein Bestandteil der Handlung, sie i s t
Handlung und löst Handlung aus, unabhängig davon, ob
sie präzise ausgedrückt und im Sinne der Sprechakttheorie perlokutionär erfolgreich ist (Zimmermann) oder ob sie, missverständlich formuliert bzw. falsch verstanden, von den Figuren nicht intendierte Handlungsketten auslöst (Miedema). Für eine solche sprachpragmatische Analyse ist es gerade wichtig, dass das Sprechen in literarischen Texten
kein
spontan mündliches ist, 42 sondern vom ersten bis zum letzten Redebeitrag vom Autor auf ein bestimmtes literarisches Ziel hin konzipiert wird. Während im natürlichen Gespräch zwei (oder mehr) Sprecher den Verlauf des Dialogs bestimmen und sich so gegenseitig und selbstständig beeinflussen können, ist im fiktionalen Dialog der Autor der einzige, der den Verlauf des Dialogs steuert; es darf somit für jeden Handlungsschritt im Dialog eine konkrete literarische Absicht unterstellt werden, die es zu ermitteln gilt, 43 um die implizite Poetik mittelalterlicher Autoren wie möglicherweise auch die generell im Mittelalter gültigen Dialogmaximen beschreiben zu können. Durch die auf ein narratives Ziel hin konzipierte Steuerung der Dialoge werden die (im negativen wie im positiven Sinne) idealtypischen Prinzipien der Beeinflussung von Ereignissen durch Sprache umso deutlicher sichtbar. 44 In diesem Zusammenhang wäre auch eine systematische, textübergreifende Untersuchung der sprechaktbezeichnenden Verben vielversprechend: Dass die Verben in inquitPosition durch die Jahrhunderte hindurch einem Wandel unterlagen, der bisher kaum erklärbar ist, 45 lässt vermuten, dass auch die sonstige Verwendung von Verben zur differenzierten Unterscheidung verschiedener Sprechakte kein starres System ist, sondern durch
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Mit von Moos (wie Anm. 9), S. 300, könnte man formulieren, es handle sich um „Fiktionen des Mündlichen"; in der Aufführungspraxis wäre darüber hinaus von einer ,,ästhetische[n] Reoralisierung des Geschriebenen" (ebd.) zu sprechen. Zur Debatte Uber die Frage, ob eine Sprechaktanalyse nur bei denjenigen Texten nicht trivial sei, die Sprechaktregeln und -bedingungen als Thema explizit ansprechen, s. Betten, „Analyse" (wie Anm. 22), S. 528f. Betont werden sollte, dass (auch) in den mittelalterlichen Texten auffällig häufig gerade solche Regeln und Bedingungen angesprochen werden - vgl. das Nibelungenlied mit der Problematik des Schwörens und der Verschwiegenheit, das Redeverbot im Erec oder auch die Frage-Problematik im Parzival. Zu untersuchen ist damit nicht nur die Auswirkung der Sprechakte auf die intradiegetischen, sondern auch ihr Aufforderungscharakter für die extradiegetischen Zuhörer: „Die Frage, ob Sprechakte mehrere, hierarchisch gestaffelte Illokutionen haben können, ist schon für die Interpretation auf der Ebene der Figurenrede von Bedeutung, erst recht aber für die Entscheidung des Illokutionspotentials, das auf übergeordneter Ebene der Autor (via Figurenrede) an den Rezipienten übermittelt" (Betten, „Analyse" [wie Anm. 22], S. 529f.). Vgl. Franz Hundsnurscher, „Sprechen und sagen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Zum Wechsel der Inquit-Formel er sprach / er sagte", in: Literatur - Geschichte - Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag, hg. von Nine Miedema und Rudolf Suntrop, Frankfurt am Main u.a. 2003, S. 31-52.
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Nine Miedema und Franz
Hundsnurscher
die Jahrhunderte hindurch signifikanten Verschiebungen unterlag. 46 Die Bewertung von Sprechakten durch den Erzähler oder durch intradiegetische Figuren gibt Hinweise auf eine solche Veränderung des Wortfelds des Sprechens oder auch der Semantik einzelner Verben. Nicht nur die performativen Sprachhandlungen selbst (etwa die Klagen, Gebete, Schwüre, Verfluchungen, usw.), sondern auch die Dialogtypen (wie etwa die Konfliktdialoge: Jones; Ukena-Best) könnten auf ihre historische Entwicklung hin untersucht werden. Es zeigt sich des Weiteren, dass die Verteilung, der Aufbau und die äußere Form von Dialogen die Großepen in deutlich stärkerem Maße strukturieren, als bisher erkannt worden ist (vgl. die Hinweise darauf, dass verzögerte Antworten strukturbildend sind für das Leben der Yolanda von Vianden bei Hagby; Müllers Überlegungen zum Einsatz der Stichomythie bei Heinrich von Veldeke; Ukena-Bests Modell einer Phasierung der Dialoge im Eneasroman auch über die Szenengrenzen hinweg; Schumanns Darstellung der in den Dialogpassagen szenenübergreifend diskutierten Themen des Parzival·, usw.). 47 Auf den textexternen Rezipienten bezogen ist zu untersuchen, inwiefern das Sprechen in den mittelalterlichen Texten idealtypische Qualitäten hat und damit eine erzieherische Funktion übernimmt (Miedema; vgl. auch Anm. 44). Die Ideale sprachlichen Ausdrucks und (situativ angemessenen, persuasiven) sprachlichen Handelns wandeln sich; ohne von schlichten linearen Entwicklungsmodellen auszugehen, darf festgehalten werden, dass die dialogische Interaktion etwa im Alexanderlied des Pfaffen Lambrecht relativ eindimensionale Formen aufweist, die von der ausgesprochen subtilen hochhöfischen Gesprächskultur, wie sie von Bumke angedeutet und z.B. von Wolfram von Eschenbach dargestellt wird, grundverschieden ist. Neben den Hinweisen auf sozial bzw. kulturell unterschiedliche Sprechweisen, wie sie sich anhand einer Gegenüberstellung der Sprache der Riesen und der Ritter im Erec Hartmanns von Aue nachweisen lassen, wären in Zukunft etwa auch mögliche Differenzen zwischen gender-,48 alters- und Institutionen- bzw. statusrelatierten Sprachcodes zu untersuchen. Des Weiteren könnten die nonverbale, gestische Kommunikation 49 und das Schweigen (sowohl im Sinne der unwillkürlichen Sprechunfähigkeit als
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Diese Fragestellung berührt auch Jones mit seiner Untersuchung zu grüezen und widersagen sowie schelten und dröuwen; vgl. außerdem die Hinweise auf die differenzierten mittelhochdeutschen Bezeichnungen für unterschiedliche Sprechakte bei Miedema. Vgl. die Hinweise von Lämmert (oben, S. 1). Lydia Miklautsch, „Mutter-Tochter-Gespräche. Konstituierung von Rollen in Gottfrieds 'Tristan' und Veldekes 'Eneide' und deren Verweigerung bei Neidhart", in: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Helmut Brall u.a., Düsseldorf 1995 (Studia humaniora 25), S. 89-107; Birgit Arend, Jetzt reden wir! Das Kommunikationsverhalten der Frauen im französischen Artusroman des Mittelalters, Frankfurt a.M. u.a. 1998 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 13 225); Tennant (wie Anm. 24). Vgl. etwa Dietmar Peil, Die Gebärde bei Chretien, Hartmann und Wolfram. Erec - Iwein - Parzival, München 1975 (Medium Aevum 28); Martin J. Schubert, Zur Theorie des Gebarens im Mittelalter. Analyse von nichtsprachlicher Äußerung in mittelhochdeutscher Epik: Rolandslied, Ene-
Einleitung
17
auch im Sinne der markierten, bewusst inszenierten Verweigerung des Sprechens)50 stärker in die Überlegungen einbezogen werden. So lässt sich aufgrund der Beiträge im vorliegenden Band resümieren, dass die Untersuchung der Formen und Funktionen der Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik zwar noch einer systematischen Erweiterung und einer Vertiefung der Methodendiskussion bedarf, dass deren Ausarbeitung jedoch aufgrund des großen Erkenntnispotentials, das sie verspricht, eine hohe Priorität zuerkannt werden sollte.
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asroman, Tristan, Köln u.a. 1991 (Kölner Germanistische Studien 31); John A. Burrow, Gestures and Looks in Medieval Narrative, Cambridge 2002 (Cambridge Studies in Medieval Literature 48). S. Volker Roloff, Reden und Schweigen. Zur Tradition und Gestaltung eines mittelalterlichen Themas in der französischen Literatur, München 1973 (Münchener Romanistische Arbeiten 34); Uwe Ruberg, Beredtes Schweigen in lehrhafter und erzählender deutscher Literatur des Mittelalters, München 1978 (Münstersche Mittelalter-Schriften 32); Mireille Schnyder, Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200, Göttingen 2003 (Historische Semantik 3).
Anja Becker
Dialogszenen in Text und Bild Beobachtungen zur Leidener Mgafow-Handschrift
Epische Stoffe in der Volkssprache sind seit Ende des 12. Jahrhunderts immer häufiger in Verbindung mit Illustrationen überliefert. Die Kombination von Schrift und Bild kann dabei verschiedenste Formen annehmen, zuweilen sind es einfache Zeichnungen an den Texträndern, manchmal eigene Bildspalten oder -Seiten bzw. in den Codex eingebundene Bildblöcke oder direkt in den Schriftspiegel eingelassene Miniaturen. Wie auch immer die Bilder in den Text inseriert und egal wie aufwändig sie ausgestaltet werden (als einfache Federzeichnungen oder vollkolorierte Illustrationen), es drängt sich die Frage nach der Funktion dieser medialen Doppelung in den Handschriften auf. Warum werden volkssprachige Romane häufig nicht nur verschriftlicht, sondern auch noch bebildert? Fast immer, wenn in der Forschungsliteratur diese Frage gestellt wird, folgt eine Diskussion des Zitats von Gregor dem Großen aus dem Jahre 600, wonach die Bildkunst die Literatur der Laien sei.1 Jedoch muss beachtet werden, dass Gregors Diktum einen konkreten lebensweltlichen Kontext hatte, die Abwehr des frühchristlichen Ikonoklasmus, und auf den Bereich der christlichen Kunst im Kirchenraum bezogen war, weshalb die unreflektierte Anwendung dieses Satzes auf illustrierte volkssprachige Handschriften problematisch ist.2 Bilder - auch in Handschriften - können einen möglichen Zugangsweg für illiterati zu gelehrtem Wissen und interessanten Erzählungen dargeboten haben, jedoch einen sehr unvollkommenen. Denn die Rezeption der Bilder ist, soll sie nicht rein ästhetisch bleiben, auf eine schrift- bzw. textkundige Vermittlerinstanz angewiesen, die die Illustrationen in den narrativen Kontext einordnet. Neben der Vermutung, dass Bilder einen (unvollkommenen) Lektüreersatz für Laien darstellen, wird oft auf die Memorialfunktion
Aliud est enim picturam adorare, aliud picturae historia, quid sit adorandum, addiscere. Nam quod legentibus scriptura, hoc idiotis praestat pictura cernentibus, quia in ipsa ignorantes vident, quod sequi debeant, in ipsa legunt qui literas nesciunf, Gregorii I papae Registrum epistolarum, hg. von Paul Ewald und Ludo M. Hartmann, Bd. 2, Berlin 1899, Nachdruck München 1978 (MGH Epistolae 2), S. 269-272, hier S. 270. Eine kritische Besprechung der Position Gregors des Großen bietet: Lawrence G. Duggan, „Was Art Really 'the Book of the Illiterate'?", in: Word & Image 5 (1989), S. 227-251. 2
Vgl. Michael Curschmann, pictura laicorum litte rat ural Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volkssprachiger Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis zum Codex Manesse", in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, hg. von Hagen Keller, Klaus Grubmüller und Nikolaus Staubach, München 1992, S. 211-229.
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Anja Becker
von bildlichen Darstellungen verwiesen.3 Nach einem häufig herangezogenen Gleichnis im Bestiaire d'amours von Richard de Fournival (um 1250 entstanden) führen gleichberechtigt zwei Wege, Bild und Wort, sowie zwei Türen, Auge und Ohr, zum Gedächtnis.4 Allerdings können die Illustrationen ebenfalls nur dann als Gedächtnisstützen für ein schriftunkundiges Publikum dienen, wenn der Text der Handschrift zunächst vorgetragen, also in die Performanz überführt wurde. Durch die Mediendoppelung von Text und Bild würde nach Horst Wenzel zudem die Simularität der audiovisuellen Wahrnehmung, wie sie unsere alltägliche Kommunikation präge, in den Vollzug der Literaturrezeption zurückgeholt.5 Trotz der inzwischen intensiv betriebenen Forschung zu Text-Bild-Bezügen 6 bleibt die Frage nach der Funktion der Mediendoppelung eine virulente, die auch durch die skizzierten Antwortvorschläge bislang nicht zufriedenstellend enträtselt wurde. Wenden wir uns nun der Relation von Text und Bild zu. Wenn Bilder als Schriftersatz für Laien oder als Gedächtnisstützen für das Memorieren von Erzählungen verstanden werden, dann wird dieses Medium implizit als dem Medium des Textes untergeordnet gedacht. Denn die Illustration erscheint so vom Text, welchen sie unvollkommen repräsentiert, abhängig: „Das Bild ist aber nur verständlich, wenn man es von der Schrift her wiedererkennt. Es erinnert daran, was die Schrift erzählt, und erlaubt zusätzlich den Kult der Person und der Erinnerung". 7 Die Auffassung, das Bild sei dem Text untergeordnet, verknüpft sich oft mit der Ansicht, dass Illustrationen gegenüber dem Text über ein eingeschränkteres Repertoire an Ausdrucksmitteln verfügen; sie seien Verknappungen, die die Stimmenvielfalt der schriftlichen Erzählung verkürzend in eine eindimensionale Bildfläche überführen. Dagegen weisen zahlreiche Forscher auf das Zusammenwirken beider Medien hin:
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Vgl. Franz H. Bäuml, „Autorität und Performanz. Gesehene Leser, gehörte Bilder, geschriebener Text", in: Verschriftung und Verschriftlichung. Aspekte des Medienwechsels in verschiedenen Kulturen und Epochen, hg. von Christine Ehler und Ursula Schaefer, Tübingen 1998 (ScriptOralia 94), S. 248-273, hier bes. S. 257. Li Bestiaires d'amours di maistre Richart de Fornival e Ii Response du Bestiaire, hg. von Cesare Segre, Mailand 1957 (Documenti di Filologia 2), S. 3-8. Horst Wenzel, „Schrift und Bild. Zur Repräsentation der audiovisuellen Wahrnehmung im Mittelalter", in: Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentags 1991, hg. von Johannes Janota, Tübingen 1993 (Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis 3), S. 101-121, hier bes. S. 109 und 116. Vgl. z.B. Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Christel Meier und Uwe Ruberg, Wiesbaden 1980; Wolfgang Walliczek, „Die bibliographische Situation in der Erforschung der Bezüge zwischen höfischer Erzähldichtung und bildender Kunst des Mittelalters", in: Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs, hg. von Wolfgang Mertens, Weinheim 1988 (Deutsche Forschungsgemeinschaft: Mitteilung 4 der Kommission für Germanistische Forschung), S. 143-173; Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988, hg. von Wolfgang Harms, Stuttgart 1990 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 9). Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, S. 20.
Dialogszenen in Text und Bild
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„Text und Bild ergänzen sich in Form einer Symbiose und wollen miteinander gelesen und interpretiert werden". 8 Beide Künste sollten als „komplementäre Sinnträger" 9 verstanden werden, die sich gegenseitig ergänzen und in einem wechselseitig produktiven Verhältnis stehen. Nicht eine der beiden Künste sei gegenüber der andern defizitär, sondern beide trügen spezifische Limitationen in sich, die das jeweilig andere Medium auszugleichen helfe: „Wie es der Schrift grundsätzlich mangelt an der Klarheit der bildlichen Anschauung, so fehlt dem Bild die Präzision der sprachlichen Begriffe. Deshalb 'bildet' die Schrift ab, verlangt aber nach dem gemalten Bild zu ihrer Ergänzung (der Miniatur, dem Holzschnitt). Das Bild seinerseits 'beschreibt' und verwendet dennoch Titel, Devisen und Schriftbänder".10
Hier setzt die vorliegende Untersuchung an und fragt danach, wie genau die beiden Künste zusammenwirken. Gegenstand soll eine der schönsten illustrierten Artushandschriften sein, der Leidener Wigalois-Codex
aus dem 14. Jahrhundert. An diesem Beispiel soll analysiert
werden, ob sich Text und Bild tatsächlich als komplementäre Sinnträger darstellen. Wenn ja, welche Sinnpotentiale werden dann im jeweiligen Medium aktualisiert? Unterstützen sich die 'Sprachen', derer sich Text und Bild bedienen, wirklich gegenseitig oder ist doch ein Über- und Unterordnungsverhältnis im Ausdruckspotential festzustellen? Gibt es Sinnschichten, die nur bildlich bzw. nur textlich in das mediale Ensemble eingespeist werden können? Die Hypothese des Aufsatzes lautet, dass Illustrationen in ihren medialen Möglichkeiten dem Text gegenüber nicht unterlegen sind, sondern dass sie einen spezifischen Mehrwert, eine eigene Sinnschicht, in die Präsentation des Romans im Codex einbringen. U m die Beweiskraft der Argumentation zu erhöhen, konzentriert sich die Untersuchung auf ein Phänomen, bei dessen darstellerischer Umsetzung das Medium des Textes klar im Vorteil zu sein scheint. Es soll um Szenen gehen, in denen Dialoge, also verbal-sprachliche Kommunikationsabläufe zwischen Figuren, vorgestellt werden. Auf den ersten Blick scheint die Überlegenheit der narrativ-sprachlichen Umsetzung von dialogischen Szenen im Text ein unzweifelhaftes Faktum. Bilder - so das Vorurteil - können Figurenrede nur in äußerst defizitären Formen andeuten, man denke an Sprachgesten und Spruchbänder, aber nicht im gleichen Maße differenziert vielschichtig ausagieren wie die Schrift. Diese plausible Annahme sollte eigentlich dadurch gestützt werden, dass illustrierte Handschriften in ihrem Bildprogramm dialogische Szenen tunlichst vermeiden und nur dann aufnehmen, wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt. Doch die Wirklichkeit in den Codices sieht anders aus: Zahlreiche Handschriftenminiaturen stellen Dialoge zwischen Figuren dar." Die Maler 8
9 10 11
Ruth Schmidt-Wiegand, „Die Bilderhandschriften des Sachsenspiegels als Zeugen pragmatischer Schriftlichkeit", in: Frühmittelalterliche Studien 22 (1988), S. 357-387, hier S. 385. Curschmann (wie Anm. 2), S. 227. Wenzel (wie Anm. 5), S. 117. Als Beispiel kann die Berliner Eneide-Handschrift herangezogen werden, zu der Nikolaus Henkel feststellt: „Von den insgesamt 64 textierten Miniaturen bieten 51 dialogisch strukturierte Szenen",
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Anja Becker
scheinen weniger diese darstellerische Herausforderung umgangen als vielmehr gesucht zu haben. Im Leidener Wigalois-Codex sind bereits die reinen Zahlen in dieser Hinsicht signifikant, denn 20 von 46 in den Text eingefügten Bilder illustrieren Dialogszenen. Offensichtlich legt das Bildprogramm einen Schwerpunkt auf dialogische Szenen. Es wird zu zeigen sein, dass die bildliche Umsetzung von Gesprächen in der Leidener Wigalois-Handschrift außergewöhnlich eigenständig und künstlerisch avanciert vorgenommen wird. Die Untersuchung der Dialogszenen in Text und Bild soll in den folgenden Schritten erfolgen: Nach einer ersten Annäherung an den Leidener Codex als Ganzen wird die Verteilung der Bilder auf das Werk untersucht, wobei nach Gliederungsmarkierungen und thematischen Schwerpunkten zu fragen ist. Darauf folgt die Analyse der Text-Bild-Relationen insbesondere hinsichtlich der Umsetzung von Dialogszenen in den Illustrationen. Abschließend steht die Frage nach dem Zusammenwirken der 'Sprachen' von Text und Bild und den in ihnen aktualisierten Sinnpotentialen zur Diskussion.
I.
Die Leidener ly/ga/ow-Handschrift ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. Sie tradiert einen späten Artusroman, von dem man gestützt auf die handschriftliche Überlieferung annehmen kann, dass er neben Wolframs Parzival zu den absoluten 'Bestsellern' des Mittelalters gehörte.12 Für seine Textausgabe von 1926 hat Johannes M.N. Kapteyn den Leidener Codex (B) neben der Kölner Handschrift (A, 13. Jahrhundert) zu einer der Haupthandschriften erhoben.' 3 Ein Glücksfall für die kodikologische Forschung sind neun abgesetzte,
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13
vgl. Nikolaus Henkel, „Bildtexte. Die Spruchbänder in der Berliner Handschrift von Heinrichs von Veldeke Eneasroman", in: Poesis et Pictura. Studien zum Verhältnis von Text und Bild in Handschriften und alten Drucken. Festschrift für Dieter Wuttke zum 60. Geburtstag, hg. von Stephan Füssel und Joachim Knape, Baden-Baden 1989, S. 1-47, hier S. 20. Nur Wolframs Parzival wurde häufiger als Wirnts Wigalois überliefert. Insgesamt existieren 41 Handschriften, wovon 20 Textzeugen nur noch fragmentarisch erhalten sind. Eine Handschrift stammt aus dem 13. Jahrhundert, drei Textzeugen und acht Fragmente aus dem 14. Jahrhundert und neun Handschriften aus dem 15. Jahrhundert. Eine tabellarische Übersicht über die Überlieferung bietet: Hans-Jochen Schiewer, „Ein ris ich dar vmbe abe brach / Von sinem wunder bovme. Beobachtungen zur Überlieferung des nachklassischen deutschen Artusromans im 13. und 14. Jahrhundert", in: Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von Volker Honemann und Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 222-278. Ein Verzeichnis der WigaloisHandschriften mit ausführlicheren kodikologischen Beschreibungen findet sich bei: Heribert A. Hilgers, „Materialien zur Überlieferung von Wirnts 'Wigalois'", in: PBB 93 (1971), S. 228-288. „Daraus geht [...] hervor, daß Α und Β die beiden wichtigsten handschriften sind, welche überall, wo sie übereinstimmen, das echte überliefern"; Wigalois der Ritter mit dem Rade von Wirnt von Gravenberc, hg. von Johannes M.N. Kapteyn, Bd. 1: Text, Bonn 1926 (Rheinische Beiträge und
Dialogszenen
in Text und Bild
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in Textura geschriebene Verse am Ende des Werkes. In ihnen gibt der Schreiber detailliert Auskunft über das Entstehungsjahr und den Entstehungsort der Handschrift sowie über seinen Auftraggeber. Demnach wurde der Codex im Jahr 1372 vom Zisterziensermönch Jan von Brunswick im Kloster Amelungsborn, welches zur Diözese Braunschweig gehört, fertig gestellt. Beauftragt hatte ihn zu dieser Arbeit der Herzog von Braunschweig-Grubenhagen, Albrecht II. Die Sprache dieser Nachschrift ist niederdeutsch, auch vielen Spruchbändern ist ein niederdeutscher Spracheinschlag eigen. Gleichwohl ist der Text als „Mitteldeutsch (Thüringisch) mit nd. Elementen" 14 zu charakterisieren, denn offenbar war der Schreiber bestrebt, möglichst nah an seiner hochdeutschen Vorlage zu bleiben. Dieser Umstand ist deshalb bemerkenswert, weil von den überwiegend oberdeutschen Artusromanen ansonsten nur noch von Wolframs Parzival Abschriften aus dem mitteldeutsch-niederdeutschen Sprachraum vorliegen. Weiterhin erfolgt die Präsentation, die Wirnts Roman im Leidener Codex erfährt, für einen Text profanen Inhalts ungewöhnlich aufwändig. Die Handschrift, die sich heute unter der Sigle Ltk 537 in der Universiteitsbibliotheek Leiden befindet, ist auf Pergament von guter Qualität geschrieben. Da die Blätter nachträglich beschnitten wurden, kann man die ursprüngliche Seitengröße nur erahnen. Trotzdem ist der optische Eindruck der Seite auch heute noch großzügig. Der Text wird zweispaltig mit abgesetzten, reich verzierten Versinitialen und mit farbig gestalteten, in der Höhe zwei Spalten ausfüllenden Abschnittsinitialen präsentiert. Die Schrift, eine Textualis, bewegt sich auf gehobenem kalligraphischem Niveau. 15 Letztlich sind es jedoch die Bilder, die den Leidener Wigalois-Codex
zu einer der be-
deutendsten und schönsten illustrierten Handschriften eines mittelalterlichen Artusromans machen. In ihrer Zeit, im 14. Jahrhundert, steht sie für sich alleine 16 und auch in der Überlieferung des Wigalois sucht sie ihresgleichen. Von den 41 überlieferten Textzeugen ist nur
Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 9), hier S. 43*. Im Folgenden zitiere ich diese Ausgabe, wenn nicht durch das Kürzel „Ltk 537" vermerkt ist, dass der Text der Handschrift transkribiert wurde. Seit kurzem gibt es den Text des Wigalois nun auch in einer zweisprachigen Ausgabe: Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Text der Ausgabe von Jfohannes] M.N. Kapteyn übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin/New York 2005. 14 15
16
Schiewer (wie Anm. 12), S. 252. Eine Beschreibung der Handschrift bieten: Georg F. Benecke, Wigalois, der Ritter mit dem Rade, getihtet von Wirnt von Gravenberch, Berlin 1819, S. XXXVII-XXXXI; Kapteyn (wie Anm. 13), S. 29^43; Hilgers (wie Anm. 12), S. 243-244; Ingeborg Henderson, „Manuscript Illustrations as Generic Determinants in Wirnt von Gravenberg's Wigalois", in: Genres in Medieval German Literature, hg. von Hubert Heinen und Ingeborg Henderson, Göppingen 1986 (GAG 439), S. 59-73, hier S. 72f. „Sie ist die einzige vollständig überlieferte, anspruchsvoll illustrierte Handschrift eines deutschsprachigen Artus- oder Minne- und Aventiureromans des 14. Jahrhunderts"; Hans-Jochen Schiewer, „Die Leidener Wigafow-Handschrift. Ein arthurisches Andachtsbuch?", in: Bibliographical Bulletin of the International Arthurian Society 43 (1991), S. 406f., hier S. 406.
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Anja Becker
eine weitere Papierhandschrift aus dem 15. Jahrhundert illustriert,17 die aus der Werkstatt Diebold Laubers stammt.18 Obwohl die Bedeutung der Handschrift auf der Hand liegt, wurde sie bislang sowohl von literaturwissenschaftlicher als auch kunsthistorischer Seite kaum erforscht.19 Dabei wäre gerade die kunsthistorische Beschreibung und Einordnung der Bilder ein dringendes Forschungsdesiderat, denn die Illustrationen der Leidener Handschrift scheinen von der Darstellungsweise der Buchmalerei der Zeit stark abzuweichen. Zunächst sind die Miniaturen ungewöhnlich farbenfroh, das Farbspektrum erstreckt sich von dunklem Blau und Violett über verschiedenste Rot- sowie Grüntöne bis zu reichlichen Verzierungen in Blattgold. Die Bilder wirken flächig, die Hintergründe sind durchgehend in ein oder zwei Farben ausgefüllt, wodurch viele Miniaturen in zwei Bildhälften geteilt werden. Vor diesen Hintergründen, in jeglichem freien Raum zwischen den Figuren, werden Pflanzen-, Baum- bzw. Sternornamente eingefügt, wodurch ein das Auge überwältigender Gesamteindruck entsteht. Diese Darstellungsweise wurde als Hinweis darauf gewertet, dass die Miniaturen durch die Ästhetik dekorativer Wandteppiche beeinflusst sind: „Die Handschrift ist ebenso wie die Wienhäuser Tristan-Teppiche klösterlicher, genauer zisterziensischer Provenienz. Es ist denkbar, daß die Miniaturen in enger Beziehung zu einem nicht überlieferten 'Wigalois'-Teppich stehen".20 Der Leidener Codex ist mit 49 Bildern geschmückt, ursprünglich waren es allerdings 50 Illustrationen.21 Vor Beginn des Textes werden zwei ganzseitige Abbildungen inseriert. 17
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21
Neben diesen beiden illustrierten Codices gibt es noch Wigalois-Büder auf Schloss Runkelstein. S. dazu: Ernst K. Waldstein, „Die Bilderreste des Wigalois-Cyclus zu Runkelstein", in: Mitteilungen der k. k. Central Commission zur Erforschung der Kunst- und historischen Denkmale NF 18 (1892), S. 34-38, 83-89, 129-132, mit 10 Bildtafeln; Dietrich Huschenbett, „Beschreibung der Bilder des 'Wigalois-Zyklus'", in: Runkelstein: Die Wandmalereien des Sommerhauses, hg. von Walter Haug u.a., Wiesbaden 1982, S. 170-177; Ernst K. Waldstein, „Zeichnungen zum 'Wigalois'-Zyklus", ebd., S. 178-193; Antonia Gräber, „Der Wigalois-Zyklus auf Schloss Runkelstein", in: Schloss Runkelstein. Die Bilderburg, hg. von der Stadt Bozen unter Mitwirkung des Südtiroler Kulturinstitutes, Bozen 2000, S. 155-171. Vgl. Henderson (wie Anm. 15), bes. S. 61-65; allgemein zu den Lauber-Handschriften vgl. Lieselotte E. Saurma-Jeltsch, Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung. Bilderhandschriften aus der Werkstadt Diebold Laubers in Hagenau, Bd. 2, Wiesbaden 2001. Einige Abbildungen in schlechter Qualität drucken Roger S. Loomis und Laura Hibbard ab. Wünschenswert wäre ein Vollfaksimile der Handschrift, damit die prachtvollen Miniaturen angemessen gewürdigt und der Forschung besser zugänglich gemacht werden könnten. Roger S. Loomis und Laura Hibbard, Arthurian Legends in Medieval Art, London 1938, S. 134-135 und Abb. 367-374; Muriel Whitaker, The Legends of King Arthur in Art, Cambridge 1990 (Arthurian Studies 22), S. 81-83; Victor C. Habicht, „Zu den Miniaturen der Leidener Wigalois-Handschrift", in: Der Cicerone 14 (1922), S. 471-475. Schiewer (wie Anm. 16), S. 406. Ähnlich argumentieren: Henderson (wie Anm. 15), S. 66; Loomis und Hibbard (wie Anm. 19), S. 135. Im Leidener Codex sind dreimal zwei Blätter verloren gegangen. In zwei Fällen stimmt die Zahl der verlorenen Verse, die man anhand der Kapteyn-Ausgabe rekonstruieren kann, mit dem wahrscheinlichen Versbestand auf den ausgefallenen Blättern überein. Zwischen fol. 92 und 93 ist dies
Dialogszenen
in Text und Bild
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Das erste Vorsatzblatt zeigt eine christlich-allegorische Darstellung, deren Mitte ein seitenfüllender Baum einnimmt, auf dessen Ästen und neben dessen Stamm zahlreiche Tiere angeordnet sind. Der Baum selbst, als Baum des Lebens ein Symbol für Christus, 22 sowie die Tiere (z.B. Pelikan, Wildesel, Hirsch, Panther, Hase) 23 laden zur allegorischen Ausdeutung ein. Die folgende ganzseitige Darstellung illustriert die arthurische Tafelrunde. Beide Vorsatzblätter deuten somit die zwei zentralen Themen des Romans an: Wigalois als christlich-religiöser Heilsbringer und als mustergültiger Artusritter. Die Handschrift schließt mit einem weiteren ganzseitigen, teilweise zerschnittenen Bild, das die Entstehung des Codex zum Thema zu haben scheint - man sieht u.a. einen Schreiber an seinem Arbeitspult. Im Text der Handschrift dominieren halbseitige Bilder, die an variablen Positionen auf der Textseite erscheinen können. Zwei ganzseitige Illustrationen markieren besonders herausgehobene Stellen: Eines dieser Bilder zeigt den Entscheidungskampf zwischen Wigalois und Roaz, das andere ganzseitige Bild präsentiert die Szene, in der Wigalois vom ermordeten König Lar über die ihn erwartende äventiure und über seine Genealogie informiert wird. Dieses als zentral markierte Bild illustriert folglich eine Dialogszene; eine deshalb nicht unwesentliche Beobachtung, weil sie die Vermutung, dass ein Schwerpunkt des Bildprogramms auf kommunikativen Szenen liegt, unterstützt.
II.
Werden die Bilder in gleichmäßigen Abständen in die Handschrift inseriert oder gibt es einen illustrativen Schwerpunkt? Ingeborg Henderson sieht das Hauptgewicht der Bebildeanders. Nach Kapteyn kommt man auf einen Verlust von ungefähr 188 Versen. Ein Blatt (27zeilig angelegt) umfasst 108 Verse, übrig bleiben somit lediglich 80 Verse für das zweite ausgefallene Blatt. Hiervon kann man 54 Verse für eine weitere Seite abziehen. Das macht einen Rest von 26 Versen, auf zwei Spalten verteilt also 13 Zeilen. Dies entspricht sehr genau der gängigen Zeilenzahl auf bebilderten Seiten (10-14). Daher komme ich zu dem Ergebnis, dass hier ein Doppelblatt fehlt, von dem eine Seite bebildert war. Inhaltlich wird in den fehlenden Versen die Ankunft Lariens mit ihrer Mutter und ihrem Gefolge im von Wigalois befreiten Reich Komtin geschildert. Es ist wahrscheinlich, dass die fehlende Illustration den Empfang der königlichen Damen durch Wigalois gezeigt hatte. Ohne eine Begründung zu geben, geht auch Hans-Jochen Schiewer davon aus, dass der Codex ursprünglich über 50 oder 51 Bilder verfügte, vgl. Schiewer (wie Anm. 16), S. 406. 22 23
Vgl. Dirk Kocks, „Baum", in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München/Zürich 1980, Sp. 1665f. Vgl. die allegorischen Ausdeutungen dieser Tiere im Physiologus: Der altdeutsche Physiologus. Die Millstätter Reimfassung und die Wiener Prosa (nebst dem lateinischen Text und dem althochdeutschen Physiologus), hg. von Friedrich Maurer, Tübingen 1967 (ATB 67); Dietrich Schmidtke, Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100-1500), 2 Bde., Berlin 1968.
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Anja Becker
rung auf der Korntin-äventiure, also auf der christlich konnotierten Jenseitsfahrt des Helden, woraus sie schließt, dass Wigalois in diesem Codex als ein Gotteskrieger dargestellt wird. 24 Da Henderson eine äußerst grobe Gliederung des Romans vornimmt 25 und die Anzahl der Verse nicht mit der Anzahl der Bilder korreliert, bleibt ihre Analyse der Bildverteilung sehr pauschal. Schließlich ist die Handlung in Korntin bei weitem die umfänglichste im Roman, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass sich in diesem Kontext die meisten Bilder finden. Hier soll eine Untergliederung dieser Episode in die Stationen 'Wigalois auf König Lars Schloss', 'Drachenkampf und Neuausstattung des Helden' sowie 'Fahrt zu Roaz' Schloss und Endkampf vorgeschlagen werden. Nimmt man somit sieben Romanteile an und korreliert den jeweiligen Versumfang mit der Anzahl der Bilder, erkennt man eine sich langsam aufbauende Klimax in der Bilddichte. Diese Klimax erreicht im ganzseitigen Bild auf fol. 49v ihren Höhepunkt; danach nimmt die Bilddichte allmählich wieder ab. 26 Es ist auffällig, dass alle wichtigen Strukturpunkte des Romans in der Handschrift durch eine Illustration markiert sind. Resultat ist, dass man den Inhalt des Wigalois ohne Weiteres anhand der Bilder im Codex nacherzählen kann. 27 Zunächst sind die Abstände zwischen den Bildern im Text recht groß, sie verringern sich aber allmählich. Eine signifikant vermehrte Bebilderung fallt nach dem Aufbruch des Helden aus Roimunt auf. Wenn Wigalois König Lar in Gestalt eines Panthers nach Korntin folgt, trägt fast jede Seite eine Illustration. Die Frequenzsteigerung in der Inserierung von Bildern macht deutlich, dass die Klimax des Werkes nun einem entscheidenden Punkt entgegengeht. Erreicht wird der Höhepunkt sowohl vom quantitativen als auch vom inhaltlichen Aspekt her gesehen in der ganzseitigen Illustration auf fol. 49v, also in der Darstellung des Dialoges zwischen Wigalois und König Lar. Im Gespräch mit dem ehemaligen König des Landes erfährt Wigalois einerseits seine Vergangenheit bzw. Herkunft - er sei der Sohn Gawans - , andererseits seine Zukunft - er werde die Korntin-äventiure bestehen. Man kann folglich argumentieren,
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Vgl. Henderson (wie Anm. 15), bes. S. 67 und 70. Sie gliedert den Wigalois in fünf Teile: 1. „The hero's parentage"; 2. „Adventures in the Arthurian realm"; 3. „Adventures in the otherworldly realm of Korntin"; 4. „Restoration of joy and harmony"; 5. „The battle of Namur". Vgl. ebd., S. 67f. 1. Eltemvorgeschichte (v. 1-1219) zwei Bilder auf 1219 Verse = 0,16% Bilddichte; 2. Wigalois' Bewährungsfahrt (v. 1220-4010) 13 Bilder auf 2790 Verse = 0,5% Bilddichte; 3. Wigalois auf König Lars Schloss (v. 4011^1845) sechs Bilder auf 834 Verse = 0,72% Bilddichte; 4. Drachenkampf und Neuausstattung des Helden (v. 4846-6204) zwölf Bilder auf 1359 Verse = 0,88% Bilddichte; 5. Fahrt zu Roaz' Schloss und Endkampf (v. 6205-7831) acht Bilder auf 1626 Verse = 0,49% Bilddichte; 6. Wigalois' Machtübernahme und Hochzeit (v. 7832-9770) sechs Bilder auf 1938 Verse = 0,3% Bilddichte; 7. Namur-Episode (v. 9771-11708) keine Illustrationen. Im Leidener Codex könnten die Bilder somit u.a. eine Memorialfunktion übernommen haben. Es ist durchaus denkbar, dass sie als Brücke für das Memorieren der Geschichte von Wigalois dienen.
Dialogszenen in Text und Bild
27
dass die Vergangenheit und Zukunft des Helden in diesem Dialog verknüpft werden, oder abstrakter, dass Anfang und Ende des Romans in dieser Szene wie in einem Brennpunkt gebündelt und aufeinander bezogen werden. Genauso verhält es sich mit der Bildverteilung; sie nimmt bis zum ganzseitigen Bild zu, bereitet es also vor, um danach langsam wieder abgebaut zu werden.
III.
Im Weiteren soll untersucht werden, wie die Illustrationen im Leidener Wigalois in den Text eingefügt werden und in welcher Beziehung sie zum Text stehen. Generell ist festzustellen, dass die Inserierung der Bilder äußerst sorgfältig erfolgt. Die Illustrationen sind durchweg sehr genau auf die Handlung im sie umgebenden Text bezogen, fast immer wird die illustrierte Szene im Text geschildert kurz bevor das Bild eingefügt wird. Nur in sieben Fällen kommt zuerst die Miniatur und danach die betreffende Textstelle, jedoch in sehr kurzem Abstand - meist noch auf derselben oder der folgenden Seite. Ebenfalls sieben Bilder bündeln in sich Handlung, die im Text vor und nach ihnen abläuft. Insgesamt sprechen diese Beobachtungen für eine sehr genaue und sorgfältige Konzeption der Handschrift, die auf einer intimen Kenntnis von Wirnts Werk basiert. Nicht nur der Ort der Bilder, auch ihre Ausgestaltung korrespondiert meist eng mit dem Text, auf den sie sich bezieht. Vieles spricht dafür, dass der pictor und der scriptor der Handschrift in einer Person zusammenfallen, nicht zuletzt das ausgeprägte Selbstbewusstsein, das Jan von Brunswick in der Nachschrift offenbar werden lässt, sowie die Gestalt eines (nur eines) schreibenden Mönchs auf der Abschlussminiatur des Codex. Die sehr genaue und sorgsame Implementierung der Bilder in die Handschrift soll am zentralen Bild vom Dialog zwischen Wigalois und König Lar etwas eingehender veranschaulicht werden (fol. 49v, s. Abb. 1). Das ganzseitige Bild ist so in den Text eingefügt, dass der illustrierte Dialog es umschließt; dieser erstreckt sich auf den drei Seiten vor der Illustration und auf der Seite danach. Eine interessante Beobachtung macht man, wenn man sich genau ansieht, an welcher Stelle des Dialoges das Bild in den Text inseriert wird. Lar bereitet Wigalois auf das Schicksal vor, das ihn ereilen wird, wenn er sich dazu entschließt, die Korntin-äventiure zu bestehen. Der König warnt Wigalois, dass er den Drachen zwar besiegen, jedoch nach dem Kampf großes Leid erfahren werde. Im Text findet sich das Bild exakt an der Stelle, an der Lar Wigalois zur Reflexion über den eingeschlagenen Weg auffordert. Die Stelle lautet in der Kapteyn-Ausgabe: „ [...] du ersiehst den wurm, daz ist war, du verliusest ab von im so gar
28
Anja Becker dine kraft daz dir nie me von deheinem strife geschach so we; die nötsoltu bedenken e." (v. 4777-4781)
Im Text der Leidener Handschrift hat der Schreiber den ursprünglich letzten Vers so gestreckt, dass er nun zwei Zeilen einnimmt, wodurch aus dem dreifachen Reim - der in der Schreibtechnik Wirnts oft das Ende eines Erzählabschnitts markiert - ein vierfacher wird. Im Leidener Codex lautet dieselbe Stelle: „ [...] du irslest den wurm daz ist war du verlusest ab von ym so gar dine craft daz ir nie me von cheynem strite geschach so we die not saltu be denken e." (Ltk 537, fol. 49r)
Durch diesen Kunstgriff wird erreicht, dass die Spalte genau am Ende der Seite abschließt. Resultat ist, dass man direkt nachdem der Protagonist zur Reflexion aufgerufen wurde, die Seite umschlägt und das ganzseitige Bild mit Wigalois und König Lar erblickt. Es ist somit als Abbremsung des Rezeptionsflusses eingefügt; genauso wie der Held wird auch der Leser der Handschrift zum Innehalten und zur Reflexion bewegt. Dieser Effekt kann natürlich nur dann erzielt werden, wenn Text und Bild simultan rezipiert werden. Ebenfalls können die Bilder auch die Beschleunigung der Lektüre zur Folge haben, etwa wenn Wigalois dem schönen Tier folgt und jede Seite der Handschrift eine Miniatur trägt. Insgesamt scheint die Konzeption des Codex auf eine gemeinsame Rezeption beider Medien ausgerichtet zu sein.
IV.
In der Illustration des Dialoges zwischen Wigalois und König Lar erkennt man auch ohne den Text konsultieren zu müssen, dass die Figuren miteinander kommunizieren. Indikator sind die im Bild vorgestellten Gesten der Hände. Ausgehend von dieser Beobachtung soll nun danach gefragt werden, wie in den Bildern Dialoge dargestellt werden. Welcher darstellerischer Mittel bedient sich der Illustrator, um die sprachlich-kommunikative Handlung ins Medium des Bildes zu bannen? Wie im genannten Beispiel finden sich meist Gesten der Hände. Natürlich können auch Körperhaltung, Richtung der Blicke und Stellungen im Raum Kommunikation zwischen Figuren andeuten. Im Leidener Wigalois-Codex werden illustrierte Dialoge jedoch fast immer durch Handgesten dargestellt; diese können natürlich dann durch weitere Faktoren unterstützt werden. Ob die Handgeste tatsächlich eine Sprechgeste ist, also sprachliche Kom-
Dialogszenen
29
in Text und Bild
munikation repräsentiert, kann nur entschieden werden, wenn man den Text heranzieht. Ein zweites darstellerisches Mittel, um direkte Rede in Bildern vorzustellen, sind Spruchbänder. 28 Rotulusähnliche Formen finden sich insgesamt in neun Bildern. In drei Fällen entpuppen sich die Spruchbänder bei näherem Hinschauen als reine Bildüberschriften, in fünf Bildern finden sich Spruchbänder, die Figurenrede wiedergeben. Untersucht man, in welchem Zusammenhang die Spruchbänder mit dem Text der Handschrift stehen, erkennt man, dass überraschend selten aus dem Text zitiert wird. Insgesamt bieten nur zwei Spruchbänder direkte Textzitate. Eines zitiert den Wortlaut des Textes an, endet aber auf neue Weise, und drei Spruchbänder geben direkte Rede wieder, welche nicht im Text der Handschrift zu finden ist. Dies führt zur Frage, wie in den Dialogszenen Text und Bild aufeinander bezogen sind und auf welche Weise sie interagieren. Eine Analyse der Korrespondenzen der beiden Medien in dialogischen Szenen eröffnet ein Spektrum von möglichen Beziehungen, welches zwischen den Polen eines engen und keines (offensichtlichen) Zusammenhangs aufgespannt ist. Dazwischen stehen Illustrationen, die zwar mit dem Text korrespondieren, ihm gegenüber jedoch eine Umakzentuierung vornehmen. Diese drei Typen der Darstellungstechnik seien im Folgenden näher beschrieben.
IV. 1.
Enge Korrespondenz zwischen Text und Bild; das Bild illustriert den Dialog im Text
Die meisten Miniaturen (nicht nur mit Dialogszenen) sind diesem Typ zuzuordnen. Als Beispiel soll die Darstellung des Gesprächs zwischen Wigalois und Hojir von Mansfeld auf fol. 28v herangezogen werden (s. Abb. 2). Diese Darstellung ist herausgehoben, weil sie mit einer Ausdehnung über zwei Drittel der Seite deutlich größer ist als die anderen Bilder. Im Erzählzusammenhang befinden wir uns in der Reihe von Bewährungskämpfen, die Wigalois bestehen muss, bis er von Nereja als Gawan-Ersatz anerkannt wird. Der Protagonist hilft einer Dame, deren Schönheitspreis - ein Pferd und ein sprechender Papagei - vom Ritter Hojir von Mansfeld geraubt wurde. 29 Die Illustration auf fol. 28v zeigt die Szene, in der Wigalois Hojir deswegen anklagt und ihn zum Kampf herausfordert. Im oberen Teil des Bildes sieht man den Papagei, der als einziger gegen den Raub protestiert hatte und auch nun das geschehene Unrecht beklagt: „Willekomen
leue vrowe min. Ich solde
uwer ztu rechte sin". Der Wortlaut des Spruchbandes ist ein genaues, leicht ins Nieder28 29
Vgl. zu dieser Kleinform Henkel (wie Anm. 11). Vgl. zur Hojir-Episode: Volker Honemann, „Wigalois' Kampf mit dem roten Ritter. Zum Verständnis der Hojir-Aventiure in Wirnts 'Wigalois'", in: German Narrative Literature of the Twelfth and Thirteenth Centuries. Studies Presented to Roy Wisbey on his Sixty-fifth Birthday, hg. von Volker Honemann u.a., Tübingen 1994, S. 347-362; Andreas Klare, „Überlegungen zur Literarisierung von historischen Figuren am Beispiel des Hoyer von Mansfeld in Wirnts 'Wigalois'", in: Leuvense Bijdragen 83 (1994), S. 485-521; Seelbach (wie Anm. 13), S. 271.
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Anja Becker
deutsche verschobenes Textzitat. Ganz ähnlich könnte man die Illustration als ein Zitat des Textes beschreiben: Denn ein Vergleich von Text und Bild macht deutlich, dass alle wesentlichen Punkte der Szenenbeschreibung im Text auch im Bild erscheinen. Hojir liegt auf einer Decke in den Armen seiner Dame und macht sich nicht die Mühe, für den jungen Ritter aufzustehen. Wigalois ergreift Elamies Hand, als er in ihrem Namen die Klage gegen den Ritter führt. Eine genaue Analyse zeigt, dass das Bild sich einiger Kunstgriffe bedient, um im Text Angesprochenes deutlicher herauszustellen: So hält Hojirs Dame einen überdimensionalen Kamm in der Hand, wodurch der Blick des Betrachters auf die roten Haare des Ritters gelenkt wird - ein Thema, das im Text ausführlich diskutiert wird. Zudem ergreift Wigalois nicht die Hand seiner Dame, sondern ihr Handgelenk. Diese Geste kann ein ikonographisch geschulter Betrachter des Mittelalters als Erlösergeste identifizieren, denn auf diese Weise wird oft illustriert, wie Christus Adam aus der Hölle herauszieht.30 Genauso wird Wigalois auch durch den Text in eine christlich-religiös konnotierte Erlöserposition gerückt. Wigalois versteht sich selbst als Gottesstreiter, denn „[...] ane in [Gott] kan ich nicht striten [...]" (Ltk 537, fol. 30r). Wichtig ist, dass die Bildkomposition durch diese kleinen Erweiterungen nicht den Sinn des Textes verändert. Die dialogische Komponente der Szene wird nun einerseits durch das Spruchband, andererseits durch Sprechgesten der Figuren abgebildet. Warum wird die Rede des Papageien herausgehoben? Im Text wird deutlich, dass die Aussage des Vogels - quasi des Zeugen der Anklage - überhaupt erst den Dialog zwischen Wigalois und Hojir möglich macht. Denn der Anblick des rothaarigen Ritters schüchtert den Protagonisten zunächst ein, aber die klare Parteinahme des Papageien gibt ihm wieder neuen Mut. Er ist nun fähig, seine Klage gegen Hojir zu führen (vgl. v. 2766-2782). Auf dem Bild wird das dialogische Geschehen so umgesetzt, dass Wigalois auf das Spruchband des Papageien zeigt, wodurch der Inhalt seiner Klage prägnant deutlich gemacht wird. Gleichzeitig markiert die Ausdehnung des Spruchbandes die Achse der Kommunikation zwischen Wigalois und Hojir. Ein weiteres Detail unterstreicht die sorgfältige und eigenständige Konzeption des Bildes durch den Illustrator: Die Grenze des wie gewöhnlich zweifarbig geteilten Hintergrunds wird so gezogen, dass der Papagei zwar auf der Seite Hojirs steht, aber durch die Hintergrundfarbe in den Raum, den Wigalois und die Dame ausfüllen, gerückt wird. Somit wird bereits durch dieses Detail die Thematik bzw. Problematik des Dialoges angedeutet. Zusammenfassend sei festgehalten, dass auf diesem Bild die Textszene sehr genau in eine Bildszene umgesetzt wird. Die Bildszene arbeitet zwar mit anderen darstellerischen Mitteln, aber - und das ist entscheidend - fügt dem Text keine zusätzliche Sinndimension hinzu.
30
Vgl. Donat de Chapeaurouge, Einführung in die Geschichte der christlichen Symbole, 4., verbesserte Auflage, Darmstadt 2001, S. 26f.
Dialogszenen
IV.2.
in Text und Bild
31
Keine (offensichtliche) Korrespondenz zwischen Text und Bild
Die sorgfältige Konzeption der Leidener VWga/o/s-Handschrift wird bereits dadurch kenntlich, dass es nur zwei Bilder im Codex gibt, denen man nicht sofort eine korrespondierende Textstelle zuordnen kann. Aber auch diese beiden Sonderfälle sind keineswegs völlig losgelöst vom Text. Nur eines dieser Beispiele ist im Kontext der vorliegenden Untersuchung interessant. Die Illustration findet sich auf fol. 7v und steht im Zusammenhang mit der Ankunft Gawans auf Jorams Burg. Im Text wird der gastliche Empfang Gawans auktorial erzählt. Die Miniatur ist von lebhafter Gestik zweier Figuren bestimmt, die sicherlich Joram und Gawan darstellen sollen. Der König weist mit einladender Geste auf das Schloss, das den linken Bildraum einnimmt, während die zweite Figur in seiner Körperhaltung zu Joram hin ausgerichtet ist und beide Arme in Höhe der Brust seinem Gegenüber entgegenstreckt. Diese ungewöhnliche Gestik vermittelt den Eindruck, als seien die beiden Figuren in ein intensives Gespräch verwickelt, in dem der König seinen Gast auf seinem Schloss willkommen heißt. Jedoch gibt es in der unmittelbaren textuellen Umgebung des Bildes keine dialogische Szene. Interessant für die vorliegende Untersuchung ist, dass die Illustration einen Dialog in eine Szene einfügt, in der es im Text keinerlei Gespräch gibt.
IV.3.
Bilder, die zwar mit dem Text korrespondieren, jedoch eine Umakzentuierung vornehmen
Auf fol. 59r wird dargestellt, wie die Fischerleute in ihrer Wohnung die Rüstung betrachten, die sie zuvor dem bewusstlosen Wigalois geraubt hatten. Allerdings werden sie dabei von einer Dame beobachtet, die durch einen Spalt in der Tür lugt. Im Text wird diese Szene auktorial im epischen Bericht erzählt; es dominieren Begriffe, die auf optische Wahrnehmung verweisen: der vrowen eyne daz irsach wan iz was bi ir nahen sie begunde dar gahen und lugete durch den ztun dar in do sach sie al irn gewin. (Ltk 537, fol. 58v)
Interessanterweise findet man auf dem korrespondierenden Bild ein Spruchband, das eine R e d e d e s F i s c h e r s vorstellt: „wip habe nu guten mut al unse dingch
daz wert gut".
Diese
Zeilen sind nicht aus dem Text herausgegriffen, sondern frei vom Illustrator bzw. Schreiber der Spruchbänder hinzugedichtet worden. Ansonsten steht das Bild im engen Bezug zum Text. Man sieht die Dame, wie sie durch ein Loch in der Tür späht, und den Hund, dessen Kläffen sie letztlich vertreibt. Doch durch das zentral im Bild angeordnete Spruchband findet eine Akzentverschiebung statt: Während im Text die optische Sinneswahrneh-
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Anja Becker
mung im Zentrum stand, rückt das Bild nun die akustische Erfahrung in den Vordergrund. Man könnte auch davon sprechen, dass das Bild dem Geschehen eine kommunikativ-dialogische Sinnkomponente einschreibt, die dem Text fehlt.31 Eine weitere Illustration, die eine Akzentverschiebung vornimmt, findet sich auf fol. 69r. Gezeigt wird, wie das Waldweib Ruel sich anschickt, Wigalois zu enthaupten. Im Text wird diese Szene folgendermaßen geschildert: Der wehrlose Ritter denkt im Angesicht des Todes an seine Dame Larie, woraufhin sein Pferd zu wiehern beginnt: in dirre not gedachte her der schonen maget larien sin ros begunde schrien (Ltk 537, fol. 69r). Ruel missdeutet diesen tierischen Laut und denkt, der Drache sei in der Nähe. Da sie vor ihm Angst hat, ergreift sie die Flucht. Wieder trägt die Szene im Text einen auktorial-epischen Charakter. Im Bild wird nun erneut ein Spruchband mit einem freien, nicht aus dem Text gegriffenen Vers inseriert. Leider ist es sehr schlecht zu lesen, eine mögliche Transkription wäre: „ach vor Larie jamer liev amie". Signifikant ist, dass Wigalois' Gedanken im Bild in direkte Rede umgesetzt werden. Dadurch wird die Kommunikationsstruktur zwischen dem Protagonisten, seinem Pferd und Ruel verdeutlicht. In diesem Fall könnte man jedoch fragen, ob das Spruchband notwendig für direkte, laut geäußerte Rede stehen muss, oder ob es nicht doch die Gedanken des Ritters wiedergibt. Jedenfalls wird eine eher auf Innerlichkeit bezogene Szene in der Illustration veräußerlicht, um sie abbildbar zu machen. Wichtig ist, dass zudem der epische Erzählerbericht in direkte Rede umgesetzt wird. Auf fol. 95r wird die Wiedersehensszene zwischen Larie und Wigalois, dem siegreichen Befreier von Korntin, abgebildet. Wieder wird die Szenenbeschreibung im Text recht genau in der Miniatur umgesetzt. So heißt es, dass die Insignien von Wigalois' Befreiungstaten, seine Lanze und sein Schwert, öffentlich vorgetragen werden und dass Larie die Hand des Helden nimmt. Jedoch weicht das Bild in einem entscheidenden Detail vom Text ab. Denn im Text entspannt sich der Dialog zwischen Larie und Wigalois in Form eines Halbdialoges, nach der direkten Rede der Dame heißt es lediglich: der rede vreute der ritter sich und genadete ir an der stunde alse her beste künde mit Worten unde mit herzten. (Ltk 537, fol. 95v)
Im Bild wird dieser Halbdialog in eine symmetrische Wechselrede mit zwei in direkter Rede vorgetragenen Äußerungen umgesetzt.32 Das Spruchband, das Larie in der Hand hält, ist im ersten Teil ein Zitat aus dem Text, es endet jedoch in einer rätselhaften Wendung: „her wigeloys min amis der leue en zadis". Interessant ist nun die Rede Wigalois', denn auf sei-
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32
Interessant ist, dass die Schrift nicht zum Akustischen und das Bild nicht zum Optischen tendiert, wie eigentlich zu erwarten wäre, sondern umgekehrt. Ebenso wie die Verteilung der Redeanteile im Bild symmetrisch ist, sind es auch die Formen der Spruchbänder, die beide den Kopf des jeweiligen Sprechers wie eine Aureole umschließen.
Dialogszenen
in Text und Bild
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nem Spruchband finden sich Verse, die keine Entsprechung im Text haben: „du bist min und ich bin. Daz schal ymmer stete sin ". Offensichtlich hatte der Illustrator das Bedürfnis, beide Liebenden zu Wort kommen zu lassen, und griff für die Antwort des Ritters auf eine gängige (Verlobungs-)Formel zurück.33 Um den Gleichklang ihrer Herzen darzustellen, ändert der pictor den Halbdialog im Text in eine echte, symmetrische Wechselrede im Bild um. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die meisten Bilder sehr genau mit dem Text korrespondieren, nur zwei fallen etwas heraus. Zum Ende der Handschrift hin nehmen jedoch die Bilder verstärkt Umakzentuierungen gegenüber dem Text vor: sei es eine Umsetzung aus dem optischen in den akustischen Raum, eine Umsetzung von Gedanken in Rede oder eine Umsetzung von Halbdialog in Dialog, immer scheinen die Bilder die Tendenz zu haben, dialogische Kommunikation zu akzentuieren bzw. eine solche dem Text einzuschreiben, auch an Stellen, an denen der Text dies nicht vorsieht.
V.
Es sollte deutlich geworden sein, dass die Illustrationen in der Darstellung von Dialogszenen außergewöhnlich eigenständig und künstlerisch avanciert verfahren. Das Medium des Bildes rezipiert den Text insbesondere durch die Akzente, die es setzt, auf durchaus originäre Art und Weise. Allerdings ist mit diesem Ergebnis die Frage, ob die 'Sprachen' von Text und Bild in ihren Ausdruckspotentialen gleichwertig sind, beide Medien also als komplementäre Sinnträger gelten können, noch nicht erschöpfend beantwortet. Es deutet sich zwar an, dass die Illustrationen einen spezifischen Mehrwert in das mediale Ensemble einbringen, doch die bisherige Analyse hat ein entscheidendes Manko, denn es stand allein 33
Bei dieser Formel denkt man natürlich sogleich an die Tegernseer Strophe, die nach Minnesangs Frühling lautet: Du bist min, ich bin dtn /des solt du gewis sin. / du bist beslozzen / in mtnem herzen, / verlorn ist daz sluzzelin: / du muost ouch immer darinne sin (MF 3,1-6). Spätestens seit Ohlys Zusammenstellung zahlreicher Beispiele dieser Zueignungsformel verbietet es sich jedoch, das Spruchband als ein Zitat aus den Tegernseer Liebesbriefen zu lesen. Vielmehr scheint der Schreiber in der Konzeption von Wigalois' Spruchband auf eine gängige Formel zurückgegriffen zu haben, die - jedenfalls in diesem Kontext - auch als eine Verlobungsformel aufgefasst werden kann, denn kurz darauf findet die Hochzeit der Liebenden statt. Friedrich Ohly, „Du bist mein, ich bin dein. Du in mir, ich in dir. Ich du, du ich", in: Kritische Bewahrung. Beiträge zur deutschen Philologie. Festschrift für Werner Schröder zum 60. Geburtstag, hg. von Ernst-Joachim Schmidt, Berlin 1975, S. 371^-15, erneut abgedruckt in: ders., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung, hg. von Uwe Ruberg und Dietmar Peil, Stuttgart/ Leipzig 1995, S. 145-176; Burkhard Hasebrink, „Ein einic ein. Zur Darstellbarkeit der Liebeseinheit in mittelhochdeutscher Literatur", in: PBB 124 (2002), S. 442-465.
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Anja Becker
zur Debatte, wie der Text von den Bildern umgesetzt wird. Das Medium der Schrift nahm somit die Stellung einer Leitinstanz ein, von der aus die Darstellungstechnik der Bilder untersucht wurde. Folglich lag in der Beschreibung der Text-Bild-Relation implizit eine Asymmetrie, denn das Medium der Schrift wurde dem des Bildes übergeordnet. Es soll nun ein Weg vorgeschlagen werden, um Text-Bild-Bezüge und die Ausdruckspotentialität der spezifischen 'Sprachen' dieser Medien gleichberechtigt nebeneinander analysieren zu können. Gefragt wird, wie beide Medien mit dem uns alltäglich so vertrauten Phänomen des Gesprächs umgehen. Die Fähigkeit zum Dialog kann in philosophischer Perspektive als ein Merkmal beschrieben werden, das den Menschen zum Menschen macht. Als ein Phänomen, das aufs Engste mit dem Wesen des Menschen verbunden ist, ist es uns je schon bekannt und vertraut, auch wenn diese (existenziale) Kenntnis eher und zumeist vorbewusster Natur ist. Deshalb gehen die folgenden Ausführungen davon aus, dass jede Darstellung von dialogischer Rede - egal ob sprachlich oder bildlich - implizit eine Metareflexion über das Darzustellende in sich trägt. Immer wenn man eine Dialogszene schriftlich oder bildlich ausagiert, schreibt sich ein mehr oder weniger bewusstes Wissen über dieses Phänomen mit in das Produkt der dichterischen oder malerischen Tätigkeit ein, so wie wir z.B. beim Hausbau immer schon wissen, was für ein Haus konstitutiv ist, egal ob wir uns diese Kenntnis bewusst machen oder nicht. Wird in beiden Medien dasselbe Wissen aktualisiert oder jeweils ein anderes? Können Text und Bild dieselben Sinnschichten zum Ausdruck bringen oder ist eine 'Sprache' der anderen überlegen?34 Den Vorzug der Bilder hatte Horst Wenzel - wie anfangs zitiert - in der Klarheit der bildlichen Anschauung gesehen, wohingegen die Schrift sich durch die Präzision der sprachlichen Begriffe hervortue. In der Tat ist es so, dass Bilder Strukturen anschaulich vor Augen stellen können, die allgemein Gesprächen inhärent sind. Dies soll im Weiteren verdeutlicht werden. Es gibt zwei Miniaturen im Leidener Codex, die durch ihre Darstellungstechnik deshalb herausfallen, weil sie nicht eine gleichsam zu einem Bild erstarrte Szene illustrieren, sondern eine Abfolge von Szenen, die auf einer von links nach rechts durch die Illustration laufenden Zeitachse angeordnet sind. Auf fol. 32r sieht man am linken Bildrand die Königin Elamie, für deren Gerechtigkeit Wigalois soeben mit Hojir von Mansfeld kämpft. Von ihren zum Gebet gefalteten Händen geht ein Spruchband aus, auf dem die ersten Zeilen ihres Hilfegebetes für den jungen Ritter geschrieben stehen: „ach vater sone heyliger geyst". Dieses Spruchband windet sich zum Ohr von Wigalois, der sogleich neue Kampfeskraft gewinnt und den roten Ritter überwindet. Dies illustriert das Bild mit einem schwungvollen Schlag, den Wigalois mit seinem Schwert ausführt. Daraufhin - in der Mi34
Natürlich trägt auch dieses Vorgehen wiederum eine Asymmetrie in sich, diesmal eine zeitliche. Denn die Dialogszenen im Text entstammen der Feder von Wirnt von Grafenberg, der den Wigalois um 1220 dichtete, während die Bilder vom pictor erst im 14. Jahrhundert entworfen wurden.
Dialogszenen
in Text und Bild
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niatur am rechten Bildrand angeordnet - leistet der Besiegte Sicherheit, was durch die zum Schwur erhobene Hand des Ritters und eine auf einem weiteren Spruchband eingefügte Überschrift anschaulich gemacht wird: grave hoyger van mansfelde de sichert. Dem zeitlichen Nacheinander der Kommunikationsvollzüge entspricht somit in der Illustration ein Nebeneinander. Genauso funktioniert das zweite Beispiel auf fol. 90v (s. Abb. 3). Nachdem Wigalois das Land Korntin befreit hat, überbringt Graf Adan Larie die Nachricht von diesem Sieg und einen Brief des Ritters. Man sieht, wie der Bote Larie den Brief übergibt, er steht am linken Bildrand und ist durch einen Titulus gekennzeichnet. Larie erklärt daraufhin öffentlich, Wigalois ihre Hand und die Krone geben zu wollen, in der Miniatur durch eine Zeigegeste auf ihre Krone verdeutlicht. Am rechten Bildrand sieht man zwei Frauen in lebhafter Konversation miteinander. Diese können nur Larie und ihre Mutter darstellen, die sich nach der Botschaft besprechen und beschließen, ins befreite Land zu reisen. Beide Miniaturen, die über dieses Darstellungsprinzip verfügen, illustrieren kommunikative Szenen, in denen sprachliche Äußerungen das Geschehen vorantreiben. Dies ist deshalb signifikant, weil Handlungsabfolgen im Leidener Codex nicht auf diese Weise bildlich umgesetzt werden. Vielmehr werden schnelle Abfolgen von Handlung durch separate Bilder, die eng aufeinander folgen, vorgestellt. Die Bildabstände können dabei so stark verkürzt werden, dass auf jeder Textseite ein Bild erscheint, wie z.B. in der Szene, in der Wigalois dem schönen Tier folgt. Hier hätte man auch ein zentral angeordnetes Bild mit einer Zeitachse erwarten können, doch es scheint zum Illustrationsprogramm der Handschrift zu gehören, dass diese Darstellungstechnik dialogischen Szenen vorbehalten bleibt. Was wird durch diesen Kunstgriff in den beiden Miniaturen erreicht? Welches implizite Wissen über das Phänomen des Dialoges machen sie anschaulich? Beide Illustrationen sind auf ein Ziel, einen Endpunkt, hin ausgerichtet, einmal auf die Aufgabe Hojirs, das andere Mal auf den Aufbruch nach Korntin. Die Miniaturen stellen also bildlich vor Augen, dass dialogische Kommunikation oft zielgerichtet abläuft, dass ihr häufig eine teleologische Struktur inhärent ist. Auch im Text ist diese teleologische Struktur spürbar, schließlich geht es in den Szenen darum, das Geschehen voranzutreiben. Doch eine konkrete Veranschaulichung, die auf dieses Strukturmoment von dialogischer Rede aufmerksam macht, ist der 'Sprache' der Bilder vorbehalten. Allerdings laufen Gespräche nicht immer teleologisch auf ein Ziel zu, sondern sind oft ziellos, entweder weil kein Endpunkt kommunikativ zu erreichen ist oder weil keiner gesucht wird. Die inhärente Struktur des Dialoges trägt eine Dialektik zwischen einem teleologischen und einem antiteleologischen Aspekt in sich. Verbildlicht wird dieser zweite Strukturaspekt dialogischer Kommunikation in der herausgehobenen Illustration auf fol. 28v (s. Abb. 2), der Darstellung des Gesprächs zwischen Wigalois und Hojir von Mansfeld. In Form des Spruchbands des Papageien steht der Inhalt des Dialoges zwischen
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Anja Becker
Wigalois und Hojir substantiell im Raum. In seiner Ausdehnung bezeichnet das Spruchband die Achse des Dialoges zwischen den beiden Rittern. Jedoch nimmt die Sprechgeste Hojirs einen weiteren Punkt der Verräumlichung der dialogischen Kommunikation ein, sie zeigt auf Wigalois, der wiederum auf das Spruchband weist, welches wiederum in Richtung des rothaarigen Ritters läuft und so weiter. Der räumlichen Umsetzung der kommunikativen Situation im Bild ist somit eine Kreisbewegung eingeschrieben, durch die der Dialog in prinzipiell unendlichen Umrundungen hindurchlaufen kann. Die hier illustrierte Wechselrede bringt metareflexiv den zweiten, antiteleologischen Aspekt von dialogischer Kommunikation ins Spiel und versinnbildlicht ihn durch die Kreisstruktur. Dieser Gesprächen allgemein inhärente Aspekt ist auch im Text angelegt, denn der Disput kann deshalb zu keinem Ergebnis kommen, weil keiner der Dialogteilnehmer seinen Standpunkt mit Argumenten durchsetzen kann. Zwar verkündet der Papagei die Wahrheit, aber er ist nun einmal ein Papagei und damit als Zeuge denkbar unbrauchbar. Wenn sich Wigalois durch seine Zeigegeste auf dessen Aussage beruft, dann kann er vor den Augen Hojirs damit nicht bestehen. Der rote Ritter dagegen ist zwar objektiv im Unrecht, subjektiv sieht er sich aber im Recht, denn schließlich ist er der beste Ritter, weshalb ihm natürlich die schönste Frau gebührt. Der Streit der Parteien kann auch deshalb nicht auf kommunikativem Wege entschieden werden, weil die Öffentlichkeit als Schiedsorgan fehlt, der Dialog findet in Hojirs Zelt statt. Folglich ist die kreisförmige Struktur auch der Dialogszene im Medium der Schrift implizit eingeschrieben, anschaulich werden kann sie aber erst im Medium des Bildes. Hier scheinen offensichtlich zwei Beispiele gefunden, bei denen das Bild aufgrund seiner Anschaulichkeit dem Medium der Schrift überlegen ist. Natürlich hat die Schrift auch Vorzüge und zwar nicht nur den, dass die sprachlichen Begriffe in der Regel präziser sind. Die Dialogszene zwischen Wigalois und Hojir zeichnet sich im Text dadurch aus, dass sie augenfällig vom Erzähler dominiert wird. Dies lässt sich durch eine quantitative Analyse andeuten: Insgesamt zählt die Szene 160 Verse, wovon 80 Verse Figurenrede in direkter Wiedergabe vorstellen, der Rest ist Erzählerrede. Es besteht somit ein 5 0 : 50-Verhältnis zwischen Figuren- und Erzählerrede. Resultat ist, dass das eigentliche Gespräch zwischen Hojir und Wigalois in den Hintergrund rückt. Es wird durch eine ausführliche descriptio der Szene eingeleitet und wiederholt durch Erzählerreflexionen über den Mut, über rote Haare und über die Figur Hojirs im Allgemeinen unterbrochen. Durch diese Erzählerlenkung lädt sich die Dialogszene mit immer zahlreicheren und teilweise sehr disparaten Diskursen auf. Wirnt öffnet stets neue Sinnhorizonte, nicht zuletzt dadurch, dass er mit dem Namen 'Hojir von Mansfeld' eine quasi historische Person in die Fiktion des Romans einbindet.35 Auf engstem Raum (160 Verse) werden hier somit die verschiedensten diskursiven Stränge gebündelt und miteinander verflochten. Es
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Vgl. Klare (wie Anm. 29).
Dialogszenen
in Text und Bild
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entsteht dadurch eine Überdetermination, die metareflexiv auf das Potential von (epischen) Gesprächen verweist, unbegrenzt viele Diskurse und Sinnhorizonte anzuzitieren. Aus dieser Szene führen gleichsam unzählige Vektorpfeile in die unterschiedlichsten Regionen des kulturellen, historischen und sozialen Lebens. Implizit wird das Wissen aktualisiert, dass dialogische Kommunikation die Kraft besitzt, wie ein Brennspiegel differenteste Diskurse zu bündeln und anzunähern. Bilder können ebenfalls in ihrer 'Sprache' andere Wissensordnungen oder diskursive Formationen anzitieren, jedoch bleiben ihre Möglichkeiten in dieser Hinsicht deutlich begrenzt. Betrachtet man z.B. das Bild vom Dialog zwischen Wigalois und Lar genauer, kann man einen Bezug zum allegorischen Eröffnungsbild der Handschrift feststellen. Es ist keine inhaltliche Beziehung, sondern eine auf der Ebene der Formen. Denkt man sich die Füllung der Bildinhalte mit Farben und Figuren weg und beachtet nur die Strukturen der Formen im Bildraum, dann erkennt man eine Ähnlichkeit der Umrisse. Dem Bild vom Gespräch zwischen Wigalois und Lar wird durch diese Formanalogie ein christlich-theologischer Subtext eingeschrieben, der sich erst in der Gesamtschau der Handschrift enthüllt. Hier wird somit eine weitere Ebene in das Bild hineingeholt, jedoch kann die Bildsprache hinsichtlich einer möglichen Aufladung mit Diskursformationen nur schwerlich mit der 'Sprache' des Textes konkurrieren. In der epischen Ausgestaltung von Dialogszenen verfährt Wirnt nicht einsinnig, sondern passt sie dem Inhalt des Gesprächs an. Der Dominanz des Erzählers im Gespräch zwischen Wigalois und Hojir steht der Rückzug desselben im Dialog zwischen dem Protagonisten und König Lar entgegen. Knapp 90% der Verse bestehen aus Figurenrede, denn in dieser Szene ist es wichtig, was die Figur des Königs zu sagen hat, programmatisch formuliert in der Adresse an Wigalois: du solt merken waz ich dir sage (Ltk 537, fol. 48v). Wie bereits erwähnt wird in diesem Gespräch die Vergangenheit des Protagonisten mit seiner unmittelbaren Zukunft vermittelt. Für diese Annäherung von Vergangenheit und Zukunft bedient sich Wirnt eines erzählerischen Kunstgriffs: Die Themen der Wechselrede folgen derart aufeinander, dass sie zwischen Rückblenden in die Vergangenheit und Voraussagen für die Zukunft alternieren. Eine thematische Gliederung des Gesprächs macht folgende Struktur deutlich: 1.
Lar gibt sich zu erkennen und erzählt seine Geschichte (v. 4650-4690); Vergangenheit
2.
Lar beschreibt den Drachen und Wigalois' baldigen Sieg über ihn (v. 4691-4706); Zukunft
3.
Lar berichtet vom Schicksal der brennenden Ritter und Roaz' Meuchelmord (v. 4707-4735); Vergangenheit
4.
Wigalois bittet um Hilfe für den Kampf; Lar gibt ihm eine wundertätige Blume und weist ihn zu einer Engelslanze; wiederum sagt er Wigalois den Sieg voraus (v. 4736-4781); Zukunft
5.
Lar offenbart Wigalois, dass Gawan sein Vater ist (v. 4782^-813); Vergangenheit
6.
Lars Freude über seine letzte Nacht im brennenden Schloss; erneute Beteuerung, dass Wigalois das Land befreien werde (v. 4814-4835); Zukunft.
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Das Alternieren zwischen Vergangenheit und Zukunft im Dialog hat eine Annäherung der Zeiten zur Folge. Gibt es im korrespondierenden Bild auf fol. 49v (s. Abb. 1) eine ähnliche Engführung von Historie und Futurum? Beide Aspekte, sowohl der des Zukünftigen als auch der des Vergangenen, finden sich im Bild. Warum hat Wigalois eine Lanze in der Hand? Seine eigene hatte er kurz zuvor beim tjost mit den brennenden Rittern vertan. Es muss sich somit um die von einem Engel auf die Welt gebrachte Lanze handeln, von der der König ihm gerade erst erzählt. Diese wird er aber erst nach dem Dialog an sich nehmen. Neben diesem zukünftigen Aspekt ist auch die Vergangenheit des Protagonisten über das Hündchen, das hinter ihm auf dem Pferd sitzt, dem Bild eingeschrieben. Ähnliche Hunde erscheinen in den Illustrationen stets im höfischen Umfeld. Das Hündchen verweist somit auf Wigalois' Herkunft vom höfischsten Ritter überhaupt, von Gawan. Im Bild werden somit Vergangenheit und Zukunft nicht nur angenähert, sondern überblendet. Das metareflexive Wissen, dass in dialogischer Kommunikation Vergangenes heraufbeschworen und Zukünftiges gegenwärtig gemacht werden kann, wird somit sowohl im Text als auch im Bild implizit thematisiert. Beide 'Sprachen' deuten dieses Phänomen mit ihren eigenen Mitteln an, wobei schwer zu entscheiden ist, welche sich als überlegen erweist. Zwar verfährt das Bild in der Überblendung der Zeiten radikaler, der Text dafür im thematischen Alternieren subtiler und vielschichtiger. Beide Medien arbeiten sich am gleichen Phänomen ab und unterstützen sich hier in ihren Ausdruckspotentialen gegenseitig. Der letzte Schritt der Untersuchung hat deutlich werden lassen, dass sich Text und Bild unterschiedlicher 'Sprachen' bedienen, wobei keine generell der anderen unterlegen ist, sondern beide 'Sprachen' besitzen jeweils ganz spezifische darstellerische Möglichkeiten, die sie gezielt einsetzen. Bilder vermögen es besser, formale Strukturen von dialogischer Kommunikation wie die Dialektik zwischen Teleologie und Zirkularität anschaulich zu machen. Die Texte sind im Vorteil, wenn es darum geht, die potentielle Diskurspluralität von Gesprächen einzufangen. Zuweilen arbeiten beide Medien einander zu, wie es in der Annäherung von Vergangenheit und Zukunft im Dialog zwischen Wigalois und Lar der Fall ist. Text und Bild können somit als komplementäre Sinnträger im vollsten Sinne des Wortes aufgefasst werden. Kommen wir auf die anfangs aufgeworfene Frage nach der Funktionalität der medialen Doppelung zurück. Bilder dienen nicht nur als Lektüreersatz oder als Gedächtnisstützen in den Handschriften, sondern die Kombination von Text und Bild ermöglicht es, deutlich mehr Sinnschichten in das mediale Ensemble einzuspeisen, wodurch eine Sinnpluralisierung bzw. Sinnpotenzierung entsteht. Dass diese Funktion nicht nur im Leidener Codex, sondern auch in anderen illustrierten Handschriften greift, ist wahrscheinlich, müsste allerdings noch eigens untersucht werden.
A b b . 1: Leiden, Universiteitsbibliotheek, Ltk 537, fol. 4 9 v .
Anja Becker
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A b b . 3: Leiden, Universiteitsbibliotheek, Ltk 537, fol. 90v.
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Katharina
Philipowski
Strophisches und stichisches Sprechen Medientheoretische Überlegungen zur Figurenrede in höfischer Epik und Heldenepik
Struktur und poetische Organisation eines mittelalterlichen Erzähltextes hängen bekanntlich von dessen Medialität ab, davon also, ob er mündlich oder schriftlich konzipiert, mündlich oder schriftlich überliefert und davon, ob er auswendig oder schriftgestützt vorgetragen wird.1 Welchen Einfluss ihre Medialität auf die formale und poetische Organisation von Dichtung hat, lässt sich exemplarisch an der mittelalterlichen Epik veranschaulichen, die in Heldenepik und höfischer Epik verschiedene Ausprägungen annimmt. 2 So nutzt der höfische Roman nach französischem Vorbild die Möglichkeiten der schriftlichen Großform, um den Weg, den der Held zu gehen hat, zweimal unter verschiedenen Bedingungen durchzuspielen und dabei über wechselnde Akzentuierungen ein bestimmtes Problem zum Bewußtsein zu bringen. Wenn man sich damit von den einfachen Formen der mündlichen Tradition löst, so wird hier jedoch [...] der Sinn literarisch-innerweltlich gefunden [...]. Man setzt die Sinnfindung als schriftliche Gestaltung literarisch-programmatisch zugleich gegen die 'Sinnlosigkeit' der oralen Vorlage.3 Zwischen mündlicher und schriftgestützter Entstehung, mündlicher Tradierung und schriftlicher Überlieferung, Vortragsweise, poetischer Form und der grundlegenden narrativen Konzeption eines Werkes bestehen komplexe und tiefgreifende Interdependenzen, die die einzelnen Merkmale zu Gruppen bündeln: Während beispielsweise der Ortnit
anonym
überliefert ist, ist der Autor des Iwein bekannt. Während der Ortnit vom Tod seines Prota1
2
3
Die nahezu unüberschaubare Forschungsdiskussion zum Thema Mündlichkeit / Schriftlichkeit kann hier nicht berücksichtigt werden. Ich verweise auf die zahlreichen Bibliographien zum Thema, z.B. in: Haiko Wandhoff, Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Literatur, Berlin 1996 (Phil.St.u.Qu. 141); Das Mittelalter 9 (2004): „Medialität im Mittelalter"; Harald Haferland, Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter, Göttingen 2004. Dass eine Dichotomie von heldenepischem und höfischem Erzählen eine Vereinfachung darstellt, die der Vielgestaltigkeit mittelalterlicher Epik nicht gerecht wird, liegt auf der Hand - dass (terminologische) Vereinfachungen dennoch notwendig sind, um diese Vielgestaltigkeit beschreibbar zu machen, jedoch nicht minder. - Für eine Diskussion über Inhalt und Gebrauch des Begriffes 'höfisch' verweise ich auf: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hg. von Joachim Heinzle, Bd. 2.1: L. Peter Johnson, Die höfische Literatur der Blütezeit, Tübingen 1999, S. 5-21. Walter Haug, „Mittelalterliche Epik: Ansätze, Brechungen und Perspektiven", in: Epische Stoffe des Mittelalters, hg. von Volker Mertens und Ulrich Müller, Stuttgart 1984 (Kröners Taschenausgabe 483), S. 1-19, hier S. 15.
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gonisten erzählt, endet der Iwein mit der glücklichen Rehabilitation des Titelhelden. Beginnt der Ortnit mit nur einer einzigen Prologstrophe, führt in den Iwein ein komplexer und literarisch anspruchsvoller Prolog ein. Und während der Ortnit an keiner Stelle den Wahrheitsanspruch seines Erzählens in Frage stellt, thematisiert der Iwein bereits im Prolog den vielschichtigen Wahrheitsanspruch seiner Aussagen. Jedes dieser inhaltlichen und formalen Charakteristika steht mit der je unterschiedlichen Überlieferungsform der jeweiligen Texte, bzw. der Gattungen, zu denen sie zu rechnen sind (also der Heldenepik und der höfischen Epik), in Zusammenhang, damit also, dass die Heldendichtung vor ihrer Verschriftlichung mündlich tradiert, die höfische Epik aber bereits schriftlich konzipiert und wohl auch schriftlich überliefert wurde: Das Epos ist durch Zusammensetzung und Ausmalung von einheimischen mündlichen Erzählungen - teilweise unter dem Einfluß des Romans - entstanden; der Roman dagegen war von vornherein eine aus dem Ausland eingeführte Gattung mit einer Komplexität und Konsequenz der Handlungsführung und Darstellung, die nur im Medium der Schrift vollziehbar waren. 4
Zwar sind Heldenepik und höfische Epik in der schriftlichen Überlieferung stellenweise verschwistert und begegnen sich in mehreren Handschriften. 5 Auch die Gruppe der Rezipienten von Heldenepik unterscheidet sich nicht von der von höfischer Epik: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Heldendichtung unter dem Gesichtspunkt ihrer Verbreitung zunächst 'ritterliche Standesdichtung' ist, nicht anders als die höfische Literatur, daß ihr Publikum den Kreisen des Adels angehört [...]". 6 Doch der grundlegende Unterschied zwischen höfischer Epik und Heldenepik ist, dass letztere das Resultat eines Tradierungsprozesses ist, der sich unserer Kenntnis nach m ü n d l i c h
vollzogen hat, während die höfi-
sche Epik aller Wahrscheinlichkeit nach s c h r i f t g e s t ü t z t
entsteht, schriftgestützt
7
vorgetragen und schriftlich überliefert wird.
4 5
6
7
Johnson (wie Anm. 2), S. 292. So überliefern der Sangallensis (St. Gallen, Cod. 857) und das 'Ambraser Heldenbuch' (Wien, Cod. Series Nova 2663) das Nibelungenlied zusammen mit dem Iwein, in der Riedegger (Berlin, Ms. germ. 2° 1062) und der Windhager Handschrift (Wien, Cod. 2779) sowie im 'Ambraser Heldenbuch' wird der Iwein mit der Rabenschlacht und Dietrichs Flucht zusammen überliefert. Literatur zur Überlieferungsgemeinschaft dieser drei Texte in: Dietrichs Flucht, hg. von Elisabeth Lienert und Gertrud Beck, Tübingen 2003 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 1), und Rabenschlacht, hg. von Elisabeth Lienert und Dorit Wolter, Tübingen 2006 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 2). Werner Hoffmann, Mittelhochdeutsche Heldendichtung, Berlin 1974 (Grundlagen der Germanistik 14), S. 41. „Dafür sprechen als erstes eine ganze Anzahl von Bezugnahmen auf Gestalten der Heldenepik in höfischen Dichtungen [...], die naturgemäß nur sinnvoll waren, wenn die gleichen Kreise, an die sich die höfische Dichtung wandte, sich auch in der Heldendichtung auskannten. Diese Beobachtung wird dadurch bestätigt und bestärkt, daß manche Handschriften gleichermaßen höfische wie heldische Dichtungen umfassen". Vgl. Joachim Bumke, Die vier Fassungen der 'Nibelungenklage'. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin/New York 1996
Strophisches und stichisches Sprechen
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Auf die lange Liste der Unterschiede zwischen höfischer Epik und Heldenepik 8 gehört auch ein Punkt, der bemerkenswerterweise kaum je Erwähnung findet und der hier hervorgehoben und gewürdigt werden soll, nämlich die Figurenrede. Unter Figurenrede werden im Folgenden diejenigen Passagen eines Werkes verstanden, in denen entweder eine literarische Figur9 spricht oder in denen von dem, was eine Figur gesagt hat, wörtlich berichtet wird. Ihr kommt in der mittelalterlichen Erzähldichtung u.a. auch deshalb eine zentrale narrative Funktion zu, weil es nach unserem Wissen die Gattung, die direkte Rede als alleiniges Gestaltungselement enthält, das genus activum vel imitativum, das Drama, in der höfischen Epoche überhaupt nicht gibt. [...] Durch das Fehlen des Dramas gewinnt das Epos um so mehr an Bedeutung, und in den Mittelpunkt treten hierbei gewiß die Partien und Szenen mit direkter Rede, die in der Dichtung dieser Epoche die einzige Ausdrucksmöglichkeit des Dramenhaften darstellen.10 Nine Miedema hat jüngst die Performativität von Figurenrede betont: „Sprechen ist Handeln, die Erzählhandlung vieler Epen würde ohne das Sprechen ein vorzeitiges Ende finden".' 1 Figurenrede kann verschiedene 'Tiefenstufungen' ausbilden. Der Erzähler, der auf einer extradiegetischen 12 Ebene erzählt, kann die direkte Rede einer Figur wiedergeben. In allen Fällen von Figurenrede ist jedoch jede Rede jeder Figur immer durch den Erzähler vermittelt, denn er ist es, der davon erzählt, was eine Figur sagt. So eignet der Figurenrede eine grundsätzliche Ambivalenz: Einerseits erhebt in der Figurenrede die Figur scheinbar un-
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(Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8), vor allem S. 61-68; Peter Jörg Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, Wiesbaden 1977. Hoffmann (wie Anm. 6), S. 11-25, nennt als Differenzkriterium u.a. den Stil (Einschichtigkeit, Hyperbolik, unpersönliche Formulierungen etc. im Falle der Heldendichtung). Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Frage, ob der Stilbegriff eine valide analytische Kategorie sein könne, vgl. Ursula Schaefer, „Epik und Stil: Überlegungen zu einer analytischen Kategorie", in: New Methods in the Research of Epic / Neue Methoden der Epenforschung, hg. von Hildegard L.C. Tristram, Tübingen 1998 (ScriptOralia 107), S. 173-183. Die Frage danach, was eine Figur ist, kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht erörtert werden. Auch ist die Diskussion dieser Frage zu komplex, um eine knappe Definition zu geben. Der Leser sei verwiesen auf die Monographie von Fotis Jannidis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin/New York 2004 (Narratologia 3), in der der Versuch unternommen wird, vorliegende Forschungsansätze zu einer Neubestimmung der Figur zusammenzuführen. Jannidis geht davon aus, dass sich die Figur „nicht als sprachliche Einheit, etwa um einen Eigennamen gruppiert, sondern nur als konzeptionelle Einheit auffassen [lässt]" (S. 240). Peter Wiehl, Die Redeszene als episches Strukturelement in den Erec- und Iwein-Dichtungen Hartmanns von Aue und Chrestiens de Troyes, München 1974 (Bochumer Arbeiten zur Sprachund Literaturwissenschaft 10), S. 22f. Nine Miedema, „Die Gestaltung der Redeszenen im ersten Teil des Nibelungenliedes·. Ein Vergleich der Fassungen *A/*B und *C", in: Ze Lorse bi dem münster. Das Nibelungenlied (Handschrift C). Literarische Innovation und politische Zeitgeschichte, hg. von Jürgen Breuer, München 2006, S. 45-82, hier S. 46. Alle folgenden Begriffe aus: Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 3 2002, S. 73ff.
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mittelbar die Stimme, äußert sich in ihren 'eigenen Worten' und gewinnt so für den Rezipienten Tiefenschärfe und Profil. Andererseits bleibt die Figur auch dort, wo sie ihre 'eigene' Stimme erhebt, letztlich stumm, weil stets nur einer spricht, nämlich der Erzähler.13 In der (stillen) Lektüre fällt dieser Sachverhalt kaum auf. In einer Vortragssituation, in der nicht lesend, sondern hörend rezipiert wird, gibt es jedoch nicht nur narrativ, sondern auch akustisch immer nur eine einzige Stimme für alle Figuren und Erzählebenen, nämlich die des Erzählers, die während der Vortragssituation mit der Stimme des Vortragenden zusammenfällt. Sie kann zwar moduliert werden, um einen Sprecherwechsel innerhalb des Erzählten anzuzeigen, bleibt aber immer die Stimme des Vortragenden. Vortragsdichtung ist, um moderne Vergleiche heranzuziehen, ein Hörbuch und kein Hörspiel. Wo die Rezeption sich auf eine Stimme stützt und (wie es vom Vortrag von Heldenepik vermutet wird) singend und auswendig, nicht rezitierend und schriftgestützt vorgetragen wird, kann es vor allem dann leicht zu Irritationen und Missverständnissen darüber kommen, wer eigentlich gerade spricht, wenn Figurenrede lang und mehrstufig ist, so wie beispielsweise im Fall des Burgherrn, den Iwein auf seiner aventiure-Fahrt trifft und der ihm von der Entführung der Königin berichtet (v. 452CM739).14 Es kann nun kaum verwundern, dass solchermaßen lange, metadiegetische und deshalb aufwändige und komplizierte Figurenrede nahezu ausschließlich in der höfischen Epik vorkommt und in der strophischen Heldenepik (mit Ausnahme der Heidelberger Virginal) kaum begegnet. Die Forschung geht nämlich - wie oben bereits angesprochen - davon aus, dass sie sich unter anderem auch darin unterscheiden, dass höfische Epik nicht nur schriftlich überliefert,15 son-
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Vgl. Miedema zu literarischen Dialogen: „Es handelt sich um fingierte Dialoge, um fingierte Mündlichkeit; der (durch die simulierte Unmittelbarkeit der Redewiedergabe anscheinend hinter seine Figuren zurücktretende) Autor gestaltet das Gespräch, nicht die Dialogpartner selbst" (Miedema [wie Anm. 11], S. 48, dort weiterführende Literaturhinweise). Vgl. zum Verhältnis von direkter und indirekter Rede (in narrativen Texten: Figurenrede und Erzählerrede) auch: Manfred von Roncador, Zwischen direkter und indirekter Rede. Nichtwörtliche direkte Rede, erlebte Rede, logophorische Konstruktionen und Verwandtes, Tübingen 1988 (Linguistische Arbeiten 192). Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. von Georg F. Benecke und Karl Lachmann, neu bearbeitet von Ludwig Wolff, 7. Ausgabe, Bd. 1: Text, Berlin 1968. „Ausschlaggebend ist [für die Form von Strophik oder Reimpaarvers], daß etwa Hartmanns Artusdichtungen ganz und von vornherein auf Schriftlichkeit fixiert sind; wollte man sie aus dem Gedächtnis rezitieren (und Uberhaupt mündlich weitergeben), so hätte der Vortragende nirgendwo einen stützenden Halt, und schon ein unbedeutender Erinnerungsfehler würde das kunstvolle Zusammenspiel von Syntax und Reimbindung heillos durcheinanderbringen. Die mündliche deutsche Epik hingegen findet in der festgeformten langzeiligen Strophe das ideale Mittel, um umfangreichen Erzählstoff in kleinen Einheiten mnemotechnisch zu speichern und für den Vortrag verfügbar zu halten" (Achim Masser, „Wege der Darbietung und der zeitgenössischen Rezeption höfischer Literatur", in: Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters. In Zusammenhang mit Karl H. Vigl hg. von Egon Kühebacher, Bozen 1979, S. 382-406, hier S. 389).
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dem auch schriftgestützt vorgetragen wird, während Heldenepik weitgehend schriftlos tradiert und vermutlich gesungen 16 worden ist. Der letzte Punkt, die Frage der Vortragsform strophischer Dichtung, wird in der Forschung allerdings kontrovers diskutiert: 17 Werner Hoffmann hält gesanglichen Vortrag für wahrscheinlich, aber nicht für die dominierende Form: „Die strophischen Heldendichtungen sind übrigens nicht, als vermeintliche 'Leseepen', prinzipiell unsanglich gewesen, wie dies etwa Andreas Heusler, Hermann Schneider und noch Friedrich Panzer angenommen haben, vielmehr ist damit zu rechnen, daß sie zunächst und unter Umständen lange Zeit auch sanglich vorgetragen, genauer: mit der Singstimme rezitiert wurden. Indes ist dies sicher nicht generelle Vortragsform gewesen".' 8 Karl Bertau und Rudolph Stephan haben in den späten 50er Jahren Argumente vorgelegt, die den gesanglichen Vortrag strophischer Epen plausibel machen. Zu ihren Argumenten gehört zunächst die „vielzitierte Marner-Stelle, in welcher dieser diu liet anführt, die er den liuten singt". 19 In seinem Sangspruch zählt der Marner strophische Helden- und Dietrichepik auf, die das Publikum von ihm zu hören verlange, aber auch hübschen minnesanc,20 was Harald Haferland damit erklärt, dass sowohl der Minnesang als auch die strophische Heldenepik auswendig und gesanglich vorgetragen werden: „Innerhalb der Aufzählung von Heldendichtungen, die man vom Marner hören will, fällt der Minnesang auffällig aus dem Rahmen. Was ihn allein mit strophischer Heldendichtung verbindet, ist der Umstand, daß er gesungen wird". 21 Bertau und Stephan weisen darüber hinaus auf die Strophenmelodie hin, die der Jüngere Titurel Albrechts von Scharfenberg mitüberliefert und auf „eine in Strophen gedichtete Reimchronik Michael Beheims, das 'Buch von den Wienern', wovon uns im Autograph außer der Strophenmelodie auch noch die ausdrückliche Anweisung des Verfassers das man es lesen mag als ainen spruch, oder singen als ain liet erhalten ist". 22 Aus ihren Argumenten schließen die Autoren, „daß jedenfalls die mhd. strophischen Epen ihre Strophenform nicht nur dem sangbaren Lied verdanken, sondern daß sie sich ihrer nur deshalb bedienten, weil sie gesungen werden sollten". 23 1970 hat Horst Brunner anhand einer Sichtung und Analyse von späten Epenmelodien und Meistersingerhandschriften des 15., 16. und 17. Jahrhunderts diese Überzeugung zu untermauern unternommen und dabei darauf hingewiesen, dass „noch die zahlreichen Drucke strophischer Hel-
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Zur Diskussion dieser Frage vgl. auch Manfred G. Scholz, Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1980, vor allem S. 20ff. Vgl. auch das kurze Forschungsresümee ebd., S. 20f. Hoffmann (wie Anm. 6), S. 53. Karl Bertau und Rudolph Stephan, „Zum sanglichen Vortrag mhd. strophischer Epen", in: ZfdA 87/88 (1956/57, 1957/58), S. 253-270, hier S. 254. Der Marner, hg. von Philipp Strauch. Mit einem Nachwort, einem Register und einem Literaturverzeichnis von Helmut Brackert, Straßburg 1876, Nachdruck 1965, XV,14, v. 271. Vgl. jetzt auch den Abdruck in: Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, hg. von Burghart Wachinger, Frankfurt a.M. 2006 (Bibliothek deutscher Klassiker 191; Bibliothek des Mittelalters 22), „Der Marner" IV. Haferland (wie Anm. 1), S. 398. Bertau und Stephan (wie Anm. 19), S. 254, Hervorhebung im Original. Bertau und Stephan zitieren hier Michael Beheims Buch von den Wienern, hg. von Theodor G. von Karajan, Wien 1843. Vgl. zu diesem Beleg auch Manfred G. Scholz, „On Presentation and Reception Guidelines in the German Strophic Epic of the Late Middle Ages", in: New Literary History 16 (1984/85), S. 137-151, wo Scholz auch auf die Pfälzische Reimchronik in der 'Angstweise' eingeht. Bertau und Stephan (wie Anm. 19), S. 254.
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dendichtungen seit dem 15. Jahrhundert [...] in ihren Titeln [...] ausdrücklich die Möglichkeit des gesungenen Vortrags vermerken". 24 1978 hat sich Joachim Heinzle zur Frage des strophischen Epenvortrags geäußert: „Neuerdings rechnet man bekanntlich wieder damit, daß mhd. strophische Texte auch größeren und größten Umfangs gesungen wurden bzw. sangbar waren. [...] Was das Grundsätzliche betrifft, genügt der Hinweis auf die Titel der Drucke, in denen die Hersteller die Nützlichkeit ihres Produktes durch Hervorhebung von dessen vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten anzupreisen pflegten". 25 Aus ihnen lässt sich „wohl mit einiger Sicherheit schließen, daß man das 'Eckenlied', den 'Sigenot' und den 'Wunderer' im 15. und 16. Jahrhundert auch singen konnte bzw. gesungen hat. Und die Vermutung zumindest ist nicht von der Hand zu weisen, daß dies schon von Anfang an (d.h. seit dem 13. Jahrhundert) und bei all unseren Texten im Berner- und Hildebrandston (Heunenweise) der Fall war". 26 Walther Lipphardt diskutiert „das epische geistliche Lied als Kontrafaktur weltlicher Epenmelodien oder Epenstrophen" 27 und führt dabei einen weiteren Beleg dafür an, dass strophische Epik gesungen worden ist, nämlich ein (leider nicht näher nachgewiesenes) von Joachim Aberlin 1533 herausgegebenes Gesangbuch mit dem Titel Ain kurtzer begriff vnd innhalt der gantzen Bibel in drew Lieder zu singen gestellt / durch Joachim Aberlin / M.D.XXXIII2IS In diesem Gesangbuch äußert Aberlin den Wunsch, dass die Bibel gesungen werde und empfiehlt, ihr den Vorzug vor der Berner /Ecken außfart /Hertzog ernst /der hürne Sewfried/auch ander vnnütze /langwirige vnd haillose lieder vnd maistersang zu geben, 29 die nicht nur die Zeit eines jeden Christenmenschen verschwendeten, sondern auch noch einen viel größeren Umfang hätten als das Neue Testament. Für Werner Hoffmann steht „sanglicher Vortrag [...] für die gesamte strophische Epik des Mittelalters außer Frage". 30 Doch „das besagt freilich nicht, daß sie immer und überall gesungen worden sein müsse und daß sich nicht, wenn man die sanglich-rezitativische Präsentation für die ursprüngliche hält, daneben und unter Umständen schon recht früh Sprechvortrag eingestellt haben wird". 31 Hoffmann verweist in diesem Zusammenhang auf „tatsächlich überlieferte Melodien (zu einer Epenstrophe in der Trierer Marienklage und im Alsfelder Passionsspiel, Melodie des 'Jüngeren Hildebrandsliedes' und die 'Titurel'-Melodie)". 32 Haferland hat zu diesen Argumenten noch das der Sammlung von Texten zu Heldenbüchern hinzugefügt: „In diesem Zusammenhang fällt ganz besonders auf, daß der 'Laurin' und der 'Herzog Ernst' im Dresdner Heldenbuch in strophischen Versionen begegnen, wie sie nur beim 'Herzog Ernst', nicht beim 'Laurin', noch anderwärts bezeugt sind, obwohl beide Stoffe sonst in mehreren Versionen und die Versionen in mehreren Fassungen vorkommen. Es scheint deshalb, als
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Horst Brunner, „Epenmelodien", in: Formen mittelalterlicher Literatur. Siegfried Beyschlag zu seinem 65. Geburtstag von Kollegen, Freunden und Schülern, hg. von Otmar Wemer und Bernd Naumann, Göppingen 1970 (GAG 25), S. 149-168, hier S. 149. Joachim Heinzle, Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung, München 1978 (MTU 62), S. 73. Ebd., S. 74. Walther Lipphardt, „Epische Liedweisen des Mittelalters in schriftlicher Überlieferung", in: Deutsche Heldenepik in Tirol (wie Anm. 15), S. 275-299, hier S. 276. Ebd. Ebd. Werner Hoffmann, Altdeutsche Metrik, Stuttgart 2 1981 (Sammlung Metzler 64), S. 86. Ebd. Ebd., S. 86f. Diese tatsächlich überlieferten Epenmelodien ('Jüngeres Hildebrandslied', 'Titurelweise', 'Melodie zum Winsbecke und zur Winsbeckin', 'Schwarzer Ton', 'Bernerton', 'HerzogErnst-Ton', 'Heunenweise' und 'Angstweise') versammelt und kommentiert Horst Brunner, „Strukturprobleme der Epenmelodien", in: Deutsche Heldenepik in Tirol (wie Anm. 15), S. 300328. Dort argumentiert Brunner für „eine autochtone Tradition der Epenmelodien", vgl. S. 323.
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hätte gerade die Strophenform und damit die Eignung für den freien, sanglichen Vortrag das Nadelöhr gebildet, das beiden Texten Aufnahme in das Dresdner Heldenbuch verschaffte". 3 Gisela Kornrumpf kommt zu dem Ergebnis: „Von der neuen volkssprachlichen Prosa, insbesondere der chronistischen Prosa - die nicht müde wird, den 'gesungenen' Erzählungen der 'illiteraten' Laien von Dietrich und anderen Helden die (chronistische) Glaubwürdigkeit und gewissermaßen die Existenzberechtigung innerhalb der Schriftkultur abzusprechen - setzt sich die Heldendichtung durch die strophische Form ab; die Strophe dient [...] als Indikator ihrer Zugehörigkeit zur nicht-chronikalischen, 'gesungenen' Tradition, deren Wahrheitsanspruch ein ganz anderer war als der der Chronisten und insofern von deren Polemik gar nicht berührt wurde". 34 Es geht mir hier nicht darum, in diese Diskussion einzugreifen. Ich möchte vielmehr im Folgenden danach fragen, welche Schlussfolgerungen sich für die Figurenrede ergeben, wenn davon ausgegangen wird, dass strophische Heldendichtung gesanglich vorgetragen wurde - bzw. welche Schlussfolgerungen sich aus der Gestalt der Figurenrede in strophischer Heldendichtung in Bezug auf deren vermutete Vortragssituation ergeben. Im Folgenden soll es darum gehen, die Unterschiede der Figurenrede in Heldenepik und höfischer Epik unter dem Gesichtspunkt ihrer Medialität zu beschreiben und so dem bereits angedeuteten Zusammenhang Rechnung zu tragen, dass Figurenrede als anspruchsvolle narrative Erzählstrategie durch besondere Bedingungen der Rezeption und der Überlieferung begünstigt wird, nämlich durch die Bedingungen schriftgestützter Überlieferung und schriftgestiitzten Vortrags. Auf eine knappe Formel gebracht: Bestimmte Überlieferungsformen begünstigen spezifische Strukturen von Figurenrede - oder: Wo sich eine komplizierte, mehrstufige Konstellation von Figurenrede ausbildet, bedarf es der Schriftlichkeit, um diese medial zu bewältigen und zu organisieren. Im Umkehrschluss bedeutet das natürlich, dass Dichtungen, die mündlich tradiert werden (wie es von der Heldenepik angenommen wird) andere, weniger komplexe und gleichsam 'schwächere' Strukturen der Figurenrede ausbilden. Um zum eigentlichen Punkt, der heldenepischen und der höfischen Figurenrede, zu gelangen, müssen jedoch zuvor einige Überlegungen zum heldenepischen und höfischen Erzählen vorausgeschickt werden.
I.
Distinktionskriterien 'heldenepischen' und 'höfischen' Erzählens
Abgrenzungskriterien für Heldenepik und höfische Epik sind - unnötig, es zu betonen niemals trennscharf, und in jeder Gruppe gibt es einen oder mehrere 'Ausreißer'. Ungeach33 34
Haferland (wie Anm. 1), S. 402. Gisela Komrumpf, „Strophik im Zeitalter der Prosa: Deutsche Heldendichtung im ausgehenden Mittelalter", in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981, hg. von Ludger Grenzmann und Karl Stackmann, Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 5), S. 316-340, hier S. 331.
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tet dessen möchte ich im Folgenden die wichtigsten Unterschiede als Annäherung an Heldenepik und höfische Epik benennen. Einer der unbestreitbarsten Unterschiede dürfte wohl in der Auswahl der Protagonisten liegen: Heldenepik weist ein gänzlich anderes Personal auf als die höfische Epik und nirgends interagieren Figuren wie Artus und Dietrich, Tristan und Ortnit oder Gawan und Witege miteinander. Heldenepik ist zumeist strophisch, während höfische Epik stichisch ist, wobei es hiervon einige Ausnahmen gibt. 35 Dabei ist zu beobachten, dass es mehr heldenepische Texte gibt, die stichisch sind (wie Dietrichs Flucht), als höfische Epen, die strophisch sind (wie der Jüngere
Titurel).
In der Regel ist Heldendichtung anonym überliefert, während die Autoren der höfischen Dichtung entweder sich selbst nennen 36 oder durch andere Dichter bezeugt sind. Viele höfische Epen weisen sich selbst als fiktional aus wie der Iwein Hartmanns von Aue, der sein Erzählen im Prolog durch ein Paradox veranschaulicht: Artus' Landsleute täten recht daran zu behaupten, dass er noch lebe, obwohl er schon lange tot sei. Hartmann thematisiert Walter Haug zufolge damit „die Überlegenheit der Literatur über die bloße Faktizität". 37 Genau diese Überlegenheit (die vielleicht besser als Unabhängigkeit der Literatur von der Faktizität zu bezeichnen wäre) ist es, die sich auch im Epilog des Wilhelm von Österreich artikuliert. Dort heißt es nämlich, das Werk diene der bezzerunge von Alt und Jung, und zwar unabhängig davon, ob seine Aussagen wahr oder falsch seien: ez si lüge oder warhait (v. 19502-19506). 38 Und auch Wolfram von Eschenbach spielt mit dem
„Nun gibt es gewiß auch unstrophische Heldendichtung, Heldendichtung in Reimpaaren: die 'Klage', das 'Buch von Bern', 'Biterolf und Dietleip', den 'Laurin' mit der Fortsetzung des 'Walberan' und die nur bruchstückhaft erhaltene Dichtung von 'Dietrich und Wenezlan'. Auch vom 'Wunderer' kennen wir neben einer strophischen Version eine solche in Reimpaaren, und sie ist zweifellos die ältere. Umgekehrt gibt es vereinzelt strophische höfische Dichtung, zuerst in Wolframs Sigunefragment, in ihrer Nachfolge im 'Jüngeren Titurel' des Albrecht und im 'Lohengrin'. Aber die Tatsache, daß wenigstens der überwiegende Teil der Heldendichtung strophische Form aufweist, nicht die Reimpaare des höfischen Romans und der höfischen Verserzählung, bleibt doch bestehen und liefert ein augenfälliges Kriterium zur Abgrenzung der beiden Gattungen" (Hoffmann [wie Anm. 6], S. 17). 36
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Vgl. zu Fragen der Autorschaft in mittelalterlichen Texten allgemein: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, hg. von Elizabeth Andersen u.a., Tübingen 1998; Autorentypen, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1991 (Fortuna Vitrea 6); zur Autorschaft in der Lyrik (mit Hinweisen auf Autorschaftskonzepte in der Epik, z.B. S. 134—154) Thomas Bein, „Mit fremden Pegasusen pflügen". Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie, Berlin 1998 (Phil.St.u.Qu. 150). Walter Haug, „Programmatische Fiktionalität. Hartmanns von Aue 'Iwein'-Prolog", in: ders., Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 2 1992, S. 119-133, hier S. 126. Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich, aus der Gothaer Handschrift hg. von Ernst Regel, Berlin 1906 (DTM 3).
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enigmatischen Vers Gebiet ir, so ist ez wär im Parzival (v. 59,27)39 wohl darauf an, dass die Frage nach der Wahrheit immer auch von der Art des Verstehens abhängt. Dieses Verstehen befördert Gottfried von Straßburg im Tristan durch eine explizite Allegorese der Minnegrotte. Gottfried erklärt seinem Publikum, warum die Minnegrotte so beschaffen ist, wie berichtet: nu vernemet die tiute ir beder: daz eine insigel der ceder daz meinet an der minne die wisheit und die sinne, (v. 17021-17024) 40
So entspricht ihre Rundung der Einfachheit der minne, ihre Glätte und Ebenheit bezeichnet ihre Makellosigkeit, der marmorne Fußboden der Grotte verweist auf die Beständigkeit, welche die vollkommene minne kennzeichnet. Der Rezipient lernt durch die Belehrung des Erzählers, dass die Grotte keine Gestalt an sich hat, sondern die der minne visualisiert. Die Allegorese ist ein deutlicher Fiktionalitätshinweis und stellt die Grotte als kunstvolle und hintergründige inventio dar,41 ebenso wie die seit Wolfram zahlreich in der Literatur vertretenen Personifikationen von aventiure, die es den Dichtern erlauben, erzählerisch über ihr eigenes Erzählen zu reflektieren. Fiktionalitätsmarker, Problematisierungen oder Ironisierungen des Wahrheitsanspruches, Personifikationen oder Allegorien finden sich jedoch in keinem einzigen heldenepischen Text - der Anspruch, von alten mxren zu berichten, schließt dort jede Form der Personifikation oder das Auftreten einer Allegorie kategorisch aus. Denn die Heldenepik geriert sich gleichsam als Erinnerung an die Taten eines mächtigen Heroen. Wer sie überliefert, „sieht sich nicht als Bearbeiter oder gar Schöpfer, sondern als momentaner Träger einer Tradition, die es möglichst rein zu bewahren gilt. Deshalb nennt er sich auch nicht".42
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Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung von Bernd Schirok, Berlin/ New York 2 2003. Gottfried von Strassburg, Tristan und Isold, hg. von Friedrich Ranke, Dublin/Zürich 141968. Zur Fiktionalitätsdebatte, die hier nicht dargestellt werden kann, vgl. einführend Fiktionalität im Artusroman. Dritte Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft in Berlin vom 13.-15. Februar 1992, hg. von Volker Mertens und Friedrich Wolfzettel, Tübingen 1993; Gertrud Grünkorn, Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200, Berlin 1994 (Phil.St.u.Qu. 129). Michael Curschmann, ,J)ichter alter maere. Zur Prologstrophe des 'Nibelungenliedes' im Spannungsfeld von mündlicher Erzähltradition und laikaler Schriftkultur", in: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert, hg. von Gerhard Hahn und Hedda Ragotzky, Stuttgart 1992 (Kröners Studienbibliothek 663), S. 55-71, hier S. 57. Zum engen Zusammenhang zwischen Ironie und Wahrheitsbegriff (bzw. Fiktionalität) vgl. Dennis H. Green, „Zum Erkennen und Verkennen von Ironie- und Fiktionssignalen in der höfischen Literatur", in: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg,
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Heldenepisches Erzählen schließt also bereits von seinem Geltungsanspruch her jede Form der Fiktionalisierung aus:43 Keine Tropen finden Verwendung und keine Problematisierung des Verhältnisses von masre und were (Iwein, ν. 56Γ.)44 findet statt, es gibt keine Dichteroder Literaturkataloge, die die eigene kunst oder des eigenen getihtes meisterschaft
(Gau-
riel, v. 26) 45 rühmen, um sie in eine Traditionslinie poetischen Sprechens einzureihen und so das eigene Erzählen im Rahmen von Erzählkonventionen zu thematisieren. Nirgends findet sich in der Heldenepik jenes 'Augenzwinkern', 46 das beispielsweise bei Gottfried dort spürbar wird, wo er seine Zuhörer mit feiner Ironie auf die Glaubwürdigkeit des Speisewunders einschwört: Genuoge nimet hier under virwitze unde wunder und habent mit vrage groze not, wie sich Tristan unde Isot, die zwene geverten in dirre wüeste ernerten. des wil ich sie berihten,
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4.-7. Januar 1996, in Verbindung mit Wolfgang Frühwald hg. von Dietmar Peil, Michael Schilling und Peter Strohschneider, Tübingen 1998, S. 35-56. „Nirgendwo wird in der Heldenepik im übrigen fiktional erzählt" (Haferland [wie Anm. 1], 5. 76). Und diese Problematisierung des Verhältnisses von msere und were (oder von discours und histoire) setzt gerade die Schriftlichkeit voraus: „Der 'discours' emanzipiert sich von seiner Unterordnung unter die 'histoire' und präsentiert sich als selbständige Erzählebene, auf der der Erzähler frei agieren kann. Diese Verselbständigung des 'discours' gegenüber der 'histoire' ist eine Konsequenz schriftlichen Erzählens" (Günter Butzer, „Das Gedächtnis des epischen Textes. Mündliches und schriftliches Erzählen im höfischen Roman des Mittelalters", in: Euphorion 89 [1995], S. 151-188, hierS. 161). Der Ritter mit dem Bock. Konrads von Stoffeln 'Gauriel von Muntabel', neu hg., eingeleitet und kommentiert von Wolfgang Achnitz, Tübingen 1997 (TTG 46). Wohlgemerkt in Bezug auf den W a h r h e i t s g e h a l t des Erzählten. Dass Komik und Ironie im Heldenepos reiche Verwendung finden, zeigt jetzt beispielsweise Manuel Braun, „Mitlachen oder verlachen? Zum Verhältnis von Komik und Gewalt in der Heldenepik", in: Gewalt im Mittelalter. Realitäten - Imaginationen, hg. von Manuel Braun und Cornelia Herberichs, München 2005, S. 381-410. Zur Verbindung von Wahrheitsanspruch und 'märchenhaften' Erzählelementen vgl. Fritz Peter Knapp, „Gattungstheoretische Überlegungen zur sogenannten märchenhaften Dietrichepik", in: 5. Pöchlarner Heldenliedgespräch: Aventiure - Märchenhafte Dietrichepik, hg. von Klaus Zatloukal, Wien 2000 (Philologica Germanica 22), S. 115-130, bes. S. 124: „Das phantastische Bild des Drachen [...] findet sich in der ganz ernstgemeinten mittelalterlichen Tierkunde der Gelehrten. Wenn der heilige Georg ein solches Tier erschlägt, so ist dieser Zug seiner Legende nicht unglaubwürdiger als seine zahlreichen Martern, gleichgültig, ob sich in dem Drachen der Satan verbirgt oder nicht. Wenn hingegen bei Chretien de Troyes der Löwenritter einen solchen Drachen tötet [...], so ist an diesem Ungeheuer gar nichts wahr als erstens seine strukturelle Position im Aventürenzyklus II [...] und zweitens sein Symbolgehalt der Perfidie im Kontrast zum edlen getreuen Löwen, der vom Artusritter aus der Gewalt des Drachen befreit wird. Daß da wie dort der Drache, motivgeschichtlich gesehen, mythischen Ursprungs sein könnte, sagt über seine gattungstypologische Funktionalisierung nicht das Geringste aus".
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ir virwitze beslihten: si sahen beide ein ander an, da generten si sich van. (v. 16807-16816)
- oder bei Dietrich von der Glezze, der den Schönheitspreis seiner idealtypischen Dame zu einer Beschreibung zuspitzt, die ihre Haut als so zart schildert, dass der Wein sichtbar durch ihre Kehle rinnt, wenn sie trinkt: ir kel was ein luter vel, / da durch sach man des wines swanc, / swenne di schone vrowe tranc (v. 48-50). 47 Dietrich ironisiert die charakteristischen Topoi jener literarischen Reihe, auf die er seine Erzählung gleichwohl bezieht. Diese bewussten Brüche und absichtsvoll eingeflochtenen Irritationsmomente, die den eigenen literarischen Geltungsanspruch artikulieren, sind der Heldenepik fremd. Mit ihrem Geltungsanspruch hängt zusammen, dass die Heldenepik im Gegensatz zur höfischen Epik in der Regel auf einen Prolog verzichtet - oder verzichten k a n n . Denn da bereits durch die Gattungsmerkmale Anspruch und Autorität des Erzählens annonciert und abgesichert sind, erübrigt sich das, was der Prolog leistet: Kommentar, Erklärung, Rechtfertigung dessen, was im Folgenden den Gegenstand und den Modus des Erzählens bilden wird, also „Selbstreferentialisierung": In der mittelalterlichen Heldenepik sind Formen der literarischen Selbstreferentialisierung noch kaum ausgeprägt, was mit der fehlenden Profilierung von Autorrollen und auktorialer Verantwortung ebenso zusammenhängt wie allgemeiner mit der auch in der Schriftlichkeit beibehaltenen Stilisierung nach kollektiv-mündlichen Erzählmustern. 48
Selbst dort, wo Heldenepen mit einem Prolog einsetzen, wird er nicht zum Ort einer Problematisierung oder Kommentierung des Erzählten. Auch im Wolfdietrich D thematisiert der Prolog nicht das Erzählen, sondern allein die Form, die es in der Überlieferung annimmt: „Produktion und Rezeption eines Textes treten dabei auseinander. Inhalt und Medium werden im Konzept des Prologs entkoppelt, so daß der Fokus des Prologs sich vom Inhalt ab- und dem Medium zuwenden kann".49
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Der Borte des Dietrich von der Glezze. Untersuchungen und Text, hg. von Otto Richard Meyer, Heidelberg 1915 (Germanistische Arbeiten 3). Beate Kellner, „Eigengeschichte und literarischer Kanon. Zu einigen Formen der Selbstbeschreibung in der volkssprachlich-deutschen Literatur des Mittelalters", in: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, hg. von Beate Kellner, Ludger Lieb und Peter Strohschneider, Frankfurt a.M. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 153-182, hier S. 158. Vgl. zum Prolog in der höfischen Epik z.B. Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter (wie Anm. 37); Hedda Ragotzky, „sselde und ere und der sele heil. Das Verhältnis von Autor und Publikum anhand der Prologe zu Hartmanns 'Iwein' und zum 'Armen Heinrich'", in: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur (wie Anm. 42), S. 33-54. Stephan Müller, „Alte Medien. Einmaligkeit und Mehrmaligkeit von Stimme und Schrift im log des Wolfdietrich D in Handschrift und Druck", in: Scientia Poetica 10 (2006), S. 1-18, S. 11. Schrift erschließt hier also keinen Freiraum der Fiktionalisierung oder Pluralisierung Deutungsmöglichkeiten, sondern sichert den Text durch die Suggestion einer „autorisierten,
Prohier von ein-
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Katharina Philipowski Eines solchen inhaltlichen Kommentars des Erzählten bedürfen demgegenüber die höfi-
schen Epen sehr wohl: Sie werden durch einen mehr oder weniger langen, komplexen und literarästhetisch anspruchsvollen Prolog eingeleitet, 50 der die Programmatik des jeweiligen Textes illustriert und eine spezifische Rezeption nahe legt wie der bereits thematisierte Iwein-Prolog.
Prolog und Programmatik sind in der höfischen Epik also aufs Engste mit-
einander verbunden: Das höfische Epos muss Fragen zu seiner Funktion, seiner Legitimation und seinem Wahrheitsanspruch geradezu apologetisch thematisieren. Der Prolog entschuldigt das Unvermögen des Erzählers,51 verweist auf diejenigen, in deren Dienst und um deren Gunst gedichtet worden ist, verschafft dem Erzählen also einen formalen, ideellen und sozialen Bezugsrahmen. In der Heldenepik stellt sich in der Regel weder die Frage nach dem zugrunde liegenden Wahrheitsbegriff, noch die nach Motivation oder Funktion des Erzählens. 52 Die Profilierung des Erzählers und ein ostendiertes Reflektieren seiner Strategien würde ihn als Tradenten in Frage stellen. Der Erzähler der Heldenepik hat nicht die Funktion, das durch ihn tradierte Wissen zu kommentieren oder aufzubereiten, sondern allein, es zu bewahren. 53 Heldenepisches Erzählen ist Erzählen aus einer geradezu gattungstypischen Distanz heraus: Die Geschichte ist nicht die Geschichte des Erzählers, sein Ehrgeiz ist nicht, sie 'richtig' zu erzählen wie der Erzähler von Gottfrieds Tristan, der behauptet, er habe sich darum
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maligen Vorlage" (S. 10) und dadurch, dass die konstruierte Historizität des Wolfdietrich D ihren Anfang „hinter einem komplex konstruierten Vergessen [verbirgt], das erst durch jene Eigenschaften der Schrift ermöglicht wird, die im Prolog reflektiert werden" (S. 11). Vgl. auch die weiterführende Literatur zum Prolog des Wolfdietrich D, die Müller auflistet. Vgl. dazu nach wie vor Haug (wie Anm. 37). Zur Rolle des Erzählers in der höfischen Epik vgl. auch Uwe Pörksen, Der Erzähler im mittelhochdeutschen Epos. Formen seines Hervortretens bei Lamprecht, Konrad, Hartmann, in Wolframs Willehalm und in den 'Spielmannsepen', Berlin 1971 (Phil.St.u.Qu. 58). „Jenseits der Fiktionalitätsfrage herrschte bald Einigkeit darüber, daß der höfische Roman eine der Heldenepik und den Brautwerbungsepen unbekannte, dramatisierte und personalisierte Erzählerrolle eingeführt habe" (Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im 'Eneas', im 'Iwein' und im 'Tristan', Tübingen/Basel 2003 [Bibliotheca Germanica 44], S. 95). Hübner verweist an dieser Stelle auf Pörksen (wie Anm. 51). Diese Unterschiede sind nicht nur auf die Poetik, sondern auch „auf die Verschiedenheit von Reimpaar [...] und Strophe [...] zurückzuführen. Zweifellos verlangt die Strophe eine andere sprachliche Ausfüllung als der Reimpaarvers, und sicher hat der Charakter der Strophe als etwas Einheitliches, Abgeschlossenes Einfluß auf die Kürze und Bündigkeit der Erzählerbemerkungen, während die fortlaufenden Reimpaare eine gewisse Weitschweifigkeit von vornherein zu begünstigen scheinen. Zwar entschließt sich auch der Erzähler im Nibelungenlied mitunter zu längeren Bemerkungen [...], aber das geschieht doch so selten, daß ich die Erscheinung blockhafter Konzentration von didaktisch-abstrahierenden Erzähleräußerungen als Merkmal höfischen Stils betrachte" (Ingeborg Fluss, Das Hervortreten der Erzählerpersönlichkeit und ihre Beziehung zum Publikum in mittelhochdeutscher Heldendichtung, Hamburg 1971 [Hamburger philologische Studien 9], S. 12).
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bemüht, daz ich in siner rihte / rihte dise tihte (v. 161 f.), und gerade dadurch seine eigene Rolle sowie sein Verhältnis zum Erzählstoff kommentiert: Typisch für die Heldenepik ist [...] ein negativer Befund gegenüber dem höfischen Roman: Was über die 'Standard-Erzählerrolle' hinausgeht, fehlt, die Fiktionalisierung der Erzählerrolle in Bruchstücken fiktiver Erzählerbiographien ebenso wie nennenswerte Metafiktion und Stilisierungen der Autorrolle. 54 [...] Eine Reflexion über Erzählen, Rede und Schrift auf der Meta-Ebene findet nicht statt.55
Anders als im höfischen Epos bildet der Erzähler mit dem Geschehen, von dem er berichtet, deshalb ebenso wenig eine Einheit, wie die Figuren es tun. Seine Distanz gegenüber dem Berichteten spiegelt sich in der Beziehung der Figuren zum Geschehen: Sie bilden mit ihm nicht nur keine Einheit, sondern stehen ihm in stellenweise tragischer Fremdheit gegenüber. Sie können auf das, was sich ereignet, nicht im Geringsten einwirken: Kriemhild nimmt ihr Leid bereits zu Beginn des Nibelungenliedes in ihrem Falkentraum vorweg und ist ihm dennoch ausgeliefert. Weder sich selbst noch Siegfried kann sie vor Leid bewahren. Dietrich kann in der Rabenschlacht die Söhne Etzels nicht schützen, obwohl er es Helche geschworen hatte, Brunhilds Kampfspiele führen nicht im Geringsten dazu, dass sie tatsächlich den ihr adäquaten Gatten erhält, und obwohl Alphart von keinem Mann bezwungen werden kann, hat er keine Chance mehr, als Witege und Heime ihn gleichzeitig angreifen. Die Machtlosigkeit des Einzelnen gegenüber dem übermächtigen Fatum ist das große Thema der Heldendichtung. Zwar ist auch Figuren wie Parzival oder Wigalois ihr Schicksal gewissermaßen vorbestimmt. Doch es ist dies eine Vorbestimmung zur sselde und sie setzt das Engagement der Figuren in den einzelnen aventiuren voraus. In Bezug auf die Heldendichtung scheint es, als würden nicht, wie im höfischen Epos, die Figuren handeln, sondern als verwirkliche die Handlung sich an ihnen und durch sie, und zwar selbst noch über ihren Tod hinaus: Weil weder der Erzähler noch die Figuren eine Einheit mit der Handlung bilden, kann die Heldenepik im Gegensatz zur höfischen Epik auch auf
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Elisabeth Lienert, „Rede und Schrift: Zur Inszenierung von Erzählen in mittelhochdeutscher Heldenepik", in: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200-1300, hg. von Christa Bertelsmeier-Kierst und Christopher Young, Tübingen 2003, S. 123-138, hier S. 127. Ebd., S. 129. Damit soll durchaus nicht behauptet werden, dass Figurenrede - etwa als Reizrede, Dialog, Klage etc. - für die Heldendichtung keine zentrale Funktion hätte. Sie bildet dort aber kaum Formen der Metakommunikation, der Ironisierung oder der narrativen Brechung aus, sie spielt oder experimentiert nicht mit Erzählrollen wie dies in der höfischen Epik geschieht. Vgl. zu Letzterem: Johannes Singer, ,,'nü swic, lieber Hartman: ob ich ez errate?' Beobachtungen zum fingierten Dialog und zum Gebrauch der Fiktion in Hartmanns 'Erec'-Roman (7493-7766)", in: Dialog. Festschrift für Siegfried Grosse, hg. von Gert Rickeit und Sigurd Wichter, Tübingen 1990, S. 59-74. Dabei ist der Begriff des 'fingierten Dialoges' nicht ganz unproblematisch - denn inwiefern ist der Dialog zwischen dem Erzähler und dem imaginierten Zwischenrufer im Erec, v. 7493ff., 'fingierter' als der Dialog zwischen Erec und Mabonagrin? Präziser wäre es, in diesem Zusammenhang von einem extradiegetischen in Abgrenzung zu einem intradiegetischen Dialog zu sprechen.
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ihren Protagonisten verzichten und von seinem Tod erzählen,56 wie im Nibelungenlied, in Alpharts Tod, im Ortnit oder im Eckenlied. Anders als in der höfischen Epik ist die Geschichte hier so übermächtig, dass selbst ihre Hauptfiguren entbehrlich sind und die Handlung sich über ihren Tod hin erstrecken kann: Das Nibelungenlied, das Eckenlied, der Ortnit und Alpharts Tod brechen auch nach Siegfrieds, Eckes, Ortnits und Alpharts Tod nicht ab. Der Tod der Protagonisten unterstreicht so nur die (End-)Gültigkeit der zu überliefernden Geschichte - um sie geht es, nicht um den Einzelnen. Dieser Zusammenhang manifestiert sich auch in der Gestaltung der (mittelhochdeutschen) heldenepischen Figurenrede: In dieser Welt [des Heldenepos] steht auch der Mensch, aber wie ein Ding neben anderen, es ist kein Grund, ihn vor den anderen Weltwesen in der Darstellung auszuzeichnen, ihn aus der Erzählung durch direkte Nachahmung seiner Rede herauszuheben; wie für die klangliche Äußerung anderer Wesen genügt das Umschreiben, in diesem Fall die indirekte oder erzählte Rede. 57
Anders verhält es sich im höfischen Epos, wo die Wahrheit des Erzählten und das Erzählte selbst so eng miteinander verschmelzen, dass die Handlung den Tod ihrer Protagonisten nicht überdauern kann. Es gibt gleichsam keine vom Akteur unabhängige Handlung, vielmehr scheint der Protagonist sich aus seiner Figurenkonzeption heraus die eigene Handlung erst zu erschaffen: Dem suchend durch den Wald streifenden Iwein begegnet der Waldmensch, der ihn auf den richtigen Weg weist. Der höfischen Dame, die zu Unrecht verurteilt werden soll, begegnet im Wald der Einzige, der ihr zu helfen vermag. Enites Weinen ruft einen Grafen herbei, der gerade rechtzeitig kommt, um ihren Freitod zu verhindern. Und vor Erec tut sich, just als er fast am Ende seiner Rehabilitationsfahrt angekommen ist, die Burg Mabonagrins auf, deren Befreiung den Schlussstein seiner Reintegration in die höfische Gemeinschaft bilden wird. Der aventiure-Ritter ist „der Systematiker, er allein kann die Aggregate [der verschiedenen und gegeneinander isolierten Handlungs- und Raumeinheiten] ins umfassendere Ganze einfügen". 58
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Womöglich liegt hierin ein wichtiges poetisches Potential: „Ein weiterer Aspekt dieser Verbindung von divergierenden Strukturelementen besteht in der Möglichkeit, etwas zu zeigen, das die 'klassische' Artusepik nicht zeigen kann: den Tod einer Hauptfigur. [...] Stellt der Artusroman mit wenigen Ausnahmen die Aventiure von Seiten des Siegers in den Mittelpunkt, so eröffnet die Dietrichepik die Möglichkeit, die andere Seite darzustellen" (Matthias Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994 [GRM, Beiheft 12], S. 235f.).
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Werner Schwartzkopff, Rede und Redeszene in der deutschen Erzählung bis Wolfram von Eschenbach, Berlin 1909 (Palaestra 74), S. 40. Hartmut Kugler, „Über Handlungsspielräume im Artusroman und im Μ sere", in: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Helmut Brall, Barbara Haupt und Urban Küsters, Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 25), S. 251-267, hier S. 254. Kugler spricht im Zitat über den Protagonisten des Iwein.
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Das Geschehen ist hier nicht unabhängig von der Figur, sondern im eigentlichen Sinne ihre Funktion 59 - deshalb kann im höfischen Epos der Protagonist nicht sterben, denn mit ihm stürben die ganze Erzählwelt und der Erzählfluss. Deshalb entlässt die Handlung ihn auf dem Höhepunkt seines Ruhmes aus der Erzählung.
II.
Heldenepische und höfische Figurenrede
Die Unterschiede zwischen höfischer und heldenepischer Figurenrede sind eingebunden in die jeweiligen poetologischen und narrativen Profile der höfischen Epik und der Heldenepik und bilden eines ihrer vielen Strukturmerkmale. Die narrative Funktion von Figurenrede lässt sich differenzierter beschreiben, wenn sie anhand der konkreten Formen, in denen sie literarisch gestaltet wird, untersucht wird.
II. 1.
Direkte Rede: M o n o l o g und D i a l o g
In der direkten Rede spricht eine Figur (scheinbar) vermittlungslos mit ihrer eigenen Stimme. Direkte Rede kann ein Mittel der Fokalisierung, der Bewusstseinsdarstellung und der Darstellung von Welterleben sein, vor allem dann, wenn sie den Erzähler in den Hintergrund treten lässt: Fokalisierung ist nichts anderes als eine Reihe von Techniken, die Differenz zwischen Erzähler und Figur zu überspielen, zu verdecken, zum Verschwinden zu bringen. Die Erzählkunst ermöglicht damit eine ästhetische Erfahrung, die der moderneren begrifflichen Reflexion als Subjektivierung erscheinen muß. Die erlebte Rede ist nur der Extremfall unter diesen Techniken, weil sie die Differenz zwischen den Sprecherinstanzen Erzähler und Figur aufhebt; in diesem Sinn subjektiviert sie die Erzählerrede zugunsten der Figur.60 Der Zusammenhang zwischen Redeszenen und narrativem Effekt ist jedoch kein unmittelbarer - viel direkte Figurenrede muss nicht zwingend einen Eindruck von Unmittelbarkeit
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Die Nebenfiguren des höfischen Epos sind in diesem Sinne nicht allein „ortsfest", wie Hartmut Kugler feststellt („Die Bewohner solcher Orte, in der mythischen Version Quellnymphen, Berggeister, Riesen, Drachen o. dgl., sind in aller Regel ortsfest. Sie sind halb identisch mit ihrem Ort, Personifikationen bestimmter dem Ort nachgesagter Funktionen oder Eigenschaften", ebd., S. 253f.), sondern sind auch an die Figur des Protagonisten gebunden. So ist der Einsiedler, der Iwein während seiner Zeit im Wald mit Brot versorgt, zwar räumlich an seine Waldklause gebunden, narrativ aber allein durch Iweins Bedürfnis, im Wald mit Wasser und Brot versorgt zu werden, ins 'Leben' gerufen. Hübner (wie Anm. 52), S. 55.
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und Lebendigkeit hervorrufen, und umgekehrt gibt es verschiedene Möglichkeiten, genau diesen Eindruck auch im Modus der Erzählrede zu erzeugen. Gert Hübner zufolge kann allein der Figuren-Monolog Innenwelten darstellen: Innenweltdarstellung ist - per definitionem - nur, was im 'richtigen Leben' allein der Introspektion zugänglich wäre. Emotionen oder Motivationen, die aus Handlungszusammenhängen nur erschlossen oder in kommunikativen Figurenreden präsentiert werden, sind keine Bewußtseinsdarstellungen; nur 'autokommunikativ' eingesetzte Figurenrede gehört dazu. Wenn, beispielsweise, Lavinia im 'Eneasroman' in einem Soliloquium über die Folgen ihrer Liebe nachdenkt, ist das Bewußtseinsdarstellung; wenn sie dasselbe im Gespräch ihrer Mutter enthüllt, nicht.61 Doch man wird nicht vergessen wollen, dass der auktoriale Erzähler beispielsweise weiß, dass Enite trotz ihrer Sorge um die Gesundheit ihres wagemutigen Gatten einen risikofreudigen degen einem zagen vorzieht, 62 ohne dass sie auch nur ein Wort darüber sagen muss. Diese Art der Darstellung von Figurenerleben durch den Erzähler lässt sich als 'Psychonarration' klassifizieren; sie ist „die einzige Methode, nicht verbalisierte Bewußtseinsinhalte darzustellen". 63 Obwohl sie eine vergleichbare narrative Funktion wie sie hat, gehört die Psychonarration als Erzählrede nicht zur Figurenrede. 64 Direkte Figurenrede kann - kunstgerecht eingesetzt - zur poetischen Konzeption eines Werkes ganz entscheidend beitragen: Die Gestaltung eines Epos wird nicht nur durch die Rededichte des Gesamtwerkes oder seiner Teile bestimmt, sondern auch durch differenzierte Ausformung der Redeszenen und Reden selbst, durch Länge bzw. Kürze der Redeteile, durch die Frequenz der dialogischen Replikenwechsel, durch die Häufung bestimmter Redearten, durch Konstanz oder ständigen Wechsel der dialogischen Redepartner u.dgl.65 Dabei können die Funktionen von Monologen und Dialogen sich durchaus einander annähern. Zwar ist der Dialog dem Monolog gegenüber prinzipiell dadurch gekennzeichnet, dass ein anderer anwesend ist und antwortet, doch gerade lange Figurenrede im Rahmen eines Dialoges kann leicht monologischen Charakter annehmen. So sind auch die Funktio-
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Ebd., Hervorhebung im Original. Erec von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbiitteler und Zwettler ErecFragmente, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Auflage besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39), v. 2826-2851. Hübner (wie Anm. 52), S. 47, Hervorhebung im Original. Es drängt sich hier die Frage auf, wie sich die Differenzierung von Figurenrede und Erzählrede narratologisch begründen lässt. Vgl. zu diesem Problem: „Im sogenannten 'persönlichen' oder 'in der ersten Person' gehaltenen Erzählungstyp (narrativer gesagt: in Erzählungen mit homodiegetischem Erzähler) ist der Sprecher der Erzählung selbst eine Figur der Geschichte [...], also selbst fiktiv, und infolgedessen sind seine Sprechakte als Erzähler ebenso fiktional ernsthaft wie die der anderen Figuren seiner Erzählung und wie seine eigenen als Figur der Geschichte" (Gerard Genette, Fiktion und Diktion, München 1992, S. 44; Hervorhebung im Original). Peter Wiehl, „weiseu red - der gpauren gschrai. Untersuchung zur direkten Rede in Heinrich Wittenwilers 'Ring'", in: Dialog (wie Anm. 55), S. 91-116, hier S. 95.
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nen von Dialogen vielfältig - eine davon ist es, die Handlung durch Sprecherwechsel lebhaft und dynamisch zu gestalten, doch Dialoge können durchaus auch anders instrumentalisiert sein, denn oft sollen [sie] die Handlung nicht unbedingt weitertreiben, sollen nicht primär Spannung evozieren, sondern sie erfüllen die Aufgabe, in der Retardation gleichzeitig eine plastische Illustration zu bieten. Dies zeigt schon die häufige Vorwegnähme des Gesprächsinhaltes durch den einleitenden Bericht des Erzählers, womit der folgende Dialog aller Spannung verlustig geht und lediglich Bekanntes oder zumindest Angedeutetes wiederholt.66 Die umfassende Figurenrede im Dialog kann entsprechend zum 'Halbdialog' werden, 67 also den Gesprächscharakter abstreifen und monologischen Charakter annehmen, wenn die Rede durch ihren Umfang den Gesprächspartner verdrängt oder ihr nicht geantwortet wird. Die Figuren-Monologe 68 (oder Soliloquia 69 ) in der höfischen Epik können sich zu ganzen Exkursen auswachsen; hier sprechen die Figuren ausführlich und abstrakt.70 Sie lösen durch umfangreiche Berichte sogar stellenweise den Erzähler ab - so in dem Bericht, der im Iwein von der Entführung Ginovers gegeben wird und der seinerseits wiederum wörtliche Rede enthält, in den langen Monologen, in denen Trevrizent Parzival über die himmlische Ordnung unterrichtet, oder in den Unterweisungen, in denen Lavinias Mutter sie über das Wesen der minne in Kenntnis setzt.
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Wiehl (wie Anm. 10), S. 51. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass „Sprache [...] immer eo ipso Monolog [ist]" (Kurt Opitz, „Haben Monologe und Dialoge eine gemeinsame Grenze?", in: Dialoganalyse IV. Referate der 4. Arbeitstagung Basel 1992, hg. von Heinrich Löffler, Teil 1, Tübingen 1993 [Beiträge zur Dialogforschung 4], S. 109-116, hier S. 111) und allein der „Perspektivwechsel" (S. 114) die dialogische Struktur konstituiert. Der Halbdialog ist „die direkte Rede einer Person oder eines Kollektivs, die sich bewußt an anwesende Personen richtet, aber ohne Erwiderung in direkter Rede bleibt"; Wiehl (wie Anm. 10), S. 54. Zum Monolog in der mittelhochdeutschen Epik liegen verschiedene Forschungsbeiträge vor. Vgl. z.B. Helmut Peetz, Der Monolog bei Hartmann von Aue. Mit einem Anhang: Der Monolog bei Ulrich von Zatzikhoven und Wirnt von Gravenberg, Greifswald 1911; Cecilie Eckler, Der Monolog im älteren mittelhochdeutschen Epos, Gießen 1924; Emil Walker, Der Monolog im höfischen Epos. Stil- und literaturgeschichtliche Untersuchungen, Tübingen 1928 (Tübinger Germanistische Arbeiten 5). Zum 'Selbstgespräch' und 'Seelendrama' vgl. Klaus Hufeland, „Die mit sich selbst streitende Heidin", in: Dialog (wie Anm. 55), S. 3-24, hier S. 19. Vgl. Hübner (wie Anm. 52), S. 48f. „Die Etablierung und Entwicklung der Innenweltdarstellung ist eine der einschneidendsten Leistungen der höfischen Erzählkunst. [...] Petit (1985) zeigt in einer monumentalen Studie, daß die Autoren der Antikenromane die meisten der literarischen Techniken einführten, die als 'romanhaft' im Gegensatz zum 'Heldenepischen' gelten" (ebd., S. 86). Hübner bezieht sich hier auf Aime Petit, Naissance du roman. Les techniques litteraires dans les romans antiques du ΧΙΓ siecle, Bd. 2, Paris/Genf 1985.
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Katharina Philipowski Der Monolog einer Figur kann den Erzähler sogar nahezu vollständig verdrängen wie
im Guoten Gerhart Rudolfs von Ems oder Konrad Flecks Flore und Blanscheflur.7I
Bis
auf die im Vergleich zur Haupthandlung schmale Rahmenhandlung ist es dort nicht der Erzähler, der spricht, sondern Gerhart. Er entledigt sich im Fortgang seines Erzählens immer mehr der Rolle als Akteur und bemächtigt sich der Erzählerrolle. Zwar ist das Erzählen Gerharts nicht auktorial, insofern er selbst eine Figur der Handlung ist, aber es artikuliert sich im Modus der Auktorialität. Auktorialität und Figurenrede überlagern sich in der Figur 'Gerhart' - der auktoriale Erzähler berichtet von einer Figur, die ihn selbst sukzessive in den Hintergrund treten lässt. Die Rolle von Erzähler und Protagonisten (Gerhart) beginnen ineinander überzugehen, Gerhart vereint gegen Ende der Handlung in sich die Rolle einer Figur mit der Rolle des Erzählers. Erst wenn der Rahmen sich wieder schließt und so die Grenze zwischen Erzählwelt und erzählter Welt markiert, wird wieder deutlich, dass nicht der Erzähler gesprochen hat, sondern eine seiner Figuren; von der Grenze zwischen Extradiegese und Intradiegese aus wird das Erzählen zum Gegenstand der Erzählung. Durch diese Strategie verschränken sich auch die Fiktionalitätshinweise, die den jeweiligen Erzählperspektiven zugeordnet sind, denn sowohl Figurenrede als auch Auktorialität verbürgen, wenn auch je unterschiedlich, Fiktionalität: „Vom realen Kontext einer fiktionalen Erzählung aus betrachtet gilt dementsprechend, daß sowohl der Erzähler als auch sein Erzählen eine Fiktion, d.h. nicht mehr als die text- und fiktionsinterne pragmatische Dimension des Diskurses darstellen". 72
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Zum Guoten Gerhart s. den Beitrag von Christiane Krusenbaum und Christian Seebald im vorliegenden Band. Zu Flore und Blanscheflur vgl. Ludger Lieb und Stephan Müller, „Situationen höfischen Erzählens. Systematische Skizzen am Beispiel von 'Kaiserchronik' und 'Flore und Blanscheflur'", in: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 33-57. - Zur Frage einer möglichen narratologischen Differenzierung in Erzähler und Figur vgl. Gerard Genette, Die Erzählung, München 2 1998, S. 175: „Der Romancier wählt nicht zwischen zwei grammatischen Formen, sondern zwischen zwei narrativen Einstellungen (deren grammatische Formen nur eine mechanische Konsequenz sind): Er kann die Geschichte von einer ihrer 'Personen' [personages] erzählen lassen oder von einem Erzähler, der selbst in dieser Geschichte nicht vorkommt. [...] Das eigentliche Problem aber ist: Kann der Erzähler die erste Person verwenden, um eine seiner Figuren zu bezeichnen oder kann er es nicht?" (Hervorhebung im Original). Martinez und Scheffel (wie Anm. 12), S. 68 (Hervorhebung im Original). In Bezug auf den fiktionalen Status des Textes gibt es keine Differenz zwischen auktorialem Erzählen und Figurenrede. Damit ist die narratologische Differenz zwischen beidem durchaus nicht bestritten; gerade sie zu exponieren dürfte wohl die hauptsächliche Funktion von Rahmenerzählungen sein, die Figurenrede in Erzählerrede einlassen - ermöglichen sie es der Erzählung doch, Bedingungen, Funktionen und Situativität des Erzählens zu thematisieren. Vgl. hierzu: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, hg. von Ludger Lieb und Stephan Müller, Berlin/New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 20); Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Harald Haferland und Michael Mecklenburg, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19); Walter Haug, „Lesen oder Lieben? Erzählen in der Erzählung vom 'Erec' bis
Strophisches
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Sprechen
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Aus einer narratologischen Perspektive gibt es folglich keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Figurenrede und auktorialer Erzählhaltung, weil auch der Erzähler nichts Anderes als eine Figur, eine fingierte Stimme, ist. Der einzige Unterschied, der zwischen dem Erzähler im Guoten Gerhart und Gerhart selbst besteht, ist, dass dieser in der Rahmenhandlung in der dritten Person adressiert und im Gegensatz zum Erzähler 'sichtbar' wird, indem er in der Geschichte handelnd auftritt, beschrieben werden kann und mit anderen Figuren interagiert. Diese Überlegungen zur Ablösung auktorialer Rollen durch Figurenrede beziehen sich jedoch allein auf die für moderne Literatur selbstverständliche Situation der Lektüre. Doch wie soll man sich die akustische Rezeption eines Textes wie den Gerhart vorstellen? Die Grenze zwischen Diegese und Metadiegese, die im schriftliterarischen Text Innen- und Außenposition einer Geschichte ausdifferenziert, wird im mündlichen Vortrag überlagert durch die Präsenz des Vortragenden und die Kontinuität seiner Stimme; Metakommunikation ist im Modus der Mündlichkeit kaum möglich. Dem schriftlichen Text ist nicht zu entnehmen, wie der Wechsel von Erzählebenen oder der Perspektive (beispielsweise vom Erzähler auf Gerhart oder von ihm auf eine andere Figur) im Vortrag markiert worden ist, ob beispielsweise Stimmlagen gewechselt werden, wenn die wörtliche Rede einer markanten Figur wie eines Riesen, eines Waldmenschen oder eines Zwerges wiedergegeben wird. Hier kann nur spekuliert werden. Unbestreitbar ist aber, dass solcherlei Modulationen mit einer Singstimme kaum vollzogen werden können.73 Falls also Dramatisierungen, sprachliche Akzentuierungen oder Veränderungen im Vortrag stichischer Dichtung annoncieren, wer spricht, und so helfen können, mehrstufige Figurenrede zu stabilisieren, so fällt diese Strategie im gesungenen Vortrag strophischer Dichtung aus.74
73
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zum 'Titurel'", in: PBB 116 (1994), S. 302-323; Mieke Bai, „Notes on Narrative Embedding", in: Poetics today 2 (1981), S. 41-59. Von derartigen stimmlichen Differenzierungen geht z.B. Wiehl aus. Er setzt wirkungsvoll dargebotene Deklamationen vor allem bei Dichtungen voraus, „in denen die direkte Rede das tragende Element darstellt, denn hier mußte der Vortragende um der Klarheit und des leichten Verständnisses willen die Reden der Personen vom epischen Bericht, aber auch die Worte der verschiedenen Gesprächspartner, vor allem in stichomythischen Dialogen, stimmlich differenzieren. Nur durch diesen Kunstgriff konnte er dem Hörer ein müheloses Verfolgen der Handlung ermöglichen, nur so wurde die Erzählung lebendig und attraktiv" (Wiehl [wie Anm. 10], S. 24). Indirekt und gleichsam im Umkehrschluss schließt sich dem auch Wiehl an, wenn er betont, dass gesanglicher Vortrag für die komplizierten Redeszenen der höfischen Epik undenkbar sei: „Auch die Vorstellung von einer gesungenen und musikalisch begleiteten Darbietung [...], zurückgehend auf Aöde und Phorminx der Antike oder auf Barde und Spielmann der mittelalterlichen Zeit, scheint doch dem äußerst lebhaften Charakter vieler Stellen im höfischen Epos nicht gerecht zu werden. Der Effekt der stichomythischen Gespräche, in denen Schlag auf Schlag eine Replik der anderen folgen muß, ginge bei Lektionengesang nahezu ganz verloren, und auch das Spritzige und Spontane mancher ironischen Pointe würde auf diese Weise aufgehoben" (ebd., S. 24). Schwartzkopff sieht in den Sprecherwechseln eine Art künstlerische Herausforderung für den Darbietenden: „Dieselben Gründe, die dem Gebrauche der direkten Rede in der Unterhaltung
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Katharina Philipowski
II.2.
Der Exkurs im Monolog
Wenn sich auch nicht belegen lässt, dass sich das weitgehende Fehlen langer FigurenMonologe in der strophischen Heldendichtung auf diesen Sachverhalt zurückführen lässt, so fallen doch die Unterschiede in der Gestaltung langer Monologe auf. Denn selbst dort, wo strophisches heldenepisches Erzählen längere wörtliche Figurenrede umfasst, ist die dadurch entstehende Diegese in aller Regel nicht m e t a diegetisch, d.h. sie umfasst ihrerseits keine sich zu einer Metadiegese auswachsende wörtliche Rede. 75 Selbst solche Berichte, die Anlass dazu böten, ausführlich und lange zu sein, weil sie dramatische, hochaffektive Gegenstände berühren, sind hier oft bemerkenswert bündig, nüchtern und knapp. So braucht Berhtunc im Wolfdietrich
Α nicht mehr als zwei Strophen, um die Königin über
die letzten neun Lebensjahre ihres totgeglaubten Sohnes zu unterrichten: „ [...] Ich wil iu sagen, frouwe, ein armman in zdch, den er vil harte roufle, daz er z'walde vor imflöch. swenn er in iht erzürnte, er sluoc im einen slac, swann er in mohte erlangen, daz er vor im lac. Sich verbarc ouch vor im dicke des armmannes wip. si klagten ouch mir beide, si behielten küme den lip. dem tiuvel uz der helle wurdens nie so gram: si kusten mich vor liebe, do ich in von in da nam." (Str. 235f.)76 In der höfischen Epik wird der Exkurs oft aus der Sprecherrolle des Erzählers heraus entwickelt wie im Tristan, wo in die Handlung mehrere Exkurse über minne oder huote einge-
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feindlich sind, sprechen für sie in der künstlerischen Erzählung. Die direkte Rede verlangt eine stimmgestaltende Sprechkunst - das verdrängt sie aus der Unterhaltung - ; aber diese Forderung ist zugleich eine Möglichkeit der Wirkungssteigerung, und als solche für die Kunst ein Gewinn" (Schwartzkopff [wie Anm. 57], S. 3). Zur Veranschaulichung vgl. das Sprechblasen-Modell bei Genette: „Am besten lassen sich diese Ebenenverhältnisse oder Verschachtelungen von Erzählungen vielleicht durch kleine Strichmännchen darstellen, die, wie im Comic strip, mittels Sprechblasen reden. Nehmen wir an, ein extradiegetischer Erzähler [...] Α (zum Beispiel der primäre Erzähler von Tausendundeine Nacht) produziert eine erste Sprechblase, d.h. eine primäre Erzählung mitsamt ihrer Diegese, in der sich eine (intra-)diegetische Figur Β (Scheherazade) befände, die ihrerseits zum - immer noch intradiegetischen - Erzähler einer metadiegetischen Erzählung werden könnte, in der eine metadiegetische Figur C (Sindbad) vorkäme, die eventuell ihrerseits usw." (Genette [wie Anm. 71], S. 249). - Hagens Bericht über Siegfrieds Taten im Nibelungenlied gibt zwar die wörtliche Rede von Schilbunc und Nibelunc wieder, allerdings wird durch ihre Äußerung: „hie kumt der starke Sivrit, der helt von Niderlant" (Str. 90,3) noch keine Metadiegese eröffnet. Dies wäre erst dann der Fall, wenn Schilbunc oder Nibelunc ihrerseits zu erzählen beginnen würden, also eine zusätzliche 'Sprechblase' entstünde. Vgl. dazu auch Volker Mertens, „Hagens Wissen - Siegfrieds Tod. Zu Hagens Erzählung von Jungsiegfrieds Abenteuern", in: Erzählungen in Erzählungen (wie Anm. 72), S. 59-69. Ortnil und die Wolfdietriche, nach Müllenhoffs Vorarbeiten hg. von Arthur Amelung und Oskar Jänicke, Bd. 1, Berlin 1871 (Deutsches Heldenbuch 3.1).
Strophisches und stichisches Sprechen
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lassen sind. Doch solche Exkurse können durchaus auch aus der Figurenrede heraus entstehen. Die Grenze zwischen bloßer Figurenrede und Exkurs sind fließend; den Charakter eines Exkurses nimmt Figurenrede dort an, wo sie die Gesprächssituation in den Hintergrund treten lässt und die Figur für die Dauer ihres Exkurses die Rolle eines kommentierenden Erzählers Ubernimmt. In besonders drastischer Häufung und Dichte begegnet diese Form des Figuren-Monolog-Exkurses im altfranzösischen Rosenroman, wo Exkurse über den Lauf der Planeten, Armut, die Verworfenheit der Frauen, die Sieben Freien Künste oder den Erkenntnisvorgang in Monologe von Personifikationen wie dem 'Reichtum', dem 'Neid' oder der 'Scham' eingebettet sind. Dass im Rosenroman so viel Figurenrede begegnet, ist alles andere als zufällig, denn es handelt sich bei ihm um eine allegorische Dichtung, und Allegorie und Figurenrede sind eng aufeinander bezogen; Figurenrede ist - zusammen mit der Personifikation und Vergegenständlichung - eine der wichtigsten Funktionen der Allegorie. Sie macht das Ungegenständliche anschaulich und verleiht ihm dabei nicht nur einen Körper, sondern auch eine Stimme. Da das Erscheinungsbild von Allegorien und Personifikationen in aller Regel beschrieben wird, sobald sie in die Handlung eintreten, und mit dieser Beschreibung bereits 'verbraucht' ist, bleibt als einzige narrative Funktion die Figurenrede übrig. Denn Personifikationen können nicht in gleichem Maße in die Handlung einbezogen werden wie die übrigen Figuren, und wo dies geschieht, werden sie zu handelnden Figuren und sind von ihnen kaum noch zu unterscheiden (vgl. Anm. 79). Sie bringen sich deshalb nicht durch ihr Handeln, sondern allein durch ihre Erscheinung und ihr Sprechen in das Geschehen ein. Allegorische Texte wie der Rosenroman sind deshalb oft handlungsarm, die Handlung tritt hinter die Anschaulichkeit zurück (die jedoch wiederum nur ein Abstractum wie den Reichtum oder die Jugend anschaulich macht). Auch der Rosenroman besteht im eigentlichen Sinne nicht aus Handlung: Seinen Gegenstand bildet nicht, was sich ereignet, sondern, was gesprochen wird, und zwar gesprochen nicht vom Erzähler, sondern von den Allegorien und Personifikationen. Aus dieser Perspektive heraus sind Allegorien in der mittelalterlichen Literatur im eigentlichen Sinne Allegoresen, insofern ihre narrative Funktion nicht in der Allegorie selbst, sondern in der Auflösung ihres allegorischen Charakters (ihrer meine11) besteht. Allegorie ist die Stillstellung von Handlung zugunsten von Figurenrede.78 Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass das Stilmittel der Allegorie in der Heldenepik nirgends begegnet und - mit der Ausnahme des Jüngeren Titurel - auch nicht in strophischer Form überliefert
77 78
Z.B. im Tristan Gottfrieds von Straßburg (wie Anm. 40), v. 16925. Vgl. dazu Katharina Philipowski, „Erzählte und beschriebene Körper. 'Allegorische Subversion' in der Epik des hohen und späten Mittelalters", in: DVjs 3 (2001), S. 363-386.
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Katharina
Philipowski
ist:79 Die Tradierung von Sachverhalten, die 'Geschichte' und heroische Vergangenheit (wie den Kampf zwischen Vater und Sohn, Verrat, Vertreibung und Rehabilitation) bewahrt, schließt bereits von ihrem unbedingten Geltungsanspruch her die Kunstform der Sinn-Übertragung und das Spiel mit Bedeutungsebenen aus, denn nichts soll den Adressaten daran zweifeln machen, dass sich alles so zugetragen hat wie berichtet. Seine Aufmerksamkeit soll nicht der Form gelten, sondern vorrangig dem Inhalt.
II.3.
Brief
Funktional verwandt mit der Figurenrede ist der Brief.80 Er ist „eine Form schriftlicher Kommunikation zwischen räumlich getrennten Kommunikationspartnern und damit Ersatz für das direkte Gespräch, das wegen der Trennung der Briefpartner nicht möglich ist. Der Brief simuliert ein Gespräch, indem der abwesende Adressat direkt angeredet wird".81 Denn „im Brief 'spricht' [...] der Absender selbst als 'Ich', als ob er anwesend wäre und sich im direkten Gespräch mit dem Adressaten befände". 82 Das bedeutet, dass er zwar keine Figurenrede ist, aber jedesmal dort als Figurenrede f u n g i e r t , wo er wörtlich wiedergegeben wird. Wenn im Willehalm von Orlens oder im Wilhelm von Österreich Briefe zwischen den getrennten Liebenden zirkulieren, erhebt sich dort, wo eine Figur den Brief der anderen liest, ihre Stimme und spricht scheinbar unmittelbar zur anderen: „Briefe sind grundsätzlich das Medium zur Überbrückung unüberwindlicher Entfernungen", 83 und sie 79
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82 83
Eine Ausnahme hiervon stellt der (strophische) Wunderer dar (eine weitere Version ist stichisch), in der sich die Dame, die Dietrich gegen den Wunderer verteidigt, als Personifikation der Sselde entpuppt: „Ich heißfraw Seid fiirwore [...]" (Str. 208). Von dem wunderer und von dem künig Etzel und von dem Dietrich von bern und von einer schönen junckfrauwen, in: Erzählungen des späten Mittelalters und ihr Weiterleben in Literatur und Volksdichtung bis zur Gegenwart. Sagen, Märchen, Exempel und Schwanke, mit einem Kommentar hg. von Lutz Röhrich, 2 Bde., Bern/ München 1967, hier Bd. 1, S. 7-25. Allerdings hören Personifikationen und Allegorien in dem Maße auf, Personifikationen und Allegorien zu sein, wie sie sich handelnd literarischen Figuren angleichen. So ist beispielsweise die Saslde im Wunderer eine Personifikation nur dem Namen, nicht der Erscheinung, der Funktion oder ihren Attributen nach - und es ist fraglich, ob in solchen Fällen überhaupt sinnvoll von einer Personifikation die Rede sein kann. Vgl. hierzu auch Eugen Mayser, „Briefe im mittelhochdeutschen Epos", in: ZfdPh 59 (1935), S. 136-147; Helmut Brackert, ,J)a stuont daz minne wol gezam. Minnebriefe im späthöfischen Roman", in: ZfdPh 93 (1974), S. 1-18, und das Kapitel zu Briefen bei Ulrich Ernst, „Formen der Schriftlichkeit im höfischen Roman des hohen und späten Mittelalters", in: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), S. 252-369. Christine Wand-Wittkowski, Briefe im Mittelalter. Der deutschsprachige Brief als weltliche und religiöse Literatur, Herne 2000, S. 22. Ebd., S. 44. Thomas Cramer, „Nabelreibers Brief', in: Gespräche - Boten - Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, hg. von Horst Wenzel, Berlin 1997 (Phil.St.u.Qu. 143), S. 121225, hier S. 212.
Strophisches
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überbrücken diese nicht nur, sondern heben sie auf, wenn die Worte des Absenders von einer Figur oder dem Erzähler ausgesprochen werden. Der Text suggeriert damit „die Fortsetzung eines Gesprächs von Angesicht zu Angesicht, obwohl die Kommunikation medial vermittelt ist". 84 Bereits im Eneasroman Heinrichs von Veldeke „erscheint [Schrift] nicht mehr ausschließlich als Medium aristokratischer oder monastischer Wissenssicherung, sie wird vielmehr als pragmatisches und funktionales Instrument von Fernkommunikation vorgestellt". 85 Dabei ist zu beobachten, dass Umfang, Funktion und Inhalt der Briefe sich im Laufe der literarhistorischen Entwicklung deutlich verändern; die ältere Forschung hat in diesem Zusammenhang von einer „Manier" gesprochen: Wir beobachten, daß diese Briefe nach und nach zur Mode, schließlich zur Manier werden; sie treten immer häufiger auf, werden immer länger und infolgedessen immer leerer, sie werden zu einem Tummelplatz aller Arten von spielerischen, blumigen, metaphorischen Redefiguren, indem sie teils noch den lyrischen Gefühlen des Dichters oder seiner Helden Raum geben, teils aber offensichtlich nur noch um der erwähnten Redefiguren willen da sind, wobei der Dichter sich kaum mehr um ihre Verflechtung in die Handlung seines erzählenden Gedichts bemüht. 86
Dieser groben, normativen Herabsetzung der späten aventiure-Romane
wird man sich
nicht anschließen wollen. Aufschlussreich aber ist der Hinweis auf die sukzessive Verselbstständigung der Briefe in Texten wie dem Willehalm von Orlens87 und dem Wilhelm von Österreich: Während Briefe in Texten wie dem Eneasroman Heinrichs von Veldeke oder in Wolframs Parzival funktional eingebunden sind und als Kommunikationsmedien genutzt werden, dienen sie im Wilhelm von Österreich vorrangig nicht mehr dem Informationsaustausch, sondern sind „Fenster" und „Durchblicke" 88 auf die inneren Zustände der Briefautoren: „Im ganzen Brief wiederholt sie [Aglye im Wilhelm von Österreich] unaufhörlich in immer neuen Wendungen, wie sie voll Liebe und Leid sei. Aber was sie eigentlich in solche Not gebracht hat, das schreibt sie ebenso wenig wie Amelie in dem obenerwähnten Briefe aus Rudolfs 'Willehalm von Orlens'". 8 9 Der Informationsgehalt tritt dabei in den Hintergrund; hier sind Briefe keine Datenträger, sondern Dichtung in der Dichtung - was sie allerdings nur dann sein können, wenn sie wörtlich wiedergegeben werden.
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Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 218. Vgl. insgesamt das Kapitel zur Personalisierung des Buches, S. 204-225. Henning Wuth, „was, sträle unde permint. Mediengeschichtliches zum Eneasroman Heinrichs von Veldeke", in: Gespräche - Boten - Briefe (wie Anm. 83), S. 63-76, hier S. 68. Mayser (wie Anm. 80), S. 137. Vgl. dazu Franziska Wenzel, Situationen höfischer Kommunikation. Studien zu Rudolfs von Ems •Willehalm von Orlens', Frankfurt a.M. 2000 (Mikrokosmos 57), vor allem S. 124-134. Beide Begriffe aus Hartmut Kugler, „Fenster zum Hof. Die Binnenerzählung von der Entführung der Königin in Hartmanns 'Iwein'", in: Erzählungen in Erzählungen (wie Anm. 72), S. 115-124, hierS. 123. Mayser (wie Anm. 80), S. 142.
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Katharina
Philipowski
Genau das geschieht in der Heldenepik kaum. Sie nutzt Briefe in der Regel weder als Kunst- noch als Kommunikationsform. 90 Wenn Briefe in der Handlung vorkommen, werden sie selten wörtlich verlesen, und wenn sie verlesen werden, enthalten sie keine umfangreichen oder rhetorisch aufwändigen Berichte, sondern bündige und knappe Nachrichten wie Kriegserklärungen, Einladungen oder Ankündigungen, die sich in der Regel nicht zum Text im Text verselbstständigen, sondern paraphrasiert werden. In paraphrasierter Form hört der Brief jedoch auf, als direkte Rede des abwesenden Briefautors zu funktionieren: „Bei der indirekten Briefwiedergabe entfällt die Anrede des Absender-Ichs an das Adressaten-Du. Dadurch kommt ein spezifisches Merkmal des Briefs, die Gesprächssimulation, überhaupt nicht zur Darstellung".91 Heldenepisches Erzählen unterdrückt die Ermächtigung der Stimme des Briefschreibers - selbst dort nämlich, wo ein Brief laut verlesen wird, leiht der Vorleser dem Briefschreiber nicht seine Stimme, macht nicht unmittelbar vernehmbar, was dieser mitteilt, sondern fasst den Inhalt zusammen wie im folgenden Beispiel aus dem Wolfdietrich A. Dort wird der treue Berhtunc von Meran vom König gezwungen, den jungen Prinzen, dessen legitime Abstammung der König in Zweifel zieht, im Wald zu töten. Berhtunc aber lässt den kleinen Wolfdietrich in sicherer Entfernung zum Hof von Pflegeeltern aufziehen. Als Berhtunc später durch den intriganten Saben angeklagt wird, den König zur Tötung Wolfdietrichs angestiftet zu haben, überreicht er im Gefängnis der Königin einen Brief, in dem er den wahren Hergang der Dinge enthüllt. Als Berhtunc im Laufe der Gerichtsverhandlung endlich zu Wort kommt, bringt er die wahren Begebenheiten jedoch nicht selbst ans Licht, sondern fordert stattdessen die Königin auf, seinen Brief verlesen zu lassen. Keiner der Hofgeistlichen will dessen Inhalt zu Gehör bringen, erst unter Druck ist ein Kaplan bereit mitzuteilen, was darin steht. Bezeichnenderweise wird der Brief aber nicht verlesen, sondern paraphrasiert: Dö sprach der pfaffe lüte „an disem brieve stat geschriben daz unser juncherre noch lebendic ist beliben. ez genas ab nie so küme ein kleinez kindelin [...]." (Str. 205,1-3)
Nicht nur in dieser Szene wird ausführliche Figurenrede - in diesem Fall die 'Rede' der Figur Berhtunc, der ja der Autor des Briefes ist - , vermieden. Einige Zeit später spielt der Brief erneut eine wichtige Rolle: Wolfdietrich ist mittlerweile an den Königshof geholt worden, doch nach dem Tod seines Vaters werden er und seine Mutter durch den rehabilitierten Intriganten Saben vertrieben und finden Zuflucht bei Berhtunc. Erst dort unterrich-
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Als Ausnahme wäre hier die Heidelberger Fassung der Virginal zu nennen, zu der sich Timo Reuvekamp-Felber geäußert hat: „Briefe als Kommunikations- und Strukturelemente in der 'Virginal'. Reflexionen mittelalterlicher Schriftkultur in der Dietrichepik", in: PBB 125 (2003), S. 57-81. Wand-Wittkowski (wie Anm. 81), S. 70.
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tet Wolfdietrichs Mutter ihn über seine königliche Abstammung. Doch auch hier kommt es nicht zu mehrstrophigen Ausführungen - eine einzige Strophe genügt, um Wolfdietrich über die relevanten Sachverhalte in Kenntnis zu setzen: „ [...] Din vater und din muoter was künec und künigin. du solt ouch von rehte gewalteger kiinic sin. din vater was ze Kriechen ein gewalteger künic rieh: der saz üf Cunstenobele und hiez Huge Dietrich." (Str. 303)
Alles Weitere über seine Identität und die Intrigen, die sich um seine Kindheit ranken, erfährt Wolfdietrich nicht mehr aus dem Munde seiner Mutter, sondern aus Berhtuncs Brief, den sie bei sich hat, den sie ihm zu lesen gibt, der aber wieder nicht wörtlich wiedergegeben wird. Wurde er bei Gericht paraphrasiert, so wird an dieser Stelle nur kurz auf ihn hingewiesen: Si sprach: „ ir sit geleret, sin leben und sin sterben
nu nemet den brief enhant." er dran geschriben vant. (Str. 304,1f.)
Erneut wird so eine laute Lektüre, die einer Figur zur direkten Rede verhelfen würde, vermieden. Briefe sind im heldenepischen Erzählen nicht Schrift, durch die eine Figurenstimme vernehmbar, durch die eine Figur plastisch und gegenwärtig wird. Briefe öffnen keine „Fenster", sie werden nicht genutzt, um die Formen- und Stimmenvielfalt im Text zu erhöhen. Es wird v o n Briefen erzählt, nicht d u r c h sie. Wo eine solche Gegenwart des Abwesenden erzeugt werden soll, geschieht es nicht durch Texte im Text, sondern durch erzählte Körper, nämlich die Körper von Boten. Botenmisshandlungen begegnen vor allem in der Chanson de geste (z.B. den Haimonskindern oder im Ogier von Dänemark), aber auch in der Heldenepik ist das Überbringen von Nachrichten, die Zorn erregen, ein lebensbedrohliches Unterfangen. So kann Dietrich im Rosengarten Α nur mit großer Mühe davon abgehalten werden, die Boten, die Kriemhilds Einladung überbringen, zu erschlagen:92 „Dirre brief ist basse," sprach von Berne der küene man, „des müezen die boten enkelten, den lip verlern hän." zehen hundert ritter ir harnesch leiten an, vil manec schaeniu vrouwe half bereiten ir man. Dd entwichen in die geste niht umb ein kleinez här, sie bunden üfir helme, daz sage ich iu vürwär, und griffen ze den swerten (sie wären unverzeit) und nämen ze den armen ir schilte wären breit. (Str. 59f.)
92
Die Gedichte vom Rosengarten zu Worms, hg. von Georg Holz, Halle 1893, Nachdruck Hildesheim/New York 1982. Weitere Beispiele für die Misshandlung von Boten bei Horst Wenzel, „Boten und Briefe. Zum Verhältnis körperlicher und nichtkörperlicher Nachrichtenträger", in: Gespräche - Boten - Briefe (wie Anm. 83), S. 86-105, besonders S. 97f.
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Schreiben und Sprechen ist hier noch kaum aus der Handlung, noch nicht aus den Körpern der Figuren herausgetreten, während die höfische Epik frei über die Stimmen der Figuren verfügt und sie instrumentalisiert, um die Handlung abstrakt, unabhängig von Dingen und Körpern, zu entwickeln. Heldenepische Figurenrede ist Handlung, die sich gegenüber anderen Formen des Handelns noch nicht verselbstständigt hat. Wenn sich beispielsweise die Königinnen im Nibelungenlied
streiten, werden ihre feindseligen Worte begleitet von ihren
Handlungen, an denen ihre Entzweiung erkennbar wird. Die Kontrahentinnen lassen ihr Gefolge getrennt zum Münster schreiten und machen einander den Vortritt ins Münster streitig. Im Rahmen des Streits stehen die wörtlichen Kränkungen neben den durch Handlungen vollzogenen. Höfische Epen wie der Iwein oder der Parzival verselbstständigen ihre Figurenrede oft vollständig gegenüber der Handlung. Was geschieht, wird häufig nicht vom Handeln der Figuren getragen und veranschaulicht, sondern allein im Sprechen entwickelt, so dass das Geschehen ohne die langen Redeszenen der Figuren vollkommen unverständlich wäre. Auch die Figuren selbst kommen in der höfischen Epik ohne Sprache nicht aus: Dort, wo wie auf der Gralsburg - schweigend gehandelt wird und eine Erklärung für das Geschehen fehlt, unterbleibt, was die erhoffte Erlösung hätte ins Werk setzen können, nämlich die zu stellende Frage. Entsprechend ist die Erlösung, die erst am Ende stattfindet, eine Sprachhandlung. 93 Das Sprechen der Figuren ist in der höfischen Epik unverzichtbar, aber dennoch prekär; ob es erlöst, verflucht, enthüllt, trennt oder bindet, ob es unterlassen 94 oder vollzogen wird - in jedem einzelnen Text der höfischen Epik geht es (auch) um die Macht der Sprache: So wie Parzival dort, wo schweigend gehandelt wird, nicht zu sprechen vermag, kann sich Elsa von Brabant die verbotene Frage nicht versagen. Tristan und Isolde retten sich in der Baumgarten-Episode, indem sie das Richtige sagen, und Enite stellt sprechend, nämlich indem sie das Schweigegebot übertritt, ihre triuwe unter Beweis. Demgegenüber sind in heldenepischen Texten die einzelnen Äußerungen der Figuren in der Regel knapp, meist formelhaft und geben wenig Einblick in ihren Zustand: Als in Biterolf und Dietleib Vater und Sohn am Hunnenhof einander nach jahrelanger Trennung wiederfinden, wird dieses Ereignis nicht in ausführlichen, die Anwesenden zu Tränen bewegenden Berichten und Dialogen gestaltet wie beispielsweise beim Wiedersehen zwischen Tristan und Rual. Dietleib sagt zu seinem Vater:
93
Zu Parzivals Schweigen (und Sprechen): Alois Wolf, „Literarhistorische Aspekte von Parzivals Schweigen", in: ders., Erzählkunst des Mittelalters. Komparatistische Arbeiten zur französischen und deutschen Literatur, hg. von Martina Backes, Francis G. Gentry und Eckart Conrad Lutz, Tübingen 1999, S. 251-270, der Parzivals Schweigen und Sprechen mit der Blutstropfen-Episode in Verbindung bringt (vgl. insbesondere S. 267f.); Mireille Schnyder, Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200, Göttingen 2003 (Historische Semantik 3), S. 320-322.
94
Vgl. allgemein zum Schweigen im höfischen Roman Schnyder (wie Anm. 93).
Strophisches
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„sit ir Biterolf genant, so hän ich in der Hiunen lant durch iuwer liebe her geriten." mit rehte friuntlichen siten einander si enphiengen. (v. 4293^t297) 9 5
Viel größere Aufmerksamkeit als auf das, was Vater und Sohn sagen, wird auf die soziale Dynamik gelenkt, die die Sensation am Hunnenhof entfaltet: Rüdiger, der beide zusammengebracht hatte, darf die Neuigkeit weder Männern noch Frauen weitersagen, weil Biterolf es ihm untersagt. Deshalb erzählt er einem der Mädchen der Königin, was sich ereignet hat. Zu Biterolfs großem Verdruss verbreitet sich nun die Neuigkeit in Windeseile am Hof. Die Komik von Rüdigers findiger Umgehung seines Versprechens lenkt die Aufmerksamkeit auf ihn und die Art, wie der Hof Kenntnis über die Sensation erlangt; Vater und Sohn sowie deren Verhältnis und Beziehung treten unterdes in den Hintergrund.
III.
Fazit
Sprechen wird in der Heldenepik zumeist nicht in Form eines kunstvollen Monologs oder Dialogs entwickelt, es wird nicht als Instrument zur Herstellung von Nähe und Intimität genutzt, sondern es ist eine Handlung unter anderen. Heldenepische Schlüsselszenen kommen nicht selten ganz ohne Sprache aus: Während der Iwein mit dem langen Bericht Kalogrenants beginnt, der die sich anschließende Handlung motiviert und vorwegnimmt, Erecs Schande im Gerede des Hofes besteht und sich ihm durch Enites Klage mitteilt, sind die zentralen Knotenpunkte der Heldenepik nicht nur zu hören, sondern buchstäblich zu 'sehen': Wenn Brünhild ihren Gatten in der Hochzeitsnacht an einen Nagel hängt, wenn die beiden verfeindeten Königinnen getrennt ins Münster einziehen, wenn Siegfrieds Wunde blutet, als Hagen sich der Bahre nähert, wenn Kriemhild Rüdiger als Etzels Brautwerber in tränennasser Kleidung empfängt und wenn Hagen sich vor der Königin nicht erhebt, sondern Balmung entblößt über seine Knie legt, dann bedürfen diese Handlungen keines Kommentars, selbst dann nicht, wenn sie dennoch von Figurenrede begleitet werden.96 95 96
Biterolf und Dietleib, hg. von Oskar Jänicke, Berlin 1866 (Deutsches Heldenbuch 1). Haug spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verdichtung des Geschehens in symbolischer Gegenständlichkeit" (Walter Haug, „Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Fiktionalität", in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a.M. 1994, S. 376-397, hier S. 385). Allerdings präsentiert sich das Nibelungenlied auch hier wieder als Mischform höfischer und heroischer Erzählmuster; obwohl Siegfried Brünhild mit dem Stratordienst durch den A u g e n s c h e i n täuschen will, bezieht sie selbst sich im Königinnenstreit nur auf das, was ihr bei der Ankunft von Gunther und Siegfried g e s a g t worden ist (Das Nibe-
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Katharina
Philipowski
Dass allen diesen Handlungen Redeszenen vorausgehen, ist damit nicht in Abrede gestellt, ändert aber nichts am Befund: Die Entführung Ginovers vom Artushof durch den fremden Gast, der Artus ein Blankoversprechen abringt, die Versöhnung, die Lunete zwischen Iwein und Laudine ins Werk setzt oder Parzivals Aufklärung über den Gral durch Trevrizent bestehen aus Sprache, die im höfischen Epos nicht nur stärker als in der Heldenepik die Handlung trägt, sondern sich zum Erzählgegenstand verselbstständigt: Tristans Verwirrung durch die weißhändige Isolde resultiert nicht aus ihrer Schönheit, sondern aus ihrem Namen; Laudines Verlangen, Iwein zu heiraten, entsteht erst im Dialog mit Lunete,97 und Brangäne rettet sich vor den von Isolde gedungenen Mördern im Wald allein dadurch, dass sie erzählt. Der kleine Wolfdietrich muss im gleichnamigen Epos der Fassung Α demgegenüber kein einziges Wort verlieren, um die göttliche Vorsehung zu bezeugen, die über ihm schwebt. Als der Vasall Berhtunc, der mit dem Kind in den Wald geschickt wird, um es zu töten, sein Messer durch den Knaben stechen will, blitzt dessen adlige weiße Haut durch die Kleidung und macht es Berhtunc dadurch unmöglich, Hand an ihn zu legen. Berhtunc fordert das Schicksal heraus, indem er das Kind den wilden Tieren aussetzt und heimlich beobachtet, was geschieht. Wolfdietrich setzt sich gegen ein Rudel Wölfe durch und erhält so nicht nur sein Leben, sondern auch seinen Namen. All das geschieht bezeichnenderweise vollkommen wortlos: Das Geschehen selbst spricht für sich. Selbst schwerste Entscheidungen werden im Heldenepos entweder wortlos oder wortkarg getroffen: Weder die Entscheidung Etzels und Helches in der Rabenschlacht, ihre beiden Söhne mit Dietrich in die Schlacht ziehen zu lassen, bedarf vieler Worte, noch Etzels Entscheidung, Dietrich den Tod der beiden zu vergeben. Als Berhtuncs sechzehn Söhne im Kampf für Wolfdietrich fallen, droht er seiner klagenden Frau, dass er sie über die Burgmauer werfen werde, wenn sie es wagen sollte, um sie zu trauern, denn ihr Tod ist ehrenhaft gewesen und keine Klage der Welt kann sie zurückbringen. Demgegenüber wird im höfischen Epos die Exzeptionalität des Toten gerade durch eine wortreiche, ausführliche und lange Klage unterstrichen. Die Figurenrede ist in der mittelhochdeutschen Heldenepik nicht weniger wichtig als in der höfischen Epik, doch sie hat hier eine andere Funktion und Gestalt. Anders als die Heldenepik nutzt die höfische Epik die Gestaltung von Figurenrede zur Profilierung der poetischen Aussage. Modi, Funktionen und Bedingungen von Sprechen, Reden und Erzählen werden hier zu selbstständigen Themen, die in den Romanen reflektiert und problematisiert werden. So lässt sich beispielsweise für den Daniel zeigen, „daß 'Reden', der richtige, wirkungsvolle, erfolgreiche Gebrauch der Rede eines der 'Themen' des 'Daniel' ist, das
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lungenlied. Mittelhochdeutsch /Neuhochdeutsch, nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart z 2002 [RUB 644], Str. 820 und 821). Vgl. dazu den Beitrag von Tobias Zimmermann in diesem Band.
Strophisches
und stichisches Sprechen
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vom Stricker an einer ganzen Reihe von [...] Beispielen exemplifiziert wird".98 Und auch im Iwein Hartmanns von Aue tragen die Redeszenen dazu bei, dass die Erzählstruktur sich selbst zum Gegenstand wird: Auffällige Doppelungen, Wiederholungen, Parallelszenen, Kontrastbildungen, Steigerungen, Rahmungen, Verklammerungen, Verschachtelungen traten allein schon durch die eingehende Betrachtung der Redeszenen zutage, eröffneten damit Zusammenhänge und stellten Verbindungslinien inhaltlicher und formaler Natur zwischen benachbarten oder weit auseinanderliegenden Eposabschnitten her. Wie ein dichtes Gewebe, wie eine Textur scheinen diese Korrelationen die Dichtungen zu durchwirken und zu einem Ganzen zu verflechten. 99
Die Handlung von Epen wie Iwein, Daniel, dem Guoten Gerhart oder Parzival ist „ a u s R e d e n gebildete Szene".100 Eine solche Funktion von Figurenrede wird sich in der mittelhochdeutschen Heldenepik kaum finden lassen (wobei das Nibelungenlied als Mischform wieder eine Ausnahme darstellt). Die Stimme heldenepischer Protagonisten verbleibt im Körper, erlaubt keine Außenperspektive auf ihn und wird nicht zum Beobachter dessen, was sie sagt und wie sie spricht. So betrügt Hugdietrich in der Fassung Β nicht durch Worte, sondern durch sein Erscheinungsbild und durch sein Handeln, dadurch nämlich, dass er stickt. Gunther betrügt Brünhild nicht durch eine sprachliche Handlung, sondern dadurch, dass er die Kampfspiele gewinnt. Und Siegfried macht sie nicht durch Überredung, sondern durch stumme Gewalt zu Gunthers Frau. Isolde hingegen betrügt ihren Mann durch die Raffinesse ihrer Sprache, und auch das Gottesurteil wird allein durch die Findigkeit ihrer Worte zu ihren Gunsten entschieden. Im höfischen Epos beginnen die Figuren, eine eigene, neue Sprache zu sprechen: komplex, mehrstuftig, eloquent und ausführlich. Das Erzählen beginnt, Möglichkeiten, Voraussetzungen und Probleme des Sprechens selbst zu thematisieren - z.B., indem es durch das Einfügen von Binnenerzählungen von gescheitertem oder gelungenem Erzählen erzählt. Sprechen wird - vor allem als Erzählen - zur Substanz der Handlung, und zwar nicht nur durch die Performativität von Sprache allgemein, sondern indem es sich selbst zum Erzählgegenstand wird und so literarische Metakommunikation ermöglicht. Das Vermögen dieser Art von Selbstthematisierung und sprachlicher Selbstreflexion verdankt sich jedoch nicht allein der Entwicklung neuer literarischer Ausdrucksformen, sondern auch den Möglichkeiten, die schriftliche Überlieferung gegenüber mündlicher Tradierung mit sich bringt.
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Volker Honemann, „Daniel monologisiert, der Riese berichtet, drei Damen erzählen: Aspekte der Figurenrede im 'Daniel von dem Blühenden Tal' des Strickers", in: Erzählungen in Erzählungen (wie Anm. 72), S. 221-232, hier S. 232. Wiehl (wie Anm. 10), S. 300. Schwartzkopff (wie Anm. 57), der sich mit dieser Äußerung nicht auf Daniel oder den Guoten Gerhart bezieht, S. 48; Hervorhebung von mir, K.Ph.
Maryvonne Hagby Die Dialoge im Leben der Yolanda von Vianden Inhaltliche, funktionale und gattungsgeschichtliche Überlegungen
Gegenstand dieses Aufsatzes ist das Leben der Yolanda von Vianden, ein moselfränkischer Roman aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts, der von einem Dominikanermönch verfasst wurde. Der Autor nennt seinen Namen mehrere Male im Laufe des Werkes: Er heißt Bruder Hermann und kennt bzw. kannte sowohl die Heldin als auch andere Figuren seines Romans persönlich. Sein Werk ist eine Biographie, die die Kindheit und die Jugend von Yolanda erzählt, der Tochter des Grafen Heinrich von Vianden und seiner Frau Margarethe von Courtenay, die 1248 in das Kloster Marien thai bei Luxemburg eintrat und 1283 starb.1 Yolanda ist nicht nur Tochter des Grafen von Vianden, sondern auch Enkelin des Kaisers von Konstantinopel sowie Nichte des Bischofs von Köln. Sie ist für eine den politischen Interessen ihrer Familie dienende Heirat bestimmt, weshalb ihre Eltern sehr staunen, als ihre neunjährige Tochter behauptet, in ein Kloster eintreten zu wollen. Während die Familie davon ausgeht, dass das Mädchen nur einen kindlichen Wunsch äußert, bekräftigt Yolanda mit 15 Jahren diese Absicht und entscheidet sich nach einem Gespräch mit ihrem dominikanischen Seelsorger für das damals sehr arme Frauenkloster Marienthal. Von da an 1
Benutzte Ausgabe des Textes: Bruder Hermanns Leben der Gräfin blande von Vianden mit Einleitung und Anmerkungen hg. von John Meier, Breslau 1889, Nachdruck Hildesheim/New York 1977 (Germanische Abhandlungen 7); Übersetzung: Gerald Newton und Franz Lösel, Yolanda von Vianden. Moselfränkischer Text aus dem späten 13. Jahrhundert mit Übertragung, Luxemburg 1999 (Beiträge zur Luxemburgischen Sprach- und Volkskunde 21; Sonderforschungsreihe Language and Culture in Medieval Luxembourg 1); jüngere Forschungsliteratur: Angela MielkeVandenhouten, Grafentochter - Gottesbraut. Konflikte zwischen Familie und Frömmigkeit in Bruder Hermanns Leben der Gräfin Yolande von Vianden, München 1998 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 21); Michele Backes, Yolanda von Vianden und die religiöse Frauenbewegung ihrer Zeit. Mit einem Geleitwort von Guy Berg, Luxemburg 2001 (Beiträge zur luxemburgischen Sprach- und Volkskunde 28; Sonderforschungsreihe Language and Culture in Medieval Luxembourg 2); Catherine Hollerich, „Fiktion und Realität in Bruder Hermanns 'Iolande von Vianden'. Die literarische Verarbeitung historischer Wirklichkeit in der 'Iolanda'Vita unter dem Aspekt der Autorenintention und Publikumserwartung", in: Hemecht 51 (1999), S. 5-71; Man mohte schriven wal ein buch. Ergebnisse des Yolanda-Kolloquiums, 26.-27. November 1999 - Luxemburg, Vianden und Ansemburg, Luxemburg 2001 (Beiträge zur luxemburgischen Sprach- und Volkskunde 31; Sonderforschungsreihe Language and Culture in Medieval Luxembourg 3); Andrea Rapp und Ruth Rosenberger, Margarethe und Yolanda von Vianden. Fromme Frauen zwischen Herrschaftspflicht und Armutsideal. Eine dominikanische Erfolgsgeschichte des 13. Jahrhunderts, Trier 2005.
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beginnt für sie ein langer Kampf mit ihren Verwandten, der drei Jahre dauert und sehr schnell die Form eines mühsamen Überzeugungsprozesses annimmt: Die Handlung wird im Leben der Yolanda von Vianden relativ einfach und knapp gehalten, während die Heldin nicht weniger als 48 Gespräche mit unterschiedlichen Partnern, meist Überzeugungsbzw. Streitgespräche in direkter Rede führen muss, bevor ihre Eltern und ihr Umfeld ihre Entscheidung akzeptieren und dem Klostereintritt nichts mehr im Weg steht.2 Zu diesen 48 Gesprächen kommen Redeszenen, in denen die Eltern untereinander oder mit ihren Seelsorgern sprechen, und mehrere Gebete - dies nur, um die Szenen in direkter Rede aufzulisten, denn es kommt auch eine Vielzahl indirekt berichteter Gespräche hinzu. Yolandas Partner in den Redeszenen stammen zum größten Teil aus ihrer Familie: Es sind ihr Vater, ihre Mutter, zwei ihrer Brüder, ihre Tanten, ihr Onkel, ihre Schwägerin. Hinzu kommen einige Ritter und Knappen ihres Vaters, aber vor allem viele Geistliche: ihre Seelsorger (zwei Dominikaner und der Kaplan der Familie), die Seelsorger ihrer Mutter, die Äbtissin eines nahen Klosters, mehrere Mönche aus den jungen Zisterzienser-, Franziskaner- und Dominikanerorden, die Priester und der primarius lector der Ordensschule der Dominikaner in Köln, Albertus Magnus - dieser Gruppe der Geistlichen gehören viele Mitglieder ihrer Familie an, so dass Yolanda vorrangig mit Geistlichen 'diskutiert'. Alle, Laien und Geistliche, sprechen zunächst gegen Yolandas Entscheidung (bis auf den Dominikaner Walther von Meisenburg, der sie auf Marienthal aufmerksam macht): Sie bezweifeln, dass Yolandas Berufung ernst und beständig sei und versuchen, sie zu der 'gesellschaftlich verträglicheren Lösung' einer weltlichen Heirat (bzw. später eines Eintritts in ein standesgemäßes Kloster) zu bewegen. Im engeren Sinne 'gesprächsbereit', das heißt bereit, Yolandas Argumente zu respektieren und ihren Willen zu prüfen, sind bis zum Schluss nur die Dominikaner, ihr Lieblingsbruder (der Domprobst) und die Begine (Frau von Hengenbach). Der Kampf Yolandas um ihren Klostereintritt bekommt also Züge eines Kampfes zwischen einer von Gott geleiteten, jedoch einsamen Frau und den Mächtigen ihrer Welt - diese Konstellation entspricht äußerlich dem mittelalterlichen hagiographischen Modell.3
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Besonders auffällig im Leben der Yolanda von Vianden ist die Anzahl der Dialogszenen. Die Szenen in direkter Rede beanspruchen allerdings lediglich 28% des gesamten Textes: Yolanda diskutiert bzw. streitet auffällig oft, sie ist jedoch keine besonders gelehrte Gesprächspartnerin, die lange Antworten oder predigthafte Belehrungen ausformuliert. Entsprechend werden die Antworten ihrer Partner auch relativ kurz gehalten. Mielke-Vandenhouten zählt Prolog und Epilog nicht mit und stellt fest, dass der „Hauptteil [des Werkes] fast zu 40% auf Redeanteilen der Personen" beruhe. Mielke-Vandenhouten (wie Anm. 1), S. 111.
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Zum hagiographischen Modell in den Legenden vgl. Edith Feistner, Historische Typologie der heiligen Legende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation, Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter 20); Alain Boureau, L'evenement sans fin. Recit et christianisme au Moyen Age, Paris 1993 (Histoire 22); bzw. sehr nah an Boureaus Konzept: Ga-
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Die meisten Redeszenen können als Konfliktdialoge charakterisiert werden, Konfliktdialoge, in denen allerdings Positionen aufeinander prallen, die alle berechtigt sind: Yolanda hat ihre professio artikuliert, weil Gott sie seit ihrer jüngsten Kindheit in diese Richtung führt - ihre Eltern m ü s s e n
sie zwingen zu heiraten, weil sie sich in dieser Weise be-
reits verpflichtet haben. Auch die Position der Verwandten Yolandas, die sie für ihre jeweiligen Klöster gewinnen wollen, ist verständlich. Deshalb sind diese Konflikte nicht durch Menschen zu lösen: Tatsächlich wird Yolanda erst ins Kloster eintreten können, nachdem ihr Verlobter wie durch ein Wunder seine Ansprüche aufgegeben hat, um eine andere Frau zu heiraten, und ihre Mutter aufgrund einer Eingebung Gottes ihren Zorn ablegt und Yolandas Wunsch akzeptiert. Die erste direkte Aussage der Heldin am Anfang des Romans ist programmatisch für alle ihre späteren Antworten: „nein", [...] „des enmach nyt sin [...]", erwidert das Mädchen seiner Mutter, als diese fragt, wie sie sich ihren Ehemann vorstelle (v. 179).4 Alle späteren Dialoge mit ihrer Mutter und deren 'Verbündeten' werden ähnlich wie dieser verlaufen: Yolanda ist sehr beständig und entschieden, sie duldet kaum Widerrede und akzeptiert nur ganz selten die Stellung des Zuhörers. Ihre Mutter, die im Werk die Rolle einnimmt, die in herkömmlichen Legenden der böse Kaiser oder der Heidenpriester innehat, provoziert ihre Tochter immer wieder - im Gespräch akzeptiert Yolanda immer den 'Kampf. Ihre Berufung bzw. ihr Gefühl, auserwählt zu sein und im Einklang mit Gottes Willen zu handeln, geben ihr die Kraft, keiner Auseinandersetzung auszuweichen. Yolanda versucht nie, das Thema zu wechseln oder zu schlichten, sie ändert ihre Meinung nicht und macht - ähnlich wie die Heiligen in den Legenden - keine Entwicklung durch. Sie setzt der Wut, dem Zorn, der List oder der Hilflosigkeit ihrer Gesprächspartner immer wieder ihren Glauben und ihre Entscheidung entgegen. Als Beispiel soll die dritte Auseinandersetzung Yolandas mit ihrer Mutter näher betrachtet werden: Yolanda wird vom Familienrat erneut aufgefordert, ihre Position darzustellen. Sie antwortet: „min wille is, herre, dat ich si sus vorbaz aller manne vri dan eines den ich han erkorn und dem ich trüe han gesworn. dem ich enwil nyt ave gän: e lyze ich mich ze döde slän, e dat ich den begeve." (v. 3737-3743)
Die Reaktion der Ratsmitglieder ist eindeutig: dy man und dich der greve / begunden stille swtgen: /der strit müste geiigen / üf muderltchme herzen (v. 3744-3747).
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briel H. Decuble, Die hagiographische Konvention. Zur Konstituierung der Heiligenlegende als literarische Gattung, unter besonderer Berücksichtigung der Alexius-Legende, Konstanz 2002. Dieser Satz wird besonders im ersten Teil des Werkes zu einem Leitmotiv, das die streitenden Figuren immer wieder benutzen (vgl. v. 268, 813, 1061, 2460, 2682 usw.).
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Die Mutter erklärt dementsprechend ihrer Tochter die Lage: „ is dit dy vrdide und dat gemach dy wir van dinenlhalven han? wer sol uns ledich sagen dan des geldes und der Sicherheit dy wir gelovet han gereit, engeven wir nyt dem manne dich?" (v. 3750-3755)
Yolandas Antwort erstaunt durch ihre freche Direktheit: da sprach dy dohter: „wat weiz ich? wer it vor mich gelovet hat des ich geloven nyt enbat, der mach dich gelden sunder mich: wat ich geloven dat wil ich dich gelden, wat ich beste mach." (v. 3756-3761)
Die Mutter gibt nicht nach und schildert ihrer Tochter in einem längeren Redeabschnitt die finanziellen Konsequenzen ihrer Entscheidung (v. 3762-3785), Yolandas Reaktion wirkt immer noch sehr frech (v. 3793-3802), worauf die Mutter, wie bei allen Auseinandersetzungen mit ihrer Tochter, in Zorn gerät: sy sprach: „ it si dir lyfär leit: du mäst mir folgen zwäre. ich sol dich offenbare beslyzen bi den manne in eine kamere: danne sich, wy du d&s aleine." (v. 3 8 0 6 - 3 8 1 1 )
Diese Vorstellung weckt bei Yolanda wahrscheinlich Erinnerungen an viele Viten heiliger Frauen - ihre Antwort lautet ihrem Gottvertrauen entsprechend: „[...] were ich bit hundert manne noch / besluzzen vast, ich soilde doch / wol unbevlecket kumen dan [...]" (ν. 3819-3821). An dieser Stelle verliert die Mutter die Kontrolle über ihre Wortwahl und benutzt Worte, die Hermann nyt sprechen mach / noch dich enwil nyt schriven / vor allen reinen wiven (v. 3826-3828). Ihre Tochter verspottet sie deswegen (v. 3833-3841) und Hermann kommentiert: Da gync it üz der mäzen (v. 3842). Das weitere Gespräch zwischen den beiden Frauen wird bis auf eine Äußerung Yolandas in indirekter Rede berichtet: Sie können sich wie erwartet nicht einigen, worauf Yolandas Vater seiner vor Wut rasenden Frau befiehlt, zu schweigen. Darauf ergreift ein Ritter das Wort und wirft Yolanda vor, gegen die Interessen der vrunde zu handeln. Yolanda macht ihm sofort deutlich, dass sie nicht mit ihm diskutieren möchte: „[...] ich enhan bit üch zu dune nyt. / erläzet mich der mere: / ür wort mir sint unmere " (v. 3894-3896). Daraufhin bedroht die Mutter ihre Tochter erneut („[...] so zyt dy kleider üz dy ir/dä draget ane: sy sint min [...]", v. 3904f.), erteilt ihr strengsten Hausarrest und erklärt ihrem
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Mann: „[...] ür dohter ich enhüden nyt, / ich gen sy üch üf äre hant [...]" (v. 3940f.)· Am Ende dieser Szenen ist die ganze Gesellschaft aus den Fugen geraten: der greve bit der müder schre / und alle dy da wären, me, / dan ich kunne gesagen (v. 3953-3955). Die dargestellte Dialogfolge ist durch und durch situationsbezogen: Sie besteht aus kurzen Sätzen, enthält viele Befehle, mehrere Aufforderungen, doch sie dient auf den ersten Blick kaum dem Handlungsfortschritt - die Argumente, die beide Frauen vortragen, kennen die mittelalterlichen Rezipienten schon, weil sie über die finanziellen Konsequenzen eines Heiratsversprechens in ihrem Alltag informiert sind. Genauso wissen sie aus früheren Redeszenen, dass Yolanda nicht nachgeben wird. Dieser Dialog zwischen Mutter und Tochter ist auch keine Konversation: Hier wird Schlag auf Schlag gekämpft. Die Antworten der Protagonistinnen sind zwar thematisch begrenzt und stellenweise fast komisch, sie sind jedoch nicht statisch oder oberflächlich - keine Konversation, sondern ein mehrfacher Redewechsel, der das Handlungspotential der Szene vollständig erschöpft. Auch wenn der Erzähler seine Figuren während der Redeszene streckenweise alleine lässt und schweigt, ist er sehr darum bemüht, das Gespräch sorgfältig zu inszenieren. Seine Kommentare helfen den Rezipienten, stets die ganze Situation zu erfassen bzw. die Reaktionen der anderen Figuren einzuordnen (bis hin zu der Tatsache, dass Yolanda ihre Ohren zuhält, um die 'bösen' Worte ihrer Mutter nicht zu hören). Diese streng auktoriale Führung fällt im ganzen Roman insofern auf, als die Kommentare des Erzählers während der Dialoge oder der folgenden Berichte einerseits und die Äußerungen bzw. die Haltung der Protagonisten andererseits nicht immer in Einklang stehen: So erfahrt der Hörer in unserem Abschnitt, dass Yolanda bit zuhten (v. 3812) spricht oder dass das Mädchen und ihre Mutter einen unterschiedlichen Kampf führen (ir zweier müt was ungelich, v. 3848), obwohl beide sehr ähnlich auf die Äußerungen ihrer jeweiligen 'Gegnerin' reagieren. Kurz vor diesem Gespräch oder am Ende dieser Szene betont der Erzähler zum Beispiel mehrmals: sy muste leider liden, wat unman ir ze leide sprach. vil mangen bitterlichen dach sy leit geduldencliche, dy reine minnencliche. (v. 3702-3706) dit müste sy verdragen, dy minnencliche gude, bit al ze swären müde. doch wart sy ze allen stunden in stedecheide vunden. (v. 3956-3960)
Dadurch gewinnt der Leser oder Hörer den Eindruck, dass das Bild, welches der Autor vom Verhalten seiner Figuren während der Handlung bzw. der 'realen' Äußerungen malt, vom Erzähler in den Berichten immer wieder korrigiert wird. Yolanda hat die Beständig-
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keit einer Heiligen, doch sie handelt und redet manchmal alles andere als höfisch, zurückhaltend und bescheiden. Ihre Hartnäckigkeit und ihre Frechheit im Streit mit ihrer Mutter wertet etwas später ein Kaplan im Gespräch mit der jungen Frau sogar eindeutig als Sünde: „han ich yt, herre, missedäin, durch got, dat läzet mich verstört: zur büzen wil ich sin gereit." 'junfrdiwe, jä, it ist mir leit, dat ir so vil erzürnet got und dat ir brechet sin gebot an ürre müder al zehant [...].' (v. 4613—4619)
Yolanda sieht dies selbstverständlich nicht ein. Daraufhin verwehrt der Kaplan der jungen Frau die Teilnahme an der Eucharistie. Doch neben solchen Szenen möchte der Autor in seinen Kommentaren auch das Bild einer auserwählten, frommen und seligen Frau vermitteln. Dazu wiederholt er immer wieder: Ich han vil wol gelesen / van güden vroiwen reinen: /steder envant ich keine, /so mich verduinket sunder wän (v. 41 lCMtl 13). Genau das Gleiche gilt für Yolandas Mutter: In ihren Dialogen und Handlungen erleben die Rezipienten sie als eine unbegrenzt zornige Frau, die nicht zögert, ihre Tochter öffentlich zu schlagen bzw. an den Haaren zu ziehen, oder die droht, ein ganzes Kloster samt Insassen in Brand zu stecken. Im Prolog und in den auktorialen Kommentaren heißt es jedoch mehrmals: an hir so vinde ich loves gnüch, wol ich dat dugenthafle wif und hiren hdgeboren lif bit wereltlove kröenen: [...] so wil ich sunder doven hir güede, hir milde loven [...]. (v. 4 0 - 4 8 )
Diese Divergenz zwischen der Erzählerdarstellung in den Kommentaren und Berichten und der Eigendarstellung der Figuren in den Redeszenen unterstreicht die Fatalität des Konfliktes zwischen Yolanda und ihrer Familie. Dadurch bekommt das Werk allerdings eine interessante Mehrstimmigkeit, auf die bei dem Versuch, das Werk einer bestimmten Gattung zuzuordnen, zurückzukommen sein wird. Der eben vorgestellte Dialog zwischen der Heldin und ihrer Mutter ist stilistisch typisch für die Erzähltechnik Bruder Hermanns im Leben der Yolanda von Vianden. Im Roman finden wir alle Formen dialogisierter Passagen (längere Streitdialoge; Dialoge mit mehr als zwei Teilnehmern; kurze Aussagen in direkter Rede, die längere Berichte 'unterbrechen' sollen; längere Monologe; Mischung von direkter und indirekter Rede - wobei meistens Yolandas Redeteil direkt nacherzählt wird - u.a.m.). Doch jene Gespräche uberwiegen, in denen wie im vorgestellten Beispiel sechs- bis achtmal der Redner gewechselt wird und beide Partner etwa sechs bis zwölf Verse lange Redezeiten bekommen. Diese Gespräche nehmen allein oder in Verbindung mit anderen Dialogen öfter ganze Szenen in Anspruch.
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In solchen Passagen werden die Aussagen und Antworten der Protagonisten lediglich durch kurze auktoriale Kommentare unterbrochen, die meistens den Verlauf des Dialoges erklären bzw. die dazugehörige Gestik der Protagonisten beschreiben. In der eben dargestellten Szene begründet der Autor bei der ersten Unterbrechung den Rednerwechsel sehr plastisch (v. 3844ff.), später fasst er einen Teil des Dialoges zusammen (v. 3803-3805). Der dritte und letzte Kommentar ersetzt die 'unverschämten' Worte der Mutter, als der Erzähler sich weigert, die benutzten Ausdrücke zu wiederholen (v. 3824-3832). Interessant ist an diesem Punkt, dass die Rolle der mit den Dialogen verbundenen Gestik weit über die Funktion anschaulicher Bühnenanweisungen hinausgeht. Yolandas Mutter unterbricht mehrere Redewechsel, indem sie ihre Tochter schlägt oder ihr das Ordenskleid vom Körper reißt. Yolanda fällt auf die Knie oder wirft sich auf den Boden, um ihre Gesprächspartner besser zu überzeugen; sie schlägt, wenn diese ständisch unterlegen sind, oder sie zieht an der Mönchskutte des Albertus Magnus, als der berühmte Lehrer unverrichteter Dinge gehen will. Im Leben der Yolanda von Vianden weisen die Äußerungen der Redner die Charakteristika eines lebhaften Gesprächs auf: Es werden Sätze wiederholt (im eben vorgestellten Beispieldialog v. 3760f. und 3798f.), redundante Wendungen zur Betonung der eigenen Meinung benutzt (v. 3815f.), Sprechpausen eingehalten (v. 3744f.), Argumente aufgezählt (v. 3773ff.); es wird rhetorisch gefragt (v. 3766ff.), im Imperativ befohlen (v. 3811) oder sentenzartig geredet (v. 3796f.). Im Streit lassen sich zwar kaum Beispiele von Stichomythie finden, dafür sind die Sätze der Gesprächspartner meistens sehr kurz und lassen den Emotionen der Protagonisten viel Raum. Außerdem beachten die Redner in ihrem Redefluss kaum die Verseinteilung (v. 3806-3811). Manche Dialogszenen sind zwar nicht frei von poetischen Elementen, wie man es z.B. während der väterlichen 'Liebesrede' des Grafen erkennen kann (v. 2874-2890). Doch Bruder Hermann gelingt es, die Balance zwischen Kunst und Alltäglichkeit zu halten: Seine Figurensprache weist keine besonders ausgesuchten Umschreibungen, Metaphern oder Vergleiche auf. Sie spiegelt die Spontaneität, die Offenheit und oft sogar die Brutalität gewöhnlicher Alltagsgespräche wider und schildert die dargestellten Situationen grundsätzlich aus der 'einfachen' Perspektive der jeweiligen Gesprächspartner. Dementsprechend halten sich die Protagonisten nicht immer an die Regel der höfischen Zurückhaltung und Höflichkeit: Weder ihre Mutter noch Yolanda, aber auch nicht der Bischof von Köln oder die Äbtissinnen der Zisterzienserklöster sind durchgehend darum bemüht, auf ihren Ausdruck oder auf passende Gestik zu achten. Diese Tatsache fällt im Leben der Yolanda von Vianden besonders auf, weil alle Protagonisten ähnlich direkt reden - es sei denn, sie sind bereit, Yolanda zuzuhören und ihre Argumente zu akzeptieren. Dies tut zum Beispiel die Begine, Frau von Hengenbach, mit der Yolanda außergewöhnlich höflich spricht (v. 3065, v. 3190-3198). An solchen Stellen erlauben es die rhythmischen und stilistischen Mittel, die der Autor hier verwendet und die diese Dia-
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löge von den anderen unterscheiden, eindeutig zwischen Konfliktdialogen, Aussöhnungsdialogen und informierenden Redeszenen zu unterscheiden. Trotz des Übergewichts der Streitgespräche ist die Vielfalt der Dialoge im Leben der Yolanda von Vianden ein wichtiges Element der Ästhetik des Textes. Ähnlich verhält es sich im Bereich der Form des Werkes: Bruder Hermann nutzt die Inhalte und Formen der Dialoge, um das Werk zu komponieren und strukturieren. Die Analyse der ersten Redeszenen zeigt zum Beispiel, dass Yolandas Aussagen während ihrer Kindheit und Jugend, also am Anfang des Werkes, eine interessante Einheit bilden: Yolandas des enmach nyt sin (v. 179) verwendet im nächsten Gespräch die Äbtissin eines nahe liegenden Zisterzienser-Klosters: „nein, minne, des enmach nyt sin. /du sol van diser reden län, /bit mir zu diner müder gän" (v. 268-270). Auf diese Aussage kann Yolanda erschrocken zunächst nicht antworten. Erst im dritten Redewechsel, während des nächsten Besuchs und nachdem die Äbtissin ihre Bedenken wiederholt, reagiert das Mädchen: „ [...] wilt hir nyt helfen, vroiwe, mir, /so vorten ich, it si verlorn / wat ich hy trostes hat erkorn [...]" (v. 296-298). Dieser Aussage folgt mehrere hundert Verse später, doch erneut als nächster Redewechsel das erste Gespräch zwischen Yolanda und Walther von Meisenburg, bei dem das junge Mädchen ein Dominikanerkloster wählt und für immer davon Abstand nimmt, Zisterzienserin zu werden. Die hier aufgezeigte Logik der Informationsvermittlung ist allerdings lediglich innerhalb der Dialogfolge erkennbar; der Autor verliert in den dazwischen liegenden Berichten und weiterführenden Handlungsabschnitten kein Wort darüber. Auf ähnliche Weise bilden z.B. die Gespräche zwischen Yolanda und dem Bischof von Köln eindeutig eine erzähltechnische Einheit. Yolanda trifft ihren Onkel zweimal und beide Gespräche sind gleich aufgebaut: Das Mädchen verlangt, mit dem Bischof allein zu reden ihr Onkel kann sie auch dann nicht umstimmen. Am Ende des ersten Gesprächs wird der Bischof sehr zornig (dy rede was ze vügen hart. / der bischofal ze zornich wart, v. 1707f.), doch er kann sich beherrschen, während Yolanda schreit und weint. Vor dem zweiten Gespräch, fast 3000 Verse später, entlädt sich endlich (im Verlauf der Handlung völlig unerwartet) seine Wut - er slüch dy güde wolgedäin / und gaf ir einen grozen slach, / dat al der hof ze male sach (v. 4456-4458) - , bevor er ein wesentlich ruhigeres Gespräch mit ihr führt. Die gleiche kompositorische Bemühung lässt sich auch in den zwei aufeinander antwortenden Szenen bzw. Gesprächen, die Yolanda mit der Zisterzienser-Äbtissin führt, beobachten: Im ersten Gespräch am Anfang des Werkes lehnen die Äbtissinnen Yolandas Eintritt in ihr Kloster kategorisch ab. Beim nächsten Treffen mit ihrer Tante lehnt dann Yolanda mit klaren Worten deren umgekehrten Vorschlag ab, nun doch in das Zisterzienserinnen-Kloster einzutreten: „ vroiwe und müme, ich was bi üch (des ir wol selve sit gezüch),
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dal ich umb üren orden bat und ir mich lyzet üfder stat derbeden ungeweret. [...]" (v. 3417-3421)
Interessant ist hier, dass Yolandas Aussagen in den beiden Szenen die gleichen Reaktionen von ihrer Umwelt hervorrufen: Bevor die Äbtissin Yolandas Klostereintritt ablehnt, erschrecken die Novizinnen, die bei ihr stehen ( d y kint erschräken sere / van sus gedäner mere, v. 241f.). In der zweiten Szene erschrickt die Äbtissin selbst: dy vröiwe
erschraech
der mere (ν. 3435). Am deutlichsten wird allerdings die strukturierende Wirkung der Redeszenen im Leben der Yolanda von Vianden, wenn man die Verteilung der Dialoge im ganzen Werk untersucht.5 Der Hauptteil des Romans folgt dem Strukturmodell der arthurischen Epik bzw. in diesem Fall eher der Legenden der Sünderheiligen (s. das Schema auf S. 83):6 Yolandas 'erster Weg ins Kloster' besteht aus zwei Handlungsabschnitten, ihrer Entscheidung für das Leben einer Nonne bzw. das Kloster Marienthal und dem ersten Versuch, in dieses Kloster einzutreten. Diese Episoden enden jeweils mit einem großen Streitgespräch zwischen der Heldin und ihrer Mutter und werden lediglich durch die Ratsszene in Münstereifel unterbrochen. Auf ihrem 'zweiten Weg' wird sich Yolanda mehrmals mit ihrer Mutter streiten, bevor die Handlung jeweils in den Episoden (Verlobungsproblem, Streit bei der Hochzeit des Bruders Yolandas, zweiter Klostereintritt) weitergeführt wird. Diese ausführlichen Gesprächsszenen zwischen Mutter und Tochter sind für die Struktur des Werkes von grundlegender Bedeutung, weil sie immer am Ende der jeweiligen Handlungsepisode stattfinden bzw. jedes Mal einige Verwandte dazu bewegen, einen Rat einzuberufen, bei
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Mielke-Vandenhouten analysiert in ihrer Arbeit die Struktur des Werkes und schlägt zwei Strukturmodelle vor, die den Wechsel Ratsszenen / Handlung im Werk nicht berücksichtigen. Das erste, einfache Modell teilt den Text lediglich in Einleitung, Hauptteil (Konflikt) und Lösung des Konflikts / Glückliches Ende auf. Ihr zweites, elaborierteres Modell entspricht zum Teil der Einteilung, die hier vorgeschlagen wird: 1. Berufung Yolandas durch Walther, 2. Heirat vs. Kloster I, 3. Auseinandersetzung in Marienthal, 4. Heirat vs. Kloster II, 5. Verschärfung und Lösung des Verlobungsproblems, 6. Wahl des Klosters, 7. 'Bekehrung' der Mutter, 8. Retardierender Konflikt mit dem Vater. Mielke-Vandenhouten (wie Anm. 1), S. 107-113.
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Das Prinzip des 'Doppelweges des Sünderheiligen' im Leben der Yolanda von Vianden ist insofern inhaltlich begründet, als Yolanda beim ersten Mal versucht, ihren Klostereintritt eindeutig mithilfe einer schweren Lüge bzw. eines eklatanten Vertrauensbruchs zu erzwingen: Yolandas Mutter lässt das Mädchen vor der Fahrt ausdrücklich versprechen, dass es keine dorheit da began werde (v. 1769), worauf ihre Tochter antwortet: „[...] sit gewis, / dat mir nyt gä ze dune enis / dekeiner hande missedät/noch irrecheit an üren rät [...]" (v. 1775-1778). Doch das Mädchen nutzt eine kurze Unaufmerksamkeit ihrer Mutter, um in die Küche zu rennen, ihr Haar abzuschneiden und das Ordenskleid anzuziehen. Sie wird von ihrer Mutter entdeckt, als sie in der Kirche unangekündigt im Nonnenchor singt. Im Gegensatz dazu wird das Einverständnis der Familie beim zweiten Eintritt besonders auffällig inszeniert: Yolanda nimmt während der Zeremonie von ihrer Mutter Abschied (sy knyde nider unde bat / urlof, v. 5812f.), bevor sie zu den Nonnen geht, ihr Opfer bringt, ihre professio spricht und mit ihnen singen darf.
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dem Yolanda eine Reihe von Gesprächen mit den Ratsmitgliedern führen muss. Das Strukturschema zeigt es deutlich: Diese (im Schema kursiv markierten) vier Ratsszenen werden im Text genutzt, um einige Redeszenen zu gruppieren, die als 'redundante Pausen' in der Handlung eingesetzt werden - Pausen, die dem Werk einen klaren Rhythmus geben und die Handlung an strategischen Stellen verlangsamen. Sie sind in ihrer Verbindung mit den dialogisierten Streitszenen zwischen Yolanda und ihrer Mutter die Träger der Struktur des Textes. Funktional lassen sich die Gespräche, die Yolanda führt, diesen strukturellen Aufgaben entsprechend in zwei Gruppen unterteilen: Diejenigen, die zu der Gruppe der Streit- und Überzeugungsgespräche gehören, vermitteln kaum Wissen über die Handlung, über früheres Geschehen oder Ähnliches. Sie sollen lediglich Yolandas Beständigkeit und ihr Leiden auf ihrem 'Passionsweg' darstellen. Dagegen treiben jene Gespräche, die unmittelbar mit der Handlung verbunden sind, das Geschehen grundlegend voran. Sie liefern Informationen, werden situationsbezogen geführt und vom Autor stilistisch je nach Gesprächspartner unterschiedlich gestaltet. Sie können daher genauso den Spott der Ritter, die Liebe des Vaters, Yolandas theologisches Konzept oder die Auseinandersetzungen zwischen Tochter und Mutter darstellen und sind Teil der jeweiligen auktorialen Informationsvermittlung. Abgesehen von dieser Zweiteilung erfüllen die Gespräche im Werk Hermanns jene Funktionen, die den Rezipienten der volkssprachlichen epischen Literatur des Mittelalters vertraut waren: Sie dienen zunächst der Charakterisierung der Figuren und zeigen Yolanda als eine beständige, doch ungeduldige selige Heldin, ihre Mutter als eine wütende und zornige Erzieherin und ihren Vater als einen sensiblen, jedoch zumeist überforderten Mann. Auch die Nebenfiguren zeigen ihre Persönlichkeit durch ihre Haltung während ihrer direkten Äußerungen: der standesbewusste, voreilige Bischof von Köln, der Domprobst als um Versöhnung bemühter, liebender Bruder Yolandas, die kluge Begine usw. Die Darstellung der Mönche und Nonnen dient außerdem der Charakterisierung ihrer Orden als Orte höchster Verweltlichung und zweifelhafter Frömmigkeit - z.B. als der Franziskaner Yolanda im Kloster eindeutig eine Liebesbeziehung verspricht:7 „ [...] du solt in gräwen orden gän: dat dunket mich vil baz gedän, dar mach ich kumen wol zu dir, wol bi dir sin und du bt mir, ich din, du min noch werden vrd" (v. 1169-1173),
oder als die Zisterzienser-Äbtissinnen sich mehrmals darüber empören, dass das Mädchen freiwillig auf Besitz und Wohlstand verzichten möchte.
7
Die Haltung dieses Franziskaner-Mönchs hat Bruder Hermann 40 Verse früher pauschal kommentiert: det her me dinge rehte, /der vrume sin? des swigen ich (v. 1128f.).
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Die Dialoge im Leben der Yolanda von Vianden v. 1-100
Einführung, Stammbaum
Erster Weg 1. Handlungsabschnitt: Yolandas kindlicher Entschluss Yolandas Berufung und Entscheidung für Marienthal Auseinandersetzung mit der Mutter Rat in Münstereifel Franziskanerbruder Friedrich (Bruder, zukünftiger Graf) 2. Handlungsabschnitt: Yolanda leidet unter ihrem weltlichen Lebensstil Yolandas erster Klostereintritt Auseinandersetzung mit der Mutter
v. 101-1076
v. 1077-1270
v. 1271-2657 Zweiter Weg
3. Handlungsabschnitt: Yolanda als Nonne in der Burg I Beratung mit der Begine Frau von Hengenbach Rat um Albertus Magnus und die Zisterzienser-Äbtissin Gespräch mit der Äbtissin von St. Thomas und dem Abt von Hymmenrot 4. Handlungsabschnitt: Yolanda als Nonne in der Burg II Verschärfung und Lösung des Verlobungsproblems Auseinandersetzung(en) mit der Mutter Rat in Schönecken, Ratsuche in Münstereifel bei verschiedenen 'Klosterleuten' Friedrich (zukünftiger Graf) Konrad (Bischof von Köln) 5. Handlungsabschnitt: Yolandas Leben als Nonne in der Burg III Probleme bei der Hochzeit des jungen Grafen Auseinandersetzung mit der Mutter (und der Schwägerin) Rat der Seelsorger in Vianden Gespräch der Mutter mit Walther Gespräche Mutter / Vater Gespräche Yolanda /Vater
v. 2658-3222
v. 3223-3708
ν. 3709^4389
v. 4390-4588
v. 4589^1910
('Bekehrung') v. 4911 -5486
6. Handlungsabschnitt: Yolandas zweiter Klostereintritt Versöhnung mit den Eltern
v. 5487-5917
Späteres Leben Yolandas, Schluss
v.5918-5963
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Einige Dialoge erfüllen außerdem eine didaktisch-illustrative Funktion: Die Redeszene mit der Begine ist ein lehrhaftes Beispiel besonnener Unterhaltung, die väterliche 'Liebeserklärung' des Grafen von Vianden ein Modell höfischer Gefühlsäußerung, die Gebete Ausdruck tiefen Glaubens und Gottesvertrauens usw. Hinzu kommt das Identifikationsangebot, das manche Dialoge vermitteln: Selbst wenn Bruder Hermann wahrscheinlich kaum wünschte, dass seine Rezipienten lernen, ähnlich zu streiten wie die Heldinnen seines Werkes, geben sowohl Yolandas Beständigkeit im Glauben und im Leiden als auch ihre Entscheidung für ein apostolisches Leben in Armut ein zeitgenössisches Beispiel 'moderner' Frömmigkeit, das im Werk immer wieder an das hagiographische Modell angelehnt wird. Wie in allen mittelhochdeutschen Romanen dienen die Redeszenen schließlich der Dramatisierung der Handlung. Sie erzeugen Spannung und vergegenwärtigen die dargestellten Ereignisse und Auseinandersetzungen. Im Leben der Yolanda von Vianden wird dieser Aspekt aufgrund des biographischen Charakters des Werkes besonders betont: Indem die Dialoge einen Eindruck von Unmittelbarkeit, von 'Realismus' vermitteln, unterstützen sie die Faktizität bzw. die Historizität des Inhalts. Sie sind (neben der Darstellung von Yolandas Stammbaum und den historisch und geographisch situierenden Angaben im Text) ein direkter Ort auktorialer Authentifikation für das als Biographie konzipierte Werk. Die Dialoge spielen eine weitere wichtige Rolle für die Analyse des Lebens der Yolanda von Vianden. Ich habe die Biographie der Yolanda mit verschiedenen zeitgenössischen Legenden verglichen, mit den Legenden Konrads von Würzburg, vor allem dem Pantaleon, und mit den Viten einiger heiliger Frauen aus dem Passional.8 Pantaleon ist ein männlicher, jedoch genauso 'geschwätziger' Legendenheld wie die weiblichen Heiligen. Der Anteil direkter Redeszenen im Werk ist höher als im Leben der Yolanda von Vianden (45%). Trotzdem spielen die Dialoge eine ähnlich strukturierende Rolle wie in unserem Text. Alle Szenen seiner vita sind nämlich parallel aufgebaut: Pantaleon missioniert redend, betet, wirkt Wunder und bekehrt, was den Zorn des Kaisers entfacht und meistens zu einem Streitgespräch führt. Selbst während der Marter bleibt dieses Handlungsprinzip bestehen: Fünfmal versucht der Kaiser, den Helden umzustimmen; Pantaleon betet und erlebt, wie Gott sein Gebet wunderbar erhört und ihn in der Marter schützt, woraufhin der Kaiser wütend wird. Allerdings ist Pantaleon in der Legende Konrads eine durch und durch schlüssige Figur. Seine Reden, seine Handlungen, aber auch die Äußerungen des Autors über den Heiligen stimmen immer überein. An keiner Stelle lässt sich inhaltlich oder stilistisch jene
Pantaleon von Konrad von Würzburg, hg. von Winfried Woesler, Tübingen 2 1974 (ATB 21); Das Passional, eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts, zum ersten Male hg. und mit einem Glossar versehen von Fr. Karl Köpke, Quedlinburg u.a. 1852, Nachdruck Amsterdam 1966 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 32) (Von sante Agneten einer iuncvrowen, S. 111-119; Von sante Katherinen einer iuncvrowen, S. 667-690).
Die Dialoge im Leben der Yolanda von Vianden
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Mehrstimmigkeit beobachten, die das Verhältnis zwischen Dialogen und auktorialen Kommentaren im Leben der Yolanda von Vianden charakterisiert. Das Gleiche gilt für die Viten der Agnes und der Katharina aus dem Passional - der beiden Heiligen, die Hermann selbst in seinem Werk mit Yolanda vergleicht.9 Beide Frauen entsprechen dem Typus der mittelalterlichen heiligen Frau ähnlich wie Yolanda: Beide stammen aus den edelsten Familien, sind schön und jung, stark, beständig und demütig; beide sind bereit, gegen ihre Familie und die heidnische Welt um ihren Glauben und ihre Jungfräulichkeit bis zum Äußersten zu kämpfen. Der Anteil der direkten Rede ist in beiden Werken zwar recht unterschiedlich (47% für Katharina, 29% für Agnes) - doch dies liegt daran, dass Katharina eine 'intellektuelle' Heilige ist, die mit der Hilfe des heiligen Geistes alle Weisen des Landes in einer disputatio schlägt bzw. bekehrt. Die Dialoge, die die eigentliche 'zentrale' Beschreibung ihres Lebens sogar dominieren (54%), dienen jedoch dem Beweis sowohl ihrer besonderen Redekunst als auch ihrer exemplarischen Bescheidenheit. Sie zeichnen, genau wie in der Legende des Pantaleon oder der Agnes, das Bild einer psychologisch in sich stimmigen Figur, die nicht nur durch ihre Beständigkeit im Glauben gekennzeichnet ist, sondern auch durch ihre Geduld und ihre Demut - durch alle Kämpfe hindurch geht Katharina immer davon aus, dass sie weder würdig noch in der Lage ist, Gottes Aufträge zu erfüllen. Darin liegt der größte inhaltliche Unterschied zwischen den Darstellungen Katharinas, Agnes' oder Pantaleons und Yolandas: Yolanda bleibt während aller Gespräche eine hochadlige Frau, die um ihre Macht und ihre Position weiß, und zwar nicht nur, wenn sie die Ritter ihres Vaters zum Schweigen bringt. Sie leidet, weil sie ungeduldig ist und nicht sofort zu ihrem Ziel kommt, und streitet wie eine stolze Frau. In der Szene, in der der Kaplan Yolanda ihr sündhaftes Verhalten vorwirft, thematisiert der Erzähler wie eben erwähnt sogar kurz dieses Problem. Doch um diese Darstellung auszugleichen, provoziert er in den wiederholten Kommentaren über die Geduld und die Ausdauer seiner Heldin auf ihrem 'Passionsweg' jene Mehrstimmigkeit, die bereits bei der Darstellung des Inhalts der Redeszenen zu beobachteten war: Er betont Yolandas Leiden und Beständigkeit immer wieder sehr deutlich. Offensichtlich rechnet er damit, dass seine Rezipienten diese Diskrepanz nicht nur verstehen, sondern auch akzeptieren - und dass sie sich vielleicht sogar als adlige Menschen damit identifizieren. Ich glaube nicht, dass Hermann mithilfe seiner das Verhalten und den Ausdruck der Protagonisten in den Dialogen zum Teil ausgleichenden Kommentare versucht, das Leben der Yolanda den Gattungstopoi der mittelalterlichen Legende inhaltlich anzugleichen10 - er 9 10
Vgl. v. 2140, 4255 und 4257. In der Forschung herrscht in Bezug auf die Gattungszuordnung des Lebens der Yolanda von Vianden eine erstaunliche Einheitlichkeit. Michele Backes nennt das Werk Vita der Yolanda von Vianden und vergleicht es inhaltlich mit anderen Frauenviten ihrer Zeit. Sie stellt zahlreiche Un-
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hätte die übertriebenen Reaktionen und Äußerungen seiner Heldin auslassen können." Im Fall der Yolanda liegt ein zeitgenössischer Beweis für diese Möglichkeit, das Leben der Heldin 'legendenkonformer' zu erzählen, sogar vor: Thomas von Cantimpre erwähnt das Leben der jungen Frau und ihren Eintritt ins Kloster in einem exemplum seines Bonum Universale de apibus. Er betont ihre hochadlige Herkunft, schildert die Auseinandersetzungen mit ihrer Familie und besonders ihrer Mutter um den ersten Klostereintritt, betont dabei, dass die Mutter nicht davor zurückschreckte, die Immunität des Klosters zu verletzen und ihre Tochter gewaltsam in die Burg zurückzubringen. Selbst die Erwähnung der Gespräche, die Yolanda mit Geistlichen führen muss, und ihr dreijähriges Warten auf den zweiten Klostereintritt stimmen mit dem Text Bruder Hermanns überein. Doch in Thomas' Version wird nur die Mutter attonita und furibunda: Yolanda schweigt (in direkt wie in indirekt geschilderten Auseinandersetzungen) zwischen dem ersten Klostereintritt und dem Ende des exemplum völlig. Dort heißt es dann: Dicebat enim verbis innitens Apostoli: In ea vocatione qua vocata sum, immobilis
permanebo.'2
Bruder Hermann hat keine Legende verfassen wollen: Er weiß schon zu Beginn seines Werkes genau, dass dieses sowohl stilistisch als auch inhaltlich der authentifizierenden Erzählhaltung der Legendenautoren streckenweise überhaupt nicht entspricht. Erstens ist Yolanda auf ihrem Leidensweg im Gegensatz zu den herkömmlichen Heiligen keineswegs 'austauschbar'. Anders als die in ihren Eigenschaften typisierten Heiligen im Passional zum Beispiel wird sie nicht nur durch ihre Herkunft, sondern auch durch ihr eigenes Verhalten und durch ihr Verhältnis zu ihren genauso als Persönlichkeiten dargestellten Angehörigen charakterisiert. Zweitens gestaltet Bruder Hermann sein Werk erzähltechnisch anders als die Autoren der mittelalterlichen legendenhaften Werken oder der LegendenSammlungen. Die außergewöhnlich hohe Anzahl direkter Redeszenen, die sehr personalisierte Darstellung der Heldin während dieser Gespräche, aber auch die literarischen An-
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terschiede zu diesen Legenden fest, die „auf entsprechende Unterschiede in Funktion und Zielpublikum schließen" lassen, betont jedoch, dass sich „für eine direkt mit dem Marientaler Kloster verbundene Funktion der Vita die meisten Anhaltspunkte" bieten und dass eine „enge Verbindung zur Frömmigkeitsbewegung [der] Zeit [...] hergestellt werden" kann (Backes [wie Anm. 1], S. 168-170). Catherine Hollerich beruft sich darauf, dass das Werk „während der folgenden vier Jahrhunderte keine Verbreitung außerhalb des Klosters Marienthal" erfuhr und erkennt in der lolande-Vita das dominikanische „Bedürfnis nach einer ordensinternen Identifikationsfigur" (Hollerich [wie Anm. 1], S. 53 und 61). Mielke-Vandenhouten ist in dieser Hinsicht vorsichtiger, ordnet das Werk „zwischen biographische und hagiographische Literatur" ein und spricht von einer Vita, die „den umfassenden Anspruch [der Gattung] nicht völlig erfüllt" (Mielke-Vandenhouten [wie Anm. 1], S. 335). Vgl. Thomae Cantipratani, S. Th. Doctoris, ordinis Praedicatorum, et episcopis suffraganei Camaracensis, Bonum Universale de apibus, Omni hominum statui tarn proelatis, quam subditis utilissimum Bonum Universale de apibus, hg. von Georgius Colvenerius, Duaci 1605, hier Kapitel 11.39, S. 318-320, zitiert nach Backes (wie Anm. 1), S. 190f. Ebd.
Die Dialoge im Leben der Yolanda von Vianden
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spielungen im Laufe des Werkes, 13 das absichtliche Verschweigen jeglicher Wunder oder wunderbarer Situationen in Yolandas Leben, die eindeutig 'agitatorischen', z.T. 'propagandistischen' Absichten mancher auktorialen Kommentare: All diese Elemente deuten darauf hin, dass die Redeszenen eine ähnliche Funktion bekommen wie die genaue geographische und historische Situierung der einzelnen Episoden, die Darstellung des weit zurückreichenden Stammbaums der Heldin im Prolog oder die Wahrheitsbeteuerungen des Autors. Im Leben der Yolanda von Vianden liefert die Analyse der Dialoge einen wichtigen Hinweis auf die Gattungszuordnung des Werkes. Sie zeigt, dass Bruder Hermann keine legendarische vita, sondern die der memoria
verpflichtete Biographie einer frommen,
aber selbstbewussten jungen Frau dichten wollte, die ihren Rezipienten und Auftraggebern weniger ein exemplarisches Verhaltensmuster traditioneller Heiligkeit als Unterhaltung und Informationen vermitteln sollte.
13
Vgl. Mielke-Vandenhouten (wie Anm. 1), S. 46 und 57. Der dort beschriebene Einfluss der höfischen Literatur auf Hermanns Werk (Züge des Pseudo-Gottfriedschen Marienpreises im Prolog, Anklänge einer Strophe Walthers und des wtp-vrouwe-Streites im Epilog) oder die Tatsache, dass Yolanda wie Gyburc in Wolframs Willehalm als marines herze in wives lif (v. 1861) dargestellt wird, müssten durch einen Vergleich der Dialoge im Leben der Yolanda von Vianden und im höfischen Roman des 13. Jahrhunderts ergänzt werden. Selbst wenn die meisten Heldinnen in den höfischen Romanen in ihren Redeabschnitten das Ideal der besonnenen, ruhigen Frau verkörpern, könnte Yolanda zum Beispiel mit Lavinia im Eneasroman (minne-Dialog) oder mit Obie in Wolframs Parzival verglichen werden. Deren „Swem ir iht Itht, der diene ouch daz / [...]. ine wil von niemen lehen hän [...]" klingt wie ein Vorläufer der Äußerungen Yolandas (Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung von Bernd Schirok, Berlin/New York 22003, v. 347,1-3). Ich bedanke mich bei Elke Ukena-Best, Martin Schuhmann und Cora Dietl für die freundlichen Hinweise.
Monika
Unzeitig
Konstruktion von Autorschaft und Werkgenese im Gespräch mit Publikum und Feder
I.
Propemptikon: Geleitworte des Autors an sein Buch
Der Autor spricht: Ohne mich gehst du, mein Büchlein, zur Stadt, und ich will es dir gönnen. Weh mir! Ist deinem Herrn doch diese Reise versagt. Geh denn, doch bar des Schmucks, wie es ziemt einem Buch des Verbannten.
Mit diesen Worten leitet der von seinem Princeps Augustus ans Schwarze Meer relegierte römische Dichter Ovid die Abschiedsrede an sein Buch ein, in 128 Versen nimmt er Abschied von dem fertiggestellten Werk, seinem Uber. Dies ist zugleich die Gelegenheit für eine poetische Selbstdarstellung. Ovid nutzt sie, die Entstehung und Güte des eigenen Textes vorzustellen - bereits mit Blick auf den künftigen Leser, diesen unterrichtend und leitend. Form und Aufmachung des Buchs, wie es aus der Hand des Autors hervor- und in fremde Hände übergeht, das wird bildhaft vorgestellt, um die Intention des Verfassers zu benennen und in eins damit seine eigene Stilisierung zu betreiben. In Tristia 1,11 heißt es weiter: 'Brüchiger Bimsstein soll dir die beiden Ränder nicht glätten, daß du recht struppig erscheinst wie mit verworrenem Haar. Brauchst dich auch nicht deiner Flecke zu schämen: es wird dann ein jeder, der sie erblickt hat, sehn, daß ich beim Schreiben geweint! Geh Buch!'
Ohne Schmuck und Politur fehlt - wie hier anschaulich beschrieben - der präsentierten Buchrolle das ordentliche und ansehnliche Äußere eines schönen Exemplars, und so repräsentiert sie für den Leser und an dessen Ort den fernen Verfasser, dient als Zeugnis und Spiegel für Ovids Autordasein in kulturloser Ferne. Ovid ist in der lateinisch-antiken Dichtung nicht der Einzige, der ein eigenes Werk mit einem Geleitwort verabschiedet und sich in den Abschiedsworten sowohl über Charakter und künftiges Ergehen seines Buches wie über sich, den Poeten, selbst mit Worten so deutTextausgabe: Publius Ovidius Naso, Briefe aus der Verbannung. Tristia. Epistulae ex Ponto. Lateinisch und deutsch, übertragen von Wilhelm Willige, eingeleitet und erläutert von Nikolaus Holzberg, München/Zürich 1990, Tristia, 1,1.
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lieh auslässt.2 Auf ähnliche Weise imaginiert etwa Horaz am Ende des ersten Buchs seiner Epistulae,3 wie diese - durch Mottenfraß angegriffen und abgegriffen von den Fingern der Menge - langsam in den Vorstadtgassen verkommen, äußert aber zugleich die Hoffnung, trotz dieses Bücherschicksals als Dichter nicht selbst in Vergessenheit zu geraten. Mit dem Imperativischen 'auf den Weg' trennt sich der Autor von seinem Werk und rückt es, vorgestellt als Buch, in eine deutliche räumliche Distanz. Und wie Horaz betont, ist dann eine Rückkehr des Buches zum Autor nicht mehr möglich: 'Einmal hinaus, so ist kein Wiederkommen'. 4 Eine dilemmatische Situation: Denn einerseits muss der Autor sein Werk in schriftlicher Form publik machen, auf dass es rezeptionstauglich ist und damit eine Rezeption stattfindet, andererseits kann der Autor nicht mehr unmittelbar den Gang und die Art und Weise der Rezeption lenken, sondern darf auf wohlwollende Aufnahme nur noch hoffen. 5 Da sich das fertige verschriftlichte Werk der Einflussnahme des Autors entzieht, bilden Propemptika die letzte Möglichkeit, dem Buch als Stellvertreter des Autors Aufträge oder doch Wünsche mit auf den Weg zu geben, sind sie der letzte Versuch, das Rezipientenverhalten textstrategisch zu steuern. In der deutschen Literatur um 1200 lässt sich diese Form des Propemptikons nur bei Thomasins von Zerklaere Wälschem Gast finden. Am Ende seiner über 14000 Verse schickt der Autor sein Buch mit den Worten in die Welt: nu var hin, weihischer gast (v. 14685).6 Der gelehrte Autor greift also ein aus der Antike tradiertes Motiv oder Modell auf.7 Wie bei seinen prominenten Vorgängern evoziert die Abschiedsrede die Vorstellung 2
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6
7
Vgl. Siegfried Besslich, „Anrede an das Buch. Gedanken zu einem Topos in der römischen Dichtung", in: Beiträge zur Geschichte des Buches und seiner Funktion in der Gesellschaft. Festschrift Hans Widmann, hg. von Alfred Swierk, Stuttgart 1974, S. 1-12. Textausgabe: Horaz, Sämtliche Werke. Lateinisch-deutsch, Teil I: Carmina, Oden und Epoden, nach Kayser, Nordenflycht und Burger hg. von Hans Färber, Teil II: Sermones et Epistulae, übersetzt und zusammen mit Hans Färber bearbeitet von Wilhelm Schöne, München 1957, hier Epistulae 1,20. Horaz, Epistulae 1,20: non erit emisso reditus tibi. Hier in der Übersetzung von Wieland: Horazens Briefe, aus dem Lateinischen übersetzt und mit historischen Einleitungen und andern nöthigen Erläuterungen versehen von Christoph M. Wieland, Dessau 1782, Nachdruck Nördlingen 1986. Vgl. auch Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995, S. 21 Of. Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, hg. von Heinrich Rücken, mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann, Berlin 1965. Während für die mittelhochdeutsche Literatur nach meiner Kenntnis die Verwendung des Propemptikons nicht nachweisbar ist (erst Zusatz in Sebastian Brants Ausgabe von 1508 der Bescheidenheit in Ergänzung zu Freidanks Text), lassen sich in der mittellateinischen Literatur durchweg Belegstellen finden; so verweist Rocher auf John of Salisbury, Policraticus, den Thomasin gekannt haben dürfte, vgl. Daniel Rocher, „Die Ars oratoria des Thomasin von Zirklaere in seinem 'Wälschen Gast'", in: Thomasin von Zirklaere und die didaktische Literatur des Mittelalters. Beiträge der Triester Tagung 1993, hg. von Paola Schulze-Belli, Triest 1996, S. 63-77, hier S. 63f. In diesem Kontext sollte auch besondere Beachtung finden: Sidonius, Carmen XXIV: Propempti-
Konstruktion von Autorschaft und Werkgenese im Gespräch mit Publikum und Feder
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des Buches sehr präzise und für den Leser greifbar. 8 Ebenso traditionell bedient sich das Geleitwort der Wegmetaphorik und formuliert sowohl den Wunsch nach der richtigen und günstigen Aufnahme wie zugleich die Sorge darüber, dass sich die weitere Reise des Buches einer unmittelbaren Einflussnahme des Verfassers entziehe: dich sol ein biderbe man müezecltchen an gesehen: sitze üf sin schöz, daz hab ze lehen. vrume ritr und guote vrouwen und wise phaffen suln dich schouwen. ob dich begriff ein bcesewiht, so habe des dehein angest niht, daz er dich lange getürre sehen. ich mac des harte wol gejehen, daz er an dir siht, daz im tuot vil wundernwe in sinem muot. so wirfet er dich in ein schrin. (v. 14692-14703) Im zeitnahen Umfeld der volkssprachlichen höfischen deutschen Literatur bietet kein Autor eine so explizite Ausgestaltung des eigenen abgeschlossenen Werkes als geschriebenes Buch. 9 Eine Ausnahme bilden vielleicht die Anfangsverse des Wigalois Grafenberg.
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des Wirnt von
Es fehlt überhaupt in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur nach Vel-
deke die Bezeichnung buoch für das eigene Werk; vielmehr dient buoch zur Angabe der schriftlichen literarischen Quelle." Das ist ein auffälliger Befund, da die volkssprachliche
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con ad libellum, vgl. Textausgabe: Sidoine Apollinaire, hg. von Andre Loyen, Bd. 1: Poemes, Bd. 2-3: Lettres, Paris 1960, 1970, hier Bd. 1, Carmen XXIV, v. 1-101. Sidonius gehört neben Cicero und Quintilian zu den Autoren, die Thomasin als Vorbilder der Rhetorik vorstellt, vgl. v. 8945-8948 (unten, Anm. 35). Daher darf eine genaue Lektüre dieses Autors vorausgesetzt werden. Vgl. v. 14694: sitze ufsin schdz und v. 14703: so wirfet er dich in ein schrtn. Vgl. hingegen die Formulierung bei Thomasin: min buoch (mit Possessivpronomen), v. 128, 140, 1174, 14633, 14673, 14704, 14739, sowie mit Titelgebung: Min buoch heizt der weihisch gast, v. 14681. Textausgabe: Wigalois der Ritter mit dem Rade von Wirnt von Gravenberc, hg. von Johannes M.N. Kapteyn, Bd. 1: Text, Bonn 1926 (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 9), v. 1-20. Vgl. dazu Klaus Düwel, Werkbezeichnungen der mittelhochdeutschen Erzählliteratur (1050-1250), Göttingen 1983, S. 197 und insbesondere S. 202f. Vgl. auch Klaus Grubmüller, „Das buoch und die Wahrheit. Anmerkungen zu den Quellenberufungen im Rolandslied und in der Epik des 12. Jahrhunderts", in: bickelwort und wildiu mssre. Festschrift für Eberhard Neilmann, hg. von Dorothee Lindemann, Berndt Volkmann und Klaus-Peter Wegera, Göppingen 1995 (GAG 618), S. 37-50, hier S. 46. - Dem oben festgestellten Befund, dass die Autoren der mittelhochdeutschen höfischen Literatur ihr Werk nicht als buoch bezeichnen, könnten die Schlussverse (v. 3989-3991) des Gregorius von Hartmann von Aue widersprechen: Hartman, der sin arbeit / an diz buoch hat geleit / gote und iu ze minnen, vgl. Hartmann von Aue, Gregorius, hg. von Hermann Paul, neu bearbeitet von Burghart Wachinger, 14., durchgesehene Auflage, Tübingen 1992 (ATB 2). Allerdings halte ich wie Düwel, S. 83, aufgrund der handschriftlichen Überlieferung diese Formulierung für eine mögliche später zugefügte Schreibervariante.
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Literatur um 1200 als eine schriftlich produzierte gilt. Auch dass die Belege für die Vorstellung eines schreibenden Autors in der deutschen höfischen Dichtung so spärlich sind, widerspricht unserer Erwartung.12 Offensichtlich ist die Annahme falsch, dass Literatur, die im Kontext von Schriftkultur entsteht, auch zwangsläufig diese Schriftlichkeit in der poetischen Selbstdarstellung abbildet.13 Vielmehr ist zu vermuten, dass Literatur, die schriftlich verfasst ist, in einem hohen Maße neben ihrer Entstehung auch ihre Gebrauchssituation, ihre mediale Vermittlung thematisieren und reflektieren kann. Für die mittelhochdeutsche Literatur ist dies der Fall: Die Aufführungssituation bildet den Kontext, in dem Autorschaft thematisiert wird. Dementsprechend werden Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Hinblick auf ihre kommunikative Funktion im literarischen Text eingesetzt; dies bezieht sich sowohl auf die Gebrauchssituation von Literatur als auch auf die Redekonstruktion im Text und den damit verbundenen kommunikativen Duktus. Diese Überlegung soll näher erläutert werden.
II.
Werkphasen (Zumthor) und Schriftlichkeit / Mündlichkeit (Oesterreicher)
Zum einen lassen sich die Prädikate 'schriftlich' und 'mündlich' den realhistorischen Bedingungen für Dichtung im mittelalterlichen Literaturbetrieb zuordnen. Paul Zumthor 14 hat dafür ein Beschreibungsmodell entwickelt, das die Werkgenese als Abfolge verschiedener „operations" darstellt: Produktion („production") - Übermittlung („transmission") und Rezeption („reception") als Performanz - Aufbewahrung („conservation") - Wiedergebrauch („repetition"). In der Addition dieser Phasen konstituiert sich das Werk in seiner Gesamtheit. Mündlichkeit und Schriftlichkeit sind allerdings, dem Texttyp entsprechend je unterschiedlich, mit den einzelnen „operations" zu verknüpfen; so kann zum Beispiel ein 12
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Auch die umfangreiche Sammlung von Belegstellen zu Schriftlichkeit in mittelalterlicher Literatur, die Ulrich Ernst vorlegt, erbringt nicht den Nachweis für die Vorstellung des schreibenden Autors in der deutschsprachigen Literatur, vgl. Ulrich Ernst, „Formen der Schriftlichkeit im höfischen Roman des hohen und späten Mittelalters", in: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), S. 252-369. Anders die Entwicklung in der altfranzösischen oder mittelenglischen Literatur. Zu den Möglichkeiten der Inszenierung als erzählender oder schreibender Autor vgl. die Ergebnisse meiner Untersuchungen im Rahmen meiner Habilitationsschrift: Autorname und Autorschaft. Zur Bezeichnung und Konstruktion von Autorschaft in der deutschen und französischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts (erscheint 2007 in der Reihe MTU). Paul Zumthor, „Le texte medieval entre oralite et ecriture", in: Exigences et perspectives de la semiotique. Recueil d'hommages pour Algirdas Julien Greimas, hg. von Herman Parret und Hans-George Ruprecht, 2 Bde., Amsterdam 1985, Bd. 2, S. 827-843, hier S. 829.
Konstruktion
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schriftlich verfasstes Werk in der mündlichen Vermittlung weiter tradiert, eine Erzählung aus der mündlichen Tradition erst in der Phase der Aufbewahrung verschriftlicht werden. Aufbauend auf dieser Ausdifferenzierung der Werkphasen in Produktion, Performanz und Aufbewahrung sowie Wiedergebrauch lässt sich nachvollziehen, dass der mittelalterliche Autor für seine Vorstellung von Autorschaft Stufen der Werkgenese auswählen und thematisieren kann. Verbindet ein Autor seine namentliche Selbsterwähnung mit der Bitte um Gebet für sein Seelenheil bei künftigen Rezipienten, so tut er dies im Hinblick auf den Wiedergebrauch des Werks und setzt das fertige Werk sowie eine schriftliche Tradierung voraus. Nur das abgeschlossene, schriftlich aufbewahrte Werk kann über den Tod des Autors hinaus Zeugnis geben von seinem Verdienst und damit für potentielle zukünftige Rezipienten Anlass sein, seiner Bitte um Fürsprache bei Gott nachzukommen. Die Autorinszenierung eines Wolfram von Eschenbach benutzt hingegen die performative Übermittlungssituation, um einen Autor in der Vortragsrolle des 'Ich, Wolfram' gegenüber einem fingierten Publikum zu präsentieren. Die Thematisierung von Autorschaft ist also keineswegs an das Werk in seiner Schriftlichkeit oder seiner Mündlichkeit bzw. an eine bestimmte Werkphase gebunden, sondern je nach Intention kann ein Teilaspekt der Werkgenese den Kontext für die poetische Selbststilisierung liefern. Zum anderen ist zu überlegen, wie schriftlich verfasste Literatur Schriftlichkeit und Mündlichkeit als Kommunikationskonzepte einsetzt und damit auf die literarische Gebrauchssituation reagiert. Im Anschluss an die sprachtheoretischen Ausführungen von Wulf Oesterreicher15 lassen sich Schriftlichkeit und Mündlichkeit als kommunikative Distanz und kommunikative Nähe beschreiben. Diese Kategorien beziehen sich sowohl auf die mediale Differenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit als auch auf konzeptionell gebrauchte bzw. hergestellte Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Die Merkmalsbestimmung von kommunikativer Distanz und Nähe für Schriftlichkeit und Mündlichkeit kann auch auf die literarische Ausgestaltung des Verhältnisses von Autor, Werk und Rezipient übertragen werden: Stellt sich ein Autor mit seinem abgeschlossenen, schriftlichen Werk vor, so bedeutet die Schriftlichkeit seiner Dichtung für die Vermittlung die räumliche und zeitliche Distanz gegenüber seinen künftigen Rezipienten. Eine unmittelbare Kommunikation zwischen Autor und Rezipienten findet nicht statt; das Buch übernimmt eine Stellvertreterfunktion - so wie bei Ovid. Nutzt der Autor hingegen die Vortragssituation mit räumlicher Nähe von Vortragendem und Publikum für seine Autorkonstruktion, so erlaubt diese elaborierte16 Mündlichkeit, 15
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Wulf Oesterreicher, „Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit", in: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter, hg. von Ursula Schaefer, Tübingen 1993, S. 267-292. Vgl. zur Begrifflichkeit Peter Koch und Wulf Oesterreicher, „Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte", in: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15-43, hier S. 30.
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eine räumliche und zeitliche Nähe, einen direkten kommunikativen Kontakt zum Publikum vorzuführen. Das literarische Werk kann gestaltet werden als ein erst im Prozess des Vortrage entstehendes opus.
III.
Dialog mit Publikum und Äventiure: Hartmann von Aue, Rudolf von Ems
Dass die mittelhochdeutsche Literatur die Aufführungssituation im höfischen Roman für narratologische Konzepte nutzt, muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Die mündliche Vermittlung durch einen Erzähler für ein anwesend gedachtes Publikum bildet die Grundlage für die textinterne Redekonstruktion, die einen Sprecher und Hörer voraussetzt. Dem Sprecher-Ich korrespondieren Adressaten, die in der Regel mit einem kollektiven iuch, ir bezeichnet werden. Bei dieser Konstellation ist allerdings zu unterscheiden, ob ein Erzähler eine Geschichte vorträgt oder aber s e i n e
Geschichte zum Besten gibt, der Er-
zähler also auch der Autor ist. So führt Wolfram von Eschenbach in seinem Parzival ein Sprecher-Ich ein, das sich namentlich als Wolfram von Eschenbach und Verfasser seiner äventiure vorstellt. Ausdrücklich wird sein Tun mit dem Prädikat sprechen bezeichnet 17 ein Verb der Mündlichkeit also wird zur Signatur für Autorschaft. Überhaupt fällt in der Entwicklung der deutschsprachigen (im Gegensatz zu der altfranzösischen) höfischen Literatur auf, dass die Autoren ihre Autorschaft bevorzugt im Kontext der Aufführungssituation und dort insbesondere in fingierten Redeszenen vorstellen. 18 Die Verbindung von Erzähler als Vortragendem und als Autor gelingt gerade in jenen Textpassagen eindrücklich, die dialogisch gestaltet sind, wie in Hartmanns Artusromanen. Gemeint sind die prominenten Dialogsituationen, in denen sich ein Zuhörer bzw. die Dame Minne in den Erzähl Vorgang einmischen und den Erzähler namentlich mit
„Hartman"
anreden, so im Erec: „nü swic, lieber Hartman: / ob ich ez errate?" (v. 7493f.) und im Iwein: „dune hast niht war, Hartman" (v. 2982). 19 Die Einwürfe der Dialogpartner unter-
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Textausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung von Bernd Schirok, Berlin/New York 2 2003, v. 1,29; 115,24; 827,12f.; 827,28. Vgl. weiterführend Monika Unzeitig, „Von der Schwierigkeit, zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden. Eine historisch vergleichende Analyse zu Chretien und Hartmann", in: WolframStudien 18 (2004), S. 59-81, hier S. 67-81. Textausgaben: Erec von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Auflage besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39); Hartmann von Aue,
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brechen den Vorgang der mündlichen Vermittlung und fordern in dem einen Fall eine eigenständige Fortsetzung des Erzählens der Geschichte, im anderen eine Korrektur des Erzählten. Durch beide Einreden wird die Illusion erzeugt, als sei der Autor im Akt des Erzählens anwesend und der Vorgang des Verfassens könne beeinflusst werden. Natürlich wird der fabulierfreudige Zuhörer in seine Schranken gewiesen, als Dilettant diskreditiert und die Autorkompetenz nur umso deutlicher herausgestellt.20 Die Autorinszenierung hat ihren Platz also in einer fingierten personenbezogenen Aufführungssituation, 21 die eine unmittelbare Kommunikation zulässt. Hartmann von Aue ist der erste der höfischen Autoren, der - übrigens ohne Vorbild bei Chretien - diese dialogische Autorvorstellung verbunden mit einer namentlichen Anrede entwirft. Rudolf von Ems greift in seinem Willehalm von Orlens diese Dialogkonstruktion wieder auf. Der Liebesroman ist sicher schriftlich verfasst,22 die Gestaltung der Eingangsakrosticha zu den Kapitelabschnitten bezeugen eine mögliche Buchlektüre. - Dennoch: Mit Vers 17 stellt sich das Sprecher-Ich einem erwartungsvollen, kritischen Publikum in der Aufführungssituation vor.23 Wis ich nu ob ieman her Dar uf war komen das er Hie saze mit spotlichen sitten, Den wolt ich vil gerne bitten Das er gerächte gan hin dan (ν. 17-21).
Im Anschluss folgt die Schilderung der Sorge, ob der Vortrag denn auch gelingen werde. Hier tritt ein zögerlicher, ängstlicher Erzähler entgegen, der seine Aufgabe von den prekären pragmatischen Bedingungen bedroht sieht. Der Erzählvorgang wird auch mehrfach
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Iwein, Text der siebenten Ausgabe von Georg F. Benecke, Karl Lachmann und Ludwig Wolff, Übersetzung und Anmerkungen von Thomas Cramer, dritte, durchgesehene und ergänzte Auflage, Berlin/New York 1981. Vgl. dazu ausführlich Johannes Singer, ,,'nü swic, lieber Hartman: ob ich ez errate?' Beobachtungen zum fingierten Dialog und zum Gebrauch der Fiktion in Hartmanns 'Erec'-Roman (7493-7766)", in: Dialog. Festschrift für Siegfried Grosse, hg. von Gert Rickheit und Sigurd Wichter, Tübingen 1990, S. 59-74, hier S. 64; Nine Miedema, „Stichomythische Dialoge in der mittelhochdeutschen höfischen Epik", in: Frühmittelalterliche Studien (im Druck). Vgl. dazu auch in der Dialogszene zwischen Minne und Hartman den fingierten Augenkontakt, Iwein, v. 2981: si sprach, und sach mich twerhes an. Textausgabe: Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens, hg. aus dem Wasserburger Codex der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von Victor Junk, 2. unveränderte Auflage, Berlin 1905, Nachdruck Frankfurt a.M. 1967 (DTM 2). Vgl. dazu ausführlich jetzt Franziska Wenzel, „Schwierige Performanz. Ein Versuch über die pragmatischen Bedingungen literarischer Kommunikation im 'Willehalm von Orlens' des Rudolf von Ems", in: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, hg. von Ludger Lieb und Stephan Müller, Berlin/New York 2002, S. 219-243.
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unterbrochen, aber weniger durch ungehörige Zuhörer als vielmehr durch das Werk selbst. Zu Beginn des zweiten Kapitels interveniert die Aventüre:74 „ [...] Ich bin du Aventüre, Diu des mit flehelichen Sitten Wil die ere gernden bitten Das si mich niht verkeren Unde minen maister lerin, Der mich biz her getihtet hat, Ane spot so wisen rat, Das er mich voilebringe [...]." (v. 2152-2159)
Das Publikum soll den Erzähler dazu bewegen, sie, die Aventüre, zu 'vollbringen'. Die Einrede erfolgt also in der Aufführungssituation mit einem anwesend gedachten Publikum. Im weiteren Verlauf der Rede wendet sich die Aventüre direkt an ihren Verfasser, spricht ihn namentlich als „Rudolf" an: „ [...] Rudolf, nu sprich du mich / Und sage der msere mere von mir [...]" (v. 2164f.). Mit dieser namentlichen Anrede und der Bitte um Fortsetzung des Werks ist der bisher namenlose Sprecher als Verfasser exponiert. Die Unterbrechung des Erzählvorgangs, vordergründig als Störung zu verstehen, dient dazu, die Autorkompetenz und Legitimation des Erzählers Rudolf durch die Aventüre selbst vorzustellen. Sie bezeichnet ihn als „minen maister" und verlangt von ihm weitererzählt zu werden. Rudolf kommt dieser Aufforderung nicht unmittelbar nach, sondern setzt zu einer ausführlichen Rede an, in der er die eigene Unfähigkeit betont und alternativ in einem langen Katalog die Kollegen anführt, die die geforderte Aufgabe besser bewältigen könnten. Dazu passt, dass der Dialog von Seiten der Aventüre in der Du-Rede geführt wird, Rudolf diese aber ihrzt. Der Redezusammenhang gibt vor, dass die Erzählung, die Aventüre, noch nicht fertig und unbedingt Rudolfs Weiterarbeit vonnöten sei. Der Dialog bildet auf diese Weise die Fiktion einer Autorpräsenz und eines im Erzählprozess entstehenden Werkes. Damit wird die Schriftlichkeit des Verfassens ausgeblendet und suggeriert, dass die Vorgänge des Vortragens und Verfassens parallel stattfinden, als sei das Werk ein opus in fieri. Die Unterbrechung im Erzählen ist aber nicht nur eine Verzögerung des Erzählvorgangs, sondern thematisiert auch die Schwierigkeit literarischer Produktion, die latente Vorstellung vom Scheitern des Autors im Akt des Erzählens. Erst in dem zu Beginn des fünften Kapitels, also im Schlussabschnitt, eingefügten Dialog ist die Unsicherheit des Autors einem souveränen Umgang mit dem Ausgang der Geschichte gewichen: „Rudolf, nu waist du wol, ich han Disiu mare an dich gelan Und han des gar bewarot dich
24
Vgl. auch Jacob Grimm, Frau Aventiure klopft an Beneckes Tür, Berlin 1842 (erneut abgedruckt in: ders., Kleinere Schriften, Bd. 1, Berlin 1864, S. 83-111), insbesondere S. 8 9 - 9 2 und 94.
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Wie du solt berihten mich." 'Das ist war. ich wais vil wol Wie ich dich berihten sol. [...]' (ν. 12241-12246)
Diese kurze Skizze zu Hartmann von Aue und Rudolf von Ems sollte zeigen, dass gerade die Literaturproduktion, die tatsächlich schriftlich erfolgt, einen Kontext zur Thematisierung von Autorschaft wählt, der sich durch Mündlichkeit bestimmt. Dafür wird nicht nur der Autor in der Rolle des Erzählers vorgestellt, sondern auch der Vorgang des Verfassens simultan zum Vorgang des Vortragens gesetzt. Die literarische Produktion ist unter den pragmatischen Bedingungen der Aufführungssituation zum Gegenstand gemacht.
IV.
Dialog mit der Feder: Thomasin von Zerklaere
Nach diesen Ausführungen zur Inszenierung von Autorschaft im Kontext mündlicher Kommunikationsbedingungen komme ich auf Thomasin und seinen Wälschen Gast zurück. Thomasin versteht sich als belehrender, moralisierender Autor. So ist er kein Erzähler arthurischer oder antiker Geschichten, aber sehr wohl ein ausgezeichneter Literaturkenner25 eben dieser Literatur seiner wie auch der antiken Zeit. Auch er weist dem Autor-Ich eine Sprecherposition gegenüber einem hörenden Publikum zu. Dabei geht es für ihn nicht wie in der höfischen erzählenden Literatur darum, einen Erzähler in einer Vortragssituation mit seiner Erzählung zu präsentieren, sondern die Vortragssituation zur didaktischen Vermittlung zu nutzen. Das Sprecher-Ich appelliert an ein kollektives Publikum. 26 Die stark Ich-betonte Redeweise ist ermahnend, hinweisend, erklärend.27 Auch wenn schon einleitend das Werk als Buch bezeichnet wird, das Sprecher-Ich als sein Autor auftritt,28 so dominiert durch die wiederholten direkten Anredeformen, durch die Betonung des 'nun' eine den mündlichen Bedingungen entsprechende Vortragssituation.29 Die rhetorische Vermitt-
25
26
27
28 29
Vgl. Klaus Düwel, „Lesestoff für junge Adlige. Lektüreempfehlungen in einer Tugendlehre des 13. Jahrhunderts", in: Fabula 32 (1991), S. 67-93. Die Anredeformen sind ebenfalls iuch oder ir; z.T. in besonders stark affektbetonten Appellen auch an bestimmte Personentypen gerichtet, z.B. den Wucherer. Siehe auch Christoph Huber, „der werlde ring und was man tuon und lassen schol. Gattungskontinuität und Innovation in moraldidaktischen Summen: Thomasin von Zerklaere - Hugo von Trimberg - Heinrich Wittenwiler und andere", in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hg. von Walter Haug, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 187-212, hier S. 204. Vgl. v. 128: swenn dir min buoch kumt ze hant. Vgl. dazu auch Friedrich Ranke, Sprache und Stil im Wälschen Gast des Thomasin von Berlin 1908, S. 105f.
Circlaria,
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lung der Lehre ist deutlich hörerorientiert angelegt. Besonders auffällig ist daher, dass das Sprecher-Ich, namentlich Thomasin, diesen Vortragsgestus zu Beginn des neunten Teils aufgibt und damit die vortragende Vermittlung unterbricht. Der Abschnitt setzt ein mit der Klagerede der Feder über die unmäßige Schreibarbeit (v. 12222-12270); darauf folgt die Verteidigung des Autor-Ichs (v. 12271-12350). 30 Über diesen Dialog öffnet Thomasin ein Zeitfenster und gestattet den Blick in die Schreibwerkstatt. Er hebt so die Illusion auf, dass Vortragen und Verfassen in zeitlichem Gleichschritt stattfänden. Der Sprechakt, der mündliche Vortragsstil, suggeriert ja eine scheinbare zeitliche Parallelität für die dichterische Produktion und die hörende Rezeption. Mit der dialogischen Unterbrechung wird hingegen der Schreibakt in seinem deutlich länger währenden Verlauf zum Thema gemacht. Dem Tempo des Sprechaktes steht kontrastierend das Tempo des Schreibaktes gegenüber. In einem weit gedehnteren Zeitraum sind der Vorgang des Verfassens und der Vorgang des Schreibens koordiniert: Der formalen Einteilung des
fäl-
schen Gastes in zehn Teile entspricht eine Zeitspanne von zehn Monaten des Schreibens (v. 12278-12282). Die Gliederung in zehn Teile ist ebenso planvoll angelegt wie der Arbeitsplan für das Verfassen und Schreiben, der für einen Monat die schriftliche Produktion eines Teiles vorgibt. Eben diese Einsicht vermittelt der zu Beginn des neunten Abschnittes eingeschaltete Dialog zwischen der Schreibfeder und dem schreibenden Autor-Ich. Denn anders als die im Vortrag erfahrbare Dauer des Sprechaktes ist die Dauer des Schreibens nicht unmittelbar kommunizierbar. Die Selbststilisierung des Autors ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. In der Klagerede der Feder wird der Vorwurf formuliert, der Autor sei maßlos, übertreibe das Arbeitspensum, quäle über die Maßen die Feder, versinke in seinen Gedanken und führe ein isoliertes, d.h. ganz und gar unhöfisches Leben, da er auf die Gesellschaft am Hofe verzichte. Anschaulich entsteht ein Szenario der Schreibarbeit in den Wintermonaten, hinter zugesperrten Türen, nächtens bei Kerzenlicht. In der Gegenrede wird die Maßlosigkeit als diszipliniertes Arbeiten erklärt und mit der Notwendigkeit des konzentrierten Abfassens begründet. Das Werk entstehe keineswegs zum Vergnügen, denn dann wäre es wohl erst in fünf Jahren fertig, sondern aus einem moralischen Impetus heraus. Die Zurückgezogenheit von der höfischen Öffentlichkeit ist Grundlage für die Produktivität. Die so dialogisch inszenierte Selbstvorstellung des Autors überträgt die von Quintilian in seiner Rhetoriklehre dargelegten Empfehlungen zum richtigen 'Vorgehen beim Schreiben' (Quo modo
30
Die Unterbrechung des Vortragsgestus geschieht unvermittelt durch den Dialog zwischen Schreibfeder und Autor-Ich. Gleichwohl ist das Gespräch durch thematische Bezüge mit dem Lehrvortrag, dem Haupttext, verknüpft. Der Vorwurf der Feder über die unmäßige Schreibarbeit greift den Aspekt der mäze aus dem vorhergehenden Abschnitt auf und die Replik des Autor-Ichs führt über in die sich anschließenden Ausführungen zu reht und unreht.
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scribendum sit, 10. Buch).31 Anders als das zu schnelle Tempo beim Diktieren und die störende Anwesenheit eines Schreibers, der das Diktat aufnimmt, biete das eigenhändige Schreiben durch die damit einhergehende Verlangsamung 32 und durch das Alleinsein33 die nötige Ruhe, Gedanken angemessen und genau zu formulieren. Außerdem sei auf Ablenkung zu verzichten; der ideale Ort sei daher nicht die freie Natur, sondern die Abgeschiedenheit: die Zurückgezogenheit im verschlossenen Gemach, nächtliche Stille und der Schein der Lampe begünstigten des Schreibenden Arbeit.34 In dem Abschnitt über die artes setzt Thomasin explizit Quintilian zu den großen Rhetorikern neben Cicero und Sidonius.35 Der Autor stellt sich implizit durch die regelhaft adäquate Selbststilisierung als schreibender Autor in die Nachfolge seiner rhetorischen Lehre. Die Unterbrechung des Rezeptionsvorgangs und auch des Schreibvorgangs durch den Dialog mit der Feder bietet die Gelegenheit vorzuführen, dass die bis Teil 8 als spontan mündlich präsentierte Rede nur auf der Grundlage von Schriftlichkeit möglich ist. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Autor zwischen den einzelnen Werkphasen bewusst unterscheidet und sein rezipientenorientierter Vortragsstil hergestellte 'rhetorische' Mündlichkeit ist. Die Feder beklagt mehrfach den Rückzug des Autors vom gesellschaftlichen, höfischen Leben, sie sagt: „ [...] du bist wordn ein kldsenxre. do du dä ze schuole wasre, do muotestu mich niht so hart. dtn tor ist über tac gespart: sag an, waz ist dir geschehen? du wil vrowen noch riter sehen. [...]" (v. 12255-12260)
Die Antwort des Autors nimmt dies auf und argumentiert, dass Dichtung nur in räumlicher Distanz zu den zukünftigen Adressaten entstehen könne. Die Einsamkeit beim Schreiben sei notwendig, auch im Hinblick darauf, dass jetzt das geschrieben, was später rezipiert werde. Das heißt, die Rechtfertigung des unhöfischen Verhaltens gegenüber der Gesellschaft kann mit Blick auf die folgende Rezeption und ihre Nützlichkeit für eben diese Gesellschaft erfolgen. Die kommunikative Distanz, die im Prozess des Schreibens erforderlich ist, wird wiederum in der Rezeptionssituation durch die suggerierte kommunikative Nähe der Mündlichkeit kompensiert: '[...] daz ich spreche wol / daz in beden [riter unde 31
32 33 34 35
M. Fabius Quintiiianus, Institutio oratoria X. Lehrbuch der Redekunst, 10. Buch, Lateinisch / Deutsch, übersetzt, kommentiert und mit einer Einleitung hg. von Franz Loretto, Stuttgart 1974 (RUB 2956/2957). Vgl. ebd., S. 83 und 89. Gemeint ist ohne Augenzeugen, ebd., S. 91. Vgl. ebd., S. 91 und 93. Vgl. v. 8945-8948: Rethoricä diu hat niht gar /an vrume liute bewist ir schar, / die besten wären Tulljus / Quintiljan, Stddnjus.
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frouwen] vrumen sol [...]' (v. 12323f.)· Die Vorwürfe in der Rede der Feder zur Maßlosigkeit und zum unhöfischen Verhalten werden so positiv umgedeutet zu notwendiger Disziplin und Zurückgezogenheit als Grundlage für den Schaffensprozess. Der Dialog zwischen Feder und Autor verfolgt in der Form eines Streitgesprächs die Absicht, mit den Redeanteilen des Autor-Ichs über dieses selbst und seine Absichten zu belehren. Vordergründig sollen die Erklärungen die Feder in ihrem Unmut beschwichtigen und von dem Sinn ihrer Arbeit überzeugen; weiterführend werden jedoch dem Rezipienten durch diesen als intimes Gespräch des Autors mit seiner Schreibfeder gestalteten Dialog die Werkgenese und ihr zeitlicher Ablauf vorgestellt. Um den Vorgang des Schreibens in seiner konzeptionellen Distanz vorzuführen, wählt der Autor - überraschend und fast paradox - gerade eine Form der Mündlichkeit, den Dialog. Diese Wahl dürfte Thomasins didaktischer Intention und seiner Vorliebe für dialogische Gestaltung wie in seinen Beispielerzählungen 36 entsprechen. Das Gespräch zwischen Autor und Feder dürfte aber auch in Analogie zu Hartmanns Modell der Autorinszenierung im Dialog zu sehen sein: Die Differenzierung von Autorschaftsaspekten wird in einer de facto schriftlich verfassten Literatur überwiegend mittels Redeszenen und Dialogpassagen geleistet.
V.
Fazit
Es bleibt ein Fazit zu formulieren, das verbindend und kontrastierend die Funktion der vorgestellten Redeszenen fasst. Die Verfasser der höfischen erzählenden Literatur bevorzugen eine Autorkonstruktion, die in den Kontext mündlicher Literaturvermittlung eingebunden ist. Sie geben zwar Hinweise, dass ihre Konstruktion des gleichzeitigen Verfassens und Vortragens fingiert sei, doch kontrastieren sie diese Illusion nicht mit dem Verfassen im Schreibvorgang. Vielmehr nutzen sie die Vorgaben der Aufführungssituation, die Bedingungen mündlicher Kommunikation, wie zum Beispiel die Störungen des Erzählvorgangs durch Einreden, um in kleinen Dialogszenen Autorschaft zu thematisieren. Das gelingt, und zwar ohne theoretische metasprachliche Einschübe in der Anschaulichkeit der evozierten Szene und der dialogisch geführten Rede. Thomasin führt die Thematisierung von Autorschaft und Werkgenese differenziert fort. Er bedient sich der literarischen Konstruktion der elaborierten Mündlichkeit, des Dialoges, um die Bedingungen seines eigenen Tuns, Sprechakt und Schreibakt, zu präsentieren. Er
36
Vgl. Helga Schüppert, „Bildschichten und ihre Funktion im 'Wälschen Gast'", in: Thomasin von Zirklaere und die didaktische Literatur des Mittelalters
(wie Anm. 7), S. 7 - 2 8 , besonders S. 24f.
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stellt die das Werk konstituierenden Phasen der Produktion und der Rezeption in einen zeitlich koordinierten Bezug und verdeutlicht so, dass sich die Werkgenese aus unterschiedlich schriftlich und mündlich bestimmten Phasen zusammensetzt. Er stilisiert sich im Gespräch mit seiner Feder als schreibender, gelehrter Autor; aus dieser Perspektive distanziert sich der Autor während des Schreibens wie auch mit seinem fertiggestellten Werk von seinen Rezipienten. Diese raum-zeitliche Distanz kann durch die im Text hergestellte Mündlichkeit und durch eine zumindest suggerierte kommunikative Nähe kompensiert werden. Für ihre rhetorische Gestaltung ist aber die Grundlage mühsame Schreibarbeit - wer wüsste es nicht, der einen Vortrag zu halten und zu schreiben hat.
Franz
Hundsnurscher
Das literarisch-stilistische Potential der inquit-Formel
I.
Eine topologische Skizze des kommunikativen Handlungsspiels 'Erzählen'
Dem Erzählen liegt die repräsentative Sprechhandlungscharakteristik des 'Redens über p' zugrunde; John L. Austin spricht in diesem Zusammenhang von der spezifischen illokutionären Kraft, die einer Äußerung innewohnt, mit der ein Sprecher einen anderen über einen Sachverhalt ρ in Kenntnis setzen will.1 Im Hinblick auf den Status der betreffenden Sachverhalte lassen sich verschiedene Aussagemuster wie Feststellungen, Behauptungen, Prognosen u.ä. unterscheiden. Feststellungen z.B. sind Hinweise auf bestehende Sachverhalte; Behauptungen unterscheiden sich von Feststellungen dadurch, dass für sie nicht Evidenz vorausgesetzt wird, sondern dass Nachweise für ihre Wahrheit zu erbringen sind; bei Prognosen handelt es sich um plausible Voraussagen auf das zukünftige Eintreten von Sachverhalten. Erzählende Aussagen unterscheiden sich von den angesprochenen Aussagemustern dadurch, dass sie sich auf Vergangenes beziehen; am Nächsten steht dem die Aussageform der Mitteilung (neben der der Meldung und des Berichts), soweit es sich um einfache Sachverhalte handelt. In der Regel geht es beim Erzählen aber um Sachverhaltszusammenhänge, die oft sehr komplexer Natur sind und die außerdem eine Abfolge-Struktur aufweisen. Die allgemeine Form von Erzählen ist also nicht einfach 'mitteilen, dass ρ der Fall war', sondern 'mitteilen, dass pl und dann p2 und dann p3 ... der Fall waren'. Im Hinblick auf die Vergangenheitskomponente besteht auch eine gewisse Nähe zur Aussageform der Erinnerung und der Rekapitulation, wobei der rekapitulierende Aspekt vor allem bei Formen wie 'einen Witz, ein Märchen erzählen' gegeben ist. Alle diese Aussageformen enthalten überdies eine implizite Relevanzkomponente; es wird vorausgesetzt, dass es sich um Beachtenswertes, für den Hörer Neues und Interessantes handelt. Der Darstellung von Sachverhaltszusammenhängen entspricht die komplexe Struktur des zugrunde liegenden propositionalen Gehalts, d.h. es wird beim Erzählen referierend und prädizierend Bezug genommen auf Zustände, Vorgänge und Handlungen, die zusammen ein Bild der Welt ergeben, das der Erzähler perspektivisch schildern will.
1
John L. Austin, How to Do Things with Words, hg. von James Ο. Urmson, Oxford 1970.
104
Franz
Hundsnurscher
Von besonderem Interesse sind dabei die menschlichen Handlungen, denn in den meisten Fällen bilden die Interaktionen handelnder Personen, die von Zuständen umgeben und von Vorgängen betroffen sind, den Hauptgegenstand des Erzählens. Grob gesprochen kann man drei menschliche Handlungsarten unterscheiden, praktische, sprachliche und mentale Handlungen; für den sprachlichen Bezug auf sie stehen jeweils typische Realisierungsformen zur Verfügung, und sie werden durch entsprechende Handlungsverben in der Regel den handelnden Personen direkt prädiziert, z.B. Der Ritter erschlug den Drachen Die Dame begrüßte den Ritter Die Dame bewunderte den Ritter
-
Tun Sprechen Denken.
Neben einer 'benennenden' Form der Handlungscharakterisierung durch entsprechende Handlungsverben gibt es eine 'verweisende' Form, die vor allem bei der Wiedergabe s p r a c h l i c h e r Handlungen Anwendung findet: Die Dame begrüßte den Ritter,
indem
sie
s a g t e : „Seid willkommen, edler
Herr".
Eine funktional äquivalente Standardform dieses Aussagetyps ist: Die Dame sagte: „Seid willkommen, edler Herr".
Die Charakterisierung einer sprachlichen Handlung erfolgt also typischerweise durch die mit einem generellen Verb des Sprechens eingeleitete Wiedergabe der manifesten Äußerung, mit der sie realisiert wurde, und zwar als 'direkte' oder als 'indirekte' (Die Dame sagte, der Ritter sei [ihr] willkommen). Mentale Handlungen werden häufig analog zu sprachlichen Handlungen wiedergegeben: Die Dame dachte (bei sich): „Ich muss ihn warnen ".
Auch in diesen Fällen wird 'der Gedanke' durch ein generelles Verb des Denkens eingeleitet und in direkter oder indirekter Rede wiedergegeben. Bei praktischen Handlungen ist diese Wiedergabeform anders geregelt als bei sprachlichen; es gibt zwar analog zu den generellen Verben des Sagens auch generelle Verben des Handelns, die in solchen Fällen gebraucht werden (machen, tun, handeln), Der Ritter tat daraufhin das / machte das / handelte so: Er zog sein Schwert und erschlug den Drachen·,
damit
aber die Standardform der Wiedergabe praktischer Handlungen besteht im Gebrauch besonderer Handlungs verben: Der Ritter erschlug den Drachen Herz).
(indem
er
Folgendes
t a t : Er durchbohrte
sein
Das literarisch-stilistische
Potential der inquit-Formel
105
Die Handlung wird also benannt, nicht wie bei sprachlichen Handlungen, mittels eines generellen Verbs angeführt; eine 'direkte' Wiedergabe der manifesten praktischen Handlung ist in der Erzählsituation, zumal bei schriftlichen Texten, auch kaum möglich. Bei mündlicher Erzählung können minimale gestische Entsprechungen begleitend erfolgen (z.B. Andeutungen eines Ziehens des Schwertes und des Zustechens); der Ort für eine derartige 'direkte' Wiedergabe praktischer Handlungen wäre das Theater. Für die Wiedergabe sprachlicher Handlungen stehen beide Möglichkeiten offen: die Benennung der sprachlichen Handlung durch spezifische Sprechaktverben und die mit einem allgemeinen Verb des Sprechens versehene m^wif-Formel (Sie begrüßte ihn - Sie sagte zu ihm: „Guten Tag"). Es gibt einige Fälle, bei denen das inquit-Verb über die direkte oder indirekte Ankündigung des Redeinhalts hinaus noch weitere spezielle Funktionen erfüllt, z.B. den dialogischen Zusammenhang hervorzuheben (Er/sie antwortete: „...") oder Ausdrucksqualitäten wie Lautstärke oder Artikulationsform anzudeuten (Er/sie /sie
seufzte:
rief: „..."; Er
„...").
Eine strukturelle Beschreibung der inquit-Formei in ihrer einfachsten Form könnte so aussehen: S
[ÄF]
Er/Sie
sagte:
„...",
wobei S für die Satzform einer Redemitteilung steht, NP 0 für den Sprecher 1, V s für ein Verb des Sprechens. NP, steht für die manifeste Äußerung (ÄF für die Äußerungsform); sie ist grammatisch als Akkusativ-Objekt zu betrachten.2 2
Das Standard-m^Mif-Verb im Mittelhochdeutschen ist sprechen. Die Sprachgeschichte des Deutschen weist einen in der Forschung bisher noch weitgehend ungeklärten Wechsel des inquitVerbs auf: Im Althochdeutschen ist es quedan (neben z.B. gimahalen im Hildebrandslied), im Mittelhochdeutschen sprechen, daneben vereinzelt sagen und jehen, vom Frühneuhochdeutschen bis zur Gegenwart gilt sagen, wobei sprechen bei Luther und auch sonst im Neuhochdeutschen als archaisierende Form weiter verwendet wird; einzelne Autoren bringen konkurrierende Formen ins Spiel, so z.B. Niklas von Wyle das Verb reden, Goethe das Verb versetzen. S. Franz Hunds-
106
Franz
Hundsnurscher
Diese Minimal-Form kann bei kurzen dialogischen Wortwechseln auch zu einer NullForm reduziert werden (z.B. bei Stichomythien). Entsprechend dem Muster einer vollständigen Handlungsbeschreibung 3 ist sie variabel und ausbaufähig, so z.B. um nicht nur auf Sprecher 1, sondern auch auf Sprecher 2, den Angesprochenen, Bezug zu nehmen (mittels Präpositionalphrasen [PP]) und verschiedene Gesprächsumstände (mittels adverbialer Bestimmungen [AB]) explizit zu machen: S
Er / Sie
sagte
traurig
„Du Ärmste(r)"
zu ihm / ihr.
Offenbar ist die Hervorhebung sprachlicher Handlungen durch inquit-Formeln im Zusammenhang einer Erzählung ein universeller Zug, der zur Grammatik einer Sprache gehört;4 seine spezifische Funktion besteht darin, die Redekonstellation und die dialogische Abfolge von Redebeiträgen explizit zu machen: wer etwas sagt, wie er es sagt, an wen es adressiert ist, wer von den am Gespräch Beteiligten als nächster repliziert, in welcher Weise die Redebeiträge in den Handlungszusammenhang eingebettet sind usw. Vor allem wegen ihrer referenz- und prädikationssichernden Funktion sind sie beim Aufbau von Erzähltexten, die auch Redebeiträge und Gesprächspassagen wiedergeben, unverzichtbar; als obligatorische Indikatoren sprachlicher Handlungen treten sie in Erzähltexten stark in den Vordergrund und prägen ihre Struktur nachhaltig. Daraus ergibt sich für den Textdichter ein besonderes Problem: Wie geht er mit der ständig wiederkehrenden inquit-Formel um, ohne in ein starres, zur Monotonie neigendes Schema zu verfallen?
3 4
nurscher, Sprechen und sagen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Zum Wechsel der Inquit-Formel er sprach / er sagte, in: Literatur - Geschichte - Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag, hg. von Nine Miedema und Rudolf Suntrop, Frankfurt a.M. u.a. 2003, S. 31-52. Vgl. The Logic of Decision and Action, hg. von Nicholas Rescher, Pittsburg 1966. Franz Hundsnurscher, „Geht es vielleicht auch ohne Syntax?", in: Pragmatische Syntax, hg. von Frank Liedtke und Franz Hundsnurscher, Tübingen 2001 (Beiträge zur Dialogforschung 23), S. 31-51, hier S. 48.
Das literarisch-stilistische
II.
Potential der inquit-Formel
107
Die Verhältnisse im Mittelhochdeutschen
Ähnlich wie in der Gegenwartssprache finden sich auch in den mittelhochdeutschen Texten neben den Erweiterungsmöglichkeiten der inquit-¥om&\ auch verschiedene Permutationsformen. Zwischen der jeweils dominierenden Standardform und den Varianten eröffnet sich dem Textdichter ein breiter stilistischer Spielbereich. Neben der Standardform des einfachen Aussagesatzes, z.B.5 Erec sprach: „daz st getan [...]" (Erec, v. 4807),
mit Spitzenstellung von Sprecher-Subjekt und Verb gibt es die entsprechende Zwischenstellung mit Inversion „vernemet",
sprach sin geselle,
„waz ich des roubes welle [...]" (Erec, v. 3338f.)
und die Nachstellung „nü enlat iuch niht belangen" sprach der wirt zem gaste (Erec, v. 443f.).
Weitere Ausgestaltungen der inquit-Yormel, z.B. durch Adressatenbezug und Folgebezug, ergeben noch zusätzliche Positionsvarianten mit den entsprechenden Permutationsmöglichkeiten: zem ritter sprach diu künegin: „iuwer buoze diu sol ringer sin [...]" (Erec, v. 1278f.).
Die universellen textstrukturellen Forderungen, zu denen in erster Linie die Referenzsicherung innerhalb des Textes gehört,6 stellen jeden Erzähler vor das Problem, die entsprechenden Redezuschreibungen konsequent und kohärent in den Text einzubauen und dabei auch die Vorgaben des Versmaßes und des Reimschemas zu berücksichtigen. Bei einem Vergleich der epischen Dichtungen des Mittelhochdeutschen zeigt sich, dass die einzelnen Texte charakteristische Verteilungen im Hinblick auf die Varianten der ingMi'r-Formel aufweisen. Einzelne Stellungsvarianten heben sich durch eine besonders starke funktionelle Belastung von den anderen ab und bilden die dominante Standardform.
5
6
Zitiert wird nach der folgenden Ausgabe: Erec von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Auflage besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39). S. Roland Harweg, Pronomina und Textkonstitution, München 2 1979 (Beihefte zu Poetica 2).
108 III.
Franz
Hundsnurscher
Beispielanalysen
An drei mittelalterlichen Dichtungen, Hartmanns von Aue Erec, Gottfrieds von Straßburg Tristan und dem Nibelungenlied, soll nun die jeweilige Gestaltung der inquit-Forme] einer näheren vergleichenden Betrachtung unterzogen werden.
III.l.
Erec
So ist auf den ersten Blick zu sehen, dass etwa im Erec des Hartmann von Aue die hier als Minimalform beschriebene Struktur der inquit-Formel am häufigsten in der Anfangsposition verwendet wird, also: Erec sprach: „daz sigetan
[...]" {Erec, v. 4807).
Genauer gesagt ist es die mit einem Personalpronomen in NP 0 -Position besetzte Form, z.B. si sprach: „ rit und ervar wer der ritter müge sin [...]" (Erec, v. 25f.).
Das Verhältnis der beiden Formen von Positionsbesetzung ist ca. 1 : 3; das entspricht den allgemeinen Regeln der Textkonstitution nach Roland Harweg. Demnach besteht ein kohärenter Text aus einer (lückenlosen) pronominalen Verkettung, die von einer 'vollen' Referenteneinführung ihren Ausgang nimmt; 'volle' Referenten sind Eigennamen wie Erec, Keiin, Gäwein usw. oder Nominalphrasen wie diu vrouwe (Erec, v. 72), daz getwerc (v. 83), der wirt (v. 8576). Erec dominiert erwartungsgemäß mit 14 derartigen expliziten Nennungen; dieser initiale Sprecher-Subjekt-Stellungstyp (pronominal und phrasal) überwiegt alle anderen Vorkommen der inquit-Formel. Er kann in gewisser Hinsicht als stilistischer Fingerabdruck für Hartmanns Erec gelten. Auf diese Weise wird Erec als sprachlicher Hauptakteur der Aventiure hervorgehoben. Im Vergleich zur Initialstellung des Sprecher-Subjekts ist die Endstellung des Subjekts vom Typ „ir enthöveschet
iuch", sprach Erec (Erec, v. 4197)
relativ selten (nur etwa ein Dutzend Stellen). Von einiger Bedeutung sind noch fünf weitere Varianten der in^n/f-Formel, die im Erec vorkommen: a)
Adressatenverweis mit zuo in variabler Position, z.B. Erec sprach zuo dem knehte [...] (Erec, v. 3558); Erec ouch zem wirte sprach [...] (v. 8373);
Das literarisch-stilistische Potential der
'mqml-Formel
109
ze sinem gesellen er sprach [...] (v. 7895); zem ritter sprach diu künegtn [...] (v. 1278); „ [...]"/sprach der wirt zem gaste [...] (v. 443f.); er sprach ze vrouwen Ernten [...] (v. 3403). b)
Hervorhebung der Rede durch so, z.B. so sprach er [...] (Erec, v. 5033); der alte alsus sprach [...] (v. 463), zuweilen auch mit Adressatenverweis: zuo dem ritter sprach er so [...] (Erec, v. 1011). Häufiger findet sich die Redehervorhebung bei explizitem Dialogzusammenhang, z.B. Erec antwurte im also [...] (Erec, v. 4959); sus antwurte im Erec dö [...] (v. 3744); sus antwurte im der röte man [...] (v. 9338); dermichel man sus wider sprach [...] (v. 5476).
c)
Hervorhebung des Situationsbezugs durch dö, z.B. dö sprach dö sprach derkünec der künec
der herzöge ltnain [...] {Erec, v. 1364); der valsche Keiin [...] (v. 4678); Guivreizdö sprach [...] (v. 7804); Artus sprach dö [...] (v. 4860),
und in Kombination mit dem Adressaten verweis, z.B. zuo in sprach der künec dö [...] (Erec, v. 9919); Iders dö ze Erecke sprach [...] (v. 897); ze vrouwen Eniten er dö sprach [...] (v. 3237), und mit Redehervorhebung, z.B. dö sprach der alte daz [...] (Erec, v. 347). d)
Redequalifizierende Angaben, meist als Emotionshinweise: er sprach in siner valscheit [...] (Erec, v. 3734); ze Erecken si mit vorhten sprach [...] (v. 3379); si sprach so si daz herze twanc [...] (v. 6286); mit zühten si zuo im sprach [...] (v. 31); durch schienen list er sprach [...] (v. 5664); vil nach weinende sprach/Erec der tugenthafte man [...] (v. 5338f.).
e)
Erwähnung redebegleitender oder redevorbereitender Umstände, z.B. Er sprach als er zuo ir gesaz [...] (Erec, v. 3752); Erec stuont üf unde sprach [...] (v. 475).
110
Franz
Hundsnurscher
Dieser Versuch einer Systematik eines Teils der inquit-¥ orme\n im Erec ist bei weitem nicht vollständig. Die Rederegie Hartmanns weist noch eine Reihe weiterer Register auf, aber im Ganzen erscheint sie überschaubar und unaufdringlich; er macht einen sparsamen Gebrauch von stilistischen Varianten.
III.2.
Tristan
Die Leitform in diesem Text ist die direkte Rede mit eingeschobenem Verb und Subjektpronomen, eine Form, die im Erec nur sehr selten vorkommt, z.B. „nein", sprach er, „ritter guot [...]" {Erec, v. 4442).
Das Verhältnis der pronominalen Form, z.B.7 „nu Tantris" sprach si „sage mir [...]" (Tristan, v. 9509),
zur phrasalen, z.B. „sich, warte" sprach diu künigin [...] (Tristan, v. 9419),
beträgt, ähnlich wie im Erec, auch etwa 3 : 1 und entspricht somit ebenfalls der textkonstituierenden Verkettungsregel zur Referenzsicherung. Im Tristan ist diese Referenzkette generell durch inquit-Formeln dieser Art enger und bis zu einem gewissen Grad sorgfältiger geknüpft als im Erec, wo bei längeren Redepassagen der pronominale Zusammenhang leicht verschwimmt. Die vorgezogenen Redeteile sind, angepasst an das Versmaß, häufig redeeinleitende Ausdrücke und Anredeformen, die ebenfalls der Dialogreferenz dienen, z.B. „seht" sprach er „vrouwe künigin [...]" (Tristan, v. 14032).
Gegenüber dieser invertierten, in die Rede eingeschobenen oder sie abschließenden Form wird im Tristan auffallend wenig Gebrauch von der Initialposition des Sprecher-Subjekts gemacht, z.B. der marschalc sprach: „ Tristan, ich wil wider ufze herbergen gan [...]" (Tristan, v. 2250f.),
die charakteristisch für den Erec ist. Die beim Erec zu beobachtenden Funktionstypen sind im Übrigen auch in abgestufter und variabler Form im Tristan vertreten, als da sind: a)
7
Adressatenverweis, z.B.
Gottfried von Strassburg, Tristan und Isold, hg. von Friedrich Ranke, Berlin 4 1959.
Das literarisch-stilistische
Potential der inquit-Formel
111
diu wise, ir muoter, zuo zir sprach [...] (Tristan, v. 10284); „sxlegen herren" sprach er zin [...] (v. 2695).
b)
Gelegentlich findet sich die Hervorhebung der Rede durch sus, vgl.: sus sprachens alle samet derzuo: [...] (Tristan, v. 4398); sus riefens alle dar an: [...] (v. 15579).
Auf diese Weise wird explizit auf den Wortlaut der Rede hingewiesen. c)
Hervorhebung des Situationsbezugs, z.B. und wan daz ungebasre was sinen schcenen handen, do sprach er: „wol balde zwene knehte her! [...]" (Tristan, v. 2910-2912); „ei" sprach der truhsseze do (ν. 9825); „ach mines libes!" si do sprach (v. 1215),
auch mit Relativbezug auf den Sprecher, z.B. Der guote Rual der sprach do [...] (Tristan, v. 4171); Tristan der sprach: „diz si getan!" (v. 2248); „seht herre" er zuo Tristande sprach (v. 7406).
Diese kombinierten Formen dienen der Anpassung an das Versmaß. d)
Von redequalifizierenden (Emotions-)Hinweisen wird häufiger Gebrauch gemacht, z.B. vil innecliche sprach er: „a [...]" (Tristan, v. 3956); vil minnecliche er zuo zir sprach [...] (v. 742); er sprach suoze unde lise [...] (v. 11982); Isot do smierende sprach [...] (v. 15612); unde si diu schcene ersufte in an vil tougenlichen unde sprach uz minneclichem herzen: „ach [...]" (v. 786-788).
e)
Die Einbeziehung redebegleitender Umstände, die durch «nd-Anschluss geleistet wird, kommt etwa ein Dutzend Mal vor, z.B. erkustin und sprach: „neve nu var [...]" (Tristan, v. 5042).
f)
Zu diesen Funktionstypen kommt im Tristan noch ein weiterer hinzu, durch den ein wiederholender oder insistierender Dialogbezug hervorgehoben wird. Der entsprechende Indikator ist aber, z.B. „genade, und got miiez iuch bewarn!" sprach aber der guote Tristan (Tristan, v. 2784f.).
Es sind über zwei Dutzend solcher Formen nachweisbar, durch die explizit auf den dialogischen Zusammenhang verwiesen wird.
112 III.3.
Franz Hundsnurscher Nibelungenlied
Im Nibelungenlied
ist die dominierende Form die mit do eingeleitete inquit-Forme],
Do sprach der starke Sifrit:
z.B. 8
„und hat si daz geseit [...]" (Nibelungenlied, Str. 858,1).
Durchschnittlich jede neunte der 2379 Strophen ist in dieser Form gestaltet. In manchen Fällen erstreckt sie sich über beide Halbverse, d.h. über den ganzen ersten Langvers, z.B. Do sprach jasmerliche
der verchwunde man [...] (Nibelungenlied, Str. 996,1),
und zuweilen können Strophenhälften oder auch ganze Strophen als ausgestaltete inquitFormel betrachtet werden, z.B. Do sprach zen Bürgenden der ritter vil gemeit, Rüedeger der edele: „ja suln niht verdeit wesen unser msere [...]" (Nibelungenlied, Str. 1713,1-3); Do diu küneginne ir schar so kleine sach, in einem grimmem muote si zuo den helden sprach: „des irdä habtgedingen [...]" (Str. 1767,1-3); Dd diu küneginne Sifriden sach, nu muget ir gerne hären wie diu maget sprach: „stt willekomen, Stfrit, her in diz lant. waz meinet iuwer reise? gerne het ich daz bekant" (Str. 419); Do der vogt von Berne rehte daz ersach, daz Hagen der starke so manegen heim brach, der künec der Amelunge spranc üf eine banc; er sprach: „ hie schenket Hagene daz aller wirsiste tranc " (Str. 1981). Ein großer Teil der Strophen ist geradezu als inquit-Einheit gestaltet; diese Strophen fungieren häufig als in sich geschlossene dialogische Redebeiträge, z.B. in der Folge Do sprach Dö sprach Do sprach „daz wxre Si sprach:
aber Hagene: „ir trieget äne not [...]" (Nibelungenlied, Str. 1541,1); aber diu eine: „ez muoz also wesen [...]" (Str. 1542,1); in grimmem muote der küene Hagene: mtnen herren [...]" (Str. 1543,lf.); „sit du der verte niht welles haben rät [...]" (Str. 1544,1).
Die inquit-Formel wird als tragende Struktur in das Strophengerüst eingebaut; in der überwiegenden Zahl der Fälle bietet das Versmaß der ersten Halbzeile neben dem Verb des Sprechens die Möglichkeit einer Hervorhebung der Sprecherreferenz durch adjektivische Epitheta oder durch charakterisierende Appositionen:
8
Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2 2 0 0 2 ( R U B 644).
Das literarisch-stilistische Potential der inquit-Formel
113
Do sprach diu schuene Kriemhilt [...] (Nibelungenlied, Str. 568,1); Do sprach der grimme "Wolfhart [...] (Str. 2249,1); dö sprach diu vrouwe here [...] (Str. 1077,4); Do sprach diu minnecliche [...] (Str. 561,1). Zuweilen ist auch der zweite Halbvers entsprechend gestaltet, „So wil ich selbe riten", sprach Stvrit der degen [...] (Nibelungenlied, Str. 179,1); „Nu lön' iu got, her Sivrit", sprach daz vil sccene kint [...] (Str. 303,1); „ Jane mac ichs niht gelazen ", sprach do der kiiene man [...] (Str. 2178,1), und in vielen Fällen auch der ganze erste Langvers: Dö sprach in zornes muote Hagen der kiiene man [...] (Nibelungenlied, Str. 1776,1); Dö sprach von dem hüse Volker der spileman [...] (Str. 2203,1). Das demonstrative Satzadverb dö eignet sich nicht nur formal zur Besetzung der AuftaktPosition im Vers und kann zuweilen auch 'schwebende' Betonung tragen, sondern ist, zumindest im Nibelungenlied,
gewissermaßen der Erzähl-Indikator schlechthin, mit dem die
narrative tiefenstrukturelle und-dann-R&\dX\on9
zum Ausdruck kommt. Denn dö leitet nicht
nur sprachliche, sondern auch praktische Handlungsschritte ein, z.B.: 10 Dö gap diu vrouwe Sigelint vil manigen samit röt [...] (Nibelungenlied, Str. 705,1); Dö wurden allenthalben diu venster üf getan [...] (Str. 1711,1). Besondere Hervorhebung der Handlungsabfolge vermittelt die 'doppelte' i/ö-Konstruktion vom Typ Dö die Tenen unde die Düringen ir herren sähen tot, dö huop sich vor dem hüse ein vreislichiu not [...] (Nibelungenlied, Str. 2074,1 f.). Der erste do-Vers charakterisiert so in der Regel das handlungsvorbereitende oder handlungsauslösende Moment, die folgenden Verse bringen den weiterführenden oder entscheidenden Handlungsschritt, z.B. Dö si daz swert erkande, dö gie ir trürens nöt (Nibelungenlied, Str. 1784,1); Dö der degen Irinc der wunden enpfant, den schilt er baz dö ruhte über diu helmbant (Str. 2063,1 f.). Diese Konstruktion deutet auf besonders dramatische Szenenfolgen.
9
10
Vgl. Gerd Fritz, Kohärenz. Grundfragen der linguistischen Kommunikationsanalyse, Tübingen 1982 (Tübinger Beiträge zur Linguistik 164), S. 275. Die zahlenmäßige Verteilung von mit dö eingeleiteten praktischen Handlungen und sprachlichen Handlungen ist ungefähr gleich; wegen der durch das inquit-Verb sprechen stereotyp geprägten Formel sah sich Matthias Lexer wohl zu der unscharfen Funktionscharakterisierung für dö veranlasst: „oft nur den fortschritt der rede bezeichnend"; dö bezeichnet generell den Fortgang der Handlungskette. S. Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, 3 Bde., Leipzig 1872-1878, Nachdruck Stuttgart 1979, hier Bd. 1, Sp. 445.
114
IV.
Franz
Hundsnurscher
Schlussbemerkung
Ausgehend von der Überlegung, dass die inquit-Formel als obligatorisches Zubehör zum 'Erzählen' sprachlicher Handlungen den Textdichter vor besondere Gestaltungsprobleme stellt, wurden hier drei mittelhochdeutsche Epen unter diesem Aspekt näher untersucht. Es gab dabei nichts Neues zu entdecken, sondern nur markante Unterschiede in der stilistischen Gestaltung festzustellen. Die dominierende Form im Erec ist vom Typ Erec sprach: „herre, nein ich" (Erec, v. 5457),
im Tristan vom Typ „uz" sprach Morgan „in gotes haz! [...]" (Tristan, v. 5445),
und im Nibelungenlied vom Typ Do sprach von Tronege Str. 151,1).
Hagene:
„daz
endunket
mich niht guot
[...]"
(Nibelungenlied,
Dieser deskriptive Befund ist natürlich viel zu schmal und isoliert, um daraus weitreichende Schlüsse oder Deutungslinien ziehen zu können. Erst in der Zusammenschau mehrerer ähnlich symptomatischer Stilmittel und im Rahmen eines integrativen Interpretationskonzepts könnten die hier gemachten Beobachtungen möglicherweise einen ergänzenden Beitrag leisten zu einem genaueren Verständnis der künstlerischen Qualität dieser Texte auch von ihrer stilistischen Seite her. Angesichts der fragmentarischen Faktenlage, die notwendig durch eine Erkundung der inquit-Verhältnisse etwa im Parzival und im Willehalm Wolframs von Eschenbach sowie durch Ausblicke in die vorhöfischen und späthöfischen Denkmäler abzurunden wäre, bewegt man sich bei dem Versuch einer Wertung auf dünnem Eis. Einigermaßen greifbar wird die Funktion der inquit-Forme,\ im Nibelungenlied, weil sie hier eine enge Verbindung mit der Strophenform eingeht. Praktische und sprachliche Handlungen sind in einer kontinuierlichen Handlungskette ineinander verschränkt und die dominierende Form vom Typ dö sprach der starke Stfrit (Nibelungenlied, Str. 650,4) leistet einen wesentlichen Beitrag zu dem dynamischen Fortgang des Geschehens als vorandrängender Situationskette.11 Es handelt sich dabei um ein bewährtes tradiertes Muster, das über die obligatorische Sicherung der Sprechhandlungsreferenz hinaus mnemotechnische, gliederungsmäßige und typisierende Funktionen erfüllt.
11
Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen S. 741.
Mittelalter,
2 Bde., München 1973, hier Bd. 1,
Das literarisch-stilistische
Potential der inquit-Formel
115
Demgegenüber wählt Gottfried im Rahmen einer ganz anderen, 'neuen' Versform die 'Einschubvariante' vom Typ „Genade schiene.sprach Tristan „ ine han da keinen zwivel an [...]" (Tristan, v. 14461f.),
die Referenzsicherung wird sozusagen nachgereicht. Hörer oder Leser sind also zunächst mit einem 'unvermittelten' Redeansatz konfrontiert und können sich erst in einem zweiten Schritt der Sprecherzuschreibung versichern. Die vorangestellten Redeteile sind häufig Anreden, Interjektionen oder sonstige Konversationsteile, z.B. „künec" sprach er „herre Marke [...]" (Tristan, v. 6757); „a" sprach er „edeliu kiinigin [...]" (v. 7741); „wie do?" sprach Morolt „wiltu jehen? [...]" (v. 6931).
Es sind dies die Sprachmittel der spontanen Rede, mit denen Emotion und direkte Zuwendung zum Ausdruck gebracht wird; Bertau spricht von einer „Parodie gesellschaftlicher Rede". 12 Die entsprechende Stilvariante der inquit-Formel in Hartmanns Erec ist in der typischen Standardform gehalten, z.B. Erec sprach: „ritter, saget an [...]" (Erec, v. 4770).
Hier erfüllt die inquit-Formel in erster Linie ihre referenzsichernde Funktion als Ankündigung der Sprechhandlung. Bei längeren Redepassagen ist der Pronominalbezug zuweilen ziemlich gestreckt, so dass dem Hörer oder Leser ein hohes Maß an Konzentration abverlangt wird; möglicherweise schafft in solchen Fällen die Vertragsgestaltung durch Stimmführung und Akzentuierung zusätzliche Orientierung.
12
Ebd., Bd. 2, S. 928. Der Bezug ist nicht eindeutig; der Ton der Intimität, der mit den Interjektionen und Anreden erzeugt wird, grenzt zuweilen an Exaltiertheit.
Maria Ε. Müller
Vers gegen Vers Stichomythien und verwandte Formen des schnellen Sprecherwechsels in der mittelhochdeutschen Epik*
81
Salomon Zu weißheit hat uns got
erweit.
Markolffus Der ist weyß, der sich fur ein narrn Salomon Markolff, niemant geb im selber
zeit.
lob!
Markolffus Schilt ich mich, man spricht, ich tob. [...] 89
Salomon Vier tzeit halten iren lauff. Markolffus Vier Stollen halten das scheyßhaus
105
auff. [...]
Salomon dicit Wer hat, dem gibt man immer an. Markolff We dem, der prot hat und kein tzan!1
So weit ein Auszug aus dem rasanten Redewettstreit zwischen dem weisen König Salomon und dem gewitzten Bauern Markolf in der Spielversion des Hans Folz. Folz verwendet hier die strenge Stichomythie, den regelmäßigen Sprecherwechsel von Vers zu Vers. Von kurzen Passagen in geistlichen Spielen abgesehen kehren Stichomythien mit den Fastnachtspielen des 15. Jahrhunderts - in der Schwundstufe des Ping-Pong-Spiels - in ihre dramatische Ausgangsgattung zurück, mächtig befördert von Johannes Reuchlins effektvoller Komödie Henno (1497), die Hans Sachs (1531) mit großem Erfolg ins Deutsche übertragen hat. Zunehmend wird seither die antike Tradition selbst zum Vorbild volkssprachlicher Dramen. Was aber haben Stichomythien in Erzählwerken zu suchen? Wir haben uns an dieses recht merkwürdige Phänomen nicht zuletzt deshalb gewöhnt, weil moderne Editoren durch die Markierung der einzelnen Redebeiträge die fehlende inquit-Formel kompen-
1
Fiir anregende Gespräche bei der Vorbereitung des Vortrags danke ich Dieter Kartschoke, für Denkanstöße und tatkräftige Hilfe beim Abschluss Andrea Sieber. Hans Folz, Ein spil von konig Salomon und Markolffo, zitiert nach: Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts. Unter Mitarbeit von Walter Wuttke ausgewählt und hg. von Dieter Wuttke, 4., bibliographisch ergänzte Auflage, Stuttgart 1989, S. 5 6 - 8 1 , hier v. 8 1 - 8 4 , 89f„ 105f.
118
Maria Ε. Müller
sieren. Vergleicht man etwa verschiedene Editionen des Eneasromans Heinrichs von Veldeke oder des Tristrant Eilharts von Oberg, herrscht durchaus nicht immer Einverständnis darüber, welche Redeverse welcher Figur zuzurechnen sind. Warum aber machen mittelalterliche Epiker sich diese komplizierte Technik zu eigen? Ich will dieser Frage in vier Schritten nachgehen. Zunächst möchte ich den Begriff Stichomythie klären. Zweitens werde ich überlegen, in welchen Kommunikationssituationen und medialen Konstellationen es gegen Ende des 12. Jahrhunderts zur Übernahme von Stichomythien in der volkssprachlichen Epik kommt. Drittens möchte ich dem Paradox von Statik und Dynamik, von Stauung und Beschleunigung im zeitlichen Ablauf der stichomythischen Rede nachgehen, um mich viertens den narrativen Funktionen von Stichomythien zuzuwenden.
I.
Begriff und Redesituation
Im dritten Buch seiner Politeia wendet sich Piaton nach der Erörterung über die Inhalte von Reden zur Erziehung zukünftiger Staatswächter den Formen des Vortrags zu (392c-394c). Er gelangt zu einer Dreiteilung von poetischen Redegattungen, die die neuzeitliche Trias von Lyrik, Epik und Dramatik präludiert. Unterschieden werden 1. die 'einfache Erzählung', bei der 'der Dichter selbst spricht' wie im Dithyrambus; 2. die Darstellung oder Nachahmung (mimesis), bei der der Dichter eine Rede vorträgt, 'als wäre er ein anderer', und sich in Stimme und Gestalt diesem anderen angleiche, wie dies für das Drama gattungskonstitutiv sei; und 3. die epische Dichtung als eine Mischform beider Vortrags- und Darstellungsweisen des Dichters.2 Bei dieser für die Epik charakteristischen Kombination von Erzähler- und Figurenrede begegnen seit dem 12. Jahrhundert im volkssprachlichen Roman Stichomythien und verwandte Formen des schnellen Sprecherwechsels; zunächst in der altfranzösischen Epik, erstmals belegt im Roman d'Eneas, und wohl nach diesem Vorbild in zahlreichen mittelhochdeutschen Erzählwerken. Den Autoren könnte die Dialogtechnik der Stichomythie am ehesten über die Rezeption der Komödien des Terenz oder über ihre Kenntnis lateinischer
2
Die Platon-Übersetzung folgt Piaton, Der Staat, neu übersetzt und erläutert sowie mit griechischdeutschem und deutsch-griechischem Wörterverzeichnis versehen von Otto Apelt, Leipzig 1923 (Der Philosophischen Bibliothek Bd. 80). Vgl. zur Verschiebung der Begriffe und Konzeptionen bei Aristoteles und zur Abgrenzung antiker und neuzeitlicher Dichtungstheorien die Artikel von Klaus Weimar, „Diegesis", in: 2RL 1 (1997), S. 360-363, und von Albert Meier, „Lyrisch episch - dramatisch", in: AGB 3 (2001), S. 709-723.
Stichomythien
und verwandte Formen des schnellen
Sprecherwechsels
119
Comediae des 12. Jahrhunderts 3 sowie provenzalischer Lieddichtung4 bekannt gewesen sein, wohl kaum über epische Vorbilder und deren poetologisch-rhetorische Kommentierung.5 Der Begriff Stichomythie ist antiken Ursprungs und bezeichnet den regelmäßigen Sprecherwechsel von Vers zu Vers, im weiteren Sinn auch den regelmäßigen Sprecherwechsel in Halb- oder Doppelversen (korrekt: Antilabe bzw. Hemistichomythie und Distichomythie).6 Zugunsten der besseren Lesbarkeit spreche ich im Folgenden vereinfachend auch dann von Stichomythien, wenn die regelmäßige Bauform des Sprecherwechsels gelockert wird, etwa nach dem Schema 1 / 1 / 2Vi / [A / Ά / Vi etc. Allen diesen Sonderformen des Dialoges, die seit der griechischen Tragödie vielfach bezeugt sind, fehlt die vermittelnde Kommunikationsebene der Erzählinstanz. Als genuin dramatische Stilmittel repräsentieren sie den Modus der Darstellung. Ihre Integration in Erzählwerke konfrontiert die Dichter mit der Herausforderung, durch Inszenierungssignale im literarischen Text die Unmittelbarkeit theatralischer Realisierungen zu kompensieren. Nine Miedema hat den möglichen Ort der Stichomythie, die in Rhetoriken und Poetiken der Antike und des Mittelalters nicht beschrieben wird, im poetologisch-rhetorischen System ermittelt. Sie weist sie den figurae sententiae als Bestandteil der elocutio im Bereich der sermocinatio, der Verwendung von direkter Rede, zu. Als eines der wichtigsten Stilmittel des 'mittleren Direktheitsgrades' in der Erzählung nehme die sermocinatio eine Zwischenstellung zwischen der reinen Erzählung auf der einen und der reinen Handlung auf der anderen Seite ein und bewege das Epos in die Richtung des Dramas.7 Die Stichomythie als Grenzfall epischer Dialogszenen, in der die Figurenreden ohne Erzähleinschübe und Auslassungen im schnellen Wechsel von Rede und Gegenrede wörtlich wiedergege3
Vgl. Nine Miedema, „Stichomythische Dialoge in der mittelhochdeutschen höfischen Epik", in: Frühmittelalterliche Studien (im Druck). Für die großzügige Überlassung des Manuskripts (hier S. 6) bedanke ich mich herzlich. Vgl. demnächst außerdem: Nikolaus Henkel, „Dialoggestaltung in deutschen und französischen Romanen des 12. Jahrhunderts. Das Modell der Dramen des Terenz und Seneca", in: Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik: Komparatistische Perspektiven, hg. von Monika Unzeitig, Nine Miedema und Franz Hundsnurscher (erscheint in der Reihe „Beiträge zur Dialogforschung").
4
Vgl. Hubertus Fischer, Ritter, Schiff und Dame. Mauritius von Craün: Text und Kontext, Heidelberg 2006, S. 91 f. Zur inhaltlichen Charakterisierung von Stichomythien übernehme ich die für die griechische Tragödie entwickelte Typologie von Bernd Seidensticker, „Die Stichomythie", in: Die Bauformen der griechischen Tragödie, hg. von Walter Jens, München 1971 (Beihefte zu Poetica 6), hier S. 191-195, 205f., 212-214.
5
6
7
Vgl. den Artikel von Dieter Kartschoke, „Stichisch", in: 2RL 3 (2003), S. 508f.; zur Begrifflichkeit und den Erscheinungsformen der Stichomythie in der griechischen Tragödie Seidensticker, „Stichomythie" (wie Anm. 5); zur charakteristischen Verwendung des Stilmittels bei Seneca Bernd Seidensticker, Die Gesprächsverdichtung in den Tragödien Senecas, Heidelberg 1969 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften NF, 2. Reihe, 32). Vgl. Miedema (wie Anm. 3), S. 5f.
120
Maria Ε. Müller
ben werden, ist m.E. jedoch eher dem maximalen Direktheitsgrad der Mimesis im Drama zuzuordnen, in dem „wirkliche Dialoge in geteilten Rollen" 8 vorgeführt werden. Der Vortragende ist - in platonischer Diktion - derjenige, der 'die jedesmaligen Reden vorträgt, als wäre er ein anderer', derjenige, der 'seine Redeweise jedes Mal so viel als möglich der desjenigen an[gleicht]\ den er nachahmen will. Eine adäquate Realisierung dieser Redesituation, wie sie Piaton für die Belehrung der Staatswächter vorschwebt, ist allerdings an spezifische Aufführungsformen von Erzähldichtungen gebunden.
II.
Mediale Voraussetzungen
Die höfische Institutionalisierung volkssprachlicher Literatur gegen Ende des 12. Jahrhunderts ist, wie neuere Forschungsansätze pointieren, ein prekäres Unterfangen. 9 Angesichts einer erst in Ansätzen ausdifferenzierten literarischen Kommunikation steht sie in Konkurrenz mit anderen höfischen Interaktionsformen, wie sie etwa in der Exposition von Hartmanns Iwein aufgezählt werden. 10 In Konkurrenz zueinander stehen aber auch unterschiedliche Formen literarischer Kommunikation. In besonderer Weise gilt dies für den höfischen Roman, der sich als nichtstrophische, schriftlich für den Vortrag verfasste Buchdichtung durchsetzen muss gegen die strophische, mündlich autorisierte Heldendichtung, die bereits etabliert ist und die Erwartungshaltung der Rezipienten präformiert haben dürfte. Beide Texttypen versuchen das Interesse des höfischen Publikums zu binden und von alternativen Unterhaltungsmöglichkeiten abzuziehen; beide Texttypen stellen vergleichbar hohe Anforderungen an die Zeit und Aufmerksamkeit des Publikums, sie sind jedoch durch eine unterschiedliche mediale Position gekennzeichnet." Dies ist für die Karriere der Stichomythie in der nichtstrophischen Reimpaardichtung folgenreich.
8
9
10
11
Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 3 1990, § 1185. Vgl. die Veröffentlichungen des altgermanistischen Teilprojekts im Rahmen des Dresdner Sonderforschungsbereichs 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit". Vgl. Dieter Kartschoke, „Erzählen im Alltag - Erzählen als Ritual - Erzählen als Literatur", in: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter, hg. von Ludger Lieb und Stephan Müller, Berlin/New York 2002, S. 21-39, hier S. 27f. Weniger skeptisch bezüglich des 'Realitätsgehalts' der Passage Franziska Wenzel, „Keie und Kalogrenant. Zur kommunikativen Logik höfischen Erzählens in Hartmanns Iwein", in: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, hg. von Beate Kellner u.a., Frankfurt a.M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 89-109. Ich orientiere mich am Medienbegriff von Harald Haferland, Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im deutschen Mittelalter, Göttingen 2004, hier Kapitel 8.2.
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Aus produktionsästhetischer Perspektive zählt die Stichomythie zu den romantypischen Literarisierungsverfahren des mündlichen Erzählstils. Bei grundsätzlicher Verfügbarkeit der Schrift als Basismedium und der Vokalität als vorherrschendem Rezeptionsmodus kann das Differenzkriterium zur Heldenepik nicht Mündlichkeit oder Schriftlichkeit sein, sondern nur das unterschiedliche Mischungsverhältnis von eher mündlich oder eher schriftlich dominierten Redeweisen als „konzeptionell unterschiedliche[n] Aussagemodi".12 Einsatz und Frequenz stichomythischer Partien oder aber deren Absenz dokumentieren auf signifikante Weise, dass mittelalterliche Autoren schriftlich verfasster Erzählwerke in ihrem Schreibprozess deren Aufführungssituation antizipiert und die modernen Forschungsparadigmen der Performanz, Inszenierung und Theatralität mittelalterlicher Epik avant la lettre erzeugt haben. Dies lässt sich nur in Einzelanalysen zeigen, die das Zusammenspiel von Autor- und Publikumsprofilen zu rekonstruieren suchen. Medial, so meine These, ist die Stichomythie wie kein anderes buchepisches Stilmittel verwiesen auf eine mündliche Vortragsform, wie sie der Heldenepik eignet. Harald Haferlands Analysen zur memoriellen Textur der Heldenepik machen plausibel, dass in ihr Bedingungen eines gedächtnismäßigen Vortrags konserviert werden, bei dem ein schriftlich fixierter Text nicht während, sondern vor allem vor und nach dem Vortrag als Gedächtnisstütze herangezogen wird.13 Hier dürften sich Formen des freien Vortrags länger gehalten haben, die allein durch die Stimme und die körpergebundene Aufführung geprägt sind. Es war „nicht zu übersehen, wenn ein Sänger sich nicht auf ein Buch, sondern auf sein Gedächtnis stützte. Ein nicht schriftgestützter Vortrag konnte eine andere Präsenz des Erzählten hervorrufen. Zwischen dem Sänger und seinen Zuhörern vermittelte kein Buch, in das der Sänger mit seinen Augen ständig zurückkehren mußte, sondern er holte seinen Text bei ununterbrochener körperlicher Ausrichtung auf die Zuhörer so aus dem Kopf, wie man auch in direkter Kommunikation schon den Kopf benutzt".14 Eine solche Wiedergabe ist dem Vortrag der direkten Rede bei schnellem Sprecherwechsel angemessen. Die Annahme, dass parasprachliche Mittel „wie Intonation, Tonhöhe, Lautstärke, Sprechtempo, Dynamik, Gestik und Mimik" generell im mündlichen Vortrag von Dialogen verlebendigend und verständnisfördernd eingesetzt wurden, ist nicht neu.' 5 Ich möchte den Blick auf den historischen Zeitpunkt lenken, in dem sich der 'Durchbruch' des Romans an deutschen Höfen vollzieht und der zugleich die Stunde der Stichomythie ist. Bereits zeitgenössisch steht hierfür der Name Heinrichs von Veldeke. Dies bedeutet, dilatorisch Abstand zu neh12
13 14 15
Vgl. Ursula Schäfer, „Die Funktion des Erzählers zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit", in: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 83-97, hier S. 87. Vgl. Haferland (wie Anm. 11), S. 103. Ebd., S. 390. Vgl. die Belege bei Andreas Urscheler, Kommunikation in Wolframs 'Parzival'. Eine Untersuchung zu Form und Funktion der Dialoge, Bern u.a. 2002 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 38), hierS. 86.
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men von einer klassifikatorischen Gegenüberstellung von Gattungsmerkmalen, bedeutet also den höfischen Roman als Konkurrenzmedium zur Heldenepik aufzufassen, dessen Aufführung dem Traditionsbruch entgegensteuern musste, der mit der epischen Buchdichtung vollzogen wurde. Die Stichomythie ist bei ihrer höfischen Premiere insofern medialer Indikator des Übergangs von mehr zu weniger Mündlichkeit. Sie fordert in potenzierter Weise die Präsenz eines Akteurs, der im freien Vortrag Spontaneität und Unmittelbarkeit suggeriert und eine Wirklichkeitsillusion erzeugt, welche die mit dem Medium der Schrift gegebene Distanz vergessen lässt. Der literaturhistorische Ort des Auftretens von Stichomythien macht wahrscheinlich, dass Deklamatoren, die mit dem heldenepischen Vortragsstil vertraut sind, diese Qualifikation in das Konkurrenzmedium Vorleseliteratur hinüberziehen. Im Unterschied zur strophischen Heldenepik, deren metrisch-melodische Form die Bandbreite lautsprachlicher Äußerungsmöglichkeiten limitiert, ermöglicht der Vortrag von Paarreimdichtungen ein größeres Ausdrucksspektrum, und für den Vortrag von Stichomythien wird neben der nonverbalen auch die akustische Markierung von Sprecherrollen nachgerade erfordert. Die im Alltagshandeln habitualisierten Register von Stimme und Prosodie,16 die anatomisch-körperlich prädisponiert, jedoch kulturell und sozial überformt sind, können in künstlerischer Performanz artifiziell an Erwartungshaltungen angepasst werden, etwa nach den Kriterien von jung/alt, hoher/niedriger Status, Mann/Frau. Die puristische Auffassung, „ein Epos [sei] ein Rezitationstext für e i n e Stimme", weil der Vortragende „kaum während einer Szene beliebig viele Figuren stimmlich voneinander abgesetzt haben [wird], ohne zum lächerlichen Stimmenimitator zu werden",17 dokumentiert literaturferne Buchgelehrsamkeit, für die allein der gedruckte Text zählt. Wie exemplarisch am Klagemonolog Enites und der Ormg\ts-äventiure zu verfolgen ist, zeigen Erzählwerke eine hohe Aufmerksamkeit für Stimmmodulationen. Diese sind durch Redeinhalte (Klage, Trauer, Anklage, Verzweiflung, Reflexion, Werbung, Begierde) wie durch Redegestus (von Trauergebärden begleiteter wuof, Interjektionen, Apostrophen, Fragen, Inversionen) vorgegeben, werden aber auch immer wieder explizit bezeichnet. Ich möchte hier nur an einige signifikante Stellen dieser insgesamt sehr dichten Belegreihe erinnern. So provoziert der Anblick von Erecs Schwert Enites vluochen und verzögert ihre Selbstmordabsicht. 16
17
Unter Prosodie verstehe ich mit Helga Kotthoff Intonation, Lautstärke, Rhythmus, Pausensetzung. Ihrem Beitrag „Was heißt eigentlich 'doing gender'? (zu Interaktion und Geschlecht)", in: Gender-Forschung in der Slawistik. Beiträge der Konferenz „ Gender - Sprache - Kommunikation Kultur", 28. April bis 1. Mai 2001, hg. von Jirina van Leeuwen-Turnovcovä u.a., Wien 2002 (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 55), S. 1-27, verdanken sich Anregungen für die folgenden Ausführungen, hier S. 9-12. Wolfgang Schulte, Epischer Dialog. Untersuchungen zur Gesprächstechnik in frühmittelhochdeutscher Epik (Alexanderlied - Kaiserchronik - Rolandslied - König Rother), Bonn 1970, S. 21 (Hervorhebung ebd.).
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sich teilte dö besunder von des jamers grimme rehte enzwei ir stimme, hohe unde nidere. der wait gap hin widere vorhtecltch swaz si geschre. do lute dicke: „ouwe ouwe!" vil lute sehnende si sprach, dd si daz swert ane sach, mit klegelichem munde [...].18
Schier versagen kann Enites Stimme sowohl aus Verzweiflung (v. 6167) wie auch deshalb, weil die Attacken von Oringles sie grenzenlos enervieren (grözer unmuot, v. 6283), was sich zweifelsfrei unterschiedlich anhört. Vielfältig sind auch rededifferenzierende Charakterisierungen anlässlich der Werbung um Enite und ihrer Misshandlung seitens des Grafen Oringles: Er schmeichelt, tröstet, bittet, palavert sententiös daher, befiehlt, weist sie zurecht, beschimpft sie, wehrt sich zornig gegen Kritik, lässt sich von Enites unweiblich-unhöfischem Sprechen (vil ungevüege, wider dem site, v. 6567f.) zu Gewalttätigkeiten hinreißen. Variationsreich werden Lautstärke und Stimmhöhe (sogar als Kipp-Phänomen hoch/ niedrig) bezeichnet, dynamische und ersterbende Sprechrhythmen, elaborierte und normwidrige, sachlich-reflektierende und emotional involvierte, exaltierte und emphatische Intonationsmuster. Die unter semantisch-semiotischen Aspekten analysierten Klang- und Schallräume in höfischer Dichtung 19 sind zugleich aufzufassen als detaillierte Anweisungen für die Imitation unterschiedlicher Sprechweisen in der Vortragssituation. Bei Stichomythien fehlen nicht implizite, notwendigerweise aber explizite Inszenierungsanweisungen. Sie treten aber sehr wohl bei der Vorbereitung oder Unterbrechung stichomythischer Partien auf, etwa vor der schnellen Wechselrede zwischen Lavinia und ihrer Mutter (Eneasroman,
v. 281,38ff.): sprach diu junkfrouwe
wider / und sach vil trürechliche
(v. 281,23f.); sprach si mit grözen sorgen (v. 281,33).
nider
20
Stichomythien dürften für Dichter wie Vortragende Glanznummern gewesen sein und die delectatio des Publikums in besonderem Maße gefördert haben. Für Leser werden sie grundsätzlich problematisch. Zwar sind höfische Romane für die Schrift konzipiert und wie geistliche Erzählgedichte damit „potentiell unabhängig von den Umständen ihrer Rezeption [...]. Man kann sie vorlesen und hören oder selber lesen". 21 Jedoch lässt sich bei ls
IJ
20
21
Zitiert nach: Erec von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbiitteler und Zwettler Erec-Fragmente, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Auflage besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39). Richtungsweisend Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrifl und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelaller. München 1995, hier bes. S. 142ff. Zitiert nach Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. N a c h d e m Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1986 (RUB 8303). Kartschoke (wie Anm. 10), S. 36.
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Stichomythien beobachten, dass die in den Texten aufgehobene primäre Pragmatik leserfreundlich abgewandelt und einer Sekundärpragmatik unterzogen wird (oder werden kann), wie ich an einem Beispiel aus Eilharts von Oberg Tristrant22
zeigen will. Der Tris-
trant (entstanden um 1170? um 1190? vor oder nach dem Eneasromanl)
ist schlecht über-
liefert. Den vollständigen Text bieten nur zwei voneinander abweichende Papierhandschriften des 15. Jahrhunderts, die Dresdner Handschrift (D), datiert 1433, und die zwischen 1460 und 1475 entstandene Heidelberger Handschrift (H). 23 Exemplarisch sei die Szene zitiert, in der Isalde Brangäne zum Betrug Markes in der Hochzeitsnacht überredet (v. 2743-2775). D
Η
„Brangile, libe vrundynne myn! nu bedarff ich wol dez ratiß din, wie ich myn ding sulle ane van, wen ich bie den koning sal slqffin gan." -'vrauwe, dar umme en weiß ich nyt.' -„sprich nicht so, myn libe lip!" - 'vrauwe, waz sal ich denne redin ?' -„du salt mir bessern rat gebin." -'owe, vrauwe, ich en kan.' -„so iß myn vroude gar zcugan!" -'daß were mir innyglichen leit.'
„Brangenen, liebefründin min! ich bedarff wol deß rautteß din, wie ich min ding siill vahen an, wann ich zu dem küng will ligen gan." Brangenen sprach: 'daß waiß ich nit.' Ysaldsprach: „wie bin ich so bericht?" Brangenen sprach: 'waß sol ich reden ?' Ysald sprach: „gutten raut soltu an heben." Brangenen sprach: 'ich en kan.' Ysald sprach: „so muß ich all fröd Ion." Brangenen sprach: 'daß wär minem hertzen laid.' Ysal[d] sprach: „ wir bringen eß zu mit listikait." Brangenen sprach: 'wie mag daß sin?' Ysald sprach: „ tu eß durch den willen min!" Brangenen sprach: 'land hören, wie daß sy!' Ysald sprach: „dem küng lig by ain wil die ersten nacht!" Brangenen sprach: 'eß ist nit wol bedaucht, wan ich daß nimer getä.'
2745
2750
-,,nu irczeigeß mir dor dine vromigheit!" -'vrauwe, wie sal ich daz thun schin?' -,,nu thu ein ding dorch den willin myn!" -'nu laßit mir horin, waz daß sie!' -„du salt deme koninge legin bie an der irsten nacht ein wile!" -'vrauwe, daz wesit ane ile, daß ich dez werlich nymmir gethu.' 22
23
2755
2760
Vgl. Ludwig Wolff und Werner Schröder, „Eilhart von Oberg", in: 2VL 2 (1980), Sp. 410-418; Korrekturen in: 2VL 11 (2004), Sp. 397. Hs. D = Dresden, Sächsische Landesbibliothek, Ms. Μ 42; Hs. Η = Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 346, zitiert nach Eilhart von Oberg, Tristrant. Edition diplomatique des manuscrits et traduction enfrangais moderne avec introduction, notes et index, hg. von Danielle Buschinger, Göppingen 1976 (GAG 202) [Synoptischer Abdruck der Handschriften H, D, B]. Hier und im Folgenden herangezogen und verglichen worden sind: Eilhart von Oberg, Tristrant. Synoptischer Druck der ergänzten Fragmente mit der gesamten Parallelüberlieferung, hg. von Hadumod Bußmann, Tübingen 1969 (ATB 70); die Edition von Franz Lichtenstein, Eilhart von Oberge, Straßburg 1877 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 19); Eilhart von Oberg, Tristrant und Isalde. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hg. von Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok, Greifswald 1993 (Wodan 1.7) [Emendationen], zuletzt Eilhart von Oberg, Tristrant und Isalde, hg. von Danielle Buschinger, Berlin 2004 (Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 4). Ich verzichte auf pedantische Dokumentation und führe jeweils nur das für meine Argumentation relevante Material an.
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und verwandte Formen des schnellen
sie sprach: „ich wil dir danken so ho
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und bethe dich dez dorch got." — 'ir hat einen ungefugin spot, der rede uch nicht wol an steit.' -„owe, wie groß ernst mich an geit. doch mag ich dez nicht vorberen." -'ir en dorft dez von mir nymmir geren.' -„neyn, libe vrundynne myn! du salt mir ungeswegin sin. daß vordine ich nu und ummir gerne."
2770
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Sprecherwechsels
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Ysald sprach: „so miet ich dich dar zu mit dienst und mit minnen." Brangenen sprach: 'wie wölt ir deß beginnen?' Ysald sprach: „daß will ich laussen sehen." Brangenen sprach: 'tiwer dienst will ich e verjehen.' Ysald sprach: „so bitt ich dich durch got." Brangenen sprach: 'ungefug ist üwer spot.' Ysald sprach: „owe, wie groß ernst mich an got!" Brangenen sprach: 'die red üch nit wol stät.' Ysald sprach: „ich mag ir nit embern." Brangenen sprach: 'ir sind sin nit begern.' Ysald sprach: „nain, lieb frundin min! dar an solt mir beholffen sin. daß verdien ich ymmer."
Die Handschrift D wahrt über elf Zeilen hinweg die stichomythische Struktur, die - wenn auch nicht unbedingt im exakten Wortlaut - als werkadäquat anzunehmen ist. Ohne inquitFormel setzt sie Vers gegen Vers. Im Vergleich dazu kennzeichnet die Handschrift Η die Figurenreden namentlich und setzt an jeden Versanfang von jetzt insgesamt 20 Zeilen wie an den Anfang der zwischengeschalteten drei Doppelverse stereotyp im Wechsel Brangenen sprach, Ysald sprach.24 Diese Redeeinleitungen zwingen in metrisch gebundener Rede zu Textänderungen, die der Bearbeiter oder Schreiber in Kauf nimmt, um seinen Rezipienten die Redesequenzen zu verdeutlichen.25 Inquit-Formeln in Η erfolgen jedoch nicht durchgängig, beispielsweise nicht in Η ν. 649-668 mit dem 'stichomythischen Kern' (v. 660-666) in Einzel- und Halbversen, was allerdings Verwirrung gestiftet hat. In Vers 656 ist von der zu vermeidenden Scham die Rede, die eine kampflose Unterwerfung unter Morolts Forderungen hervorrufen würde/könnte. Der Vers ist in D überliefert: „[...] deß schemete wir unß in dem lande" [Rede Tristrants]; in H: „[...] schämpstu dich min?" [Rede Markes] - 'jo, ich tu' [Rede Tristrants].26 Zu sehen ist, dass ohne inquit-Formeln Redebeiträge nicht mehr zuverlässig an Figuren delegiert werden können. Wo sie eingefügt werden, wird nicht mehr mit einem Vortragenden gerechnet, der in der Lage wäre, durch die Stimme und sein körperliches Ausdrucksrepertoire Redeeinsätze zu markieren. Hätte der Bearbeiter/Schreiber von Η selbst der inquit-Formeln in seiner Vorlage bedurft? Ist er seiner Vorlage, die wir nicht kennen, gefolgt? Oder hat er die Vorlage bewusst verändert? Offenbar entsteht hier das Bedürfnis, die Rezeptionssteuerung durch Verschriftlichung zu 24
25
26
Nach Buschinger (Eilhart von Oberg, Tristrant. Edition diplomatique [wie Anm. 23]), S. 215, fügt Handschrift Η gewohnheitsmäßig die Namen der sprechenden Personen ein. Dass darüber hinaus im Fassungsvergleich Umakzentuierungen hervortreten, etwa v. 2754 oder 2762ff., mag hier ausgeklammert bleiben. Buschinger und Spiewok (wie Anm. 23) emendieren: „schämpstu dich sin?", in ihrer Übersetzung mit literarischem Anspruch: „Tust d u ' s vielleicht [nämlich auf dem Zweikampf mit Morolt zu bestehen], weil du dich dessen schämst, was du hier eben erlebt hast?"
126
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substituieren und der veränderten textexternen Pragmatik des Erzählens mit textinternen Strategien zu begegnen. Mit dem Wandel der medialen Bedingungen, so die Schlussfolgerung, veraltet die Stichomythie in epischer Dichtung.
III.
Zum Verhältnis von Stichomythie und Erzähltempo
Ist die Stichomythie einerseits auf Vortragsweisen der mündlichen Tradition angewiesen, so ist sie andererseits auch Ausdruck rhetorisch-gelehrter Tradition. Ausgehend von der platonischen Bestimmung, dass der Dichter beim Vortragen der Figurenreden wie im Drama spreche, war zunächst die Übertragbarkeit dieser Bestimmung auf die Stichomythie in der Aufführungspraxis mittelalterlicher Epik darzulegen. In rhetorischen Ordnungssystemen war sie als sermocinatio
zu verorten. Damit ist sie dem ornatus als dem Kernbestand
der Ausdruckslehre (elocutio) zuzurechnen, für den insgesamt emotionale Wirkungsabsichten dominant sind. 27 Beide Konstitutionsbedingungen der Stichomythie in mittelalterlicher Epik möchte ich im Folgenden unter dem erzähltheoretischen Aspekt des Erzähltempos betrachten. 'Kurz wird unsere Rede sein. Du aber setz' in deiner Antwort im Wechsel Vers gegen Vers', fordert der Chor der Erinyen von Orest in den Eumeniden des Aischylos. 28 Gedrängte Kürze hebt Bernd Seidensticker als entscheidendes Merkmal der Stichomythie hervor. Unter den mittelhochdeutschen Dichtern scheint vor allem Herbort von Fritzlar für die stichomythische Technik prädestiniert. Zum einen verfügt er als litteratus über weitreichende Kenntnisse der lateinischen Tradition, zum anderen verpflichtet er sich in seinem Liet von Troye (zwischen 1190 bis 121729) bereits im Prolog programmatisch auf das Stilideal der brevitas.30 Er stellt dies mit einer - allen deutschen Adaptionstechniken zuwiderlaufenden
27 28 29
30
Vgl. für die Stichomythie Miedema (wie Anm. 3), S. 5f. Zitiert nach Seidensticker, „Stichomythie" (wie Anm. 5), S. 183. Zu Datierungsvorschlägen vgl. Ricarda Bauschke-Hartung, Herbort von Fritzlar, 'Liet von Troye'. Antikenrezeption als Diskursmontage und Literaturkritik, Habilitationsschrift, eingereicht am 1.2.2006, die für Spätdatierung plädiert, S. 34^t2; ich bedanke mich herzlich für die Möglichkeit der Einsichtnahme. Ich zitiere, trotz der Problematik der Ausgabe, Herbort's von Fritslär liet von Troye, hg. von Karl Frommann, Quedlinburg/Leipzig 1837, Nachdruck Amsterdam 1966 (Editions Rodopi); vgl. Ricarda Bauschke, „Die Edition von Herborts von Fritzlar 'Liet von Troye'. Vorüberlegungen zum Projekt einer Neuausgabe", in: Die Edition deutscher Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion, hg. von Martin Schubert, Berlin 2005 (editio 22), S. 119-131. Vgl. grundlegend Franz Josef Worstbrock, „Zur Tradition des Troiastoffes und seiner Gestaltung bei Herbort von Fritzlar", in: ZfdA 92 (1963), S. 248-274; zur aktuellen Forschungssituation vgl. Bauschke-Hartung (wie Anm. 29).
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und verwandte
Formen des schnellen
Sprecherwechsels
127
- rabiaten Kürzung seiner altfranzösischen Vorlage, dem Roman de Troie des Benoit de Sainte-Maure, unter Beweis. Die Suche nach den in der Herbortforschung verheißenen rasante Stichomythien 3 ' führt in Vers 6332 zum Erfolg. Hier sprengen die topischen Intimgegner Achill und Hector aufeinander los, fie griene/Als
zwene hunde (v. 6316f.), blecken
sich bestialisch an. Ir deweder enkvnde / Den andern nichtes gefrage (v. 6318f.). Hector gelingt es schließlich, Achill vom Pferd zu stoßen. 6330
6335
Hector im das ros nam Das werte fere achilles Er fprach ej ist min iener Dirre min Iener din Entruwen ia Εχ enift. £ j i f t nv la
wes
Der Herausgeber Karl Frommann vermutet Er fprach,
Dirre und Iener als Zusätze des
Schreibers der einzigen vollständig überlieferten Handschrift aus dem Jahre 1333, „wodurch er [der Schreiber] dem Verständnisse zu hülfe kommen wollte", und bietet folgende Textherstellung: 32 [Er Fprach:] 'es ift min!' - iener: 'Min!' - „dtn?" - 'entriuwen ja!' „ Es enift!" - 'es ift! nu la!' -
„wes?"
Selbst diese Konstruktion kommt nicht ohne das für das Stilmittel des schnellen Sprecherwechsels überzählige Iener aus. Allemal ist die performative Zeitrafferfunktion in dieser gedrängten Aktions-Stichomythie - wie immer sie ursprünglich formuliert gewesen sein mag - als stilistische Finesse deutbar. Es findet sich eine weitere schnelle Wechselrede mit Erzählereinschüben, das nächtliche Frage- und Antwortspiel zwischen dem schönen Dolon und den Boten Ulisses und Diomedes, die in höchster Eile sind:
8020
Er [Dolon] fprach wer ritet da Werfraget des daj tun ich Wer bift du er nante fich Ich han gefaget. nv faget mir Was fvMe w'r fagen wer fit ir
Schwer zu sagen, ob es sich bei dieser 'Informations-Stichomythie' ohne Informationswert um freiwillige oder unfreiwillige Komik handelt. Beide Belege stehen im Kontext einer 31
Elisabeth Schmid, „Ein trojanischer Krieg gegen die Langeweile", in: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag, hg. von W o l f g a n g Harms und Jan-Dirk Müller in Verbindung mit Susanne Köbele und Bruno Quast, Stuttgart 1997, S. 199-220, hier S. 204.
32
Anmerkung zur Stelle, S. 278f.
128
Maria Ε. Müller
Strategie der Wortmortifikation bei Herbort. Wie der Erzähler fallen sich die Figuren immer wieder selbst oder ihrem Gegenüber ins Wort: 33 Als er fpreche wolde fort / Hector nam im die wort / V j dem munde (v. 5989-5991). Vollends auf dem Schlachtfeld herrscht ein so hektisches Rennen, Sprengen und Jagen, dass für agonale Rededuelle keine Zeit bleibt. 34 Kaum setzt einer zur Reizrede an, liegt er schon tot am Boden (v. 5265ff.). Trotz zynischer Lakonismen wird mitunter ein ganzer Vers geopfert für den Hinweis, dass der Tod dem einen die fprache
benam (v. 11902), ein anderer nlmer mer wort
gefprach
(v. 18013). Stimme und Zunge versagen, Worte gehen unartikuliert im Wehgeschrei unter und ersterben in der Gurgel (v. 10560ff.), und fast scheint es, als müsse dem Leben ein Ende gesetzt werden, um den Worten ein Ende zu setzen: Do er fpreche wolde vort / Hector Flue im das wort / Als vnfamfle wider in / Daj im wort vn fin / Vnd fin geift dar mite / Entgulten finer vnfite (v. 7515-7520). Für die Gestaltung von Redeszenen sind dies keine günstigen narrativen Bedingungen, und entsprechend werden Gesprächsszenen der Vorlage bevorzugt in abkürzend-indirekte Reden überführt. Die Transformation mimetisch abgebildeter Sprechsituationen in indirekte Rede, Handlungsbericht oder Erzählerkommentar ist nach dem Befund Ricarda Bauschkes ein generelles Merkmal der adaption courtoise altfranzösischer Vorlagen durch mittelhochdeutsche Autoren. Während letztere jedoch eine Reduktion des Erzähltempos erzielen und „im Falle der Anverwandlung von Dialogen zumindest der E i n d r u c k eines 'langsameren Erzählens' entstehen kann", bestimmen „Schnelligkeit und Direktheit die Diktion des Liet von Troye",35 Warum aber begegnen bei Herbort dann nicht häufiger schnelle Sprecherwechsel? Angesichts seines bereits von Hermann Menhardt konstatierten O p p o sitionsgeists' 36 dürfte der Sachverhalt, dass bereits bei Benoit die für altfranzösische Erzählwerke typischen Dialoge im Zeilen- oder Halbzeilenstil fehlen, 37 hierfür nicht ausschlaggebend sein, zumal Herborts Kenntnis von Heinrichs von Veldeke
Eneasroman
außer Frage steht (vgl. v. 17381-17385). Die nahe liegende Einschätzung, dass Stichomythien der Steigerung des Erzähltempos dienten, wie dies Ricarda Bauschke zufolge für altfranzösische Erzählwerke typisch ist,38 trifft keineswegs generell zu. Rekapituliert man etwa die Stichomythien bei Heinrich von 33
34
35
36 37 38
Zu Herborts Abneigung gegen lange Reden auf der Erzähler- wie Figurenebene vgl. Schmid (wie Anm. 31), S. 201f. Vgl. Andrea Sieber, „Zwischen Norm und Transgression. Gefühle der Feindschaft in Homers Ilias und Herborts von Fritzlar Liet von Troye", in: LiLi 35 (2005), S. 70-91, hier S. 81f. Vgl. Bauschke-Hartung (wie Anm. 29), Zitat S. 191 (Hervorhebung ebd.); zur adaption courtoise und ihren Formen bei Herbort die Kapitel II Α bzw. II B. Zusammenfassend zu Übereinstimmungen und Abweichungen der Techniken der adaption courtoise bei Herbort im Vergleich zu anderen mittelhochdeutschen Autoren S. 232-234. Hermann Menhardt, „Herbortstudien", in: ZfdA 66 (1929), S. 173-200, hier S. 182. Bauschke-Hartung (wie Anm. 29), S. 190. Ebd., S. 115.
Stichomythien und verwandte Formen des schnellen
Sprecherwechsels
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Veldeke und Eilhart von Oberg, so liegt ihnen in der Regel keineswegs ein vorwärtsstürmendes brevitas-Ideal zugrunde.39 Stichomythien werden in mittelhochdeutschen Erzählwerken vielmehr überwiegend zur Verlangsamung des Erzähltempos eingesetzt bis hin zum Extrem der Erzählpause, bei der die erzählte Zeit gleich Null ist.40 Sie sind in ihrer Mehrzahl Prunkstücke, mit denen die Dichter ihre Erzählung mit ornatus ausstatten. Entsprechend finden sich rhetorische Figuren, die den schnellen Sprecherwechsel sprachlich und stilistisch virtuos zu verknüpfen suchen.41 Dabei spitzen Stichomythien bereits bekannte Problem- und Handlungskonstellationen zu, übernehmen aber auch retardierende Funktionen. Insbesondere Eilhart hat den Ehrgeiz, seine Beherrschung der neu erworbenen Stiltechnik umfangreich unter Beweis zu stellen. Bei ihm werden nachgerade rückstauende Effekte erzeugt. Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen. Nachdem Tristrant und Isalde, des Ehebruchs überführt, sich mit knapper Not entehrenden Todesurteilen durch die Flucht in den wilden Wald entziehen konnten, verliert der Minnetrank in Eilharts Version nach vier Jahren seine tödliche Wirkung, wenngleich er auch weiterhin folgenreich bleibt. Tristrant entschließt sich, die blonde Isalde ihrem rechtmäßigen Ehemann zurückzuerstatten.42 „wie nu, her Tristrant", so wird die Ubergabeaktion von Marke eröffnet, „wolt ir mir nu die vrawe gebin?" (v. 4916f.). 'gerne, here!', er-
widert der Held, der damit seine Statussicherung als Erbe verbindet: 'und sal ich daz lant mite habin?' (v. 4919). Es folgt eine in Halb-, Einzel- oder Doppelversen gegliederte Wechselrede 43 zwischen Marke und Tristrant: 4920
-„neyn, daß wil ich wedirsagin." -'war umme? waz habe ich uch getan?'
Der Skandal ist längst perfekt. Die Frageform wird hier ihrer dialogischen Funktion entkleidet und, wie im Parteienstreit üblich, als rhetorische Figur genutzt, mit der der Sprecher Verständnislosigkeit simuliert. Was Figuren wie Hörern bereits lang und breit vor Augen und Ohren gekommen ist, fasst Marke in der Replik zusammen: „harte vele, dez ich lastir han" (v. 4922). Das Muster rotiert in der Folge, der Dialog tritt auf der Stelle. Tristrant bietet Wiedergutmachung an, Marke will davon nichts wissen: „ich en wil" (v. 4925). Weiter geht's mit 'war umme?', „nein" und 'ja'. Tristrant bittet Marke schließlich um Gottes willen um Vergebung, aber Marke will ihm nie wieder holt sein, Gott hin oder her. 39
40 41 42 43
Ausnahmen sind Botenberichte von stichomythisch-gedrängter Kürze, etwa Tristrant, v. 728ff., mit Redeeinleitung, dann durch Antilabe beschleunigt. Zur Terminologie vgl. Peter Stocker, „Erzähltempo", in: 2 RLI (1997), S. 511-513. Vgl. zu entsprechenden Kunstgriffen Seidensticker, „Stichomythie" (wie Anm. 5), S. 188ff. Nachfolgendes Zitat nach Handschrift D. In Handschrift D nach Vers(teilen), Tristrant (Tr), Marke (Μ): 1 Tr, 1 Μ, 1 Tr, 1 M, 2 Vi Tr, Vi M, Vi Tr, Vi M, Vi Tr, Vi M, 2 Tr, 2 Μ, 1 Tr, 1 M, 2 Tr, 1 M, Vi Tr, 1 Vi Μ, 1 Tr, 1 M.
130 4936
Maria Ε. Müller -'wo mete han ich daz vorschult?' -„wo mete? ja, daz wisset ir wol."
Tristrant erneuert sein Treueversprechen in vasallitischer Dienstterminologie, Marke lehnt schroff ab: -„uwerß dinsteß begere ich nyt" (v. 4940). Tristrant, einmal mehr repetitiv: 4941
-'war umme, here?' - „daz wil ich sagin: ich habe von uch lasier und schadin." -'muß ich doch wol in uwerm lande sie! ' u -„ neyn, ir weret mir zcu nahe bie. "45
Auf diese und andere 'bizarre' Wechselreden kann man wie Werner Schwartzkopff „mit einem gelangweilten Unbehagen" 46 reagieren, oder aber - man muss lachen.47 Beide Reaktionsweisen sind anachronistisch, aber nur zu verständlich. Tristrant spielt hier nicht, wie in einer späteren Episode, den Narren; seine 'war umme'- und 'wo mete '-Fragen wollen kontextbezogen ernst genommen werden. Im Resultat kündigt Tristrant Marke zornig die Gefolgschaft auf und will ihn nur um Isaldes willen mit dem Leben davonkommen lassen. Der durch rhetorische Fragen erzeugte Leerlauf vergegenwärtigt die bisherige Handlung. Die Zeit wird angehalten, der Erzählablauf zugunsten eines Virtuosenstücks sistiert. Armin Schulz hat überzeugend dargelegt, dass sich an diesem Wendepunkt eine Rückkehr von mythischer, liminaler, außerhöfischer Zeit, für die „die Ebenen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft nicht eindeutig geschieden sind", zur höfischen Zeit vollzieht.48 Die Stichomythie setzt als Nullwert der Erzählpause, gewissermaßen in stehender Bewegung, die Erzählzeit außer Kraft, und dann wird die Erzählmaschinerie wieder angeworfen: Es kommt zur endgültigen Verbannung Tristrants. Dies ist typisch für Stichomythien in mittelhochdeutschen Erzählwerken. Als eingeschaltete Abschweifungen unterbrechen sie den Gesamtverlauf, sind Digressionen, die in den Fortschritt der Handlung eingesprengt sind. Sie machen sich als Stauungen des Erzählverlaufs geltend, die je nach ihrer Verknüpfungsart mit dem momentanen Stand des Geschehens oder ihrer Beziehung zur übergreifenden Handlung oder deren Darstellung unterschiedliche Funktionen übernehmen können.
44
45
46
47 48
Handschrift H, v. 4944f.: 'wölt ir mir ouch [Ed. Lichtenstein: nicht] gönnen, / daß ich in uwerm land sy?'. Handschrift Η fügt, wie erwartbar, einen Erzählereinschub ein und weist Plusverse auf, die stichomythische Struktur bleibt jedoch erkennbar. Werner Schwartzkopff, Rede und Redeszene in der deutschen Erzählung bis Wolfram von Eschenbach, Göttingen 1908, S. 45, vgl. S. 53. Ähnlich unterhaltsam ist die Anagnorisis-Stichomythie in der 'Splitterszene' (v. 1902ff.). Armin Schulz, „in dem wilden wald. Außerhöfische Sonderräume, Liminalität und mythisierendes Erzählen in den Tristan-Dichtungen: Eilhart-Beroul -Gottfried", in: DVjs 77 (2003), S. 515-547, hier S. 522.
Stichomythien und verwandte Formen des schnellen
IV.
Sprecherwechsels
131
Narrative Funktionen der Stichomythie
Stichomythien in mittelhochdeutscher Epik sind für Vortragende Bravourstücke, für Dichter rhetorische Glanzpartien, die einem dem ornatus verpflichteten Stilideal angemessen sind. Virtuell sind sie, ähnlich wie Beschreibungen, an jedem Punkt der Erzählung einsetzbar. Mediale und stilistische Konstituentien der Stichomythie können sich jedoch mit handlungsstrukturierenden und narrativen Funktionen verbinden. An Eilharts Tristrant möchte ich das Funktionsspektrum der Stichomythie knapp skizzieren und am Dido-Teil des Eneasroman Heinrichs ihre potentiell sinntragende Funktion exemplifizieren. Bei Eilhart berücksichtige ich, aufgrund der teils erheblich voneinander abweichenden TristrantHandschriften, nur Beispiele, bei denen alle überlieferten Textzeugen übereinstimmend eine 'stichomythische Struktur' konserviert haben. Im Überblick zeigt sich bei Eilhart, dass sich die annähernd 20 Stichomythien zum Teil mehr oder weniger beliebig an konventionelle Motive - Botenszene, Briefübergabe, Verhörsituation - anhängen. Im diametralen Gegensatz dazu wird das erhöhte Aufmerksamkeitspotential der Stichomythie als strukturmarkierendes Mittel eingesetzt. Dies gilt in hervorragender Weise für die bereits vorgestellte Streit-Stichomythie zwischen Marke und Tristrant (v. 4916ff.), die die scharfe Zäsur des Gesamtwerks markiert: die endgültige Verbannung Tristrants als Auftakt für die Wiederkehrabenteuer.49 Es gilt aber auch für Schlüsselszenen. Zu ihrer Auszeichnung wird die Signalwirkung der Stichomythie nicht durchgängig, aber häufig genutzt. Etwa als Streit-Stichomythie, in der Tristrant gegen Markes Einspruch auf dem Zweikampf mit Morolt besteht (v. 653ff.); 50 als Anagnorisis-Stichomythie beim Splitterfund (v. 1902ff.); als Überredungs-Stichomythie, in der Brangäne der Brautnachtbetrug an Marke nahe gebracht werden soll (v. 2747ff.); kontextadäquat kurz als Affekt-Stichomythie, wobei Tristrants heftige Erregung in Gewalttätigkeit auszuarten droht, der Held sich dann aber doch noch eines Besseren besinnt, wofür er vom Erzähler
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Vgl. Peter Strohschneider, „Herrschaft und Liebe. Strukturprobleme des Tristanromans bei Eilhart von Oberg", in: ZfdA 122 (1993), S. 36-61. Strohschneider erwähnt Stichomythien nur kurz in einer mir nicht verständlichen Anmerkung (S. 39, Anm. 12). Gleichwohl bildet die Streit-Stichomythie v. 4916ff. die Achse seiner Interpretation. Vgl. zum ausgeprägten Interesse des Erzählers an Staatsaktionen, das in dieser Szene zum Ausdruck komme, Volker Mertens, „Eilhart, der Herzog und der Truchseß. Der 'Tristrant' am Weifenhof', in: Tristan et lseut, mythe europeen et mondial. Actes du Colloque des 10, 11 et 12 Janvier 1986, hg. von Danielle Buschinger, Göppingen 1987 (GAG 474), S. 262-281, hier S. 267; zur anhaltenden Brisanz der Szene im Herrschaftsraum Braunschweig-Lüneburg vor allem den um 1300 entstandenen Tristan-Teppich I (Kloster Wienhausen), der die Szene spannungsreich in Text und Bild präsentiert, vgl. Doris Fouquet, Wort und Bild in der mittelalterlichen Tristantradition. Der älteste Tristanteppich von Kloster Wienhausen und die textile Tristanüberlieferung des Mittelalters, Berlin 1971 (Phil.St.u.Qu. 62), S. 78f„ 125ff., 139ff.
132
Maria Ε. Müller
als wise gelobt wird (v. 6932ff.); als Streit-Stichomythie, in der Kehenis Tristrant die Freundschaft aufkündigt (v. 621 Off.), die zum Anlass für das zweite Wiederkehrabenteuer wird. Die letztere zeigt exemplarisch, dass Tristrants Triebfeder für die Rückkehr nicht die Liebe, sondern die Ehrenrettung ist, und kulminiert beim Schönheitswettbewerb im Sieg der blonden Isalde Uber Isalde Weißhand. 51 Singular ist das Ausspielen des Komik-Potentials der Stichomythie im letzten Wiederkehrabenteuer: Nach dem bekannten Muster Warumme? - daz wil ich sagin erhebt Tristrant in der Rolle des liebestollen Narren Anspruch auf Isalde. Marke verkennt die Wahrheit als Affenspiel und beschert so dem Paar viele lustvolle Liebesnächte. 52 Zu beobachten sind auch Korrespondenzen zwischen benachbarten Stichomythien. So löst Isaldes Splitterfund, als Beweis für Tristrants Schuld an Morolts Tod, zwei korrespondierende Stichomythien aus, die Anagnorisis- (v. 1902ff.) und die Überlistungs-Stichomythie (v. 1976ff.), deren Anlass das Gebot des irischen Königs ist, jeden aus Cornwall Stammenden zu töten. Beide Szenen kreisen um die Frage, wie Tristrant der Rache für die tödliche Verwundung Morolts entrinnen könne. Erst muss sich Tristrant vor Isaldes Tötungsabsicht in Sicherheit bringen, dann bringt Isalde Tristrant vor der Tötungsabsicht ihres Vaters in Sicherheit. Die Vernetzungen von Stichomythien lassen sich auch beim dritten Wiederkehrabenteuer zeigen. Aufgrund von Isaldes ungerechtfertigtem Vorwurf, er habe aus Feigheit einen Kampf vermieden, zu dem er in ihrem Namen herausgefordert worden war, und aufgrund ihrer entehrenden Misshandlung schwört Tristrant, Isalde mindestens ein Jahr lang zu meiden. Später bereut sie ihren Jähzorn, und dies löst eine Art Kettenreaktion aus mit den Stichomythien v. 7096ff. (Isalde - Perenis), 7134ff. (Isalde - Piloise) und 7224ff. (Tristrant - Piloise), die um die Versöhnung des Paars kreisen. 53 Ein Stichomythie-Typus, den das griechische Drama nicht kennt und nicht kennen kann, ist die Publikums-Stichomythie. Hartmanns vieldiskutierter Publikumsdialog im Erec ist der locus classicus, und vieles spricht dafür, dass ihm das Patent zusteht. 54 Im Tristrant begegnen ausgedehnte Publikumsdialoge, eine Publikums-Stichomythie nur in Ansätzen (v. 7634ff.). 55 Zu deuten und einzuordnen wäre sie nur in einer detaillierten Einzelinterpretation. 51
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55
Vgl. Jan-Dirk Müller, „Die Destruktion des Heros oder wie erzählt Eilhart von passionierter Liebe?", in: II romanzo di Tristano nella letteratura del medioevo - Der 'Tristan' in der Literatur des Mittelalters. Beiträge der Triester Tagung 1989, hg. von Paola Schulze-Belli, Triest 1990, S. 19-37, hier S. 27-29. Möglicherweise zu tragisch wird die Szene, trotz des konstatierten Schwankmusters, genommen von Müller (wie Anm. 51), S. 32, 36. Freilich sind die Überlieferungsverhältnisse hier besonders problematisch. Die kurze Stichomythie v. 7096 ist nur in Η überliefert, für 7134ff. und 7224ff. bestätigt das Stargarder Fragment H. Die jüngste Interpretation bietet Miedema (wie Anm. 3), S. 7 - 1 2 , die die wesentlichen Forschungspositionen dokumentiert. Henrike Lähnemann danke ich für den Hinweis.
Stichomythien und verwandte Formen des schnellen
Sprecherwechsels
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Eilharts unterschiedliche Verfahren sind, so weit ich sehe, generalisierbar. Das literarästhetische Gewicht einer Einzel-Stichomythie ist jeweils kontextbezogen zu ermitteln. Abzuklären ist, ob sie ein handlungsfunktionales Element der dargestellten Welt oder ein handlungsmarkierendes Mittel der Darstellung ist, oder ob sie als dilatatio materiae virtuell an jedes Detail der Erzählung anknüpfen könnte.56 Stellen wir uns Hartmanns Publikumsdialog im Erec an anderer Stelle vor, etwa als amplifizierende Inventarbeschreibung der 'Armen Herberge' oder als Ausschmückung der Schluss-äventiure, so würden wir auch dafür gute Gründe finden. Ganz anders verhält es sich in Heinrichs von Veldeke Eneasroman. An ihm möchte ich die semiotische Funktion der Stichomythie bei der Dramatisierung der Handlung vorführen. Ich werde mich auf die Dido-Handlung konzentrieren.57 Im Dido-Teil vernetzen die stichomythischen Partien die Wendepunkte der Handlung und die liminalen Situationen der Handlungsträger. Sie markieren die Ankunft des Eneas, Didos Beratung mit ihrer Schwester Anna, in deren Folge Dido die Liebesvereinigung arrangieren wird, und die Abfahrt des Helden. Sie thematisieren zugleich die unter feudalen Bedingungen unauflösbare Verbindung von Liebe und Herrschaft. In diesem Sinn wird bereits die konventionelle Boten-Stichomythie mit Bedeutung aufgeladen. Der landflüchtige Eneas irrt sieben Jahre lang auf dem Meer herum, gerät in den topischen Seesturm und wird an die libysche Küste verschlagen. Als Herzog ohne Land und Herrschaft, soeben mit knapper Not dem namenlosen Untergang entronnen, ist er in einer fatalen Situation. Die ausgesandten Boten bringen die rettende Nachricht, und sie tun dies in der gebotenen Eile, die durch Antilabe angezeigt wird:
32,30
32,35
56
57
her sprach: 'waz habet irfunden?' „allezgut." 'unde waz?' „Kartägd." 'waz is daz?' „ez is ein borch here." 'dorch got, saget mere, is si verre?' „nein, s'is na." 'fundet ir den kunich da?' „da nis kuneges niht." 'wie denne so?' „dä is diu frouwe Dtdd. " 'gesprächet ir si?' „ja wir taten." 'wiefitndet ir si?' „ wol beraten." 'waz enbütet sie uns?' „allez gut." 'meinet sie ez?' „ja si tut, sie enphienk uns mit minnen [... ]".
Vgl. Franz Josef Worstbrock, „Dilatatio materiae. Zur Poetik des 'Erec' Hartmanns von Aue", in: Frühmittelalterliche Studien 19(1985), S. 1-30. Ich orientiere mich an der Interpretation von Dieter Kartschoke, „Didos Minne - Didos Schuld", in: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland, hg. von Rüdiger Krohn unter Mitwirkung von Helmut Brackert u.a., München 1983, S. 99-116; vgl. außerdem den Beitrag von Elke Ukena-Best in diesem Band, insbesondere S. 166-170.
134
Maria Ε. Müller
Nach dem Was und Wo folgt sofort die Frage nach der Herrschaft. Kein König, eine Königin; ein Empfang „mit minnen" (v. 32,39): Aussicht auf wohlwollende Aufnahme. Vielleicht weist die Mehrdeutigkeit von minne schon auf das Folgende voraus. Nun hat der Eneasroman so wenig wie der Roman d'Eneas einen Prolog, der die Hörer üblicherweise über den Handlungsverlauf instruiert. Dessen handlungsorientierende Funktion delegiert der Autor - nicht nur hier - an den Dialog der Figuren und im Dido-Teil ganz besonders an die schnelle Wechselrede. Die nächste stichomythische Partie markiert den Wendepunkt im Minnegeschehen. Der Hörer mag nach den langatmigen Erzählungen des Eneas vom Fall Trojas und den in wiederholt ansetzenden Schilderungen von Didos sich über die ganze Nacht hinziehenden Minnequalen in seiner Aufmerksamkeit nachgelassen haben. Nun wird er wachgerüttelt durch die Wechselrede Didos mit ihrer Schwester Anna. Wurde bei der Ankunft der Trojaner noch Didos besondere Klugheit gerühmt - Michel was ir wtstüm (v. 27,25) - , so stürzt sie der zwanghafte Liebeszauber der Venus in eine sinnverwirrende, entgrenzende Leidenschaft. „min ere wil zergän" (v. 53,34) lautet Didos Eröffnung des stichomythischen Gesprächs, und es fallen in rascher Folge die zentralen Stichworte: not - tot; minne - unsinne (v. 53,37f.; 54,3f.). 54,2
[Rede Anna? Rede Dido?] [Rede Anna:] [Gegenrede Dido:]
sw ester, wie mach daz wesen? ich wäne, frowe, ez is minne. ja, ja, swester, mit unsinne.5*
Die Affektfigur des gedoppelten „jä ja" exponiert die folgenschwere Wendung „mit unsinne", der Anna mit dem Rat begegnet: '[...] ir solt üch versinnen baz' (v. 54,18). 59 Doch gerade, dass Dido im Sinne Annas Vernunft annimmt und sich Eneas hingibt, wird ihr tragisches Schicksal besiegeln. Dies wirft sie sich später selbst vor. Den Auftakt zu ihren Selbstanklagen bietet die nächste stichomythische Partie. Dido zieht Eneas, der sich heimlich hinwegstehlen will, zur Rechenschaft. Die Weichen sind gestellt: Eneas wird sich mit Berufung auf das Göttergebot verabschieden, Dido wird die Verzweiflung darüber in den Selbstmord treiben. Der hin- und herschnellende Dialog der Schwestern komprimiert Didos soziales Drama im Sinne des Liminalitätsparadigmas. 60 Bezogen auf die Stadien von Trennungs-, Schwellen- und Wiederangliederungsphasen provoziert die Ankunft des Eneas chiastisch für Dido den Bruch mit ihrem sozialen Status als idealer Herrscherin, während sie für Eneas nach der Flucht aus Troja den Wiedergewinn seines adligen Status be-
58
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Die Stelle ist eines von mehreren Beispielen für eine abweichende Redeverteilung seitens der Editoren; vgl. den Stellenkommentar von Dieter Kartschoke. Hier und öfter begegnet die für Stichomythien typische Stichwortverhakung durch die flgura etymologica. Vgl. den Forschungsüberblick bei Doris Bachmann-Medick, „Kulturelle Spielräume: Drama und Theater im Licht ethnologischer Ritualforschung", in: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, hg. von Doris Bachmann-Medick, Frankfurt a.M. 1996, S. 98-121, hier S. 98-105.
Stichomythien
und verwandte Formen des schnellen
Sprecherwechsels
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deutet. Die allein von Heinrich legalisierte Minneverbindung erweist sich für beide Figuren als Schwellen- und Übergangsphase. Didos Reintegration in den feudalen Herrschaftsverband scheitert und führt sie in die liminale Situation schlechthin, in den Tod. Für Eneas resultiert die wiederholte Trennungsphase nach den Schwellenerfahrungen von Unterwelt, Krieg und Minne in der Wiederangliederung auf höherer Stufe. Alle drei Dialoge haben Anknüpfungspunkte in der Vorlage, nicht aber die letzte Stichomythie, 61 in der sich Eneas und Lavinia an ihrem zukünftigen Glück begeistern. Mit ihrer Hochzeit und Krönung sind die Transitionsprozesse zum Abschluss gekommen. Gleichwohl ist die Abschluss-Stichomythie mit den Dido-Stichomythien verbunden. Wie in der antiken Tragödie sichert der tragische Untergang der Heldin die Ordnungsstrukturen des Ganzen und ermöglicht das utopische Schlusstableau. Ganz umstandslos konnte der gelehrte Heinrich den als defizienten Thronanwärter eingeführten Eneas 62 nicht nobilitieren, zumal er von misogynen Reden seiner Vorlage Abstand nimmt. Der pater pius Aeneas wird aufgrund seiner Treulosigkeit gegenüber Dido schon bei Vergil als perfidus apostrophiert, und auch das Mittelalter kennt die Empörung über den Liebesverrat des Helden. Um der aparten Übersetzung willen sei exemplarisch die in den Carmina Burana überlieferte Liebesklage Didos wiedergegeben: „Anna, schaue, / wie der schlaue / Ungetreue mich betrog! / Mich voll Tücke / ließ zurücke / hier in solcher Angst und Not! / Deiner Schwester / winkt als bester / Freund, ο Schwester, nun der Tod". 63 Vergil hatte sich für Lavinia herzlich wenig interessiert. Mit ihrer Aufwertung im Kontext der für den mittelalterlichen Antikenroman typischen Aufwertung der Minnekonzeption wachsen die Legitimationsprobleme. Dies hat Heinrich von Veldeke, wie die Stichomythie v. 339,12ff. belegt, deutlicher gesehen als der anonyme Vorlagenautor. Wird die liminale, zwischen dramatischer und epischer Gattung changierende Technik der Stichomythie im Dido-Teil eingesetzt zur Auszeichnung liminaler Situationen, so markiert sie gegen Ende in kontrastiver Rückkoppelung die Auflösung aller Konflikte.
61 62
63
Vgl. Miedema (wie Anm. 3), S. 2, 7 - 9 . Eneas lässt die Trojaner im Kampf gegen Menelaos im Stich, wobei ausschlaggebend für die mit Ehrverlust verbundene Flucht vor den brandschatzenden Griechen nicht mehr das Göttergebot, sondern die Beratung mit seinen Vasallen ist (v. 19,30-33). Mit der Entmythologisierung schwindet die Integrität des Helden. Anna, vides, que sit fides deceptoris perfidi? Fraude ficta me relicta regno fugit Punica! nil sorori nisi mori, soror, restat, unica, CB 100,5a. Übersetzung von Carl Fischer in der WBG-Ausgabe der Carmina Burana, Darmstadt 1975, S. 181. Dieses und weitere Beispiele verdanken sich Kartschoke (wie Anm. 57), S. 100-102.
136
V.
Maria Ε. Müller
Forschungsperspektiven
Gegen 1240 zieht der Autor des Mauritius von Craün die Summe der höfischen Dichtung. Er bietet nicht nur eine Ursprungsgeschichte des Rittertums, sondern auch eine Anamnese der Minnedoktrin, ihrer Geltungsmacht und ihrer nun zeitgemäßen Verabschiedung. Er verknüpft dabei die beiden großen formalen Errungenschaften des höfischen Romans, den Monolog und die Stichomythie. 64 Während der epische Monolog seine Karriere fortsetzen kann, gerät die Stichomythie zunehmend aus der Mode. In vielen nachklassischen Romanen, bei Konrad von Würzburg etwa, wird sie nicht mehr verwendet. 65 Ein Grund dafür ist, wie ich versucht habe zu zeigen, der Wandel der medialen Rahmenbedingungen. Jedoch ist dies kein hinreichender Grund. So verwendet Wolfram die stichomythische Technik im Parzival nur für wenige Verse. 66 In Gottfrieds von Straßburg Tristan, darauf hat Nine Miedema hingewiesen, erscheint nur eine einzige Stichomythie (v. 17463-17487), und sie hat daraus zu Recht den Schluss gezogen, dass die Verwendung oder Vermeidung von Stichomythien auf unterschiedliche Autorprofile verweist. 67 Die bisher vorliegenden Analysen zu Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue, Eilhart von Oberg, Herbort von Fritzlar und dem Mauritius von Craün wären auf weitere Autoren auszudehnen, auch zur fundierteren Einschätzung des Negativbefunds. Erst dann wäre auch abzuschätzen, ob eine signifikant
gender-spezifi-
sche Distribution zu beobachten ist. Voraussetzung hierfür wäre ein adäquates Beschreibungsschema. Die Stichomythie in ihrer strengen Form ist eher selten. Diesen Begriff dennoch zu verwenden, ist eine Notlösung. Stattdessen fortgesetzt von Formen des schnellen Sprecherwechsels zu sprechen, ist schlicht zu umständlich. Der von Bernd Seidensticker für die Dialogtechnik Senecas vorgeschlagene Terminus 'Gesprächsverdichtung', der formale und funktionale Komplexität signalisiert, ist, wie ich hoffe gezeigt zu haben, nicht angemessen. Die mittelhochdeutschen Stichomythien erstreben selten knappe, zugespitzte Formulierungen und neigen nicht unbedingt zu stilistischer und gedanklicher Komprimierung. 68
64 65 66
67 68
Vgl. Fischer (wie Anm. 4, 3. Kapitel), dem ich mich auch in der Datierung des Textes anschließe. Vgl. Miedema (wie Anm. 3), S. 20. Urscheler (wie Anm. 15, S. 58) nennt zwei Belege, den Wortwechsel zwischen Obie und ihrer Mutter (v. 352,16-18), wobei v. 352,16 eine Redeeinleitung vorausgeht, so dass eigentlich nur zwei Verse in Anschlag gebracht werden dürften. Die zweite Stelle zu Beginn des Dialoges zwischen dem Erzähler und Frau Aventiure (v. 4 3 3 , 1 - 7 ) reduziert sich genau genommen auf die ersten drei Verse; vgl. dazu den Beitrag von Henrike Lähnemann in diesem Band. Miedema (wie Anm. 3), S. 20. Vgl. Seidensticker, Seneca (wie Anm. 6), S. 14, 86.
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Sprecherwechsels
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Auf diesen Grundlagen könnten die von mir formulierten Ansätze für eine typologische Differenzierung präzisiert werden. Zunächst wäre die nach 'inhaltlichen Kriterien' für die griechische Tragödie entwickelte Typologie auf ihre Anwendbarkeit hin zu überprüfen. Die Bezeichnungen Informations-, Streit-, Überredungs-, Anagnorisis-, Beratungs- und Aktions-Stichomythie69 beziehen sich, anders als etwa die 'Mord-Stichomythie', nicht auf Inhalte, sondern auf rhetorisch-dramatische Stilmittel. Der Inhalt der jeweiligen Wechselreden ist für die mittelalterliche Epik indes von großem Interesse. Hier wären Kombinationstypen mit zwei Koordinaten zu bilden, die epochenspezifische Themenbereiche wie Minne oder Vasallität erfassen, z.B. als 'MinnestreitStichomythien'. Ähnliches gilt für Mutter-Tochter-Szenen, die offenbar auf das römische Vorbild der domina-nutrix-Szenen70
zurückgehen, und sowohl der Überredungs- wie der
Diskussions- oder Streit-Stichomythie zuzuordnen wären. Ergänzungsbedürftig wären vor allem auch von mittelalterlichen Dichtern neuentwickelte Formen, an erster Stelle die Publikums-Stichomythie, die auf einer poetologischen Metaebene anzusiedeln und exklusiv der Epik vorbehalten ist. Zusammenfassend lässt sich - in gedrängter Kürze - für die mittelhochdeutsche Epik schon jetzt sagen, dass die artifizielle Rhetorik der Stichomythie ihre Wirksamkeit nur im Medium der Mündlichkeit entfalten kann. Inwieweit sie, über ihren Einsatz als ornatus hinaus, handlungsstrukturierende, sinnstiftende und rezeptionssteuernde Funktionen übernimmt, hängt vom Einzelfall ab.
69
70
Zusammengefasst bei Bernd Zimmermann, „Stichomythie", in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 11, Stuttgart/Weimar 2001, Sp. 990f. Gebets-Stichomythien spielen in der mittelalterlichen Literatur, soweit ich sehe, keine Rolle. Vgl. ebd., Sp. 991.
Martin Η. Jones nu wert iuch, ritter, ez ist zit (Erec, v. 4347) Zum verbalen Vorfeld des ritterlichen Zweikampfs in deutschen Artusromanen des 12. und 13. Jahrhunderts
Der ritterliche Zweikampf, wie er im deutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts zahlreich dargestellt wird, ist dafür bekannt, dass er einen festgelegten Verlauf nimmt. Auf den Lanzenkampf, die tjost, die mehrmals wiederholt werden kann, folgt der Kampf mit dem Schwert, manchmal zu Pferd, aber meistens nur zu Fuß, dann gelegentlich bei besonders harten Begegnungen auch ein Ringkampf. Der Hergang des Zweikampfs ist so streng geregelt, dass Joachim Bumke vom „Zeremoniell" bzw. vom „Ritual" des ritterlichen Zweikampfs sprechen konnte. 1 Sofern der Kampf nicht mit dem Tod eines der Kontrahenten endet, schließt sich an die abgeschlossene Kampfhandlung normalerweise eine Redeszene an, in der der Name des Besiegten, oft auch beider Kontrahenten, genannt wird, in der auch um Gnade gebeten, Sicherheit geleistet, ein Auftrag erteilt und/oder generell über das zukünftige Verhältnis der Gegner zueinander verhandelt wird. Eine solche Redeszene, die auf die Kampfhandlung folgt, ist zwar kein obligatorischer Teil der Handlungseinheit ' Z w e i k a m p f , aber ihr Ausbleiben fällt auf und ist sogar unter Umständen selber aussagekräftig, wie wir am Beispiel Kalogrenants im Iwein Hartmanns von Aue beobachten können, dessen Niederlage im Kampf gegen Askalon noch demütigender wird, als sein siegreicher Gegner ihn verlässt, ohne ihn eines Blickes oder eines Wortes zu würdigen (v. 743-756). 2 Im Unterschied dazu gehört für geschulte Rezipienten des Artusromans - wobei sowohl an das mittelalterliche Publikum als auch an heutige Leser zu denken ist - eine Redeszene vor
einem Zweikampf nicht unbedingt in den Bereich des zu Erwartenden. Man braucht
nur einen Blick in das Kapitel über den Artusroman in Wolfgang Harms' Studie über den Kampf mit dem Freund oder Verwandten zu werfen, um sich zu vergegenwärtigen, wie oft ritterliche Helden in peinliche Situationen geraten, gerade weil sie die W a f f e n haben sprechen lassen, ohne sich vorher auf ein Gespräch miteinander einzulassen. 3 In den Artusro-
' 2
3
Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1986, "2005 (dtv 30170), S. 227. Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. von Georg F. Benecke und Karl Lachmann, neu bearbeitet von Ludwig Wolff, 7. Ausgabe, Bd. 1: Text, Berlin 1968. Wolfgang Harms, Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen Literatur bis um 1300, München 1963 (Medium Aevum. Philologische Studien 1), S. 122-201.
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Martin Η. Jones
manen gibt es vereinzelt Situationen, in denen ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht wird, dass Kampfgegner sich angreifen, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. In Pleiers Garel von dem blühenden Tal wird Eskilabon beim Einmarsch in das Land Ekunavers von Ammilot zum Kampf gestellt: e ir entwederr kein wort / ze dem andern ie gesprach, / ir ietwederr dem andern stach /daz sper durch des schildes rant (v. 13740-13743). 4 In Konrads von Stoffeln Gauriel von Muntabel will sich Meljanz mit dem Titelhelden im Kampf messen: gen einander beide kerten do die degen. vaste verwegen wären sie üf ritterschaft, sie erzeicten al ir kraft, do wart niht wehsei worte, ietweder dä bekorte von dem andern einen stich, (v. 1326-1330.3) 5
Es mag sein, dass diese Erzählerbemerkungen implizit darauf hinweisen, dass die Gegner sich vor dem Kampf hätten ansprechen sollen, aber das hindert weder Konrad noch den Pleier - noch andere Autoren des Artusromans - daran, Zweikämpfe, denen kein Wortwechsel vorausgeht, ohne jeglichen Kommentar darzustellen. Es gibt natürlich Situationen, in denen sich ein Gespräch vor der Kampfhandlung erübrigt oder sich wenigstens zu erübrigen scheint. Wozu sollten Parzival und Gawan vor ihrem Kampf am Anfang des 14. Buches des Parzival ein Gespräch führen, wenn beide fest davon überzeugt sind, den gesuchten Gegner Gramoflanz vor sich zu haben? Die Notwendigkeit eines Gesprächs, das diesem Verwandtenkampf hätte vorbeugen können, ist nur dem Publikum klar. Wo - etwa im Rahmen eines Feldzugs oder einer Belagerung - der Feind deutlich als Feind zu erkennen ist, wird meistens auf Redeszenen vor den Einzelkämpfen verzichtet; mehrere Beispiele dieser Art finden sich im Garel6 und auch in Pleiers Tandareis und Flordibel.7 Etwas anders ist es bei der Episode in Pleiers Meieranz,8 in der sich der König Libers von Lorgan zusammen mit 23 Rittern auf einem Anger im Lande der 4
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Garel von dem blüenden Tal. Ein höfischer Roman aus dem Artussagenkreise von dem Pleier. Mit den Fresken des Garelsaales auf Runkelstein, hg. von Michael Walz, Freiburg i.B. 1892. Der Ritter mit dem Bock. Konrads von Stoffeln 'Gauriel von Muntabel', neu hg., eingeleitet und kommentiert von Wolfgang Achnitz, Tübingen 1997 (TTG 46). So z.B. bei der Belagerung der Burg des Herrn von Merkanie, wo Garel gegen Rialt und Gerhart von Riviers kämpft (v. 1351-1618). Während der Belagerung der Stadt Tandernas durch Artus findet eine Reihe von Zweikämpfen zwischen Tandareis und Rittem des Artushofs ohne vorheriges Gespräch statt: Tandareis und Flordibel. Ein höfischer Roman von dem Pleixre, hg. von Ferdinand Khull, Graz 1885, v. 2138-2686. Meieranz von dem Pleier, hg. von Karl Bartsch, Stuttgart 1861, Nachdruck (mit einem Nachwort von Alexander Hildebrand) Hildesheim/New York 1974 (StLV 60).
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Zweikampfs
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Tydomie niederlässt und alle Ritter zum Kampf auffordert. Meieranz und sein Freund Cursun wollen die Herausforderung annehmen und teilen dies dem König durch einen Boten mit. Im Laufe von vier Tagen erringen dann Meieranz und Cursun in 24 Zweikämpfen den Sieg über die ganze Mannschaft, wobei ein Gespräch vor dem Kampf kein einziges Mal zustande kommt (v. 9300-10302). In diesem Fall müsste man aber überlegen, ob eine der Kampfhandlung vorausgehende Redeszene tatsächlich fehlt oder ob nicht damit zu rechnen ist, dass solche Redeszenen von der eigentlichen Kampfhandlung losgelöst, vorverlegt und unter Umständen durch eine dritte, vermittelnde Person ausgeführt werden können. Dieser Möglichkeit wird im Folgenden gelegentlich Rechnung getragen, obwohl ich mich vor allem auf Szenen konzentriere, die einem Zweikampf unmittelbar vorausgehen und an denen die eigentlichen Kontrahenten selbst beteiligt sind. Als ein möglicher Ansatzpunkt für die nähere Untersuchung dieser Szenen bietet sich der Vergleich mit der Heldendichtung an, in der man bekanntlich viele Beispiele - angefangen im deutschsprachigen Bereich mit dem Hildebrandslied - von Zweikämpfen findet, denen ein eristischer Wortwechsel vorausgeht. Solche Wortwechsel, die in der deutschen Forschung 'Reizreden', in der angelsächsischen Forschung bevorzugt 'heroic flyting' genannt werden, sind mehrmals untersucht worden.9 Ich stelle aber diesen naheliegenden Vergleich vorerst zurück, um meine Ausführungen an einigen Leitwörtern der Redeszenen in den Artusromanen zu orientieren, die wichtige wiederkehrende Aspekte dieser Szenen zum Vorschein bringen. Es geht dabei um zwei Wortpaare. Das erste bilden die Ausdrücke grüezen und (einem) widersagen, in deren Gebrauch einige Regulative erkennbar werden, die besonders in Bezug auf die Anwendung von Gewalt zur Schaffung und Aufrechterhaltung klarer Beziehungen im ritterlichen Leben beitragen sollten. Das zweite Wortpaar besteht aus den Ausdrücken schelten und dröuwen, die das Augenmerk auf die Art und Weise lenken, in der Kontrahenten miteinander sprechen und sich vor dem Kampf zu beeinflussen suchen. Im letzten Abschnitt dieses Beitrags nehme ich den Vergleich mit der Heldendichtung kurz auf.10
9
10
Siehe z.B. Gustav Ehrismann, „Zur althochdeutschen Literatur. 3. Zum Hildebrandsliede", in: PBB 32 (1907), S. 260-292; Carol J. Clover, „The Germanic Context of the UnferJ) Episode", in: Speculum 55 (1980), S. 444-468; Ward Parks, Verbal Dueling in Heroic Narrative. The Homeric and Old English Traditions, Princeton 1990. Die Redeszenen, die den Zweikämpfen in der mittelhochdeutschen höfischen Dichtung vorausgehen, sind meines Wissens noch nicht gesondert betrachtet worden. Weder Friedrich Bode, Die Kamphesschilderungen [sie!] in den mittelhochdeutschen Epen, Diss. Greifswald 1909, noch Karl Grundmann, Studien zur Speerkampfschilderung im Mittelhochdeutschen. Ein Beitrag zur Entwicklung des höfischen Stil- und Lebensgefühls, Warschau 1939 (Universitas Josephi Pilsudski Varsoviensis, Acta Facultatis Litterarum 3), behandeln diese Szenen. Auf Parzival beschränkt sind die Bemerkungen über 'Dialoge vor der Kampfhandlung' in Andreas Urscheler, Kommunikation in Wolframs 'Parzival'. Eine Untersuchung zu Form und Funktion der Dialoge, Frankfurt a.M. u.a. 2002 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 38), S. 225-233. In mehreren als
142 I.
Martin Η. Jones
grüezen und widersagen
Ich gehe von der Szene in Hartmanns Erec aus, der das Zitat im Titel dieses Beitrags entnommen ist (v. 4323^4-377). 11 Sie gibt die erste Phase der ersten Begegnung zwischen Erec und dem König Guivreiz wieder. Diese Szene ist nicht zuletzt deswegen interessant, weil hier das grüezen geradezu thematisiert wird. Nachdem Guivreiz die vorausreitende Enite gegrüßt hat, heißt er Erec in seinem Land willkommen: er sprach:
„willekomen,
herre
[...]" (v. 4326). Auf diese freundliche Begrüßung folgt seine Einschätzung des Standes und der Intentionen des Fremden: Die Schönheit seiner Frau deutet Guivreiz als ein Zeichen, dass Erec kein ,,bcese[r] man" (v. 4335) ist, und aus der Tatsache, dass er vollbewaffnet reitet, schließt er, dass Erec ein Ritter ist, der „äventiure der „äventiure"
- später auch der „ritterschefte"
suochet"
(v. 4340). Im Namen
(v. 4371) - fordert er ihn zu einem
Kampf auf, der Erec großen Ruhm einbringen werde, wenn er den Sieg erringe. Aus Gründen, auf die ich hier nicht einzugehen brauche, 12 kommt diese Aufforderung Erec nicht ge-
Beitrag zur historischen Pragmatik konzipierten Aufsätzen stellt Marcel M.H. Bax auf der Basis einiger Kampfszenen in mittelniederländischen Ritterromanen des 13. und 14. Jahrhunderts das Modell einer rituellen Herausforderung dar, die durch eine festgelegte Redesequenz zum Zweikampf führt. Siehe Marcel M.H. Bax, „Rules for Ritual Challenges: Α Speech Convention among Medieval Knights", in: Journal of Pragmatics 5 (1981), S. 423^144; ders., „Historische Pragmatik. Eine Herausforderung für die Zukunft. Diachrone Untersuchungen zu pragmatischen Aspekten ritueller Herausforderungen in Texten mittelalterlicher Literatur", in: Diachrone Semantik und Pragmatik. Untersuchungen zur Erklärung und Beschreibung des Sprachwandels, hg. von Dietrich Busse, Tübingen 1991 (Reihe germanistische Linguistik 113), S. 197-215; ders., „Ritual Levelling. The Balance between the Eristic and the Contractual Motive in Hostile Verbal Encounters in Medieval Romance and Early Modern Drama", in: Historical Dialogue Analysis, hg. von Andreas H. Jucker, Gerd Fritz und Franz Lebsanft, Amsterdam/Philadelphia 1999 (Pragmatics & Beyond, NS 66), S. 35-80; ders., „Rites of Rivalry. Ritual Interaction and the Emergence of Indirect Language Use", in: Journal of Historical Pragmatics 1 (2002), S. 61-106. Wie förderlich dieser Ansatz in mancher Hinsicht auch sein mag (siehe z.B. Jörg Kilian, Historische Dialogforschung. Eine Einführung, Tübingen 2005 [Germanistische Arbeitshefte 41], S. 86-109), das von Bax entwickelte Modell fußt auf einer geringen Anzahl von immer wieder herangezogenen Textbeispielen und erfasst nur e i n e bestimmte Kampfsituation, die im hier zugrunde gelegten Korpus von mittelhochdeutschen Artusromanen selten vorkommt. Auf die begrenzte Anwendbarkeit seines Interaktionsmodells weist Bax selbst im zuletzt angeführten Aufsatz hin: „There is every appearance that the challenge ritual is contextually conditioned. It is solely opportune, or so it seems, if in the situational context of the encounter itself there is no evident cause for fighting. [...] I suspect [...] that the ritual procedure is in the main only executed if a manifest honourable reason for fighting is lacking" (Bax, „Rites of Rivalry", S. 98). 11
12
Erec von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbiitteler und Zwettler ErecFragmente, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Auflage besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39). Eine detaillierte Analyse der Episode habe ich früher unternommen: Martin H. Jones, „Chretien, Hartmann, and the Knight as Fighting Man: On Hartmann's Chivalric Adaptation of Erec et Eni-
Zum verbalen Vorfeld des ritterlichen Zweikampfs
143
legen, und er versucht ihr auszuweichen, indem er darauf hinweist, dass es dem ritterlichen Komment widerspricht, denjenigen, dem man eben seinen „gruoz" Kampf aufzufordern; das sei ein Verstoß gegen die „triuwe"
geboten hat, zum
und bringe nur „laster"
und
Ehrverlust ein: sus antwurte im durch sinen spot Erec: ,,ηύ enwelle got, ritter biderbe unde guot, daz ir immer getuot so vil wider iuwern triuwen. ez müeste iuch her nach riuwen. ja butet ir mir iuwern gruoz: wanne würde iu des lasters buoz, bestüendet ir mich dar näch? so wsere iu ze gäch und belibet sin äne ruom. [...]" (v. 4348-4358) Dass Erec hier „auf eine höfische Regel" anspielt, „die einen Zweikampf nach dem Willkommensgruß nicht erlaubt",13 lässt sich anhand von einigen Stellen im Parzival
bestä-
tigen. Bei der ersten Begegnung zwischen Gawan und Gramoflanz - Gawan hat eben einen Kranz vom Baum des Gramoflanz gebrochen - eröffnet Gramoflanz das Gespräch, indem er Gawan guoten morgen wünscht (v. 604,20). 14 Gleich darauf erklärt er, dass er Gawan nicht gegrüßt hätte - „[...] mm griiezen wser noch gar verswigen Gawan nicht allein gekommen wäre, denn mit z w e i
[...]" (v. 604,24) - , wenn
Rittern hätte er sich im Kampf ge-
messen, um den Kranzraub zu rächen, aber nicht mit nur einem. Etwas später im selben Gespräch behauptet Gramoflanz, der Vater Gawans habe seinen Vater „ime gruoze" mordet und dabei die „triuwe"
13
14
er-
gebrochen (v. 608,22f.). Desselben schweren Verbrechens
de", in: Chretien de Troyes and the German Middle Ages. Papers from an International Symposium, hg. von Martin H. Jones und Roy Wisbey, Cambridge/London 1993 (Arthurian Studies 26), S. 85-109. Rolf Endres, Studien zum Stil von Hartmanns Erec, Diss. München 1961, S. 3. Vgl. Renate Roos, Begrüßung, Abschied, Mahlzeit. Studien zur Darstellung höfischer Lebensweise in Werken der Zeit von 1150-1320, Diss. Bonn 1975, S. 30f.; Burkhardt Krause, „Zur Problematik sprachlichen Handelns: Der gruoz als Handlungselement", in: Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst, hg. von Rüdiger Krohn, Bernd Thum und Peter Wapnewski, Stuttgart 1978 (Karlsruher Kulturwissenschaftliche Arbeiten 1), S. 394-406, hier S. 405; Horst Fuhrmann, „Willkommen und Abschied. Begrüßungs- und Abschiedsrituale im Mittelalter", in: ders., Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit, München 1996, S. 17-39, hier S. 23f.; Monika Unzeitig, „wtbes gruoz: programmatische Polyvalenz. Eine semantische Skizze", in: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Produktion, Edition und Rezeption, hg. von Thomas Bein, Frankfurt a.M./New York 2002 (Walther-Studien 1), S. 93-110, hier S. 94f. Krause weist darauf hin, dass im bairischen Landfrieden des 13. Jahrhunderts Aggression nach getanem Gruß als Delikt bezeichnet wird, das mit dem Verlust der Hand zu bestrafen war (Krause, S. 405). Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung von Bernd Schirok, Berlin/ New York 22003.
144
Martin Η. Jones
wird auch Gawan durch Kingrimursel beschuldigt: Er wirft ihm vor, seinen Herrn „ime gruoze[.]" (v. 321,10) erschlagen zu haben, wobei der Verstoß gegen die triuwe durch den Vergleich mit dem Judaskuss unterstrichen wird: „[...] ein kus, den Judas teilte, / im solhen willen veilte [...]" (v. 321,1 lf.). Wie sehr das grüezen als eine Handlung aufgefasst wird, die die triuwe verbürgen sollte, bringt Hartmann auf den Punkt, indem er die Dame des Mabonagrin in der Joie de la Curt-Episode vom „ungetriuwen gruoz", den niemand dem anderen geben sollte, sprechen lässt: „ herre, ich gruozte iuch gerne wol, / wan daz nieman dem andern sol /bieten ungetriuwen gruoz [...]" (Erec, v. 8974-8976). 15 Ein Korrelat der Regel, die den Kampf nach dem gruoz ausschließt, ist darin zu sehen, dass die Verweigerung des Grußes oder der Grußerwiderung als Feindschaftserklärung aufgefasst wird mit allen Konsequenzen, die eine solche Erklärung für den Status der nachfolgenden Kampfhandlung haben kann.16 Nachdem Gawan im 6. Buch des Parzival den in den Anblick der Blutstropfen versunkenen Parzival grüezenltche anspricht (v. 300,11) und keine Antwort bekommt, zieht er folgenden Schluss: „herre, ir welt gewalt nu tuon, / sit ir mir grüezen widersagt [...]" (v. 300,24f.). Dass der junge Parzival schon im 3. Buch bei seinem ersten Auftreten am Artushof die Feinheiten des ritterlichen Umgangs in diesem Punkt beherrscht, ist zwar erstaunlich - obwohl er dank des Unterrichts seiner Mutter e t w a s vom grüezen versteht! - , aber irgendwie weiß er, dass er das freundschaftliche Verhältnis zu Ither, das er mit seinen ersten Begrüßungsworten etabliert hatte (v. 145,7-9), aufkündigen muss, als Ither ihm die Übergabe seines Pferds und seiner Rüstung verweigert: Das neue, feindliche Verhältnis signalisiert Parzival regelgerecht mit den Worten „[...] widersagt st dir min gruoz, / ob du mirz ungerne gist [...]" (ν. 154,8f.). In Pleiers Garel versucht Garel einen Zweikampf mit dem höflichen Riesen Malseron anzuzetteln, wobei er erklärt, „[...] vriuntlich dienest und min gruoz / sol iu widersaget sin [...]" (v. 11348f.). Wenige Verse später instruiert er den Ritter Tjofrit, wie er seine (Gareis) Kriegserklärung an Ekunaver formulieren soll, wobei auch in Bezug auf Feindseligkeiten, die später ein enormes Ausmaß annehmen werden, wiederum von Grußverweigerung die Rede ist: „ [...] min vriuntschaft und min gruoz / solt du dem künic widersagen, / und daz er in vil kurzen tagen /mich müez üfsinem schaden sehen [...]" (v. 12082-12085). In allen bislang herangezogenen Belegstellen bezeichnen die Wörter gruoz und grüezen einen Sprechakt, der - insofern er nicht als Täuschungsmanöver benutzt wird - die Anknüpfung einer freundlichen und friedlichen Beziehung mit dem Gegenüber zum Ziel hat.
15
16
Ein Zweikampf zwischen Erec und der Dame steht natürlich nicht in Aussicht, aber sie weiß, dass Erecs Eintritt in den Garten Mabonagrin auf den Plan rufen wird und dass ein Kampf unvermeidbar ist. Siehe hierzu Roos (wie Anm. 13), S. 3lf.; Krause (wie Anm. 13), S. 402f.; Fuhrmann (wie Anm. 13), S. 23f.; vgl. auch die Bemerkungen unten über die Konsequenzen einer Feindschaftserklärung durch das widersagen.
Zum verbalen Vorfeld des ritterlichen
145
Zweikampfs
Dabei darf man nicht übersehen, dass das mhd. grüezen auch zur Bekundung einer feindlichen Absicht gebraucht werden kann.17 Das ist vor allem noch bei Hartmann von Aue zu beobachten. Erinnert sei nur daran, wie Askalon den Herrn Iwein gruozt [...] harte verre / als vient stnen vient sol {Iwein, v. 1002f.), oder wie Mabonagrin Erec gruozte [...] ein teil vaste, / geltch einem übelen man (Erec, v. 9025f.), oder wie sehr sich Hartmann bemüht, jede Spur der Ambiguität aus Gawans Begrüßung zu tilgen, als dieser versucht, Erec zu bewegen, mit ihm an den Artushof zu gehen: Gäwein der tugentriche gruozte in minnecliche nach vriuntlicher stimme unde niht mit grimme, dar an er im bescheinte daz erz in guot meinte. er gap im einen guoten tac. {Erec, v. 4898—4904)
Während dem Wort grüezen noch eine gewisse Ambiguität anhaftet, ist diese dem Ausdruck einem widersagen völlig fremd. Dieser Ausdruck der ritterlichen Sprache sowie auch der Rechtssprache, den Matthias Lexer bündig als jemandem „frieden und freundschaft auf-, fehde und krieg ankündigen" definiert,18 ist ein Schlüsselwort in den Redeszenen, die dem Zweikampf vorausgehen. Der locus classicus für die Realisation des widersagens ist die Herausforderung, die Askalon an Kalogrenant richtet, nachdem dieser durch den Brunnenguss großen Schaden in Askalons Wald angerichtet hat: „ riter, ir sit triuwelos. mim wart von iu niht widerseit, und habent mir lasterlichez leit in iuwer hochvart getan. nu wie sihe ich minen wait stan! [...] iu si von mir widersaget: ir suit es mir ze buoze stan ode ez muoz mir an den lip gän. [...] ichn hän wider iuwern hulden mit minem wizzen niht getan: äne schulde ich grözen schaden hän. hien sol niht vrides mere wesen: wert iuch, ob ir weit genesen." (Iwein, v. 712-730)
Diese Rede beleuchtet das widersagen von zwei Seiten. Erstens wird der Status desjenigen, der jemanden ohne vorherige widersage angreift, gekennzeichnet: Er ist „triuwelos" und der „hochvart" schuldig, er muss „buoze" leisten. Zweitens sehen wir, wie derjenige, dem
17 18
Darauf macht Roos (wie Anm. 13), S. 30, aufmerksam. Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Stuttgart 1979, hier Bd. 3, Sp. 851.
3 Bde., Leipzig 1872-1878, Nachdruck
146
Martin Η. Jones
Laster und Leid „äne schulde"
zugefügt worden sind, sein Recht, sich für erlittenen Scha-
den durch Anwendung der Gewalt zu rächen, in aller Form geltend macht, indem er dem Angreifer „widersagt"
und den Frieden aufkündigt. Damit wird ein Zustand der Feind-
schaft, der guerra, der inimicitia mortalis geschaffen, der dem Geschädigten innerhalb gewisser Grenzen freie Hand bei der Ausübung seiner Rache erlaubt. 19 So ausführlich wie hier wird das widersagen
selten geschildert, aber im Vorfeld der
Kampfhandlung oder in Bezug darauf tritt es immer wieder in Erscheinung. Hierfür nur drei Beispiele aus den vielen, die angeführt werden könnten. Erstens: Im Gauriel von Muntabel
wird das widersagen
von einem Kontrahenten ge-
äußert und vom anderen bestätigt, bevor es zum Kampf kommt, als Segrimors sich der Herausforderung Gauriels stellt, der ein Fräulein des Artushofs gefangen genommen hat: „ ritter, iu si widersaget / umb der küniginne maget, / die ir hie gevangen hät, / ob ir st gähens niht enlät" (v. 767-770). Gauriel erklärt, warum er das Fräulein gefangen hält und es nicht ohne Kampf freilassen will, macht dann dem Wortwechsel ein Ende mit „[...] wert iuch, ir hät mir wiederseit!"
(v. 778).
Zweitens: Nachdem im Wigalois der Titelheld vergeblich versucht hat, den Grafen Hojir davon zu überzeugen, dass die Rückgabe des Pferdes und des Papageien, die er der Dame Elamie gestohlen hat, nur rechtmäßig sei, sieht er ein, dass Gerechtigkeit nur durch den Kampf zu verschaffen ist: „[...] so si iu von mir widersaget; kraft/und
mit rehter riterschaft/morgen
besten üfderplän
/ ich wil iuch mit der gotes [...]" (v. 2823-2826). 2 0
Drittens: Ein besonders interessanter Fall aus der Begegnung Parzivals mit Orilus im 5. Buch des Parzival. Hier wird ausdrücklich auf das Ausbleiben des widersagens
aufmerk-
sam gemacht, als die zwei Ritter aufeinander zustürmen: dä wart genomn der poynder von den zwein helden unverzagt. / newederhalp
wit/
wart widersagt: / si warn doch ledec ir
triuwe (v. 262,14—17). Wolfram begründet die fehlende Feindschaftserklärung damit, dass keiner dem anderen Treue schuldet, womit er daran erinnert, dass Parzival und Orilus schon seit dem 3. Buch Todfeinde sind - wegen Orilus' Tötung von Galoes und Schionatulander und weil Parzival angeblich Orilus' Frau entehrt hat. Dabei verschweigt Wolfram aber, dass sich die beiden zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht kennen und daher nicht wissen können, dass sich das widersagen 19
20
erübrigt. Angesichts der Tatsache, dass Begeg-
Zu den rechtlichen Hintergründen dieser Episode siehe William H. Jackson, „Friedensgesetzgebung und höfischer Roman. Zu Hartmanns Erec und Iwein", in: Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter. Würzburger Colloquium 1978, hg. von Volker Honemann, Kurt Ruh, Bernhard Schnell und Werner Wegstein, Tübingen 1979, S. 251-264. Zu den rechtlichen Konsequenzen einer Feindschaftserklärung siehe Robert Bartlett, „Mortal Enmities": The Legal Aspect of Hostility in the Middle Ages, Aberystwyth 1998 (T. Jones Pierce Lecture), S. 4 - 7 . Wigalois der Ritter mit dem Rade von Wirnt von Gravenberc, hg. von Johannes M.N. Kapteyn, Bd. 1: Text, Bonn 1926 (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 9).
Zum verbalen Vorfeld des
ritterlichen
Zweikampfs
147
nungen diesen Typs ohne vorausgehenden Wortwechsel oft kommentarlos beschrieben werden, darf man wohl vermuten, dass diese Erzählerbemerkung zur dramatischen Ironie beitragen sollte, die diese ganze Episode auszeichnet.21 Dieser letzte Beleg sorgt für Unklarheit in einem Bereich, in dem es vor allem darum geht, Klarheit zu schaffen. Auch wenn vom grüezen oder vom widersagen nicht die Rede ist, dienen Redeszenen vor dem Zweikampf wiederholt dazu, die Gründe für die Auseinandersetzung deutlich zu machen und die Modalitäten des Kampfes zu bestimmen. Das ist beispielsweise der Fall im Wortwechsel zwischen Erec und Iders vor dem Kampf um den Sperber in Tulmein {Erec, v. 700-727). Erec stellt sich quasi als Vertreter der dortigen Gemeinde dar, der den ursprünglichen Sinn des Wettbewerbs als Schönheitswettbewerb wieder geltend machen will: In den zwei vorausgehenden Jahren habe Iders den Sperber für seine Dame „äne reht" (v. 701) in Besitz genommen, denn sie sei nicht die schönste unter den Frauen gewesen; nun - so Erec - solle der Kampf entscheiden, ob Iders dieses Unrecht zum dritten Mal begehen könne: „[...] ez muoz under uns beiden / diu ritterschaft scheiden " (v. 706f.). Im Iwein werden vor dem Kampf zwischen dem Titelhelden und dem Truchsessen der Laudine, der Lunete des Verrats an ihrer Herrin beschuldigt hat, die gegensätzlichen Standpunkte in diesem Streitfall dargelegt, bevor im gerichtlichen Zweikampf die Entscheidung Gott anheim gestellt wird (v. 5178-5308). Im Parzival ist selbst der ungestüme Segramors bemüht, den Fehler Kalogrenants gegenüber Askalon zu vermeiden, als er sich dem am Rande des königlichen Zeltlagers stehenden Parzival nähert Wolfram weist im Voraus ausdrücklich darauf hin: wedr ern sluoc do noch enstach, / e er widersagen hin zim sprach (v. 287,7f.). Segramors nimmt sich nämlich die Zeit, die Gründe für seine Herausforderung zu erklären - Parzival habe sich in scheinbar aggressiver Haltung zu nahe an Artus' Lager gewagt - und die Aufforderung an ihn zu richten, sich sofort zu ergeben oder sich auf einen Angriff gefasst zu machen (v. 287,21-288,2). 22 Im Meieranz wird nur einmal eine Redeszene einem Zweikampf vorangestellt, und zwar dem Kampf zwischen Meieranz und dem Heidenkönig Verangoz, wobei es um eine Zinsforderung des Letzteren an Dulceflor und um ein ihr von ihm geraubtes Land geht. Obwohl der Streitgegenstand eindeutig ist, bevor sich Meieranz und Verangoz kampfbereit gegenüberstehen, wird die ganze Sache noch einmal aufgerollt, und es wird umständlich vereinbart, dass, wenn Verangoz siegt, Dulceflor ihm zinspflichtig sein wird, wenn er aber besiegt
21
22
Siehe hierzu L. Peter Johnson, „Dramatische Ironie in Wolframs Parzival", in: Probleme mittelhochdeutscher Erzählformen. Marburger Colloquium 1969, hg. von Peter F. Ganz und Werner Schröder, Berlin 1972 (Institute of Germanic Studies, Publications 13), S. 133-152, hier S. 138-141. Johnson geht allerdings nicht näher auf die Verse 262,14—17 ein. In den Worten, die Segramors an Parzival richtet, werden gruoz und grüezen vermieden; sie fehlen auch in der Ansprache Keies an Parzival in der Blutstropfenepisode (v. 293,28-294,20). Im Gegensatz dazu spricht Gawan Parzival grüezenliche an, wie wir gesehen haben (v. 300,11).
148
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wird, sie ihr Land wieder erhalten wird. Bevor die Kampfhandlung beginnt, besteht Meleranz zusätzlich noch darauf, dass Verangoz schwört, sich strikt an die vereinbarten Bedingungen zu halten (v. 8174-8246). Mit diesem Extremfall eines Wortwechsels, der die Modalitäten eines bevorstehenden Kampfes mit peinlicher Exaktheit bestimmt, schließe ich den ersten Teil dieser Ausführungen, in dem es darum ging, vor allem anhand von Beispielen des grüezens und des widersagens Verhaltensregeln darzulegen, die eingehalten werden müssen, wenn die Ehrlichkeit eines Ritters und die Rechtmäßigkeit seines Handelns in der nachfolgenden tätlichen Auseinandersetzung nicht in Zweifel gezogen werden sollen. Das verbale Vorfeld des Zweikampfs bietet den Autoren des Artusromans unter anderem die Gelegenheit, auf gesellschaftliche und rechtliche Normen abzuheben, denen eine Herausforderung an einen ritterlichen Gegner und die sich anschließende Anwendung von Gewalt unterworfen werden müssen und durch deren Beachtung der Artusritter sich normalerweise vor anderen Waffentragenden auszeichnet.
II.
schelten und dröuwen
Ich gehe wiederum von einer Redeszene in Hartmanns Erec aus, nämlich derjenigen, die dem Zweikampf Erecs gegen den ersten Grafen, 'Galoain', vorausgeht. Von Enite irregeleitet, glaubt 'Galoain', der Enite selbst leidenschaftlich begehrt, dass Erec sie ihrem Vater entführt habe und ihr nicht ebenbürtig sei; daher fordert er Erec auf, Enite ihm zu überlassen und sich davon zu machen, sonst werde er Erec im Kampf umbringen. Dabei spricht 'Galoain' Erec als ,,arge[n] diep" (v. 4172) und ,,arge[n] schalc" (v. 4192) an, beschreibt seine Flucht in der Nacht als ,,arge[n] wane" (ν. 4183) und schließt seine Rede grob mit „[...] nü lät si und schabet iuwern wec" (v. 4196). Hartmann bezeichnet die Ansprache 'Galoains' im Voraus als vil unritterltch (v. 4169), und so fasst Erec sie auch auf: „ ir enthöveschet iueh ", sprach Erec, „an mir harte sere. von wem habet ir die lere daz ir scheltet einen man der ie ritters namen gewan? ir sit an swachem hove erzogen. nü schämet iueh: ir habet gelogen.
ich bin edeler dan ir sit." (ν. 4197-4204) Damit geht der Wortwechsel zu Ende und die Ritter gehen sofort zum Zweikampf über. Erec nimmt in zweifacher Hinsicht Anstoß an 'Galoains' Worten. Erstens ist diese Rede-
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149
weise für einen höfischen Menschen, für den sich 'Galoain' ausgeben möchte, nicht geeignet, deswegen: „ir enthöveschet iuch" und „ir sit an swachem hove erzogen". Zweitens sollte kein Ritter in so ehrenrühriger, schimpflicher Weise angesprochen werden: „von wem habet ir die lere / daz ir scheltet einen man / der ie ritters namen gewan ?" In seiner Reaktion auf 'Galoains' Aufforderung scheint sich Erec mehr über die nicht standesgemäße Redeweise als über die Unwahrheiten, die 'Galaoin' äußert, zu empören; die einzige Behauptung, die er als Lüge abstempelt, betrifft seinen sozialen Rang und nicht sein Verhältnis zu Enite (v. 4203f.). Dass sich das schelten nicht für den höfischen Ritter gehört, wird auch in Heinrichs von dem Türlin Die Krone besonders nachdrücklich herausgestellt, und zwar im Laufe des langen Wortwechsels zwischen Keie und Gasozein, der ihrem Kampf vorausgeht.23 Zusammen mit Artus und zwei anderen Rittern des Hofes lauert Keie nachts im Walde auf den geheimnisvollen Ritter (= Gasozein), der laut Ginover selbst im tiefsten Winter nur mit einem Hemd bekleidet jede Nacht durch den Wald reitet und Minnelieder singt. Indem die Artusritter auf diesen Ritter, dessen Identität sie feststellen wollen, warten, schläft Keie ein. Gasozein reitet an ihm vorbei, ohne ihn überhaupt zu bemerken. Keie wacht auf und ruft ihm nach, er möge umkehren und mit ihm sprechen. Gasozein hört das nicht und reitet weiter, worauf Keie einen anderen Ton anschlägt: Nv wandelt Key sein bet / Jn ein schelten vnd in dro (v. 3748f.). Keie nennt Gasozein einen Toren, einen „törper", einen Feigling, und sagt ihm, er werde dafür büßen müssen, dass er ihn nicht gegrüßt habe (v. 3754-3769). Darauf folgen in der Erzählerstimme einige Bemerkungen über das schelten : Key was im so nahen chomen, Daz er mit al het vernomen, Swaz er im hinden nah geschalt. 3785 Der riter aber die rede galt Mit deheinem widerschelten. Er lie in niht engelten Sölher starch vnvuoge, Als doch genuoge 3790 Da wider heten getan. Wan dest ein vnbesprochen man, Der guot wider arch sprichet. Swer sich also richet, Daz er schelten wider schelten geit, 3795 Daz heizt man swachen weibes streit. Daz het der riter wol bedaht. Zern gelt er niht sere gaht. Daz chom von sinnen fruot, Wan mit bedahtem muot 3800 Er vil hövelichen sprach [...]. (v. 3782-3800) 23
Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 1-12281). Nach der Handschrift 2779 der Österreichischen Nationalbibliothek nach Vorarbeiten von Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal und Horst P. Pütz hg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner, Tübingen 2000 (ATB 112).
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Besonders hervorzuheben ist, dass sich Gasozein dadurch auszeichnet, dass er sich nicht dazu provozieren lässt, auf das schelten Keies einzugehen: Der riter aber die rede galt / Mit deheinem widerschelten (v. 3785f.). Andere hätten Keies starch vnvuoge (v. 3788) mit gleicher Münze heimzuzahlen versucht, nicht aber Gasozein, der sich wie ein vnbesprochen man (v. 3791), ein unbescholtener, tadelloser Mann, benimmt, der Böses mit Gutem vergilt (guot wider arch sprichet, v. 3792), wodurch er sich als verständig und weise ausweist: Daz chom von sinnen fruot (v. 3798). Statt sich auf einen Austausch von Schelten einzulassen, der als Frauengezänk (swachen weibes streit, v. 3795) verurteilt wird, handelt er bedacht und behält den höfischen Ton bei.24 Ein beredtes praktisches Beispiel der Zurückhaltung, die der Ritter idealiter unter solchen provokanten Umständen zeigen sollte, liefert Erec vor dem Sperberkampf mit Iders, ohne dass unsere Aufmerksamkeit ausdrücklich darauf gelenkt wird. Iders antwortet auf Erecs Herausforderung {Erec, v. 700-707, wie oben beschrieben) mit der Anrede „jungelinc" (v. 708), die zusammen mit der Abstempelung von Erecs Unterfangen als „kintlichen strit" (v. 711) sofort die abschätzige und arrogante Haltung anzeigt, die Iders glaubt, sich angesichts dieser unerwarteten Durchkreuzung seiner Pläne erlauben zu können. Er ergeht sich dann in Drohungen, indem er Erec den Ausgang des Kampfes schildert, sollte er an seinem Vorhaben festhalten: „[...] ich sage iu vor wie iu geschiht [...]" (v. 714). Iders zweifelt nicht an seinem Sieg und ist entschlossen, erbarmungslos vorzugehen: Kein Lösegeld werde Erecs Leben retten. Erec müsse also mit dem sicheren Tod rechnen und könne nur von einem, der Freude an seinem Unglück haben werde, beraten worden sein, sich in diese Angelegenheit einzumischen (v. 715-723). Von diesem offenkundigen Versuch, ihn einzuschüchtern, ist Erec gar nicht beeindruckt und er schließt das Gespräch mit einer ganz sachlichen Feststellung: Erec sprach: „herre, / ich hän mich also verre / nu der rede üz getan: / ich enwil ir niht wandel hän" (v. 724-727). Das heißt, Erecs Entschlossenheit ist nicht im Geringsten erschüttert, und er will sich auf kein Wortgefecht mit Iders einlassen. Die Einschüchterungstaktik, die Iders hier vergeblich verfolgt, ist ein charakteristisches Merkmal der Redeanteile vieler der im Auftakt zum Zweikampf mit den Romanhelden im Dialog stehenden Figuren. Die Mittel, die zur Realisierung dieser Taktik eingesetzt werden - sie sind alle schon in nuce in Iders Rede enthalten - , kehren ständig wieder und zeugen von wenig Fantasie. So wird der Held als „tump", „kintlich", „tcerisch" bezeichnet25 oder
24
25
Nicht immer zeigt Gasozein die Selbstbeherrschung, für die er hier Lob verdient (siehe zum Beispiel seinen Versuch, Ginover zu vergewaltigen, und seine Reaktion auf Gawans Bemühungen, das zu verhindern, die damit enden, dass Gawan ihn zum Kampf auffordert: „[...] Wol auf, iv sei widerseit! [...]", Die Krone, v. 11747-11860, Zitat v. 11858), aber das mindert keineswegs die Vorbildlichkeit seines Verhaltens gegenüber Keie. An und für sich ist das Wort „jungelinc", mit dem Iders Erec anredet, nicht abfällig, aber im Zusammenhang mit dem Hinweis auf seinen „kintlichen strtt" ist es ohne Zweifel negativ gefärbt.
Zum verbalen Vorfeld des ritterlichen Zweikampfs als „ t o r " , „gouch",
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„zage", „äffe" usw. angesprochen. Um sein Selbstvertrauen zu unter-
minieren, wird ihm suggeriert, dass er nicht Herr seines Schicksals ist: Ein anderer, der ihm nichts Gutes wünsche, habe ihn mit einem schlechten Rat dazu gebracht, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Über den Verlauf und den Ausgang des bevorstehenden Kampfes besteht für den Gesprächspartner des Helden kein Zweifel: Der Kampf werde sehr viel härter sein, als der Held es sich vorstelle, an Schonung oder an die Möglichkeit, sich ehrenvoll zu ergeben, solle er gar nicht denken, der Kampf könne nur mit Ehrverlust, körperlicher Verletzung oder dem Tod des Helden enden. Während sich Erec jeder Bemerkung über den Ton und den Inhalt der Rede Iders' enthält, wird der Versuch, den Gegner durch schelten und dröuwen zu verunsichern und abzuschrecken, in anderen Fällen beim Namen genannt und ausdrücklich verworfen. Das war bereits bei Erecs Kritik an 'Galoains' verbalem Angriff zu beobachten. In der Harpin-Episode im Iwein wird die Redeweise Harpins, der zwar ein Riese ist, aber von Iwein mit „ riter" angeredet wird, auf ähnliche Weise eindeutig negativ gekennzeichnet. Harpin will Iwein als einen „vil tumbe[n] man" hinstellen, dem jemand, der sich an ihm habe rächen wollen, zu diesem Kampf geraten habe, weil er sicher mit dem Tod Iweins enden werde (v. 4991-5006). Iwein kontert mit „riter, waz touc disiu drö? / lät bcese rede [...]" (v. 5008f.), und wie Heinrich von dem Türlin tut er das schelten als Frauensache und des waffentragenden Ritters unwürdig ab: „[...] lät schelten ungezogeniu
wtp: / dien
mugen
niht gevehten [...]" (v. 5012f.). Im Wigalois fordert der Ritter, dem ein Hund entlaufen ist - der Hund ist inzwischen in den Besitz von Nereja geraten, in deren Begleitung Wigalois reitet - , die Rückgabe des Tiers und droht Wigalois mit Ehrverlust und körperlichem Schaden, wenn nicht sogar mit dem Tod (v. 2248-2255). Wigalois entgegnet diesen Worten mit „diu rede zseme einem wibe" (v. 2256) und er endet seine Rede mit der Aussage, „[...] wirn geben iu des hundes niht / durch bcese rede noch durch drö" (v. 2266f.). In Pleiers Garel wird der Held vom Riesen Purdan zum Kampf gestellt. Purdan spricht ihn mit „ir vil tumber man " und „ lumber gouch " an; Garel müsse vom Teufel beraten worden sein, denn ihn erwarte kein „kindes spil", wenn er es mit ihm aufnehmen wolle (v. 5525-5539). Garel verbittet sich diesen Ton: „herr, ir möht wol reden baz [...]" (v. 5541), und spricht ihn ausgesprochen höflich an. Das bringt nichts: Purdan stempelt Gareis Höflichkeit als „smeichen " und „klaffen" ab, er werde ihn wie einen Dieb erschlagen. Darauf Garel: „ir kunnet niht wan scheltens pflegen. / daz zimt niht einem frumen man [...]" (v. 5565f.). Hier wird ein Hinweis auf das typisch Weibliche des scheltens ausgespart, und stattdessen, wie bei Erec gegenüber 'Galoain', das Unritterliche des scheltens betont. Und darauf kommt es im Artusroman vor allem an: Der Ritter, der sich standesgemäß verhalten will, enthält sich des scheltens und dröuwens und lässt sich auch keine Ansprache in diesem Stil von einem anderen gefallen. Jede Äußerung, die über das hinausgeht, was der Bestimmung von klaren Verhältnissen zwischen Kontrahenten dient, und sich in
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den Bereich der Einschüchterung und der persönlichen Verunglimpfung begibt, ist grundsätzlich zu vermeiden.
III.
Die Reizrede in der Heldendichtung und im Artusroman
Durch ihre grundsätzliche Ablehnung des scheitern und des dröuwens heben sich die ritterlichen Helden des Artusromans von den Kriegern der Heldendichtung und ihrem Sprechverhalten im Vorfeld des Kampfes entschieden ab. Denn die Reizrede - „die gewöhnliche form der herausforderung in der germanischen heldendichtung" 26 - ist in erheblichem Maße durch diese Ausdrücke gekennzeichnet. In ihrer aufschlussreichen Studie über 'heroic flyting' in dieser Dichtung stellt Carol J. Clover fest, dass „most flytings consist of boasts and insults in varying proportions, with an admixture of threats, curses, or vows". 27 Die Reizrede passt nicht zum Selbstverständnis des höfischen Ritters, wie er in den Artusromanen dargestellt wird; im Munde dieses Ritters wären die Hohn-, Spott- und Drohreden der germanischen Helden fehl am Platz. Außerdem fehlt im Artusroman normalerweise eine wesentliche Voraussetzung für die heldenepische Reizrede: die Kenntnis, die die Kontrahenten voneinander haben, entweder durch vorherige persönliche Bekanntschaft oder vom Hörensagen. Im Hildebrandslied
will Hildebrand wissen, wie der Vater seines Geg-
ners heißt oder welchem Geschlecht dieser entstammt; er kann behaupten, „ [...] ibu du mi enan sages, chind, in chunincriche:
ik mi de odre uuet, chud ist mir al irmindeot." (v. 12f.) 28
Kenntnis des Gegners und seiner Geschichte ist eine der Hauptquellen, der das gegenseitige Reizen in der Heldendichtung entspringt. In der letzten Aventiure des
Nibelungenliedes
entsteht ein Wortgefecht zwischen Hildebrand und Hagen, in dem auf Ereignisse aus der jüngsten sowie auch der entfernten Vergangenheit angespielt wird (Hildebrands Flucht aus dem Saal in der vorhergehenden Aventiure bzw. Hagens Weigerung, am Kampf am Waskenstein teilzunehmen), um die wechselseitige Anschuldigung der Feigheit zu bekräftigen (Str. 2343-2344). 29 Im Artusroman, wo sich die Kampfgegner typischerweise inkognito 26 27 28
29
Ehrismann (wie Anm. 9), S. 287. Clover (wie Anm. 9), S. 453. Althochdeutsches Lesebuch, zusammengestellt und mit Wörterbuch versehen von Wilhelm Braune, fortgeführt von Karl Helm, 17. Auflage bearbeitet von Ernst A. Ebbinghaus, Tübingen 1994, S. 84. Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2 2002 (RUB 644).
Zum verbalen Vorfeld des ritterlichen
Zweikampfs
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oder erst kurz vor dem Kampf zum ersten Mal begegnen und wo die ein- oder gegenseitige Namensnennung normalerweise erst nach dem Kampf erfolgt, bestehen solche Möglichkeiten nicht. Insofern die negativ gekennzeichneten Gesprächspartner der Romanhelden sich des scheltens und dröuwens bedienen, könnte man versucht sein, dort ein Relikt der germanischen Reizrede zu finden, 30 aber in der Tat fehlt es den Redeanteilen dieser Figuren an dem Witz und an der Eloquenz, die die Wortwechsel der Heldendichtung auszeichnen. Carol J. Clover betont, dass „the single most important attribute, and perhaps the only shared one, of flyting contenders is their verbal skill". 31 Sie zitiert eine Reihe von Stellen aus der altnordischen Literatur, in denen führenden Figuren gerade die Eloquenz attribuiert wird, fügt dann hinzu: „What is meant, of course, is not pure but applied eloquence: words used as ammunition in verbal warfare". 32 Gerade auf solche 'verbale Kriegsführung' lassen sich die Helden des Artusromans nicht ein, sie gehört überhaupt nicht in das Bild des höfischen Ritters, das die Autoren des Artusromans projizieren wollen. Was das Sprechverhalten waffentragender Männer anbelangt, ist der Artusritter den Normen einer ganz anderen Sprachkultur verpflichtet als sein heldenepisches Gegenstück. 33 Ich muss aber noch zum Schluss an diesem Fazit eine leichte, aber nicht unwichtige Modifikation vornehmen. Noch einmal eignet sich am besten eine Redeszene aus Hartmanns Erec als Ansatzpunkt, nämlich der Wortwechsel zwischen Erec und Mabonagrin vor ihrem Kampf in der Joie de la Curt-Episode. Trotz ihrer Länge verdient es diese Stelle, im vollen Wortlaut zitiert zu werden, zum einen weil sie etliche Punkte im oben Dargelegten illustriert, zum anderen weil die Szene nur als geschlossenes Ganzes ihre eigentliche Wirkung entfaltet. Hartmann bereitet die Szene vor, indem er beschreibt, wie Mabonagrin Erec im Gespräch mit seiner Dame sieht: daz dühte in toerlich getän / und wolde im versmähen (v. 9005f.). Ganz in Rot gekleidet und mit roten Waffen sprengt er dann auf seinem roten Ross auf Erec los: nü reit er zuo dem gaste 9025 und gruozte in ein teil vaste, gelich einem übelen man. er sprach: „ valschsere, nü sage an, wer hiez iuch der vrouwen so nahen gän?" 'waz hän ich dar an missetän?' 9030 „ez ist eht vil toerlich."
30 31 32 33
Siehe Ehrismann (wie Anm. 9), S. 289. Clover (wie Anm. 9), S. 451. Ebd., S. 452. Keie ist hier eine Ausnahme. Vgl. Ehrismann (wie Anm. 9), S. 289. Zu der hervorragenden Rolle, die diszipliniertes Sprechen in der höfischen Kultur spielt, siehe Joachim Bumke, „Höfischer Körper - Höfische Kultur", in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a.M. 1994, S. 67-102, hier besonders S. 72-86.
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9035
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'herre, wes scheltet ir mich?' „dä dunket ir mich der vrouwen ze bait." 'herre, ir sprechet iuwern gewalt.' „saget, wer brühte iuch her?" 'guote vriunt.' „nü saget doch, wer?" 'min herze und min selbes muot.' „da enriet ez iu dehein guot." 'ez hat mich noch gewiset wol.' „daz endet sich hie." 'ez ensol.' „ zwiu sihe ich iuch gewäfent sin ? " 'herre, däst der harnasch min.' „wiltü vehten wider mich?" 'welt dan ir, so wil ouch ich.' „wes ist dir, tumber gouch, gedäht?" 'des werdet ir wol innen bräht.' „ez wirt dir ein vil leidez spil." 'irn sprechet niht: ob got wil.' „ wie versmähet dir min rede so ? " 'ich enahte niht üfiuwer drö und wil si wol genözen zwein bergen grdzen. die swuoren bi ir sinnen, daz si wolden gewinnen in selben ein gezasmez kint, ein grozez, als ouch si da sint. dö verhancte des got daz ez wart der liute spot, und gebären eine veltmüs. ouch sint verbrunnen gröziu hüs von wenigem viure. in ist daz eilen tiure, die so grimmecltch wellent sin. daz selbe sol hie werden schin. e wir uns hiute scheiden, unser einem oder uns beiden ist daz giuden gar gelegen.' „jä, des wil ich dir verphlegen ", alsd jach der rote man. mit dirre rede schiet Erec dan. (ν. 9024-9069)
Besonders interessant an dieser verbalen Auseinandersetzung ist die Tatsache, dass Erec, als er am Schluss vom „giuden",
Prahlen, spricht, sich selbst mit einbezieht („[...] unser
einem oder uns beiden / ist daz giuden gar gelegen ", v. 9065f.)· In der Tat begibt sich Erec in diesem Wortwechsel gewissermaßen auf die gleiche Redeebene wie sein Gegenüber, worauf vielleicht auch die Anwendung der Stichomythie in der ersten Hälfte des Dialoges hinweisen sollte. Erec redet Mabonagrin zwar mit „herre"
und „ir" durchaus höflich an
und er vermeidet abschätzige Ausdrücke, im Gegensatz zu Mabonagrin, der sie mehrmals gebraucht, aber zum größten Teil weicht Erec den Fragen seines Gegenübers aus, er gibt knappe und nichtssagende oder provokante Antworten. Offensichtlich will er kein richtiges
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155
Zweikampfs
Gespräch mit Mabonagrin anknüpfen, er will ihn vielmehr aufreizen und zum Kampf zwingen. Diesem Zweck dienen auch im Besonderen seine Bemerkung „herre, ir sprechet iuwern gewalt" (v. 9033); 34 die Geschichte von den zwei großen Bergen, die ein Kind zeugen wollten, einen Berg so groß wie sie, aber nur eine Feldmaus gebaren; 35 das Sprichwort vom kleinen Feuer, das große Häuser zerstört; und die weitere Bemerkung „[...] in ist daz eilen tiure, / die so grimmeclich wellent sin [...]" (v. 9061f.). Hier spottet Erec über Mabonagrin: Er ist darauf erpicht, ihn als einen darzustellen, den man auf Englisch mit 'all talk and no action' bezeichnet (auf Deutsch etwa: 'Große Sprüche und nichts dahinter'). Und das ausgerechnet bei einem Ritter, der seine 80 bisherigen Gegner getötet hat! 36 Die gleiche Taktik wird gelegentlich auch von anderen Artusrittern verfolgt, so zum Beispiel von Iwein in der Harpin-Episode des Iwein. Wegen seiner Verpflichtung, Lunete zu helfen, steht Iwein unter enormem Zeitdruck und darf sich in kein langes Gespräch mit dem Riesen verwickeln lassen; damit es möglichst schnell zum Kampf kommt, redet er Harpin spöttisch an, indem er ihn als einen Schwätzer hinstellt, der weniger zu fürchten ist als ein Zwerg: „[...] lät bcese rede und tuot diu were: / ode ich entsitze ein getwerc /harter
dan iuwern grözen lip [...]" (v. 5009-5011). In Ulrichs Lanzelet geht Lanzelet auf
ähnliche Weise vor, um einen Kampf gegen den unwilligen Walwein anzuzetteln: „herre, lät die rede sin [...], wan mich nie nihtes so verdröz / so guoter rede äne were [...]" (ν. 2450-2453). 3 7 Zuletzt ist ein Beispiel aus dem Garel heranzuziehen, das als rührender Kommentar zu all diesen Szenen dienen kann. Um sein militärisches Ziel zu erreichen, muss Garel unbedingt gegen den Riesen Malseron kämpfen, hat aber die größten Schwierigkeiten, ihn zum Kampf zu stellen, denn Malseron ist, obwohl ein Riese, ein durchaus höfliches und friedfertiges Wesen. Garel muss sich aufs Provozieren verlegen - er beschuldigt den Herrn Malserons, gegen Artus wortbrüchig zu sein 34
35
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37
was den Riesen zur Bemerkung „herre, ir
Den Sinn dieser Aussage macht die paraphrasierende Übersetzung Wrights ganz deutlich: „Sir, you (merely) speak your bold deeds (rather than perform them)": Aaron E. Wright, „Hartmann and the Fable. On 'Erec' 9049ff.", in: PBB 116 (1994), S. 28-36, hier S. 29. Wright (wie Anm. 34) macht wahrscheinlich, dass Hartmann in dieser Geschichte Elemente aus zwei Fabeln kombiniert, die in lateinischen Schultexten des hohen Mittelalters weit verbreitet waren. Angesichts dieser Tatsache und der aggressiven Haltung Mabonagrins vom Beginn der Szene an könnte man sich wohl fragen, ob Erec es nötig hat, seinen Gegner aufzureizen. Dabei muss man aber bedenken, mit welch großem, gleichsam missionarischem Eifer Erec es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Joie de la Curt-Abenteuer zu bestehen und die durchaus missliche Situation in Brandigan zu beheben. Der Sieg über Mabonagrin ist ihm in diesem Stadium seiner Laufbahn zum höchsten Lebensziel geworden. Die Taktik, die Hartmann seinen Helden in dieser Szene verfolgen lässt, wird übrigens umso deutlicher, wenn man sich an Erecs Verhalten Iders gegenüber erinnert. Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet. Eine Erzählung, hg. von Karl A. Hahn, Frankfurt a.M. 1845, Nachdruck mit einem Nachwort und einer Bibliographie von Frederick Norman, Berlin 1965.
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möht wol reden baz [...]" (v. 11319) veranlasst und Garel den Vorwurf einbringt, er rede „unhöbschltchen"
(v. 11323). Endlich gelingt es ihm, Malserons Zorn zu erregen, und es
kommt zum Kampf, der mit dem Tod des Riesen endet. Garel steht neben der Leiche und lobt den Gefallenen, seine Kühnheit und seine „gröze zuht" (v. 11619). Er bedauert, dass er ihn auf unpassende Weise angesprochen hat, und erklärt, dass nur die Sorge, Malseron könne ihn als unwürdigen Gegner betrachten, ihn dazu veranlasst habe: „ [...] daz ich mich gein dir übersprach, daz was des schult: ich hete wän, daz du mich niht weitest bestän. ich vorhte, ich dühte dich ze swach. von den schulden mir geschach, daz ich dir solhe rede bot [...]." (v. 11622-11627)
Aber Ende gut, alles gut - Malseron war nur scheinbar tot! Er kommt wieder zu sich, ergibt sich Garel und wird sein Helfer. Redegewandtheit gehört zu den Qualitäten, die den höfischen Ritter und den mittelalterlichen Adligen auszeichnen sollten;38 auch List, besonders die Fähigkeit sich zu verstellen, sich anders zu geben als man ist, gehört dazu und ist nicht zu verurteilen, soweit sie einem guten Zweck dient.39 In den zuletzt herangezogenen Textstellen, mit Ausnahme vielleicht der Lanzelet-Stelle, ist es unbedingt notwendig, einen Kampf herbeizuführen, und um dies zu erreichen, nehmen die ritterlichen Helden die geeignete Rolle an und benehmen sich provozierend. In dieser Rolle bedienen sie sich einer Redeweise, die sie normalerweise verpönen. Diese Redeweise gehört aber offensichtlich noch zum Arsenal der Register, über die der ritterliche Held verfügen muss und die er unter gegebenen Umständen als Mittel der 'verbalen Kriegsführung' anwendet, vielleicht nicht ohne Bedauern, wie am Beispiel Gareis zu sehen ist. Wenn die Reizrede der Heldendichtung überhaupt im Artusroman weiterlebt, dann ist sie hier zu finden, wenn auch nur als schwacher Abglanz ihrer einstigen Glorie und manchmal, wie bei der £Vec-Stelle, in stark literarisierter Form.40 Ansonsten ist für den deutschen Artusroman festzuhalten, dass die Reizrede ganz einfach ihren Reiz verloren hat.
38 39
40
Siehe Bumke (wie Anm. 33), S. 69. Zur Beurteilung der List, vor allem im adligen Lebensbereich, siehe Thomas Zotz, „Odysseus im Mittelalter? Zum Stellenwert von List und Listigkeit in der Kultur des Adels", in: Die List, hg. von Harro von Senger, Frankfurt a.M. 1999 (Edition Suhrkamp 2039), S. 212-240. Zu Erecs Anwendung von List außerhalb der Joie de la Curt-Episode siehe Martin H. Jones, ,J)urch schcenen list er sprach: Empathy, Pretence and Narrative Point of View in Hartmann von Aue's 'Erec'", in: Blütezeit. Festschrift fiir L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag, hg. von Mark Chinca, Joachim Heinzle und Christopher Young, Tubingen 2000, S. 291-307. Das Missverhältnis zwischen Worten und Taten, auf das Erec, Iwein und Lanzelet in ihren 'Reizreden' anspielen, ist ein wiederkehrendes Motiv der heldenepischen Reizrede; siehe Clover (wie Anm. 9), S. 454.
Elke Ukena-Best Konfliktdialoge im Eneasroman Heinrichs von Veldeke
I.
Zur Dialogtypologie
Schaut man sich die wörtliche Figurenrede in frühhöfischen Romanen an, so konstatiert man vor allem den Gebrauch von Redeszenen in einfacher Konstruktionsweise als (1) Einzelreden in Form von Anreden an eine Person oder mehrere Personen, auf die keine Antwort in direkter Rede gegeben wird (Halbdialoge1), (2) Einzelreden, die monologisch in Form von Gedankenmonologen oder Selbstgesprächen an sich selbst oder als Halbmonologe2 an eine abwesende reale oder fiktive Person bzw. Instanz gerichtet sind und demnach eine Antwort ausschließen, oder (3) einfache Dialoge in Form eines Redewechsels zwischen zwei Personen, der nur aus Rede und Antwort (A + B) oder aus Rede, Antwort und nochmaliger Rede der ersten Person (Α + Β + Α) besteht. Demgegenüber sind ausgeführte, eine längere Folge von Redewechseln umfassende Dialoge, wie sie als konstituierendes Element anschaulichen Erzählens in der Poetik des hochhöfischen Romans etabliert sind, noch selten. Von daher liegt es nahe, sich mit Beschaffenheit und Funktion dieser komplizierteren Redeszenen genauer zu beschäftigen. Als besonders geeignet bietet sich der Eneasroman Heinrichs von Veldeke an,3 da er, anders als etwa der frühe Alexanderroman und mehr als Eilharts von Oberg Tristrant, zum Wegbereiter des deutschsprachigen höfischen Romans wird, dem er neben konstituierenden Themen wie Minne und Herrschertum auch wesentliche Formen und Techniken höfischer Erzählkunst übermittelt. Seine - allerdings nicht sehr zahlreichen - ausgeführten Dialoge4 gehören demnach zu den 'modernen', innovativ eingesetzten poetischen Mitteln.
2 3
4
Terminologie nach Peter Wiehl, Die Redeszene als episches Strukturelement in den Erec- und Iwein-Dichtungen Hartmanns von Aue und Chrestiens de Troyes, München 1974 (Bochumer Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft 10), S. 54f. Ebd., S. 56. Zitierte Textausgabe: Heinrich von Veldeke, Eneasroman, nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 2 1997 (RUB 8303). Systematische Erfassung sämtlicher Redearten und -handlungen mit statistischen Übersichten bei Jane Emberson, Speech in the Eneide of Heinrich von Veldeke, Göppingen 1981 (GAG 319); zu den Redeszenen im Eneasroman vgl. auch Hans Joachim Gernentz, Formen und Funktionen der direkten Rede und der Redeszenen in der deutschen epischen Dichtung von 1150-1200, Rostock 1958, S. 217-290; Renate von Gosen, Das Ethische in Heinrichs von Veldeke Eneide:
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Zwar stammen Einsatz und Disposition der Redeszenen innerhalb des narrativen Textes weitgehend nicht von Veldeke selbst, sondern von seiner Vorlage, dem altfranzösischen Roman d'Eneas,5 doch hat er, ebenso wie seine hochhöfischen Nachfolger Hartmann von Aue oder Wolfram von Eschenbach bei der Adaptation der Werke Chretiens de Troyes, im Zuge der Übertragung und Bearbeitung eigene Gestaltungsintentionen umgesetzt. Er verändert den Vorlagetext vielfach nicht nur im Sprachlich-Rhetorischen, sondern auch in den Inhalten, Aussagen und Bauelementen sowie durch Verkürzungen oder Erweiterungen. Bei den ausgeführten Dialogen des Eneasromans handelt es sich nach der von Andreas Urscheler 6 für die Redeszenen in Wolframs von Eschenbach Parzival im Anschluss an die linguistische Dialogforschung von Wilhelm Franke 7 entwickelten Klassifizierungsgrundlage um Dialoge des komplementären und des kompetitiven Typus. Zentrales Ordnungskriterium der dreiteiligen Typologie Urschelers 8 ist die einer zielorientierten Interaktion zugrunde liegende Interessenkonstellation. 9 Beim komplementären Dialogtypus sind die Handlungsziele der Interaktanten kompatibel; es liegen keine Interessendivergenzen vor. Als Realisationsvarianten finden sich im Eneasroman ein Informationsdialog (Eneas und seine Kundschafter nach ihrer Rückkehr von Dido, v. 32,26-33,17), zwei Beratungsdialoge (Dido und Anna nach dem Ausbruch von Didos Minnekrankheit, v. 53,34-57,20; Nisus und Euryalus vor dem Überfall auf Turnus' Heerlager, v. 181,16-182,37), ein Lehrdialog (das in den Konfliktdialog eingelagerte 'Minnegespräch' zwischen Lavinia und der Königin, v. 261,17-265,33 l 0 ) und ein Ein-
5
6
7
8
9
10
Formen, Inhalte, Funktionen, Frankfurt a.M. u.a. 1985 (Europäische Hochschulschriften 1 829), S. 104-189. Le Roman d'Eneas, übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer, München 1972 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters 9). Andreas Urscheler, Kommunikation in Wolframs 'Parzival'. Eine Untersuchung zu Form und Funktion der Dialoge, Bern u.a. 2002 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 38), bes. S. 109-111. Wilhelm Franke, Elementare Dialogstrukturen. Darstellung, Analyse, Diskussion, Tübingen 1990 (Reihe Germanistische Linguistik 101), bes. S. 62-84. Urschelers Typologie der koordinativen, komplementären und kompetitiven Dialoge ist prinzipiell auf alle Werke der höfischen Epik anzuwenden, wenngleich sie im Detail sicher noch der Modifizierung, Differenzierung und vor allem - nach Maßgabe des Textmaterials - der Erweiterung bedarf. So ist etwa die Reduzierung aller Dialoge auf jeweils einen Typus problematisch, da im Verlauf längerer Gespräche unterschiedliche Dialogtypen realisiert sein können. Zum Zwecke einer Klassifizierung im Großen erweist sich die Dreiertypologie jedoch als sachdienlich, da mit ihr die Grundpositionen und Handlungsziele der Sprecher und die wesentlichen Verlaufsschritte des Dialoges erfasst sind. - Die grundlegende, auf formale und strukturelle Kriterien konzentrierte Untersuchung von Emberson (wie Anm. 4) nimmt bei den Dialoganalysen die Perspektive der Interessenkonstellationen nicht ein. Ausgenommen werden unterhaltungsorientierte Dialogtypen, die keine eindeutige Zielorientierung aufweisen (Formen der Konversation). Vgl. Urscheler (wie Anm. 6), S. 111. Zur besonderen Beschaffenheit dieses Dialoges s. unten, Abschnitt II.3.2.
Konfliktdialoge
im Eneasroman Heinrichs von Veldeke
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Verständnisdialog (Eneas und Lavinia bei ihrem ersten persönlichen Zusammentreffen, v. 339,6-28). Der kompetitive Dialogtypus, der bei konfliktärer Ausgangssituation eine Beseitigung der Interessendivergenz aufgrund gegensätzlicher Handlungsziele ausschließt, ist in Form zweier Konfliktdialoge realisiert (Dido und Eneas, v. 67,32-73,4; die Königin von Latium und Lavinia, v. 260,21-266,13; 279,27-284,22; 342,14-343,38 als Dialog in drei separaten Passagen). Der koordinative Dialogtypus, bei dem eine bestehende Interessendivergenz im Zuge eines Interessenarrangements aufgehoben wird, spielt im Eneasroman keine wesentliche Rolle, da er nur als Mischform aus koordinativem und kompetitivem Dialog auftritt (Beratungsdialog zwischen Latinus, Drances und Turnus vor Fortsetzung der Kriegshandlungen nach dem Waffenstillstand, v. 228,18-235,19)." Im Hinblick auf den Gesamtbestand an Dialogen im Eneasroman ist festzustellen, dass es sich bei den beiden Vertretern des kompetitiven Typus um besonders wichtige Redeszenen handelt. Sie nehmen in den großen Teilhandlungen des Werkes, in deren Mittelpunkt die Minneverhältnisse des Helden Eneas stehen, hier kurz als Dido-Handlung und LaviniaHandlung bezeichnet, jeweils eine exponierte Position ein. Die den epischen Bericht für längere Dauer suspendierenden Dialoge tragen die Handlung weiter und geben dem Folgegeschehen einen entscheidenden Impuls. Da sich in den Konfliktdialogen die Dialogtechnik Heinrichs von Veldeke besonders deutlich konturiert, sollen die weiteren Untersuchungen ganz auf sie konzentriert werden.
II.
Die Konfliktdialoge zwischen Dido und Eneas und der Königin und Lavinia
Der jeweils im vorangegangenen Geschehen von Dido- und Lavinia-Handlung angelegte, doch bis dahin nicht virulente Konflikt bricht im Dialog aus und wird in der verbalen Interaktion ausgetragen. Das Konfliktpotential beider Dialoge ist die Minne, wenn auch die Problematik und die konkreten Umstände je anders beschaffen sind. 11
In diesem Dialog mit drei Interaktanten, die das von König Latinus initiierte Ratsgespräch führen, ändert Turnus zwar seine Haltung (koordinativ), doch werden die zunächst gegensätzlichen Positionen von Drances und Turnus als Streitdialog (kompetitiv) vermittelt. Eine Kombination von komplementärem und kompetitivem Typus Hegt hingegen im Beratungsdialog zwischen Turnus und seinen Beratern Mezzentius und Messapus (v. 150,19-155,7) vor. Hier führt der gefasste Beschluss zwar einen Konsens herbei, gleichwohl bleibt die unberücksichtigte Meinung ausgeschlossen, so dass eine generelle Kompatibilität nicht gegeben ist.
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Zur Dido-Handlung (Konflikt zwischen Dido und Eneas): Die einem unglücklichen Ende entgegensteuernde Dido-Handlung wird mit dem Dido-Eneas-Dialog auf ihren Höhepunkt geführt, indem auf der Geschehensebene in der Auseinandersetzung zwischen den Protagonisten die definitive Entscheidung für ihr weiteres Schicksal fällt. Eneas ist unwiderruflich entschlossen, dem Auftrag der Götter zu folgen und Dido zu verlassen; Dido hingegen will ihn mit allen ihr verfügbaren verbalen Mitteln zurückhalten. Zur Lavinia-Handlung (Konflikt zwischen der Königin von Latium und Lavinia): In der Lavinia-Handlung erstreckt sich der Dialog zwischen der Königin und Lavinia, ihrer Tochter, über drei Passagen, bildet also keinen in sich geschlossenen Handlungsblock. Obschon zwischen diesen drei Redeszenen längere, das Geschehen vorantreibende Erzählpartien liegen, sind sie doch Teile desselben, in seiner Brisanz von einer Begegnung zur anderen eskalierenden Konflikts.' 2 In der ersten Passage entzieht Lavinia sich einem von der Mutter geforderten Liebesbekenntnis zu Turnus; in der zweiten Passage bekennt Lavinia ihre inzwischen in aller Heftigkeit ausgebrochene Liebe zu Eneas; in der dritten Passage tritt Lavinia der Mutter als künftige Königin von Latium und Gattin von Eneas gegenüber, zu der sie nunmehr durch ihren Vater Latinus erhoben wurde. Zwar sind in den Dialogen das persönliche Verhältnis der Gesprächsbeteiligten, die gesprächsdynamische Detailkonstruktion und die inhaltliche und motivliche Füllung der Gespräche unterschiedlich, gleichwohl lassen sich wesentliche konzeptionelle Kongruenzen erkennen, wenn man die Dialoge einmal nicht, wie sonst üblich, separat in ihrem jeweiligen Handlungskontext betrachtet, sondern sie unter dem verbindenden Kriterium der kompetitiven Interaktion nebeneinanderstellt. Diese Gemeinsamkeiten betreffen hinsichtlich der Figuren die persönliche Disposition und den existentiellen Stellenwert des Gesprächsausgangs für die gesprächsinitiierenden Frauenfiguren, Dido von Karthago und die Königin von Latium; im Kompositorischen und Formalen betreffen sie Merkmale der Struktur, insbesondere die Verlaufsform, die Konstellation der Interaktanten sowie die Gesprächsabsicht und die Grundzüge der Gesprächsstrategie. Diese Kongruenzaspekte, anhand derer
12
Diese Sicht auf den im Dialog ausgetragenen Konflikt zwischen der Königin und Lavinia ist neu. Zwar wurden in der bisherigen Forschung bereits die handlungskonzeptionellen Verbindungen zwischen den drei Redeszenen konstatiert, doch wurde ihre strukturelle Einheit im Gesamtvollzugsrahmen der kompetitiven Interaktion nicht in den Blick genommen. Vgl. etwa MarieLuise Dittrich, Die 'Eneide' Heinrichs von Veldeke, Teil 1: Quellenkritischer Vergleich mit dem Roman d'Eneas und Vergils Aeneis, Wiesbaden 1966, S. 315f., 421; Emberson (wie Anm. 4), S. 195-211; Lydia Miklautsch, Studien zur Mutterrolle in den mittelhochdeutschen Großepen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, Erlangen 1991 (Erlanger Studien 88), S. 243-251; dies., „Mutter-Tochter-Gespräche. Konstituierung von Rollen in Gottfrieds 'Tristan' und Veldekes 'Eneide' und deren Verweigerung bei Neidhart", in: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, hg. von Helmut Brall, Barbara Haupt und Urban Küsters, Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 25), S. 89-107; Ann Marie Rasmussen, Mothers and Daughters in Medieval German Literature, Syracuse, NY 1997 (Contributions in Women's Studies 16), S. 29-65.
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sich grundlegende Prinzipien der Gestaltung und Intention erkennen lassen, sind im Folgenden genauer darzulegen.
II. 1.
Gesprächssituation und Gesprächspartner
Beide Dialoge sind keine öffentlichen, durch Konvention, Zeremoniell oder Ritual formalisierten Redewechsel, sondern private, räumlich von der Außenwelt separierte Unterredungen zwischen zwei in engstem persönlichem Verhältnis stehenden Gesprächspartnern. Im Handlungszusammenhang reichen jedoch die Konsequenzen des Gesprächs aufgrund des sozialen und politischen Status der als Hauptpersonen agierenden Interaktanten über die individuellen Belange hinaus in weiteste reichs- und weltpolitische Dimensionen und sind essenziell für den Fortgang des Geschehens. Es stehen sich jeweils der initiierende und der reagierende Sprecher so gegenüber, dass der initiierende Teil (Dido bzw. die Königin) das Handlungsziel, die Gewinnung seines Gegenübers für sein Anliegen, mit unbedingtem Durchsetzungswillen verfolgt, während der reagierende Teil (Eneas bzw. Lavinia) diesem Anliegen nicht entsprechen kann und sich den Überzeugungsbemühungen entzieht. Schon von der Ausgangslage her ist eine Konfliktlösung nicht möglich. Überdies lässt die wachsende Emotionalisierung des Gesprächs einen vernunftgesteuerten Austausch von Argumenten nicht zu. Notwendig ist damit der Plan der Gesprächsinitiatorin zum Misserfolg bestimmt. Da sich bei ihr mit dem Gesprächsziel die Existenzfrage verbindet, bedeutet das Scheitern in diesem Gespräch zugleich das Scheitern ihres Lebens. Die beiden Gesprächsinitiatorinnen verkörpern den Typus der starken Frau. Sie sind mächtige Königinnen: Dido als selbstständige und rechtmäßige Herrscherin von Karthago, die Königin von Latium als die die Herrschaft ihres schwachen Ehemannes, König Latinus, in wichtigen politischen Belangen lenkende Instanz. Dass es im Persönlichkeitsbild der beiden Frauen ethisch-moralische Unterschiede gibt, ist hinsichtlich der strukturellen Übereinstimmungen der Redeszenen nicht relevant.13 Beide Königinnen agieren bis zum Zeitpunkt ihres Eintretens in das Geschehen in ihren Positionen machtbewusst, initiativ,
13
Während die Königin von Latium durchgehend als Negativfigur charakterisiert ist, die zu Eneas' Gegenspielerin wird und ihre Macht dazu benutzen will, ihre persönlichen Ziele gegen die Familie, die Gesellschaft und die Götter durchzusetzen, ist Dido eine Figur mit ambivalenten Zügen. In ihrer Rolle als Herrscherin wird sie positiv dargestellt; ihr Herrscheramt nimmt sie vorbildlich mit allen erforderlichen Herrschertugenden wahr. Erst unter dem Zwang der sie überwältigenden Minne zu Eneas wird ihr Verhalten problematisch. Vgl. bes. Anette Syndikus, „Dido zwischen Herrschaft und Minne", in: PBB 114 (1992), S. 57-107; Renate Kistler, Heinrich von Veldeke und Ovid, Tübingen 1993 (Hermaea NF 71), S. 224-231.
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willensbestimmt und mit hoher Rationalität. 14 Der somit erreichte Erfolg ihres Handelns betrifft zunächst auch den Sachverhalt, aus dem sich der in den Dialogen zum Höhepunkt gelangende Konflikt ergibt. Die Situation bei Dido: Nachdem Eneas auf seiner Flucht aus Troja nach Karthago gekommen ist, wird Dido von einer ins Pathologische gesteigerten Minne zu ihm überwältigt und setzt alles daran, Eneas für sich zu gewinnen. Die Verführung auf der Jagd, die Hochzeit und die Übergabe der karthagischen Herrschaftsgewalt an Eneas gehen auf ihre Planung und Initiative zurück. Die Problemfaktoren, die letztlich zur Auflösung der für sie lebensnotwendig gewordenen Verbindung mit Eneas führen, liegen außerhalb ihrer Macht: Das Minneverhältnis ist unausgewogen-einseitig, denn Eneas liebt Dido nicht in derselben bedingungslosen Weise, und längst haben ihn die Götter zum künftigen Herrscher Italiens und Ehemann Lavinias auserkoren. Die Situation bei der Königin von Latium: Sie hat ihren Mann Latinus gegen dessen Willen dazu veranlasst, dem von ihr favorisierten König Turnus öffentlich unter Eid zu versprechen, dass dieser die Hand der Königstocher Lavinia und die Herrschaft über Latium erhalten werde. Obwohl dem König Latinus zuvor von den Göttern die künftige Verbindung zwischen Lavinia und Eneas und dessen Machtübernahme prophezeit wurde, hat er sich von seiner Frau zu dieser brisanten machtpolitischen Fehlentscheidung drängen lassen. Unausweichlich ist damit der Ausbruch eines Machtkampfes f ü r den Zeitpunkt vorherbestimmt, an dem Eneas, dem Auftrag der Götter folgend, in Italien eintreffen und seinen Anspruch geltend machen wird. Während die Königin auch dann noch an Turnus festhält, tritt König Latinus von seinem Versprechen zurück und unterstützt nun, den Göttern gehorchend, Eneas. In dem Gespräch mit Lavinia unternimmt die Königin, die nur über Turnus ihre Macht erhalten kann, den letztmöglichen Versuch zur Abwendung des sich abzeichnenden Schicksals. Sie will Lavinia zur Verbündeten gewinnen, indem sie kraft ihrer mütterlichen Autorität durchzusetzen versucht, dass Lavinia ihre Liebe Turnus zuwendet. Zugleich soll damit die aufgrund der Prophezeiung zu befürchtende Liebesverbindung zwischen Lavinia und Eneas verhindert werden. Bei beiden Königinnen also steht, ohne dass dies in ihren Überlegungen eine Rolle spielt, das persönliche Wollen dem Willen der Götter entgegen. Auf der Handlungsebene sind Dido und die Königin von Latium durch die für sie brisanten Ereignisumstände genötigt, das entscheidende Gespräch zu initiieren. Da sich jedoch ihre Gesprächspartner Eneas bzw. Lavinia nicht zum Objekt ihres Willens machen lassen, zwingen sie die Gesprächsinitiatorin zur Preisgabe ihres Handlungsziels, auch wenn sie selbst aufgrund der engen persönlichen Verbundenheit mit ihr unter erheblichen psychischen Leidensdruck geraten. Für 14
Zu Dido vgl. z.B. v. 25,13; 26,4; 27,25-27; 32-35; 77,40; 80,15; zur Königin von Latium, die allerdings ihre Klugheit zum Schlechten missbraucht, vgl. z.B. v. 127,3; 141,37-142,1; 260,19; 279,16-19.
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die Gesprächsinitiatorin konkretisiert sich innerhalb des kommunikativen Aktes die existenzielle, letztlich persönlichkeitszerstörende Niederlage. Sie geht an dem in ihrem Sinne nicht lösbaren Konflikt zugrunde. Dido verliert mit Eneas ihre Existenzmitte; ein Weiterleben schließt sich für sie aus, da es ihr unmöglich erscheint, ihr früheres Leben ohne Eneas wiederaufzunehmen. Mit dem Verlust des Geliebten bricht die nunmehr unheilbare Minnekrankheit erneut aus und gelangt in ihr tödliches Endstadium. Die Königin von Latium verliert mit dem Scheitern ihrer Planung, das durch Lavinias Widerstand endgültig wird, ihre stets nur angemaßte, nicht legitime, gleichwohl für sie lebensnotwendige Macht. Auch die Ankündigung ihrer Todesabsicht, die Dido gegenüber Eneas ebenso wie die Königin gegenüber Lavinia äußert, kann den Gesprächspartner nicht beeinflussen, so dass sie sich zuletzt gegen sich selbst wendet und willentlich ihren Tod herbeiführt. Somit ist mit dem Ende des Gesprächs auch das Leben der Gesprächsinitiatorin an sein Ende gekommen. Der einzige Handlungsschritt, den sie noch vollzieht, ist der Schritt in den Tod. Dido begeht aktiv Selbstmord, indem sie sich mit Eneas' Schwert den Todesstoß versetzt und sich sterbend in den von ihr entzündeten Scheiterhaufen stürzt; die Königin von Latium begeht passiven Selbstmord, indem sie sich dem Weiterleben verweigert, bis sie nicht mehr lebensfähig ist und qualvoll stirbt. Der geistig-seelische Wandel in Form einer fortschreitenden Destruktion ihrer Persönlichkeit vollzieht sich bei der Gesprächsinitiatorin ganz im Zuge der verbalen Interaktion. Ihre anfangs dominierende Ratio verliert sie immer mehr an die Affekte, zu deren Zügelung sie schließlich nicht mehr willens und imstande ist. Denken und Reden werden zuletzt so umfassend von Leid, Zorn, Wut und Verzweiflung beherrscht, dass sie dem Wahnsinn verfällt. Wenn sich auch die elementaren Affekte bei der im Liebesleid verzweifelnden Dido und der ihren Zorn zur Wutraserei steigernden Königin in der Art ihres Ausbruchs unterscheiden, so gleichen sie sich doch in der Symptomatik ihrer zerstörerischen Wirkung. Mit dem Festhalten an ihrer Position haben die reagierenden Gesprächspartner Eneas und Lavinia ihre Kontrahentin zutiefst getroffen, doch war dies, wie es der Geschehensfortlauf bestätigt, um ihrer Selbstbehauptung willen notwendig. Ihr Verhalten wird nicht nur durch den übergeordneten Götterwillen, den sie ihrer Bestimmung gemäß erfüllen (Eneas bewusst, Lavinia unbewusst 15 ), sondern auch dadurch, dass auf der Handlungsebene die Selbsttötungen Didos und der Königin als finale Äußerungen ihres Wahnsinns dargestellt werden, 16 von Schuld entlastet.
15
16
Die Darstellung von Lavinias Verhalten lässt erkennen, dass ihr die an König Latinus ergangene Prophezeiung ihrer künftigen Heirat mit Eneas nicht bekannt ist. Wenn auch das Wertespektrum der christlichen Tugenden und Laster nirgends unmittelbar, auch nicht im Gewand eines höfisch-adligen Verhaltenskodex und dessen etwaiger Negation thematisiert wird, so ist doch anzunehmen, dass den Rezipienten die moraltheologische Wertung von
164 II.2.
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Grundschema des Gesprächsverlaufs
Bei beiden Konfliktdialogen lässt sich als Grundschema eine Folge von drei charakteristischen Stadien erkennen, die durch ein jeweils geändertes Gesprächsverhalten der Interaktanten und durch die analog sich verändernde psychische Verfasstheit der Gesprächsinitiatorin bedingt sind. Die Spezifik dieser drei Stadien soll zunächst kurz und stark formalisiert dargelegt werden, um dann ihre Ausführung in den beiden Dialogen in den Blick zu nehmen. Im e r s t e n Stadium ist die Gesprächsinitiatorin im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte; sie steuert das Gespräch und verfolgt ihr Gesprächsziel offensiv. Ihre an Heftigkeit zunehmende Erregung vermag sie noch zu beherrschen. Ihre Intention setzt sie vermittels einer zweifachen Taktik um: Sie geht den Gesprächspartner auf rationaler und emotionaler Ebene an; Überzeugungsversuche mit Sachargumenten stehen neben Vorhaltungen, Klagen und Drohungen. Der Gesprächspartner hingegen befindet sich als Reagierender in der Defensive; seine Antworten bringt er aus einer Position der Unsicherheit und der Furcht vor der mentalen und autoritativen Stärke der Gesprächsinitiatorin hervor. Den Übergang zum zweiten Stadium markiert ein Wendepunkt, an dem die Gesprächsinitiatorin in die Position der Schwächeren gerät, weil ihre Argumente und strategischen Mittel, mit denen sie erfolglos geblieben ist, aufgebraucht sind. Im z w e i t e n Stadium kehrt sich die Gesprächssituation um. Die Gesprächsinitiatorin ist sich ihrer nicht mehr abzuwendenden Niederlage bewusst geworden. Daraus resultiert ein zunehmend affektives Verhalten. Ihre Äußerungen werden mehr und mehr irrational; sie verliert die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung. Die Gesprächssteuerung geht auf den Gesprächspartner über, der damit Überlegenheit gewinnt und nun seinen Standpunkt offensiv vertritt. Die Gesprächsinitiatorin ist außerstande, seine Vernunftargumente aufzunehmen. Mit seiner festen Haltung nötigt der Gesprächspartner sie schließlich zur Aufgabe ihres Handlungsziels. Damit gelangt die Kontroverse erneut an einen Wendepunkt und tritt nach einer situationsbedingten Gesprächsunterbrechung - in das dritte und letzte Stadium ein. Das d r i t t e Stadium ist dadurch gekennzeichnet, dass jetzt für die Gesprächsinitiatorin die ursprüngliche, den Gesprächsbeginn bestimmende Intention gegenstandslos geworden ist. Mit dem endgültigen Verlust ihres Handlungsziels erreicht der Verfall ihrer Persönlichkeit den finalen Zustand. Nunmehr gänzlich den Affekten ausgeliefert, ist sie keiner
Zorn und Wut einerseits (ira, furor) und maßloser Trauer und Verzweiflung am Leben andererseits (tristitia, desperatio) als Todsünden geläufig war. Von Dido wird berichtet, dass sie in der Unterwelt, wo sie zur Gruppe derer gehört, die tot warn von minnen (v. 99,29), ihr Handeln bereut (v. 99,38-40).
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rationalen Überlegung und Äußerung mehr fähig. Sie kann nur noch unsinnige, sowohl gegen sich selbst als auch gegen den Gesprächspartner gerichtete Anschuldigungen und Vorwürfe hervorbringen. Im eskalierenden Wahnsinn steigert sie sich mit ihrer letzten Rede zu einem Hassausbruch gegen den Gesprächspartner. In dieser Situation hat der Gesprächspartner seine Position endgültig behauptet, so dass für ihn die Auseinandersetzung beendet ist. Angesichts des desolaten Zustands der Gesprächsinitiatorin bringt er ihr Mitleid und Anteilnahme entgegen, zu deren positiver Wahrnehmung die Rasende allerdings nicht in der Lage ist. Am Ende hat der sich permanent intensivierende Dissens die Interaktanten soweit voneinander getrennt, dass die Möglichkeiten verbaler Kommunikation endgültig erschöpft sind. Der Verlust der Kommunikationsbasis wird zur Handlungskonsequenz: Der Gesprächspartner verlässt die Gesprächsinitiatorin; diese geht in den Tod. Was die Redegestaltung betrifft, so ist für das erste Stadium der Einsatz der inquisitorischen Dialogphase charakteristisch. Deren Ziel ist es, ein Wissens- oder Informationsdefizit zu beseitigen, indem der Gesprächspartner durch den Gesprächsführer zur Preisgabe seines Wissens genötigt wird.17 Das formale Kennzeichen der inquisitorischen Interaktion ist bei Veldeke der schnelle, aus Stichomythien, Hemi- oder Distichomythien bestehende Redewechsel mit lebhaftem Duktus.18 Im direkten Bezug stehende Äußerungen der Sprecher sind hier vor allem Frage oder Redeaufforderung und Antwort sowie Behauptung und Gegenbehauptung. Bei den einer inquisitorischen Phase folgenden Dialogphasen handelt es sich um Phasen mit längeren Reden, die besonders als Meinungsäußerungs- und Erklärungsreden und, dem kompetitiven Muster entsprechend, als Klage-, Vorwurfs- und Verteidigungsreden auftreten. Dieser Modus der längeren Reden konstituiert durchgehend die Phasen des zweiten und dritten Stadiums. Da hier keine Informationsdefizite mehr auszugleichen sind, entfallen die inquisitorischen Phasen. Ohne dass im gegebenen Rahmen eine differenzierte, die Inhalte und Einzelheiten der Argumentation, die diffizile Kommunikationsdynamik und die sprachliche Gestaltung erschließende Verlaufsanalyse möglich ist, sollen nun zumindest die Grundzüge der Dialoge im Hinblick auf das Drei-Stadien-Schema dargestellt werden. Um zu zeigen, dass es sich bei dieser Dialogkonzeption um Veldekes Eigenleistung handelt, werden der Roman d'Eneas, dessen Redeszenen das spezifische Verlaufsmuster nicht aufweisen, und Vergils 17
18
Zum inquisitorischen Dialog nach kompetitivem Muster vgl. Franke (wie Anm. 7), S. 76. Das Moment der Nötigung des Gesprächspartners unterscheidet diesen Subtypus des kompetitiven Dialoges vom Befragungs- oder Informationsdialog des komplementären Typus. Zu weiteren Gebrauchszusammenhängen der Stichomythie bei Veldeke vgl. Emberson (wie Anm. 4), S. 174-182; Gernentz (wie Anm. 4), S. 265-267. Zur Leistung der Stichomythien und verwandter Formen des schnellen Sprecherwechsels in der mittelhochdeutschen Großepik vgl. den Beitrag von Maria Elisabeth Müller im vorliegenden Band (mit weiterführender Literatur).
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Aeneis, die nur den Dido-Eneas-Dialog, nicht aber den Königin-Lavinia-Dialog enthält, kurz vergleichend herangezogen.
II. 3.
Gesprächsverlauf
II.3.1.
Dialog zwischen Dido und Eneas
In der Auseinandersetzung zwischen Dido und Eneas verdichtet und entlädt sich das Konfliktpotential der gesamten Dido-Handlung. Der Konflikt, dem kein Streit vorausging, kommt im Dialog zum Ausbruch und zugleich zu seinem schmerzvollen Ende. Zuvor wurde das Verhältnis von Dido und Eneas als eine situationsgemäß funktionierende Beziehung dargestellt.19 Die Problematik ihrer Minne, die auf Didos Seite die existenzielle, Körper und Seele gleichermaßen erfassende Liebespassion, bei Eneas dagegen nur eine körperliche Bindung ohne seelischen Tiefgang ist, wird bis zum Schluss nicht akut. Erst zum Zeitpunkt der von den Göttern verfügten Trennung offenbart sich die fundamentale, von Anbeginn das Scheitern in sich tragende Defizienz dieser Minne. Für Eneas, der gerne bei Dido bleiben und ihr auch kein Leid zufügen möchte, stellt die Trennungsnotwendigkeit dennoch kein Dilemma dar. Mit seinen heimlichen Aufbruchsvorbereitungen hat er längst begonnen, seinen Entschluss, sie zu verlassen, in die Tat umzusetzen. Die Begründung für den damit an ihr begangenen Verrat gibt der Erzähler: herforhte, ob siz vernäme, / daz si ez wenden wolde / und er dä wesen solde / unde in lezte deste me (ν. 67,2-5). Eneas also fürchtet ihre Stärke, die ihn womöglich zurückhalten könnte. Nachdem Dido, die Eneas bis dahin mit uneingeschränktem Vertrauen verbunden war, von seinen heimlichen Aktivitäten gehört hat, stellt sie ihn in starker Erregung zur Rede. Eneas' Haltung ist am Anfang des Gesprächs noch von der Furcht geprägt, Didos Einflussnahme nicht gewachsen zu sein. In gleicher Weise aber wie Didos Stärke abnimmt, gewinnt er im weiteren Verlauf an Bestimmtheit. Das e r s t e Stadium des Dialoges umfasst vier Phasen, in denen Dido als Gesprächsinitiatorin und -lenkerin jeweils ihr Gesprächsverhalten ändert. Am Beginn (v. 67,32-68,7) steht eine inquisitorische, vor allem aus Stichomythien und Distichomythien gebaute Phase, die auf eine Situationsklärung abzielt, mit der Didos Informationsdefizit im Bezug auf Eneas' Planungen aufgehoben werden soll. Eneas muss sich zu seinem Vorhaben, das er mit dem Willen der Götter rechtfertigt, bekennen. Dido sieht ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Von dieser Ausgangsbasis entwickelt sich ab der zweiten Phase das eigentliche Konfliktgespräch. Unter Einsatz wechselnder Strategien verfolgt Dido ihr Ziel, Eneas 19
Dido hat aus eigenem Entschluss ihr Leben ganz auf Eneas ausgerichtet: si wart do küne unde bait/und tet dö stnen willen / offenbäre unde stille (v. 65,10-12).
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zur Umkehr zu bewegen. Alle weiteren Dialogphasen laufen nun im Modus der längeren Reden ab (zwischen 5 und 41 Versen). 2. Phase (v. 68,8^40): Dido klagt über den Verlust von Eneas' Liebe und ihr eigenes Fehlverhalten, ohne Eneas direkt zu beschuldigen. Indirekt wird der Gesprächspartner damit zu einer Stellungnahme herausgefordert. Eneas reagiert mit einer Mitleidsbekundung gegenüber Didos Leid und verweist auf seinen eigenen Kummer in dieser prekären Situation. Wenn er nicht dazu gezwungen wäre, ginge er nicht fort. 3. Phase (v. 69,1-25): Dido ändert ihre Taktik; sie wird offensiv und richtet sich nun direkt an ihr Gegenüber. Seinen Hauptgrund, den Götterwillen, ignorierend, fragt sie Eneas nach der ihr persönlich vorzuwerfenden Schuld, wobei die Frageinhalte deutlich machen, dass sie sehr wohl um ihre Schuldlosigkeit an der Zerstörung Trojas und dem Tod des Anchises weiß und Eneas zu genau diesem Bekenntnis bringen will. Dies gelingt; Eneas nimmt eine Verteidigungsposition ein. Er spricht ihr jegliche Schuld ab und bekennt ihr seine Zuneigung mit Worten, die Dido als Liebesbekenntnis verstehen will: „[...] ichn wart nieman so holt, /so ich ü bin unde was" (v. 69,24f.). 4. Phase (v. 69,26-70,4): Dido greift dieses Bekenntnis auf und stellt es gegen die gefürchtete Realität. Seine Liebe, mit der nach ihrem Verständnis sein Bleiben verbunden wäre, wäre eine schöne Botschaft, doch werde sich in Karthago die Nachricht verbreiten, dass sie sich selbst töten müsse. Die Aufklärung über die für Dido vernichtende Konsequenz seines Fortgehens setzt Eneas unter Druck. Mit der Selbstmordankündigung hat Dido das stärkste ihr zu Verfügung stehende Argument vorgebracht. An dieser Stelle ist der Wendepunkt zum z w e i t e n
Stadium erreicht, das aus zwei
Eneas-Reden und einer von ihnen eingefassten zweigeteilten Dido-Rede besteht. Mit seiner ersten Entgegnung (v. 69,31-70,4) ergreift nunmehr Eneas die Gesprächslenkung, die er bis zum Schluss behält. Er stellt Distanz zu Dido her, indem er sich auf die objektive Rolle des Beraters zurückzieht und sie mit Vernunftgründen von der Unsinnigkeit einer Selbsttötung zu überzeugen versucht. Von seiner Zuneigung zu ihr ist dabei nicht mehr die Rede; er spricht nur noch von Didos ihm erwiesener Liebe als von etwas bereits Vergangenem, das Gott ihr lohnen möge. Dido hat die Unabänderlichkeit von Eneas' Entschluss erkannt. Ihre nun aus der Defensive erfolgende Reaktion ist das verzweifelte Bemühen, ihn mit einer ersten Replik (v. 70,5-30), deren Argumente immer irrationaler werden, dennoch umzustimmen. Sie greift nochmals sein Zuneigungsbekenntnis auf, an das sie sich wie an einen Strohhalm klammert, um daraus die Berechtigung für schwere Vorwürfe wie Treulosigkeit und Undankbarkeit abzuleiten. Schließlich versucht sie, sein zentrales Argument, den Gehorsam gegen den göttlichen Befehl, mit einer Diskriminierung der schicksallenkenden Götter auszuhebeln. Die Inhalte dieser Rede laufen ins Leere, denn Eneas verweigert eine Antwort, indem er mit Schweigen reagiert (vgl. v. 70,32).
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So muss Dido die bittere Erkenntnis gewinnen, dass ihre bisherige Strategie, Eneas um ihretwillen zum Bleiben zu bewegen, gescheitert ist. Als letzten Versuch schließt sie eine zweite Rede an (v. 70,31-71,5), mit der sie die Ebene der selbstbezogenen Argumentation verlässt. Sie richtet an Eneas den flehenden Appell, in dem sich ihre Selbstaufgabe schon ankündigt, doch wenigstens um seiner Eigenliebe willen seinen Entschluss zu überdenken und sich nicht in die Todesgefahr der Meerfahrt zu begeben. Mit einer kurzen, seine feste Absicht bekräftigenden Antwort (seiner zweiten Rede in dieser Phase, v. 71,6-10) beruft sich Eneas erneut auf die Schicksalsmächte. Auch wenn ihm der Tod bestimmt sei, habe er dem Götterwillen zu folgen. Damit erreicht der Dialog sein d r i t t e s Stadium (v. 71,11-73,4). Dido ist nach dieser definitiven Aussage ihres Gegenübers nicht mehr fähig zu sprechen; sie hat ihre Selbstmächtigkeit verloren und fällt in Ohnmacht. Die Ohnmacht als physischer Ausdruck der nicht mehr existierenden mentalen Stärke signalisiert Didos endgültige Niederlage. Der Dialog kommt vorübergehend zum Stillstand. Als sie aus der Ohnmacht erwacht, ergreift Eneas als Lenker des Gesprächs letztmalig das Wort (v. 71,18-28). Er ist emotional stark ergriffen und will Dido zum Abschied mit der Versicherung trösten, dass auch ihn die Trennung unglücklich macht und er sie ohne den Zwang des Schicksals nicht verlassen hätte. Aber, so seine abschließende, unumstößliche Feststellung: „[...] diu not dwinget mich dar zu" (v. 71,28). Dieser dritte Rekurs auf sein Hauptargument (erstes Stadium, erste Phase: v. 68,5; zweites Stadium, Ende: v. 71,9f.) lässt erkennen, dass für Eneas, der Weitergehendes nicht mehr zu sagen hat, das Gespräch bereits zu Ende ist. Dido antwortet nochmals, doch hat ihre Haltung sich verändert, denn das anfängliche Ziel des Gesprächs, Eneas zurückzuhalten, ist nicht mehr vorhanden. Ihre Rede besteht aus zwei unterschiedlich ausgerichteten, durch einen kurzen narrativen Einschub getrennten Teilen (v. 71,30-72,14; 72,20-73,4). Sie reagiert auf die fortwährend befürchtete, nun aber für sie zur Wirklichkeit gewordene Katastrophe. In höchster Verzweiflung resümiert sie die Umstände, die ihr ein Weiterleben unmöglich machen: Ohne Nachkommen und Verwandte ist sie im Land isoliert; mit dem Verlust der ere wurde ihre Autorität als Herrscherin zerstört, so dass sie der Vernichtung durch ihre Feinde hilflos preisgegeben ist. Dass aber die eigentliche Ursache ihres Unglücks in der Person des ihr nun endgültig entzogenen Liebes- und Lebenspartners Eneas liegt, wird im zweiten Teil der Rede deutlich, als ihr exaltiertes Klagen in Zorn umschlägt und sie voller Wut und Hass Eneas Vorwürfe entgegenschleudert, mit denen sie ihm jegliche Menschlichkeit und die göttliche Herkunft abspricht.20 20
Zum Affekt des Zorns als Symptom der Minnekrankheit im Zustand der Fieberhitze vgl. Sara Stebbins, Studien zur Tradition und Rezeption der Bildlichkeit in der 'Eneide' Heinrichs von Veldeke, Frankfurt a.M./Bem 1977 (Mikrokosmos 3), S. 96-99.
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Es ist bezeichnend, dass Eneas auf diesen letzten Wahnsinnsausbruch Didos nicht mehr reagiert. Der Dialog endet, weil der rede vile was (v. 73,5); die gemeinsame Gesprächsebene ist endgültig zerstört. Eneas verlässt mit seinen Schiffen das Land; Dido bleibt in ihrer Seelenqual zurück und setzt umgehend ihre angekündigte Selbstvernichtung in Gang.21 Zwar ist Dido dem Wahnsinn verfallen, doch bleibt ihr das Denk- und Handlungsvermögen soweit erhalten, dass sie es zur Planung und Inszenierung ihres Todes anwenden kann. Auf die so sich äußernde Pervertierung ihres geistigen Vermögens weist der kommentierende Erzähler hin: si was vil ubele bedaht (v. 73,21) und wände si ubile gedahte (v. 75,31). Durch Eneas' Weggang ist die in Dido erneut mit aller Gewalt aufgebrochene Minnekrankheit endgültig unheilbar und damit tödlich geworden. Im letzten Stadium, das sich im Wahnsinn manifestiert, versetzt sie sich selbst den Todesstoß. Entsprechend begründet der Erzähler ihre Handlungsweise: al wäre sie ein wise wib, / sie was do vil sinne los. / daz si den tot also kos, / daz quam von unsinne (v. 77,40-78,3). Die klare, psychologisch nachvollziehbare Darstellung von Didos geistig-seelischem Verfall ist die besondere Leistung Veldekes, dem es gelingt, vermittels ihrer Redeanteile Didos problematische Verfasstheit von der Verlustangst über eine vage Hoffnung zur Verlustgewissheit und zur gänzlichen Hoffnungslosigkeit so transparent und eindringlich zu vergegenwärtigen, dass am Schluss aus Didos Perspektive der Selbstmord als einziger Ausweg geradezu folgerichtig erscheint. Veldekes differenzierte Dialogtechnik wird im Vergleich mit der ganz anderen Gestaltungsweise bei Vergil und im Roman d'Eneas deutlich. In der Aeneis22 (v. IV,305-387) handelt es sich um die einfache Struktur des dreiteiligen Redewechsels von Α + Β + Α mit einem Redeanteilsverhältnis von etwa 1 : 1 : 1 : Didos Vorwurfsrede (v. IV,305-330) Aeneas' Verteidigungsrede (v. IV,333-361) - Didos Wahnsinnsrede (v. IV,365-387), getrennt durch zwei- bzw. dreizeilige narrative Einschübe. Der Roman d'Eneas behält die Folge der drei Reden - mit einer Verschiebung der Redeanteile zugunsten Didos auf 2 : 1 : 2 - bei (v. 1677-1856), erweitert aber den Dialog um je eine kurze inquisitorische Phase (Hemistichomythie und Stichomythie) am Beginn (v. 1677-1685) und nach Didos Vorwurfsrede (v. 1749-1759). Zwischen Eneas' Verteidigungs- und Didos Wahnsinnsrede bleibt der narrative Einschub (v. 1791-1796) erhalten. Diesem Aufbau entsprechend sind bei Veldekes Vorgängern die Hauptargumente blockweise in den großen, weitgehend mo-
21
Als wörtliche Äußerungen Didos schließen sich noch ein Halbdialog und ein Monolog an. Der Halbdialog, eine Handlungsanweisung an ihre Schwester und Vertraute Anna, dient der praktischen Vorbereitung ihrer Selbsttötung; der Monolog, zum Teil als Halbmonolog an Eneas (den sie jetzt für schuldlos erklärt) und die Minne gerichtet, ist eine letzte hochaffektive Situationsanamnese, die in eine Bekräftigung des schon gefassten Entschlusses mündet: '[...] ich ne wil niht genesen' (v. 77,36).
22
Vergil, Aeneis. Lateinisch-deutsch, seldorf/Zürich l o 2002.
hg. und übersetzt von Johannes Götte und Maria Götte, Düs-
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nologartig angelegten Reden erfasst, die von den Interaktanten wechselseitig ausgetauscht werden, ohne dass eine spannungsvolle Auseinandersetzung entstehen kann. Veldeke dagegen segmentiert die großen Einzelreden in kleinere Einheiten, indem er die Argumente und Gegenargumente in einen mehrfachen Wechsel von Rede und Gegenrede aufspaltet. So inszeniert er ein lebendiges, durchgehend auf hohem Spannungsniveau gehaltenes Gespräch zwischen den stets unmittelbar aufeinander reagierenden Interaktanten. Durch direkte Anreden in Form von Fragen, Ausrufen oder Imperativen oder unmittelbare Bezugnahme auf das zuvor Gesagte werden die Redewechsel eng verzahnt. Gegenüber der relativen Statik der Redeszene bei seinen Vorgängern ist für Veldeke das Prinzip der Progression maßgebend, wie es in der Folge der drei Stadien und ihrer Phasen umgesetzt ist. Mit seinem Verfahren kann er die Brisanz des Konfliktes intensivieren und das Profil seiner Figuren schärfen. Gerade bei Dido entsteht der Eindruck, dass sie ihre Argumente keineswegs von Anfang an vollständig parat hat, sondern sie aus der sich ständig wandelnden, immer neue Reaktionen erfordernden Gesprächssituation bezieht. So wird der Absturz in den Wahnsinn, der im Roman d'Eneas und (mehr noch) bei Vergil unvermittelt in der Reaktion auf Eneas' Verteidigungsrede eintritt, bei Veldeke durch die sich steigernde Verzweiflung Didos angesichts der immer stärker werdenden Gewissheit ihres Scheiterns motiviert.
II.3.2.
Dialog zwischen der Königin und Lavinia
Wie zwischen Dido und Eneas gab es auch zwischen der Königin und Lavinia vor der schicksalhaften Auseinandersetzung keinen Dissens; der familiären Hierarchie entsprechend war Lavinia offenbar eine der mütterlichen Autorität gegenüber gefügige Tochter. Nun aber, als der Machtanspruch auf Latium durch einen Zweikampf zwischen Eneas und Turnus entschieden werden soll, steht die von der Mutter als Königin verfolgte machtpolitische Strategie, in deren Konzeption die Tochter eine entscheidende Rolle spielt, Lavinias persönlichem Wünschen und Wollen so strikt entgegen, dass sie der Mutter Widerstand bieten muss. Die Königin tritt an Lavinia mit einem genau zurechtgelegten Plan heran, der jedoch von Lavinias Reaktion durchkreuzt wird, so dass sie, in die Defensive gedrängt, zunehmend in Zorn gerät. Dieser Zorn bricht in der zweiten, ebenfalls rational begonnenen Gesprächspassage wiederum, nun noch intensiver, auf und ist in der dritten Passage bereits von Anfang an so beherrschend geworden, dass er sich zu einer nicht mehr bezwingbaren Wutraserei steigert und im Wahnsinn endet. Zur Charakteristik der Königin wird gesagt, dass sie am Anfang klug, mit michelme sinne (v. 260,19), am Ende aber mit grdzem unsinne (v. 342,30) spricht und handelt.
Konfliktdialoge im Eneasroman Heinrichs von Veldeke Das e r s t e
171
Stadium des Dialoges umfasst die gesamte erste Dialogpassage und etwa
zwei Drittel der zweiten Dialogpassage (v. 260,21-266,13; v. 279,27-282,23). Die erste Dialogpassage, die in der Forschung insbesondere unter thematisch-inhaltlichem Gesichtspunkt als 'Minnegespräch' zwischen Lavinia und der sie belehrenden Mutter Interesse gefunden hat, 23 wird im Folgenden primär funktional zu betrachten sein. Denn der komplementäre Dialogtypus 'Lehrdialog' 2 4 mit einer Minneunterweisung, die den Rezipienten eine faktisch detaillierte Vorstellung vom Wesen und Wirken der Minne vermittelt, ist in den Vollzugsrahmen des Konfliktdialoges eingebunden, innerhalb dessen sich die Gegenpositionen verfestigen und die Stimmung sich zunehmend, bis hin zur Feindseligkeit verschärft. In die äußere, durch die kontroversen Standpunkte gesteuerte Dynamik der Auseinandersetzung sind die Belehrungsteile als statische Elemente eingelassen, die im Hinblick auf den Gesprächsgang das den Dissens verfestigende Dialogende hinauszögern und die Spannung steigern. Dem eigentlichen Redewechsel ist als Auftakt eine längere Rede der Königin vorgeschaltet (v. 260,21-261,16), die offenbar zunächst gar kein Gespräch mit Lavinia führen, sondern ihr mit wohlüberlegten, rhetorisch genau disponierten Argumenten Sinn und Notwendigkeit eines Liebes- und Ehebundes mit Turnus vermitteln will. Sie nimmt Bezug auf die drei in dieser Angelegenheit wichtigen Männer: König Latinus, Turnus und Eneas. Den Vater, König Latinus, stellt sie negativ dar, indem sie ihm im Hinblick auf seine Parteinahme für Eneas unterstellt, er wolle seiner Tochter Besitz und Ehre nehmen. Turnus aber, „der helt here" (ν. 260,26) und „edele
vorste"
(v. 260,37), wird gelobt, da er Lavinia
ebenbürtig und ihrer Minne würdig sei. Unmissverständlich und autoritär artikuliert die Königin ihren Willen: „[...] ich [...] wil daz du in minnest [...]" (v. 260,34f.). Demgegenüber wird Eneas als ,,unsälige[r]
Troiän" (v. 261,1) verunglimpft, der Turnus, Lavinias
künftigen Gatten, töten und die Herrschaft über Latium mit Gewalt an sich reißen wolle. Mit zwei Imperativen gibt die Königin der Tochter klare Verhaltensdirektiven: „[...] wis Enease
gram
[...]" (v. 260,40) und abschließend:
„[...] tohter
so minne
Turnüm"
(v. 261,16). Anstelle der v o m Standpunkt der Königin aus zu erwartenden gehorsamen Zustimmung beginnt Lavinia aber ein Gespräch, dessen Steuerung sie übernimmt und behält, indem sie das von der Königin angesprochene Thema minne mit Nachfragen problematisiert. Dialog-
23
24
Vgl. etwa Dittrich (wie Anm. 12), S. 304—308; Dietmar Wenzelburger, Motivation und Menschenbild der Eneide Heinrichs von Veldeke als Ausdruck der geschichtlichen Kräfte ihrer Zeit, Göppingen 1974 (GAG 135), S. 167-169; von Gosen (wie Anm. 4), S. 133-140; Miklautsch (wie Anm. 12); zum Aufbau vgl. bes. Rasmussen (wie Anm. 12); zu Form und Struktur vgl. Emberson (wie Anm. 4), S. 197-211; Hannes Kästner, Mittelalterliche Lehrgespräche. Textlinguistische Analysen, Studien zur poetischen Funktion und pädagogischen Intention, Berlin 1978 (Phil.St.u. Qu. 34), bes. S. 169-172. Vgl. oben, Abschnitt I.
172
Elke
Ukena-Best
technisch handelt es sich um eine inquisitorische Phase, die vermittels Stichomythie und Hemistichomythie dynamisiert ist. Lavinias Fragen sind in Form einer Kette so angelegt, dass sie jeweils auf die vorhergehende Antwort rekurrieren und ihrerseits eine erneute Antwort provozieren (v. 261,17-262,8). Die erste Frage, 'wä mite sal ich in minnen?' (v. 261,17), entspringt ebenso wie die folgenden nicht allein dem Wissensbedürfnis Lavinias, sondern soll offenbar von dem von ihr erwarteten klaren Bekenntnis zu Turnus ablenken. 25 Die vorgängige Handlung vermittelt, dass Lavinia Turnus schon lange kennt, ihn jedoch nicht liebt und nicht lieben will. Eneas kennt und liebt sie noch nicht, aber sie hat bereits - als Voraussetzung für die künftige Minne - Berichte von seiner Schönheit und Tapferkeit gehört (vgl. v. 267,12-15). Mit der Richtungsänderung des Themas kann Lavinia erst einmal dem Ansinnen der Mutter ausweichen. Inhaltlich gestaltet Lavinia ihre Fragen so, dass die mit den Antworten erhaltenen Auskünfte als nicht ausreichend, zweifelhaft oder nicht sachdienlich erscheinen, etwa durch Wörtlichnehmen metaphorischer Aussagen (z.B. 'sal ich im min herze geben?' / „jä dü". 'wie soldich danne geieben?' / „dune salt ez im so geben niht", v. 261,19-21). 26 Die Kommunikation droht schließlich zum Erliegen zu kommen, als die Königin auf Lavinias Aufforderung, ihr zu erklären, '[...] waz minne is' (ν. 262,6), ihr Unvermögen eingestehen muss: „ ichn mach dirs niht gescriben"
(v. 262,7). Mit Lavinias Replik, 'so solt irz läzen
bliben' (v. 262,8), ist eigentlich das Gespräch beendet. In dieser von der Königin keinesfalls gewollten Situation geht sie dann doch auf Lavinias Redeaufforderung ein. Mit einer inquit-¥orme\
setzt das Lehrgepräch erneut ein (v. 262,9). Dieser Gesprächs-
teil enthält die drei ausführlichen Belehrungsreden, die durch zwei Blöcke inquisitorischer, von Lavinia gesteuerter Phasen mit Informations- oder Skepsisfragen oder Einwänden gegen das Dargelegte voneinander getrennt sind. Die zentralen Themen der Erörterung sind 'Minne als Krankheit' in der ersten Rede (v. 262,10-39), 'Heilung der Minnekrankheit durch Minneglück' in der zweiten Rede (v. 263,18-35), 'Entstehen der Minne' und 'Erklärung von Amors Pfeilen und Salbenbüchse' in der dritten Rede (v. 264,5-265,33). Im Verlauf dieser dritten Rede, nachdem die Königin nochmals die beglückende Seite der Minne angesprochen und betont hat, dass „[...] si gibet unde teilet /daz
lieb nach dem leide [...]"
(v. 265,16f.), Ubernimmt sie selbst die Steuerung des Gesprächs, indem sie die Belehrung abschließt und, an den Ausgangspunkt zurückkehrend, Lavinia abermals auffordert, Tur-
25
26
Vgl. Wenzelburger (wie Anm. 23), S. 167; Emberson (wie Anm. 4), S. 197; Rasmussen (wie Anm. 12), S. 47, 49. Zu Lavinias Frageverhalten vgl. Rasmussen (wie Anm. 12), S. 4 3 ^ 5 ; Uwe Ruberg, „'Wörtlich verstandene' und 'realisierte' Metaphern in deutscher erzählender Dichtung von Veldeke bis Wickram", in: Sagen mit sinne. Festschrift für Marie-Luise Dittrich zum 65. Geburtstag, hg. von Helmut Rücker und Kurt Otto Seidel, Göppingen 1976 (GAG 180), S. 205-220, dort S. 206f.
Konfliktdialoge
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im Eneasroman Heinrichs von Veldeke
nus zu lieben: „[...] von diu minne den künen degen / Turnüm (v. 265,32f.). Damit geht der komplementäre
27
den edelen
vorsten"
in den kompetitiven Dialog über, der den
Rest der ersten Dialogphase einnimmt (v. 265,34-266,13). Hier wird der Konflikt akut. Lavinia, nunmehr in der Defensive, äußert in einem kurzen Redewechsel ihre Vorbehalte gegen die Liebe. Obwohl sie sich nicht gegen Turnus persönlich ausspricht, erkennt die Königin ihre Ablehnung und sieht bereits das Unvermeidliche voraus. In der Furcht davor gerät sie in Zorn, den sie anfangs noch zu zügeln versucht, der sich dann aber in einer massiven Drohung gegen Lavinias Leben entlädt: Wenn Lavinia es wagen würde, Eneas zu lieben, würde sie die Tochter foltern und totschlagen lassen. Lavinia erklärt darauf lediglich - derzeit noch wahrheitsgemäß
die Mutter müsse ihr
nichts verbieten, was sie ohnehin nicht zu tun beabsichtige. Diese absolut unbefriedigende Antwort gibt der Königin zu erkennen, dass sie ihr gestecktes Ziel verfehlt hat und mit ihrer Planung zunächst gescheitert ist. Sie bricht das Gespräch ab, denn sie verfügt über keine weiteren Mittel verbaler Überzeugung; dö sweich diufrouwe
stille (v. 266,14). [T\n zorne (v. 266,15) verlässt sie die Tochter, die mit der To-
desdrohung ihrer Mutter zurückbleibt. Die einstige Harmonie zwischen Mutter und Tochter ist einem hochkonfliktären Verhältnis gewichen, das die Dynamik einer weiteren Eskalation in sich trägt, denn Lavinia wird sich dem Willen der Mutter nicht beugen. Aus der Perspektive der Königin ist die Sache momentan noch nicht gänzlich verloren, da Lavinia Turnus noch nicht eindeutig zurückgewiesen hat; gleichwohl ist die Königin, was Eneas betrifft, von tiefem Misstrauen erfüllt. Am Beginn der zweiten Dialogpassage (v. 279,27-284,22), die wiederum von der Königin initiiert wird, hat sich Lavinias Befinden grundlegend geändert. So, wie es die Götter für sie bestimmt haben, ist sie in Liebe zu Eneas entbrannt, ohne dass diese zunächst von ihm erwidert wird. Deutlich ist sie von den Symptomen schwerer Minnekrankheit gezeichnet. Die Königin erkennt ihren Zustand sofort und muss nun ernsthaft um das Gelingen ihres Planes fürchten. Sie richtet das Gespräch auf das jetzt vordringliche Ziel: Klarheit über die von Lavinia geliebte Person zu erhalten. Der Dialog verläuft in zwei Phasen, die deutlich durch unterschiedliches Gesprächsverhalten abgesetzt sind. Situationsbedingt ist die erste Phase (v. 279,27-282,23) eine inquisitorische Phase, in deren Verlauf die Königin durch taktisch geschicktes Insistieren in mehreren Schritten die Preisgabe des Namens erreicht. Die Reden dieser Phase sind nicht generell mit Formen des 27
Festzuhalten ist allerdings, dass das 'Minnegespräch' als 'Lehrdialog' den komplementären Typus insofern nicht 'rein' vertritt, als es aufgrund seiner Einbindung in die Kontroverse zwischen der Königin und Lavinia Elemente des kompetitiven Typus in Form der von Lavinia gesteuerten inquisitorischen Phasen enthält. Kästner (wie Anm. 23), der die gesamte Redeszene untersucht (ohne sie freilich detailliert zu gliedern), konstatiert, auch im Hinblick auf das negative Ergebnis der Minneunterweisung, dass - gemäß seiner Terminologie - „vom Redetyp her eine Mischform zwischen Dissensio und Explicatio" vorliegt (S. 73).
Elke Ukena-Best
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schnellen Wechsels gestaltet, doch ist zu beobachten, dass auch längere Reden durch eingeschobene inquit-Formeln
zäsuriert werden (vgl. v. 280,7; 281,5; 281,26; 281,33). Die
Königin bemüht sich um ein moderates Verhalten gegenüber der durch die Minnekrankheit verwirrten und verunsicherten Tochter. In die Defensive gedrängt, ist Lavinia in dieser Phase die Reagierende. Lavinia, die in Angst vor der Mutter ihren Zustand leugnen will, wird von der Königin zum Eingeständnis ihrer Minnekrankheit veranlasst (v. 281,32). Die zweimalige Lenkung des Gesprächs auf Turnus, einmal vor und einmal nach dem Eingeständnis, erbringt für die Königin aufgrund Lavinias nunmehr klar ausgesprochener Verneinung der Liebe zu Turnus (v. 280,33-36; 282,1) die Gewissheit, dass ihre Tochter sich niemals für ihren Plan gewinnen lassen wird. Ihrer nun drängenden Forderung nach der Nennung des Namens des Geliebten versucht Lavinia vergeblich auszuweichen. Schließlich ist sie bereit, den Namen preiszugeben, doch kann sie ihn aus Furcht und Scham nicht aussprechen. Dadurch kommt der Dialog zum Stocken; an seine Stelle tritt der Erzählbericht. Die Mutter bringt Lavinia dazu, den Namen Buchstaben für Buchstaben auf ihre Wachstafel zu schreiben. Die effektvolle Hinauszögerung der Namensaufdeckung signalisiert die besondere Wichtigkeit dieses Handlungsmoments für den übergeordneten Zusammenhang. Hier spitzt sich der Konflikt zu und gelangt zugleich an seinen Wendepunkt zum zweiten Stadium. Lavinias in ihrer Sprechunfähigkeit begründete nonverbale Handlung des Schreibens bedingt es, dass die Königin den Namen, in dem sich ihr persönliches Unglück kristallisiert, durch Ablesen von der Tafel selbst aussprechen muss. Mit der Kenntnis des Namens „Eneas" (v. 282,22) hat sie ihr Nahziel, die Namensaufdeckung, erreicht, doch wird genau damit definitiv klar, dass sie ihr Gesamtziel, die Stiftung des Liebes- und Ehebundes zwischen Lavinia und Turnus, verfehlt hat. Mit dem Zusammenbruch ihrer gegen Latinus und Eneas geplanten Aktion ist ihre Machtpolitik am Ende. Für taktierendes Gesprächsverhalten gibt es nun keine Grundlage mehr. Die mühsam bezwungenen Affekte brechen mit Wut und Verzweiflung gewaltsam hervor. Angesichts des Verlustes der Selbstkontrolle bei ihrer Gegnerin gewinnt Lavinia an Sicherheit und wird die Stärkere. Die das z w e i t e
Stadium des Konfliktdialoges beinhaltende zweite Phase der zwei-
ten Dialogpassage, die nach der Nennung des Namens Eneas einsetzt, besteht aus zwei längeren Reden der Königin und zwei Gegenreden Lavinias (v. 282,24-284,22). Furioser Auftakt der ersten Rede der Königin ist eine Verfluchung ihrer Tochter, 28 die mit ihrer Minne zu einem Unwürdigen ihr ganzes Geschlecht entehrt habe. Es folgt eine Hasstirade 28
Eng verbundene Reden stehen am Wendepunkt vom ersten zum zweiten Stadium (v. 282,22-24):
[Feststellung der Königin:] „hie stet Eneas!" / [Bekenntnis Lavinias:] 'jä, vil liebe müder min.' / [Fluch der Königin:] „des müzest du unsälich sin [...]".
Konfliktdialoge
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im Eneasroman Heinrichs von Veldeke
auf Eneas, dessen persönliche Integrität, vor allem mit seiner angeblichen Homosexualität, denunziert wird. Lavinia, die nun ihre Position souverän vertritt, kontert mit einer Rede, in der sie Eneas verteidigt. Den Verunglimpfungen hält sie seine Vorzüge und Verdienste als „vorste wol gezogen"
(v. 283,29) und „edele[r] Troiän" (v. 283,31) entgegen. Erstmals stellt sie sich
in klare Opposition zur Königin, indem sie deren Rede zurückweist und ihren Zornausbruch kritisiert. Die Königin ist unfähig, der Wahrheit von Lavinias Worten sachlich zu begegnen. Der Zornaffekt wird nur verstärkt, und sie verflucht ihre Tochter ein zweites Mal (v. 283,40). Sie wirft ihr das Eneaslob als Verirrung ihrer Liebesleidenschaft vor. Ein allerletzter, völlig irrationaler Versuch, Turnus doch noch einmal ins Gespräch zu bringen, muss zwangsläufig fehlschlagen. Dagegen bemüht sich Lavinia, der Königin ihre Situation faktisch zu erklären. Sie charakterisiert ihre Minne, die von ihr in schmerzvoller Weise Besitz ergriffen hat, als schicksalgegeben, von Cupido und Venus in ihr Herz gesenkt. Mit diesem Minnebekenntnis endet die oratio recta. Der Abschluss der Mutter-Tochter-Begegnung wird nur noch berichtet. Die Königin geht nicht mehr auf Lavinias Rede ein, obwohl sie selbst ihrer Tochter zuvor das Wissen um die Liebesentstehung vermittelt hatte. Sie bedroht und beschimpft Lavinia mit solcher Heftigkeit, dass diese in Ohnmacht fällt. Auch am Ende dieses Dialogteils sind die Gesprächspartner nicht mehr zum verbalen Austausch fähig. Der Dissens zwischen den beiden Frauen hat sich bei der Königin zu einer irreversiblen Feindschaft gegen ihre Tochter verdichtet, der allein sie die Schuld an dem über sie hereingebrochenen Unglück zuschreibt. Das
dritte
Stadium fällt mit der dritten und letzten Dialogpassage zusammen
(v. 342,14-343,38). Auf der Handlungsebene wird der Konflikt in der Gesprächskonfrontation zum Kulminationspunkt geführt. Nach Eneas' Zweikampfsieg über Turnus und seiner offiziellen Aufnahme am Hof hat die Königin den totalen Verlust ihrer Macht zur Kenntnis nehmen müssen. Als sie ihre Tochter zu sich kommen lässt, befindet sie sich bereits - wie Dido ab ihrer letzten Rede - im Zustand psychischer Entgrenzung an der Schwelle zum Wahnsinn. Der Zorn hat ihr fast gänzlich den Verstand geraubt; si was nach üz ir sinne / komen (v. 342,6f.); ir witze het si nach verlorn, / si wart vil ubile
getan
(v. 342,8f.); sie kann sich nur noch schreiend äußern. Der Dialog besteht aus einer längeren Rede der Königin (v. 342,14-343,9, zweigeteilt), einer kurzen
Frage-Antwort-Sequenz
(v. 343,10-14), einer längeren Rede
Lavinias
(v. 343,15-37) und einem Schlusssatz der Königin (v. 343,38). Das den Beginn des Gesamtdialoges initiierende Handlungsziel der Königin existiert nach Turnus' Tod nicht mehr; aus ihrer nun unterlegenen Position heraus kann sie allenfalls versuchen, das Glück ihrer Tochter zu beschädigen. In ohnmächtiger Wut attackiert sie Lavinia mit absurden Be-
176
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schuldigungen, die sie in Verfluchungen gipfeln lässt. Sie unterstellt Lavinia Freude über ihren Kummer und gibt ihr die Schuld am Tod des Turnus und der gefallenen Krieger. Mit extrem gesteigerter Zornesemphase verflucht sie dann ihr eigenes, für sie nicht mehr existenzwürdiges Leben als Mutter und Herrscherin (Fluch über ihre eigene Geburt, die Geburt der Tochter, ihre Ehe mit Latinus). Sie bekundet ihren Willen zum Tod und verflucht zuletzt in grenzenlosem Hass den Bund zwischen Eneas und Lavinia, denen sie gegenseitig zugefügtes Leid wünscht. Während der Verfluchungsrede verliert sie endgültig den Verstand; sie redet mit grozem unsinne, der sich in grimmem zorne äußert (v. 342,30f.). Auf Lavinias Frage nach dem Grund der Verfluchung antwortet die Königin sentenzhaft mit einer impliziten Schuldzuweisung: 'unheil habe swer ez wil' (v. 343,14). 29 Lavinias Gegenrede ist besonnen und klug; als künftige Herrscherin zeigt sie, wie eine Königin sich zu verhalten hat. Sie bekennt sich zu dem großen Glück, das sie mit dem an Geblüts- und Tugendadel vollkommenen Trojaner erfahren darf. Mit der Kompetenz einer Ratgeberin versucht sie, der Mutter in ihrer Verwirrtheit zu helfen. Sie hält ihr die Torheit ihres aus Zorn entstandenen Todeswunsches vor Augen und legt ihr nahe, die veränderten Lebensumstände mit Vernunft zu akzeptieren. Die Königin aber, nicht mehr im Besitz ihres intellektuellen Vermögens, ignoriert ihre Worte. Sie beendet die Interaktion, indem sie nur noch einen letzten Fluch gegen ihre Tochter ausstößt. Durch die wörtliche Wiederholung des das zweite Stadium einleitenden Redewechsels 30 werden letztmalig die Unvereinbarkeit der Positionen und die Grundhaltungen der Gesprächspartnerinnen vergegenwärtigt ([Lavinia:] '[...] liebiu müder min.' / [Königin:] „des müzest dü unsälich sin", v. 343,37f.). Wie für Dido bedeutet für die Königin das Dialogende das Lebensende. Ihr Tod aber vollzieht sich gänzlich anders. Während Dido noch in der gewollten Selbstvernichtung die tatkräftige, ihre Todesart bestimmende und eigenhändig ihren Tod herbeiführende Herrscherin bleibt, hat die Königin mit ihrer Macht auch ihre Handlungsfähigkeit verloren. Sie tötet sich nicht aktiv, sondern entzieht sich dem Leben. In ihrer Raserei wirft sie sich auf ihr Bett, wo sie qualvollen, ihrer kranken Psyche entspringenden Schmerzen 31 verfällt und so lange leidet, bis der Tod ihr Leben gewaltsam beendet. Veldeke lässt mit diesem letzten dramatischen Höhepunkt die Konflikthandlung des gesamten Romans abschließen und gebraucht hier letztmalig das Mittel der oratio recta. Die
29
30 31
Ob diese sachliche, zwischen zwei Verfluchungsreden der zornrasenden Königin positionierte Aussage tatsächlich als Text der Königin anzusehen ist, wie Kartschoke annimmt, muss zweifelhaft bleiben. Die früheren Herausgeber des Eneasromans, Ludwig Ettmiiller (1852), Otto Behaghel (1882) sowie Theodor Frings und Gabriele Schieb (1964), haben die Zeile als Äußerung Lavinias aufgefasst. Vgl. dazu Kartschoke (wie Anm. 3), S. 821, Stellenkommentar zu v. 343,14. Vgl. oben, Anm. 28. Ihr Leidenszustand (mit grözen rouwen si lach, v. 344,1) kann als seelische oder körperliche Qual, aber auch - hier am wahrscheinlichsten - als psychophysischer Schmerzkomplex verstanden werden.
Konfliktdialoge
im Eneasroman Heinrichs von Veldeke
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weitere Handlung, die das Hochzeitsfest und die sich anschließende glückliche Vereinigung Eneas' und Lavinias in Ehe und Herrschaft beinhaltet und mit dem Ausblick auf die Folgegenerationen bis zur Geburt Christi unter Kaiser Augustus endet, läuft im epischen Bericht unter Einschluss breiter deskriptiver Passagen ab. Im Roman d'Eneas umfasst der - in Vergils Aeneis nicht enthaltene - Dialog zwischen der Königin und Lavinia nur die ersten beiden Gespräche (v. 7859-8020; 8464-8659). Aufgrund der anderen konzeptionellen Ausrichtung gestaltet sich die verbale Interaktion zwischen den beiden Frauen weit weniger konfrontativ; der Konflikt bricht nur kurz auf und wird nicht zur äußersten Konsequenz getrieben. Im ersten Gespräch dominiert die Konstellation der komplementären Typik in Form des auf die Liebesunterweisung ausgerichteten Lehrgesprächs. Es besteht nach der einleitenden Rede der Königin (v. 7859-7887) aus zwei Lehrreden (v. 7902-7935; 7957-8001), drei Phasen schneller Redewechsel (v. 7888-7901; 7935-7956; 8002-8011), die ebenfalls mehr als bei Veldeke, der sie verkürzt, 32 als Befragungs- und Informationsdialoge im Dienste der faktischen Belehrung stehen, und einer Schlussrede Lavinias (v. 8013-8020). Zwar steigert sich die Königin auch im Roman d'Eneas zur Todesdrohung gegen Lavinia, doch stößt sie die Drohung bereits nach der ersten Lehrrede aus (v. 7946-7949), so dass der emotionale Gipfel in der Mitte des Dialoges erreicht wird und danach mit der sachlichen Argumentation der zweiten Lehrrede eine Deeskalation erfolgt. Dementsprechend ist das Gesprächsende auch nicht annähernd so dissonant wie bei Veldeke. Nachdem Lavinia zuletzt nachdrücklich ihren Widerwillen gegen die Liebe bekundet hat, wird sie von der einsichtsvollen, hier ganz vernunftgeleiteten Königin, die die Wirkungslosigkeit von Zwangsmaßnahmen erkannt hat, ohne jeglichen Zornausbruch in Ruhe gelassen. Auch das zweite Gespräch verläuft, bedingt durch die geringere Aggressivität der Königin, weniger affektiv. Nach der Nennung des Namens Eneas, den Lavinia hier silbenweise selbst ausspricht, und der klaren Stellungnahme gegen Turnus (v. 8553-8564) ist die Königin zwar erregt, doch sie verflucht Lavinia nicht, sondern versucht, sie in einer Gegenrede (v. 8565-8621: längste Rede des Dialoges) mit dem breit ausgeführten Argument von Eneas' angeblicher Homosexualität von seiner Schlechtigkeit zu überzeugen. Auch die den Dialog beendende Ohnmacht Lavinias wird nicht wie bei Veldeke durch eine von der zornentflammten Königin ausgestoßene Verfluchung veranlasst, sondern - im Gegenteil - von Lavinia selbst herbeigeführt. Als sie am Ende ihrer letzten Rede den Gott Amor, dessen zwanghafter Macht sie ausgeliefert ist, mit der Bitte um Beistand in der Liebesnot anruft, steigert sie sich in eine derartige Exaltation, dass ihr der Atem versagt (v. 8660f.). Die Königin verlässt daraufhin die Tochter ohne eine verbale oder nonverbale Reaktion, die über
32
Zu der insgesamt bei Veldeke zu beobachtenden Zurücknahme der im Roman d'Eneas verwendeten Stichomythie vgl. Kistler (wie Anm. 13), S. 239; Müller (wie Anm. 18).
stärker
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ihre psychische Verfasstheit informieren würde. Mit diesem unspektakulären Abgang beendet der Roman-Autor ihre Rolle im Gesamtgeschehen. Die Interaktanten des Königin-Lavinia-Dialoges sind im Roman d'Eneas als statische Figuren ohne Persönlichkeitsveränderung gezeichnet. Die persönliche, sich bei Veldeke ins Existenzielle ausweitende Betroffenheit der Königin, die sie zur Feindin ihrer Tochter und zur Wahnsinnigen werden lässt, wird nicht dargestellt. Veldeke hat mit seiner textlichen Erweiterung nicht nur die handlungstragende und -motivierende Funktion des Konflikts zwischen der Königin und Lavinia ausgebaut, sondern auch die Personencharakteristik vertieft. Gerade mit der dritten Dialogpassage, die er als das folgerichtig angesteuerte Endziel der Kontroverse gestaltet, wird das Persönlichkeitsbild der beiden Frauen abgerundet. Die Königin wird zum Exempel der machtbesessenen Frau, die ihre Grenzen überschreitet und sich dadurch selbst in den Tod manövriert, während an Lavinia in dieser Passage mit ihrem betont würdevollen und überlegten, der Mutter gegenüber bis zum Schluss respektvollen Auftreten nunmehr die positiven Eigenschaften der künftigen Herrscherin von Latium demonstriert werden.
III.
Schluss
Heinrich von Veldeke nutzt die Darstellungsform des Dialoges offenbar bewusst zur Vertiefung der psychologischen Profilierung seiner epischen Figuren. Anders als in dem ansonsten von ihm sehr intensiv verwendeten Monolog steht im Dialog mit dem Redewechsel immer auch die Charakterisierungsmöglichkeit durch die Gegen- oder Regulativposition des Gesprächspartners zur Verfügung. Die Haltung des einen wird in der Replik des anderen reflektiert. Dies zeigen die subtil durchgestalteten, stets genau aufeinander bezogenen Reden der beiden großen Konfliktdialoge, mit denen Veldeke die Psychologisierung der Interaktanten in einer Weise durchführt, wie sie ansonsten erst im hochhöfischen Roman begegnet. Vermittels des kompetitiven Dialogtypus charakterisiert er vor allem - mehr als ihre Gesprächspartner - die auf je andere Weise problematische Persönlichkeit Didos und der Königin von Latium. Er baut die in seiner Vorlage vorgefundenen Redeszenen als stilistisches Mittel aus, um die im eigenen Fehlverhalten begründete Konfliktsituation der Gesprächsinitiatorinnen zu motivieren und für sein Publikum verständlich zu machen. Denn die bei den Frauen sich vollziehende Persönlichkeitszerstörung, die sich mit teils identischen, teils unterschiedlichen Merkmalen in der fortschreitenden Substituierung von sin durch den im Wahnsinn gipfelnden unsin manifestiert, lässt sich als Symptomatik von
Konfliktdialoge
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immer stärkerem Realitätsverlust gerade innerhalb des kommunikativen Aktes anhand der Unmöglichkeit vernunftgesteuerter Kommunikation zeigen. Nur im Wechsel von direkter Rede und Gegenrede, nicht aber in der epischen Schilderung, auch nicht in der indirekten Rede und nicht einmal im Halbdialog, dem die Spannung der Gegenrede fehlt, ist der Ablauf eines derartigen psychogenetischen Prozesses in dieser Unmittelbarkeit und Nachvollziehbarkeit zu vergegenwärtigen.
Nine Miedema Höfisches und unhöfisches Sprechen im Erec Hartmanns von Aue
Als erster Artusroman in deutscher Sprache hat der Erec für die Poetik dieser Gattung in Deutschland programmatische Qualitäten. Wie insbesondere die Beschreibung des Pferdes der Enite erkennen lässt, zeigt Hartmann von Aue ein ausgeprägtes (und in der Vorlage des Chretien de Troyes nicht in dieser Form vorgegebenes) Bewusstsein des fiktionalen Charakters seines Textes, der die besondere Position des Erzählers bedingt. 1 Das Sprechen dieses unverkennbar autoritativ auftretenden Erzählers erhält Vorbildfunktion, während es gleichzeitig dessen unangreifbare Überlegenheit inszeniert: Die Unterbrechung der Pferdebeschreibung durch einen fingierten Zuhörer, der glaubt, das rehte sagen (vgl. v. 7505) ebenso zu beherrschen wie der Erzähler, um anschließend bei seinem Versuch der Fortsetzung der Beschreibung jedoch zu scheitern, demonstriert die für die Rezipienten nicht erreichbare bzw. nicht imitierbare Kunstfertigkeit 'Hartmans' (vgl. v. 7493). Der vorliegende Artikel geht der Frage nach, inwiefern im Erec nicht nur auf der Erzähler-, sondern auch auf der Figurenebene ein vorbildliches Sprechen demonstriert wird, ein Sprechen, das (anders als die Erzählerrede) für die Rezipienten des Textes als Muster für eigenes sprachliches Handeln intendiert gewesen sein könnte. 2 Was ließe sich im Bereich der dialogischen
1
Vgl. Franz Josef Worstbrock, „Dilatatio materiae. Zur Poetik des 'Erec' Hartmanns von Aue", in: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1-30; Fiktionalität im Artusroman. Dritte Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft in Berlin vom 13.-15. Februar 1992, hg. von Volker Mertens und Friedrich Wolfzettel, Tübingen 1993; Gertrud Grünkorn, Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200, Berlin 1994 (Phil.St.u.Qu. 129), S. 172-174; Matthias Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994 (GRM-Beiheft 12); Nine Miederna, „Stichomythische Dialoge in der mittelhochdeutschen Epik", in: Frühmittelalterliche Studien (im Druck). Der Erec wird nach folgender Ausgabe zitiert: Erec von Hartmann von Aue, mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Auflage besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39). Auf das Problem, dass diese Ausgaben auf der Textfassung im 'Ambraser Heldenbuch' beruhen, die älteren Fragmente jedoch z.T. von dieser Fassung abweichen, sei hier lediglich verwiesen. Die Fragmente überliefern die hier besprochenen Szenen nicht.
2
Kritisch zu betrachten ist die These Herta Zutts, Hartmann habe „im 'Erec' die Bedeutung des gesprochenen Wortes noch nicht erkannt", s. Herta Zutt, „Die Rede bei Hartmann von Aue", in: Der Deutschunterricht 14.6 (1962), S. 67-79, hier S. 72. Zutt fährt fort: „Im Erecroman kommt Hartmann weitgehend ohne wörtliche Rede aus. Dem Dichter sind lange Beschreibungen des Kampfes, der Waffen, des Pferdes als Schmuck wichtiger als das Stilmittel der Rede" (S. 73). Sie postuliert, es gebe diesbezüglich signifikante Unterschiede zwischen Erec und Iwein: Erst im Iwein werde ,,[d]as gesprochene Wort [...] zum Angelpunkt der Handlung" (S. 78). Vgl. hierzu
182
Nine Miedema
Interaktion in diesem programmatische Züge aufweisenden Frühwerk Hartmanns (im Vergleich zu früheren deutschsprachigen Texten) als ein neues und vorbildlich 'höfisches' Sprechen bezeichnen? 3
differenzierter Peter Wiehl, Die Redeszene als episches Strukturelement in den Erec- und IweinDichtungen Hartmanns von Aue und Chrestiens de Troyes, München 1974 (Bochumer Arbeiten zur Sprach- und Literaturwissenschaft 10), insbesondere S. 83-203. - Dass die Rezeption höfischer Epik noch vor der Entstehung schriftlicher Konversationslehren als Möglichkeit gesehen wurde, Kenntnisse über angemessenes sprachliches Verhalten zu vermitteln, erhellt aus einem Hinweis im Partonopier Konrads von Würzburg (ca. 1277): ich zel iu drier hande nutz, /die rede bringet unde sanc. / daz eine ist, daz ir süezer klanc / daz ore fröuwet mit genuht; / daz ander ist, daz hovezuht / ir lere deme herzen birt; / daz dritte ist, daz diu zunge wirt / gesprseche sere von in zwein {Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur, aus dem Nachlasse von Franz Pfeiffer hg. von Karl Bartsch, mit einem Nachwort von Rainer Gruenter, Wien 1871, Nachdruck Berlin 1970, v. 8-15). Der dritte Punkt umfasst (nach dem auf die Inhalte bezogenen zweiten Punkt) wohl Inhalt u n d Form der Rede, ebenso wie Gottfrieds Hinweis auf die vom Erzähler zu vermeidende rede, diu niht des hoves st (Gottfried von Straßburg, Tristan, Bd. 1: Text, hg. von Karl Marold, besorgt und mit einem erweiterten Nachwort versehen von Werner Schröder, Berlin/New York 2004, v. 7958; Hinweis bei Horst Wenzel, „zuht und ere. Höfische Erziehung im 'Welschen Gast' des Thomasin von Zerclaere [1215]", in: Über die deutsche Höflichkeit. Entwicklung der Kommunikationsvorstellungen in den Schriften über Umgangsformen in den deutschsprachigen Ländern, zusammengestellt und hg. von Alain Montandon, Bern u.a. 1991, S. 21-42, hier S. 22). Wenzel versteht (nach Thomasin) alle „höfischefn] Epen [...] als Erzählungen von hervorragenden Frauen und Männern, die als Identifikationsfiguren [generell, somit auch im Bereich der von Wenzel auf S. 20f. und 32-34 besprochenen höfischen Sprache, N.M.] handlungsleitend und -orientierend wirksam sind", als „spiegel vrumer liute (W.G. 619f.), zur Einübung in vorbildliches Handeln durch Partizipation und Nachahmung" (ebd., S. 39f.). S. auch ders., „Die Zunge der Brangäne oder die Sprache des Hofes", in: Sammlung - Deutung - Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit [...], hg. von Danielle Buschinger, Amiens 1988, S. 357-367, hier S. 359 (Sprache als „charakteristischer Bestandteil der höfischen Lebensform"). Vergleichbar Joachim Bumke, „Höfischer Körper - höfische Kultur", in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a.M./ Leipzig 1994, 1999 (insel taschenbuch 2513), S. 67-102, hier S. 73, der vom ,,Gedanke[n], daß höfisches Wesen sich im Sprechverhalten manifestiert", spricht; „es ist sehr wahrscheinlich, daß die literarischen Darstellungen von Redesituationen in vielen Fällen einen Appellcharakter für das höfische Publikum besaßen" (ebd., S. 79). Vgl. außerdem unten, Anm. 7. - Einen frühen Vorläufer für diese appellativen Funktionen von Redeszenen haben die besprochenen Texte im althochdeutschen Evangelienbuch Otfrids, vgl. Wolfgang Haubrichs, „Heilige Fiktion? Die Gestaltung gesprochener Sprache in Otfrids von Weißenburg Liber Evangeliorum. Vier Fallbeispiele zur inneren Sprachreflexion des karolingischen Dichtertheologen", in: Vox, Sermo, Res. Beiträge zur Sprachreflexion, Literatur- und Sprachgeschichte vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Festschrift für Uwe Ruberg, hg. von Wolfgang Haubrichs u.a., Stuttgart/Leipzig 2001, S. 99-122; ders., „Rituale, Feste, Sprechhandlungen. Spuren oraler und laikaler Literatur in den Bibelepen des Heliand und Otfrids von Weißenburg", in: Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D.H. Green, hg. von Mark Chinca und Christopher Young, Turnhout 2005 (Utrecht Studies in Medieval Literacy 12), S. 37-66. 3
Vgl. zu den Begriffen höfisch / höflich im Zusammenhang mit sprachlichem Verhalten und dessen historischer Entwicklung zuletzt Harald Haferland und Ingwer Paul, „Eine Theorie der Höflichkeit", in: OBST (Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie) 52 (1996), S. 7-69, hier S. 9-11
Höfisches und unhöfisches
Sprechen im Erec Hartmanns
von Aue
183
Als zentrales Beispiel sei der Dialog zwischen Erec und den Riesen, 4 die den Ritter Cadoc gefangen genommen haben, analysiert. In dieser Redeszene ist mit einer maximalen Differenz zwischen den Sprechweisen der Dialogpartner zu rechnen: Riesen werden in den literarischen Zeugnissen traditionell nicht der höfischen Sphäre zugeordnet,5 Erec trifft im gesamten Roman auf keine weniger höfischen Gegner.6 Tatsächlich lässt der Erzähler bereits vor Beginn des Dialogs keinen Zweifel daran, dass sich die Riesen auf eine Art und Weise verhalten, die ihre un-hövescheit 1 bzw. ihre dörper-
4
(mit weiterführender Literatur). Dass sprachliche Höflichkeit kein exklusives Kennzeichen des weltlichen Hofes war, sondern stark von klerikalen Traditionen beeinflusst wurde, zeigt C. Stephen Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter, aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Hellweg-Wagnitz, Berlin 2001 (Phil.St.u.Qu. 167). Obwohl angegeben wird, dass Erec zwei Riesen begegnet (v. 5356, 5381, 5436), äußert sich im darauffolgenden Dialog nur einer der beiden Riesen. Dieser spricht zunächst für beide (wir / uns: v. 5450, 5451, wohl kaum als pluralis maiestatis aufzufassen), wechselt jedoch bereits während seines ersten Redebeitrags zum ich (v. 5456).
5
Ernst H. Ahrendt, Der Riese in der mittelhochdeutschen Epik, Diss. Rostock, Güstrow 1923. JanDirk Müller, „Strukturen gegenhöfischer Welt. Höfisches und nicht-höfisches Sprechen bei Neidhart", in: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983), hg. von Gert Kaiser und Jan-Dirk Müller, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 4 0 9 ^ 5 3 , geht auf die Differenzen zwischen der dörperlichen und der höfischen Welt in Neidharts Liedern ein und beschreibt damit eine ähnlich inszenierte Differenz, die allerdings eher die (durchaus Analogien zu realen Begebenheiten aufweisenden) differierenden lebensweltlichen Entwürfe als die sprachliche Gestalt betrifft (vgl. lediglich S. 447). Während sich 'Neidhart' in einzelnen Liedern der dörperlichen Sprache anpasst (S. 423), wahrt Erec die Distanz zur Welt der Riesen. S. zu englischsprachigen Beispielen des Mittelalters auch Roger D. Sell, „Politeness in Chaucer. Suggestions towards a Methodology for Pragmatic Stylistics", in: Studia Neophilologica 57 (1985), S. 178-185; Gabriele Müller-Oberhäuser, „With cortays speche: Verbale Höflichkeit in den mittelenglischen Courtesy Books", in: Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur, hg. von Christel Meier u.a., München 2002 (Münstersche Mittelalter-Schriften 79), S. 211-231.
6
Harald Haferland, Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1988 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), hier S. 128f., skizziert das Fehlen der „Möglichkeiten höfischer Interaktion" (S. 128) in den ersten drei Aventiuren des zweiten Handlungszyklus, in denen Reziprozität ebenfalls nicht möglich ist (zur Reziprozität als Voraussetzung für höfische bzw. höfliche Interaktion s. ebd., S. 35-55, 121-206; Haferland und Paul [wie Anm. 3], S. 13). Gesteigert scheint mir diese fehlende Möglichkeit in der Cadoc-Aventiure dadurch, dass die Räuber und der namenlose Graf menschliche Wesen sind, die Riesen jedoch traditionell eher zu den Monstern gerechnet werden. Es wäre dies eines der vielen Beispiele für Spiegelungen, Steigerungen und Kontraste in den (keinesfalls rein linear angeordneten) Aventiurenreihen des Erec (vgl. z.B. Rodney Fisher, „Räuber, Riesen und die Stimme der Vernunft in Hartmanns und Chretiens Erec", in: DVjs 60 [1986], S. 353-374, hier S. 358). - Keie verhält sich im Erec eher nonverbal als verbal bzw. (im Falle der verbalen Äußerungen) eher inhaltlich als formal unhöfisch, vgl. v. 4629.39^1706.
7
Hartmann von Aue, Lemmatisierte Konkordanz zum Gesamtwerk, bearbeitet von Roy A. Boggs, 2 Bde., Nendeln 1979, S. 179, weist nach, dass Hartmann den Begriff hövesch und dessen Ableitungen im Erec (3 Belege) deutlich seltener verwendet als im Iwein (23 Belege). Im Erec ist nur v. 9861 eindeutig auf den weltlichen Bereich bezogen (da geschach im höveschltchen an): Der
Nine Miedema
184
heit8 deutlich zu Tage treten lässt. Die mit nachdrücklich als unritterlich bezeichneten, 9 archaischen Waffen ausgestatteten Riesen wollen, so erzählt Cadocs Ehefrau, deren Unglück den tugenthaften Erec vil näch zu Tränen rührt (vgl. v. 5337f.), Cadoc aus unbegründeter Feindschaft töten;10 sie haben dem wehrlosen Ritter bereits so sehr zugesetzt, dass ihm die Haut in Fetzen vom Leib hängt (v. 5409-5411). Die Beschreibung des mitleiderregenden Zustandes Cadocs gipfelt in der eindeutigen Beurteilung seitens des Erzählers, die Riesen brächen vaste ritters reht (v. 5412). So ist von Anfang dieser Szene an für Erec wie für den textexternen Rezipienten ohne jeden Zweifel gesichert, dass eine völlig asymmetrische Sprecherkonstellation vorliegt: Der höfisch erzogene Ritter trifft auf ohne die Gesetze der höfischen Gesellschaft lebende Wesen. Wie inszeniert die Szene diesen größtmöglichen Kontrast zwischen den beiden Sphären in
sprachlicher
Hinsicht? Bereits
Ernst H. Ahrendt erwähnte die allgemein für Riesen in der mittelalterlichen Epik charakteristischen „polternden und groben Drohreden", die Ausdruck der „Beschränktheit" der Riesen seien, 11 und häufig zu finden ist der allgemeine Hinweis auf die „höfliche Redeweise" Erecs in dieser Szene; 12 versucht sei, dieses Phänomen im Folgenden sprachwissenschaftlich genauer zu beschreiben. Da es sich nicht um natürliche Alltagssprache, sondern
Erzähler kommentiert hier das positive Verhalten Erecs, der die Witwen von Brandigan zum Hof König Artus' bringt. In v. 3461 wird mit der gotes hövescheit auf eine Eigenschaft Gottes verwiesen. Zur Konjektur er stach in zuo der erde tot, / als ez der hövesche got gebot (v. 5516f.), die in der benutzten Auflage des Erec (dem 'Ambraser Heldenbuch' entsprechend!) rückgängig gemacht worden ist (als ez der hövesche gebot), s. Hartmann von Aue, Erec, hg. von Manfred Günter Scholz, übersetzt von Susanne Held, Frankfurt a.M. 2004 (Bibliothek deutscher Klassiker 188; Bibliothek des Mittelalters 5), S. 824f. - Dass das richtige sprachliche Handeln nachdrücklich als Bestandteil des Höfischen gesehen wird, zeigt sich in einer der Auseinandersetzungen zwischen Erec und dem Grafen Oringles, in der Erec diesem (nach dessen unhöflicher Aufforderung, '[...] nü lät si und schabet iuwern wec', v. 4196) zufügt: „ir enthöveschet iuch", sprach Erec, / „an mir harte sere. / von wem habet ir die lere / daz ir scheltet einen man / der ie ritters namen gewan ? / ir sit an schwachem hove erzogen [...]" (v. 4197^202). 8
9
10 11 12
Hartmann verwendet diesen Begriff nicht für sprachliches Verhalten. Vgl. Boggs (wie Anm. 7), S. 65: Im Iwein heißt es, heten si dö gevohten /ze orse mitten swerten, /des si niene gerten, /daz weere der armen orse tot: / von diu was in beiden nöt / daz si di dörperheit vermiten / und daz si ze vuoze striten (v. 7116-7122); im Armen Heinrich ähnlich allgemein: sin herze hate versworn / valsch und alle dörperheit (v. 50f.). Es geht somit in beiden Fällen um rational überlegtes Handeln im weiteren Sinne, nicht nur um überlegtes verbales Handeln. S. v. 5381-5396: nü heten die zwene grozen man / weder schilt noch sper / noch swert also er: / des er von rehte gendz. / wäfens wären si bloz. / waz ir wer weere ? / zwene kolben swasre, / groze unde lange: / den wären die Stange / mit isen beslagen. / [...] ouch vuorten die unguoten / zwo geiselruoten / mit vingergrözen strängen. Vgl. auch Fisher (wie Anm. 6), hier S. 355f., S. 358f. S. v. 5359f.; vgl. den diese Angaben bestätigenden Erzählerkommentar in v. 5656-5458. Ahrendt (wie Anm. 5), S. 104. Hier (stellvertretend für andere Belege) zitiert nach Scholz (wie Anm. 7), S. 822. S. für die Riesen auch Fisher (wie Anm. 6), S. 361, der das Sprechen der Riesen als „bewußt unhöfisch" gestaltet bezeichnet, ohne es sprachlich genauer zu analysieren.
Höfisches und unhöfisches Sprechen im Erec Hartmanns von Aue
185
um einen literarischen Dialog handelt, ist zu erwarten, dass der Erzähler die Möglichkeiten einer Kontrastierung des Redeverhaltens der Kontrahenten bewusst ausschöpft und idealtypisch gestaltet. Das unhöfische Sprechen manifestiert sich erstens in der L e x i k . 1 3 Erec verwendet bereits im initialen Sprechakt und danach durchgehend die höfische Anrede
„herre(n)"
(v. 5436, 5457, 5461), obwohl er auf eine elaborierte höfische Begrüßung verzichtet. 14 Der Riese dagegen benutzt als Anreden 'tumbe[r]' (v. 5448) und 'rehter ä f f e ' (v. 5452); mit Letzterem begibt er sich eindeutig in den Bereich der Beschimpfung, von der Intention her wohl sogar des bewussten Versuchs der Beleidigung. 15 Erec verwendet durchgehend den Höflichkeitsplural „ir", 6
'du'}
der Riese dagegen das in diesem Zusammenhang abschätzige
In Bezug auf die ebenfalls von der Lexik beeinflusste Metrik ist beim Riesen eine
leichte Häufung von unregelmäßigen Versen zu beobachten, 17 aber diese Unterschiede sind
13
14
15
16
17
Vgl. Bumke (wie Anm. 2), S. 79f.; ders., „Höfische Kultur. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme", in: PBB 114 (1992), S. 414-492, hier S. 479f„ weist darauf hin, dass die Verwendung flämischer und insbesondere französischer Fremdwörter (die „Fremdorientierung", ebd., S. 479, Anm. 233) als ein Charakteristikum der höfischen Sprache zu gelten hat, jedoch lassen sich in der hier besprochenen Szene keine entsprechenden Beispiele finden. Zum Grüßen in der mittelhochdeutschen Literatur vgl. Walther Bolhöfer, Gruß und Abschied in althochdeutscher und mittelhochdeutscher Zeit, Diss. Göttingen 1912; Renate Roos, Begrüßung, Abschied, Mahlzeit. Studien zur Darstellung höfischer Lebensweise in Werken der Zeit von 1150-1320, Bonn 1975; Horst Fuhrmann, „Willkommen und Abschied. Begrüßungs- und Abschiedsrituale im Mittelalter", in: Mittelalter. Annäherungen an eine fremde Zeit, hg. von Wilfried Hartmann und Hartmut Boockmann, Regensburg 1993 (Schriftenreihe der Universität Regensburg NF 19), S. 111-139; Haferland (wie Anm. 6), S. 138-150. Vgl. außerdem Franz Lebsanft, Studien zu einer Linguistik des Grußes. Sprache und Funktion der altfranzösischen Grußformen, Tübingen 1988 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 217). Dem Riesen fehlt im Sinne der sprachwissenschaftlichen Untersuchungen eine Vorstellung von der Unabdingbarkeit der Reziprozität verbaler Höflichkeit; vgl. oben, Anm. 6. Erec verwendet das ir zunächst noch als tatsächlichen Plural, da er beide Riesen anspricht, vgl. v. 5436, 5437, 5438, 5439, 5440 (implizit durch Verbmorphologie ausgedrückt in v. 5441), 5442, 5444. Im weiteren Verlauf wählt er diese Form eindeutig als Höflichkeitsform, s. v. 5461, 5463, 5465, 5466, 5469, 5471, 5476. - Das du seitens des Riesen begegnet in v. 5448, 5451, 5453, 5454, 5455, 5456, 5477 (implizit in v. 5478), 5479, 5480, 5481, 5483, 5484, 5485 (implizit in v. 5486). Vgl. Boggs (wie Anm. 7), S. 601-625; Scholz (wie Anm. 7), S. 822; zum Duzen und Ihrzen generell Gustav Ehrismann, „Duzen und ihrzen im Mittelalter", in: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 1 (1901), S. 118-140, 2 (1902), S. 118-159, 4 (1903), S. 210-248, 5 (1903), S. 127-220; Haferland und Paul (wie Anm. 3), S. 30. - Zum Bereich der Lexik wäre auch Klangliches einzubeziehen; so scheint Erec zu Anfang seiner Redebeiträge hellere Vokale zu bevorzugen (v. 5435f„ 5457, 5460f.), der Riese dunklere (v. 5448-5451, 5477-5479). Diese Tendenz ist allerdings nicht konsequent durchgeführt, es gibt z.B. keine signifikanten Unterschiede in der Häufung heller oder dunkler Vokale in den Reimwörtern. - Dass sich Neidharts Dörper nicht nur durch ihr Lärmen, sondern auch durch ihr heimliches runen auszeichnen, wird von Hartmann in seiner Darstellung der Riesen nicht vorweggenommen (vgl. Wenzel, „Die Zunge der Brangäne" [wie Anm. 2], S. 360f.; Müller [wie Anm. 5], S. 445f.). Vgl. insbesondere v. 5448-5453, 5479f.
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möglicherweise nicht signifikant. Ebenso dürfte der unreine Reim in v. 5482f. wenig aussagekräftig sein, da auch sonst die Nasale η und m in Reimposition wechseln können. 18 Mit diesem ersten Bereich der Lexik hängt auch die Verwendung von sprachlichen Bildern zusammen: Der Riese benutzt in v. 5483 einen Vergleich ('[...] ich zebrasche dich als ein huon [...]'); dieses ist zwar prinzipiell als eine rhetorische Kunstform zu verstehen, 19 der Riese bedient sich jedoch damit eines aus höfischer Sicht unangemessenen Bildbereichs. Die intendierte Drohung, der Riese könnte Erec 'wie ein Huhn' töten, entbehrt nicht einer gewissen, vom Riesen wohl kaum intendierten Komik - das Bild ist nicht gerade zur üblichen Kampfmetaphorik zu rechnen, 20 und die Prahlerei des Riesen, der sein Gegenüber offensichtlich unterschätzt, erweist sich bald als unangebracht. Durch solche und andere Hinweise eröffnet sich die Perspektive auf das von den Kontrahenten jeweils vertretene Weltbild: Die Riesen zeichnen sich durch Beschränktheit, Grausamkeit und Willkür aus, Erec vertritt christlich-ritterliche Tugenden wie Mitleid, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Unhöfisches Sprechen könnte sich, zweitens, in der M o r p h o l o g i e
zeigen, in der
Verwendung falscher Endungen etwa, die den Sprecher als des (Mittelhoch-)Deutschen nicht vollständig mächtig disqualifiziert hätten. Hartmann macht von diesem Mittel allerdings keinen Gebrauch; auch sonst sind keine mittelalterlichen deutschen Beispiele dafür bekannt, dass die Autoren ihre unhöfischen Figuren bewusst gegen die Morphologie verstoßen lassen. Der dritte Bereich, durch den manche Arten des Sprechens als unhöfisch entlarvt werden könnten, ist die S y n t a x . Der Riese spricht etwas häufiger in kürzeren, syntaktisch weniger verschachtelten Sätzen als Erec; 21 stichomythisches Sprechen wäre in dieser Szene, wie im Gespräch zwischen 'Hartman' und dem fingierten interpellierenden Zuhörer (v. 7493-7522), vorstellbar gewesen, aber auf die Stichomythie wurde hier wohl verzichtet, damit Erec umso formvollendeter sprechen kann. 22 Dass dem Riesen keine eindeutig einfachere Syntax zugedichtet wird als Erec, zeigt sich etwa daran, dass auch er z.B. Kon18
19
20
21
22
S. v. 434f.: stein / ceheim (Erzählerrede); v. 900f.: tuon / ruom (Rede Iders'); v. 1406f.: aeheim / Tulmein (Erzählerrede) u.ö. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 2 1973, § 4 2 2 - 4 2 6 (similitudo). Dass der Vergleich auch im Rolandslied begegnet (s. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch /Neuhochdeutsch, hg., übersetzt und kommentiert von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1993 [RUB 2745], ν. 3791, Hinweis bei Fisher [wie Anm. 6], S. 361), ändert nichts an seiner Unangemessenheit: Dort ist er dem Heiden Zernubiles in den Mund gelegt, den Roland im Kampf mit seinem ersten Schwerthieb tötet, der Zernubiles von deme helme unze an die erde spaltet (v. 5063). Vgl. dann auch Der Stricker, Daniel von dem blühenden Tal, hg. von Michael Resler, Tübingen 2 1995 (ATB 92), v. 2761. S. insbesondere v. 5477-5480 im Kontrast zu v. 5466-5472. Vgl. Bumke, „Bestandsaufnahme" (wie Anm. 13), S. 479, Anm. 233. Vgl. Miedema (wie Anm. 1) zur Stichomythie: Hartmann verwendet sie, anders als seine Zeitgenossen, insbesondere für negativ zu charakterisierende Figuren.
Höfisches
und unhöfisches
Sprechen im Erec Hartmanns
von Aue
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ditionalgefüge 23 und Konjunktiv verwendet (v. 5481-5483: '[...] dehein
ere / begän
oder deheinen
ruom, / ich zebreeche
möhte
ich an dir
dich als ein huon
[...]').
Auf den vierten Bereich, in dem sich unhöfisches Sprechen manifestieren kann, ist etwas ausführlicher einzugehen; er betrifft die Untersuchung der einzelnen
Sprechakte
bzw. der Sprechaktsequenzen. Dazu sei der vollständige Textabschnitt hier mit entsprechendem Kommentar wiedergegeben: 24 der ritter [Cadoc] groze quäle leit, 5425 sö unvernomen arbeit, daz nimmer man one den tot möhte erliden grcezer not danne im do geschach. als diz Erec ersach, 5430 nü bewegete des ritters smerze sö sere sin herze daz er bt im e wsere erslagen e er inz haste vertragen und daz ez an siner varwe schein. 5435 er sprach zuo den zwein: „ ir herren beide, ichn vräge iu niht ze leide: durch got muget irz mich wizzen län, waz hat iu der man getan 5440 den ir da habet gevangen ?
23 24
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(emotionale Reaktion Erecs)
(unwillkürliche nonverbale Reaktion Erecs)
Situations-MITTEILUNG 2 5 (Versicherung über Illokution: keine Beleidigung intendiert) J/N-FRAGE (Auskunftsfrage): BITTE (indirekt: AUFFORDERUNG 2 7 ) W - F R A G E (Auskunftsfrage, deren Antwort Erec bereits bekannt ist; oder allenfalls Frage nach Gegendarstellung)
Vgl. Erec in v. 5468f.: „[...] hat dirre man ritters namen, /sö mähtet ir iuch immer schämen [...]". In der rechten Spalte sind einige allgemeine Hinweise zum Verlauf des Dialogs angegeben, sowie erste Typologisierungsversuche der einzelnen Sprechakte. Zu den Typologien s. u.a. Mathias Kohl und Bettina Kranz, „Untermuster globaler Typen illokutionärer Akte. Zur Untergliederung von Sprechaktklassen und ihrer Beschreibung", in: Münstersches Logbuch zur Linguistik 2 (1992), S. 1 —44; Maria Ulkan, Zur Klassifikation von Sprechakten. Eine grundlagentheoretische Fallstudie, Tübingen 1992 (Linguistische Arbeiten 174); Eckard Rolf, lllokutionäre Kräfte. Grundbegriffe der Illokutionslogik, Opladen 1997. Der Begriff MITTEILUNG schien nach Rolf (wie Anm. 24), S. 145, angebracht; er nennt BESCHREIBEN aufgrund seiner Komplexität nicht als eine eigene Illokution innerhalb der Assertiva (vgl. S. 142). Zur (in der linguistischen Forschung nicht unumstrittenen) Illokution der Fragen s. zuletzt YoungSook Yang, Aspekte des Fragens. Frageäußerungen, Fragesequenzen, Frageverben, Tübingen 2003 (Beiträge zur Dialogforschung 24). Vgl. auch Jürgen Walther, Logik der Fragen, Berlin/ New York 1985; Wolfgang Zimmermann, Fragehandlungen und Frageverben. Ein Beitrag zur Vermittlung von Pragmatik, Grammatiktheorie und Lexikographie, Erlangen 1988 (Erlanger Studien 76); Rolf (wie Anm. 24), S. 188f. Ausführlicher zu den sprachlichen Formen dieser Klasse von verba dicendi: Götz Hindelang, Auffordern. Die Untertypen des Aufforderns und ihre sprachlichen Realisierungsformen, Göppingen 1978 (GAG 247); zuletzt Yongkil Cho, Grammatik und Höflichkeit im Sprachvergleich. Direktive Handlungsspiele des Bittens, Aufforderns und Anweisens im Deutschen und Koreanischen, Tübingen 2005 (Beiträge zur Dialogforschung 32) (mit weiterer Literatur).
188
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saget, waz hät er begangen ? ez enschadet iu niht und ist mir liep. weder ist er mordsere oder diep? od wie hat erz umbe iuch verholt, 5445 sd swxre zuht die er dolt? "
AUFFORDERUNG; W-FRAGE (wie oben) (Angebot eines 'Kommunikationsvertrages') W-FRAGE (wie oben) W-FRAGE (wie oben) (BEWERTUNG; 28 indirekt: BESCHULDIGUNG / VOR WURF / TADEL)
des antwurte im der eine, der ahte sin vräge kleine:
5450
5455
5460
5465
5470
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29
30
(Erzählerkommentar: Antwort wird VERWEIGERT; Erzähler bezeichnet Erecs Sprechakte als FRAGEN) BESCHIMPFUNG; Gegen-W-FRAGE (mit Wie'nu waz hästü tumbe derholung der Ausgangsfrage; Riese bezeichnet ze vrägen dar umbe Erecs Sprechakte als FRAGEN) waz er uns habe getan ? des enwellen wir dich niht wizzen län. explizite VERWEIGERUNG der Auskunft BESCHIMPFUNG; AUFFORDERUNG rehter äffe, nä sich, Situations-MITTEILUNG du unwirdest dich (Riese bezeichnet Erecs Sprechakte als FRAGEN) daz du vrägest also vil daz dir niemen sagen wil. W-FRAGE nü war umbe jagestü mich?' Erec sprach: „herre, nein ich." direkte Antwort: VERNEINEN / ABSTREITEN 29 dannoch redete er mit listen (Erzähler beschreibt Erecs Illokution und deutet und wände in sd gevristen: Misslingen der Perlokution voraus) „ich hörte in riiefen verre. Wahrnehmungs-BERICHT 30 geloubet ir mir, herre, AUFFORDERUNG ich enhän ez niht durch übel getan ERLÄUTERUNG daz ich iu her gevolget han. mich wundert waz ez wsere. Befindlichkeits-BERICHT daz ensi iu niht swxre. BITTE doch wil ich iu zewäre sagen, MITTEILUNG bzw. ABSICHTSBEKUNDUNG daz enmöhte ich niht verdagen, (Notwendigkeit der nachfolgenden Aussagen) hät dirre man ritters namen, Voraussetzung für den (die) folgende(n) sd mähtet ir iuch immer schämen (indirekte[n]) BESCHULDIGUNG / VORWURF daz er des niht geniuzet /TADEL und iuch niht bedriuzet der grözen unvuoge. indirekt: BESCHULDIGUNG / VOR WURF / TADEL ja hät er zuht genuoge ERLÄUTERUNG; indirekt: BESCHULDIGUNG / emphangen, swaz er hät getan: VORWURF / TADEL
Differenzierter zu den Verben des Bewertens Werner Zillig, Bewerten. Sprechakttypen der bewertenden Rede, Tübingen 1982 (Linguistische Arbeiten 115). Diese Angabe entspricht nicht der Wahrheit, wie die Rezipienten des Textes wissen: Der Erzähler hat angegeben, Erec ilte in vil sere nä (v. 5379). Zum Zusammenhang von Höflichkeit, Wahrheit und Lüge s. Stanislaw Szl?k, „Höflichkeit und Lüge aus linguistischer Sicht", in: Sprachsplitter und Sprachspiele. Nachdenken über Sprache und Sprachgebrauch. Festschrift für Willy Sanders, hg. von Jürg Niederhauser und Stanislaw Szl?k, Bern u.a. 2000, S. 139-154. Erneut entspricht Erecs Angabe nicht der Wahrheit: Er hatte Cadocs Ehefrau wüefen und erbarmeclichen näch helfe rüefen hören (vgl. v. 5296-5300), Cadoc selbst nimmt er zunächst jedoch nur mit den Augen wahr (unz er si [Cadoc und die Riesen] begunde sehen an, v. 5380), da Cadoc so gar verswigen ist, daz in schriens verdroz (v. 4219f.). Zum Motiv, dass Erec hier erstmalig seit dem verligen „positiv auf die Stimme einer Frau reagiert", s. Fisher (wie Anm. 6), S. 371; dies sei ein wichtiger Umbruch innerhalb der Aventiuren-Struktur, ein „Neueinsatz" (ebd., S. 372).
Höfisches und unhöfisches Sprechen im Erec Hartmanns von Aue 5475 muget ir in durch got län ? " der michel man sus wider sprach: 'din klaffen ist mir ungemach:
erlä mich diner vräge. du setzest enwäge 5480 dinen lip vil sere. möhte ich an dir dehein ere began oder deheinen ruom, ich zebrxche dich als ein huon. waz vrumet im din vräge? 5485 nü nim dir in ze mäge und hilf im: dest im not genuoc.' im ze sehenne er in sluoc
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und hiez in strichen sinen wec. dannoch wolde in Erec mit güete überwunden hän daz er den ritter haste län. diu bete was vil gar verlern, wan daz er reizete des risen zorn. dem ritter täten si dö we durch sinen haz wirs dan e, wan si enhäten vorhte noch wän daz er si getorste bestän. und als Erec der degen bait ersach daz er sin engalt, daz muote in harte sere, nü entweite er niht mere, wan undern arm sluoc er mit guotem willen daz sper. daz ros nam er mit den sporn: an si truoc in der zorn.
189
J/N-FRAGE: BITTE (indirekt: AUFFORDERUNG) (Riese bezeichnet Erecs Sprechakte als 'lärmen': BESCHIMPFUNG; BESCHULDIGUNG / VOR WURF / TADEL; BefindlichkeitsBERICHT AUFFORDERUNG (Riese bezeichnet Erecs Sprechakte als FRAGEN) Situations-MITTEILUNG Voraussetzung für die nachfolgende (indirekte: durch Konjunktiv gekennzeichnete) DROHUNG / das PRAHLEN W-FRAGE (Riese bezeichnet Erecs Sprechakte als FRAGEN) AUFFORDERUNG AUFFORDERUNG; BEGRÜNDUNG (unangemessenes und provozierendes nonverbales Handeln) AUFFORDERUNG (in indirekter Rede) (Erzähler beschreibt Erecs Illokution)
(Erzähler bezeichnet Erecs Sprechakte nicht als FRAGEN, sondern als BITTEN) (Erzähler beschreibt misslungene Perlokution)
Deutlich sichtbar wird, wie sehr der Erzähler bemüht ist, den Verlauf des Dialoges zu kommentieren und dadurch das richtige vom falschen verbalen Verhalten zu unterscheiden. Im Bereich der Sprechaktklassen zeigen sich die deutlichsten Unterschiede zwischen Erecs Redebeiträgen und denjenigen des Riesen. So ist zum Beispiel auffällig, dass der Riese gehäuft Direktiva äußert, und zwar in ihrer unmittelbarsten ('primitivsten') Form, im Imperativ der 2. Person Singular: v. 5452 sich, 5478 erlä, 5485 nim, 5486 hilf. Erec dagegen fragt, er befiehlt nicht;31 er stellt im Laufe des Dialogs verschiedene Ergänzungsfragen (ja/nein- und W-Fragen), die Vorwürfe ledig-
31
Es gibt zwei Ausnahmen, saget in v. 5441 und geloubet in v. 5461. Da diese, anders als die von den Riesen geäußerten Imperative, zu den typischen, formelhaften Beteuerungen im Gespräch gehören, erscheinen sie allerdings wenig signifikant.
190
Nine Miedema
lieh implizieren. 32 Der Riese verweigert zwar nicht insgesamt die Kommunikation, er kooperiert jedoch nicht:33 Er gibt in seinen beiden Dialogbeiträgen keine direkte Antwort auf die von Erec gestellten Fragen und stellt selbst Gegenfragen, die inhaltlich keinen Bezug zum von Erec Gesagten erkennen lassen, während Erec z.B. in v. 5457 („herre, nein ich") vorführt, dass (und wie) auf eine Frage eine direkte Antwort zu folgen hat. Besonders auffällig sind die Fragen in v. 5438f.: „[...] durch got muget irz mich
wissen
län, / waz hät iu der man getän [...]?" und v. 5475: „ [...] muget ir in durch got län?": Hier formuliert Erec ja/nein-Fragen, die nicht auf diese schlichte Antwort zielen, sondern Bitten bzw. Aufforderungen implizieren. 34 An der Frage in v. 5475, „[...] muget ir in durch got län?", lässt sich zeigen, dass bereits für das hohe Mittelalter gilt, dass derjenige, der das höfische Sprechen beherrscht, mit der Kunst des indirekten Sprechaktes bzw. der kommunikativen Indirektheit vertraut sein muss: 35 Die direkte Aufforderung würde den Imperativ 32
33
34
35
Da die Vorwürfe nur indirekt geäußert werden, reagiert der Riese an keiner Stelle mit einer Rechtfertigung oder Entschuldigung. S. zu diesen erwartungsgemäß stattfindenden Reaktionen auf Vorwürfe Franz Hundsnurscher, „Streitspezifische Sprechakte: Vorwerfen, Insistieren, Beschimpfen" (1993), zitiert nach dem Neudruck in: ders., Studien zur Dialoggrammatik, zu seinem siebzigsten Geburtstag zusammengestellt und hg. von Götz Hindelang und Youngsook Yang, Stuttgart 2005 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 428), S. 199-210, insbesondere S. 202-206. Anders als von Harald Weydt im vorliegenden Band für das Nibelungenlied dargestellt, liegt in der hier besprochenen Szene des Erec eine Situation vor, in der der Riese auf keiner Ebene kooperiert. Vgl. Lambertus Okken, Kommentar zur Artusepik Hartmanns von Aue, Amsterdam/Atlanta 1993 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 103), S. 15: „Der Ausdruck muget ir scheint auffordernd oder einladend gemeint zu sein". Ähnlich Erecs konditionale Satzkonstruktion in v. 5468-5472, die einen Konjunktiv nach sich zieht: „[...] so mähtet ir iueh immer schämen [...]" (v. 5469) - auch hier wird mithilfe von Modalverben der direkte Vorwurf gemieden. Gudrun Held, „Politeness in Linguistic Research", in: Politeness in Language. Studies in its History, Theory and Practice, hg. von Richard J. Watts, Sachiko Ide und Konrad Ehlich, Berlin/ New York 22005, S. 131-153, insbesondere S. 139-142 (mit weiterer Literatur), beschreibt diesen „indirectness approach" (S. 139) aus linguistischer Sicht. Haferland und Paul (wie Anm. 3), S. 18-25, kritisieren zu Recht die Bezeichnung des 'indirekten Sprechaktes' und entwickeln das Konzept der 'kommunikativen Indirektheit'. Vgl. auch Müller-Oberhäuser (wie Anm. 5), S. 215. Zur sprachwissenschaftlichen Darstellung der Höflichkeit s. den generellen Forschungsüberblick von Bruce Fräser, „The Form and Function of Politeness in Conversation", in: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung / Linguistics of Text and Conversation. An International Handbook of Contemporary Research, hg. von Klaus Brinker u.a., 2. Halbband, Berlin/New York 2001 (HSK 16.2), S. 1406-1425, sowie Claus Ehrhardt, Beziehungsgestaltung und Rationalität. Eine linguistische Theorie der Höflichkeit, Triest 2002 (Hesperides 18) (mit Verweis auf ältere Literatur). Für das heutige Deutsch sind die wichtigsten verbalen Höflichkeitsstrategien beschrieben bei Iwar Werlen, „Vermeidungsritual und Höflichkeit. Zu einigen Formen konventionalisierter indirekter Sprechakte im Deutschen", in: Deutsche Sprache 11 (1983), S. 193-218. Konrad Ehlich, „On the Historicity of Politeness", in: Politeness in Language (wie oben), S. 71-107, hier S. 94f., geht nicht näher auf die Höflichkeitsformen im Mittelalter ein, Horst Wenzel, „Spiegelungen. Zum schönen Schein des öffentlichen Herrschaftshandelns", in: Höflichkeit. Aktualität und Genese von Umgangsformen, hg. von Brigitte Felderer und Thomas Macho, München 2002, S. 25-39, klammert sprachliche Höflichkeit aus (vgl. aber
Höfisches und unhöfisches
Sprechen im Erec Hartmanns
von Aue
191
verwenden, Erec formuliert j e d o c h e i n e Bitte, gekleidet in der Form einer (nur oberflächlich unverbindlichen) Informationsfrage nach d e m e v e n t u e l l e n V e r m ö g e n der Riesen, Cad o c freizulassen. S o g e b e n Erecs Illokutionsindikatoren auf den ersten B l i c k etwas A n d e res vor, als wirklich g e m e i n t ist. A u f diese W e i s e zeigt sich, dass die von der S p r a c h w i s s e n s c h a f t beschriebenen modernen Verfahren der Formulierung taktvoller Höflichkeit im Bereich der deutschsprachigen Epik erstmalig im Erec betont expliziert werden: Höflichkeit äußert sich, s o die d i e s b e z ü g lichen Ergebnisse der sprachwissenschaftlichen Forschung, in der V e r w e n d u n g bestimmter performativer V e r b e n (z.B. 'fragen', 'bitten'), Modalverben (etwa 'dürfen') und Partikeln b z w . hedges
(z.B. 'nur', 'ja', 'doch'), 3 6 in der Wahl der Satzarten (insbesondere in der be-
vorzugten V e r w e n d u n g von Frage- statt A u s s a g e s ä t z e n , s o w i e v o n K o n d i t i o n a l g e f ü g e n ) und im Gebrauch d e s M o d u s (d.h. des Konjunktivs). 3 7 Wichtiger noch ist j e d o c h die Tendenz zur A b s c h w ä c h u n g der Illokutionsindikatoren, insbesondere im B e r e i c h der Direktiva: Statt e i n e s B e f e h l s , einer Aufforderung, wird eine Bitte verwendet, die m ö g l i c h s t in Form einer Frage formuliert wird. S o entstehen formen kommunikativer Indirektheit, bei denen die eigentlichen Illokutionen nicht allzu offensichtlich zur Schau getragen werden. 3 8
36
37
38
Wenzel, „zuht und ere" [wie Anm. 2]; ders., „Die Zunge der Brangäne" [wie Anm. 2]); Manfred Beetz, Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum, Stuttgart 1990 (Germanistische Abhandlungen 67), konzentriert sich auf das Zeitalter des Barock. Vgl. zu den Modalverben z.B. Szl?k (wie Anm. 29), S. 148f. ('eingezäunte Performative'); zu den Partikeln: Partikeln und Höflichkeit, hg. von Gudrun Held, Frankfurt a.M. u.a. 2002 (Cross Cultural Communication 10); Sprechen mit Partikeln, hg. von Harald Weydt, Berlin/New York 1989. Vgl. etwa Szl?k (wie Anm. 29), S. 148f. S. auch Haferland und Paul (wie Anm. 3), S. 30: „ H i s t o r i s c h noch nicht hinreichend untersucht ist [...1 der Ursprung des höflichen Gebrauchs von Modalverben, Konditionalsätzen, des Konjunktivs und anderer Formen konventionalisierter Sprechhandlungen" (Hervorhebung N.M.); Bumke, „Bestandsaufnahme" (wie Anm. 13), S. 479, Anm. 231, weist darauf hin, „wie groß das Defizit der Forschung auf diesem Gebiet ist". MüllerOberhäuser (wie Anm. 5), S. 217, spricht von den ,,Probleme[n] einer großen Varianz von verbalen Höflichkeitssystemen in historischer Dimension"; zu untersuchen wäre außerdem die eventuelle Varianz im Vergleich der Ausdrucksformen der Höflichkeit j e nach Sprach- bzw. Kulturkreis. In den zeitgenössischen fiktionalen und didaktischen Werken sind zwar Hinweise darauf zu finden, dass bestimmte T h e m e n in der Konversation nicht angesprochen werden sollten (etwa die „Haussorge", vgl. Haferland [wie Anm. 6], S. 163f.; Bumke [wie Anm. 2], S. 74f.; s. im Bereich der Epik Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1986 [RUB 8303], ν. 5108-5113); direkte Hinweise darauf, dass die Illokution abzuschwächen sei, sind bisher aber nicht nachweisbar, auch nicht mittelbar, z.B. durch in den didaktischen Texten angeführte Beispiele. Dennoch scheint sich auch in den normativen Texten eine Vorstellung vom angemessenen Ton, der nicht zuletzt durch die Wahl der Illokutionsindikatoren bestimmt wird, herauszubilden. Thomasin von Zerklaere etwa gibt an: swelich man / mit sinne niht erahten kan / von wem, ze wem, waz, wie und wenne / er rede, ez schadet im etwenne (Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, hg. von Heinrich
192
Nine
Miedema
D i e g e n a u e Betrachtung der Sprechakte im Erec zeigt, dass diese M a x i m e n hier e x e m p l a risch vorgeführt werden - deutlich häufiger und reflektierter als etwa im v o r h ö f i s c h e n Alexanderlied39 'face-threatening
oder auch i m frühhöfischen Eneasroman.40 acts'
D i e 'höfliche', s o genannte
v e r m e i d e n d e S p r e c h w e i s e der Moderne, die (nach innen integrie-
rend und nach außen distanzierend) konstitutiv ist für eine G e m e i n s c h a f t Gleichgesinnter, hat somit in ihrer sprachlichen Ausgestaltung erste Vorläufer in der h ö f i s c h e n Sprachkultur d e s späten 12. Jahrhunderts. D a s s das V o r g e h e n der A b s c h w ä c h u n g der Illokutionsindikatoren für diese Zeit n o c h u n g e w o h n t ist, während es g l e i c h z e i t i g z u m Programm des T e x t e s gehört, zeigt sich in den
39
40
Rückert, Quedlinburg/Leipzig 1852, Nachdruck Berlin 1965, v. 553-556); er spornt zur Imitation auf, ohne jedoch Beispiele für das richtige sprachliche Verhalten zu zitieren. Vgl. außerdem: Swer gar sinn willen spricht und tuot, / der hat genuoc vihlichen muot, v. 725f.: Diese Aussage warnt vor allzu großer Direktheit beim Sprechen, nennt allerdings erneut keine konkreten Beispiele. Das einzige Beispiel elaborierter verbaler Höflichkeit im Vorauer Alexander findet sich in v. 341-348; es handelt sich nicht zufälligerweise (vgl. die oben in Anm. 14 genannte Literatur) um eine Begrüßungsszene zwischen Philippus und Alexander (zitiert wird hier und im Folgenden nach der Ausgabe Lamprechts Alexander, nach den drei Texten [...] hg. und erklärt von Karl Kinzel, Halle a.d.S. 1884 [Germanistische Handbibliothek 6]). Deren besonderer Status zeigt sich im singulären Kommentar des Erzählers in v. 339 (ir rede was vil minnesam). Vgl. dazu Wolfgang Schulte, 'Epischer Dialog'. Untersuchungen zur Gesprächstechnik in frühmittelhochdeutscher Epik (Alexanderlied - Kaiserchronik - Rolandslied - König Rother), Bonn 1970, S. 162f. Der Eneasroman zeichnet sich durch elaborierte Reden (Ansprachen) aus, weniger durch das Hervorheben verbaler Höflichkeit. So ist der als vorbildlich angekündigte erste Dialogbeitrag der Königin im ersten Minnegespräch mit Lavinia (v. 9745-9747: einer rede sie begonde, / die si vil wole konde, / mit michelme sinne) aufgebaut nach exordium (v. 9749f.), narratio (v. 9751-9753, durch nü angekündigt), argumentatio (v. 9754-9785) und peroratio (v. 9786-9788; vgl. Lausberg [wie Anm. 19], § 263, 289, 348, 431). Vgl. auch Eneas' Ansprache, die er gezogenliche (v. 11664) an Latinus richtet: exordium (ν. 11665-11667), verschränkte narratio und argumentatio (v. 11668-11735) mit integrierter propositio (v. 11700-11704), peroratio (v. 11736-11741). Auch in diesem Text erscheinen wertende Redeeinleitungen wie diu frouwe ime antworde / vile minnechlichen wider (v. 2746f.), auf die in diesem Fall jedoch eine Redewiedergabe in indirekter Rede folgt. Das Wort hovesltch in v. 3782 des Eneasromans bezieht sich auf die Tischsitten, nicht auf verbales Verhalten (s. auch die sonstigen Nachweise für dieses Wort bei Gabriele Schieb, Günter Kramer und Elisabeth Mager, Henric van Veldeke, Eneide, Bd. 3: Wörterbuch, Berlin 1970 [DTM 62], S. 211; der Beleg für sy sprachent ir hovelichen zu [v. 1942] ist im Kontext sinnentstellend, andere Handschriften lesen richtig honliche). Gelegentlich wird gezogenliche gesprochen (v. 4257, 11664; vgl. v. 8531), insbesondere im Kontrast zu zornigen Figuren, wobei jedoch keine mit dem Erec vergleichbaren Formen kommunikativer Indirektheit festzustellen sind. Lediglich im Gespräch zwischen Turnus und der Königin finden sich Ansätze verbal-höflicher Zurückhaltung durch Konjunktiv und Konditionalgefüge, s. v. 4 9 4 7 - 5 0 0 0 (z.B. „frouwe, ob ich getorste, / ich wolde u von dem kunege clagen [...]", v. 4956f.); vgl. auch das Rolandslied, v. 1760f.: „enwsere ez dir, herre, nicht swxre, / ich wolde dich ein liizzele vräge [...]". - S. zur Ausschmückung der Redeeinleitungen durch Adverbien wie gezogenliche Jane Emberson, Speech in the 'Eneide' of Heinrich von Veldeke, Göppingen 1981 (GAG 319), S. 148f., die allerdings nicht näher auf die sprachliche Gestalt der einzelnen Dialogbeiträge selbst eingeht. Vgl. außerdem den Beitrag von Franz Hundsnurscher im vorliegenden Band.
Höfisches und unhöfisches
Sprechen im Erec Hartmanns
von Aue
193
vielfachen Kommentaren zu den Absichten der Sprecher, ihren Sprechakten und zu deren Illokutionen, w e l c h e teilweise v o m Erzähler, teilweise auch von den handelnden Figuren selbst benannt und klassifiziert werden. S o ist i m Bereich der Erzählerkommentare auf v. 5 4 4 7 hinzuweisen: N o c h bevor der Riese zu Wort kommt, gibt der Erzähler vor, ahte sin
ν rä g e kleine,
der
und greift damit Erecs eigene, oberflächliche Charakterisierung
seiner Dialogbeiträge in v. 5 4 3 7 auf („ichn
ν rä g e iu niht ze leide").
Ähnlich w i e Erec
selbst bezeichnet der Erzähler Erecs Sprechakte somit zunächst nur nach der Satzart, nicht nach der Illokution. Ebenso bezeichnet der R i e s e Erecs Bitten ( w e l c h e s indirekt ein A u f fordern darstellt) gleich mehrfach als ein vrägen
(v. 5 4 4 9 , 5 4 5 4 , 5 4 7 8 und 5 4 8 4 ) ; der Riese
verkennt damit offensichtlich den eigentlichen Z w e c k des vrägens. nung v o n Erecs verbalen Handlungen als klaffen
Mit seiner B e z e i c h -
(v. 5 4 7 7 ) , ein Verb, das die Geräusche
des Sprechaktes benennt, nicht aber dessen Sinninhalte oder gar dessen Handlungsanleitungen, 4 1 ist endgültig deutlich, dass der R i e s e die kommunikative Indirektheit nicht erkennt (oder nicht bereit ist, sich ihr anzupassen). Z u m Schluss der S z e n e kommentiert der Erzähler Erecs Sprechakte erneut, dieses Mal mit d e m ihren Illokutionsindikatoren angem e s s e n e n Begriff der bete (v. 5 4 9 2 : diu
41
42
bete
was vil gar verlern)42
Damit deckt der Er-
Das klaffen ist als eine rein negative Bezeichnung aufzufassen, im Gegensatz zum im höfischen Kontext gelegentlich positiv gewerteten schallen, vgl. Müller (wie Anm. 5), S. 446. Ähnlich benutzt Alexander im Vorauer Alexander den Ausdruck belen (v. 1104) für die Drohungen, die Darios ihm gegenüber äußert. Die sprechaktbezeichnenden Verben in den mittelhochdeutschen Werken sind weitgehend unerforscht. Während Franz Hundsnurscher die Verben in inquit-Position untersucht hat (s. Franz Hundsnurscher, Sprechen und sagen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Zum Wechsel der Inquit-Formel er sprach/ er sagte", in: Literatur - Geschichte - Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag, hg. von Nine Miedema und Rudolf Suntrup, Frankfurt a.M. u.a. 2003, S. 31-52), fehlt eine Zusammenstellung der sprechaktbezeichnenden Verben in anderen Positionen. Ihre Untersuchung könnte neues Licht auf das im Mittelalter durchaus vorhandene Bewusstsein der Vielfalt differierender sprachlicher Handlungsmöglichkeiten werfen. Im 10135 Verse umfassenden Erec finden sich die folgenden sprechaktbezeichnenden Verben und Substantive, für die jeweils nur ein Beleg angegeben sei: antwürten (v. 964), bejehen (v. 480), benennen (v. 1824), bescheiden (v. 1604), bevelhen (v. 5372), bitten (v. 22), drö (v. 3105), eit (v. 3901), erbiten (v. 545), gebet (v. 5375), gebieten (v. 3094), geheizen (v. 995), geloben (v. 587), gelübede (v. 4143), grüezen (v. 37), giuden (v. 2386), heizen (v. 45), hcenen (v. 4742), itewiz (v. 3001), jehen (v. 474), klagen (v. 63), kreieren (v. 2564), künden (v. 5694), liegen (v. 3405), lop (v. 2983), lougen (v. 1041), lüten (v. 6083), marten (ν. 4881), missesagen (ν. 8785), murmeln (ν. 8159), nennen (ν. 2113), prisen (ν. 2452), raten (ν. 722), reden (ν. 1322), rüefen/ruofen (ν. 9666), rünen (ν. 4988), sagen (ν. 84), schelten (ν. 2988), schrien (ν. 6841), segen (ν. 1463), spotten (ν. 966), sprechen (ν. 25), sträfen (ν. 2524), swern (ν. 6415), trcesten (ν. 5675), überreden (ν. 3944), verbieten (ν. 3239), verjehen (ν. 6967), verklagen (ν. 7938), verlougen (ν. 113), versprechen (ν. 7420), vervluochen (ν. 4093), verwizen (ν. 4261), vlehen (ν. 8639), vluochen (ν. 2993), vrägen (ν. 7110), warnen (ν. 4320), wehselmasre (ν. 9707), Widerreden (ν. 641), Zeilen (ν. 2079); vgl. auch dagen (v. 45), swigen (v. 9689), verdagen (v. 1448) und verswigen (v. 3044). Jedoch zeigt nicht erst die höfische Literatur eine derart differenzierte Sprachreflexion: Auch der (ältere und mit 1533 Versen deutlich kür-
194
Nine
Miedema
Zähler die Diskrepanzen zwischen Satzoberfläche (Frage) und Illokution (Bitte) auf; den Schritt, die hinter den Illokutionsindikatoren ersichtliche indirekte Illokution (Aufforderung / Befehl) zu erschließen, überlässt er dem Rezipienten des Textes. Weiterführend, über die rein sprachliche Analyse der Verse, der Sprechakte und der Sprechaktsequenzen hinaus, und über die Beobachtung hinaus, dass hier (zum ersten Mal in deutschsprachigen Texten, auch wenn sich einzelne Elemente höfischen Sprechens bereits früher nachweisen lassen) die Abschwächung der Illokutionsindikatoren der Direktiva als Höflichkeitsform und als Höflichkeitsnorm thematisiert und kommentiert wird: Es ist auffällig, dass Erec hier trotz des rhetorisch-höfischen Aufwandes seiner Dialogbeiträge nicht
erfolgreich ist, die beabsichtigte Perlokution der Sprechaktsequenz wird nicht er-
reicht. Der Erzähler gibt dies explizit an: Erec wände
in so gevristen (v. 5459). Es ge-
schieht vielmehr das Gegenteil des intendierten Dialogziels: 43 Erec scheitert nicht nur in seinem Versuch, die Riesen dazu zu bewegen, Cadoc freizulassen, er bewirkt außerdem, dass dieser von den Riesen umso grausamer und unangemessener behandelt wird (dem ritter täten si dö we /durch sinen haz wirs dan e, v. 5494f.). Wie lässt sich dieses sprachliche Scheitern Erecs einordnen? Der Erec handelt nicht zuletzt vom angemessenen verbalen Handeln; darauf hat mit Bezug auf Enite jüngst Britta Bußmann erneut hingewiesen. 44 Anhand der vorhergehenden und nachfolgenden Szenen kann darüber hinaus gezeigt werden, dass nicht nur Enite, sondern auch Erec im Laufe des Textes verschiedene Situationen unangemessenen und daher erfolglosen Sprechens erlebt, zum Schluss des Textes (in der Joie de la Curt-Episode) jedoch die angebrachte Art des Dialogs beherrscht. 45 Es sei in dieser Hinsicht keine lineare
43
44
45
zere) Vorauer Alexander verwendet eine große Vielfalt betreffender Begriffe, vgl. antwürten (v. 415), bescheiten (v. 1153), bevelhen (v. 816), bitten (v. 1161), dröuwen (v. 1073), gebieten (v. 593), geliegen (v. 227), genennen (v. 78), gerüemen (v. 948), gesagen (v. 359), grüezen (v. 268), heizen (v. 261), Mieten (v. 503), jehen (v. 1082), klagen (v. 1402), künden (v. 1429), liegen (v. 18), lop (v. 1290), manen (v. 1248), queden (v. 349), raten (v. 594), rede (v. 61), rüefen/ruofen (v. 299), sagen (v. 36), schelten (v. 498), sprechen (v. 66), swern (v. 1152), warnen (v. 1407), zeln (v. 463); vgl. auch dagen (v. 583) und verdagen (v. 324). In diesem Sinne mag man Erec zwar in der zweiten Hälfte der Aventiurereihen im zweiten Handlungszyklus als einen bezeichnen, „der einen Dialog ermöglicht" (Fisher [wie Anm. 6], S. 362), der Dialog ist jedoch auch in diesen Aventiuren keineswegs immer erfolgreich. Britta Bußmann, „Do sprach diu edel kiinegin ... Sprache, Identität und Rang in Hartmanns 'Erec'", in: ZfdA 134 (2005), S. 1-29. Vgl. auch Fisher (wie Anm. 6) und Joachim Bumke, Der 'Erec' Hartmanns von Aue. Eine Einführung, Berlin/New York 2006, S. 113-128. Insgesamt enthält der Erec folgende Redeszenen, an denen Erec mit direkter Rede beteiligt ist (die Verszahlen markieren den Beginn und das Ende der direkten Rede; in Klammern jeweils die Figur, mit der Erec sich unterhält): v. 7 0 - 7 2 (Königin), 7 6 - 9 4 (Maledicur), 113-143 (Königin), 302-306 (Koralus), 344-351 (Koralus), 4 6 4 - 6 1 2 (Koralus), 633-661 (Imain), 6 8 6 - 6 8 9 (Enite), 692-727 (Iders), 804-806 (Enite), 956-1013 (Iders), 1022-1055 (Iders), 1080-1094 (Iders), 1341-1367 (Imain), 3029-3052 (Enite), 3071-3076 (Gefolge), 3238-3277 (Enite), 3404-3439
Höfisches und unhöfisches Sprechen im Erec Hartmanns von Aue
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Entwicklung des Protagonisten postuliert, jedoch häufen sich die Formen des erfolglosen Sprechens zu Anfang des Romans. 46 Die vorliegende Szene hat deutliche, auch wörtliche Parallelen zum Anfang des Epos, zur Szene, in der Erec mit dem Zwerg Maledicur (v. 1077) zusammentrifft. 47 Auch dort erreicht Erec nicht, was er will, sondern verschlimmert im Gegenteil die Situation. Für diese Szene ist allerdings festzuhalten, dass Erec hier verbal ebenso unhöfisch agiert wie der Zwerg. 48 Erecs Redeverhalten in dieser Szene wird stark mit demjenigen der Hofdame kontrastiert, die bereits vor Erec auf den Zwerg zugeritten war: Diese hat in v. 32^-3 (nachdrücklich mit mit zühten si zuo im sprach eingeleitet, s. v. 31!) eine ebenso formvollendete Begrüßung und indirekte Aufforderung an den Zwerg gerichtet wie Erec später an die Riesen. Relativ zu Beginn des Romans wird somit bereits einmal demonstriert, wie eine Aufforderung indirekt in einer mugen-Frage formuliert und die Sprecherabsicht explizit ausgesprochen werden kann: „[...] muget ir mich daz wizzen län, / äne schaden ir daz tuot: / min vrouwe vräget wan durch guot" (v. 41-43). Der Zwerg reagiert auf diese de-
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(Enite), 3559-3599 (Knappe des namenlosen Grafen), 3628-3641 (namenloser Graf), 3735-3751 (namenloser Graf), 4007-4015 (Gastwirt), 4 1 2 2 ^ 1 3 8 (Enite), 4172^1204 (namenloser Graf), 4232-4238 (Gebet Erecs), 4 3 2 6 ^ 3 7 7 (Guivreiz), 4226-4431 (Enite), 4468-4477 (Guivreiz), 4514—4582 (Guivreiz), 4615^627 (Guivreiz), 4629.39^1706 (Keie), 4 7 3 8 ^ 8 3 2 (Keie), 4923^1-983 (Gawein), 5043-5080 (Gawein), 5339-5371 (Ehefrau Cadocs), 5436-5486 (Riesen), 5631-5698 (Cadoc und seine Ehefrau), 6879-6888 (Enite), 6992-7023 (Guivreiz), 7899-8047 (Guivreiz), 8374-8589 (Burgherr Brandigan), 8839-8873 (Enite), 9027-9067 (Mabonagrin), 9319-9384 (Mabonagrin), 9406-9621 (Mabonagrin). Hinzu kommen verschiedene Gedankenreden Erecs (v. 264-269, 1873-1875, 8147-8153, 8295-8305, 8351-8355). Besprochen wird im vorliegenden Beitrag somit nur eine Auswahl der insgesamt vorhandenen Redeszenen, in denen Erec sprechend handelt. Vgl. auch Fisher (wie Anm. 6), S. 366, der angibt, Erec sei in den ersten Episoden des zweiten Handlungszyklus „entweder noch zu sehr nach innen gerichtet oder zu bestrebt, jeglicher Kommunikation aus dem Weg zu gehen", er reagiere „mißtrauisch" auf die Möglichkeit des Dialogs (S. 367). Vgl.: J/N-FRAGE; BESCHIMPFUNG; aber 76 „muget ir weniger mir gesagen, wes habet ir die maget gestagen? Höflichkeitsplural ir habet sere missetän. VORWURF (explizit) ir soldetz durch zuht län. [...]" AUFFORDERUNG daz getwerc sprach: 'lä din klaffen sin. unhöfliche Anrede; AUFFORDERUNG; ich ensage dir anders niht BESCHIMPFUNG 85 wan daz dir alsam geschiht. [...] DROHUNG (im Indikativ) ir ensit niht wise liute, BESCHIMPFUNG daz ir so vil hiute BEGRÜNDUNG 90 gevräget von minem herren [...]. Bezeichnung als FRAGE, nicht als AUFwiltü daz ich dichs erläze, FORDERUNG so rit dine sträze unhöfliche AUFFORDERUNG und schabe dich der sunnen haz.' unhöfliche AUFFORDERUNG. Damit weist sich der folgende Hinweis als unrichtig: „[Erec] äußert sich stets maßvoll, selbst wenn ihn seine Gegner beschimpfen" (Zutt [wie Anm. 2], S. 72).
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monstrativ höfliche Ansprache verbal offensichtlich ebenso unwirsch wie später die Riesen, aber sein Redebeitrag wird nur in indirekter Rede wiedergegeben (Daz getwerc wolde ir niht sagen / unde hiez si stille dagen, / unde daz si in vermite: / si enweste war nach si rite, v. 44—47). Der Peitschenhieb des Zwerges ist keine unmittelbare Folge des Dialoges, sondern der Tatsache, dass die maget den Zwerg nach seiner unfreundlichen Antwort ignoriert und an ihm vorbeireiten will, den ritter vrägen msere / selben wer er wsere (v. 50f.). Nonverbal überschreitet die maget damit wohl die ihr (nur vom Zwerg oder auch vom Erzähler?) gesteckten Grenzen; die Reaktion des Zwerges wiederum wird vom Erzähler eindeutig negativ kommentiert, denn er schlägt das Mädchen, daz si [Cadoc in gewissem Sinne vergleichbar] mal da von gewan (v. 58). Trotz seiner berechtigten Wut: Erec ruft dem Zwerg, sobald er in Hörweite ist (v. 74f.), die Beschimpfung ir weniger zu (vgl. v. 74) und formuliert direkte Vorwürfe (v. 78); er spricht unhöfisch, 49 der Dialog ist erfolglos (wenn auch wohl nicht n u r wegen Erecs Wortwahl). Im Gespräch mit Koralus, Enites Vater, ist Erecs verbales Handeln erst beim zweiten Versuch erfolgreich. War er zunächst noch mit zwivel (v. 299) auf Koralus zugegangen, sich nonverbal mit betonter Höflichkeit verhaltend (sin hende habete er vür sich, / einem wol gezogenen manne gelich, v. 298f.) und seine Bitte um Unterkunft im höflichen Konjunktiv formulierend (v. 302: „herre, mir wsere herberge not"), so äußert er wenig später seine Bitte um Enites Hand in ausgesprochen unangemessener Form: „[...] so soldet ir mich län riten / mit iuwer tohter Ernten / üf die selben höchzit [...]" (v. 504-506). Der Form nach („so soldet ir") ist dies eine Aufforderung, ein Befehl geradezu, keine Bitte. Koralus reagiert verbal und nonverbal sehr heftig, mit jämer (v. 526), der so stark ist, daz er küme vür brähte / die rede der er gedähte (v. 529f.). Erst durch diese Reaktion erfährt Erec, dass er seine Bitte falsch formuliert hat, indem er sich u.a. der falschen Illokutionsindikatoren bedient hat: Enites Vater versteht Erecs sprachlich so anmaßend formulierte Bitte bzw. Aufforderung, die sich in den Aspekt der Verarmung der Familie, die einer Hochzeit im Wege stehen könnte (vgl. v. 540-549), gar nicht erst einlebt, als 'spot' (ν. 532), als 'schimph' (v. 546). Dieses löst wiederum größte Verlegenheit bei Erec aus (Erec wart von der rede röt, v. 560) und muss von diesem mit einigem sprachlichen Aufwand korrigiert werden. Dabei nimmt Erec Koralus' Bezeichnung seines Sprechaktes als „schimph" (v. 563) und „spot" (ν. 566) wörtlich wieder auf, um sie abstreiten zu können; er bezeichnet seine eigenen Worte kontrastiv als „ernest" (v. 565) und beteuert, nunmehr explizit kommissiv und unter gehäuften Wahrheitsbeteuerungen, „ [...] und wizzet rehte äne wän, / ich leiste als ich gelobet hän" (v. 586f.; vgl. v. 567). Erec korrigiert sein unangemessenes Sprechen aufgrund von Koralus' Reaktion, der Dialog ist in zweiter Instanz erfolgreich. 49
Anders als in der Riesen-Szene hat die Beschimpfung des Zwerges, Erec solle sein klaffen aufgeben (v. 83), hier somit eine gewisse Berechtigung.
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Im Gespräch mit den Riesen dagegen verhält sich Erec verbal von Anfang an vorbildlich. Der Erzähler skizziert ihn als einen sich seines sprachlichen Handelns sehr bewussten Sprecher, der seine positiv konnotierten Illokutionen (insbesondere die Absicht, nicht beleidigen zu wollen) nunmehr mehrfach explizit verbalisiert, 50 während er seine negativ konnotierten Illokutionen (insbesondere die Direktiva) abschwächt. Dabei beschreibt der Erzähler, anders als in der Szene mit dem Zwerg Maledicur, dass Erec seine primären, emotionalen, affektbetonten Reaktionen unterdrückt. 51 Erec macht jedoch insofern einen neuen Fehler, als er sich einem der höfischen Sphäre nicht angehörigen Zuhörer zuwendet; erneut ist er erfolglos. Es ist dieses ein Beispiel für formvollendetes Sprechen, das jedoch an ein unangemessenes Gegenüber gerichtet wird; der Dialog scheitert nicht zuletzt deswegen. 52 Im nachfolgenden Gespräch mit Cadoc zeichnet der Erzähler Erec dann in einer Situation, in der er mit einem der höfischen Sphäre entstammenden Dialogpartner situations-, d.h. auch: gesprächspartnerbezogen angemessen und (deswegen) erfolgreich kommunizieren kann; die von Erec als Mitteilung über angebliches eigenes Unglück gestalteten Redebeiträge (vgl. insbesondere v. 5674: „[...] wie dicke ich wirs gehandelt bin!") sind implizit, im Sinne der kommunikativen Indirektheit, als Trost gemeint, und sind als solche perlokutiv erfolgreich (v. 5675: mit dirre rede tröste er in). Martin Jones hat gezeigt, dass die einfühlsame Verstellung 53 hier ausschlaggebend ist, das Sprechen durch schcenen list (ν. 5644): Ein gewisses Maß der Verstellung, und das heißt eigentlich: der Lüge, 54 wird als (positiv konnotierter) list begriffen, wenn es dem Zweck dient, etwas zu erreichen, was sonst nicht erreicht werden könnte. 55 Auch im Dialog mit den Riesen hatte der Erzähler
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S. v. 5437: „[...] ichn vräge iu niht ze leide [...]"; v. 5462: „[...] ich enhän ez niht durch übel getan [...]"; v. 5465: „[...] daz ensi iu niht swasre [...]". Vgl. v. 5434: Erec erbleicht oder errötet vor Wut und Mitleid. - In der Szene mit Maledicur wird erst n a c h dem gescheiterten Dialog angegeben, daz er [Erec] wisltchen / sinem zorne künde entwichen (v. 100f.); dieses bezieht sich außerdem darauf, dass Erec unbewaffnet ist und deswegen nicht angreift, und nicht auf eine generelle Affektkontrolle beim Sprechen. Zur Bedeutung des Affekts der schäme (v. 110, ähnlich v. 106, 122) für das Handeln des Protagonisten s. David N. Yeandle, 'schäme' im Alt- und Mittelhochdeutschen bis um 1210. Eine sprach- und literaturgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Herausbildung einer ethischen Bedeutung, Heidelberg 2001, S. 101, 113f. Auch in diesem Sinn ist die Selbstbezeichnung Erecs als „unhovebsere" (v. 5064) zutreffend. Martin H. Jones, „Durch schcenen list er sprach: Empathy, Pretence, and Narrative Point of View in Hartmann von Aue's 'Erec'", in: Blütezeit. Festschrift für L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag, hg. von Mark Chinca, Joachim Heinzle und Christopher Young, Tübingen 2000, S. 291-307, hier S. 292, schreibt Erec die „capacity to put himself into the position of another person" zu, „to appreciate [oder: to anticipate, N.M.] his feelings and to react to them". Vergleichbar kommentiert der Erzähler Enites list gegenüber Oringles: Sie habe äne sünde gelogen (v. 4026). Vgl. Jones (wie Anm. 53), S. 294, zum list: „There is a moral purpose, directed to the well-being of the other (Cadoc) in this case; there is skill, in that Erec finds the right sentiments [oder: the
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vermerkt, Erec spreche mit listen (v. 5458); zu zeigen war, dass sich diese Kunst nicht nur im Inhalt der geäußerten Worte56 und im Vermögen, die Reaktion des Gegenübers zu antizipieren, manifestiert, sondern bei Hartmann gerade auch in der höflichen Form des Sprechens, in der Beteuerung guter Absichten, in der auffälligen und gehäuften Verwendung von Formen kommunikativer Indirektheit insbesondere bei Direktiva, die von der textintern angesprochenen Figur wie vom textexternen Rezipienten entschlüsselt werden müssen. Zu einem Verständnis indirekten Sprechens sind die Riesen nicht in der Lage, den höfischen intradiegetischen Figuren sowie den idealen textexternen Rezipienten jedoch wird das entsprechende Entschlüsselungsvermögen zugesprochen.57 Während Erec im empathischen Gespräch mit Cadoc verbal richtig handelt, macht er im Dialog mit den Riesen den Fehler, sich in Wesen einfühlen zu wollen, die dieser Einfühlungsanstrengung unwürdig sind; die Riesen erkennen lediglich die grammatikalische Oberfläche der sprachlichen Handlungen (die Satzform der Frage), nicht aber die durch die Illokutionsindikatoren suggerierte oder gar die indirekte Illokution. So wird in der Szene, in der Erec auf die Riesen stößt, deutlich, dass im Erec nicht nur ideale Beispiele für das höfische Sprechen gegeben werden, sondern auch über die Grenzen von dessen Einsatzmöglichkeiten diskutiert wird. Nachdem Erec das höfische Sprechen gelernt hat, lernt er zusätzlich dessen situativ angemessenen Einsatz; mit Erec lernt auch der textexterne Rezipient des Epos.
Betont sei abschließend, dass es diesbezüglich signifikante Unterschiede zwischen der Cadoc-Szene in Chretiens und in Hartmanns Fassung des Stoffes gibt. Den kurzen Bemerkungen bei Peter Wiehl und Martin Jones, beide Fassungen stimmten in dieser Passage weitgehend überein,58 ist zu widersprechen: Es stimmt der grobe Verlauf der Szene über-
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right words, N.M.] to comfort Cadoc; and there is also an element of pretence"; es handle sich damit um „tactful, self-deprecating untruth" (ebd.). Erec „shows himself able and willing to pretend to be other than he is, even to the extent of presenting himself in a distinctly unfavourable light" (S. 304). - Vergleichbar ist bereits die Angabe, dass Erec Maledicur androht, ihm die Hand abzuschlagen, wobei der Erzähler kommentiert: daz enhäte doch der guote / niht in sinem muote / daz er also tuon solde, / wan daz er gerne wolde / daz getwerc warnen da mite, / daz ez dar nach vermite, / und liez ez äne grdze bete /daz er im des niht entete (v. 1056-1063). In diesem Sinn ist list auch bereits im sprachlichen Handeln etwa in der 'Spielmannsepik' zu finden, vgl. Hartmut Semmler, Listmotive in der mittelhochdeutschen Epik. Zum Wandel ethischer Normen im Spiegel der Literatur, Berlin 1991 (Phil.St.u.Qu. 122). Dieses sprachliche Verhalten wird offensichtlich von allen Schichten der am Hof Anwesenden eingefordert, vgl. die ähnlich vorbildliche Rede des Knappen des namenlosen Grafen: Es bewegete in ir arbeit. / er sprach: „herre, und wasrez iu niht leit, / ich vrdgete iuch msere / war iuwer wille wsere. / saget mirz durch iuwer diemuot: / ich vräge iuch niuwan durch guot [...]" (v. 3514-3519). Jones (wie Anm. 53), S. 291: ,,[U]p to this point [v. 5709, N.M.] Hartmann's presentation of it [der aventiure, N.M.] is almost identical with that of Chretien in 'Erec et Enide'"; Wiehl (wie
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ein, das Verfehlen des Dialogziels, Cadoc durch verbales Handeln zu befreien, keinesfalls jedoch das jeweilige sprachliche Verhalten. Bei Chretien lautet die Szene wie folgt: 59 Et Erec vint apres toz seus, molt dolanz et molt angoisseus 4375 del chevalier, quant il le vit demener a si grant despit. Antre deus bois an une lande, les a atainz, si lor demande: „Seignor", fet il, ,,por quelforfet, 4380 feites a cest home tel let, qui come larron I'an menez? Trop laidement le demenez: ausi le menez par sanblant con se il fust repris anblant. 4385 Grant viltance est de chevalier nu despoiller, et puis Her et batre si vilainemant; randez le moi, jel vos demant par franchise et par corteisie; 4390 par force nel demant je mie." 'Vasax, 'font il, 'a vos que tient? De molt grant folie vos vient, quant vos rien nos an demandez. S'il vos poise, si I'amandez.' 4395 Erec respont: „ Por voir m 'an poise. Ne I 'an manroiz hui mes sanz noise; quant vos bandon m'an avezfait, qui le porra avoir, si I 'ait. Traiez vos la, je vos desfi: 4400 ne Van manroiz avant de ci qu 'aingois η Ί ait departiz cos. " 'Vasax,'font il, 'vosestesfos quant a nos vos volez conbatre. Se vos est'iez or tel quatre, 4405 η 'avre'iez vos force vers nos
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(emotionale Reaktion Erecs)
(Erzähler bezeichnet Erecs Sprechakt als FRAGEN) (Höflichkeitsanrede) W-FRAGE (Auskunftsfrage, deren Antwort Erec bereits bekannt ist; oder allenfalls Frage nach Gegendarstellung; Vergleich) (direkte[r]) BESCHULDIGUNG / VORWURF 60 / TADEL FESTSTELLUNG 61 (indirekt: BESCHULDIGUNG / VORWURF / TADEL) (direkte und von Erec selbst als solche bezeichnete) AUFFORDERUNG BEGRÜNDUNG (Hinweis auf hövescheit) (indirekte) DROHUNG (Hinweis auf manheit) Gegen-W-FRAGE Situations-BESCHREIBUNG; BESCHIMPFUNG (Riese bezeichnet Erecs Sprechakt als FRAGEN) AUFFORDERUNG Situations-BESCHREIBUNG DROHUNG ANGEBOT AUFFORDERUNG, HERAUSFORDERUNG 62 DROHUNG BESCHIMPFUNG BEGRÜNDUNG
Anm. 2), S. 172: „In den folgenden Szenen decken sich beide Fassungen". Ähnlich auch Jill P. McDonald, Hartmann von Aue's 'Erec' and Chretien de Troye's Erec et Enide'. The Extent and Logic of Hartmann 's Transformations of Chretien 's Romance, Diss. Washington 1978, S. 180. Zitiert nach: Chretien de Troyes, Erec et Enide. Erec und Enide. Altfranzösisch / Deutsch, übersetzt und hg. von Albert Gier, Stuttgart 1987 (RUB 8360). Auch hier zieht der Vorwurf keinerlei Entschuldigung oder Rechtfertigung nach sich (vgl. oben, Anm. 32). Rolf (wie Anm. 24) führt das Belehren nicht im Rahmen der Assertiva auf; das Feststellen scheint diesem nahe verwandt. Die Verallgemeinerung im Ausdruck (chevalier statt ce / un chevalier) zeigt, dass Erec in der französischen Fassung durch autoritatives Sprechen überzeugen will. Vgl. auch die wohl sprichwörtlichen Aussagen in v. 4408^)410. Die Herausforderung, im Mittelalter ein quasi-juridischer Akt, wäre wohl der Familie der Deklarativa zuzuordnen.
200 ne c'uns aigniax antre deus los.' „Ne sai qu'an iert," Erec respont. „ Se Ii ciax chiet et terrefont, dons sera prise mainte aloe; 4410 tex vaut petit qui molt se loe. Gardez vos, car je vos requier." Li jaiant furentfort etfier, et tindrent an lor mains serrees les magües granz et quarrees. 4415 Erec lor vint lance sorfautre; ne redote ne l'un ne I'autre por menace ne por orguel [...].
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Situations-BESCHREIBUNG FESTSTELLUNG FESTSTELLUNG AUFFORDERUNG; ANKÜNDIGUNG
(Erzähler bezeichnet die Sprechakte der Riesen als DROHUNG)
Ein paar Beispiele für die Unterschiede seien hier aufgeführt: Bei Chretien ihrzen sich der Riese und Erec gegenseitig;63 die Riesen verhalten sich bei Chretien somit in diesem Punkt tendenziell höflicher, da Enide an anderer Stelle (den von ihr nicht erkannten) Givret duzt (vgl. v. 4991). Bei Chretien vergleicht der Riese Erec mit einem Lamm zwischen Wölfen (v. 4406), nicht mit einem Huhn; auch hier findet sich damit ein weniger unhöfischer Vergleich. Bei Chretien tadelt Erec die Riesen explizit für ihr Fehlverhalten (v. 4382), ohne konditionale Konstruktion und ohne Konjunktiv; er belehrt sie explizit über das richtige Verhalten eines Ritters (v. 4385—4387) und verweist dabei auf die „franchise" und „corteisie" (v. 4389). Erec verwendet Sprichwörter (vgl. insbesondere v. 4410), um seiner Argumentation autoritative Kraft beizusetzen. Im Bereich der verwendeten Sprechakte fällt auf, dass Erec in Imperativischen Direktiva spricht (s. etwa „randez le moi", v. 4388), die kommunikative Indirektheit fehlt weitgehend.64 Es fehlen darüber hinaus die Erzählerkommentare, die die Illokutionen Erecs und sein verbales Scheitern für den Rezipienten durchsichtig machen. Vielmehr scheint der Dialog im französischen Erec et Enide nicht auf ein Misslingen des Dialogs durch eine Fehlinterpretation der indirekten Illokutionen ausgelegt zu sein: Auf den Versuch des Verhandeins, dessen Scheitern auf keinerlei sprachliche Missverständnisse zurückzuführen ist, folgt die (perlokutionär erfolgreiche) Fehdeansage. Dies bedeutet, dass Hartmann gegenüber seiner Vorlage den Kontrast zwischen dem sprachlichen Verhalten des Riesen und Erecs verstärkt; das Problem situationsunangemessenen, zum Scheitern verurteilten Sprechens bringt er neu in die Szene ein. Hartmann lässt gerade den Riesen auf 'ere' und 'ruom' verweisen, die er durch einen Kampf mit Erec
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S. v. 4380-4383, 4388, 4396f„ 4399-4401, 4411 (Erec); v. 4392f„ 4402^1405 (Riesen). Zu den im Vergleich zum Deutschen anders distribuierten Anredeformen in den französischen Texten vgl. Julia Woledge, The Use of „ Tu " and „ Vous " in Medieval French Verse Romance from 1160 to 1230, Diss. London 1976. Die Drohungen und Vorwürfe werden zwar auch hier teilweise indirekt ausgesprochen, ihnen fehlen jedoch der die Illokution abschwächende Modus des Konjunktivs und die abschwächenden Modalverben.
Höfisches und unhöfisches Sprechen im Erec Hartmanns von Aue
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nicht gewinnen könne (v. 5481f.; vgl. auch 'du unwirdest dich', v. 5453), worin eine deutliche Ironie liegt: Ausgerechnet dem Riesen, den der Erzähler verbal wie nonverbal betont unhöfisch agieren lässt, werden (anders als bei Chretien) diese Leitwörter der höfischen Kultur in den Mund gelegt, obwohl die Riesen durch ihr Verhalten beweisen, dass sie den wahren Sinn dieser Wörter ebenso wenig verstanden haben wie den wahren Sinn der höfischen kommunikativen Indirektheit. Ein letzter Ausblick: Im wohl deutlich später entstandenen Iwein Hartmanns von Aue gibt es ähnliche explizite Benennungen der Sprecherabsichten und der Illokutionen einzelner Sprechakte, ähnliche Skizzen des Umgangs mit höfischem und unhöfischem Sprechen. Unter diesen ist Iweins Auseinandersetzung mit dem Torwächter, der die gefangenen 300 Damen bewacht und vom Erzähler innerhalb weniger Verse gleich sechsfach als schalc bezeichnet wird, 65 besonders interessant. Dieser versucht Iwein zu beleidigen, indem er ihm die Auskunft über die Damen verweigert, woraufhin der Erzähler fortfährt: Der riter [Erec] sprach „daz ist mir leit" / und gie lachende dan, / als der sich mittem bcesen man / mit Worten niht beheften wil: / er hete sin rede vür ein spil (v. 6278-6282). 6 6 Mit bcesen Menschen solle man sich nicht mit Worten beheften, man brauche sich nicht auf einen Dialog mit ihnen einzulassen - explizit wird hier verbalisiert, was bereits im Erec am Beispiel demonstriert wurde. Die Untersuchung der einzelnen Sprechakte und ihrer Illokutionskräfte gibt somit Auskunft über das Werkprofil des Erec und des Iwein, gleichzeitig jedoch auch über das Autorprofil Hartmanns: Hartmann erweist sich, so war zu zeigen, als der erste, der die neuen Ideale der situationsangemessenen verbalen hövescheit und Höflichkeit nicht nur von seinen handelnden Figuren praktisch vorführen lässt, sondern sie auch mit großer Differenziertheit reflektiert.
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S. v. 6238-6242: der schalc do schalc liehen sprach, / do er engegen dem tor gienc, / der schalc in schalc liehen enpfienc: / er sprach uz schalkes munde / so er s c ha l c liehest künde [...]. Benutzte Ausgabe: Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. von Georg F. Benecke und Karl Lachmann, neu bearbeitet von Ludwig Wolff, 7. Ausgabe, Bd. 1: Text, Berlin 1968. Iwein äußert, dass ihm das Verhalten des Wächters Leid täte, jedoch gibt der Erzähler Einblick in die wirkliche Absicht dieser Äußerung: Iwein nimmt den Wächter nicht ernst, er lässt sich somit nicht beleidigen, ähnlich wie sich Erec nicht von den Riesen beleidigen lässt. Iwein zeigt im Folgenden darüber hinaus ähnliches empathisches Vermögen wie Erec, als er die gefangenen Damen unter mehrfacher Abschwächung der Illokution seiner Aufforderung (Konjunktiv, Konditionalgefüge) wie folgt anspricht: „ [...] enwxrez iu niht leit, / so het ich gerne vräge / iuwer ahte und der mäge [...]" (v. 6304-6306).
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Zimmermann
Den Mörder des Gatten heiraten? Wie ein unmöglicher Vorschlag zur einzig möglichen Lösung wird - der Argumentationsverlauf im Dialog zwischen Lunete und Laudine in Hartmanns Iwein
Redeszenen in der höfischen Großepik sind keine Seltenheit, ja man kann mit Peter Wiehl von einer „einheitlichen Tendenz zum Redereichtum" sprechen, 1 die sich in der mittelhochdeutschen weltlichen Epik manifestiert. Allerdings handelt es sich nicht bei aller direkten Rede auch um dialogische Rede, 2 und nicht alle Dialoge sind gleich anspruchsvoll strukturiert. 3 Der Dialog zwischen Lunete und Laudine in Hartmanns Iwein (v. 1783-1992) 4 gehört mit Sicherheit zu den komplexeren Dialogen der höfischen Großepik, und diese Komplexität bietet Ansatzpunkte für verschiedene Analyseverfahren. Primär wird hier von einem argumentationslogischen Ansatz ausgegangen, 5 auf dessen Grundlage die zentralen Argumentationskonstituenten im Dialog zwischen Lunete und Laudine herausgearbeitet werden. Auf dieser Basis können dann gewisse Details der Gesprächsführung einer differenzierteren Beurteilung zugeführt werden, wobei verschiedenartige Instrumentarien zur Analyse literarischer Dialoge zum Einsatz gelangen. Dieser Reihenfolge liegt die Erkenntnis zugrunde, dass literarische Gespräche zunächst einmal im Medium der Schriftlichkeit geplante sind. Dies gilt gerade auch für die höfische Epik - ungeachtet ihrer mündlichen Aufführung in der Vortragssituation - , weshalb mit der argumentationstheoretischen Analyse zunächst der Vertextung der Redeszene auf den Grund gegangen wird, bevor dann die Inszenierung als Gespräch in den Vordergrund rückt.
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Peter Wiehl, Die Redeszene als episches Strukturelement in den Erec- und Iwein-Dichtungen Hartmanns von Aue und Chrestien de Troyes, München 1974 (Bochumer Arbeiten zur Sprachund Literaturwissenschaft 10), S. 67. Vgl. Andreas Urscheler, Kommunikation in Wolframs 'Parzival'. Eine Untersuchung zu Form und Funktion der Dialoge, Bern u.a. 2002 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 38), S. 34. Zudem brauchen Dialoge nicht zwingend in direkter Rede wiedergegeben zu werden; hierzu gibt es die Möglichkeiten der indirekten Rede und des Redeberichts, vgl. ebd., S. 34-46. Sämtlichen /wem-Zitaten und Bezügen wird folgende Ausgabe zugrunde gelegt: Iwein. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hg. von Georg F. Benecke und Karl Lachmann, neu bearbeitet von Ludwig Wolff, 7. Ausgabe, Bd. 1: Text, Berlin 1968. Zum theoretischen Instrumentarium vgl. v.a. Paul Michel, Alieniloquium. Elemente einer Grammatik der Bildrede, Bern 1987, S. 88-136; eine Konkretisierung findet sich z.B. bei Angelika Linke und Paul Michel, „Text als Netzwerk", in: Alte Texte lesen, hg. von Alexander Schwarz, Angelika Linke, Paul Michel und Gerhild Scholz Williams, Bern 1988 (UTB 1482), S. 55-124 (vgl. v.a. die „exemplarische Analyse eines argumentativen Dialogs", S. 106-118).
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Erst im Anschluss an diese argumentationslogische und gesprächsanalytische Untersuchung der textuellen Mikro- und Mesoebene können die Ergebnisse mit Bezug auf die Makroebene, also auf den Gesamttext und darüber hinaus, gedeutet werden: Sie liefern Hinweise zur Beantwortung virulenter erzähltheoretischer und motivlicher Fragen sowie solcher der Lesersteuerung.
I.
Die Konstituenten einer Argumentation
Zunächst soll hier in knapper Darstellung das argumentationslogische Instrumentarium vorgestellt werden, das in der Folge auf den zu diskutierenden Dialog angewandt wird. Wer etwas behauptet oder empfiehlt, was vom Gesprächspartner in Zweifel gezogen wird, muss das Beanstandete auf Grundlagen zurückzuführen versuchen, die auch vom anderen anerkannt werden: Er muss argumentieren respektive sich (genauer: seine Aussage) rechtfertigen. Dazu muss er etwas Zweifelhaftes durch etwas Unzweifelhaftes in seiner Gewissheit bestärken.6 Was muss er zur Erreichung dieses Ziels tun? Wir leben in einer durch das einer Sozietät gemeinsame Raster von „Institutionen" (Arnold Gehlen) strukturierten Welt. Die Werte [G]7 sind intersubjektiv gültig; die Konzepte [K] beruhen auf dem gemeinsamen Wissensschatz bewährter Praxis; eine Situation wird immer schon im Raster eines „system of commonplaces" gedeutet [S], welches das Amorph-Kontingente systematisierend reduziert [...]. 8
Als weitere Kategorie von jeweils situativer Relevanz ist ein Aspekt zu nennen, für den wir hier den Begriff „Nebenfolgen" [NF] übernehmen: „Wer handelt, greift i.d.R. so in seine Umwelt ein, dass sich auch noch andere Dinge ändern als nur gerade die zu verbessernde Situation".9 Solche Nebenfolgen können in Konflikt mit den vom Handelnden vertretenen Werten, aber auch mit jenen anderer Betroffener, primär natürlich des Gesprächspartners, stehen oder geraten. Wenn jemand also seine Behauptung oder Empfehlung rechtfertigen will, dann muss er dem Opponenten beweisen, dass sie wie oben beschrieben auf einem gemeinsamen Raster beruht. Dazu ist freilich prinzipiell keine überragende geistige Leistung notwendig, zumal Menschen in soziale Deutungsmuster [S] hineingewachsen sind, Kenntnis vieler Handlungskonzepte und Kausalitätszusammenhänge [K] haben und sich nicht immer wieder neu 6
7 8 9
Marcus Fabius Quintiiianus, Institutio oratoria, hg. und übersetzt von Helmut Rahn, Bd. 1, zweite, durchgesehene Auflage, Darmstadt 1988, V,x,l 1. Michel (wie Anm. 5) wählt [G] für „Grundsatz" - ich verwende im Folgenden [W] für Wert. Ebd., S. 110. Linke und Michel (wie Anm. 5), S. 76.
Der Argumentationsverlauf
im Dialog zwischen Lunete und Laudine in Hartmanns
Iwein
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für Werte [W] (die oft die Funktion von Zielen oder Normen einnehmen können) entscheiden müssen, da ihnen dies die Gesellschaft abnimmt. 10 Nur die Nebenfolgen sind in etwas größerem Ausmaß situationsabhängig, aber auch hier wird oft auf gesellschaftlich vorgeprägte Muster zurückgegriffen. Freilich ist argumentativ im Vorteil, wer Einblick in überdurchschnittlich viele verschiedene Deutungsmuster hat, besonders viele Kausalitäten und auch das gesellschaftliche Wertesystem gut kennt. In mündlichen Diskussionen kommt noch hinzu, dass es von Vorteil ist, möglichst schnell über dieses Wissen zu verfügen - wem geschieht es nicht regelmäßig, dass ihm erst einige Zeit n a c h einer Diskussion in den Sinn kommt, was er hätte sagen sollen? Daraus kann umgekehrt eine Faustregel abgeleitet werden: Je konzentrierter [W], [K], [S] und [NF] in einem Dialog erwähnt werden, desto unnatürlicher - oder eben: 'gemachter' - wirkt er. Folglich kann eine extreme Argumentationsdichte in schriftlich repräsentierten Dialogen mitunter gerade als Produkt der Schriftlichkeit, und im Bereich der literarischen Diegesis überdies als Fiktionalitätssignal," verstanden werden. Nun mag man einwenden, [W], [K], [S] und mehr noch [NF] seien nie apriorische Tatsachen, sondern stetem Wandel unterworfene kommunikative Produkte. Dies trifft in der Tat zu, widerlegt aber nicht deren erstinstanzliche Relevanz. Vielmehr geschieht der besagte Wandel in und durch die Kommunikation' 2 - wobei der jeweilige Einzelfall immer diskursiv ausgehandelt werden, also wiederum anhand von Werten, Kausalitätszusammenhängen und Situationsdeutungen operiert werden muss. 13 Und zumal nur der Einzelfall einer konkreten Analyse zugänglich ist, sind für eine solche also 1.
[W] (Werte/Normen),
2.
[K] (Handlungskonzepte/Kausalitätszusammenhänge),
3.
[S] (Situationsdeutungen) und
4.
[NF] (Nebenfolgen)
durchaus taugliche Kategorien, wenn die Struktur von Argumentationen untersucht werden soll. Aus diesem Grund werden sie der folgenden Dialoganalyse zugrunde gelegt, wobei hier auf ihre detailliertere Erläuterung verzichtet wird. 14 10
Bis hierher beruhen die Ausführungen auf Michel (wie Anm. 5), S. 1 lOf. ' 1 Als Fiktionalitätssignal ist besagte Konzentration in unserem Kontext freilich von beschränktem Interesse, zumal die höfische Epik generell von einer „wirklich lebensnahen Redewiedergabe [...] noch weit entfernt" ist, wie Urscheler (wie Anm. 2), S. 28f., mit Bezug auf Wolfram von Eschenbach feststellt - eine Tatsache, die am prominentesten an der auch im Bereich der Dialogwiedergabe in Metrik und Reim gebundenen Sprache ersichtlich wird. 12
13 14
Kommunikation ist ein enorm vielschichtiger Prozess, wie v.a. Niklas Luhmann anhand seiner Systemtheorie aufgezeigt hat (vgl. zur Einführung Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990 [suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1001]). Diese Argumentation beruht im Wesentlichen auf Michel (wie Anm. 5), S. 111. Eine solche findet sich ebd., S. 112-121.
206
II.
Tobias Zimmermann
Der Dialog zwischen Lunete und Laudine
Welche Konsequenz der Dialog nach sich zieht, ist bekannt und soll nicht im Fokus dieser Untersuchung stehen: Lunete überzeugt Laudine, Iwein zu heiraten (v. 2009-2057). 1 5 Uns soll nun aber nicht das Ergebnis des Dialoges, sondern sein Verlauf interessieren: Welcher Argumentationsverlauf entspinnt sich zwischen den beiden Akteurinnen? Dabei ist vorauszuschicken, dass diese Frage auf zwei unterschiedliche - wenn auch nur analytisch trennbare - Ebenen zielt: einmal auf die Ebene des erzählten Geschehens, darüber hinaus aber auch auf die Ebene der erzählerischen Konstruiertheit.16 Diese ist im Rahmen eines Dialoges wie dem hier untersuchten speziell interessant, da doch der Erzähler in ausgeprägt „dramatischen"17 Passagen anscheinend stark zurücktritt, wir uns aber dennoch in einer Diegesis befinden. Dieser Widerspruch dürfte zudem im Rahmen der Rezeptionssituation, auf welche die höfische Epik ursprünglich zugeschnitten war, noch äugen- respektive ohrenfälliger gewesen sein - denn es ist davon auszugehen, dass die höfische Epik zu guten Teilen im Medium der Mündlichkeit rezipiert, also durch einen Sprecher vorgetragen wurde.' 8 Man darf wohl damit rechnen, dass die Sprecher in Dialogszenen sich nicht auf eine rein diegetische Rede beschränkten, sondern mimetische Mittel benutzten, sowohl um des Auseinanderhaltens der verschiedenen Sprecher als auch um der besseren Unterhaltung willen. 15
16
17
18
Es sei an dieser Stelle nicht verschwiegen, dass sich um die Frage nach der Heirat eine Debatte entwickelt hat, die noch nicht entschieden scheint und auch Fragen der Textkritik betrifft; vgl. zum letzten Aspekt Werner Schröder, Laudines Kniefall und der Schluß von Hartmanns Iwein, Stuttgart 1997 (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse/Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Jg. 1997 2). Allerdings spielt diese Debatte in unserem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle. Urscheler (wie Anm. 2), S. 105-107, spricht im Anschluss an Gerhard Bauer, Zur Poetik des Dialogs. Leistung und Formen der Gesprächsführung in der neueren deutschen Literatur, Darmstadt 1969 (Impulse der Forschung 1), S. 24, in diesem Zusammenhang von der „Schauseite" des literarischen Dialoges. Dieser Begriff bezieht sich darauf, dass die Leser oder Zuhörer mehr „sehen" (bzw. lesen oder hören) als die erzählten Figuren. Meines Erachtens ist dieser Begriff aber missverständlich, da er ja das eben gerade nicht Sichtbare bezeichnen soll, nämlich die Rede des Erzählers, welche die Rezipienten lesen oder hören (aber nicht als Konkretum anschauen) und deren die erzählten Figuren nicht gewahr sein können. Deshalb spreche ich hier und im Folgenden von der erzählerischen Konstruiertheit, welche auch die im Vergleich zur übrigen Diegesis scheinbar dramatischen, aber gleichwohl von einem Erzähler arrangierten Dialoge betrifft. Ich bediene mich hier der erzähltheoretischen Terminologie im Anschluss an Gerard Genette, die in Bezug auf die Erzählerpräsenz von einer Skala mit den Polen „dramatischer Modus" (Erzähler scheinbar überhaupt nicht präsent) und „narrativer Modus" (ausgeprägte Präsenz des Erzählers) ausgeht (vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 47-49). Vgl. Urscheler (wie Anm. 2), S. 71f., und Joachim Bumke, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, Bd. 2, vierte, aktualisierte Auflage, München 2000 (dtv 30778), S. 46-50.
Der Argumentationsverlauf
im Dialog zwischen Lunete undLaudine
in Hartmanns
Iwein
207
Unser Dialog findet in folgender Situation statt: Iwein ist allein auf äventiure ausgeritten, hat an einer magischen Quelle 19 ein Unwetter ausgelöst, den Quellenbeschützer Askalon im Kampf besiegt, ihn auf seine Burg verfolgt und ihn dort äne zuht (v. 1056) erschlagen, wie der Erzähler kommentiert. Iwein ist nach dem Kampf trotz seines Sieges zwischen zwei Falltoren auf der Burg gefangen, aber die Zofe Lunete, die ihm gewogen ist, da er sie einmal am Artushof als einziger Ritter gut behandelt hatte, gibt ihm einen Zauberring, mit dem er unsichtbar wird und sich so dem Zugriff der Häscher entziehen kann. Als er die um ihren Gatten trauernde Burgherrin Laudine erblickt, verliebt er sich unsterblich in sie. Lunete kann ihn gerade noch davon abhalten, sich Laudine zu erkennen zu geben - was seinen sicheren Tod bedeuten würde - und bringt ihn in einem sicheren Gemach unter. Nun geht sie zu Laudine, mit der sie dem Erzähler zufolge heimlich genuoc (v. 1789) ist, um mit ihr über alles sprechen und ihr Rat geben zu können. Das Ziel von Lunetes Sprechhandeln wird vom Erzähler schon im Eingang zum Dialog genannt: vil starke ranc dar nach ir muot / daz er herre wurde da (v. 1786f.): Sie will Laudine überzeugen, Iwein zu heiraten - der ihren geliebten Gatten äne zuht erschlagen hat. Dabei handelt Lunete in bester Absicht: st [...] tele daz durch allez guot (v. 1784f.), und mit der Formulierung, sie sei Laudine diu neehest und diu beste (v. 1792), spielt der Erzähler auf die christliche Nächstenliebe an.20 Die folgende argumentationslogische Analyse ist zweigeteilt, wobei die beiden Abschnitte jeweils anhand einer Graphik (die auch während der Lektüre der Analyse zur Übersicht herangezogen werden kann) zusammengefasst und besprochen werden.
19
20
Die mythischen (Zauber-)Motive werden hier nicht näher behandelt, sondern einfach als Element der erzählten Welt hingenommen. Zum mythischen Anteil des Yvain vgl. z.B. Peter Ihring, „Die überlistete Laudine. Korrektur eines antihöfischen Weiblichkeitskonzepts in Chretiens Yvain", in: Arthurian Romance and Gender, hg. von Friedrich Wolfzettel, Amsterdam/Atlanta 1995 (Selected Proceedings of the XVII th International Arthurian Congress), S. 147-159. In dieser eindeutig positiven Darstellung von Lunete unterscheidet sich Hartmanns Iwein klar von Chrestiens de Troyes Yvain, in dem Lunete eine ambivalentere Rolle spielt - ist doch ihre Beziehung zu Laudine etwas weniger freundschaftlich und trägt auch intrigante Züge (vgl. Joseph M. Sullivan, „The Lady Lunete: Literary Conventions of Counsel in Chretien's Yvain and Hartmann's Iwein", in: Neophilologus 85 [2001], S. 335-354, S. 340f., und Renate Schusky, „Lunete - eine 'kupplerische Dienerin'?", in: Euphorion 71.1 [1977], S. 18^t6, hier S. 19). Anhand dieser Erläuterung sollte auch klar geworden sein, dass der Einbezug von Hartmanns Vorlage für unsere Analyse des Dialoges zwischen Lunete und Laudine wenig ergiebig ist, da Hartmann (nicht nur an dieser Stelle) eine durchaus eigenständige Umsetzung vorgenommen hat. Dies wird Uberzeugend herausgearbeitet in Edda Spielmann, „Chretien's and Hartmann's Treatment of The Conquest of Laudine", in: Comparative Literature 18 (1966), S. 242-263. Hingegen erhellen die in der germanistischen Forschung häufigen Äußerungen wie jene von Joachim Bumke, Hartmanns Iwein schließe sich „der französischen Vorlage viel enger" an als sein Erec (Joachim Bumke, Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter. Ein Überblick, Heidelberg 1967, S. 31), diesen Umstand nicht immer gebührend deutlich.
208
Tobias
Zimmermann
Argumentationslogische Analyse des Dialoges zwischen Lunete und Laudine, Teil I Lunete beginnt den Dialog rhetorisch und psychologisch geschickt mit einer captatio benevolentiae und spricht ein Lob an die Adresse ihrer Herrin aus: „nü sol man schouwen / alrerst iuwer vrümekheit / dar an daz ir iuwer leit / rehte und redelichen traget. / ez ist wtplich daz ir claget [...]" (v. 1796-1800). Damit setzt Lunete auch gleich einen ersten Wert: Eine Frau darf und soll trauern [Wl], Auf dieser Basis ist denn auch das Lob erfolgt doch bereits im nächsten Vers nach der Nennung von Wl erfolgt eine Einschränkung: „[...] und muget ouch ze vil clagen [...]" (v. 1801) [Sl]. Wl wird damit sogleich revidiert: Eine Frau darf und soll trauern, aber nicht zu sehr [Wl']. Lunete liefert auch gleich mit einer Situationsdeutung eine erste Erklärung für diesen Zusatz: „[...] uns ist ein vrumer herre erslagen [...]" (v. 1802) [S2]. Auf ihre Situationsdeutungen wendet Lunete deshalb das folgende Handlungskonzept an: „[...] nü mac iuch got wol stiuren/ mit einem also tiuren [...]" (v. 1803f.) - es soll also ein neuer Herr her, und zwar möglichst ein ebenso trefflicher [Kl]. Indem Lunete in Vers 1802 das Pronomen „uns" statt wie in Vers 1803 „iuch" verwendet, bringt sie dabei eine neue, soziale Dimension ins Spiel: Es geht ihr bei ihrer Argumentation nicht primär um Laudines Gatten, sondern um die Funktion des Landesherrn, deren Vakanz beendet werden soll. Laudine reagiert fragend, und damit ist das dialogische Eis gebrochen: 'meinstuz so?' „vrouwe, ja." / 'wä wsere der?' „eteswä" (v. 1805f.). Mit dieser Hemistichomythie gewinnt nun der Dialog rasant an Fahrt, und Lunete reagiert auf Laudines rhetorisch gemeinte Frage, wo denn ein solch trefflicher Herr zu finden sei, scheinbar ausweichend, gießt aber mit dieser unbestimmten Antwort eher noch mehr Öl ins Feuer, zumal man das „eteswä" [S3] auch so verstehen kann, dass es gar nicht so darauf ankommt, wo man sucht, dass also ein solcher Herr gleichsam an vielen Orten zu finden ist. Laudine scheint Lunetes Antwort denn auch eher auf diese Weise aufzufassen, ist doch ihre Reaktion harsch: 'du tobest, ode ez ist din spot [...]' (ν. 1807) [S4]. Laudine entwertet damit Lunetes Argumentation, insbesondere S3, durch das Bestreiten der Sinnhaftigkeit ihrer Aussage. Dies ist ein zugleich sachfremdes und destruktives Argument, mit dem Laudine auch ein erstes Mal auf die Machtverteilung verweist - einen solch rüden Vorwurf kann sich in der höfischen Welt nur die höhergestellte Person leisten. Laudine belässt es aber nicht bei diesem sachfremden Argument, sondern schickt auch noch ein sachliches nach, das sich ebenfalls auf S3 bezieht: '[...] und kerte unser herre got/allen
sinen vliz dar
an, / ern gemachte niemer tiurem man' (v. 1808-1810). Laudine liefert also eine zu S3 konträre Situationsdeutung: Ein edlerer Mann als Askalon ist nicht irgendwo, sondern nirgendwo zu finden, weil Gott gar keinen besseren schaffen kann [S5], Dieses Argument ist nicht nur deshalb interessant, weil es irrational und damit in einem rationalen Diskurs wohl
Der Argumentationsverlauf
im Dialog zwischen Lunete und Laudine in Hartmanns Iwein
209
inferior ist, sondern vor allem auch, weil Laudine damit zugleich ein näherliegendes nicht vorbringt - nämlich, dass es noch zu früh ist, um wieder zu heiraten. Dieses Argument, das wohl mit Bezug auf ihre persönliche Situation das stärkste wäre, bringt Laudine auch im weiteren Argumentationsverlauf nicht vor. Daraus ist zu erschließen, dass sie mit Lunetes Situationsdeutung S2 einig geht, dass die Vakanz der Landesherrschaft das primäre Problem darstellt. 21 Zudem wird damit auf der Ebene der erzählerischen Konstruiertheit vermieden, dass in diesem Dialog die Rechtsfrage auftaucht, ob denn Laudine schon wieder heiraten dürfe. Volker Mertens hat in einem Rückgriff auf die historische Realität nachgewiesen, dass „die rasche Wiederverheiratung einer politisch exponierten Witwe auf Billigung durch den Zeitgeist hoffen durfte [und] sich offenbar kaum durch dagegenstehende kirchliche Postulate behelligen ließ". 22 Freilich kann die (für die moderne Literaturwissenschaft aber auch nicht sehr bedeutsame) Frage nicht entschieden werden, ob diese Rechtsfrage durch die erzählerische Konstruiertheit bewusst ausgeblendet wurde, um den Dialog zu anderen Fragen zu lenken, oder ob sich die Frage ganz einfach weder für den Autor, den Erzähler noch das Publikum stellte. Laudine lässt es aber nicht bei S5 bewenden, sondern sie liefert auch noch eine persönliche Situationsdeutung [S6]: '[...] da von sol sich mm senediu not, / ob got wil, unz an mtnen tot /nimer
volenden [...]' (v. 1811-1813). Aus der persönlichen Not heraus greift sie
zudem mit ihrem Todeswunsch [K2] auf ein anderes Handlungskonzept zurück, als es Lunete mit K l tut: '[...] den tot sol mir got senden, / daz ich nach minem herren var [...]' (v. 1814f.). Laudine lässt es also nicht nur bei der destruktiven Deutung S4 bewenden, sondern macht mit K2 auch einen (selbst-)zerstörerischen Handlungsvorschlag. Damit macht sie deutlich, dass sie sich Lunetes bisheriger Argumentation verweigert. Entsprechend schließt Laudine ihren Redebeitrag auch mit einer Drohung [NF1] an deren Adresse: '[...] du verliusest mich gar, / ob du iemer man gelobest /neben im [...]' (v. 1816-1818). Zudem wiederholt sie nochmals den destruktiveren Teil von S4: '[...] wan du tobest' (v. 1818).
21
Dies stimmt an dieser Stelle und für den Rest des fraglichen Dialoges, wie sich noch weisen wird. Hingegen stimme ich nicht mit Volker Mertens überein, der weit über diesen Dialog hinaus nur die politische Frage und die Rechtssituation in den Vordergrund stellt und etwa das Wort minne in v. 2055 als Rechtsterminus interpretiert, der auf „die Herstellung von Frieden und Harmonie" ziele (Volker Mertens, Laudine. Soziale Problematik im Iwein Hartmanns von Aue, Berlin 1978 [Beihefte zur ZfdPh 3], S. 15). Mertens Ansicht, dass zum Zeitpunkt der Eheschließung für Laudine „von personaler Liebe keine Rede sein" könne, halte ich deshalb mit Gert Kaiser für kaum haltbar (vgl. Gert Kaiser, „'Iwein' oder 'Laudine'", in: ZfdPh 99 [1980], S. 20-28, hier S. 24). Kaiser trifft zudem den Kern der Problematik, die mit einer übermäßigen Fokussierung auf die Rechtsfrage verbunden ist, wenn er betont: „Die prekäre Pointe der Geschichte liegt ja nicht in Laudines rascher Wiederverheiratung, sondern darin, daß sie den Mörder ihres Gatten heiratet. Nur deshalb ist das Geschehen überhaupt anstößig" (Kaiser, S. 22).
22
Kaiser (wie Anm. 21), S. 22; vgl. dazu Mertens (wie Anm. 21), S. 22-33.
210
Tobias
Zimmermann
Lunete ist also vorerst gescheitert und muss einen neuen Anlauf nehmen. Sie greift nochmals auf S2 und Kl zurück und baut beide aus: „ [...] irn wellet iuwern brunnen und daz lant und iuwer ere Verliesen, so müezet ir etewen kiesen der iun vriste unde bewar. manec vrum riter kumt noch dar der iuch des brunnen behert, enist da nieman der in wert. [...]" (v. 1824—1830)
Nun wird klar, wieso Lunete ihre Argumentation mit S2 eröffnet hat: Der Verlust von Askalon ist für sie deshalb so bedeutsam, weil er das Land gegen die abenteuerlustigen Ritter verteidigt hat, die von der magischen Quelle angezogen werden [S2']. Zugleich präzisiert Lunete auch K l : Das Land braucht einen neuen Schutzherrn für die magische Quelle [ K l ' ] . Aus der Kombination von S 2 ' und K l ' lässt sich zudem der Wert ableiten, dass das Land wegen der Quelle einen trefflichen Schutzherrn braucht [W2]. Lunete lässt es aber nicht bei diesen allgemeinen Ausführungen bewenden: „[...] und ein dinc ist iu unkunt: [...] daz nach disen zwelf tagen unde in kurzerme zil der kiinec Artus wil zuo dem brunnen mit her. enist dan nieman der in wer,
so ist iuwer ere verlorn. [...]" (v. 1831-1843) Lunete spielt hier ihr Wissen aus, das sie von Iwein hat, und liefert damit S7: Artus wird zur Quelle kommen, und wenn bis dann kein Verteidiger zugegen ist, wird Laudine ihre Ehre verlieren. Zudem tauge niemand in ihrem Gesinde zur Verteidigung der Quelle [S8]: „[...] und Misere ir aller vrümekheit / an ir einen geleit, / dam wasr noch niht ein vrum man [...]" (v. 1847-1849). Lunete breitet diese Situationsdeutung aus, indem sie betont, dass Artus über ein Heer mit den besten Rittern aller Zeiten verfüge (v. 1850-1856). Sie schließt ihren Redebeitrag mit einer unvollständigen Wiederaufnahme von K 2 ' ab und betont nochmals ihre gute Absicht dabei: „[...] so warnet iuch der wer enzit, / und lät iuwern swasren muot. /ichn
rätez iu niuwan durch guot" (v. 1860-1862). Übrigens handelt es sich
bei Vers 1862 auf der Ebene der erzählerischen Konstruiertheit um eine Wiederaufnahme der Erzähleraussage von Vers 1785, Lunete handle durch allez guot, womit Lunete absichtlich in ein gutes Licht gerückt wird. 23 Nun folgt ein Exkurs des Erzählers, der sich gleich in den beiden ersten Versen auf Lunetes Seite der Argumentation stellt: Swie st [Lunete] ir [Laudine] die wärheit / ze rehte hete underseit
23
[...] (v. 1863f.). Zudem nimmt er Laudines Einsicht vorweg, dass sie tat-
Vgl. dazu Anm. 20.
Der Argumentationsverlauf
im Dialog zwischen Lunete und Laudine in Hartmanns
Iwein
211
sächlich Rat brauche:24 und si sich des wol verstuonl, / doch tete si sam diu wip tuont: / st widerredent
durch ir muot / daz si doch ofte dunket guot (v. 1865-1868). Nun folgt jene
berühmte Frauenapologie, die mit den Worten endet: swer in danne unstxte giht, / des volgxre
enbin ich niht: / ich wil in niuwan guotes jehen. / allez guot miiez in geschehen
(v. 1885-1888). Damit ist ferner die Verbindung zu den Versen 1862 und 1785 hergestellt (vgl. den letzten Absatz) und die Güte Laudines25 wie Lunetes auktorial beglaubigt.26 [,J]semerlichen (v. 1889) nimmt Laudine nun ihren Todeswunsch [K2] wieder auf: 'nü clag ich gote min ungemach, / daz ich nü niht ersterben mac [...]' (v. 1890f.). Doch nun folgt eine entscheidende Einschränkung von K2: '[...] und möht ich umben tot min leben / äne houbetsünde gegeben, / des wurd ich schiere gewert, / od ichn vunde mezzer noch swert [...]' (v. 1895-1898): Weil Selbstmord eine Todsünde ist [W3], kommt ein solcher für sie trotz ihres starken Todeswunsches nicht in Frage [NF2]. Doch auch gegen eine erneute Heirat hat sie Einwände. Dabei ist das Wichtigste an der folgenden Aussage, dass es Laudine ist, welche die von Lunete bisher nur implizit vorgeschlagene Möglichkeit einer neuen Heirat nun explizit thematisiert: '[...] ob ich des niht geräten kan ichn müeze mit einem andern man mines herren wandel hän, sone wilz diu werlt so niht verstän als ez doch gote ist erkant: der weiz wol, ob min lant mit mir bevridet wsere, daz ichs benamen enbsere. [...]' (v. 1899-1906)
Laudine nennt hier als mögliche Nebenfolge einer Wiederverheiratung, dass die Welt sie für eine schnell getröstete Witwe halten könnte [NF3], selbst wenn Gott wisse, dass sie es nur tue, weil sie alleine das Land nicht beschützen kann. Laudine fährt nun fort: '[...] nü rät mir, liebe, waz ich tuo, / haeret dehein rät dä zuo [...]' (v. 1907f.). Damit hat Lunete,
24
25 26
Auch hier besteht in der Dialoggestaltung ein wesentlicher Unterschied zwischen Hartmann und Chrestien (vgl. Anm. 20): Letzterer lässt Laudine bereits an dieser Stelle Lunete wegschicken, die der Herrin darauf Undankbarkeit vorwirft. Zudem reduziert Hartmanns Erzähler mit seiner Vorwegnahme von Laudines Einsicht, dass sie Rat braucht, im Vergleich zu Chrestien die Spannung (vgl. Spielmann [wie Anm. 20], S. 247). Vgl. auch v. 1602, in welchem ihr vom Erzähler steet[iu] güete attestiert wird. Chrestien stellt hingegen an dieser Stelle vielmehr die Zwistigkeiten der beiden Frauen in den Vordergrund; vgl. dazu Chrestien de Troyes, Yvain, übersetzt und eingeleitet von Ilse NoltingHauff, München 1962 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 2), Text nach: Der Löwenritter (Yvain) von Christian von Troyes, hg. von Wendelin Foerster, Halle a.d.S. 1887, v. 1653-1665. Die von Hartmanns Erzähler in v. 1887f. betonte Güte hingegen kontrastiert mit der Aussage, die Chrestien in Yvains Mund legt, welcher in v. 1436 befindet, eine Frau habe 'tausenderlei Launen' (Que fame a plus de mil corages). Vgl. dazu auch Max Wehrli, „Nachwort", in: Hartmann von Aue, Iwein, aus dem Mittelhochdeutschen übertragen, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Max Wehrli, Zürich 2 1992, S. 527-542, hier S. 540f.
212
Tobias Zimmermann
nachdem es ihr ab Vers 1805 gelang, Laudine in einen Dialog zu verwickeln, einen zweiten entscheidenden Fortschritt in deren Verhalten bewirkt: Laudine, wenn auch immer noch nicht gerade hoffnungsvoll, will nun Rat von Lunete.
Zwischenfazit anhand einer ersten graphischen Darstellung Die Verwandlung in ein Beratungsgespräch befindet sich ziemlich genau in der Hälfte des Dialoges. Dies soll anhand einer graphischen Darstellung näher erläutert werden, welche die Situationsdeutungen [S], Werte [W], Handlungskonzepte [K] und Nebenfolgen [NF] zueinander in Bezug setzt. Laudines Argumente sind gegenüber jenen Lunetes durch graue Hinterlegung abgehoben. Wenn Argumente ein anderes unterstützen, wird das mit einem durchgezogenen, wenn sie ein anderes angreifen, mit einem gestrichelten Pfeil dargestellt. Situationsdeutungen [S]
Werte [W]
Handlungskonzepte [K]
Die Graphik vermag die Dynamik des bisher analysierten Argumentationsverlaufs deutlicher zu veranschaulichen als eine rein sprachliche Darstellung. In der Tendenz wohl wenig überraschend, in der Quantität aber schon etwas erstaunlich ist, dass von 16 Pfeilen, also argumentativen Bezügen, gleich sieben auf das Handlungskonzept „Land braucht Schutzherrn" (Kl) verweisen. Die Art der auf dieses Konzept weisenden Pfeile macht auch die argumentativen Positionen klar: Sämtliche unterstützenden Pfeile gehen von durch Lunete
Der Argumentationsverlauf
im Dialog zwischen Lunete und Laudine in Hartmanns Iwein
213
vorgebrachten Argumenten aus, während die beiden torpedierenden Pfeile von Laudines Argumenten ausgehen. Es zeigt sich zudem, weshalb Laudine argumentativ unterliegt und schließlich eingesteht, dass sie Rat braucht: Sie konzentriert sich zunächst darauf, Lunetes Behauptung S3 anzugreifen, ein Ersatz für Askalon könne „eteswä" (v. 1806) gefunden werden; dies zeigen die drei von Laudines Argumenten ausgehenden torpedierenden Pfeile. Da aber das Handlungskonzept Kl, dass ein neuer Schutzherr gesucht werden muss, dadurch ebenso wenig wirksam zu unterhöhlen ist wie durch Laudines ausführliche Nennung von Nebenfolgen (während Lunete dagegen überhaupt nicht mit dieser Sorte von Argumentationsbausteinen arbeitet), bleibt das Schutzherrkonzept Kl nicht nur bestehen - vielmehr verleihen ihm S7 und S8, Lunetes Schilderungen der von Artus ausgehenden Gefahr und der Unfähigkeit des Gesindes, zusätzliche Virulenz. Und als Laudine schließlich mit ihrem Todeswunsch auch gleich die von ihr vorgebrachte Handlungsalternative K2 als moralisch unhaltbar denunziert, hat sie sich argumentativ selbst den Wind aus den Segeln genommen. Da nützt es ihr auch wenig, dass sie nochmals einen Torpedierungsversuch gegenüber Kl unternimmt, indem sie die Furcht um ihren guten Ruf vorbringt - zumal ihr Lunete schon im Zusammenhang mit der drohenden Ankunft von Artus klar gemacht hat, dass ihre Ehre auf einer vitaleren Ebene auf dem Spiel steht (vgl. v. 1843). Zudem macht die Graphik klar, weshalb Laudine schließlich eingesteht, dass sie tatsächlich Rat benötigt: Nicht nur nimmt sie eine ablehnende Grundhaltung ein, die sich graphisch darin manifestiert, dass sechs ihrer acht argumentativen Bezüge negierender Natur sind, sondern sie bringt in ihrem jüngsten Redebeitrag mit W3, NF2 und NF3 Argumente vor, die gleich beide bisher zur Diskussion stehenden Handlungskonzepte ablehnen. Sie steht also vor zwei Handlungsalternativen, die sie beide nicht begehen will - hier ist guter Rat tatsächlich teuer.
Argumentationslogische Analyse des Dialoges zwischen Lunete und Laudine, Teil II Mit Laudines Ratsuche verwandelt sich das Gespräch von einem der Herrin durch die Untergebene aufgedrängen Dialog in einen Gesprächstyp,27 welcher der herrschenden 27
'Gesprächstyp' ist hier als 'weicher' Begriff ohne klassifikatorische Ansprüche im engeren Sinne zu verstehen, zumal „die linguistische Gesprächsforschung bisher noch damit beschäftigt ist, eine brauchbare Typologisierungsbasis zu erarbeiten; von der Aufstellung einer in sich stimmigen Gesprächstypologie ist man noch weit entfernt" (Klaus Brinker und Sven F. Sager, Linguistische Gesprächsanalyse. Eine Einführung, dritte, durchgesehene und ergänzte Auflage, Berlin 2001 [Grundlagen der Germanistik 30], S. 115). Für den Bereich der Dialoge vgl. hingegen Franz
214
Tobias
Zimmermann
Schicht des Hochmittelalters und ihren Vasallen wohlbekannt war: in ein Beratungsgespräch. 28 Doch Laudines Redebeitrag ist mit ihrer Neudefinition der Gesprächssituation noch nicht zu Ende, sondern sie lässt zuerst eine Art Versuchsballon steigen, bevor sie Lunetes Rat zu hören bekommt: '[...] sit ich än einen vrumen man min lant niht bevriden kan, so gewinn ich gerne einen, und anders deheinen, den ich sö vrumen erkande daz er minem lande guoten vride beere und doch min man niht weere.' (v. 1909-1916)
Laudine möchte einen Quellenbeschützer finden, der die Aufgabe übernimmt, ohne sie zu heiraten [K3]. Lunete allerdings widerspricht sogleich: „ [...] wer wxr der sich sö grdz arbeit iemer genseme durch iuch an, erne wxre iuwer man? ir sprechet eht als ein wip. gebet ir im guot und lip, ir muget ez dannoch heizen guot oberz willeclichen tuot. [...]" (v. 1918-1924)
Die Frage ist rhetorisch: Laudine darf sich glücklich schätzen, wenn sie einen Ritter findet, der gegen eine Heirat bereit ist, das Land und seine Quelle zu beschützen - aber sie wird keinen finden, der es ohne Ehelichung Laudines tun wird [S9]. In dieser Situationsdeutung ist zugleich eine Präzisierung von K l ' präsupponiert: Ein neuer Schutzherr für Quelle und Land kann nur durch eine Wiederverheiratung Laudines verpflichtet werden [ K l " ] . Die Dienerin beschränkt sich aber nicht darauf, das von ihrer Herrin vorgebrachte Handlungskonzept K3 zu torpedieren; sie hebt nun die guten Chancen Laudines hervor, einen neuen trefflichen Gatten zu finden [S10]: „[...] nü habent ir schcene unde jugent, /geburt unde tugent / und muget einen also biderben man / wol gewinnen,
richeit
obs iu got gan [...]"
(v. 1925-1928). Zudem schlägt Lunete nun ein etwas kurzfristigeres Handlungskonzept vor: „ [...] nune weinet niht mere / und gedenket an iuwer ere: / zewäre, vrouwe, des ist not [...]" (v. 1929-1931) - die Herrin soll dringend ihre Trauer aufgeben und sich um ihre (und des Landes) Ehre kümmern [K4], Damit aber noch nicht genug - Lunete vertieft auf
28
Hundsnurscher, „Dialog-Typologie", in: Handbuch der Dialoganalyse, hg. von Gerd Fritz und Franz Hundsnurscher, Tübingen 1994, S. 203-238. Zu den realhistorischen Hintergründen von Beratungen vgl. Gerd Althoff, „Colloquium familiare - colloquium secretum - colloquium publicum. Beratung im politischen Leben des früheren Mittelalters", in: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, hg. von dems., Darmstadt 1997, S. 157-184.
Der Argumentationsverlauf
im Dialog zwischen Lunete und Laudine in Hartmanns Iwein
215
polemische Weise ihre Situationsdeutung S3, ein trefflicher Ersatz für Askalon sei „eteswä" zu finden: „ [...] min herre ist vür sich einen tot: wsent ir daz älliu vrümekheit mit im ze grabe si geleit? zewäre des enist niht, wand man noch hundert ritter siht die alle tiurre sint dan er ze swerte ze schilte und ze sper." (v. 1932-1938)
Es gibt also gemäß Lunete noch h u n d e r t e von) Ritter(n), die mit den Waffen besser umgehen können als Askalon es konnte [S3']. Natürlich widerspricht Laudine sogleich, aber mit einem Argument, das noch leerer ist, als S4 es war: 'dä häst zewäre misseseit'
(v. 1939) - S i l besagt also schlicht 'das stimmt
nicht'. Entsprechend lautet Lunetes Replik einfach 'und es stimmt doch' [S12]: „vrouwe, ich hän die wärheit"
(v. 1940). Laudine reagiert mit einer Handlungsaufforderung: 'der
zeige mir doch einen'
(v. 1941). Dahinter steckt das zu erschließende Konzept, Lunete
müsse einen trefflicheren Mann als Askalon auch benennen können, wenn sie sich so sicher ist, dass ein solcher existiert [K5], Mit dieser kurzen Stichomythie hat der Dialog an Fahrt und Emotionalität gewonnen, und nun reagiert Lunete erstmals etwas patzig oder zumindest ungeduldig und spricht in Form einer Distichomythie buchstäblich kurz angebunden: „liezet ir iuwer weinen, /deiswär
ich vunden iu harte wol" (v. 1942f.). Sie kann sich
dies leisten, denn nun hat sie Laudine fast dort, wohin sie diese von Beginn an führen wollte: Laudine will nun den Namen eines potentiellen Askalon-Ersatzes hören. Laudine wiederholt darauf ihre Deutung S i l : 'ichn weiz waz ich dir tuon sol: / wan ez danket mich unmügelich
[...]' (v. 1944f.) - und fährt dann, wohl im Gefühl, dass sie argu-
mentativ unterlegen ist, mit einer drohenden Nennung der Nebenfolgen des Lügens fort [NF4]: '[...] sich, got der gebezzer dich, / ob du mir nü liegest / und mich gerne
triegest'
(v. 1946-1948). Hier wird zudem die Wertvorstellung des neunten Gebotes präsupponiert: 'Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten' [W4]. Dies beeindruckt Lunete aber nicht, welche die Wirkungslosigkeit von NF4 durch ihre Ansicht aufzeigt, sie würde sich selbst schaden, wenn sie Laudine belügen würde [S13]: „ vrouwe, hän ich iu gelogen, so bin ich selbe betrogen. nü bin ich ie mit iu gewesen und muoz ouch noch mit iu genesen: verriet ich iuch, waz wurde mm? [...]" (v. 1949-1953)
Und nun ergreift Lunete, obschon eigentlich ihrer Herrin noch immer die Nennung eines Askalon an Trefflichkeit überbietenden Ritters schuldig, wieder die argumentative Initiative und fragt Laudine:
216
Tobias
Zimmermann
„ [...] nu müezt ir min rihtxre sin: nu erteilet mir (ir sit ein wtp), swä zwene vehtent umbe den Up, weder tiurre si der dä gesige od der dä sigelös gelige." (v. 1954—1958)
Die Frage ist rhetorischer Natur und zwingt Laudine zur Komplettierung der Schlussregel: 'der dä gesiget, so waen ich' (v. 1959).29 Nun kann Lunete auftrumpfen: „vrouwe, ez ist niht wxnlich; / wan ez ist gar diu wärheit [...]" (v. 1960f.)· Soviel scheint tatsächlich noch heute common sense: Wenn zwei Ritter gegeneinander antreten, ist der Sieger der trefflichere Kämpfer; diese Schlussregel bildet K6. So kann Lunete nun zum entscheidenden argumentativen Vorstoß ansetzen, indem sie endlich die Antwort auf die Frage liefert, ob sie denn einen Askalon überlegenen Ritter benennen könne: „ [...] als ich iu nu hän geseit, rehte also hat ein man gesiget minem herren an. daz wil ich wol mit iu gehaben: wan ir habet in begraben. ich erziuges nu genuoc, der in dä jagete unde sluoc, der ist der tiurer gewesen: min herre ist tot und er genesen." (v. 1962-1970)
Lunete baut nun auf der von Laudine komplettierten Schlussregel K6 unter Rückgriff auf S2 nach allen Regeln der Kunst einen Syllogismus auf: Der trefflichere Ritter gewinnt, ein Ritter schlug Askalon tot, also ist dieser Ritter trefflicher als Askalon [S14]. In dieser Argumentation wird freilich die moralische Dimension ausgeblendet, die durch den Erzählerkommentar, Iwein habe Askalon äne zuht erschlagen (v. 1056), eröffnet wurde. Die folgende Reaktion der Herrin ist so heftig, dass sie nur in einem Erzählerbericht wiedergegeben wird: Laudine, tief verletzt durch die Herabwürdigung Askalons, schickt Lunete fort und will sie nie mehr sehen (v. 1971-1977). 30 Lunetes Worte vor ihrem Abgang bringen nochmals ein Handlungskonzept zur Sprache, nämlich: „ [...] zewäre ich bin gerner vil / durch mine triuwe vertriben /dan mit untriuwen beliben [...]" (v. 1982-1984) [K7], Darin ist die Wertvorstellung enthalten, dass unbelohnte Treue besser ist als belohnte Untreue [W5], Mit ihren abschließenden Worten betont 29
30
Hier leistet Hartmann gegenüber Chrestien eine entscheidende Änderung, denn bei diesem (Yvain, v. 1687-1700) ist es Lunete selbst, welche zum Missfallen Laudines die Schlussregel komplettiert. In Hartmanns Variante verläuft die Argumentation folglich viel deutlicher zugunsten Lunetes. Anders verfährt Chrestien, bei dem die beiden Damen ja ein gespannteres Verhältnis haben (vgl. Anm. 20 und 26). Bei ihm greift Laudine ihre Dienerin mit drastischen Worten an und bezeichnet sie mitunter als 'garce', als Dirne (im nhd. Sinne): 'Fui! plainne de mal esperite, /Fui! garcefole et enuieuse! [...]' (Yvain, v. 1712f.).
Der Argumentationsverlauf
im Dialog zwischen Lunete und Laudine in Hartmanns Iwein
217
Lunete - und auf einer übergeordneten Ebene tut dies, wie bereits anhand der Verse 1602, 1785 und 1887f. gezeigt wurde, auch der Erzähler - nochmals, dass sie in guter Absicht handelt: „ [...] daz ich iu e geräten hän, / daz hän ich gar durch guot getän: / und got viiege iu heil und ere, /gesehe
ich iuch niemer mere" (ν. 1989-1992). Damit ist unser Dialog zu
Ende. Wie wir wissen, entscheidet sich Laudine bald anders. Sie entschließt sich, den Ritter zu heiraten, der Askalon erschlagen hat, und beauftragt Lunete, Iwein aufzufinden und ihn zur Heirat zu bewegen (womit sie natürlich offene Türen einrennt). Bevor sie das tut, gibt sie zudem der Argumentation Lunetes - in der Form einer Gedankenrede während der Abwesenheit ihrer Dienerin - vollumfänglich recht:31 '[...] min herre was biderbe genuoc: aber jener der in dä sluoc, der muose tiurre sin dan er: erne het in anders her mit gewalte niht gejaget. si [Lunete] hat mir dar an war gesaget. [...]' (v. 2033-2038) Die Argumentation endet also doch noch mit einem Konsens, wenn auch ex post.
Fazit anhand einer z w e i t e n graphischen Darstellung Auch die Analyse des zweiten Dialogteils soll nun graphisch dargestellt werden. Dabei sind wiederum Laudines Argumente gegenüber jenen Lunetes durch eine graue Hinterlegung abgehoben und unterstützende Bezugnahmen mit durchgezogenem, angreifende mit gestricheltem Pfeil dargestellt. Der Syllogismus K6/S2/S14 ist zudem mit einem fetten Pfeil eingezeichnet.
31
Ausgeklammert bleibt hier das Problem der Emotionen Laudines. Diese gibt mit den zitierten Versen zwar Lunete auf der Vernunftebene Recht, Hartmann sieht sich aber genötigt, ihre Entscheidung auch in Bezug auf die emotionale Ebene durch einen Erzählerkommentar zu rechtfertigen (v. 2054—2057). Auch wenn diese Rechtfertigung erst nach Laudines Anerkennung von Lunetes rationaler Argumentation erfolgt, scheint hier auf, dass Hartmann nicht mit ungeteiltem Verständnis der Rezipienten für Laudines Meinungswandel rechnete. So meint denn auch Walter Haug, es gebe angesichts von Laudines Verhalten einen „Problemrest", der sich auch mit der rationalen „Theorie der Güterabwägung nicht beseitigen" lasse (Walter Haug, „Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht? Erzählen zwischen Handlungsschematik und Figurenperspektive bei Hartmann und Wolfram", in: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas do Colöquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002, hg. von John Greenfield, Porto 2004, S. 37-65, hier S. 45). Zumindest ein Teil von Hartmanns Zeitgenossen dürfte dieser Ansicht zugestimmt haben, wie die Kritik Wolframs von Eschenbach an Laudines Meinungswandel und an Lunetes Ratschlag belegt (Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung von Bernd Schirok, Berlin/New York 22003, v. 436,1-22).
218
Tobias Zimmermann
Situationsdeutungen [S]
Werte [W]
Handlungskonzepte [K]
* Die Intention von K5 ist torpedierend, Lunetes Befolgung von K5 führt aber z u m genauen Gegenteil, nämlich z u m finalen Syllogismus
Im Unterschied zur ersten Graphik verlaufen hier die argumentativen Bezüge heterogener. Das ist natürlich eine Folge davon, dass nun immer mehr gewichtige Argumentationsbausteine ausgebreitet sind - so mussten auch S2, S3 (in Form von S3') und K l ' (in Form von K l " ) wieder eingebaut werden, da auf sie auch im zweiten Teil des Dialoges Bezug genommen wurde. Trotz der deutlicher ausgeprägten Heterogenität sind aber auch hier einige Auffälligkeiten auszumachen. Auf den ersten Blick wohl am meisten sticht die Tatsache hervor, dass Lunete nun im Vergleich zu Laudine noch mehr Argumente beisteuert - war im ersten Dialogteil das Verhältnis mit elf (Lunete) zu acht (Laudine) noch fast ausgeglichen, so lautet es nun elf zu sechs, Lunete liefert nun also ungefähr doppelt so viele Argumente wie Laudine. Zudem gehen nun auch von Lunete mehrere torpedierende argumentative Bezüge aus (im Gegensatz zu einem einzigen negierenden Bezug in der ersten Dialoghälfte), wobei zwei davon auf die Entkräftung von Laudines Handlungsalternative K3, einen Schutzherrn ohne Heiratsansprüche zu suchen, zielen - während es Laudine nicht gelingt, dieses Konzept auch nur durch ein einziges Argument zu stützen. Laudine wiederum konzentriert sich erneut darauf, mit S3' noch immer die gleiche Situationsdeutung anzugreifen, nämlich, dass Askalon ersetzbar sei. So generiert sie mit S i l , K5 und NF4 drei Bezüge, welche S3 torpedieren; allerdings fordert sie dabei mit K5, doch
Der Argumentationsverlauf
im Dialog zwischen Lunete und Laudine in Hartmanns Iwein
219
einen Askalon überlegenen Ritter zu nennen, Lunete zu jener Sprachhandlung auf, welche die Argumentation schließlich zu deren Gunsten beendet. Denn der Dienerin gelingt es, abgesehen von einigen Nebenschauplätzen wie der Entkräftung von NF4 oder der Betonung ihrer guten Absichten (wobei sie auch im zweiten Teil des Dialoges kein einziges Mal auf die Kategorie der Nebenfolgen zurückgreift), der Herrin die Bekräftigung jener Schlussregel zu entlocken, die ihr die Umsetzung von K5 ermöglicht - womit Laudine offensichtlich nicht gerechnet hat. Das Geniale an Lunetes Vorgehensweise (und an Hartmanns Änderung gegenüber Chrestien, vgl. Anm. 29) liegt darin, dass sie zuerst das Handlungskonzept, hier also die Schlussregel K6, von ihrer Opponentin besiegeln lässt, bevor sie daraus eine syllogistische 32 Schlussfolgerung zieht, welche jener zwar überhaupt nicht gefällt, deren Gültigkeit aber argumentativ kaum mehr zu widerlegen ist. So zieht sich denn Laudine auf ihre Machtposition zurück und beendet kraft dieser das Gespräch. Mit dem Einsatz von Autorität, der „gegenüber man sich nichts herauszunehmen wagt", 33 verwendet sie eine Strategie nichtsprachlicher Art. Dies macht uns darauf aufmerksam, dass die eingangs dieses Artikels erfolgte Erläuterung der Konstituenten einer Argumentation sich auf eine ideale, herrschaftsfreie Gesellschaft beziehen, weil sie alles nicht Sprachliche zunächst ausblenden. 34 Laudines gewaltsame Beendung des Dialoges zeigt deshalb mit aller Deutlichkeit auf, dass der infinite Regress, welcher jeglicher Argumentation zwangsläufig als Möglichkeit innewohnt, 35 zwar immer nur sozial gestoppt werden kann, aber eben nicht nur konsensuell durch die Einigung auf ein von beiden Parteien akzeptiertes Raster, sondern auch aggressiv durch - wie auch immer geartete Machtausübung. So ist denn „das Ausnützen psychologischer Kenntnisse und sozialer Gegebenheiten [...] dem verbalen Handeln in der Praxis fast immer als Stütze[.] beigesellt". 36
III.
Abschließende Ausführungen
Mit dem letzten Abschnitt sind wir bereits wieder auf eine höhere Ebene zurückgelangt, und so möchte ich nun wie eingangs angekündigt aus den durch die Dialoganalyse gefun32
33 34 35
36
Interessanterweise rechtfertigt auch in Hartmanns Gregorius beim großen Dialog zwischen dem Abt und Gregorius der Titelheld seine Handlungsweise durch einen Syllogismus; vgl. dazu Linke und Michel (wie Anm. 5), S. 116-118. Michel (wie Anm. 5), S. 90. Vgl. ebd. „Ein (nicht unbedingt bösartiger) Opponent kann jede Stütze einer Behauptung strittig machen und vom Proponenten ihre Stützung verlangen, und so fort" (ebd., S. 105). Ebd., S. 107.
220
Tobias Zimmermann
denen Erkenntnissen einige Schlüsse bezüglich erzähltheoretischer und motivlicher Fragen sowie der Lesersteuerung ziehen, die sich aus der Tatsache ergeben, dass Laudine mit Iwein schließlich den Mörder ihres Gatten heiratet. Im Folgenden werden diese Schlussfolgerungen in umgekehrter Reihenfolge behandelt. Dies ist an sich eine unvorstellbare Wendung, die dem Leser nicht auf dem direktesten Weg vermittelt werden kann. Der Dialog erfüllt in Bezug auf dieses Vermittlungsproblem eine gleichsam moralisch ästhetisierende Funktion: Er lagert das Einbringen des an sich ungeheuerlichen Vorschlags in eine Nebenfigur aus, die durch die Unterstützung, die sie dem Helden Iwein angediehen ließ, bereits die Lesersympathien gewonnen hat. Laudine wird dem Leser dadurch sympathischer, dass sie sich dem Vorschlag von Lunete zunächst standhaft verweigert, auch wenn er natürlich mit dem Romanhelden Iwein mitfiebert und diesem wünscht, dass seine Liebe zu Laudine Erfüllung finde. Durch ihre erfolglose, aber standhafte Weigerung gegenüber dem Vorschlag einer Wiederverheiratung kann Laudine als treue und ehrenhafte Dame inszeniert werden, die sich zunächst von der Vernunft und dem Verantwortungsgefühl (v. 2009-2038) überzeugen lässt, bevor auch die minne ihre Wirkung entfaltet (v. 2054-2057). Unter dem Einbezug sozialgeschichtlicher Erkenntnisse kann ferner die Frage beantwortet werden, ob das soziale Handlungsresultat, nämlich die Gutheißung der Heirat Laudines mit dem Gattenmörder nicht nur durch diese selbst, sondern auch durch die Edlen des Landes (v. 2371-2420), die damit den Mörder ihres ehemaligen Landesvaters als neuen Herrn anerkennen (wobei der Text freilich nicht erwähnt, ob die Edlen wissen, dass Iwein Askalons Mörder ist), als realistisch oder als märchenhaft betrachtet werden soll. Die zweite Alternative scheint ja - abgesehen davon, dass die Textsorte 'höfischer Roman' generell stark fiktionale Züge trägt - angesichts der mythischen Elemente, welche die Sphäre an Laudines Hof enthält, zunächst naheliegend. Deshalb ist hier ein kleiner Ausflug in die mediävistische Geschichtswissenschaft angebracht: Wie Gerd Althoff gezeigt hat, darf mittelalterliche Beratung „keinesfalls mit einer offenen, womöglich gar kontroversen Aussprache verwechselt werden. Sie kannte vielmehr Formen und Regeln, die im weitestgehenden Maße die Vertraulichkeit der Willensbildung sicherstellten".37 Denn in einer Gesellschaft mit großem Rang- und Prestigedenken war eine offene Diskussion nicht denkbar. So sind denn für das Funktionieren der mittelalterlichen Herrschaftsordnung zwei grundlegende Formen der Beratung zu unterscheiden: „eine vertrauliche informelle und eine öffentliche. Die letztere begann erst dann, wenn in vertraulichen Vorgesprächen die Fronten hinreichend geklärt waren".38 Dabei bedeutet Vertraulichkeit allerdings nicht, dass man die Tatsache geheim hielt, dass ein Gespräch stattfand, sondern man ein Gespräch führte, in dem offen geredet werden konnte - weil 37 38
Althoff (wie Anm. 28), S. 166. Ebd., S. 167.
Der Argumentationsverlauf
im Dialog zwischen Lunete und Laudine in Hartmanns Iwein
221
sein Inhalt, nicht aber das Ergebnis, vertraulich blieb.39 Letztlich wurden die Entscheidungen in den informellen Gesprächen gefällt - die „öffentliche Verhandlung wurde erst dann eingeleitet, als das erfolgreiche Ende zuverlässig in Aussicht stand".40 Die öffentliche Verhandlung wird daraufhin richtiggehend inszeniert und ist primär auf Repräsentativität im Sinne einer Zurschaustellung angelegt, welche die Findung des bereits feststehenden Resultats demonstriert: „Sie suggeriert den offenen Ausgang des Geschehens wie die Spontaneität der Entscheidung".41 Diese sozialgeschichtlichen Erläuterungen machen klar, dass das Gespräch zwischen Lunete und Laudine jenes colloquium secretum darstellt, in dem die Entscheidung gefällt wird. Das consilium publicum, das in den Versen 2356-2420 geschildert wird, hat demgegenüber nur noch die genannte repräsentative Funktion, wie im Text aus einer Äußerung Laudines gegenüber Iwein (und Lunete) klar wird:42 'sit unser ietwederz giht ez st des anderen vrd,' sprach diu küneginne dö, 'wer ist der uns des wende wirn geben der rede ein ende ? dazn vüeget sich niht under uns drin: nä gän wir zuo den liuten hin. [...]' (v. 2357-2362)
Die Edlen des Landes sind also bereits versammelt, und Laudine hat ihnen ihre Absicht bereits verkündet: '[...] ich hän in mines willen / ein teil dar umbe kunt getan, / die suln wir an der rede hän: /deiswär ez vüeget sich deste baz' (v. 2366-2669). Zu den Ausführungen Althoffs passt es deshalb bestens, dass Laudines Edle in der Folge Iwein öffentlich loben und Laudines Verkündung ihrer Heiratsabsicht sogleich zustimmen (v. 2371-2420): Wir stehen hier vor einer literarischen Darstellung des dem consilium publicum innewohnenden Inszenierungscharakters. Insofern dürfen die sozialen Aspekte des Handlungsverlaufs bis zur Heirat von Iwein und Laudine durchaus als einigermaßen realistisch bezeichnet werden. Noch nicht gelöst haben wir jedoch die durch den Titel dieses Aufsatzes aufgeworfene Frage: Wie kann ein derart unmöglicher Vorschlag wie jener, den Mörder des Gatten zu heiraten, schließlich zur besten Lösung werden? Dies wird möglich, indem in der Diegesis 39 40 41
42
Vgl. ebd. Ebd., S. 170. Gerd Althoff, „Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit", in: Spielregeln der Politik im Mittelalter (wie Anm. 28), S. 229-257, hier S. 250. Bei einer früheren Gelegenheit äußert Laudine, von Lunete auf die Notwendigkeit eines colloquium publicum aufmerksam gemacht, freilich eine gewisse Furcht vor diesem: st sprach 'trutgeselle, ouwe, / ich viirht ez mir niht wol erge: /ezn ist lihte niht tr rät' (v. 2159-2161). Doch Lunete zerstreut diese Angst sogleich, indem sie unter anderem meint: „st bietent sich ziuwern vüezen, / swenne si iuwer rede vernement" (v. 2170f.).
222
Tobias Zimmermann
zwei verschiedene Ebenen verwoben werden: Jene der erzählten Welt und jene der erzählerischen Konstruiertheit. Denn während der Vorschlag, den Gattenmörder zu heiraten, in der erzählten Welt eigentlich ein unmöglicher ist, ist die ganze erzählerische Konstruktion darauf angelegt, diesen Vorschlag zu legitimieren. Wir haben bereits die Sympathielenkung erwähnt, die Laudine als treue und tugendhafte Dame erscheinen lässt, während der haarsträubende Vorschlag in eine - allerdings zuvor schon sympathisch gemachte Nebenfigur ausgelagert wird. Aber auch der gesamte Argumentationsverlauf im Dialog zwischen Lunete und Laudine, wie wir ihn ausführlich analysiert haben, ist ja das Produkt der erzählerischen Konstruktion. Bis zu Lunetes abschließendem und - nach dem Spannung erzeugenden Intermezzo des Gesprächsabbruchs durch Laudine - erfolgreichem Syllogismus ist der Dialog darauf angelegt, Laudine zwar als ehrenhaft darzustellen, aber letztlich argumentativ unterliegen zu lassen. Durch den Verlauf des Dialoges, der sich durch Lunetes Syllogismus gänzlich auf Iwein konzentriert, gerät außer Acht, dass dieser ja durchaus nicht der einzige taugliche Ritter wäre. Vielmehr ist er einfach der Einzige, an dem sich der Syllogismus erfolgreich durchführen lässt - ein Umstand, den die geschickte Inszenierung des Dialoges dem Leser vorzuenthalten versucht. So wird also dank der erzählerischen Konstruktion - und nicht etwa weil die von den Figuren auf der Ebene der erzählten Welt geäußerten Argumente sich als vollumfänglich überzeugend herausstellen würden - ein in der erzählten Welt ursprünglich unmöglicher Vorschlag auf der Ebene der erzählerischen Konstruiertheit zur einzig möglichen Lösung. Ein solches Spiel mit verschiedenen Ebenen, das sich, wie am Beispiel des untersuchten Dialoges gezeigt, auch die Mimesis dienlich machen kann, ist eine jener Leistungen der Diegesis, welche Erzähltes zum Faszinosum machen können. So schrieb Jean-Paul Sartre: „Pour que l'evenement le plus banal devienne une aventure, il faut et il suffit qu'on se mette ä le raconter".n
Man könnte die Aussage in Anbetracht der Analyse unseres Dia-
loges auch umkehren, ohne dass sie weniger zutreffend wird: Damit das unglaublichste Ereignis vorstellbar wird, ist es nötig und genügt es, dass man daraus eine Erzählung macht.
43
Jean-Paul Sartre, La nausee, Paris 1980, S. 62; Hervorhebung von Sartre.
Harald Weydt Falken und Tauben im
Nibelungenlied
Wie lässt man es zum Kampf kommen, wenn man keine Macht hat?
'du häst iz nach dinem willen ζ 'einem ende bräht, und ist ouch rehte ergangen, als ich mir hete gedäht. [...]' (,Nibelungenlied, Str. 2370,3f.)'
I.
A m Anfang war alles friedlich
2
Alles schien zu Beginn des zweiten Teils des Nibelungenliedes
schon entschieden. Sieg-
fried war tot, seine trauernde Gattin war durch den Raub des Schatzes entmachtet und hatte in ein fernes Land geheiratet. Gunther herrschte am Rhein, Kriemhild bekleidete, in für die Wormser entlegener Ferne, am Etzel-Hof das unpolitische Amt der Königsgattin. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. - Und doch sollte die Katastrophe noch hereinbrechen. Dass es dazu kam, dazu waren verbale Handlungszüge nötig, die wie in einem Schachspiel von langer Hand vorbereitet wurden. Die Chancen, dass es je zu einem Kampf kommen würde, waren zu Beginn denkbar gering, sie gingen nahezu gegen null. Es wird sich zeigen, dass alle, die an beiden Höfen etwas zu sagen hatten, zunächst und auch dann noch, als die Wormser an den Hof Etzels kamen, äußerst friedfertig gestimmt waren: auf der einen Seite Etzel, Rüdiger, Dietrich und seine Gesellen, auf der anderen Gunther, Gernot, Giselher und ihr Gefolge. Der Aufbau erinnert an Jean Giraudoux' La guerre de Troie n'aura pas lieu: Niemand will den Krieg, und dann kommt er doch. Bemerkenswert ist, dass auch Hagen zu diesem Zeitpunkt mit der geschilderten Situation, die er bewusst herbeigeführt hat (Kriemhild wurde ihrer einzigen Waffe am Burgundenhof, des Schatzes, beraubt, und sie wurde dann in weite Ferne verheiratet), höchst zufrieden ist und keineswegs auf Krieg sinnt.
2
Alle Strophen- und Verszählungen beziehen sich auf die Ausgabe: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 22002 (RUB 644). Eine Vorfassung dieses Artikels erschien unter dem Titel Harald Weydt, „Streitsuche im Nibelungenlied. Die Kooperation der Feinde. Eine konversationsanalytische Studie", in: Literatur und Konversation. Sprachsoziologie und Pragmatik in der Literaturwissenschaft, hg. von Ernest W.B. Hess-Lüttich, Wiesbaden 1980, S. 95-114.
224
Harald
Weydt
Nur eine einzige Person, eine schwache, durch Heirat an einen fremden Hof gekommene Frau, will einen Subalternen der anderen Partei töten. Dazu nimmt sie einen gigantischen Kampf in Kauf. Aber zu diesem muss sie es erst einmal kommen lassen.
II.
Die Einladung: ein Fernduell zwischen Kriemhild und Hagen Kontraoperation a distance
Wie erreicht Kriemhild es nun, Hagen überhaupt in ihren Einflussbereich zu bringen? Sie verschafft sich die Zustimmung Etzels zu einer Einladung an die Wormser. Dann versieht sie die Boten, die die Einladung überbringen sollen, mit fünf detaillierten Sonderbotschaften, die die Diskussion der Burgunden untereinander vorstrukturieren; die Boten sollen erklären: a)
Kriemhild sei nie traurig (Str. 1415),
b)
die Einladung diene ihrem Prestige, sie wolle zeigen, dass sie nicht ohne Anhang sei
c)
Gernot soll speziell daran erinnert werden, auch die edlen Verwandten (gemeint ist Hagen)
(Str. 1416),
mitzubringen (Str. 1417), d)
Giselher wird besonders herzlich eingeladen (Str. 1418),
e)
sie verweist darauf, dass Hagen als Führer unentbehrlich sei (Str. 1419).
In Worms finden zwei Konversationen 3 statt: eine Audienz und eine Beratung. Zunächst spielt sich ein überaus höflicher Staatsakt (Str. 1439-1450) ab, mit Gunther in der Rolle des wohlwollenden, großmütigen Staatsoberhauptes, der betont gastfrei Diplomaten eines befreundeten Nachbarkönigs empfängt. Auf Wormser Seite ergreifen nur die königlichen Brüder das Wort. Nach dem Austausch von Freundlichkeiten übermittelt schließlich Swemmel, der Hunnensprecher, die Einladung; es gibt eine Rückfrage ('Wann soll das Fest stattfinden?'). Dann ist das Gespräch beendet. Eine Beratung, Meinungsbildung, ein Beschluss, ist in dieser konventionellen Textsorte (diplomatischer Empfang und Entgegennahme einer Einladung) nicht vorgesehen. „Konversation" ist hier im Sinne der Konversationsanalyse als neutraler Oberbegriff für verschiedene Arten von Wortwechseln gemeint: zwischen zwei oder mehr Teilnehmern, mit oder ohne weitere die Struktur des Wortwechsels bestimmende Regeln (Streitgespräch, Debatte, Kaffeeklatsch, Seminardiskussion etc.). Was die formalen Mittel des gesprächssteuernden Instrumentariums betrifft, so werden die Termini der Konversationsanalyse übernommen, wie sie vor allem bei Sacks, Schegloff und Jefferson entwickelt wurden: Harvey Sacks, Emanuel A. Schegloff und Gail Jefferson, „A Simplest Systematics for the Organization of Turn-taking", in: Language 50 (1974), S. 696-735.
225
Falken und Tauben im Nibelungenlied Do sprach der künec Gunther: „über dise siben naht so kiind' ich iu diu msere, wes ich mich hän bedäht mit den minen friunden. die wile suit ir gän in iuwer herberge und suit vil guote ruowe hän." (Str. 1450)
Hagen hat aufgrund seines Standes überhaupt keine Gelegenheit, das Wort zu ergreifen. In der folgenden Beratung (Str. 1457,3-1471) gelingt es Hagen nicht mehr, die allgemeine Meinung, man solle die Einladung annehmen, umzudrehen.
III.
Exkurs zur handlungstheoretischen Analyse der Interaktionen und zur sprachlichen Kooperation
Die jetzt folgende Interpretation des Nibelungenliedes soll auch dazu dienen, den linguistischen Kooperationsbegriff genauer zu fassen. Wir werden zwei Ebenen der Handlungen unterscheiden; auf beiden findet eine Kooperation statt. Allerdings sind die, die auf der einen Ebene kooperieren, zum Teil gerade die, die auf der anderen kontraoperieren und umgekehrt. In der modernen Linguistik ist der Kooperationsbegriff besonders wirkungsvoll von Herbert P. Grice vertreten worden. Er hat in „Logic and Conversation" ein Kooperationsprinzip postuliert, das jedem Redewechsel zugrunde liegt und von allen Sprechern beachtet werden muss.4 Es lautet: 'Mache Deinen Beitrag zur Konversation so, wie das zu dem Zeitpunkt, zu dem er gemacht wird, für das Ziel oder für die Richtung des Redewechsels, an dem Du teilnimmst, notwendig ist'. Es wird sich zeigen, dass diese verbale Kooperation nicht mit der identisch ist, die im vorliegenden Fall besprochen wird. Betrachtet man nur die verbale Definition, und besonders die Formulierung „the accepted purpose or direction of the talk exchange", so lässt sich darunter die Kooperation, beispielsweise zwischen Kriemhild und Hagen, ohne Weiteres subsumieren. Es war Hagens und Kriemhilds „accepted purpose", den Kampf auszulösen, und beide machen ihre Beiträge so und in der Absicht, dass dadurch das Ziel herbeigeführt wird. Doch zeigen die Beispiele und der Gesamtzusammenhang der Grice'sehen Argumentation, dass dessen Kooperation doch etwas Anderes betrifft. Die Kooperation, die Grice im Sinn hat, betrifft nämlich die gemeinsame Deduktion des Gemeinten („what is meant") aus der wortwörtlichen Bedeutung („what is said") der Äußerung. Diese erfolgt mittels der „konversationeilen Implikatur". Der Sprecher wählt die wortwörtlichen Elemente seiner Äußerung so, dass er sicher ist, oder hoffen kann, dass der Hörer in der Lage sein wird, aus den wortwörtlichen Elementen der Äußerung und allen übrigen Informationen, die zu diesem Zeitpunkt 4
Herbert P. Grice, „Logic and Conversation", in: Syntax and Semantics, von Peter Cole und Jerry L. Morgan, New York 1975, S. 41-58.
Bd. 3: Speech Acts, hg.
226
Harald
Weydt
zur Verfügung stehen, den Sinn (als Handlung) der betreffenden Äußerung zu rekonstruieren. Zu diesem Zwecke muss der Sprecher seine Wahl der Satzelemente im Hinblick auf den Hörer treffen, muss dessen Kooperationsfähigkeit voraussetzen; der Hörer muss seinerseits voraussetzen, dass der Sprecher dieses bei ihm voraussetzt. Insofern ist die Kooperation, die bei Grice beschrieben wird, immer bereits die Basis einer jeden verbalen Kommunikation. Sie ist auch dann nötig, wenn Gegner miteinander kommunizieren. Sogar bei gegenseitigen Beleidigungen ist sie unabdingbar: Man kann nur den beleidigen, der die Beleidigung verstehen will und an der Entschlüsselung des beleidigenden Sinns aktiv mitarbeitet. Was also Grice beschreibt ist die Kooperation bei der gemeinsamen Identifikation einer intendierten Handlung. Die hier zu untersuchende Kooperation ist dagegen anders gelagert. Hier geht es um das Durchsetzen von Handlungszielen gegen den Willen von Kommunikationspartnern. 5 Die Kooperation im Grice'sehen Sinne wird dabei bereits vorausgesetzt. Auf der hier thematisierten Ebene, der des Koordinierens von kontroversen Handlungszielen, sind - wie eigentlich immer in der Handlungstheorie - wiederum verschiedene Ebenen zu unterscheiden. Wir bezeichnen zwei von ihnen als die „Kontraoperations-" und als die „Kooperationsebene".
IV.
Konsensusbildung: Fahren die Burgunden zu Etzel?
Der Prozess der Meinungsbildung, bei dem entschieden wird, ob die Einladung angenommen wird, wird deutlicher, wenn man genau in den Blick nimmt, welche Beschlüsse die Parteien anstreben und auf welche Alternativen sie sich einlassen. Hagens Ziel ist es, zu erreichen, dass alle zu Hause bleiben. So zielen auch seine Argumente darauf, darzustellen, dass alle Wormser sich in Gefahr begeben. Die Möglichkeit, dass e r zu Hause bleibt, während die Anderen reiten, thematisiert er gar nicht.
5
Dabei lasse ich mich auf die 'Logik der Dichtung' ein. Es wird nachgezeichnet, wie die dramatis personae miteinander interagieren. Die Perspektive und die Intentionalität des - wer immer es war - 'Dichters' des Nibelungenliedes als übergeordnete und alles leitende, alles wissende, kreative Instanz, die unsichtbare Hand des meisterhaften Erzählers, wird nicht gesondert thematisiert, sondern vorausgesetzt. Es wird also darauf verzichtet, die Steuerung literarischer Redeszenen durch den Erzähler zu thematisieren, die in natürlichen Gesprächen nicht vorliegt. Zu dieser Unterscheidung s. Nine Miedema, „Die Gestaltung der Redeszenen im ersten Teil des 'Nibelungenliedes': Ein Vergleich der Fassungen *A/*B und *C", in: Ze Lorse bi dem münster. Das Nibelungenlied (Handschrift C). Literarische Innovation und politische Zeitgeschichte, hg. von Jürgen Breuer, München 2006, S. 45-82, hier S. 47f.
Falken und Tauben im Nibelungenlied
227
Dies ist verständlich. Hier kommt nämlich ein wichtiges Moment erstmals zum Tragen, ein Moment, das die ganze weitere Entwicklung bestimmen wird: die Auseinandersetzung über die Deutung des Mordes. Es geht darum, wer für den Mord an Siegfried verantwortlich gemacht werden soll, und, da es zwei Deutungen gibt, wessen Deutung durchgesetzt wird. Zwei unterschiedliche Sichtweisen werden unter der Oberfläche der Argumentationen und Dialoge - zuweilen offen, zuweilen verdeckt - vertreten. a)
Im Selbstbild Hagens hat er den Mord in seiner Verantwortung für seinen König und in Stellvertretung Gunthers verübt. Auf diese Weise hat er die Ehre des Königs und des ganzen Hofes gerettet, die Wormser Sippe vor latenter Überfremdung, 6 vor drohendem Machtverfall und offenkundigem Ehrverlust bewahrt. Wie immer musste er Gunther aus Unehre und Gefahr retten; wie immer begeht er zu diesem Zweck eine Schandtat, eben weil Ehre und Wohl des Königs für einen Lehnsmann das höherwertige Rechtsgut sind. Hier tritt ein Charakterund Handlungszug Gunthers zum Vorschein, der ihn konstant, auch in den verwandten Sagenkreisen, begleitet. Die betreffenden Episoden folgen immer dem gleichen Schema: Gunther überschätzt sich und unterschätzt die Gefahr. Er begibt sich gegen den Rat vorausschauender Freunde leichtfertig in eine Situation, die ihn absolut überfordert, und zwingt seinen Gefolgsmann, ihn mit Verrat herauszuhauen. -
So hat Hagen schon - und wir können annehmen, dass die Hörer des Liedes diese Sage kannten - seinen Blutsbruder Walther von Aquitanien aus seiner Deckung locken und in einem unfairen Zwei-gegen-einen-Kampf die beschämende Niederlage Gunthers in etwa neutralisieren müssen.7
-
Gunther beschließt gegen Siegfrieds Rat („Daz wil ich widerraten", Str. 330,1), Brünhild im Kampf zu erringen, die nur durch Siegfrieds Verrat bezwungen werden kann.
-
Er vermag es nicht, Brünhild in der Brautnacht zu bezwingen, und muss dies (und möglicherweise die Entjungferung; trotz Str. 655f., 677 und 680f.) schmählicherweise Siegfried überlassen.
-
Die Rache dafür, dass das bekannt wurde, den Meuchelmord am verdienten Gast und angeheirateten Verwandten, übernimmt Hagen.
-
Der unseligste und unheilvollste Entschluss, der diesmal alle in den Untergang führen wird, ist die Fahrt an Etzels Hof; die Entscheidung darüber steht noch aus.
Bei allen diesen Fehlentscheidungen entscheidet Gunther gegen den Rat derer, die anschließend, um die Situation zu retten, gezwungen sein werden, gegen eigene Werte zu verstoßen. Das trifft in besonderem Maße für Hagens Mord an Siegfried zu. Er verübt ihn im Interesse des Königs für dessen Ehre und zu dessen Machtsicherung am eigenen Hofe.
7
„ Suln wir gouche ziehen ? " sprach aber Hagene (Str. 867,1). Waltharius, hg. von Karl Strecker, Berlin 1947.
228 b)
Harald
Weydt
Kriemhilds Sicht ist dagegen ganz auf Hagen als den persönlich verantwortlichen Mörder ihres Mannes (und Schatzräuber) verengt. Folglich fokussieren sich ihre Rachegelüste auch nur auf Hagen als Individuum und richten sich in viel geringerem Maße gegen Gunther und Gernot und gar nicht gegen ihren (unschuldigen) Lieblingsbruder Giselher.
Die Auseinandersetzung über diese Deutungen wird sich durch das ganze Lied ziehen. Im Folgenden wird auf diesen Konflikt als auf den „Deutungskonflikt" Bezug genommen. Interessant dabei ist, dass der Deutungskonflikt lediglich zwischen Kriemhild und Hagen ausgetragen wird. Den übrigen Mitspielern ist er offensichtlich ziemlich gleichgültig, sie scheinen ihn gar nicht wahrzunehmen und neigen eher zu der von Kriemhild vertretenen Auffassung, merkwürdigerweise auch die drei Könige. Da der Reiseentschluss der Brüder feststeht, diskutiert Hagen nur die Alternative: 'Alle Wormser fahren' vs. 'Alle bleiben', da er eine Deutung 'Die unschuldigen Könige fahren mit dem Tross, der Mörder Hagen bleibt zu Hause' nicht akzeptiert. Er kann sich in der Beratung nicht durchsetzen, weil die Könige seine Basis: 'Die Einheit der Gruppe muss gewahrt bleiben', nicht akzeptieren. Gunther, Gernot und Giselher stellen nämlich eine andere Alternative zur Debatte, die genau Kriemhilds Sicht entspricht: Sie individualisieren den ganzen Mordfall (oder nehmen eine solche Individualisierung in Kauf), betrachten folgerichtig nur Hagen als gefährdet und bieten ihm an, zu Hause zu bleiben. Die Positionen der Beteiligten werden vor allem in den Personalpronomina deutlich: Während Hagen auf die Gefahr verweist, die den Gesprächspartnern droht (Personalpronomen der 2. Person Plural): „ ir habt iu selben widerseit
[...]" (Str. 1458,4) und
„ [...] ir muget dä wol Verliesen
die ere und ouch den lip [...]" (Str. 1461,3)
und das Gemeinsame der Tat betont (Personalpronomen der 1. Person Plural): „ [...] Nu ist iu doch gewizzen, waz wir haben getan. wir mugen immer sorge zuo Kriemhilde hän [...]. wie getorste wir geriten in daz Etzelen lant?" (Str. 1459,1—4),
und während Gunther in seiner - wie immer - kompromisslerischen Verhandlungsführung den wirklichen Konflikt noch verschleiert, arbeitet Gernot im nächsten Zug seine Sicht deutlich heraus (mit den Personalpronomina ir, unser und wir): „ sit ir von schulden fürhtet dä den tot in hiunischen riehen, solde wirz dar umbe län, wirn enssehen unser swester, daz wasre vil übele getän." (Str. 1462, 2-4)
Genau parallel stellt Giselher die Alternative dar, ebenfalls auf der Basis, dass Hagens Lage und die der übrigen Burgunden völlig verschieden sei, mit den Gegensätzen: 'du' 'wir'. 'Du bleibst' - 'Wir fahren':
229
Falken und Tauben im Nibelungenlied Do sprach der fürste Giselher zuo „ sit ir iuch schuldec wizzet, friunt so suit ir hie beliben unt iuch wol und läzet, die getürren, zuo miner
dem degene: Hagene, bewarn, swester mit uns varn." (Str. 1463)
Es ist für Hagen äußerst ärgerlich {Do begonde zürnen, Str. 1464,1), und es trifft ihn in seinem Selbstverständnis und in der Situierung seiner Tat, dass die Könige ihn (als Missetäter) zu Hause lassen wollen, um selbst freundschaftlich ihre Schwester besuchen zu können. Es wird ihm zugemutet, einer solchen demonstrativen Trennung: 'Hier der Mörder Hagen von Tronje' - 'Dort die unschuldigen Brüder' durch seinen Verzicht auf die Reise auch noch seine Billigung zu geben. Der ohnehin kränkende Vorwurf, er fürchte sich wohl, wird noch kränkender dadurch, dass alle Hagen unterstellen, er fürchte sich persönlich für sich und rate deshalb ab. Zur Beschlussfassung stehen also zwei angebotene Alternativen. Hagens Alternative: 'Alle bleiben am Rhein' vs. 'Alle fahren zu Etzel'. Gemeinsame Grundlage dabei: 'Die Gruppeneinheit wird gewahrt, keine Individualisierung des Mordes'. Die Alternative der Könige ist: 'Alle fahren zu Etzel' vs. 'Die Könige fahren ohne Hagen'. Die gemeinsame Grundlage wird schon nicht mehr in Frage gestellt: 'Die Einladung wird von den Königen angenommen'. Da es Hagen nicht gelingt, den Anderen seine Alternative aufzuzwingen, und da er die Individualisierung nicht akzeptieren kann, muss er unter den insgesamt drei Möglichkeiten einer zustimmen, die beide Parteien zur Diskussion stellen. Nur so kann er seine Auffassung aller Ereignisse konsistent halten und seine Logik der Handlungszüge retten. Bei der Lösung: 'Alle fahren zu Etzel', bei der die demonstrative Aufteilung der Wormser Gruppe nach 'schuldigen Mördern' und 'nicht-schuldigen Nichtmördern' vermieden wird, verliert Hagen deutlich - das sieht er klar - die erste Runde der Auseinandersetzung mit Kriemhild, deren Ziel, ihn an Etzels Hof zu locken, er gut erkannt hat. Er ist jetzt im Begriff, in eine Entscheidung einzuwilligen, die genau dieses Ziel akzeptiert. In diesem Augenblick erhält Hagen, bislang völlig isoliert (äne Hagenen eine,
dem
was ez grimme leit, Str. 1458,3), unverhofft Unterstützung. Eine weitere Stimme erhebt sich für seinen Vorschlag ('Alle bleiben'): Rumolt der Küchenmeister. Die folgende Intervention Rumolts (Str. 1465-1469) ist in der wissenschaftlichen Literatur intensiv behandelt worden, wenn auch in einem anderem Zusammenhang: bei den Versuchen, relative Chronologien zwischen dem Entstehen der Handschriften des Nibelungenliedes
und der
Niederschrift von Wolframs Parzival zu erstellen und auf diesem Wege sogar zu absoluten Chronologien zu kommen. 8 Im Zusammenhang des beschriebenen Konfliktes entnehmen
8
Es handelt sich um Folgendes: Herrmann von Thüringen wird im Sommer 1203 in Erfurt von Philipp von Schwaben belagert. Im siebten Buch des Parzival erwähnt Wolfram, dass die Verwüstungen vor Erfurt noch zu sehen seien (Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, mit-
230
Harald Weydt
wir dieser Szene etwas Anderes. Sie muss die zeitgenössischen Hörer besonders beeindruckt und die jeweils Vortragenden zu aktuellen Anspielungen angeregt haben: Sie wurde von Handschrift zu Handschrift merklich variiert, und sie war offenbar so bekannt, dass sie zum allgemein bekannten Zitiergut gehörte. Man ist versucht, die Instabilität dieser Szene und ihren Bekanntheitsgrad aus ihrer Funktion als Handlungszug zu erklären. Der Redebeitrag Rumolts ist nämlich - und das hebt ihn von den angrenzenden Dialogteilen deutlich ab - von einer unübersehbaren Komik. Die liegt darin, dass Hagen durch diese Hilfe eines Wohlmeinenden vollends in eine unhaltbare Position gebracht wird. Rumolt zeichnet in seinem Plädoyer ein so undynamisches, unheldisches, kontemplatives Bild des Wohllebens und der Sicherheit in der Heimat (ein Bild, das - falls es zutrifft, dass C 'jünger' ist als AB - , von Erzählern späterer Fassungen noch in der Tendenz verstärkt wird), dass dadurch Hagens Position (seine Motive werden mit denen Rumolts gleich gesetzt) noch weiter geschwächt wird. Es ist bereits Zusammenfassung eines Konsensus, wenn Gernot darauf erwidert: „Wir wellen niht beliben" (Str. 1470,1) und mit einem letzten Anerbieten an Hagen, die Gruppengemeinschaft aufzugeben, vorschlägt, „[...] der dar niht gerne welle,
der mac hie heime bestän" (Str. 1470,4), eine Alternative, die durch Rumolts Re-
de zusätzlich diskriminiert ist. Hagens Entscheidung ist inzwischen gefallen: Er kann die Reise nicht mehr verhindern und wird mitziehen. Sein folgender turn9 trägt bereits der neuen Situation Rechnung: [...] „lät iuch Unbilden niht mine rede dar umbe, swie halt iu geschiht. ich rat' iu an den triuwen: weit ir iuch bewarn, so suit ir zuo den Hiunen vil gewärliche varn. [...]" (Str. 1471)
telhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung von Bernd Schirok, Berlin/New York 2 2003, v. 379,18-20). Man setzt also für die Entstehung des siebten Buches spätestens 1204/1205 an; kurz danach entsteht wohl das achte Buch (v. 420,26-30, 421,6f.) mit einer Variante (Weiterentwicklung gegenüber Handschrift AB?) von Rumolts Rat. Ein Motiv davon („sniten in öl gebrouwen ") findet sich in Handschrift C (Das Nibelungenlied nach der Handschrift C, hg. von Ursula Hennig, Tübingen 1977 [ATB 83], Str. 1497,3). Für die relative Chronologie werden grob drei Meinungen vertreten, die Reihenfolge sei: 1. Nibelungenlied AB < Nibelungenlied C < Parzival (Braune, Panzer, Pfeiffer, Krogmann, Ploss; Α < Β soll bedeuten: Α zeitlich vor B). 2. Nibelungenlied AB < Parzival (lustige Übertreibung) < Nibelungenlied C (Abschwächung) (Heusler) 3. Zeitliche Indifferenz, da Rumolts Rat sprichwörtlich (Wilhelm). Vgl. Joachim Bumke, Die vier Fassungen der 'Nibelungenklage'. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin/New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8 [242]), S. 572-580. 9
Unter turn (deutsch vielleicht 'verbaler Handlungszug') ist dabei ein Redebeitrag eines Sprechers zu verstehen, von dem Punkt an, an dem er zu sprechen beginnt, bis zu dem Punkt, an dem er aufhört. Eine Konversation ist eine Folge von turns mit entsprechenden Sprecherwechseln.
Falken und Tauben im Nibelungenlied
231
Dieser turn dient Hagen dazu, die Binnenkonflikte der Gruppe, die soeben zu Tage getreten sind, abzubauen („lät iu unbilden niht"), zugleich aber doch noch einmal zum Ausdruck zu bringen, dass er nicht für sich besorgt ist, sondern (auch) die Anderen bedroht glaubt; und außerdem dient sein Vorschlag zur Vorbereitung auf die bewaffnete Auseinandersetzung, die er nun sicher erwartet. In dieser ersten Phase stehen sich Kriemhild und Hagen mit entgegengesetzten Zielen gegenüber. Jeder weiß, was der Andere will, und versucht, es zu verhindern, womit er sein eigenes Ziel erreicht hätte: Kriemhild wollte Hagen an den Etzelhof holen; Hagen wollte außerhalb ihres Machtbereiches bleiben. Die Runde geht eindeutig an Kriemhild, d.h. sie wird ebenso eindeutig von Hagen verloren.
V.
Die Kooperation der Falken im Hunnenland
Von nun an ändert sich die Struktur der Interaktion grundlegend. Während Kriemhild und Hagen bisher konträre Ziele verfolgt hatten, werden - und das ist im Folgenden sichtbar zu machen - nun beide auf einer gewissen Ebene zu kooperieren beginnen. Sie beginnen eine Kooperation, wie sie nur auf einem tiefen, gegenseitigen Verständnis basieren kann; bei dieser Interaktion, bei der Hagen und Kriemhild weitgehend alleine gegen alle anderen stehen, verfolgen beide ein gemeinsames Ziel: den irreversiblen Ausbruch des Konfliktes. Bis zu ihrem ersten Zusammentreffen (Str. 1737-1749) ereignet sich Folgendes: Hagen hört eine verlässliche Weissagung, dass von ihnen allen nur der Priester zurückkehren werde. Um die Prophezeiung zu falsifizieren, unternimmt er einen Mordversuch: Er wirft ihn, der nicht schwimmen kann, in die Donau, stößt ihn sogar noch unter Wasser, kann aber nicht verhindern, dass der Priester lebend ans heimatliche Ufer zurückgetrieben wird (Str. 1574-1579). Nun weiß er, dass keiner von ihnen lebend zurückkehrt Dö stuont der arme priester unde schütte sine wät. dä bi sach wol Hagene, daz sin niht wsere rät, daz im für war sageten diu wilden merewip. er dähte: „diese degene müezen Verliesen den Up." (Str. 1580)
- und strebt nur danach, die Verluste der Gegenpartei, Kriemhilds, zu maximieren. Es gibt außerdem einige Warnungen: an Hagen durch Eckewart (Str. 1635) und an alle durch Dietrich (Str. 1724 und 1726), daneben aber bilden sich enge freundschaftliche neue Beziehungen (zu Rüdiger und Dietrich). Die Freundschaft beider Parteien, Hunnen (im weiteren Sinn) und Burgunden, wird durch vielfältige persönliche Bindungen gefestigt.
232
VI.
Harald
Weydt
Die Parteien, Kontra- und Kooperation, Deutungshoheit
Die Handelnden können, was ihre Intentionen betrifft, auf einer bestimmten Ebene der Analyse zwei Lagern zugeordnet werden. Tauben: 10 Die Anführer der Gastgeber und der Gäste (hier Etzel, da Gunther, Gernot, Giselher) haben durchaus friedliche Absichten; ganz besonders gilt das für Etzel. Sie allein verfügen rechtlich über die Macht, einen Krieg ausbrechen zu lassen. Die meisten der einflussreichen Personen (Rüdiger, Dietrich) unterstützen sie und treffen bewusst konfliktdämpfende Maßnahmen. Falken: Gegen diese starke Friedenspartei befinden sich die, die Feindlichkeiten ausbrechen lassen wollen, zu Anfang in einer unterlegenen Position. Auf Hunnenseite ist es Kriemhild. Sie verfolgt in dieser zweiten Phase der Handlungsentwicklung, nachdem sie in der ersten einen klaren Erfolg verbuchen konnte, konsequent ihr Ziel weiter: Rache an Hagen. Dabei nimmt sie, juristisch gesprochen, mit dolus eventualis (Eventualvorsatz) die Mitvernichtung der übrigen, immerhin mitschuldigen Burgunden zumindest in Kauf, sogar die ihres Lieblingsbruders Giselher, den sie ausdrücklich als unschuldig bezeichnet. Neben der Rache für Siegfried wird ein zweites Motiv aus den präklassisch überlieferten Varianten des Nibelungenliedes
nur kurz angedeutet: der Versuch, wieder in den Besitz
des von Hagen geraubten Nibelungenhortes zu kommen. Wir können davon ausgehen, dass den Hörern des Liedes bereits andere Fassungen bekannt waren, die die Rolle des Goldes stärker hervorhoben. Wie weit das Gold in der überlieferten Fassung mehr war als nur ein Vorwand, soll hier nicht untersucht werden. Auf Seiten der Burgunden gehört Hagen den Falken an. Zwar hatte er in der FernduellPhase die Lösung empfohlen, die am sichersten den Konflikt ausschloss, nämlich zu Hause zu bleiben, hatte dabei in Kauf genommen, als Feigling bezeichnet zu werden. In der zweiten Phase hat er jedoch einen Rollenwechsel bereits vollzogen: Er ist nun - aus 'Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit' - an einem schnellen Ausbruch der Feindseligkeiten interessiert. Es wäre nicht richtig, dies nur als eine aufgezwungene Pflichthandlung, die mit Widerwillen absolviert wird, zu interpretieren. Vielmehr akzeptiert Hagen seine neue Rolle voll, mit Hass und mit der genau kalkulierten Intention, den Gegner (Kriemhild) bis zum bitteren Ende so weit als irgend möglich zu quälen und zu demütigen, mit dem festen Vorsatz, den Schaden der ganzen Gegenseite möglichst zu maximieren und den Ausbruch des Kampfes möglichst bald herbeizuführen.
10
„Falken" und „Tauben" seien so genannt in Anlehnung an ein politisches Begriffspaar, das besonders in der Zeit des Vietnam-Krieges üblich wurde: So werden im Politjargon die Kriegsbefürworter und die Kriegsgegner genannt.
Falken und Tauben im Nibelungenlied
233
Für eine handlungstheoretische Interpretation der Kooperation von Hagen und Kriemhild können drei Ebenen unterschieden werden: eine Ebene der Kontraoperation (sie zerfällt in zwei Komponenten) und eine Ebene der Kooperation. Kontraoperation la)
Eine Ebene der vordergründigen Handlung. Hier findet eine Kontraoperation zwischen beiden statt (ich beziehe mich im Folgenden auf diese Ebene mit dem Terminus „Kontraoperationsebene"). Auch die Handlungszüge der Aktanden sind einander in den meisten Szenen konträr entgegengesetzt. Beide hassen sich, wollen den eigenen Schaden minimieren, den des Anderen maximieren. Das optimale Ergebnis für jeden wäre, selbst unversehrt zu bleiben und dabei den Anderen zu vernichten. -
lb)
Parallel dazu verläuft der Deutungskonflikt. Auch da steht Kriemhild gegen Hagen. Nur: Hagen muss seine gesamte Gruppe in den Kampf verwickeln, um seine ideologische Situierung des Mordes (und des Schatzraubes) aufrecht zu erhalten. Kriemhild würde es reichen, eine einzige Person zu töten.
Kooperation 2)
Gleichzeitig gibt es eine zweite Ebene, auf der die beiden Gegner mit bemerkenswertem Geschick kooperieren (im Folgenden „Kooperationsebene" genannt). Ihre Handlungsziele auf dieser Ebene sind, wenn auch aus verschiedenen Gründen, identisch: Es geht ihnen darum, den Kampf zu beginnen und den Konflikt auszutragen.
Je nach Betrachtungsebene sind also verschiedene Lager festzustellen. Auf der Deutungsebene steht Kriemhild Hagen gegenüber. Alle Übrigen verhalten sich unbeteiligt; allerdings: Wo die Deutung thematisiert wird, übernehmen die königlichen Brüder die Position der individuellen Schuldzuschreibung, schließen sich also Kriemhilds Deutung an, gegen Hagen. Dieser steht bis zum Schluss ganz allein und wird von niemandem unterstützt. Falken gegen Tauben. Wer will den Kampf, wer den Frieden? Die Gruppe der 'Falken' besteht zu Beginn des zweiten Teils nur aus einer Person: Kriemhild; alle anderen wollen den Kampf vermeiden. Später, als Hagen die Auseinandersetzung für unausweichlich hält, besteht sie aus Kriemhild und Hagen. Die Gruppe der Falken wächst ständig an: Nach dem Mord am Burgundentross und an Ortlieb besteht der letzte Akt der Friedenspartei darin, dass Dietrich mit Etzel und Kriemhild und mit seinen Gefolgsleuten unversehrt den Saal verlassen darf. Jetzt stehen die Burgunden gegen Etzel, Kriemhild und die meisten hunnischen Gefolgsleute; ihnen schließen sich im Verlauf der weiteren Handlung erst Rüdiger, dann die Berner Gefolgschaft Dietrichs und schließlich Dietrich an. Daneben gibt es eine zweite Ebene der Interaktion. Auf der „Kooperationsebene" verfolgen die Agierenden identische Ziele; auf der „Kontraoperationsebene" sind ihre Ziele konträr entgegengesetzt: Jede Seite versucht, ihre Handlungsziele gegen die der Gegner durchzusetzen. Interessanterweise bilden die großen Gegner des Liedes, Hagen und Kriem-
234
Harald Weydt
hild, auf der Kooperationsebene eine effektive und hartnäckige Allianz. Auch die mächtigen Tauben kooperieren, aber letztlich glücklos. Das Friedenskonzept wird am wirkungsvollsten von Etzel vertreten. Etzel kann durch geschickte - auch im Sinne der Konversationsanalyse - turns den Ausbruch des Konfliktes lange Zeit verhindern. Außerdem gehören noch Dietrich von Bern, Rüdiger von Bechlaren, im weiteren Sinne alle Wormser, außer Volker, zu dieser Partei, wenngleich letztere unentschiedene und sehr instabile Faktoren im Kräftespiel darstellen, da sie aus ihrem Rollenverständnis (Helden) heraus und durch die Bedrohung, der sie sich zunehmend ausgesetzt sehen, leicht in die Kriegspartei überwechseln können. Zu den Falken gehören zunächst nur Hagen und Kriemhild. Sie gewinnen aber neue Anhänger: Hagen gewinnt Volker, mit dem er, obgleich (weil?) er in fast allen Merkmalen komplementär ist, eine feste freundschaftliche Bindung mit einer latent homoerotischen Komponente eingeht, eine „Männerfreundschaft"; 11 Kriemhild gelingt es, für materielle Zusicherungen hinter dem Rücken ihres Mannes Männer zu finden, die trotz des königlichen Verbots bereit sind, für sie zu kämpfen bzw. zu morden. Außerdem gewinnt Hagen seit seiner Niederlage in Worms zunehmend an Einfluss auf die Burgunden. Das ist durch fünf Faktoren bedingt: a)
Es stärkt das Vertrauen in ihn, dass sich alle seine Befürchtungen nacheinander bestätigen. Dazu gehört die Weissagung der Meerweiber (Str. 1587,3f.; 1589) und deren Bestätigung durch das Überleben des Priesters.
b)
Sie erfahren durch gute Kenner des Hofes (Dietrich), dass sie in Gefahr sind und dass sie belogen worden sind, als Swemmel ihnen erzählte, Kriemhild habe Siegfried offenbar vergessen, scheine jedenfalls ausgeglichen und froh.
c)
Seine umsichtigen Handlungszüge, die in jedem einzelnen Punkt ein Höchstmaß an Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit für die Gruppe schaffen (auf der ersten Betrachtungsebene, obgleich sie insgesamt, auf der zweiten Betrachtungsebene, die ganze Gruppe in die Katastrophe zwingen), lassen Hagen erkennbar in die Rolle der Führerpersönlichkeit hineinwachsen. Diese Funktion bringt auch Dietrich in seiner Anrede („trdst der Nibelunge,
da vor
behüete du dich", Str. 1726,4) zum Ausdruck. Da überdies bei den Wormsern in der Krisensituation durch den wie immer überforderten Gunther, der unfähig ist, eine überlegte Initiative zu entwickeln, ein Führungsvakuum auftritt, kommt es dazu, dass diese sich zunehmend an demjenigen orientieren, der ein ihrer hoffnungslosen Situation angemessenes, deutliches Konzept und Rezept für die Zukunft vorgibt. d)
Die immer stärker werdende Gewissheit des unentrinnbaren Todes lässt die Wormser Gruppe stärker zusammenrücken. Hagen tut alles, um die Desperadostimmung zu fördern.
1
' So Peter Wapnewskis Formulierung. Nibelungenlied. Gelesen und kommentiert von Peter Wapnewski, Berlin (Der Hörverlag) 1994.
235
Falken und Tauben im Nibelungenlied e)
Außerdem steht er nun nicht mehr allein da. Er hat Volker als Parteigänger gewonnen und somit eine vollkommene Individualisierung verhindert.
Es bleibt jetzt noch, den Widerspruch aufzulösen, der darin besteht, dass man gleichzeitig kooperiert und kontraoperiert. Zugleich muss das Verhältnis der beiden Ebenen (Kontraoperationsebene und Kooperationsebene) zueinander bestimmt werden. Nach der Handlungstheorie, z.B. von Gertrude E.M. Anscombe, 12 sind die Handlungen geordnet: Sie stehen in nicht umkehrbaren /ni/ew-Relationen zueinander. Für die Art der Interaktion zwischen Hagen und Kriemhild lässt sich folgende Reihenfolge angeben: Indem beide kontraoperieren (sich gegenseitig beleidigen, sich provozieren), kooperieren sie. Es liegt also folgende indem-Kette vor: Indem sie kontraoperieren, kooperieren sie; indem sie kooperieren, schaffen sie wiederum die Möglichkeit zur Kontraoperation. Alledem vorgeschaltet ist natürlich jenes sprachliche Kooperieren, das mit den Grice'schen Konversationsmaximen erfasst wird. Hagen und Kriemhild kooperieren zuvor so wie alle, die überhaupt miteinander in einer Sprache sprechen, kooperien müssen, um sich über den Wortlaut hinaus zu verstehen.
VII.
Die Falken verlieren eine Runde
Die zweite Phase besteht aus vier Szenen, die vorwiegend durch Konversationen, d.h. in Verbalhandlungen, dargestellt werden: 1. Die Begrüßung der Burgunden durch Kriemhild, Dietrich und Etzel (Str. 1737-1758,2), 2. Die Szene, in der 'Hagen und Volker nicht vor Kriemhild aufstehen' (Str. 1758,2-1799), 3. Die offizielle Begrüßungszeremonie (Str. 1804-1817) und 4. Das Festmahl bis zu Ortliebs Ermordung (Str. 1911-1920 und 1951-1961). Kriemhild kommt ihrem königlichen Ehemann bei der Begrüßung zuvor und tritt den Burgunden allein entgegen. Schon bei der Begrüßung werden zwischen Kriemhild und Hagen Signale sowohl der Feindseligkeit (Kontraoperation) als auch eines tiefen gegenseitigen Einverständnisses (Kooperation) gewechselt. si kuste Giselheren und nam in bt der hant. daz sach von Tronege Hagene: den heim er vaster gebant. (Str. 1737,3f.)
Der darauf folgende Dialog spielt sich bezeichnenderweise zwischen den beiden Protagonisten ab. Betrachtet man den turn-taking-Appaia.t, 12
so kann man daran den Grad der Zu-
Hier sei auf einen Klassiker der Handlungslehre verwiesen: Gertrude E.M. Anscombe, Intention, Oxford 2 1963, § 24ff„ S. 4Iff.
Harald Weydt
236
sammenarbeit ablesen. Noch in der Idealisierung der literarischen Nibelungenstrophe kommt das present-speaker-selects-next-speaker-VeifahTen
zum Ausdruck. Die beiden las-
sen gar keinen Anderen zu Worte kommen. Sofort, nachdem Kriemhild Giselher geküsst hat, ergreift Hagen das Wort, noch bevor Kriemhild auch nur die Möglichkeit hat, etwaige Freundlichkeiten, die ihre Rolle als begrüßende Landesherrin eigentlich verlangt, an irgend jemanden aus der Wormser Gruppe zu richten. Hagen rügt öffentlich die Grußhandlung Kriemhilds, macht dadurch alle Burgunden auf die drohende Gefahr aufmerksam und verpflichtet sie auf seine seit jeher eingenommene Position. Indem er Kriemhilds Handlung thematisiert, wählt er sie als nächsten Sprecher aus und verhindert eine Wortübernahme durch ein Mitglied der 'Friedenspartei' (Str. 1738). Kriemhild geht sofort auf das Angebot ein. Sie übernimmt in Str. 1739 den turn. Sie schließt Hagen ausdrücklich von denen, denen sie Freundschaft entgegenbringt, aus: „[...] durch iuwer selbes friuntschaft
so grüeze ich iuwer niht [...]" (Str. 1739,2). Dann leitet
sie im Gegenzug eine Gelegenheit für Hagen ein, die Feindseligkeiten fortzuführen, indem sie ihn provozierend fragt: „ [...] saget, waz ir mir bringet von Wormez über Rtn, dar umb ir mir so gröze soldet willekomen sin." (Str. 1739,3f.)
Die Funktion dieser Frage im Text ist klar: Sie gibt Hagen die Gelegenheit zur öffentlichen Feindseligkeit, und sie soll auf die noch offene Rechnung, die Kriemhild mit Hagen hat, hinweisen. Es handelt sich nur auf der Ebene der Bedeutung um ein Heischen nach Information (eingebetteter Interrogativsatz), auf der Ebene des Sinnes nicht wirklich u m einen Sprechakt des Fragens. 1 3 In Str. 1740 nimmt Hagen die gebotene Gelegenheit voll wahr. In seiner Antwort stellt er sich ironisch-höhnisch so, als habe er die Frage von der Präsupposition her falsch verstanden: 1.
als habe er nicht verstanden, dass Kriemhild auf den Nibelungenhort angespielt habe,
2.
als habe Kriemhild - was gegen die Sitte verstoßen und die Königin in eine Bittrolle versetzen würde - ihn, den Gast und niedriger Stehenden, um eine Gabe gebeten;
3.
er bezieht diese Frage allgemein auf seine Gruppe 'daz iu gäbe solden
bringen de gene
[...]' (Str. 1740,1), womit er sich der Individualisierung widersetzt und den Kampf um die Deutung fortführt und 4.
13
er wählt zugleich durch die Frageform wieder Kriemhild als nächsten Sprecher.
Coseriu (Eugenio Coseriu, Textlinguistik. Eine Einführung, Tübingen 1980 [Tübinger Beiträge zur Linguistik 109]) unterscheidet die Ebene der Bedeutung von der der Bezeichnung und des Textes, des Sinnes. Zum Begriff 'Sinn' s. auch Jürgen Trabant, „Vom Sinn", in: Sprachtheorie, hg. von Brigitte Schlieben-Lange, Hamburg 1975, S. 277-285.
237
Falken und Tauben im Nibelungenlied
Im ihr so gebotenen nächsten turn wird Kriemhild deutlicher: „[...] hört der Nibelunge, der was doch min eigen,
war habt ir den getan ? daz ist iu wol bekant. [...]" (Str. 1741,2f.)
Sie thematisiert Hagens Delikt ausdrücklich mit dem Ziel, ihm den Raub individuell zuzuordnen und ihn folglich zu isolieren. Darauf reagiert Hagen mit einem Gegenzug: '[...] den hiezen mine herren
senken in den Rin [...]' (Str. 1742,3). Er führt die Versenkung des
Hortes allein auf den Willen der Könige zurück und erwähnt sich selbst nicht einmal als ausführendes Instrument. So sei der Verlust des Hortes quasi unabänderlich, außerdem schon allzu lang zurückliegend, nahezu verjährt: '[...] des ist vil manec tac, / daz ich hört der Nibelunge
niene gepflac [...]' (Str. 1742, lf.).
An diesem Punkt bricht Kriemhild ab. Sie setzt die gegenseitigen Provokationen nicht fort. Sie legt ihre Trauer dar, schildert das ihr geschehene Unrecht. Die Interpretation dieser Szene als Handlungszug ist nicht einfach. Betrachtet man den Dialog als realistische Wiedergabe eines Gesprächsstreites, so muss man das Faktum, dass Kriemhild ihren Schmerz offen zugibt („[...] des hän ich alle z.ite
vil manigen trürigen tac", Str. 1743,4),
als einen Grund zur Genugtuung für die Gegenseite werten: Hagen erhält die Bestätigung, dass es ihm geglückt ist, seine Gegnerin tief zu verletzen. Diese Blöße hätte sich eine Streitende in einem realistisch dargestellten Konfliktfall unter den geschilderten Umständen sicherlich nicht gegeben. Die Stelle erlaubt mehrere kompatible Interpretationen: a)
Wir können sie als verdeckte fwrn-Übergabe Kriemhilds verstehen: Sie versucht zwar vordergründig, das Gespräch abzubrechen, gibt aber damit Hagen Gelegenheit, besonders provokativ einzusteigen.
b)
Zugleich bietet sich an: Offensichtlich haben Gespräche in mittelalterlichen Epen nicht nur die eine Funktion, das wiederzugeben, was die Gesprächsteilnehmer einander zu sagen haben, sondern zugleich noch eine zweite: Sie sind gleichzeitig an den Hörer des Epos gerichtet und geben ihm zugleich Erinnerungs- und Interpretationshilfen und Handlungskommentare des Erzählers. So soll wohl Str. 1743,4 dem Hörer des Epos Kriemhilds Trauer noch einmal zur Darstellung bringen.
c)
Durch die öffentliche Darstellung des Leides wird der Druck auf die Anwesenden, sich dem kampfbereiten Lager anzuschließen, größer.
Obgleich ihm durch den turn-taking- Apparat signalisiert wird, dass der Wortwechsel beendet ist, ergreift Hagen wieder das Wort mit einer deutlichen Beleidigung ('Jä bringe ich iu den tiuvel', Str. 1744,1), in die er noch einfließen lässt, dass er Waffen mitbringt. Dann kommt er in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf das Schwert zu sprechen. Er weist provokatorisch darauf hin, dass er Balmung (der an sich zum Nachlass Siegfrieds und damit Kriemhild gehört) nicht für sie mitgebracht hat ('[...] daz swert an miner hende enbringe ich iu nieht', Str. 1744,4). Damit ist der Dialog abgeschlossen.
des
Harald Weydt
238
Kriemhild wendet sich nun an andere Adressaten. Sie verlangt, dass alle Burgunden ihre Waffen ablegen und den Dienern überantworten: „man sol deheiniu w&fen tragen in den sal. irhelde, ir suit mirs'üf geben: ich wil si behalten län." (Str. 1745,2f.) Was ist das Ziel ihres Befehls? Sie konnte ja nicht ernsthaft darauf hoffen, dass sich die Burgunden von ihren Waffen trennen. Zumindest gibt sie dadurch Hagen Gelegenheit, sein Misstrauen öffentlich darzustellen. Außerdem kann sie in dem nun folgenden Handlungszug versuchen, ihre eigene Gefolgschaft zu disziplinieren und auf ihre Position festzulegen. Zunächst ergreift Hagen das Wort und lehnt ihren Vorschlag ironisch-provokatorisch ('[...] Jane ger ich niht der eren [...]', Str. 1746,1) ab (Str. 1745,4-1746,4). Dann wendet sich Kriemhild mit massivem Terror an ihre eigene Gruppe, um sie auf ihre Position einzuschwören: „[...] si sint gewarndt. und wesse ich, wer daz taste,
er müese kiesen den tot." (Str. 1747,3f.)
Dadurch, dass sie ihre eigene Gruppe anredet, ergibt sich zum ersten Mal für einen Vertreter der Friedenspartei die Möglichkeit, einen turn zu übernehmen. Dietrich von Bern mit seinem ganzen Prestige offenbart sich als Warner und nimmt die Herausforderung, die in der Drohung liegt, voll an: 'ich binz, der hat gewarnet, die edeln künege rieh [...]. nu zuo, valandinne; du solt michs nicht geniezen län.' (Str. 1748,2^) In der Anrede 'välandinne'
kommt zugleich die Stärke der Friedenspartei zum Ausdruck.
Das entscheidet gegen Kriemhild, denn Dietrich gegenüber kann sie ihre Drohung nicht wahr machen. Sie verlässt den Ort ihrer Niederlage (Str. 1749,3f.). Sofort breitet sich eine Atmosphäre des Friedens aus, in die interessanterweise auch Hagen eingeschlossen wird, der mit Dietrich die Freundschaft bekräftigt (Bt henden sich do viengen, Str. 1750,1). Das ist auch von Hagen unter strategischen Gesichtspunkten ein geschickter Zug, da er die Sympathie und Neutralität des nach dem König mächtigsten Mannes am Etzelhof sichert. Sprechakttheoretisch interessant ist der Gruß, den Dietrich Hagen gegenüber ausspricht. Es wird weithin angenommen, es sei allgemein üblich, geradezu universell, einen Sprechakt des Grüßens dadurch zu vollziehen, dass man dem Begrüßten gegenüber versichert, man freue sich über dessen Kommen; Kontext und Situation dieser Szene bewirken hier genau das Gegenteil. Es ist gerade Ausdruck tiefster Sympathie - und so wird es auch von Hagen verstanden - , dass Dietrich sagt, '[...] iuwer komen zen Hiunen
daz ist mir wasrli-
che leit' (Str. 1750,4). Wie der Hörer des mittelalterlichen Liedes, wissen wir, dass Dietrich es sein wird, der in wenigen Tagen Hagen gefesselt seiner Erzfeindin und damit dem Tode ausliefern wird, und seine Worte lösen Sym-pathie (Mitleiden) auch bei uns aus.
239
Falken und Tauben im Nibelungenlied
Anschließend tritt Etzel auf den Plan. Er thematisiert ausdrücklich seine alte freundschaftlich-väterliche Beziehung zu Hagen (in einem gewissen Gegensatz zu der Version des uns überlieferten Waltharius-Liedes),
weist indirekt eine polemische Beschreibung Ha-
gens ('[...] swie blid' er hie gebäre [ . . . ] S t r . 1753,3) zurück und stellt eine friedliche Stimmung her.
VIII.
Falken unter sich
Da also auf dem Haupthandlungsplatz der Friede unangreifbar geworden ist, verlagern die Streitsuchenden ihre Aktion auf eine Nebenbühne. Kriemhild ist bereits ausgewichen. Hagen folgt ihr nach, sobald seine Freundschaftsbekundung mit Dietrich abgeschlossen ist. Grund dafür sind die Kräfteverhältnisse zwischen der Kriegs- und der Friedenspartei: Kriemhild und Hagen gelingt es bei allen Zusammentreffen nur dann, ihre feindliche Einstellung auf die Anderen zu übertragen und zwei gegnerische Parteien zu schaffen (Wormser gegen Hunnen), wenn beide zusammen auftreten und es entweder nur mit den Wormsern oder nur mit Untertanen Etzels zu tun haben. Es gelingt ihnen noch nicht, die Auseinandersetzung zu fördern, wenn wichtige Vertreter beider Lager zugleich anwesend sind. So muss Kriemhild in der ersten Szene die Burgunden begrüßen, bevor Etzel dazukommt (Str. 1675,lf.). Die feindliche Stimmung, die Hagen und Kriemhild sofort produzieren (Str. 1675-1685), hält aber nur so lange an, bis Dietrich bzw. Etzel hinzutreten. Aus diesem Grunde verlässt auch Hagen mit Volker sofort, nachdem der Friede wieder hergestellt ist, seine Gruppe und sucht Kriemhild an einer Stelle auf, an der er sie ohne Etzel oder andere starke Vertreter der Friedenspartei allein treffen kann (Str. 1698). Dass Hagen keine Zeit verliert und den Konflikt sofort weiter schüren will, dass also zwischen dem Austausch von Friedenserklärungen mit Dietrich und dem Aufsuchen Kriemhilds keine „erzählte Zeit" liegt, 14 zeigt sich im Text daran, dass beide Handlungen innerhalb einer Strophe aufeinander folgen (Str. 1696). Hagen folgt also mit Volker, seinem neu gewonnenen Freund, Kriemhild zu deren Gemächern. Sie setzen sich dort provokativ auf eine Bank. Kriemhild geht auf dieses neue Angebot sofort ein. Bevor sie sich den beiden stellt, trifft sie noch Vorbereitungen, um die zu erwartende Feindseligkeit in der folgenden Konfrontation zu verstärken und mit Prestige aufzuwerten: 14
Wir nehmen hier den auf Günther Müller zurückgehenden Terminus von Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart/Weimar 9 2004, auf.
240 1.
Harald
Weydt
Sie bricht in Tränen aus, bewegt dadurch ihre Leute, nach dem Grund der Tränen zu fragen. Sie antwortet, Hagen sei der Grund, worauf ihre Männer ihr rollengemäß versichern, sie würden ihn töten, wenn sie es nur wünsche, woraufhin sie diesen Wunsch äußert („ rechet mich an Hagene [...]", Str. 1765,4).
2.
Sie nimmt sich Zeit, die Königskrone aufzusetzen: „ nu bttet eine wtle; ich wil under kröne
ja suit ir stille stän. zuo minen vianden gän [...]" (Str. 1770,3f.)
- ein Mittel, um jede ihr angetragene Beleidigung zu entpersonalisieren und auf das ganze Hunnenlager zu lenken. 3.
Sie ist sich der Kooperation Hagens auf dieser Ebene so sicher, dass sie ihren Männern vorhersagen kann, dass Hagen ihr gegenüber seine Verbrechen zugeben wird: „[...] ich weiz in so übermüeten,
daz er mir lougent niht [...]" (Str. 1771,3).
Hagen schließt ein Treuebündnis mit Volker (Str. 1777-1779) und lässt die Begegnung eskalieren, indem er mit Volker beim Erscheinen Kriemhilds demonstrativ sitzen bleibt und so die vor ihm stehende gastgebende Königin grob beleidigt. Die Beleidigung erhält dadurch eine überpersonale Dimension, dass Kriemhild vorausschauend ihre Krone aufgesetzt hat. Und die Situation eskaliert weiter. Hagen legt demonstrativ Balmung, Siegfrieds Schwert, Uber die Knie. Volker ahmt ihn mit dem Fidelbogen nach. Nun beginnt der zweite Dialog. Kriemhild eröffnet ihn mit einer Frage an Hagen: wer ihn eingeladen habe (Str. 1787) - in Wirklichkeit sie selber; der Sinn dieser Frage (der in vielen Sprachen, genauer gesagt Sprechgemeinschaften, üblich ist), lässt sich leicht mit dem Instrumentarium der konversationellen Implikatur nach Grice ableiten: Hagen wird als ungebetener Gast dargestellt, dies wiederum hat letztlich eine beleidigende Wirkung. Als Antwort auf die Frage verweist Hagen geschickt auf die Einladung an seine Herren, die ihn automatisch mit beträfe (Str. 1788), wobei er den von ihm erhobenen Deutungsanspruch unterstreicht, stets für die Könige zu handeln und von ihnen nicht zu trennen zu sein. Nach diesem einleitenden Frage-Antwort-Paar (adjacency pair) wechselt Kriemhild das Thema. Sie fragt Hagen (man beachte die Konversationsstruktur der Unterhaltungen zwischen Kriemhild und Hagen, die nicht auf Beendigung des Wortwechsels hin konzipiert sind, sondern auf Kettenbildung: Jeder fordert den Anderen zu einer Gegenäußerung auf) direkt nach dem Mord an Siegfried (Str. 1789). Wie Kriemhild vorhergesagt hatte, gibt Hagen offen zu, dass er der Mörder war; er stellt den Mord aber - und das entspricht seiner Deutung - als eine unvermeidbare Konsequenz der Bloßstellung Brünhilds durch Kriemhild dar: '[...] wie sere er des engalt, daz diu vrouwe Kriemhilt die schaenen Prünhilden schalt! [...]' (Str. 1790,3f.)
241
Falken und Tauben im Nibelungenlied
Obgleich Kriemhild ihre Männer zum Kampf auffordert, wagen diese keinen Angriff und ziehen sich recht schmählich zurück. Kriemhild folgt ihnen. Hagen hat auf der Ebene der Gegnerschaft zu Kriemhild eindeutig einen Sieg errungen. Beide sind aber ihrem gemeinsamen Ziel, einen allgemeinen Kampf zu entfesseln, immer noch kaum näher gekommen.
IX.
Ein Fest unter Freunden
In der nächsten Szene haben wieder die Tauben das Sagen. Die Stimmung ist wie aus einer anderen Welt. Die prägende Figur ist Etzel, in der Rolle des glänzenden, freundlichen Herrschers, ein - wie sich zeigen wird - weiser und geschickter Gastgeber mit großer Integrationskraft. Sein Geschick zeigt sich u.a. gerade auch in seinem konversationstechnischen Verhalten. Unter konversationsanalytischem Aspekt hat die folgende Szene einen ganz anderen Charakter als die vorangehenden Wortwechsel. Wortwechsel zwischen Kriemhild und Hagen sind dadurch gekennzeichnet, dass der aktuelle Sprecher den jeweils Anderen als nächsten Sprecher wählt (current-speaker-selects-next-technique). Ihre Interaktionssequenzen sind oft Paare (adjacency pairs, z.B. Frage-Antwort): Während Hagen und Kriemhild gemeinsam Provokationsketten produzieren und keinem Anderen eine Einstiegsmöglichkeit bieten, sind Etzels Äußerungen monologischer. Er stellt seine freundliche Beziehung zu Hagen dar, ohne weitere Äußerungen seiner Gesprächspartner anzuregen. Auch in der dann folgenden Begrüßungsmahlszene ist er monologisch: Er richtet ein allgemeines herzliches Grußwort an die Gäste, indem er versucht, die Kontrahenten in die freundliche Stimmung einzubeziehen und sie auf Freundlichkeit zu verpflichten (Str. 1809, 1810). Er beteuert seinen „triuwen"
Willen, begrüßt insbesondere Hagen und Volker in
der 1. Person Plural („Nu sit uns grdze willekomen [...]", Str. 1810,1), ausdrücklich auch in Kriemhilds Namen („mir und miner vrouwen",
Str. 1810,3). Das verpflichtet Hagen so
sehr auf die Rolle des willkommenen Gastes, dass er, als er das Wort ergreift, zwar recht doppelsinnig, aber nicht eindeutig unhöflich antwortet (Str. 1811). Dann sichert Etzel die sich ausbreitende freundliche Stimmung. Er stellt seine persönliche Freude über das Kommen der Gäste dar, bindet auch vorsorglich Kriemhild in die freundliche Stimmung mit ein, indem er, vielleicht bewusst zweideutig, d.h. ein richtiges Faktum falsch interpretierend, sagt, auch sie sei nun durch das Kommen der Burgunden von einem großen Kummer befreit worden. „[...] mir enkunde in dirre werlde lieber niht geschehen denne ouch an iu helden, daz ir mir sit bekomen. des ist der küneginne vil michel trüren benomen. [...]" (Str. 1813,2—
242
Harald
Weydt
Etwa noch verbleibende Unstimmigkeiten lenkt er ganz auf sich: Er habe sich schon gefragt, was er den Burgunden angetan habe, dass sie ihn nie besucht hätten (Str. 1814,1 und 3). Rüdiger sekundiert ihm aufs Höfischste, und das Fest nimmt seinen friedlichen Fortgang.
X.
Die Falken gehen aufs Ganze
Bis zu der Festmahlszene ereignet sich Folgendes: Ein Versuch Kriemhilds, die schlafenden Burgunden ermorden zu lassen, scheitert an Hagen und Volker, die nachts Wache halten. Am nächsten Tag provozieren Hagen und Volker Kriemhild in Waffen. Etzel bietet an, den zu bestrafen, der die Burgunden bedroht habe (Str. 1861 f.). Da dieses den Konflikt bereinigen würde, stehen Kriemhild und Hagen zusammen und gegen Etzel in einem Komplott der Lüge und Ausrede. Hagen verrät Kriemhild nicht: Des arttwurte Hagene: „ uns hat niemen niht getan. ez ist site miner herren, daz sie gewäfent gän ζ 'allen hohgeziten ze vollen drien tagen. swaz man uns hie getste, wir soltenz Etzelen sagen." (Str. 1863)
Kriemhild verzichtet darauf, aufzudecken, dass Hagens Ausrede, es sei in Worms üblich, während des Festes drei Tage lang in Waffen zu gehen, nicht zutrifft: Vil wol hörte Kriemhilt, waz dd Hagen sprach. wie rehte ßentliche si im under diu ougen sach! sine wolde doch niht melden den site von ir lant, swie lange si den hete dä zen Bürgenden bekant. (Str. 1864)
Während des Tages sucht Kriemhild Waffenhilfe bei Dietrich von Bern. Aber sowohl Hildebrand als auch Dietrich lehnen in aller Deutlichkeit ab. Danach findet ein großes Gastmahl statt. In der Vorbereitung dieses Gastmahls tut Kriemhild zwei entsetzliche Dinge: Sie gibt Befehl, den Tross der Burgunden abzuschlachten, und sie lässt ihren Sohn Ortlieb in den Festsaal hereintragen. Besonders durch Letzteres erhält die Hagen-Kriemhild-Partei doch noch die Möglichkeit, den Konflikt endgültig auszulösen. Etzel schlägt in väterlichem Stolz vor, später Ortlieb nach Worms zu senden, bittet die Burgunden, ihn dort ritterlich aufzuziehen und zeichnet das Bild eines späteren Beistandspaktes (Str. 1914-1917). Gerade dieses freundschaftliche Angebot versetzt Hagen in die Lage, die Beziehungen der Gastgeber zu den Gästen wieder merklich abzukühlen.
Falken und Tauben im Nibelungenlied
243
„Im solden wol getrüwen dise de gene, gewiiehs er ζ' einem manne ", sd sprach Hagene: „doch ist der künec junge sd veiclich getan: man sol mich sehen selten ze hove nach Ortliebe gan." (Str. 1918)
Man kann diese Äußerung Hagens auf fünf Ebenen interpretieren: erstens als eine taktlose Zurückweisung des ehrenvollen und gut gemeinten Vorschlags Etzels. Zweitens (und das ist noch die taktvollste Interpretation) kann man ein gewisses Bedauern aus Hagens Worten heraushören. Er zweifelt gar nicht an, dass aus Ortlieb ein tugendhafter Recke werden könnte, wenn er einmal dieses Alter erreichen würde, nur werde er (leider) vorher sterben. Auch er selbst, Hagen, werde kaum die Möglichkeit haben, ihn später noch zu sehen. Drittens kann man sie als einen verschleierten Ausdruck des Vorsatzes sehen, den jungen König in Kürze zu töten, und viertens: Man kann sie für eine nüchterne, vielleicht nur der vertrauten Feindin, seiner Nichte Kriemhild, verständliche Analyse der aktuellen Lage halten. Fünftens kann dieser turn auch als die Einwilligung Hagens in einen von Kriemhild angebotenen Handel interpretiert werden ('Ich liefere dir Etzels Sohn aus, du tötest ihn, damit es endlich losgeht'). Noch bemühen sich alle, diese Bemerkung Hagens zu überhören (Str. 1919-1920), da erscheint Dankwart blutig in der Tür, berichtet vom Mord am Burgundentross; Hagen schlägt Ortlieb den Kopf ab, Dietrich geleitet Etzel, Kriemhild und seine Gesellen hinaus. Die Burgundenkönige Gunther, Gernot, Giselher, die zunächst den Kampf noch aufhalten wollen, sehen, dass die Entscheidung gefallen ist, und kämpfen selbst auf Seiten der Burgunden mit. Dann geht der Kampf endgültig los.
XI.
Letzte List und Gegenlist
Dann sterben alle im Kampf, alle - bis auf Hagen, Gunther, Dietrich, Hildebrand, das hunnische Königspaar und unerwähnenswerte Gefolgsleute. - Dietrich liefert Hagen und Gunther gefesselt Kriemhild aus. Etzel spielt nur noch eine Nebenrolle. Ein letztes Mal können beide, Hagen und Kriemhild, verbal interagieren. - Kriemhild macht Hagen ein durch und durch unglaubwürdiges Angebot, einen Tausch: Schatz gegen Leben, bei dem das alte Schatzmotiv wieder auftaucht. Do gie diu küneginne, dä si Hagenen sach. wie rehte ßentltche si zuo dem helde sprach: „ weit ir mir geben widere, daz ir mir habt genomen, so muget ir noch wol lebende heim zen Bürgenden komen." (Str. 2367)
244
Harald Weydt
Blitzschnell erkennt Hagen die Gefahr. Nicht er, aber vielleicht Gunther könnte auf einen solchen Handel eingehen und den Schatz doch noch ausliefern: unter Folter oder in der vielleicht sogar berechtigten Hoffnung, sein Leben zu retten. Er spielt die immer noch naive Kriemhild aus und spricht - kühl berechnend - damit Gunthers Todesurteil. Do sprach der grimme Hagene: 'diu rede ist gar verlorn, vil edeliu küneginne. jä hart ich des gesworn, daz ich den hört iht zeige, die wile daz si leben deheiner miner herren, so sol ich in niemene geben.' (Str. 2368)
Warum informiert Hagen Kriemhild jetzt von diesem Eid? Welche Motive kreuzen sich in seinem letzten Kalkül? War das ganz zum Schluss doch noch ein Verrat an seinem Lehnsherrn, dessen Sache er sich ein Leben lang zu Eigen gemacht hatte? Oder: Hat er ein letztes Mal Gunther vor sich selbst geschützt, ihn davor bewahrt, auf Kriemhilds Angebot hereinzufallen und - vor allem - dadurch den Respekt der Anderen und seine Königsehre zu verlieren, vielleicht ohne dadurch sein Leben zu retten? Oder: Ist der Kampf um die Deutungshoheit das ausschlaggebende Motiv: Will er verhindern, dass Gunther (als Unschuldiger) freigelassen und lediglich er, Hagen, als Strafe für das Verbrechen hingerichtet wird? Oder: War seine Gegnerschaft zu Kriemhild so stark, dass er ihr den großen Triumph, den Goldschatz zurückzugewinnen, nicht gönnt, um den Preis, seinen König dem Tode zu weihen? Sein Plan geht auf. Kriemhild lässt Gunther enthaupten und zeigt Hagen dessen Kopf, den sie an den Haaren hält. do hiez si ir bruoder nemen den lip. man sluoc im ab daz houbet: bi dem hare si ez truoc für den helt von Tronege. do wart im leide genuoc. (Str. 2369,2-A)
Jetzt kommt der letzte Triumph Hagens, zugleich eine Bilanz der ganzen Auseinandersetzung: In zwei Versen kommentiert Hagen Kriemhilds letzte Handlung, den Brudermord. Zugleich bündeln sich in diesen Versen wie in einem Brennglas die Probleme des Liedes und ihre Resultate. Gewinner- und Verliererrollen verschmelzen miteinander. 'du hast iz nach dinem willen und ist ouch rehte ergangen,
ζ 'einem ende bräht, als ich mir hete gedäht [...]' (Str. 2370,3f.).
Hagen offenbart, dass auch er trotz allem seinen Plan ausgeführt hat. Jetzt, wo alle anderen Mitwisser tot sind, wird sie nie den Ort des Goldschatzes erfahren: '[...] den schaz den weiz nu niemen wan got unde min: der sol dich, välandirme, immer wol verholn sin.' (Str. 2371,3f.)
Falken und Tauben im Nibelungenlied
245
Das wird nun Kriemhild augenblicklich klar. Sie tötet Hagen und wird anschließend von Hildebrand enthauptet. Zwei große Kontrahenten haben ihr Spiel zu Ende gespielt. Beide haben der Gegenseite in genauer, gemeinsamer Abstimmung ihrer Handlungsschritte, in vollem Vertrauen auf den Hass und die Kooperation des Anderen, schwerste Verluste zugefügt. Letztlich hat sich Kriemhild an Hagen gerächt. Das kostet sie ihr Leben. Ein weiteres Ziel, den Hort zurückzuerlangen, hat sie nicht erreicht. Den Preis bezahlen die Toten und die Überlebenden.
Martin Schuhmann Li Orgueilleus de la Lande und das Fräulein im Zelt, Orilus und Jeschute Figurenrede bei Chretien und Wolfram im Vergleich
I.
Die erste Station auf dem Weg Percevals / Parzivals zur Ritterschaft in den Gralsromanen von Chretien und Wolfram ist ein prächtiges Zelt auf einer Wiese. Perceval / Parzival dringt darin ein, findet eine schöne Dame, bedrängt sie und raubt ihr Küsse und Schmuck. Der Freund der Dame kommt zurück, nimmt wahr, dass sie Besuch hatte und macht ihr Vorwürfe; schließlich bestraft er sie hart. In diesem Grundablauf der Episode vom eifersüchtigen Ritter und dem Fräulein im Zelt unterscheiden sich Perceval
und Parzival
nicht signifikant voneinander. Es zeigen sich
allerdings beträchtliche Unterschiede in der Gestaltung der Figuren und der Einbindung der Szene in das Gesamtwerk bei beiden Autoren - und in der Rolle, die Figurenrede für diese Zwecke und andere Darstellungsziele des Romans spielt. Diesen Unterschieden will der Beitrag in einem textnahen Durchgang durch die Redeszenen nachgehen, um mehr über die poetische Organisation und literarische Bauweise der beiden Werke zu erfahren. Ansatzpunkt ist bei Chretien wie bei Wolfram das Gespräch des Ritters mit seiner Freundin, an dessen Ende die Bestrafung des Fräuleins steht (Perceval,' ν. 782-833; v. 132,26-137,30).
2
3
Parzival,2
3
Der Text von Chretiens Gralsroman wird zitiert nach der Ausgabe Chretien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal - Der Percevalroman oder die Erzählung vom Gral, Altfranzösisch/Deutsch, übersetzt und hg. von Felicitas Olef-Krafft, Stuttgart 1991 (RUB 8649). Die hier gegebenen Übersetzungen folgen, soweit nicht anders vermerkt, der in dem zitierten Werk enthaltenen Übertragung. Der Text von Wolframs Gralsroman wird zitiert nach der Ausgabe Wolfram von Eschenbach, Parzival, hg. von Albert Leitzmann, Erstes-Drittes Heft, Besorgungen und Revisionen von Wilhelm Deinert, Tübingen 1961-1965 (ATB 12-14). Die Szenen in den beiden Werken wurden, soweit ich sehe, noch nicht in Bezug auf die Gestaltung und Funktionen der Reden miteinander verglichen. Der jüngste germanistische Forschungsbeitrag, der sich explizit mit den Episoden beschäftigt - vor allem mit der Gestaltung bei Wolfram und den Auswirkungen perspektivischen Erzählens auf die Figuren - ist wohl das Kapitel „Orilus: die verletzliche Kampfmaschine" in Cornelia Schu, Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs 'Parzival', Frankfurt a.M.
248
II.
Martin
Schuhmann
Li Orgueilleus und das Fräulein im Zelt im Perceval
Betrachtet man die Redeszene bei Chretien, fällt als erstes ins Auge, wie karg der altfranzösische Autor exponiert, wie wenig Mühe er darauf verwendet, das Gespräch der beiden Figuren an die vorhergehende oder die folgende Episode seines Romans anzubinden. 4 Gleiches gilt für die Zeichnung der Figuren: In den vier Versen, die die Rückkehr des Ritters zum Zelt seiner Freundin schildern (Perceval, ν. 782-785), sind nur zwei Worte der Exposition der männlichen Figur gewidmet - und diese Worte benennen den Ritter schematisch als Typ, als Freund des Mädchens (ses amis, Perceval, v. 783); diese relationale Funktion ist für die Figur bestimmend. Im Fortgang der Szene wird die äußere Zeichnung der Figur über die Erzählerrede nicht mehr wesentlich erweitert, es stehen als Bezeichnungen für den Ritter immer nur Pronomen ohne jedes erweiternde Attribut. Erst 3000 Verse später, als das Fräulein Perceval bei ihrem zweiten Auftritt im Roman vor ihrem Freund warnt, wird sie den Ritter „Ii Orgueilleus de la Lande" nennen (Perceval, ν. 3817), was der Erzähler als Benennung aufgreift 5 - aber auch das ist eigentlich kein Name, sondern als 'der Stolze von der Heide' 6 eine sprechende Bezeichnung. 7 Diese sparsame, umrisshafte Darstellung ist nicht ungewöhnlich für Chretiens Zeichnung der Nebenfiguren; die meisten von ihnen werden nicht einmal durch ein topisches Attribut als Typ etwas plastischer gefasst. Weitergehende, spezielle Beschreibungen stehen bei Chretien nur, wenn damit eine zusätzliche Funktion für Fortgang oder Motivation der Haupthandlung erfüllt wird. Die Darstellung der weiblichen Figur, des 'Mädchens' (diese Figur hat ebenfalls keinen Namen), ist beispielsweise fast ausschließlich auf einen Punkt beschränkt: ihr Leiden unter der Situation. Ihre Handlungen beschränken sich darauf, sich gegen Perceval zu wehren, zu verzweifeln, Angst zu haben, bestraft zu werden und zu klagen und dabei immer äußerst sittsam zu sein (Perceval, v. 689f.). Insgesamt bleibt die weibliche Figur farblos; eine der aussagekräftigsten Punkte ihrer Darstellung ist noch der
4
5 6 7
u.a. 2002 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 2), S. 222-234. Dort auch weitere (allgemeine) Forschungsliteratur. Mit David N. Yeandle, Commentary on the Soltane and Jeschute Episodes in Book III of Wolfram von Eschenbach's 'Parzival' (116,45-138,8), Heidelberg 1984, liegt zudem ein Spezialkommentar zu der Szene bei Wolfram vor. Lapidar bewältigt Chretien den Auftritt des Ritters in nur zwei Versen (Perceval, v. 782f.). Auch am Schluss der Szene geht der altfranzösische Autor nicht anders vor: Der Ritter hört auf zu sprechen, setzt sich hin und isst (Perceval, ν. 833) - diese Schilderung nimmt einen Vers in Anspruch; danach wird die nächste Episode erzählt. Der Erzähler verwendet die Kurzform Ii Orgueilleus (Perceval, ν. 3832, 3911, 3931, 4045). Eigene Übersetzung. Vielleicht ist der Name im Sinne von 'der Siegreiche' (auf der Heide finden schließlich die Tjosten statt) zu verstehen; auf diese Deutung könnte eine Bemerkung Gauvains, Perceval, v. 4086ff. deuten, wenn diese sich nicht allgemein auf das Aussehen von Ii Orgueilleus bezieht. Vielleicht meint der Name auch der 'Überhebliche'.
Figurenrede bei Chretien und Wolfram im Vergleich
249
lapidare Satz, dass sie recht hübsch und anmutig wäre, befände sie sich nur in einer besseren Lage. 8 Viel mehr gibt es zum Bild des Fräuleins im Zelt nicht zu sagen - diese Figur scheint Chretien offensichtlich nicht sonderlich zu interessieren. Der altfranzösische Autor fokussiert stattdessen die ganze Szene auf die Wahrnehmung, die Emotionen und die Reden der männlichen Figur, auf den Ritter, der feiner gezeichnet wird als seine Freundin. So zeigt der Roman schon vor dem eigentlichen Gespräch von Ii Orgueilleus
mit dem Fräulein explizit zwei Wahrnehmungen des Ritters: sein Bemerken
der fremden Hufspuren vor dem Zelt (was ihn bedrückt) und des Weinens seiner Freundin {Perceval,
ν. 782-786). Der Autor lässt den Ritter im anschließenden Dialog mit dem
Fräulein getrennt nach den beiden Wahrnehmungen fragen (Perceval, v. 787ff.). Das verzögert die Entwicklung des Gesprächs und erhöht die Spannung auf seinen Ausgang, auf die Frage, was der Ritter mit seinen Fragen bezweckt. Der Aufbau der Erzählung des Fräuleins trägt ebenfalls Spannung in das Gespräch: Chretien lässt sie ihren Bericht vom weniger Wichtigen zum Wichtigen steigern, mit dem Raub der Speisen anfangen und mit dem Kussraub enden - ihre Rede ist als Klimax gestaltet und darüber hinaus mit den Fragen des Ritters auf kunstvolle Weise verzahnt. 9 Im Text stehen aber die beschriebenen Gestaltungseinzelheiten nicht als isolierte rhetorische Mittel, auch wenn die Form der Figurenreden bei Chretien oft deutlich hervortritt, auf die rhetorische Meisterschaft des Autors verweist und ein eigenes Gewicht in der Darstellung entwickelt. All das, was als besondere rhetorische Gestaltung des Gesprächs benannt wurde, kennzeichnet daneben gleichfalls die Figuren; es gibt Anhaltspunkte für ihre Emotionen und Motive, und es gibt Hinweise darauf, wie man die Figuren in ihrer Gesamtheit lesen und interpretieren kann. Die stockend vorgebrachte Erzählung des Mädchens von Percevals Überfall suggeriert so deutlich seine Angst, und oben wurde schon erwähnt, dass diese Angst fast alles ist, was in der Darstellung der weiblichen Figur gezeigt wird. In der Zeichnung des Ritters über das Gespräch ergibt sich wieder ein differenzierteres Bild. Da sind seine beiden Wahrnehmungen, die ihn belasten (Perceval, v. 782ff.); außerdem kreisen seine Fragen an seine Freundin um das eigentliche Problem, die vermutete Untreue, ohne es direkt zu berühren und zu benennen: Er glaubt nur {'je croi', Perceval, ν. 787), nach den Anzeichen, die er vorfindet (Ά ces ensaignes que chi voi', Perceval, ν. 788), dass ein Ritter da gewesen sei. Er fragt
8 9
Vgl. Neporoec bele et gente fust /Assez, se bien Ii esteüst, Perceval, v. 3717f. Die gradatio wird noch einmal dadurch gesteigert, dass Ii Orgueilleus in seiner Rede dreimal ein Schlüsselwort aus der Rede des Fräuleins aufnimmt. Vgl. Fräulein: „beü" (Perceval, ν. 793), „menga" (Perceval, v. 795) - Ii Orgueilleus: 'beü et me[n]gie' (Perceval, v. 797); Fräulein: „porte" (Perceval, v. 801), „empörte" (Perceval, v. 803) - Ii Orgueilleus: 'porte' (Perceval, v. 807); Fräulein: „baisa" (Perceval, v. 810) - li Orgueilleus: 'Baisa?' (Perceval, v. 811). Siehe dazu auch die Anmerkung zu Vers 7 9 3 - 8 1 0 von Felicitas Olef-Krafft in ihrer Perceval-Ausgabe (wie Anm. 1).
250
Martin
Schuhmann
nach, ob das Rauben von Trunk und Speise alles gewesen sei, was der Fremde seiner Freundin angetan habe (Perceval, ν. 796-812) - er vermutet also mehr, ist sich aber nicht sicher. Dabei redet er seine Freundin mit 'bele' (Perceval, ν. 796) an, bleibt also bei einer freundlichen und höflichen Anrede. 10 Und der Erzähler schildert ihn als 'untröstlich und bedrückt in seinem H e r z e n ' " (desconforte / Et angoisseus
en son corage,
Perceval,
v. 804f.). Das sind ziemlich genaue Charakterisierungen der Figur. Man kann das als 'abwartend', vielleicht auch als 'drohend und abwartend' verstehen - jedoch kann man es nicht eindeutig auf die Emotion hin interpretieren, die im folgenden Teil seiner Rede deutlich gezeigt wird. Nachdem das Fräulein nämlich die Küsse gestanden hat, die Perceval ihr geraubt hatte, beginnt eine neue Phase des Gesprächs mit einer deutlich anderen Darstellung des Ritters. Chretien lässt die Figur das „baisa" ('geküsst', Perceval, ν. 810), das letzte Wort aus dem Geständnis der Freundin aufnehmen - in Anadiplosis und als Einwortfrage, die nur einen halben Vers einnimmt (Perceval, ν. 811). Diese auffällige sprachliche Gestaltung leitet eine 19 Verse lange Rede des Ritters mit einem ganz neuen Ton ein: Li Orgueilleus unterstellt seiner Dame Täuschung, kündigt Rache an und ist rasend eifersüchtig. Dass eben Eifersucht die beherrschende, treibende Emotion seiner Rede ist, aus der man den Ritter und seine Handlungen verstehen soll, wird dabei nicht nur durch seine Rede selbst vermittelt. Der Erzähler schafft letzte Eindeutigkeit, indem er in die Verdammungsrede der männlichen Figur eine inquit-Forme\
einschiebt: Fait eil cui jalosie
angoisse
-
'sagt jener, den die Eifersucht bedrängt' (Perceval, ν. 815). Die Rede wird damit explizit als eine Illustration von Eifersucht bezeichnet. Rede und Erzählerbemerkungen haben also den abschließenden Monolog und den Entschluss zur Rache von Ii Orgueilleus
genau motiviert und im Kontext aus Sicht der Figur
verstehbar gemacht: Alles entspringt aus Eifersucht. Aber der Bruch zwischen der ersten, abwartenden Zeichnung des Ritters und dem plötzlichen Ausbruch seiner Eifersucht ist auffällig und kann nicht allein aus der gerade besprochenen ersten Szene, in der der Ritter und das Fräulein miteinander sprechen, erklärt werden. Wie jedoch soll man das zusammen lesen, Zögern zu Beginn und Heftigkeit der gezeigten Eifersucht am Ende? Vielleicht gibt die zweite Szene, in der die beiden Figuren im Roman auftreten, Antwort auf diese Frage. Als Perceval fast 3000 Verse später wieder auf das Fräulein und den Ritter trifft, fasst Ii Orgueilleus
in einer Drohrede (Perceval,
ν. 3835-3898) zuerst die ganze Zeltepisode noch einmal zusammen und legt danach u.a. 31 Verse lang dar, warum Frauen nicht zu trauen ist (Perceval, ν. 3845-3876). Letzteres kann man losgelöst von der Figur auch als allgemeine Aussage verstehen, die in die Figu10
11
Zu weiteren Verständnismöglichkeiten der Anrede vgl. zusammenfassend die Anmerkung zu Perceval, ν. 796 von Felicitas Olef-Krafft in ihrer Perceval-Ausgabe (wie Anm. 1). Eigene Übersetzung.
251
Figurenrede bei Chretien und Wolfram im Vergleich
renrede verlagert ist, um bestimmte Standpunkte im Roman unvermittelt, losgelöst von der Instanz des Erzählers zu etablieren. Aber nicht dieser Redeteil scheint für die Beantwortung unserer Frage wichtig, wie abwartende Haltung und plötzliche Eifersucht in der ersten Begegnung zusammenpassen können, sondern ein kleiner, unauffälliger Satz, mit dem Ii Orgueilleus
seine Zusammen-
fassung der Geschehnisse in der zweiten Begegnung einleitet: '[S]ie [sc. das Fräulein im Zelt] war mein ein und alles' („[...] Ne n'amoie
rien se Ii non [...]", Perceval, ν. 3848).
Diese Aussage ist auffällig, weil sie sich inhaltlich völlig vom Rest der Rede unterscheidet, die sonst so stark die Eifersucht und das Rachegelüst des Ritters betont. In ihrem Inhalt passt die Einleitung dieser späteren Rede viel besser zu den früheren Redestellen des Ritters in der ersten Episode zu Beginn des Romans, die von großer Betroffenheit gezeugt hatten, bevor seine Eifersucht in den Vordergrund trat (Perceval, ν. 782-833). Einmal aufmerksam geworden, findet man später, als der Ritter die Strafe von seiner Freundin nimmt, in einer inquit-¥oimz\
wieder eine der wenigen Bemerkungen in der Erzählerrede, die den
Ritter näher kennzeichnen: Dort heißt es über ihn, dass er seine Freundin 'mehr als seinen Augapfel liebte' {Cil qui l'amoit plus que son oeil, Perceval, v. 3943). Und in seiner folgenden Rede sagt der Ritter noch selbst, dass sein Herz '[tjraurig und freudlos' sei, weil er seiner Freundin Böses angetan habe („[...] Del mal que je Ii ait fait traire / Aije le euer et tristre et noir", Perceval, v. 3948f.). Das alles kann man zusammen lesen, und dann gab es eigentlich niemals einen Bruch in den Reden und in der Darstellung des Ritters, im Gegenteil: Alle seine Handlungen sind über seine Emotionen und seine Reden bei höchster Knappheit der Gestaltung genau motiviert: Ausgangspunkt für das Verhalten des Ritters ist seine Liebe zu seiner Freundin, die sich bei der Erwähnung der geraubten Küsse in rasende Eifersucht verwandelt. Indem man die Beweggründe der Figur über ihre Zeichnung ganz detailliert nachvollziehen kann, wird das eigentliche Darstellungsmotiv der Szene ins Rampenlicht gerückt: Eifersucht aus Liebe. Das scheint das zentrale Moment der Darstellung zu sein. Jedoch klärt diese differenzierte Zeichnung der Figur auf der Mikroebene (wenn auch über weit auseinander liegende Textstellen) ein anderes, wesentliches Problem des Verständnisses des Romans nicht, sondern verstärkt es sogar eher noch - nämlich, wie man diese Episode im Kontext des ganzen Werks deuten soll. Darauf gibt Chretien keinerlei Hinweis, und er unterläuft mit seinem poetischen Verfahren sogar jeden Deutungsansatz, denn er verzichtet auf alle Mittel zur Erklärung und Einordnung der Szene in das Werk: Die Episoden sind nur lose aneinandergefügt, der Horizont des Lesers ist radikal auf den Blickwinkel der Figur eingeschränkt, die gerade handelt; und die Rede des Erzählers ist darauf eingeengt, Stichworte zur Szenerie und zu den Figuren zu geben. Wir finden in der Erzählerrede keinen Hinweis darauf, wie wir die Episode nehmen sollen, nur ziemlich allgemeine Bemer-
252
Martin
Schuhmann
kungen zum Schicksal des Mädchens.12 Gleiches gilt für die Rede anderer Figuren, die das Schicksal des Fräuleins ebenfalls nur allgemein thematisieren.13 Überspitzt könnte man sagen: Chretiens Perceval erzählt mimetisch, nicht diegetisch: darstellend, zeigend und nicht wertend, unverbunden und daher als Ganzes rätselhaft. Fazit: Das Verhalten der Figur wird genau motiviert, allerdings über weit auseinander liegende Textstellen; wie man diese Gestaltung auf der Mikroebene im Kontext des Romans, im großen Ganzen deuten soll, bleibt offen. Das ist wohl bei einem so sorgfältig gestaltenden Dichter wie Chretien nicht darauf zurückzuführen, dass die Reihenfolge der Episoden durch die absichtslose Übernahme einer tradierten Anordnung oder durch die absichtslose Kontamination mit anderen Stoffen entstand. Auch ein Strukturschema zu unterstellen, das aus der Episodenabfolge dem Gezeigten Sinn verleiht, bietet für den Perceval insgesamt und speziell für die Einbindung dieser Episode in den Gesamtkontext keine schlüssige Erklärung:14 Anders als andere Inhalte, die in strukturell ähnlichen Episoden gespiegelt werden (Köhler-Begegnung - Aufnahme am Artushof - Aufnahme am Gralshof) oder mit einem übergeordneten Darstellungsthema verbunden sind (Tötung des roten Ritters - Ritterschaft für Blancheflor), spielt das Thema Eifersucht aus Liebe für Percevals Weg keine Rolle, wie überhaupt Liebe für seinen Weg fast gar keine Rolle spielt. Das Thema steht ganz isoliert, die Entwicklung der Hauptfigur zur Höfischkeit hätte man auch an anderen Inhalten exemplifizieren können als an denen, die hier bei Ii Orgueilleus und dem Fräulein im Zelt gezeigt werden. Es ist eher so, als ob die genaue Motivierung im Kleinen die Disparatheit im Großen umso deutlicher hervortreten lassen soll: Je genauer man das Kleine zu verstehen meint, desto rätselhafter muss der Zusammenhang zum Ganzen und das Ganze überhaupt erscheinen. Die Genauigkeit in der Motivation über die Figurenrede, die man aus weit auseinander liegenden Stellen des Werks zusammensuchen muss, steht gegen das Werk, das jede 12
13
14
Es findet sich ein Nebensatz, in dem das Mädchen als bedauernswerteste Kreatur vorgestellt wird: Une pucele ot de desus, / Ainc tant chetive ne vit nus ('Ein Mädchen saß darauf [sc. auf dem Pferd]; niemals gab es eine bedauernswertere Kreatur', Perceval, v. 3715f.). Das Fräulein beklagt monologisch seine Pein („paine", Perceval, ν. 3760), seine Schmach („honte", Perceval, ν. 3762, 3769) und seine Demütigung („maleürte", Perceval, ν. 3769). Perceval trägt Ii Orgueilleus auf, von der bösen Strafe des Fräuleins (Perceval, ν. 3964) am Artushof zu erzählen; dieser Bericht vor dem Artushof wird in einer indirekten Rede wiedergegeben, wo ähnliche Begriffe verwendet werden wie in der Klage des Fräuleins {Et eil Ii conte / Toute la viltance et la honte [...] / Et la paine [...] / Et l'achoison [...], Perceval, ν. 4053—4057). Der Artushof schweigt zu der Strafe, hebt kurz die Vortrefflichkeit von Ii Orgueilleus' Kampfkünsten hervor und beschäftigt sich damit, wie er Perceval finden kann. Vgl. für eine Kritik der starren Anwendung eines Strukturschemas und der Erklärung der arthurischen Romane Chretiens aus einer Symbolstruktur heraus Elisabeth Schmid, „Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung", in: Erzählstrukturen der Artusliteratur: Forschungsgeschichte und neue Ansätze, hg. von Friedrich Wolfzettel unter Mitwirkung von Peter Ihring, Tübingen 1999, S. 69-86.
Figurenrede
bei Chretien und Wolfram im
Vergleich
253
Integration verweigert. U n d vielleicht ist das ebenfalls e i n e A u s s a g e über die Narration ein Z e i c h e n dafür, dass das Verstehen der B e w e g g r ü n d e des Einzelnen m ö g l i c h und erzählbar ist, dass aber das Große und Ganze, das Werk, diesen Z u s a m m e n h a n g verweigern muss, w e i l er nicht mehr erzählbar ist, w e i l e s im Großen und Ganzen keinen Z u s a m m e n hang gibt, nur unverbundene P r o b l e m e der Ritterschaft und der ritterlichen Liebe, die über den W e g der Hauptfigur z u s a m m e n g e k l a m m e r t werden. 1 5
III.
Orilus und Jeschute im Parzival
W o l f r a m hat andere Schwerpunkte der Darstellung als Chretien gesetzt. D e r Ritter und das Fräulein werden nicht mehr nur als T y p e n benannt, sondern haben N a m e n : Orilus und Jeschute. U n d die w e i b l i c h e Figur trägt neben Lamentieren, K l a g e n und persönlicher
kiusche
ein w e s e n t l i c h e s Merkmal mehr: Jeschutes Darstellung hebt auch und vor allem auf die Evokation von Erotik ab. S o wird ihr N a m e bei der ersten Erwähnung mit d e m Paarreim geliche
einem
ritters
trüte (Parzival,
v. 1 3 0 , l f . ) verbunden: Jeschute wird damit als B i l d
der prototypischen Geliebten e i n e s Ritters eingeführt. 1 6 U n d die mit 2 4 V e r s e n sehr lange
15
Diese Auffassung der Redeszene versteht sich als Versuch, den Gralsroman Chretiens gerade in seiner Verweigerung von einordenbaren (Sinn-)Integrationen zu verstehen, wie es prägnant von Friedrich Wolfzettel in einem Forschungsüberblick über die Nachkriegsforschung zum Perceval zusammengefasst worden ist: Diese „systematische Technik der aporetischen Aufgipfelung scheinbar vertrauter Handlungsmuster, ihre Inversion, Doppelung und Spiegelung stellen eine Reise ins Unvertraute dar und verleihen diesem späten Roman eine subversive Potenz, die durch die verständliche Suche nach Bedeutung, Stimmigkeit und handlicher spiritueller Botschaft allzu lange verdeckt worden ist. Die im Grunde restaurativen Fortsetzungen und auch die Vorwürfe eines Wolfram von Eschenbach, daß Chretien disem msere hat unreht getan (V. 827,2), erscheinen dadurch in einem anderen Licht - nämlich im Licht einer bis an die Grenzen des im Hochmittelalter Möglichen gehenden Aufwertung und Infragestellung der 'ecriture' und als mittelalterliche Form der 'opera aperta' im Sinne Umberto Ecos, die keine geschlossenen Sinnstrukturen mehr anbietet und stattdessen als fundamental unabgeschlossene, weil unabschließbare romanhafte Reflexion über die Grenzen der Sprache und Sinnkonstitution erscheint". - Friedrich Wolfzettel, „Der lange Weg zu einem 'anderen' Chretien. Zur Nachkriegsforschung über den Conte du Graat\ in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag, hg. von Matthias Meyer und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2002, S. 871-892, hier zitiert S. 891 f.
16
Ich würde als Übersetzung für Parzival, v. 130,lf. vorschlagen: '[dem Wunschbild] der Geliebten eines Ritters gleichend'. Vgl. dafür auch die ParzivaZ-Übersetzung von Arthur T. Hatto zur Stelle: „a lovely sight and all a knight could wish in a mistress!" - Wolfram von Eschenbach, Parzival, übersetzt von Arthur T. Hatto, Hammondsworth 1980, Nachdruck 2004, S. 76. Für eine engere Übersetzung allein bezogen auf Orilus als 'die Geliebte eines Ritters' spricht sich dagegen Yeandle aus (wie Anm. 3), Kommentar zu v. 130,1; ebenso der Kommentar zur Stelle von Karl
254
Martin Schuhmann
Beschreibung der Figur (Parzival, v. 130,2-25), die stark die Schönheit Jeschutes hervorhebt, impliziert ebenfalls Erotik, u.a. durch den im Schlaf leicht geöffneten feuerroten Mund und die daraus hervorblitzenden ebenmäßigen Zähne. Vor allem ein Element der Darstellung evoziert im Besonderen eine sexuell aufgeladene Szenerie: Wolfram beschreibt, wie Jeschute die Decke bis an die Hüften gerutscht ist (Parzival, v. 130,17-25) und in Wolframs Werk schläft man durchaus auch nackt. 17 Der mittelhochdeutsche Autor hat die bei Chretien vorgegebene Situation also stark verändert, indem er eine in der Vorlage nur angedeutete und in anderer Konstellation evozierte Möglichkeit für die Zeichnung seiner weiblichen Figur in den Vordergrund stellt 18 nämlich Erotik: Jeschute ist des Wunsches äventiur
(Parzival,
v. 130,10), das Sinnbild
einer schönen Geliebten. Die Lage, die durch das Eindringen Parzivals in ihr Zelt entsteht, ist durch die Erotik der Figur eine gefährliche, eine grenzwertige Situation, die Gefahr einer Vergewaltigung liegt in der Luft (vgl. u.a. Parzival,
v. 131,8 und 132,6). Und wie
lässt Wolfram nun Parzival auf die erotische Zeichnung der weiblichen Figur reagieren? Gar nicht, und das ist die Pointe der Darstellung: Die sexuelle Unbedarftheit der Hauptfigur wird durch das Verhalten Parzivals regelrecht vorgeführt. Die erotische Zeichnung der Jeschute zielt damit nicht eigentlich auf sie selbst, sondern auf Parzival, dessen unberührter Status der tumpheit
(auch in sexueller Hinsicht) über sein Ignorieren der Situation betont
wird - Wolfram wird später die Unterschiedlichkeit gerade dieses Verhaltens zur site des Vaters von Parzival deutlich herausstellen." Die Besonderheit der Situation und der Reaktion Parzivals wird dabei nicht nur Uber die Beschreibung des Erzählers impliziert, sondern ebenfalls über Jeschutes Rede: All ihre Klagen hat W o l f r a m in Redeberichte verschoben, in direkter Rede sagt Jeschute zu Parzival: „[...] ir mohtet iu nemen ander zil" (Parzival,
17
18
19
v. 131,10, die Handschriftengruppe G
Bartsch und Marta Marti - dieser allerdings mit der Parenthese „wie nämlich ihr Aussehen lehrte" (Wolfram von Eschenbach, Parzival und Titurel, hg. von Karl Bartsch und Marta Marti, 4. Auflage bearbeitet von Marta Marti, Leipzig 1927 [Deutsche Klassiker des Mittelalters 9]). Hier wird offen gelassen, ob Jeschute Kleidung trägt oder nicht. Vgl. für Figuren, die nackt schlafen, z.B. Parzival auf der Gralsburg, Parzival, v. 243,16; die dort gezeigte Dezenz im sexuellen Verhalten ist ein durchgehendes Charakteristikum Parzivals. Verbunden mit sexuellem Verlangen wird im Conte du Graal eher die Zeichnung Percevals, der das Fräulein küsst und behauptet, dass seine Mutter ihm das aufgetragen habe (Perceval, ν. 693-695), während diese aber tatsächlich eindeutig und mehrmals gesagt hatte, dass er Ring oder Kuss nicht gegen den Willen einer Frau erzwingen dürfe (Perceval, ν. 541-556). Chretien lässt Perceval auch sagen, dass er das Fräulein lieber küsse als eine Kammerfrau seiner Mutter, weil das Fräulein keinen 'bitteren Mund' habe (Perceval, ν. 722-728). Relativ unvermittelt erinnert Wolfram bei Sigune daran, dass Parzival noch die beiden Schmuckstücke der Jeschute bei sich trägt, um dann fortzufahren: hete er gelernt stns vater site, / die werdecltche im wonten mite, /diu buckel weere gehurtet baz (Parzival, v. 139,15-17). Diese nachträgliche Erwähnung zeigt ebenfalls, dass das Verhalten Parzivals angesichts der erotischen Situation ein wichtiges Moment der Episode darstellt.
255
Figurenrede bei Chretien und Wolfram im Vergleich
hat „spil")·, und er lässt sie ihn auffordern, sich „ander spise" (Parzival, v. 131,26) zu suchen. Zwar lehnt sie mit den Äußerungen für sich die Möglichkeit ab, sich als „zil",
„spil"
oder „spise" behandeln zu lassen - aber dadurch, dass Wolfram sie diese Möglichkeiten überhaupt erwähnen lässt, werden sie erst ins Bewusstsein der Hörer gebracht. Auch diese Äußerung Jeschutes zielt also nicht eigentlich auf ihre eigene Zeichnung, sondern auf Parzival, kennzeichnet seine besondere Reaktion. Die Evozierung einer sexuell aufgeladenen Situation ist jedoch nur ein Aspekt der Darstellung, wenn man dem Gespräch weiter folgt. Die Zeichnung der männlichen Figur ist bei Wolfram gleichfalls verändert. Orilus wird im Parzival schon mit Stand und Namen eingeführt, bevor er überhaupt auftritt. 20 Wie bei Chretien sieht der Ritter ebenfalls bei seiner Ankunft die Hufspuren und die Betrübnis seiner Freundin und beginnt dann zu sprechen. Aber bei Wolfram werden keine Empfindungen der Figur inszeniert, nichts zögerlich Abwartendes findet sich mehr: Orilus beschuldigt Jeschute sofort der Untreue: „[...] ir habet ein ander amis" (ν. 133,10) - er ist also sofort eifersüchtig. Die darauf folgenden Klagen und Verteidigungen Jeschutes werden in einem vierversigen Redebericht zusammengefasst; dieser Teil ihrer Zeichnung scheint Wolfram nicht zu interessieren. In direkter Rede - und damit besonders herausgestellt - lässt Wolfram Jeschute sagen: „da kom ein tor her zuo geriten: swaz ich liute erkennet hän, ich engesach nie Up so wol getan, mm vürspan und ein vingerlin daz nam eräne den willen min." (Parzival, v. 133,16—20)
Diese Rede ist in einiger Hinsicht bemerkenswert. Das Ende (v. 133,19) zeigt, wie die ausführliche Darstellung des zögerlichen Geständnisses des Fräuleins bei Chretien bei Wolfram auf ein Minimum zusammengedrängt worden ist: Der geraubte Kuss wird gar nicht erst erwähnt; auf den von Jeschute erwähnten Raub von Spange und Ring wird Orilus nicht reagieren. Eifersucht entwickelt sich nicht wie bei Chretien aus dem gestandenen Geschehen und dem Gespräch, sie ist mit dem ersten Auftritt der männlichen Figur einfach da. Auch zärtliche Gefühle für Jeschute markiert Wolfram in der Darstellung von Orilus nicht: Die Konzeption der männlichen Figur ist in dieser Beziehung vereinfacht. 2 ' Erstaunlicher als der Schluss ist aber die Mitte der o.a. Rede von Jeschute, die Bemerkung über die Schönheit Parzivals: „ [...] ich engesach nie Up so wol getan [...]"
(Parzival,
v. 133,18). Aus der Figur heraus kann man diese Reaktion nicht recht erklären; es gibt kei-
20
21
So bei der Namensnennung der Jeschute, die bei ihrem ersten Auftreten als wip des due Orilus de Lalander (Parzival, v. 129,27f.) eingeführt wird, Orilus erscheint erst später. Anders Schu (wie Anm. 3), S. 224f., die Orilus' Verhalten durchgehend psychologisch motiviert sieht.
256
Martin Schuhmann
ne Anzeichen für die Hörer, dass Jeschute Parzival begehrt und ihr Verhalten negativ verstanden werden soll.22 Welche Funktion hat die Bemerkung dann jedoch? Wie gesagt: Die Charakterisierung von Nebenfiguren durch ihre Reden ist ein untergeordnetes Ziel von Wolframs Darstellung. Die Rede von Jeschute zielt wieder auf Parzival, dessen Schönheit Wolfram vom ersten Auftritt an als wesentliches Merkmal der Figur eingeführt hat. Damit markiert Wolfram den Rang der Figur im Roman über ein gebrochenes Kalokagathie-Konzept:23 Parzivals Schönheit ist ein Hinweis an die Hörer, dass der tumbe knappe höfisches Handeln und wtsheit noch erreichen wird, dass die Hörer es mit der Hauptfigur zu tun haben, die ihren endgültigen Status in der Darstellung noch nicht erreicht hat. Außerdem ist Jeschutes Bemerkung über Parzivals Schönheit eine zusätzliche Motivation für das Verhalten von Orilus, der sich später als Grund für seine Eifersucht eben darauf berufen wird.24 Hier geht es also wieder nicht primär um eine eigenständige Zeichnung Jeschutes; stattdessen verfolgt Wolfram mit der Konzeption der weiblichen Figur andere Darstellungsziele im Roman. Folgt man dem Gespräch weiter, steht nach einer kurzen Wechselrede zwischen Orilus und Jeschute das, was auch bei Chretien den Höhepunkt der Redeszene bildet: die lange Rede des Ritters, an deren Ende die Verdammung seiner Geliebten stehen wird (Parzival, v. 133,29-137,19). Wie bei Chretien wird in diesem monologisch geprägten Redeteil ein neues Gefühl des Ritters deutlich vorgeführt; aber dieses neue Gefühl ist nicht Eifersucht, die die Figur von Anfang an kennzeichnete, sondern ein komplexeres Gefühl, das nicht direkt benannt wird, sondern erst aus dem Text aus verschiedenen Anhaltspunkten hergeleitet werden muss: Orilus' Minnebeziehung zu Jeschute ist eine Mesalliance - er ist Herzog, vor ihrer Verbindung war sie eine Königin. Vor der Rede ist er offensichtlich eifersüchtig; in der Rede erwähnt er die Verbindung unter Stand und zählt dann seine siegreichen Kämpfe und seine besiegten Gegner 50 Verse lang auf. Aus der Verbindung seiner Siege mit der Erwähnung der Mesalliance liegt für einen modernen Leser das Urteil scheinbar nahe: „Orilus' nachfolgende Prahlrede soll offenbar aus seinem Inferioritätskomplex be-
22
23
24
Vom Gegenteil spricht Jeschutes Verhalten im Zelt und die dreimalige Verbindung der Figur mit pris und kiusche (Parzival, v. 137,8, 260,8, 264,9). Zudem steht ihre Rede unter dem Vorzeichen der Angst. Dazu kann man die Erwähnung von Parzivals Schönheit als einen Verweis auf Parzivals besondere art von einer feien und damit als Hinweis auf seine Zugehörigkeit zur Gahmuret-Sippe lesen. Von dieser Sippe unterscheidet Parzival sich aber, wie oben bereits ausgeführt, nicht nur in dieser Episode durch sein Verhalten in Minnedingen stark. Vgl. Parzival, v. 271,4f.: „[...] do si aber von diner scheene sprach, / ich wände da wsre ein vriuntschaft bi [...]". Orilus ist jedoch bereits vor der Bemerkung Jeschutes eifersüchtig. Dieses Gefühl mag durch die Äußerung Jeschutes gesteigert werden, jedoch lässt sich aus dem Text nicht sagen, in welchem Grad die Eifersucht verstärkt wird.
Figurenrede bei Chretien und Wolfram im Vergleich
257
gründet werden".25 Aus der Betrachtung des Texts empfiehlt es sich jedoch, vorsichtiger zu sein. Wolfram stellt die Anzeichen, die zu dieser Interpretation führen, zwar syntagmatisch hintereinander, aber er unterlässt jede direkte Bewertung und setzt sonst nirgendwo mehr Hinweise auf eine ähnliche Zeichnung der Figur. Orilus' Zeichnung - seine Eifersucht, die Mesalliance, die er benennt, seine Siege und seine Verdächtigungen Jeschutes - ist jedenfalls über die Darstellung eines Figurengefühls hinaus ebenfalls Darstellung eines Minneproblems, das mit der Episode gezeigt wird nicht anders als bei Chretien. Anders als im altfranzösischen Werk steht die Episode als Minneproblem im Text bei Wolfram jedoch nicht isoliert, denn fast jede der vielen Nebenhandlungen des Parzival zeigt eine spezielle Ausprägung der Liebe zwischen Ritter und Dame. Unsere Episode hier ist nur eine Darstellung unter vielen, und das erscheint als der entscheidende Punkt bei Wolfram: Die Demonstration vieler verschiedener Minneprobleme ist wohl mindestens ebenso wichtig wie deren jeweiliger Ausgang. Alle Minne-Nebenhandlungen lassen sich in ihrer Gesamtheit und Komplexität zusammen als eigener Roman im Roman lesen, als eigener Diskurs, der eine Aussage über das Nebeneinander verschiedener Problemstellungen und Handlungsmöglichkeiten in der Minne macht, ohne dabei auf eine feste Gesamtaussage bzw. Gesamtauffassung festlegbar zu sein. Und Orilus' Minneproblem führt in diesem speziellen Fall dazu, dass er seine besiegten Gegner aufzählt. Darin liegt vielleicht die wichtigste Funktion seiner Rede innerhalb der Gesamtkonzeption des Parzival, dieser Mitteilung an den Leser ist die Emotion übergeblendet, die die Figur in ihrer Äußerung zur Schau trägt. Orilus' Rede, motiviert aus seinem 'Minderwertigkeitskomplex', ist über die Liste der besiegten Gegner intra- und intertextueller Verknüpfungspunkt zu anderen Geschichten im Roman, und ein ganz besonderer Verknüpfungspunkt: Seine Vorgeschichte ist der wichtigste Knotenpunkt verschiedener Erzählhandlungen im 3., 4. und teilweise auch im 5. Buch des Parzival. Wie Wolfram diese Verbindungen im Einzelnen setzt, wurde schon gezeigt,26 deshalb verzichte ich auf eine ausführliche Darstellung und resümiere kurz: Wolfram schafft Beziehungen zu den deutschen und französischen £rec-Romanen, 27 etabliert Orilus als Tod-
25
26
27
Kommentar zu Parzival, v. 134,3, aus: Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 110; Bibliothek des Mittelalters 8). Vgl. grundlegend, auch für eine theoretische Einordnung der inter- und intratextuellen Verweise in Wolframs Werk, Ulrike Draesner, Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs 'Parzival', Frankfurt a.M. u.a. 1993 (Mikrokosmos 36). Dort wird die Rede des Orilus S. 200-217 besprochen. Die wichtigste intertextuelle Verknüpfung: Jeschute sollen wir uns als Erecs Schwester (Parzival, v. 134,6) denken. Für die Frage, ob Wolfram damit eine Verbindung zum Schicksal Enites herstellen wollte, vgl. zusammenfassend den Kommentar von Yeandle (wie Anm. 3) zu Parzival,
258
Martin
Schuhmann
feind der Artusgesellschaft 2 8 und ebenfalls als T o d f e i n d v o n Parzival. 2 9 A l l e E p i s o d e n bis hin zu Parzivals erstem B e s u c h b e i m Gral werden durch eine Erwähnung der JeschuteOrilus-Episode inhaltlich z u s a m m e n g e k l a m m e r t . 3 0 D i e bei Chretien locker g e f ü g t e Episodenkette wird s o bei W o l f r a m fester z u s a m m e n g e b u n d e n . U n d n o c h e t w a s wird über die R e d e von Orilus ermöglicht: Potential für dramatische Ironie, das W o l f r a m im F o l g e n d e n dann w e i t entwickelt, vor a l l e m über Orilus' S c h w e s t e r und im K a m p f v o n Orilus mit Parzival. 3 1 Ü b e r die Gestaltung v o n Jeschute und Orilus schafft W o l f r a m explizit Verbindungen ins Werk und verknüpft die E p i s o d e n f o l g e stärker. D a s ist die eigentliche A u f g a b e dieser Epis o d e im mittelhochdeutschen Werk, und genau mit dieser Gestaltung hat W o l f r a m die besondere K o n z e p t i o n der S z e n e i m Perceval
getilgt, bei d e m die f e i n e Motivation d e s Figu-
renverhaltens g e g e n die Unintegriertheit der E p i s o d e i m Werk stand.
28
29
30
31
v. 134,6 „iuwer bruoder Erec". Für weitere Verbindungen zum £rec-Stoff vgl. zusammenfassend Neilmann (wie Anm. 25), Kommentar zu Parzival, v. 134,12. Prägnant ausgedrückt wird das in der Rede von Orilus: „[...] si hazzent mich besunder, / die von der tavelrunder [...]" (Parzival, v. 135,7f.). Orilus will Galoes, den Bruder Gahmurets, getötet haben (Parzival, v. 134,23) und noch dazu kurz vor seiner Rede einen vürsten (Parzival, v. 135,22). Dass das Schionatulander ist, erfährt der Hörer erst aus dem nächsten Gespräch von Parzival mit Sigune (Parzival, v. 141,9). Szenenverknüpfungen ergeben sich aus dem häufigen Bezug auf Gegebenheiten, die mit Orilus und Jeschute verknüpft sind: Wolfram erinnert an Ring und Spange, die Parzival Jeschute geraubt hat (Parzival, v. 139,11-22); Sigune hält den toten Schionatulander im Arm, den Orilus erschlagen hat, wie sie sagt (v. 141,6-24); mit der Jeschute geraubten Spange bezahlt Parzival den gierigen Fischer (v. 143,lf.); Orilus' Schwester, die Orilus mit seiner Rede 16 Dreißiger vor ihrem Auftritt (v. 135,13-18) eingeführt hat, lacht über Parzival und wird dafür geschlagen (v. 152,20ff. steht ein expliziter, erinnernder Hinweis auf Orilus und Lehelin); und Gurnemanz wird Parzival wegen seines Verhaltens bei Jeschute ermahnen (Parzivals Schilderung steht v. 170,1; Gurnemanz' Ermahnung v. 175,29-176,7). Vgl. dafür L. Peter Johnson, „Dramatische Ironie im Parzival", in: Probleme mittelhochdeutscher Erzählformen. Marburger Colloquium 1969, hg. von Peter F. Ganz und Werner Schröder, Berlin 1972 (Institute of Germanic Studies, Publications 13), S. 133-152; für den Kampf gegen Orilus vgl. S. 138ff. Einige Momente dramatischer Ironie: Orilus wünscht sich, den Mann mit dem „hoesten prts" zu sehen, über den seine Schwester lachen wird (Parzival, v. 135,18) - Parzival hat die Szene jedoch gerade erst verlassen; später werden die beiden gegeneinander kämpfen, ohne zu wissen, dass sie beide einander in mehr als einer Beziehung dringlichst suchen; und zum Schluss wird Orilus Parzival seine ehemaligen Ländereien unwissentlich als „Sicherheit" anbieten, während Parzival Orilus zum „dienest" an seiner eigenen Schwester verpflichtet (Parzival, v. 266,21-268,6).
Figurenrede bei Chretien und Wolfram im Vergleich
IV.
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Fazit
Fassen wir die Ergebnisse zusammen: Die Darstellung der Jeschute und ihre Reden bei Wolfram zielen nicht primär darauf, ein eigenständiges Bild der Figur zu schaffen, sondern auf bestimmte Wirkungen und über diese Wirkungen auf die Charakterisierung Parzivals. Insgesamt wird Jeschute im mittelhochdeutschen Werk etwas ausführlicher gezeichnet als das Fräulein im Zelt bei Chretien: Der altfranzösische Autor hatte sich nur auf ihre Angst konzentriert und sie klagen lassen, seine Darstellung ist redundant, dadurch rhetorisch auffällig und eindringlich. Wolfram dagegen nimmt die Merkmale des Fräuleins im Zelt auf, kürzt ihre direkt dargestellten Reden, verzichtet fast ganz darauf, ihre Klagen wiederzugeben und hebt ein erotisches Moment in ihrer Darstellung hervor. Insgesamt wird Jeschute (wie die ganze Szene) viel stärker als bei Chretien in den Funktionszusammenhang des Werks eingeordnet. Wenn Jeschute am Ende der Szene Orilus widersprechen darf, wo bei Chretien keine Reaktion des Fräuleins mehr erwähnt wird, zeigt das, dass Wolfram das Schicksal seiner Nebenfiguren über die Berührung der Haupthandlung hinaus darstellen will, dass er überhaupt an der Ausgestaltung von typischen Szenen und Figuren mehr interessiert ist als der Autor des Perceval,
auch wenn die Inszenierung der Nebenfiguren zu-
gleich anderen Zielen im Roman dient. Die Darstellung des Ritters ist in beiden Werken vielschichtig. Wolframs Orilus wird breiter eingeführt als bei Chretien; auf die direkte Benennung von Figurengefühlen verzichtet der mittelhochdeutsche Autor und lässt die Figur ihre Emotionen über die Rede vermitteln. Orilus ist unmittelbar von Beginn der Szene an eifersüchtig, was zweimal nachträglich motiviert wird, über die Bemerkung Jeschutes zu Parzivals Schönheit und über die lange Rede des Ritters. Diese lange Rede des Orilus ist zugleich der interessanteste Punkt in der ganzen Redeszene, weil hier ein poetisches Prinzip Wolframs ganz deutlich wird: die starke Verknüpfung von Einzelheiten innerhalb und außerhalb des Werks. Chretien hat bei seiner Gestaltung der Szene auf fast jede Verknüpfung zum umliegenden Kontext verzichtet; er eröffnet allerhöchstens eine schwache Möglichkeit der Einbindung der Szene in das Werk, wenn es durch die räumliche Nähe Ii Orgueilleus gewesen sein könnte, der den Geliebten von Percevals Cousine erschlagen hat (Perceval, ν. 3644-3653), aber auch das wird nicht expliziert. Dass Chretien diese Möglichkeit der Verknüpfung nicht weiter ausgebaut und verstärkt hat, ist kennzeichnend für sein Werk: Es zielt gerade auf das Unverbundene, Rätselhafte, bei aller Klarheit im Detail. Die Figurenrede schafft bei Chretien über weit auseinander liegende Textstellen eine genaue Motivation für Ii Orgueilleus' Verhalten; diese Motivation fehlt auf höherer Ebene, dann, wenn sein Verhalten und die ganze Szene bewertet und im Kontext des Werks gelesen werden sollen. Wolfram wiederum bewertet die Strafe, die Orilus über Jeschute verhängt, in Erzähler- und Figuren-
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rede und schafft so einen Verständnisrahmen für die Episode, die stark ins Werk integriert ist und selbst wiederum stark integrierend für längere Handlungsabschnitte des Parzival wirkt. Diese Integration ins Werk zu schaffen, ist bei Wolfram die eigentliche Aufgabe der Redeszene, und dieser Aufgabe sind die Gestaltungen von Jeschute und Orilus untergeordnet. Jeschutes Bemerkung zu Parzival: „[...] ir möht iu nemen ander zil"
(Parzival,
v. 131,10)32 lässt sich so auch auf die Figurenrede bezogen verstehen: Als Teil eines literarischen Texts ist Figurenrede nie allein auf die sprechende Figur hin zu lesen, immer dient sie auch anderen Funktionen und Zielen, wie das ganze Werk - zuletzt immer der komplexen Kommunikation mit dem Hörer oder Leser.
32
Dieser eine Vers wird hier in der Lesart der Handschriftengruppe Dd nach der Ausgabe von Karl Lachmann zitiert (die sonst verwendete Edition Albert Leitzmanns liest mit Gg „spil", s. oben, S. 254f.). Vgl. Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung von Bernd Schirok, Berlin/New York 2 2003.
Henrike Lähnemann
Haken schlagende Reden Der Beginn des neunten Buchs des Parzival
Das neunte Buch des Parzival wird mit einem der überraschendsten Redeeinsätze der mittelhochdeutschen Literatur eröffnet. Gawan nimmt am Ende des achten Buchs urloup und bricht zur Gralssuche auf. Auf die Explikation, dass min her Gäwän [...] reit al eine gein wunders not (v. 432,26-30),' folgt ohne weitere Ankündigung ein Befehl: „Tuot üfi", gekontert von Gegenfragen: 'wem? wer sit ir?' (v. 433,1). Erst im Verlauf mehrerer Verse wird deutlich, dass sich hier ein Gespräch zwischen Frau Aventiure und dem Erzähler abspielt. Im Hin und Her der Unterhaltung erwartet er von ihr Aufklärung über den Verbleib des anderen Helden, Parzivals, der 'beidiu iuwer herre und ouch der min' sei (v. 434,1). Es erfolgt dann tatsächlich ein kurzer Rückblick zu Parzivals Geschichte seit dem Ende des sechsten Buchs, eingeleitet von der Formulierung Nü tuot uns diu aventiure bekant (v. 434,11-30), bevor nach einer weiteren Ankündigung (diu äventiure uns kündet, v. 435,2) Parzival selbst in der Erzählgegenwart auf die Bühne reitet. Die personifizierte Auskunft wird graduell wieder durch die allgemeine Erzählinstanz äventiure ersetzt, während gleichzeitig der fragende Erzähler in das kollektive uns eines allgemeinen Publikums zurücktritt. Der Überraschungseffekt des die Erzählkommunikation unterbrechenden direkten Gesprächs wird so zum Aufmerksamkeitssignal für einen besonders raffinierten Kulissenwechsel bei dem Wechsel zwischen den Handlungssträngen. Schon für Karl Lachmann lag hier ein Angelpunkt des Textes, an dem sich exemplarisch die von ihm eingeführte Buchgliederung demonstrieren ließ:2 Den 433. Abschnitt eröffnet in der Handschrift D (Stiftsbibliothek St. Gallen, Codex 857, fol. 60v) in der Mitte der rechten Spalte eine Großinitiale T, die den Bucheinschnitt deutlich von den Initialen der 30er-Gliederung unterscheidet (Abb. 4). Mit der nächsten Buchinitiale (v. 502,1) tritt Gawan wieder in die Handlung ein. Der durch das Aventiure-Gespräch inszenierte Wechsel hin zu Parzival als Protagonisten währt also genau eine der Einheiten, die durch die
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Der Parzival wird im Folgenden zitiert nach: Wolfram von Eschenbach. Zweites Heft: Parzival Buch VII bis XI, hg. von Albert Leitzmann, Tübingen 1903, 7 1965 (ATB 13). Die Ausgabe ist elektronisch zugänglich auf dem TITUS-Server: http://titus.uni-frankfurt.de/texte/etcs/gerrn/mhd/parzival Vgl. dazu seine Einleitung zur 6. Auflage, zitiert nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung von Bernd Schirok, Berlin/New York 2 2003, S. Xlf.
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Großinitialen in seiner Leithandschrift markiert waren. Durch diesen Zusammenfall der Erzählzäsur mit dem Protagonistenwechsel und der formalen Gliederung in der handschriftlichen Überlieferung wurde Buch 9 seit Lachmanns Edition zum Prüfstein von Strukturentwürfen für den Roman, herangezogen für die Debatte um den Autorbegriff wie um die Entstehung von Fiktionalität und für Überlegungen zu entrelacement und Erzähl strukturen im deutschen Artusroman. 3 Die Emphase des Texteinsatzes schlägt bis in die Sekundärliteratur durch, wenn Karl Bartsch schrieb, ,,[d]ieses Buch bildet [...] geistig den Mittelpunkt der ganzen Dichtung: es ist die innere Wendung in der Seele des Helden", 4 und Friedrich Ohly hier das ,,geistige[.] Herz[...] der Dichtung" schlagen sah.5 Auch wenn neuere Studien dies so nicht formulieren würden, müssen sich doch alle Parzival-Deutungen
am
Aventiure-Gespräch messen lassen. Das gilt auch für das Verständnis der Redeszenen im Parzival. Die großen Themen werden im neunten Buch in Sigunes und Trevrizents Gesprächen mit Parzival entwickelt. Das Aventiure-Gespräch führt diese Strategie ein, indem es den Helden nach seinem ersten Gralsbesuch im Dialog neu in der Erzählung positioniert. Im Rahmen der Analyse von Redeszenen in der deutschen Großepik stellt sich die Frage, ob der eingangs skizzierte Überraschungseffekt auch terminologisch fassbar ist und Aussagen über das Verhältnis von Gespräch und Erzählung erlaubt. Dafür wähle ich eine doppelte Herangehensweise: über den Vergleich mit der unmittelbar folgenden Redeszene, dem dritten Sigune-Gespräch, und Uber die syntaktisch-rhetorische Beschreibung des Gesprächs. Die sprachliche Analyse der Gesprächseröffnung macht die Funktion des Aventiure-Gesprächs im Erzählverlauf deutlich und zeigt darüber hinaus auch insgesamt Wolframs Technik der fingierten Mündlichkeit seines Erzählers und seiner Figuren. Am Schluss steht der Blick auf zwei unterschiedliche mittelalterliche Rezeptionsformen der spezifischen Redeform des AventiureGesprächs.
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Für einen schnellen Überblick vgl. die Literatur zur Stelle bei Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, 8. völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2004 (Sammlung Metzler 36), S. 207. Erstaunlicherweise blendet die neue Studie von Andreas Urscheler, Kommunikation in Wolframs 'Parzival'. Eine Untersuchung zu Form und Funktion der Dialoge, Bern u.a. 2002 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 38), der eine Kategorisierung aller Dialoge im Parzival anstrebt, die Dialoge auf der Erzählerebene ganz aus. Kommentar zur Stelle in: Wolfram's von Eschenbach Parzival und Titurel, hg. von Karl Bartsch, Leipzig 1871 (Deutsche Classikerdes Mittelalters 10.2), S. 107. Friedrich Ohly, „Cor amantium non angustum", in: Gedenkschrift für William Foerste, Köln/ Wien 1970, S. 454-476, wieder in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 128-155, zur Aventiure-Stelle S. 148-155, hier S. 148.
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I.
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Reden
„ Tuot üf": Einlassbegehren und Redeeröffnung
Die erste rede-inszenatorische Einheit des Aventiure-Gesprächs ist die Gesprächseröffnung mit dem Einlassbegehren. „Tuot üf!" ist eine reguläre und geläufige Formulierung, aber es fehlt eine Erzählumgebung. Weder im ersten noch im folgenden Vers wird die vor Redebeginn ausgesparte Sprecherangabe nachgeliefert, vielmehr besteht v. 433,1 aus drei schlagartig aufeinander folgenden Einheiten direkter Rede. Die reguläre Dialogeinleitung sieht für den Eröffnungsvers die Benennung beider Redepartner vor: Artus sprach: „niftel, dü häs war [...]" (v. 716,1) oder: „muoter", sprach der markts.6 Ein rhetorischer Schlagabtausch ist sonst für den Höhepunkt von Auseinandersetzungen reserviert. Im Iwein kommt es erst bei einem zunehmend erregten Wortwechsel im Herzenstauschexkurs zur Hemistichomythie: st [d.h. vrou Minne] sprach, und sach mich twerhes an, / „dune hast niht war, Hartman." / 'vrowe, ich hän entriuwen.' si sprach „nein.".1 Aggression wird gerade auf Erzählerebene syntaktisch und intonatorisch umgesetzt. Ähnlich läuft im Tristrant Eilharts in der Fassung Η die Auseinandersetzung des Erzählers mit dem Publikum ab: „wie wane st du?" - 'ich getrüw eß wol.' / „und wie du?" - 'nain, ich sol/ee
gedencken, ee ich ge-
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triiw so' (v. 7635-7637). Hier zeigt sich auch, dass solch ein dramatisiertes Gespräch dem Vortragenden performatives Talent abverlangt, denn der intonatorische Wechsel muss wohl durch gestische oder szenische Elemente unterstützt werden, um dem bei dem Vortrag anwesenden Publikum die Bezüge zwischen dem innerliterarischen Erzähler und seinem imaginierten Gegenüber zu vermitteln. Wolfram scheint also eine Inszenierungsform von Dialog zu verwenden, die in vergleichbaren Szenen als performative Herausforderung eine Klimax markiert. Sie begegnet hier im zugespitzten Sinne, da die erzählende Hinführung fehlt, die dieses Stilmittel fingierter Mündlichkeit in den Roman einbetten würde. Damit bietet der Dialog auch die extremste Lösung des Problems, das den höfischen Roman seit seiner Entstehung in Deutschland beschäftigt: Wie lassen sich verschiedene Erzählebenen (hier die Gawan- neben der Parzivalhandlung, bei Gottfried die Exkurse) in den Handlungsverlauf integrieren? Mit dem Anklopfen der Aventiure signalisiert Wolfram, dass der Erzählverlauf ein gefährdetes Unterfangen ist, bei dem kein gradliniges Fortschreiten garantiert ist. Auch nach dem er-
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Wolfram von Eschenbach, Willehalm, nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt a.M. 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker 69; Bibliothek des Mittelalters 9), v. 161,11. Iwein, v. 2981-2983, zitiert nach: Hartmann von Aue, Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein, hg. von Volker Mertens, Frankfurt a.M. 2004 (Bibliothek deutscher Klassiker 189; Bibliothek des Mittelalters 6). Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 346, fol. 139v-140r, zitiert nach Eilhart von Oberg, Tristrant, hg. und übersetzt von Danielle Buschinger, Göppingen 1976 (GAG 202).
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neuten Rückzug der Personifikation hinter das Abstraktum äventiure
in v. 434,11 ist mit
Störungen zu rechnen. Eine ähnliche Gesprächseröffnung mit plötzlichem Szenenwechsel findet sich im Priesterleben des so genannten Heinrich von Melk. 9 Der Erzähler spottete gerade über die pfaffen und nunnen, die ihrem Bauche huldigten und die nur das Sprichwort post pirum
vinum
(v. 67) kennten. 1 0 Darauf folgt ohne Übergang: „tuot üf!" 'wer ist da?' / „daz ist ein gast unt bitet daz man in in lä" (v. 69f.). Im Verlauf des weiteren Gesprächs wird deutlich, dass ein Armer vor der Klosterpforte Einlass begehrt und von dem Pförtner abgespeist wird mit der Ausrede 'min herre ist nicht hie häime' / oder er sprichet
'er ist siech' (v. 72f.), wäh-
rend der pfaffe sich mit einer Frau amüsiert. Es kommt ein zweiter Anlauf: „wan tuot ir üf?" sprichet
der gast / „ich sich einen herlichen
glast / üf des wirtes chemnäten;
/ dö
mocht mich got wol beräten!" (v. 77-80). Er wird dann beschieden, der wirt sei gerade zur Ader gelassen und müsse sich ausruhen; darauf muss der gast unverrichteter Dinge wieder abziehen. Parodistische Gesprächsimitation steht dabei im Dienst einer scharfen Klerikerkritik, die in ihren langen hypotaktischen, anakoluthischen und parenthesereichen Sätzen deutlich von Argumentationsstrukturen und -Strategien dialektischer Disputation des 11. und 12. Jahrhunderts geprägt ist. 11 Fingierte Mündlichkeit ist hier so weit wie möglich von oraler Literaturtradition entfernt; das muss auch f ü r die Redeszene am Beginn des neunten Buchs mit bedacht werden. Die Komik des schnellen Hin und Hers bei dem Frage-und-Antwort-Spiel im
Priester-
leben wird durch die rhythmische Umsetzung gesteigert: Das Anklopfen in v. 67 erfolgt mit zwei beschwerten Hebungen, der folgende Auskunftsvers ist dagegen mit mehr als doppelt so vielen Silben (zwölf gegenüber f ü n f ) hektisch überfüllt. Bei Wolfram wird die Intensität dagegen rhythmisch durch Zäsuren nach Ausruf und erster Frage gesteigert: „Tuot I üf!" - I 'wem? - I wer sit Iir?'} 2 Dem taktierten Schlagabtausch folgt kurz danach ein weiterer Gesprächsanfang, bei dem sich zwei Sprecher einen Vers teilen. Parzival, der 9
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Der Hinweis darauf findet sich in Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel, hg. und erklärt von Ernst Martin, Teil 2, Halle 1903, zur Stelle (S. 338f.), ist aber meines Wissens noch nicht für ein Verständnis der rhetorischen Figur fruchtbar gemacht worden. Der sogenannte Heinrich von Melk, nach Richard Heinzeis Ausgabe von 1867 neu hg. von Richard Kienast, Heidelberg 1946, 2 1960 (Editiones Heidelbergenses 1), S. 9-29. Ernst Hellgardt, Heinrich (von Melk?), in: Killy Literaturlexikon, Bd. 5 (1990), S. 167. Metrisch möglich wäre auch, wer als zweite Takthälfte zu wem zu stellen und sit durch beschwerte Hebung stärker zu betonen. Dagegen spricht die dann gestörte Parallelität der beiden Fragepartikeln und auch die Interpunktion in der Handschrift D (vgl. Abb. 4), bei der dieser Vers ausnahmsweise durch zwei Hochpunkte (vor wem und vor wer) unterteilt wird, die wohl intonatorische Markierungen sind. Vgl. zum Gebrauch des punctus elevatus als punctus interrogativus Nigel F. Palmer, „Manuscripts for Reading. The Material Evidence for the Use of Manuscripts Containing Middle High German Narrative Verse", in: Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D.H. Green, hg. von Mark Chinca und Christopher Young, Turnhout 2005, S. 67-102, hier S. 77, Anm. 25.
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über das Aventiure-Gespräch wieder in das Geschehen eingebundene Held, kommt zu Sigunes Klause, fragt und erhält von innen Antwort: „ist I iemen I dinne?" I s(sprach: I 'jä' (v. 437,2). Die mit inquit-Formel und gleichmäßig alternierendem Rhythmus gestaltete Figurenrede zeigt die Spannweite dieser Art von Gesprächseröffnung, aber auch in dieser beruhigten Form wird auf den aufregenden Buchanfang zurückverwiesen. Tatsächlich ergeben erst beide Gespräche - das des Erzählers mit der anklopfenden Aventiure und das Sigunes mit dem fragenden Parzival - in ihrem Zusammenspiel die Exposition für die gewandelte Rolle Parzivals im neunten Buch. Auf der Meta-Ebene des Aventiure-Gesprächs nimmt Wolfram durch syntaktische Merkmale und die Struktur der Redeszene für das Publikum Schritte voraus, die der Held dann in einem viel längeren und schwierigeren Prozess lernen muss: Dialogischer Erkenntnisgewinn wird hier zweimal nacheinander rhetorisch inszeniert.
II.
Aventiure- und Sigune-Gespräch. Konstituierung der SprecherIdentität in der Rede
In den beiden ersten Gesprächen des neunten Buchs erkennen die Sprechenden erst im Verlauf des Dialoges ihre Identität. Im Aventiure-Gespräch gestalten sich dabei die sechs Anfangsverse zu einem Ratespiel auch für das Publikum, das damit gleichzeitig Hintergrundinformationen für das folgende Gespräch Parzivals mit Sigune erhält. Während die Sprechenden nicht wissen, wen sie vor sich haben, ist das Publikum in die unmittelbare Vorgeschichte eingeweiht und weiß zusätzlich, dass es sich hier um die dritte Begegnung zwischen den Verwandten handelt. Drei Spuren, die bei dem Ratespiel um die Identität der Sprechenden im Aventiure-Gespräch gelegt werden, erlauben eine präzise Verankerung der vorgeführten Redeszene im Romanverlauf. Eine erste Spur, wer da redet, ist die Anredeform: Es ist eine höhergestellte Person. Die zweite Spur ist das Begehren, ins Herz zu kommen: Es ist eine Personifikation. Die dritte Spur ist die Verheißung, von wunder zu sprechen: Es ist Frau Aventiure. Gleich die Aufforderung weist auf ein Standesgefälle. Hinter dem herrischen „Tuot üf" steckt eine Kollektivanrede, die Gegenfrage '[...] wer sit ir?' aber nutzt die Form der 2. Person Plural als höfische Anredeform. Das wird deutlich aus dem folgenden Wortwechsel: Die Einlass begehrende Person duzt („ich wil inz herze din ze dir", v. 433,2), der Angesprochene ihrzt ('so gert ir ze engem rüme', v. 433,3) und gibt damit schon vor dem Titel vrou (v. 433,7) einen Hinweis auf die Rollen- und Geschlechterverteilung: Hier kommt eine höhergestellte Person, die den Einlassenden als Untergebenen behandelt. Das
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Spiel mit vrou und du im Aventiure-Gespräch bereitet das Publikum auf die Bedeutung der Anredeformen in der Begegnung Parzivals mit Sigune vor, das in dem Hin und Her von ir und du die vorhergehenden beiden Parzival-Sigune-Szenen aufruft. Am Anfang, als einander noch Verkennende, ihrzen sie sich, wie sie es auch bei ihrer ersten Begegnung taten, bevor sie von ihrer Verwandtschaft wussten. Auch nach dem Erkennen bleibt Sigune diesmal aber zuerst bei dem ir {„ir sitz her Parziväl. / saget an, wie stetz iu um den gräl? [...]" v. 440,29f.). Denn sie war bei der zweiten Begegnung aus Enttäuschung über Parzivals Frageversäumnis auf der Gralsburg auf Distanz gegangen: „[...] häs t ü vräge ir reht getan ?"/er
sprach: 'ich hän gevräget niht.' / „ouwe daz i u c h min ouge siht" /sprach diu
jämerbseriu maget, / „sit i r vrägens stt verzaget! [...]" (v. 254,30-255,4). 13 Parzival dagegen versucht bei dieser dritten Begegnung, nachdem er in der höfisch als Dame angesprochenen Inclusa ('[...] ich hänz vür unbilde, / vrouwe, wes ir iuch beget [...]', ν. 438,26f.) Sigune erkannt hat, sofort eine Versöhnung über die Anrede zu erreichen: '[...] niftel Sigune, du tuos gewalt, / sit du minen kummer manecvalt / erkennes, daz du vehest mich' (v. 441,15-17). Mit der Anrede soll sie nicht nur seine Verwandtschaft anerkennen, sondern auch sein Frageversäumnis verzeihen. Bevor die niftel ihn aber mit dem ihm als neve zustehenden du anredet, muss er nochmals ausdrücklich bitten: '[...] gedenke rehter sippe an mir [...]' (v. 442,3), worauf sie dann einen Segenswunsch tatsächlich in die 2. Person Singular kleidet (v. 442,9f.). Verwandtschafts- und Gralsmotiv sind also in den Sigune-Szenen ebenso eng verflochten wie bei den Besuchen auf der Gralsburg, wo Parzival auch erst im Wissen um die Verwandtschaft mit dem Gralskönig und durch sein gewachsenes Verständnis bei dem zweiten Besuch die erlösende Frage in der 2. Person Singular stellen kann: „oeheim, waz wirret dir?" (v. 795,29). Die höfisch korrekte Verteilung von ir und du im Aventiure-Gespräch identifiziert also die Einlass begehrende Person als ständisch überlegen. Die zweite Spur, der Wunsch, „ inz herze" zu „dringen", lässt vermuten, dass nicht eine der handelnden Figuren, sondern eine auf der Meta-Ebene angesiedelte Personifikation auftritt. Nur eine Personifikation, per definitionem weiblichen Geschlechts, kann auch die Umkehrung der Geschlechterrollen beim dringen erklären. Das von Walther von der Vogelweide und anderen Autoren so beklagte angeberische Drängeln am Hofe geht hier von einer Dame aus. Der männliche Sprecher dagegen ist mit dem 'ze engem rüme' (v. 433,3) verbunden, dem Herz als Rückzugsraum, der v.a. im Minnesang der Dame attribuiert wird.14 So wird im Frauendienst das Begehren, 13 14
S. zu diesem Gespräch den Beitrag von Cora Dietl in diesem Band, insbesondere S. 288f. Der klassische Beitrag zum Thema stammt von Ohly (wie Anm. 5). Die biblischen Wurzeln der Vorstellung liegen u.a. bei Ct 5,2 (vgl. dazu die Übersetzung Willirams von Ebersberg: Mir becnäodelet mines wines stimma. Intüo mir min swester, min früintin, min tuba, min scöna, wante min hdibet ist föl tdiwes' unte mine loccaföl dero näht troffon, zitiert nach: Williram von Ebersberg, 'Expositio in Cantica Canticorum' und das 'Commentarium in Cantica Canticorum' Haimos von Auxerre, hg. und übersetzt von Henrike Lähnemann und Michael Rupp, Berlin 2004,
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in das reine herze din eingelassen zu werden, ebenfalls mit der Aufforderung angekündigt: Τuo üf! ich klopf an mit Worten. / lä mich in (Lied XLI, v. 4 und 13f.).' 5 Dieser stilisierte Ort des Minnebegehrens wird gern mit einer clüse verglichen: Üf erde nie kein man gesach so tougenliche dosen, / so wtbes herze, sagt Konrad von Würzburg (Spruch 32,106f.)- 16 In den siufzebasren
herzeroum
verlagert der Erzähler aber auch Herzeloydes Traum
(v. 337,12). Sigune als Inclusa zeigt sich damit als erzähltes Pendant dieser für den Innenraum des Erzählens umgewendeten Herzensraummetapher. Entsprechend wird Sigunes Behausung als emotionaler Raum entworfen: diu klose was vreuden leere, / dar zuo aller schimpfte blöz: /er vant da niht wan jämer gröz (v. 437,16-18), während Parzival die literarischen Stereotypen des heischenden Mannes durch sein ganz konkretes dringen erfüllt und vürz venster reit/alze
nähe (v. 436,27f.).
Das Herz als Inszenierungsort lässt aber erwarten, dass Frau Minne auftritt, wie etwa im Herzenstauschexkurs des Iwein. Erst die dritte Spur des Anfangsdialoges, die Verheißung, von wunder zu sagen, kann die schwebende Identität der Sprechenden klären und für die Rezipienten nachvollziehbar machen, auf welche Weise der Erzähler mit 'jä, sit irz, vrou Aventiure?
[...]' im siebten Gesprächsvers schließlich zu der korrekten Einordnung von
Geschlecht, Stand und Seinsebene kommt. Die Lösung ist aber nur scheinbar, denn dem Publikum ist diese Personifikation noch nicht vorgestellt worden. Der bisher nur indirekt als erzählungssteuernde Instanz aufgetretene Begriff der äventiure muss sich im Folgenden erst selbst über das Erzählen definieren. Die fragende Identifikation öffnet also eine neue Problemstellung, während sie den ersten Redegang logisch abschließt. Denn in invertierter Form nimmt der Fragesatz 'sit irz' (v. 433,7) den des ersten Verses 'wer sit ir' (v. 433,1) auf. Durch Rechtsversetzung des Subjekts vrou Aventiure an letztmögliche Stelle wird das wer des Anfangs beantwortet. 433
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„Tuot üf."'wem? wer sit ir?' „ ich wil inz herze din ze dir." 'so gert ir zengem rüme.' „ waz denne ? beltbe ich küme, min dringen soltü selten klagen: ich wil dir nü von wunder sagen." 'jä sit irz, vrou Α ν e η t i u r e ? [...]'
S. 140). Den wichtigen Bereich zwischen der höfischen und biblischen Sprache über den Herzensinnenraum erschließt jetzt der Aufsatz von Nigel F. Palmer, ,Merzeliebe, weltlich und geistlich. Zur Metaphorik vom 'Einwohnen im Herzen' bei Wolfram von Eschenbach, Juliana von Comillon, Hugo von Langenstein, und Gertrud von Helfta", erscheint in: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters, XIX. Anglo-Deutsches Colloquium (Oxford 2005). Ulrich's von Lichtenstein Frauendienst, hg. von Reinhold Bechstein, 2 Bde., Leipzig 1888 (Deutsche Dichtungen des Mittelalters 6-7), hier Bd. 2, S. 244. Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg, hg. von Edward Schröder, Bd. 3: Die Klage der Kunst. Leiche Lieder und Sprüche, Berlin 4 1970, S. 59.
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Es ergibt sich für diesen ersten Abschnitt des Dialoges damit eine Klammerstruktur mit Informationsverzögerung, die sich im gleichen Dreißiger noch zweimal wiederholt. Vers 8 bis 15 werden durch die Frage nach Parzival verklammert: 'wie vert der gehiure?' (v. 433,8) bzw. 'wie vert er nuo?' (v. 433,15): 433 10
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'[...] wie vert der gehiure? ich meine den werden Parziväl. den Cundrie nach dem gräl mit unsüezen Worten jagete, da manec vrouwe klagete daz niht wendec wart sin reise, von Artuse dem Berteneise huop er sich do: w i e vert er nuo?
[...]'
Vers 16 bis 29 schließlich werden durch die Aufforderung zum Erzählen verbunden: 'den selben mseren grifet zuo' (v. 433,16) und dann, erneut: 'lät hceren uns diu meere' (v. 433,29): 433
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'[...] de η selben mseren grifet ob er an vreuden si verzaget, oder hat er hohen pris bejaget? oder ob sin ganziu werdekeit si beidiu lanc unde breit, oder ist si kurz oder smal? nü priievet uns die selben zal, waz von sinen henden st geschehen, hat er Munsalvsesche sit gesehen und den süezen Anfortas ? des herze do vil siufzec was, durch iuwer güete gebet uns tröst, ob der von jämer si erlöst, lät hae r e η uns diu mw r e , ob Parziväl dä wxre,
434
beidiu iuwer herre und ouch der min.
20
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zuo,
[...]'
Indem der Ich-Sprecher seine Erzählerrolle demonstrativ delegiert, kann die Aventiure aufgefordert werden, den am Ende von Buch 6 verlassenen Erzählstrang über Parzival nun fortzusetzen. Parzival kommt mit der gleichen Frage wie der Erzähler - ohne zu wissen, dass er nicht nach dem Weg, sondern nach seinem Schicksal fragt, wenn er bei Sigune anklopft: dä [am Fenster der Klause Sigunes] wolte er vrägen maere (v. 437,15). Das Fragen ist im Falle Parzivals mehr als eine zufällige kommunikative Handlung; es ist Teil eines geradezu heilsnotwendigen Frage-Verweissystems, das von ihm ausgehend den Roman überzieht. Sigune erinnert ihn daran, als sie die Formel aufgreift und deutlich macht, dass alles nach wünsch (v. 441,25) wäre, „[...] hetes gevrägt du der msere" (v. 441,30) - nämlich nach der Bedeutung des Gralsaufzugs, die Parzival und dem Publikum, dem sie mit dem Bogengleichnis (v. 241,1-8) vorenthalten wurde, immer noch nicht aufgegangen ist.
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Der gesamte Dreißiger wird also durch diese drei aufeinander folgenden Satzklammern strukturiert. Die erste Klammer fragt nach der Erzählinstanz, die zweite Klammer nach der Erzählvergangenheit, die dritte Klammer nach der Erzählzukunft. Innerhalb dieses festen sprachlichen Gerüsts von Wiederholungsformen herrschen ganz unterschiedliche und sehr komplexe syntaktische Strukturen: zuerst das Hin und Her des Gesprächs, dann die in Form einer praeteritio
gekleidete Rekapitulation der Vorgeschichte Parzivals in Vers 10
bis 15, schließlich die spekulative Aufzählung von möglichen Erzählinhalten in den folgenden Versen, die dann in die tatsächliche Erzählung münden. Die insistierende Wiederaufnahme bereits gestellter Fragen und Befehle, bevor die nächste Phrase auftritt, schlägt Verbindungen, die immer wieder nachhakend von der skizzierten Erzählebene zurück auf die Exkurs- oder Erzählerebene des Aventiure-Gesprächs fuhren.
III.
Die grammatisch-rhetorische Beschreibung der turbatio-Struktur des Aventiure-Gesprächs
Die Störung der Erzählung durch eine von außen kommende Instanz, von der der Erzähler überwältigt wird, erweist sich als rhetorisch organisierter, narrativer Kunstgriff. Das scheinbare syntaktische Durcheinander, das der Eingriff der Erzählerebene in die Erzählungsebene provoziert, lässt sich darum durchaus grammatisch-rhetorisch beschreiben. Denn die lateinischen Poetiken regulieren auch die Art und Weise, wie der Satzbau gestört werden kann: Die spätantiken Autoren wie Diomedes, Donat und Isidor 17 heben die Interruptio oder turbatio der ordo verborum durch das Hyperbaton hervor. Donat definiert: Hyperbaton est transcensio quaedam verborum ordinem turbans. Die mittelalterlichen Poetiken führen diese Tradition fort, So erläutert etwa Beda 18 fünf Unterkategorien des Hyper-
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Diomedes, De Arte Grammatica Liber II, in: Grammatici Latini, hg. von Heinrich Keil, Bd. 1, Leipzig 1855, S. 460f.; Donat, Ars Grammatica, 111,6, in: Grammatici Latini, hg. von Heinrich Keil, Bd. 4, Leipzig 1864, S. 401; Isidor von Sevilla, Etymologiae, hg. von Wallace Μ. Lindsay, Oxford 9 1991,1,37,18. Eine ausführlichere Diskussion auch mit der Interpretation durch Heinrich Lausberg in seinem Handbuch (Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 3 1990), findet sich in Henrike Lähnemann und Michael Rupp, „Erzählen mit Unterbrechungen. Zur narrativen Funktion parenthetischer Konstruktionen in mittelhochdeutscher Epik", in: PBB 123 (2001), S. 353-378, und in dies., „Parenthese", in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7, Tübingen 2003, Sp. 573-576.
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Beda, De tropis, in: Rhetores Latini minores, hg. von Karl Halm, Leipzig 1863, Neudruck Frankfurt a.M. 1966, S. 614; vgl. auch Johannes de Garlandia, Compendium gramatice, hg. von Thomas Haye, Köln/Wien 1995 (Ordo 5), III,155ff.
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baton, mit deren H i l f e sich auch die nachhakenden Satzkonstruktionen bei W o l f r a m beschreiben ließen: 1.
Durch das hysteron proteron
wird die zeitliche Logik des Satzes verändert. So wird etwa
Parzivals Vergangenheit der Gegenwart des Erzählens nachgeordnet (v. 433,8-15). 2.
Durch die anastrophe
wird die grammatische Ordnung umgekehrt. So wird hier etwa die ex-
zipierende Formulierung ez wsere lantman oder mäc vor das zwei Verse später stehende Bezugswort deheiner geordnet (v. 434,14/16). 3.
Durch die parenthesis
wird ein Satz gespalten, um einen anderen Gedankengang einzufügen.
So wird etwa die Explikation zu Parzival in die Frage nach seinem Ergehen eingefügt (v. 433,7-15). 4.
Durch die tmesis wird ein Wort in seine Bestandteile aufgespalten. Dies ist ein Verfahren, das bei Wolfram eine Parallele in der Zerdehnung eigentlich zusammen gehörender Syntagmen findet, etwa in der Formulierung der Apposition 'der süezen
Herzeloiden
barn'
(ν. 434,3), 5.
Durch die synchysis
werden zwei Sätze als ganze ineinander geschachtelt. Das bildet die
Grundlage für die Inklusion gesamter Argumentationsgänge im Aventiure-Gespräch in andere syntaktische Zusammenhänge. Die Antonomasien etwa, die in v. 4 3 4 , 1 - 4 clusterartig zu einer Charakterisierung des Helden zusammengefügt werden, durchlöchern den eigentlichen Satz so, dass sich eine zweite Redeebene ausbildet. D a m i t nähert sich das Ineinander v o n abhängigen Sätzen und A p p o s i t i o n e n der V i e l s t i m migkeit p o l y p h o n e n Erzählens an. D i e Formen des extensiv a n g e w e n d e t e n Hyperbaton bilden damit e i n e mittlere rhetorische Ebene syntaktischer turbatio
aus.
Aber auch in der Mikro- und in der Makrostruktur d e s R o m a n s b e g e g n e n parallele Phän o m e n e . Bereits auf der syntagmatischen E b e n e finden sich Satzstörungen durch den e x tensiven Gebrauch v o n Interjektionen und A p p o s i t i o n e n und e i n e verwirrende D e i x i s . D i e deiktischen S i g n a l e führen t e i l w e i s e ins Leere b z w . erfordern eine Orientierung w e i t über eine 'hörbare' Gliederungsebene: S i e leisten nur schriftlich Strukturhilfe, o b w o h l sie durch Orts- und Z e i t v e r g e w i s s e r u n g gerade e i n e Erleichterung der Orientierung suggerieren, und sind t e i l w e i s e mit uneindeutigen S a t z b e z ü g e n kombiniert. Im neunten B u c h beginnt das bereits in v. 4 3 3 , 1 2 mit d e m lokalen 'dä' statt d e s zu erwartenden temporalen
'do':
Lachmann
Leitzmann
433 10
'[...] ich meine den werden Parzival. den Cundrte nach dem gräl mit unsüezen werten jagete, dä manec vrouwe klagete daz niht wendec wart sin reise, von Artuse dem Berteneise huop er sich dö [...]'
15
'[...] ich meine den werden Parzival, den Cundrie nach dem gräl mit unsüezen Worten jagte, da manec vrouwe klagte daz niht wendec wart sin reise. von Artüse dem Berteneise huop er sich do [...]'
Haken schlagende
Reden
271
Man könnte dies zuerst als lässliche Abweichung von dem vorherrschenden Gebrauch der Partikeln verstehen, aber zwei Verse weiter wird deutlich, welche Information das 'da' schon voraussetzt: Parzival bricht vom Artushof auf. Erst dann gewinnt der Satz Profil: Nicht dass er gerade dann aufbrach, sondern dass er von dort aufbrach, macht im Nachhinein den Satz als Angabe seiner Reisestrecke in der typischen Wolframschen Abfolge von Ziel vor Herkunft sinnvoll. Das wiederum ließe erwarten, das Syntagma 'von Artuse dem Berteneise'
(v. 433,14) sei Teil des vorangegangenen Satzes, wie es auch unschwer mög-
lich wäre: der Satz hieße dann 'dort, wo viele Damen über die Unaufschiebbarkeit seines Aufbruchs vom Hof des Britanniers Artus klagten'. Nun wird aber das gleiche Syntagma für den folgenden Vers benötigt: 'huop er sich do' (ν. 433,15) - die schon lange erwartete Zeitangabe braucht auch einen Satzanfang. Es ist einer der vielen Fälle im Werk Wolframs, an denen Satzteile doppelbezüglich sind. Albert Leitzmann hat darum nach v. 433,9 einen Punkt und hinter 'reise' (v. 433,13) nur ein Komma gesetzt; der Satz umfasst also v. 433,10-15. Analog zur Deixis und Syntax gilt die geregelte turbatio für die oberhalb der Syntax liegende Ebene der ganze Abschnitte und Erzählzusammenhänge umfassenden Erzählstränge, wo die digressio, wie gerade das neunte Buch zeigt, epische Ausmaße annehmen kann. Dadurch, dass Wolfram immer wieder gegen die syntaktische Erwartungshaltung der Rezipienten Sätze anders fortführt und das Publikum zwischen Verheißung und Informationsverzögerung in Atem hält, verbindet er die verschiedenen Ebenen erzählerischer Struktur zu einem effektvollen System des Haken Schlagens. Die syntaktischen Analysen legen damit rhetorische Strukturen offen, die ein spezifisches Erzählprofil Wolframs zeigen. Die Satzstrukturen des Parzival lassen gerade in den Redeszenen eine 'Wendigkeit' des Textes erkennen, die auch das Bild vom Haken schlagenden Hasen aus dem ParzivalProlog und aus der Kritik Gottfrieds von Straßburg konkreter macht: Wolframs schellec hase, der tumben liuten zu schnell ist,19 zeigt seine Kunst gerade auf der rhetorischen Zwischenebene der Syntax bzw. aus der Sicht von Gottfrieds Tristan: Die wortheide, auf der der kritische Kommentator im Literaturexkurs einen Erzähler wie einen Hasen herumhüpfen sieht,20 lässt sich dann nicht nur als Ebene des erklärungsbedürftigen Wortschatzes und der fragwürdigen Erzählhaltung interpretieren, sondern auch als Feld der Wolfram eigenen Satzstrukturen.
19
20
Vgl. v. 1,15-19: diz vliegende btspel/ist tumben liuten gar ze snel/si enmugens niht erdenken, / wände ez kan vor in wenken / rehte alsam ein schellec hase. Tristan, v. 4523-4575: swer nu des hasen geselle st/und üf der wortheide /höchsprünge und witweide / mit bickelworten welle sin [...], zitiert nach: Gottfried von Strassburg, Tristan und Isold, hg. von Friedrich Ranke, Berlin 1949 (Längenzeichen von Paul Sappler).
272
Henrike
IV.
Lähnemann
Konsequenzen für die editorische Interpunktionspraxis
Mit moderner Interpunktion lässt sich dies nicht adäquat wiedergeben. Wie der Text innerhalb des Verses zu phrasieren ist und wie sich mehrere Verse zu Satzgefügen zusammenfinden, wird aus der Überlieferung nicht deutlich, da die Handschriften eine syntaktische Gliederung nur dann erkennen lassen, wenn eine starke Zäsur innerhalb des Verses vorliegt, so wie hier im ersten Vers, in dem die Frage- und Befehlseinheiten in D durch Hochpunkte voneinander abgesetzt sind (Abb. 4). Sonst kennen sie als Organisationseinheit nur den Vers, der durch den Zeilenfall in der Spalte und oder durch Reimpunkte markiert wird. Im Falle des
Parzival
unterscheidet sich die auf Karl Lachmanns Ausgabe aufbauende Edi-
tion von Albert Leitzmann fast nur in den Interpunktionszeichen, dort aber stark. Sein Variantenapparat zu Abschnitt 433 liest sich etwa: „4 fragezeichen nach nach
denne
=
fragezeichen
9 punkt = 1 3 punkt 25 fragezeichen = 26 fragezeichen" - und das, obwohl er
küme
nur die sinntragenden Interpunktionszeichen aufnahm und die lediglich Unterordnungen anzeigenden Kommata vernachlässigte. Ich greife zwei Beispiele heraus. Leitzmann
Lachmann
433
'[...] hät er Munsalvssche unt den süezen Anfortas,
25
sit
gesehen,
des herze do vil siufzec was? durch iwer güete gebt uns tröst, op der von jämer si erlöst. [...]'
'[...] hät er Munsalvassche sit gesehen und den süezen Anfortas? des herze do vil siufzec was, durch iuwer güete gebet uns tröst, ob der von jämer si erlöst. [...]'
Soll das Fragezeichen hinter v. 433,25 oder hinter v. 433,26 stehen, d.h. bezieht sich 'des herze
do
vil
siufzec
was'
auf den
'süezen
Anfortas'
(so Lachmann) oder ist der folgende
Abschnitt relativ angeschlossen (Leitzmann)? Im Fall des Leitzmannschen Textes wäre die Relativphrase stärker auf Parzival als auf den Fischerkönig bezogen. Ein zweites Beispiel sind die immer heiklen Übergänge zwischen den Dreißigern. Lachmann
433 30 434
'[...] lät hoeren uns diu ob Parzival da wsere,
Leitzmann masre,
Beidiu iur herre und ouch der min. nu erliuhtet mir diefuore sin [...]'
'[...] lat hoeren uns diu ob Parzival beidiu
iuwer
nü erliuhtet
da
msere,
wiere,
herre
und ouch der
mir die vuore
sin
min.
[...]'
Eigentlich sollte nach v. 434,1 sinnvollerweise kein Einschnitt gemacht werden, da der Vers zwar grammatisch zum vorigen Dreißiger gezogen werden kann, aber inhaltlich als Kopfsatz für die folgenden Apostrophierungen Parzivals zu gelten hat. Für den nächsten Dreißiger gilt das Gleiche:
Haken schlagende
273
Reden
Lachmann
Leitzmann
434,30 daz swert gehalf im priss bejac. 435 Swerz niht geloubt, der sündet. diu äventiure uns kündet [...]
daz swert gehalf im prises bejac: swerz niht geloupt, der sündet. diu äventiure uns kündet [...]
Lachmann lässt mit v. 435,1 einen neuen Sinnabschnitt beginnen, wohl auch, um seine Vorstellung der Dreißiger-Organisation zu stützen. Swerz niht geloubt, der sündet wird damit eine der verallgemeinernden Aussagen, die den Beginn eines Abschnitts bilden. Aber das zum -z verkürzte enklitische Pronomen ez in Swerz muss sein Widerlager in einem voroder nachgehenden Inhalt haben. Albert Leitzmann beendet darum den 434. Abschnitt mit einem Doppelpunkt und zieht typographisch den Beginn des 435. Abschnitts dazu. Inhalt dessen, was geglaubt werden soll, ist also der Bericht über die wundersame Reparatur von Parzivals geborstenem Schwert im See Karnant oder auch insgesamt Parzivals Verbleib während der Bücher 7 und 8. Das ist insofern plausibel, als tatsächlich diese Episode vom gebrochenen und wieder zusammengesetzten Schwert nur aufgrund dieser Erzählerrede und der auf sie verweisenden Voraussage Sigunes in ihrer zweiten Begegnung mit Parzival zu glauben ist - einen epischen Rückhalt im Parzival hat sie nicht. 21 Andererseits schneidet bei Leitzmann nun der Punkt am Ende von v. 435,1 rigoros den Zusammenhang zur Fortsetzung der Abenteuer Parzivals in die erzählte Gegenwart ab. Die Interpunktion kappt also den Erzählfaden gerade an der Nahtstelle zwischen dem, wonach der Ich-Sprecher sich bei Frau Äventiure erkundigt hatte, und dem, was nun diu äventiure uns kündet über das Verbleiben des Helden. Eberhard Neilmann verweist im Kommentar zur Stelle 22 auf die inhaltliche, aber nicht auf die syntaktische Doppeldeutigkeit, da er bei der Lachmannschen Interpunktion bleibt. Keine der beiden editorischen Lösungen kann die Gelenkfunktion des Satzes markieren. Mir scheint der Parzival ein Paradebeispiel dafür zu sein, dass Interpunktionsregeln die Lesbarkeit erschweren können, gerade auch für den 'akademischen Unterricht'. Mehr Mut zum Komma oder Doppelpunkt (auf den sich auch die Parziva/-Herausgeber in unterschiedlichem Maße gestützt haben), um eine schwebende Abtrennung zu markieren und einzelne Satzteile rück- und vorbezüglich zu halten, wäre nicht nur hier hilfreich, auch wenn sich dadurch teilweise im Sinne der neuhochdeutschen Regelgrammatik 'überfüllte' Sätze mit nicht eindeutig definierten Hypo- und Parataxen ergäben. 23
21 22
23
Dazu Werner Schröder, „Parzivals Schwerter", in: ZfdA 100 (1971), S. 111-132. Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 110; Bibliothek des Mittelalters 8), S. 657f. Zur Eindeutigkeit gezwungen sind Übersetzungen. Die beiden neueren Übersetzungen des Parzival von Peter Knecht (wie Anm. 2) und Dieter Kühn (wie Anm. 22) zeigen, wie unterschiedlich die Versuche ausfallen, die wilde Oberfläche des Wolframschen Textes nicht durch neuhochdeutsche Satzlogik ganz zu verdecken. Zu Beginn des 435. Abschnitts gehen jedenfalls beide Überset-
274
Henrike
Lähnemann
Um diese Betrachtung des Aventiure-Gesprächs zusammenzufassen: Die Janusköpfigkeit von entscheidenden Satzteilen ist eine Besonderheit bei Wolfram. Es handelt sich weder um klassische Apokoinou-Konstruktionen noch um rein umgangssprachliche Rahmenstellungen, sondern um eine schriftsprachlich bewusst vorgenommene Annäherung an mündliche Formen der explizierenden Fortführung von Gedanken. Außer dem Hyperbaton in seiner Wolframschen Ausprägung der Klammerkonstruktion gibt es weitere Kommunikationssignale, die mit dem Vexierspiegel der Mündlichkeit spielen, etwa die markierten Intonationswechsel der Gesprächsführung. 24 Das Haken Schlagen der Sätze entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ein nachhakendes Erzählen, das unter der Oberfläche einer verstörenden Beweglichkeit eine geordnete turbatio ordinis verborum verbirgt. Es verlangt von den Rezipienten ständig wache Aufmerksamkeit, ebenso wie die Bereitschaft, bereits Gehörtes oder Gelesenes rückwirkend zu korrigieren und neu zu deuten. Schaut man von der Ebene der syntaktischen Organisation des Erzählten auf die Debatte um die Erzählhaltung, dann kann man nicht anders, als mit Joachim Bumke 25 an dem Neben- und Gegeneinander der Signale inszenierter Mündlichkeit und schriftliterarischer Disposition und Autorisierung festzuhalten. Wie für die von ihm an der Blutstropfenszene untersuchte Großstruktur der Episodenorganisation durch Exkurse gilt auch für die Mikrostruktur der Satzfolgen, dass Erzählerintervention und Informationsmanagement widersprüchliche Signalwirkung haben. Die Fragen, die in der emphatischen Mündlichkeit des Aventiure-Gesprächs gestellt werden, werden syntaktisch verkompliziert beantwortet. Diese Diskrepanz bildet einen rhetorischen Reiz aus, der zur imitatio verlocken, aber auch als Ärgernis empfunden werden konnte.
24
25
zer mit Leitzmann gegen Lachmann, signalisiert durch Einrückungen im Text. Allerdings waren auch beide Übersetzungen ursprünglich als eigenständige Texte ohne das mittelhochdeutsche Gegenüber konzipiert und wurden erst durch die Verlage mit dem Lachmannschen Text zusammengespannt. Interjektionen finden sich auf Erzähler- wie auf Figurenebene. Vgl. die Rede Trevrizents, in der Parzival seine Sünden vor Augen geführt werden soll: „ouwe, herre, daz iu geschach [...]" (v. 456,6), „[...] jä, herre, wä nämen si den nit [...]?" (v. 463,7), „ouwe werlt, wie tuostü so?" (v. 475,13). Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im 'Parzival' Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001 (Hermaea NF 94).
Haken schlagende Reden
V.
275
Rezeption des Aventiure-Gesprächs: Variationen über eine Redeszene
Das möchte ich zum Abschluss an zwei mittelalterlichen Rezeptionszeugnissen zeigen. Das erste ist die Übernahme dieser Gesprächsform in mehrere mittelalterliche Romane. 26 Dass der Buchbeginn mit dem Aventiure-Gespräch als spektakulär empfunden wurde, zeigt etwa die Um- und Bearbeitung im Willehalm von Orlens des Rudolf von Ems, der zu Beginn des zweiten Buchs die Figuren der Frau Aventiure und maister Rudolf sich unterhalten lässt. Verbunden mit einem Akrostichon des Protagonistennamens Willehalm wird hier eine Dichterschau eingeleitet - eine poetische Begegnung Gottfrieds und Wolframs, die von deren je spezifischen rhetorischen Figuren des Akrostichons bzw. des AventiureGesprächs flankiert wird. Dieser Dialog wurde also in der Diskussion der folgenden Romanautoren nicht so sehr als Parzival-spezifisch,
also stoffgebunden, angesehen, sondern
als eine Art stilistisch-rhetorisches Markenzeichen Wolframs, das dort eingesetzt werden konnte, wo literaturtheoretische Positionen diskutiert werden sollten. Eine ganz andere Form der Deutung des Aventiure-Gesprächs bilden die Illustrationen zu Beginn des neunten Buchs in den Handschriften der Lauber-Werkstatt. Vorher noch ein kurzes Wort zur grundsätzlichen Darstellbarkeit der Exkursebene. Eine fragmentarisch erhaltene Willehalm-HandschTiÜ27 zeigt (Abb. 5), dass der Wolframsche Erzähler durchaus ins Bild zu setzen war. Durch Darstellungsverfahren, wie sie etwa am Sachsenspiegel
ent-
wickelt worden waren, werden hier beide Ebenen, die von Wolfram so kühn neben- und übereinander gesetzt werden, dargestellt. Das W des Beginns des Buchs 4, das rot zwischen den Figuren der mittleren Szene wiederholt wird, erlaubt eine schnelle Zuordnung der jeweiligen Textpassagen. Rechts neben diesem W findet sich die Figur des Erzählers. Mit überkreuzten Händen weist er auf die Figuren neben sich und signalisiert damit, er werde nun von der Versöhnung der französischen Königin mit dem markise Willehalm berichten; eine im wörtlichen Sinne sprechende Illustration der Verse Wolt ir nv hören wiez geste. vmbe den zorn den ir hortet e. wer den ζ ν sune brachte (fol. lr; = Willehalm, v. 162,1-3). Im Bild darunter überbrückt die Gestik des Erzählers die zeitliche und räumliche Entfernung zwischen dem trauernden Willehalm und dem Gegenstand seiner Ge-
26
27
Rudolf von Ems, Willehalm von Orlens; Ulrich von Türheim, Rennewart·, Reinbot von Durne, Hl. Georg; Albrecht, Jüngerer Titurel; Ulrich Fuetrer. Dazu Jacob Grimm, Frau Aventiure klopft an Beneckes Tür, Berlin 1842 (erneut abgedruckt in: ders., Kleinere Schriften, Bd. 1, Berlin 1864, S. 83-111). - Zu Rudolfs von Ems fingiertem Gespräch mit der Aventüre s. auch den Beitrag von Monika Unzeitig in diesem Band, insbesondere S. 96f. Zur Handschrift vgl. Elisabeth Klemm, Die illuminierten Handschriften des 13. Jahrhunderts deutscher Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek, Wiesbaden 1998 (Katalog der illuminierten Handschriften 4), Katalognr. 236, S. 671 f.
276
Henrike
Lähnemann
danken, Gyburg, die er als Pfand zurückgelassen hatte; die Gestik kann so helfen, trotz des auch im Willehalm Haken schlagenden Stils, den Faden zwischen Erzähler- und erzählter Ebene nicht zu verlieren. Für die Par^i'vaZ-Handschriften der Lauber-Werkstätten wurde ein anderer Weg gewählt. An allen Buchanfängen finden sich Zeichnungen, ergänzt um Illustrationen an markanten narrativen Neuansätzen. Diese gleichmäßige Bebilderung wird zum Gliederungsprinzip der Gesamtanlage. 28 Die Inszenierung einer Erzählerfigur war im Illustrierungsprogramm, das wohl ohne Kenntnis der bisherigen, verstreuten Illustrationsversuche zum Parzival entworfen wurde, nicht vorgesehen. Ins Bild wird nur die Ebene der 'Realien' gesetzt; beim neunten Buch ist es in allen drei Lauber-Handschriften die Begegnung mit Sigune. Ich wähle dafür beispielhaft die Handschrift n, Cpg 339, da sie am konsequentesten den Weg einer bildlichen Neuinterpretation des Geschehens gegangen ist (Abb. 6). Der Bildtitel lautet: Also gawan zu sigunen kam vor ein cluse vnd er su frogete vmb parcifalen (fol. 320r). Das Aventiure-Gespräch, das sich auf der Rückseite dieser Illustration anschließt, liest sich damit natürlich anders: Das „Tuot üf" (bzw. hier durch einen Rubrizierungsfehler „ Gvt uff") muss dann wohl die Aufforderung Gawans an die Klausnerin sein, von der er Auskunft heischt. Aus dem herze din, in das die Aventiure zu kommen begehrt, wird dann die höfische Anrede Sigunes an Gawan, zu dem sie heraustreten will ('Ich wil herre min zu dir'), da in ihrem engen rume, wie schon die Zeichnung zeigt, kaum Platz für zwei ist. Selbst die bildtechnische Notwendigkeit, die Klausnerin in der Tür zu zeigen, wird damit literarisch, wenn auch nicht real, plausibel gemacht. Sigune als frowe ojfentüre und Gawan als wissbegieriger Gesprächspartner scheinen auf den ersten Blick ein absurdes Missverständnis, schließlich ist der Beginn des neunten Buchs der prominenteste Schnitt zwischen Parzival- und Gawan-Büchern. Auf den zweiten Blick lässt sich die Darstellung als eine (wenn auch ungewöhnliche) Interpretation lesen, die das Haken schlagende Erzählen Wolframs auf eigene Weise ernst nimmt. Wie die Analyse der Satzstrukturen gezeigt hat, werden die beiden am Beginn des Buchs kurz aufeinander folgenden Begegnungen von Frau Aventiure mit dem Erzähler und von Parzival mit Sigune ineinander verzahnt und durch die Metaphorik des in die Enge Dringens, und die Aufnahme weiterer, teilweise invertierter Motive wie des maere vragen miteinander verbunden. Das Erzähler-Ich taucht nur kurz auf und zieht sich dann wieder hinter das Hörer-
28
Michael Stolz, der in seinem Parzival-Projekt die Rubriken der gesamten Überlieferung analysiert hat, kommt zu dem Schluss, dass die Erzählerebene schlicht überlesen wird. Gabriel Viehhauser und Michael Stolz, „Spätformen mittelalterlicher Textreproduktion. Die /Y;rz;vä/-Handschriften der Lauberwerkstatt", in: Die Bedeutung der Werkstatt Diebold Laubers für die germanistische Mediävistik, hg. von Christoph Fasbender (im Druck). Lieselotte E. Saurma-Jeltsch, „Zum Wandel der Erzählweise am Beispiel der illustrierten deutschen 'Parzival'-Handschriften", in: Probleme der Parzival-Philologie. Marburger Kolloquium 1990, hg. von Joachim Heinzle u.a., Berlin 1992 (Wolfram-Studien 12), S. 124-152.
Haken schlagende
Reden
277
kollektiv zurück. Für diesen kurzen Auftritt konnte Gawan um so eher eintreten, als er mehrfach erklärend mit Parzivals Schicksal verbunden ist, etwa als er ihm nach der Blutstropfenszene die vergangenen Vorgänge erklärt (v. 304,19-24 und 305,1-6). Wenn Gawan auf Aventiure-Fahrt geht, wie es im vorangehenden Vers heißt, ist es bei der Struktur ritterlicher Queste keineswegs unwahrscheinlich, dass ihm die Aventiure in Form von Sigune entgegentritt - und er sie, genau wie es der Erzähler tut, dringend nach dem Schicksal Parzivals fragt. Indem also die abstrakte Erzählebene durch konkrete Figuren gefüllt wird, erhalten die Zäsuren eine neue Bedeutung: Die Buchgliederung ist nicht mehr die Trennung der Erzählstränge, sondern es wird durch die Bilder mit ihren Rubriken ein Erzählkontinuum geschaffen. Mit der bildlichen Darstellung kommt eine neue Organisationsstruktur hinzu, die in Konkurrenz zum Changieren zwischen Erzähl- und erzählter Ebene führt. Durch die Eliminierung von Frau Aventiure bzw. deren Besetzung mit Sigune im Bild wird eine neue Form der Zweischichtigkeit erreicht. Die Lauber-Handschriften und ihre Parzival-Lektüre lassen sich als Satyrspiel der mittelalterlichen Tradierung sehen. Aber sie geben darin doch auch einen eigenen Kommentar dazu ab, wie die Haken schlagenden Sätze und der sich in ihnen profilierende Erzähler gelesen werden sollen. Als Struktursignal für den Roman mag das Aventiure-Gespräch verspielt haben, aber sein Überraschungseffekt ist immer noch nicht zetriben.
278
Henrike
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Abb. 4: Die ParzzW-Handschrift D, St. Gallen, Stiftsbibliothek, Codex 857, fol. 60v / S. 124 (Abbildung von der CD-Rom St. Galler
Nibelungenliedhandschrift,
St. Gallen und dem Basler Parzival-Projekt, St. Gallen 2003).
hg. von der Stiftsbibliothek
Haken schlagende
279
Reden
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