Deutsches Lesebuch für die unteren Klassen höherer Lehranstalten [Reprint 2021 ed.] 9783112404744, 9783112404737


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German Pages 414 [421] Year 1862

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Deutsches Lesebuch für die unteren Klassen höherer Lehranstalten [Reprint 2021 ed.]
 9783112404744, 9783112404737

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Deutsches Lesebuch für

die unteren Klassen höherer Lehranstalten.

Von

Th. Dielitz, Professor und Director der Königftädlischen Realschule zu Berlin,

und

Dr. I. E. Heinrichs, Oberlehrer an der Königstädtischen Realschule und am Königl. Cadetten-CorpS.

Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer. 1862.

Das vorliegende deutsche Lesebuch ist für die unteren Klassen (Sexta, Quinta und Quarta) höherer Lehranstalten bestimmt und findet seine Ergänzung in einem „Handbuch der 'deutschen Litera­ tur," welches, so Gott will, noch in diesem Jahre in demselben Berlage erscheinen und außer einem Grundriß der deutschen Poe­ tik, Rhetorik und Literaturgeschichte ein für die oberen Klassen be­ rechnetes und nach den Gattungen der Literatur geordnetes Lese­ buch enthalten wird. Was den Inhalt dieses ersten Theils betrifft, so haben wir mit Ausschließung alles Matten und Weichlichen nur solche Lese­ stücke ausgenommen, welche bei einer klaren, kernigen und die sprach­ liche Bildung der Schüler fördernden Darstellung durch ihren Inhalt dem Kinde ein lebhaftes Interesse abzugewinnen, den Kreis seiner Anschauungen und Kenntnisse zu erweitern und sein Gemüth für das Große, Edle und Schöne zu erwärmen vermögen. Da fer­ ner die Erfahrung lehrt, daß dem kindlichen Alter das lyrische und allegorische Element nicht zusagt, so enthält das Buch nur wenig Lieder, Fabeln und Parabeln, dagegen eine, wie wir glau­ ben, hinreichende Anzahl von Gedichten mit sachlichem Inhalt,

wie sie vorzugsweise zum Auswendiglernen und zur Deklamation sich eignen. Sollte die Zahl der aufgenommenen Erzählungen zu klein erscheinen, so wolle man erwägen, daß alle Erzählungen mit historischem, geographischem und naturhistorischem Hintergründe dem sechsten und siebenten Abschnitte zngewiesen worden sind. Mit besonderer Vorliebe haben wir kürzere Lesestücke historischen In­ halts in das Buch ausgenommen, weil wir den Schülern eine hinreichende Anzahl solcher Stücke geben wollten, die sich zur mündlichen Reproduction (einer noch immer sehr vernachlässigten

IV

Vorrede.

und doch nicht genug zu empfehlenden Uebung) eignen. Die größte Schwierigkeit hat die Auswahl der zur Natur-, Länder­ und Völkerkunde gehörenden Stücke dargeboten, da die Zahl der für ein Schullesebuch brauchbaren geographischen und naturhistorischen Darstellungen überaus gering ist. Es ist eine Thatsache, daß die bloße Beschreibung für die Jugend wenig Anziehendes hat, daß dagegen alle Schilderungen, die sich an spannende Ereignisse und interessante Persönlichkeiten anlehnen, von der Jugend gern gele­ sen und leicht behalten werden. Diese Rücksicht hat uns bestimmt, in den betreffenden Abschnitt eine größere Anzahl von Bruchstücken aus den Jugendschriften des mitunterzeichneten Dielitz aufzunehmen, weil diese sämmtlich in der angegebenen Weise bearbeitet sind. In allen Lesestücken haben wir die zur Zeit übliche Ortho­ graphie und Jnterpunction und zwar nach den in des mitunter­ zeichneten Heinrichs „Leitfaden für den Unterricht in der deut­ schen Sprache" enthaltenen Regeln gleichmäßig durchzuführen unS

bestrebt. So möge denn das Buch, an dem wir mit Lust und Liebe gearbeitet haben, recht vielen Schülern zur Anregung und Beleh­ rung gereichen! Berlin, den 30. August 1862.

Dielitz.

Heinrichs.

Inhalt (Die Gedichte sind mit einem * bezeichnet.)

I. Lieder. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22.

Gott grüße dich!* Sturm. . . Preis des Schöpfers. * Gellert. . Gottes Güte. * Gellert. . . Gottes Güte.* Gleim. . . Vertrauen auf Gott.* Gellert. . Auf Gott allein!* Sturm. . Du bist's allein. * Strauß.. ., Wo wohnt der liebe Gott?* Hey. Gott weiß. * Hey......................... Morgenlied. * Hoffmann von Fal­ lersleben......................................... Am Morgen.* Hölty. . . Morgenlied.* Schiller. ... Sonntagsfrühe. * Reinick. . Abendgebet. * Luise Hensel. . . Abendgebet.* Arndt...................... Frühlingslied.* Overbeck. . . Frühlingsduett. * Goethe. . . Frühlingslied.* Will). Müller. . Frühlingseinzug.* Wilh. Müller. Frühlingsglaube.* Uhland. . . Frühlingsfeier. * Uhland. ... Winterlied.* Krummacher. . .

eeite

Seite

1 1 2 2 2 3 3 4 5

23. Weihnachtsfest.* Reinick. ... 9 24. Zum neuen Jahr.* Mörike. . 10 25. Zum neuen Jahr.* W. Wacker­ nagel......................................................10 26. Ostern. * Aus Klumpp's Kinder­ liedern.................................................... 10 27. Mond und Sterne. * Arndt. . 11 28. Zum Walde. * Fröhlich. . . 11 29. Waldvögelein. * Deiuhartstein. . 11 30. Heidenröslein.* Goethe. ... 12 31. Des- Kuaben Berglied.* Uhland. 12 32. Einkehr. * Uhland................................. 12 33. Das Singen.* Langbein. . . 13 34. Deutscher Rath. * Reinick. . . 13 35. Des Deutschen Vaterland. * Arndt. 14 36. Das Lied der Deutschen.* Hoff­ mann von Fallersleben. ... 14 37. Mein Vaterland. * Hoffmann von Fallersleben.......................................... 15 38. Der gute Kamerad.* Uhland. . 15 39. Schrvabenkrieg.* Hoffmann von Fallersleben. ............................. 15

5 5 6 6 6 6 7 7 7 8 8 9 9

II. Fabeln, Parabeln, Märchen. 1. Der Wolf und der Mensch. Grimm. 15 2. Der Hirsch.* Gleim..................... 16 3. Der junge Krebs und die See­ muschel. * Gellert................................ 17 4. DerBauer und sein Sohn.* Gellert. 17 5. Die Eichel und der Kürbis. * Gleim. 18 6. Die beiden Bauern. * Pfeffel. . 19 7. Der Reisende.* Gellert. ... 19 8. Die Wachtel und ihre Kinder.* Langbein............................................... 20 9. Blauveilchen. * Förster. ... 20 10. Das Laster und die Strafe.* Lichtwer................................................. 21 11. Das Äort im Herzen. Krummacher. 22 12. König David.* Haug. . . 22

13. 14. 15. 16. 17. 18.

19. 20. 21. 22. 23.

24. 25.

Das Samenkorn. Krummacher. 23 Der Gotteskasten. Krummacher. 23 Die Pfirsiche. Krummacher. . . 24 Die Stellvertreter. Krummacher. 24 Das Weizenkorn. Krummacher. 25 Die Niesen und die Zwerge.* Rückert.................................................. 25 Der betrogene Teufel. * Rückert. 26 Die Heinzelmännchen.* Kopisch. 26 Die wandelnde Glocke.* Goethe. 27 Dornröschen. Grimm. ... 28 Der Arme und der Reiche. Grimm..................................... 30 Frau Holle. Grimm. ... 32 Daumesdick. Grimm. ... 33

VI

Inhalt.

III.

Räthsel. Seite

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Winde.* Rückert. Weide.* Rückert. . Hanswurst.* Arndt. Bett.* Bürger. Donner.* Kost.*

36 36 36 36 37 37

.

IV. 1 — 67. Sprüche. . . . ... 68. Drei Paare und Einer. * Rückert.

V. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21.

22. 23. 24. 25.

Born.*......................................... Mauer.* .................................. Mond und Sterne. * Schiller. . Der Regenbogen. * Schiller. Der Blitz.* Schiller..................... Die Räthsel der Elfen.* Rückert.

37 37 37 37 37 37

Sprüche. 38 | 69. Nützliche Lehren. Hebel. . 42

42

Erzählungen.

Der Spiegel des Gewissens. Jacobs. 45 Der Solenhofer Knabe. Stöber. 46 Die Gottesmauer.* Rückert. . 50 Der Staar von Segringen. Hebel. 52 Der Läufer von Glarus.* Stöber. 52 Stavoren.* Böttger 53 Mutterliebe. Starke 55 Der Barbierjunge von Segringen. Hebel . 56 Der blinde König.* Uhland. . 57 Kindesdank und Undank. Hebel. 57 Der Schenk von Limburg. * Uhland. 58 Siegfrieds Schwert.* Uhland. . 59 Die Rache.* Uhland. . . . 60 Der Wilde. * Seume 60 Der Hirtenknabe. Liebeskind. . 61 Das Vivat der Königin. Hebel. 63 Untreue schlägt den eigenen Herrn. Hebel 64 Das Lied vom braven Mann.* 65 Bürger Der Kaiser und der Abt. * Bürger. 67 Harras, der kühne Springer.* Körner. 70 Die wiedergesundene Tochter. Ja­ cobs 72 Der junge Wanderer. Starke. . 74 Der kluge Richter. O. Scbulz. 75 Türkische Gerechtigkeit. O. Schulz. 76 Der westphälische Hofschulze. Im­ 76 mermann

VI. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Seite 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Cyrus. Dielitz. ..... Die Glücklichen. * FeuchterSleben. Herkules. Dielitz. . . . . Theseus. Nach Schwab. . . Der Argonautenzug. Dielitz. . Der trojanische Krieg. . . . Der Raub der Helena. Dielitz. Achilles und Agamemnon. Dielitz.

26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36.

37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44.

45. 46. 47. 48. 49. 50.

Klugheit zur rechten Zeit. O. Schulz. 80 Der gut ersonnene Scherz. O. Schulz. 80 Wunderbare Lebensrettung. Jacobs. 80 Der Geiger in der Wolfsgrube. Schubert 82 Unglück der Stadt Leyden. Hebel. 83 Die Bürgschaft.* Schiller. . . 84 Der Sänger.* Goethe. . . . 86 Erlkönig.* Goethe 86 Der weiße Hirsch.* Uhland. 87 Das Paar Pantoffeln. Palmblätter. 87 Der Glockenguß zu Breslau.* W. Müller 90 Alles zum Guten. Stöber. 91 Thörichtes Murren. Grimm. . 92 Wie schön leuchtet der Morgen­ 94 stern.* Sturm Das Erkennen. * Vogl. . . . 95 95 Der Schiffbruch.* Herder. . . 96 Kannitverstan. Hebel. . . . Das Glöcklein des Glücks.* Seidl. 97 Der Trompeter an der Katzback.* Mosen 98 Der Kauf. Aus Dielitz'Skizzenbuch. 99 Das große Loos. * Langbein. . 100 Von des Kaisers Bart.* Geibel. 102 Bestrafte Ungenügsamkeit.* Rückert. 102 Die Histörchen.* Kopisch. . . 103 Der Pascha von Damaskus. Nach 106 Rosa

Ges chichte. 112 115 116 119 121 124 124 125

Zweikampf des Hektor und Ajax. Becker 128 Hektors Ende. Dielitz.. . 129 7. Odysseus von Ithaka. . . . 133 Odysseus bei den Cyklopen. Dielitz. 133 Odysseus bei den Phäaken. Nach Becker 135 Odysseus und Telemach. Nach Becker. 137

Seite

Seite Der Tod der Freier. Dielitz. . 139 8. Die Perserkriege................................. 140 Der Aufstand der jonischen Grie­ chen. Dielitz................................. 140 Die Schlacht bei Marathon. Dielitz. 142 DerKampf bei Thermopylä. Dielitz. 143 Der Sieg bei Salamis. Becker. . 144 Die Schlacht bei Platää. Dielitz.. 145 9. Roms Gründung. Nach Livius. 146 10. Eiserne Kriegszucht des L. Papirius Cursor. Peter..........................149 11. Fabricius. Becker............................... 150 12. Hannibals Zug über die Alpen. Dielitz................................................ 151 13. Die Schlachten am Ticinus und am trasimenischen See. Dielitz. 153 14. Fabius Cunctator. Dielitz. . . 154 15. Die Schlacht bei Cannä. Dielitz. 155 16. Die Zerstörung Karthagos. Dielitz. 155 17. Die Cimbern und Teutonen. Die­ litz........................................................ 157 18. Cäsars Tod. Nach Lanz. . . . 159 19. Hermann, der Befreier Deutsch­ lands. Lüttringhaus......................... 161 20. Der heilige Martin. * Falk. . 161 21. Der heilige Ambrosius. * Apel. 162 22. Die Hunnen. Luden.......................... 163 23. Das Grab des Busento. * Platen. 164 24. Die Schlacht bei Zülpich. * Sim­ rock................................................ 164 25. Pipin der Kurze. *Streckfuß. . 165 26. Belisar. Houwald....................... 166 27. Alboin vor Pavia.* Kopisch. . 167 28. Aus dem Leben Karls des Großen. Rückert.......................................... 168 29. König Karls Meerfahrt.* Uhland. 170 30. Roland Schildträger.* Uhland. . 170 31. Heinrich der Vogelsteller. * Vogl. 172 32. Heinrich der Vogelsteller.* Mühler. 173 33. Heinrich der Vogelsteller schlägt die Ungarn. Luden. ..... 173 34. Otto mit dem Bart. Grimm. . 174 35. Kaiser Otto I.* Mühler. . . 176 36. Habsburgs Mauern.* Simrock. 177 37. Tailleser.* Uhland. ... 178 38. Albrecht der Bär. O. Schulz. . 179 39. Die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer. Dielitz. ... 181 40. Landgraf Ludwig der Eiserne. Nach Grimm............................................... 185 41. Friedrich Barbarossa. Raumer. . 186 42. Schwäbische Kunde. * Uhland. . 187 43. Der dritte Kreuzzug. Dielitz. . 187 44. Barbarossa.* Rückert. ... 192 45. Friedrich II. Nach Vehse. . . 192 46. Landgraf Ludwig und der Löwe.* Bechstein. ................................. 194

47. 48. ' 49. 50. 51. 52. 53. 54.

55.

56. 57. 5859.

60. 61. 62. 63. 6465. 66. 67.

68. 69. 70.

71. 72. 73. 74. 75. 76. 77. 78. 79. 80. 81. 82. 83.

84. 85. 86. 87.

Der Graf von Habsburg.* Schiller. 194 Rudolfs Ritt zum Kaisergrabe.* Kerner................................................. 196 Kaiser Albrechts Hund.* Collin. 196 Wilhelm Tell. Bäßler. .... . 198 Seifried Schweppermann.* Ölckers. 200 Der reichste Fürst. * Kerner. . . 200 Timur, der Mongole. Becker. . 201 Die Belagerung von Ottenstein.* Vincke.................................................. 202 Die Belagerung von Marienburg. Nach Heinel....................................... 203 Das Mahl zu Heidelberg.* Schwab. 205 Columbus.* Luise Brachmann.. 206 Martin Luther. Dielitz. . . . 207 Luther und Frundsberg.* Hagen­ bach......................................................213 Herzog Alba in Rudolstadt. Schiller. 214 Einer oder der Andere. Hebel. . 215 Die Zerstörung Magdeburgs. Becker.................................................. 215 Die Schlacht bei Lützen. Nach Hen­ ning......................... ... 217 Die Sieger. * Vogl.......................... 218 Die Schlacht bei Fehrbellin. Nach Becker............................ . . 219 Fehrbellin.* Minding. . . . 220 Feld marsch all Derfslinger. * Leh­ mann................................................... 221 Friedrichs des Großen Jugend. Dielitz................................................. 222 Die Schlacht bei Roßbach. Lüttringhaus.........................................'. . 224 Ans dem Leben Friedrichs des Gro­ ßen. O. Schulz.................................224 Die confiscirten Batzen. Kugler. 228 Der Choral von Leurhen.* Besser. 231 Zorndorf. * Minding. . . . 231 Die Schlacht bei Kunersdorf. Lütt­ ringhaus............................................. 232 Die Schlacht bei Torgau. Nach Henning.................................... 232 Der alte Zieten.* Fontane. . 233 Zieten.* Sallet................................. 234 Gerechtigkeitsliebe Ioseph's II. Grube....................................... 234 Ein gutes Recept. Hebel. . . 235 Der Staar. Jacobs..........................236 Der Preuße in Lissabon.* Holtei. 237 Aus Napoleons Soldatenleben. Denkwürdigkeiten a. d. Geschichte. 238 Deutschland in seiner Erniedrigung. Lüttringhaus...................................... 240 Andreas Hofer. Lüttringhaus. . 242 Andreas Hofer. * Mosen. . . 243 Ein deutscher Bauer. Eylert. . 244 Luise von Preußen. Lüttringhaus. 244

VIII

Inhalt.

Seite 88. Der Freiherr von Stein. Nach Eylert................................................. 245 89. Napoleons Feldzug gegen Rußland. Lüttringhaus......................................246 90. Das preußische Volk i. I. 1813. Nach Arndt....................................... 248 91. Preußens Kronprinz (Friedrich Wil­ helm IV.) in der Lützener Schlacht.* Schenkendorf...................................... 249 92. Die Schlacht bei Groß-Beeren. Hahn................................................... 249

Seite 93. Die Schlacht an der Katzbach. Lüt­ tringhaus........................................... 250 94. Die Schlacht bei Dennewitz. Hahn. 250 95. Die Völkerschlacht bei Leipzig. Tho­ mas.....................................................252 96. Gebhard Lebrecht von Blücher. Varnhagen von Ense. . . . 254 97. Blücher in den Schlachten bei Ligny und Belle-Alliance. Lüttringhaus. 256 98. Das Lied vom Feldmarscha'ü. * Arndt........................................ 258

VII. Natur-, Länder- und Völkerkunde. 1. Die Zugvögel. Wilmsen, 259 2. Der Walfisch. Oltrogge. . . 263 3. Der Walfischfang. Aus Dielitz' amerik. Reisebildern.......................... 266 4. Das Rennthier. Oltrogge. . . 272 5. Die Eiche. Ehrhardt.........................273 6. Der Heringsfang an der norwegi­ schen Küste. Nach Mügge. . . 273 7. Der Storch. Neuling. . . . 276 8. Die Burg Hohenzollern. Schwab. 278 9. Der Hohenstaufen. Ehrhardt. . 279 10. Das Lissaboner Erdbeben. Hirschseld. 280 11. Die Pest in Marseille. Schubert. 284 12. Gruß an den Rhein. * Zedlitz. . 288 13. Das Leben der Geisbuben auf den Alpen. Tschudi................................. 289 14. Die Gemsenjagd. Nach Dumas. 290 15. Der Bär. Tschudi............................ 295 16. Der braune Bär. Dielitz. . . 298 17. Die Räuber im Bakony-Wald. Pirch. 301 18. Sibirien. Aus Dielitz' Zonenbildern. 305 19. Erster Anblick von Ostindien. Aus­ land..................................................... 308 20. Die Tigerjagd in Ostindien. Dielitz. 312

21. Der Königstiger. Nach Lenz und Reichenbach.........................................317 22. Der Kamps der Riesenschlange mit dem Tiger. * Rückert. . . . 323 23. Die Schlangen. Schubert. . . 323 24. Die Sahara. Dielitz. . . . 325 25. Wüstenreise. Lauckhard. . . . 326 26. Gelungene List. Dielitz' Skizzenb. 327 27. Eine Fahrt auf dem Missisippi. Aus Dielitz' Skizzenbuch........................... 328 28. Die Holzfäller in den Wäldern von Florida. Magaz f. ausl Literatur. 332 29. Ein Waldbrand in Nord-Amerika. Magaz. f. ausländ. Literatur. . 336 30. Bärenjagden. Nach Gerstäcker. . 339 31. Der graue Bär. Nach Ferry. . 344 32. Die Tigerhöhle. Ausland. . . 351 33. Otahiti. Forster................................. 355 34. Das Meer und seine Schrecken. Magaz. f. ausländ. Literatur. . 357 35. Der Rinderhirt. Nach Dickens. . 362 36. Muth der Matrosen. Forster. . 367 37. Abenteuer eines Matrosen. Nach Kingston............................................. 369

VIII. Dramatisches. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Tobias Witt oder die Schule der Klugheit. Engel.................................................. 377 Fischer, Jäger und Hirt. Aus Schiller's Wilhelm Tell. I, 1. . . . 379 Der Bau der Feste. Aus Schiller's Wilhelm Tell. I, 3. . . . . 381 Tell in seiner Familie. Aus Schiller's Wilhelm Tell. III, 1. . . 382 Der Schuß nach dem Apfel. Aus Schiller's Wilhelm Tell. III, 3. 385 Kampfbegier. Aus Goethe's Götz von Berlichingen. 1..................... 392 Des Helden Sohn. Aus Goethe's Götz von Berlichingen. I. . . . 393 Götz unter den Seinen. Aus Goethe's Götz von Berlichingen. III. . . . 395 Götz vor dem Gerichte zu Heilbronn. Aus Goethe's Götz von Berlichingen. IV. 396 Das Armbrustschießen. Aus Goethe's Egmont. I. . . 399 Egmont. Aus Goethe's Egmont. II. . . . . 403

I. Lieder. 1. Gott grüße dich! Golt grüße dich! Kein andrer Gruß Gleicht dem an Innigkeit. Gott grüße dich! Kein andrer Gruß Paßt so zu aller Zeit.

Gott grüße dich! Wenn dieser Gruß So recht vom Herzen geht, Gilt bei dem lieben Gott der Gruß So viel wie ein Gebet. Sturm.

2. Preis des Schöpfers. Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht Die Weisheit deiner Wege, Die Liebe, die für alle wacht, Anbetend überlege: So weiß ich, von Bewundrung voll, Nicht, wie ich dich erheben soll, Mein Gott, mein Herr und Vater!

Dich predigt Sonnenschein und Sturm, Dich preist der Sand am Meere. Bringt, ruft auch der geringste Wurm, Bringt meinem Schöpfer Ehre! Mich, ruft der Baum in seiner Pracht, Mich, ruft die Saat, hat Gott gemacht; Bringt unserm Schöpfer Ehre!

Mein Auge sieht, wohin es blickt, Die Wunder deiner Werke. Der Himmel, prächtig ausgeschmückt, Preist dich, du Gott der Stärke! Wer hat die Sonn' an ihm erhöht? Wer kleidet sie mit Majestät? Wer ruft dem Heer der Sterne?

Der Mensch, ein Leib, den deine Hand So wunderbar bereitet; Der Mensch, ein Geist, den sein Verstand Dich zu erkennen leitet; Der Mensch, der Schöpfung Ruhm und Preis, Ist stets ein würdiger Beweis Von deiner Güt' und Größe.

Wer mißt dem Winde seinen Lauf? Wer heißt die Himmel regnen? Wer schließt den Schooß der Erden auf, Mit Vorrath uns zu segnen? O Gott der Macht und Herrlichkeit! Gott, deine Güte reicht so weit, So weit die Wolken reichen!

Erheb' ihn ewig, o mein Geist! Erhebe seinen Namen! Gott, unser Vater, sei gepreist, Und alle Welt sag' Amen! Und alle Welt fürcht' ihren Herrn Und hoff' auf ihn und dien' ihm gern! Wer wollte Gott nicht dienen? Gellerr.

DieUtz und Heinrichs, deutsches Lesebuch.

1

I. Lieber.

2

3. Gottes Güte. Wie groß ist deS Allmächtigen Güte! Ist der ein Mensch, den sie nicht rührt, Der mit verhärtetem Gemüthe Den Dank erstickt, der ihm gebührt? Nein, seine Liebe zu ermessen, Sei ewig meine größte Pflicht; Der Herr hat mein noch nie vergessen, Vergiß, mein Herz, auch seiner nicht!

Und diesen Gott sollt' ich nicht ehren Und seine Güte nicht verstehn? Er sollte rufen, ich nicht hören, Den Weg, den er mir zeigt, nicht gehn? Sein Will' ist mir inö Herz geschrieben,

Wer hat mich wunderbar bereitet? Der Gott, der meiner nicht bedarf. Wer hat mit Langmuth mich geleitet? Er, dessen Rath ich oft verwarf. Wer stärkt den Frieden im Gewissen? Wer giebt dem Geiste neue Kraft? Wer läßt mich so viel Glück genießen? Ist'S nicht sein Arm, der alles schafft?

Dies ist mein Dank, dies istseinWille: Ich soll vollkommen sein wie er. So laug ich dies Gebot erfülle, Stell' ick) sein Bildniß in mir her. Lebt seine Lieb' in meiner Seele, So treibt sie mich zu jeder Pflicht; Und ob ich schon aus Schwachheit fehle, Herrscht doch in mir die Sünde nicht.

Schau, o mein Geist! in jenes Leben, Zu welchem du erschaffen bist. Wo du, mit Herrlichkeit umgeben, Gott ewig sehn wirst, wie er ist! Du hast ein Recht zu diesen Freuden, Durch Gottes Güte sind sie dein. Sieh, darum mußte Christus leiden, Damit du könntest selig sein!

O Gott, laß deine Güt' und Liebe Mir immerdar vor Augen sein! Sie stärk' in mir die guten Triebe, Mein ganzes Leben dir zu weihn! Sie tröste mich zur Zeit der Schmerzen, Sie leite mich zur Zeit des Glück-, Und sie besieg' in meinem Herzen Die Furcht des letzten Augenblicks! GeUerr.

Sein Wort bestärkt ihn ewiglich: Gott soll ich über alles lieben. Und meinen Nächsten gleich als mich.

4. Gottes Güte. Für wen schuf deine Güte, Herr, diese Welt so schön? Für wen ist Blum' und Blüthe In Thälern und in Höh'n? Für wen ist hohe Wonne Da, wo das Saatfeld wallt? Für wen bescheint die Sonne Die Wiesen und den Wald?

Uns giebst du ein Vermögen, Die Schönheit einzusehn. Uns Menschen, deinen Segen Zu fühlen, zu verstehn. Uns sollte all' die Wonne Ein Ruf der Liebe sein, Mit jeder Morgensonne Dir unser Herz zu weihn.

Für wen tönt das Getümmel Der Heerden auf der Au? Für wen wölbt sich der Himmel So heiter und so blau? Für wen sind Thal und Gründe So lieblich anzusehn? Für wen wehn kühle Winde? Für wen ist alles schön?

Nun sieh, o Gott, wir weihen Ein Herz voll Dankbarkeit Dir, der uns liebt, und freuen Uns deiner Gütigkeit! Du hauchtest nicht vergebenEin fühlend Herz uns ein: Ein Borhof jenes Lebens Soll uns die Erde sein! Gleim.

5.

Vertrauen auf Gott.

Auf Gott und nicht auf meinen Rath Will ich mein Glücke bauen Und dem, der mich erschaffen hat, Mit ganzer Seele trauen.

Er, der die Welt Allmächtig hält, Wird mich in meinen Tagen Als Gott und Vater tragen.

I.

s

Lieber.

Er sah von aller Ewigkeit, Ist nicht ein ungestörtes Glück Weit schwerer oft zu tragen, Wie viel mir nützen würde, Als selbst das-widrigste Geschick, Bestimmte meine- Lebenszeit, Mein Glück und meine Bürde. Bei dessen Last wir klagen? Die größte Wvtt) WaS zagt mein Herz? Hebt doch der Tod, Ist auch ein Schmerz, Und Ehre, Glück und Habe Der zu des Glaubens Ehre Verläßt mich doch im Grabe. Nicht zu besiegen wäre? Gott kennet, was mein Herz begehrt, An dem, was wahrhaft glücklich macht, Läßt Gott es keinem fehlen; Und hätte, was ich bitte, Gesundheit, Ehre, Glück und Kraft Mir gnädig, eh' ich's bat, gewährt, Smd nicht das Glück der Seelen. Wenn's seine Weisheit litte. Er sorgt für mich Wer Gottes Rath Stets väterlich; Bor Augen hat, Nicht was ich mir ersehe, Dem wird ein gut Gewissen Sein Wille, der geschehe! Die Trübsal auch versüßen. Was ist des Lebens Herrlichkeit? Wie bald ist sie verschwunden! Was ist das Leiden dieser Zeit? Wie bald ist's überwunden! Hofft auf den Herrn! Er hilft euch gern. Seid fröhlich, ihr Gerechten! Der Herr hilft seinen Knechten. Gellert.

6. Aus Gott allem! Wer auf die Welt Und wer es stellt Auf Gott und Welt, Sein Herze stellt, Der schafft sich bittres Leid; Dem winket nie die Ruh'; Getheiltes Herz Was sie verspricht, Schafft Sorg' und Schmerz, DaS hält sie nicht, Führt nicht dem Himmel zu. Ihr fehlt Beständigkeit. Auf Gott allein, So soll es sein, Er ist der rechte Hort; Wer ihn: vertraut, Auf ihn nur baut, Ist selig hier und dort. Sturm.

7. Du bist's allein. Du bist's allein; Macht und Gewalt sind dein. Was kann sich deinem Wort entgegenstellen? Du wmkst, und Erd' und Himmel, sie zerschellen; Du winkst, und alles kehrt zum neuen Sein. Du bist's allein. Du bist's allein, Der Nacht und Sonnenschein, Der Sommerglanz und Wirttersturm bereitet, Aus seinem Herzen Gnadenströme leitet, Daß Segen triefen selbst die Wüstenei'n; Du bist's allein.

4

I.

Sieber.

Du bist's allein; Nichts ist so groß, noch klein, DaS nicht aus dir, aus seinem ew'gen Grunde, Sein Dasein tränke mit begier'gem Munde. WaS lebt und webt und ist, sein wahres Sein — Du bist's allein. Du bist's allein. Der unter Schmerz und Pein In deinem Ernst mir deine Liebe zeigtest, Die Hand dem-, der versinken wollte, reichtest, Der mich, der alle hört, die zu ihm schrein; Du bist's allein. Du bist's allein. Durch den ich alles mein, Mein das Vergang'ne, das Zukünft'ge nenne, Durch den ich mich, die Welt, dich selbst erkenne, Durch de» ich rufen kann: „Herr, ich bin dein!" Du bist's allein. Du bist's allein; Dmm fei die Ehre dein. Bon allen Zungen soll dein Lob erschallen, In allen Herzen deine Liebe walle», Dein Name unsre Kron' und Ehre sein. Du bist'S allein! Straus.

8. Wo wohnt der liebe Gott? Wo wohnt der liebe Gott? Sieh dort den blauen Himmel an, Wie fest er steht so lange Zeit, Sich wölbt so hoch, sich streckt so weit, Daß ihn kein Mensch ersassen kann; Und sieh der Sterne goldnen Schein Gleich als viel tausend Fensterlein; DaS ist des lieben Gottes Haus, Da wohnt er drin und schaut heraus Und schaut mit Vateraugen nieder Auf dich und alle deine Brüder.

Wo wohnt der liebe Gott? Hinaus-tritt in den dunklen Wald; Die Berge sieh zum Himmel gehn. Die Felsen, die wie Säulen stehn, Der Bäume ragende Gestalt; Horch, wie eS in den Wipfeln rauscht, Horch, wie'S im stillen Thale lauscht! Dir schlägt daS Herz, du merkst es bald, Der liebe Gott wohnt in dem Wald; Dein Auge zwar kann ihn nicht sehen, Doch sühlst du seines Odems Wehen.

Wo wohnt der liebe Gott? Hörst du der Glocken gellen Klang? Zur Kirche rufen sie dich hin.

Wie ernst, wie freundlich ist's darin. Wie lieb und traut, und doch wie bang'; Wie fingen sie mit frommer Lust, Wie beten sie aus tiefer Brust! DaS macht, der Herr Gott wohnet da;

Drum kommen sie von fern und nah, Hier vor sein Angesicht zu treten, Zu flehn, zu danken, anzubetm.

Wo wohnt der liebe Gott? Die ganze Schöpfung ist sein HauS. Doch wenn eS ihm so wohl gefällt. So wählet in der weiten Welt Er sich die engste Kammer aus. Wie ist daS Menschenherz so Nein!

Und doch auch da zieht Gott hinein. O halt daS deine, fromm und rein. So wählt er'S auch zur Wohnung sein Und kommt mit seinen Himmelsfreuden Und wird nie wieder von dir scheiden! 4aufzusinden. Er selbst ritt mit einigen Begleitern hinaus; ermüdet von der Hitze des Tages, wünschte er, sich durch ein Bad zu erfrischen, und warf sich, nachdem er seine Rüstung abgelegt hatte, in den Fluß. Als ein geschickter Schwimmer achtete er der sprudelnden Wellen nicht, aber schon nach einigen Augenblicken sahen seine Begleiter ihn sinken. Er arbeitete sich wieder empor, und ein Ritter, der ihm nachgeschwommen war, ergriff ihn; aber beide geriethen in einen Wirbel des Stroms, der sie aus einander riß. Ein zweiter, der sich mit dem Pferde ins Wasser geworfen hatte, brachte den Kaiser ans Land, aber schon ohne Leben. Ein entsetzlicher Schrecken lähmte plötzlich jede frohe Bewegung, als sich die furchtbare Nachricht im Lager verbreitete. Eine Nacht der Thränen, des Jammers und der Verzweiflung folgte auf den lauten Jubel, und jeder neue Tag erhöhte noch das Gefühl des unersetzlichen Verlustes. Gleich nach dem Tode des Kaisers kehrten viele Grafen und Ritter, an einem glücklichen Aus­ gang des Zuges verzweifelnd, zu Schiffe nach Europa zurück; die.Mehrzahl aber setzte unter der Anführung des Herzogs Friedrich ihren Weg über Tarsus nach Antiochien fort, wo sie wegen einer verheerenden Seuche, die täglich viele hun­ dert Deutsche fortrasfte, acht Wochen bleiben mußten. In Tyrus wurde der Kaiser feierlich bestattet; dann wandte sich der Rest des Heeres nach Ptolemais, das von dem König Guido, der unterdeß seiner Haft entlassen worden war, und vielen zu Schiffe angekommenen Kreuzfahrern belagert wurde. Hier starb Herzog Friedrich im Januar des Jahres 1191 an einem hitzigen Fieber, das auch unter den übrigen Kreuzfahrern so heftig wüthete, daß von dem gewaltigen Heere nicht mehr als fünftausend Reiter unter Anführung des Herzogs Leopold von Oestreich übrig blieben. Unterdeß halten auch die Könige von Frankreich und England ihren Kreuz­ zug angetreten. Sie hatten beschloßen, die Reise zur See auszuführen, und schifften sich daher in Genua und Marseille mit allen ihren Streitern ein. In

Messina vereinigten sich die beiden Könige wieder; aber schon hier brach unter ihnen der böse Zwist aus, der den ganzen Kreuzzug über fortdauerte und mehr als alles andere dazu beitrug, den Erfolg desselben zu hemmen. So verging der Winter unter Mißhelligkeiten aller Art; erst im März des folgenden Jah­ res segelte Philipp August mit den Franzosen auf genuesischen Schiffen weiter und kam ohne Unfall nach Palästina. Richard Löwenherz folgte ihm vierzehn Tage später auf zweihundert größtentheils englischen Fahrzeugen, landete bei

VI.

Geschichte.

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Ptolemais und vereinigte sich mit den Franzosen und den Trümmern des deut­ schen Heeres zur Belagerung dieser Stadt. Es war verabredet, daß Franzosen und Engländer immer abwechselnd einen Tag um den andern stürmen sollten, und so brachte es ihr Wetteifer dahin, daß fcte feste Stadt sich ungeachtet der heldenmüthigen Tapferkeit ihrer Bewohner schon nach einem Monat ergeben mußte. Auch der Herzog Leopold hatte sich bei der Belagerung sehr thätig ge­ zeigt und mit großer Tapferkeit gefochten. Als er nun nach der Besetzung der Stadt auf einem von ihm eroberten Thurm seine Fahne aufpflanzte, ließ der stolze Richard sie herunterreißen und in den Koth treten. Leopold konnte für den Augenblick gegen den mächtigen König nichts ausrichten; er verschob daher die Rache auf eine gelegenere Zeit, verließ die Stadt und schlug mit den Seinigen vor dem Thore ein Lager auf. Bald aber fühlte sich auch Philipp August durch Richards hochmüthiges und rohes Betragen beleidigt, und da er überdies durch Krankheit ermattet war, so schiffte er sich schon im Juli wieder nach Frankreich ein. Zuvor hatte er vor dem versammelten Heere einen Eid geschworen, daß er Richards und der übrigen Kreuzritter Besitzungen nicht nur nicht angreifen, sondern auch gegen fremde Angriffe vertheidigen wolle. Der größte Theil seines Heeres blieb in Palästina zurück. Bald darauf setzte sich das Kreuzheer gegen Jerusalem in Bewegung. Schon in den ersten Tagen erlag ein großer Theil desselben den beständigen Angriffen der von allen Seiten umherschwärmenden Türken; am vierzehnten Tage aber sah es sich plötzlich in einem engen Thale von den Feinden eingeschlossen und von allen Lebensmitteln und Wasserquellen abgeschnitten. So ungünstig die Stellung der Christen war, so errang doch Richards Löwenkühnheit einen voll­ ständigen Sieg; dennoch mußte das Kreuzheer, als es sich der heiligen Stadt bis auf drei Meilen genähert hatte, den Rückzug antreten, weil es sich von ei­ ner Belagerung keinen Erfolg versprechen konnte. Mißmüthig entfernten sich zuerst die Franzosen, und bald rüstete sich auch Richard zur Rückkehr nach Eng­ land. Schon war er im Begriff sich einzuschiffen, als er erfuhr, daß die See­ stadt Joppe von den Türken bedroht wäre. Sogleich segelte er mit einer Schaar von tausend Bewaffneten dorthin; allein bei seiner Ankunft war die Stadt schon erobert. Ohne die Landung seines Heeres abzuwarten, sprang er mit wenigen Begleitern von seinem Schiffe ins Meer, schwamm an das Ufer, trieb die durch seinen bloßen Anblick erschreckten Türken in die Flucht und rettete so den Chri­ sten die schon verlorene Stadt, indem er in aller Eile die zerstörten Mauern wiederherstellen ließ. Bald nach der Schlacht b^i Joppe schlossen Richard und Saladin einen dreijährigen Waffenstillstand, demzufolge der ganze Küstenstrich in den Händen der Christen blieb und ihnen zugleich die Wallfahrten nach Jerusalem, Nazareth und Bethlehem gestaltet wurden. Die Pilger begaben sich schaarenweis m die heiligen Städte, wo sie von den Türken gastfreundlich ausgenommen wurden; Richard aber versagte es sich, das Grab des Erlösers zu besuchen, weil er nicht als Sieger in Jerusalem einziehen konnte. Auf der Rückreise nach Europa hatte Richard mannichfache Drangsale aus­ zustehen. Sechs Wochen lang wurde er auf dem Meere durch heftige Stürme umhergeworfen; endlich litt er in der Gegend von Venedig Schiffbruch und mußte die Weiterreise in Begleitung eines Dieners zu Lande fortsetzen. Die Deutschen, die er in Palästina mit so empörendem Uebermuth behandelt hatte, hatten von seinem Wege Kunde erhalten und stellten ihm eifrig nach. Er suchte daher verkleidet zu entschlüpfen; in Wien aber verrieth sich sein Diener durch morgenländische Goldmünzen und er selbst durch einen kostbaren Ring, den er am Finger trug, und der zu seiner unscheinbaren Kleidung nicht paßte. So

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qerieth er in die Gewalt seines erbittertsten Feindes, des Herzogs Leopold von Oestreich, der ihn als Gefangenen auf die Festung Dürrenstein bringen und scharf bewachen ließ. Von ihm wurde er an den Kaiser Heinrich VI. aus­ geliefert, weil dieser erklärt hatte, daß es einem Herzoge nicht gezieme, einen König gefangen zu halten, und erst gegen ein Lösegeld von zwei Millionen Tha­ lern in Freiheit gesetzt. Dirlit;.

44. Barbarossa. Der alte Barbarossa, Der Kaiser Friederich, Im unterirdischen Schlöffe Hält er verzaubert sich.

Sein Bart ist nicht von Flachse, Er ist von Feuersglut, Ist durch den Tisch gewachsen, Worauf sein Kinn ausruht.

Er ist niemals gestorben, Er lebt darin noch jetzt; Er hat im Schloß verborgen Zum Schlaf sich hingesetzt.

Er nickt als wie im Traume, Sein Aug' halb offen zwinkt; Und je nach langem Raume Er einem Knaben winkt.

Er hat hinabgenommen Des Reiches Herrlichkeit Und wird einst wiederkommen Mit ihr zu seiner Zeit.

Er spricht im Schlaf zum Knaben „Geh hin vors Schloß, o Zwerg, Und sieh, ob noch die Raben Herfliegen um den Berg.

Der Stuhl ist elfenbeinern, Darauf der Kaiser sitzt; Der Tisch ist marmelsteinern, Worauf sein Haupt er stützt.

Und wenn die alten Raben Noch fliegen immerdar, So muß ich auch noch schlafen Verzaubert hundert Jahr." Rückert.

45. Friedrich II. Er war ein Enkel Barbarossas und durch Heldensinn, Festigkeit des Wil­ lens und Kühnheit des Geistes seinem Großvater ähnlich. Er liebte Künste und Wissenschaften, war selbst Dichter, sprach sechs Sprachen und trug sieben Kronen auf seinem Haupte. Sein Leben war ein fortwährender Kampf mit den Päpsten; so gewaltig wie er hat kein deutscher Kaiser mit ihnen gerun­ gen. Sie hatten den Bann und das Interdict und wußten damit umzugehen. Es war ein schauerlicher Anblick, wenn ein ganzes Land mit dem Interdict belegt wurde. Aller Gottesdienst mußte mit einem Mal aufhören; die Al­ täre wurden entkleidet, die Kerzen ausgelöscht, alle Heiligenbilder und Kreuze lagen schwarz verschleiert am Boden; keine Glocke tönte mehr, die Kirchen­ pforten blieben verschlossen, die Orgeln stumm, kein Sakrament wurde ausgetheilt; kein Todter kam in die heilige Erde des Gottesackers, er wurde ohne Gebet und Gesang in unheiliges Land eingescharrt. Ehen wurden nicht vor dem Altare, sondern in dem Todtengarten einczesegnet. Niemand durfte auf der Straße grüßen; jeder Anblick sollte verkündigen, daß das ganze Land ein Land des Fluches sei. Friedrich II. hatte bei seiner Krönung versprochen, einen Kreuzzug zu machen. Als er aber damit zögerte, sprach der Papst den Bannfluch über ihn aus. Der Kaiser unternahm darauf den Kreuzzug; er söhnte jedoch dadurch den Papst nicht aus. Dieser erließ sogar an die Geistlichkeit und an die Rit­ terorden in Palästina die strengsten Befehle, den Kaiser nicht im Geringsten zu unterstützen; denn ein mit dem Fluche der Kirche Beladener sei unwürdig, für die Sache Gottes zu kämpfen. Friedrich aber befreite Jerusalem, Beth-

VI.

Geschichte.

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lehem und Nazareth von den Saracenen und setzte sich selbst die Krone eines Königs von -Jerusalem aufs Haupt. Darauf eilte er nach Italien zurück, trieb dort die Feinde aus seinen Besitzungen und söhnte sich wieder mit dem Papste aus. Später zerfiel er aber wieder mit dem Papste. Da ward er auf dem großen Concil zu Lyon, wo die Cardinäle den rothen, breiten Hut er­ hielten, vom Papste förmlich seines Reiches entsetzt und der Kreuzzug gegen ihn gepredigt. Feierlich wurde er in der Kirche als Ketzer verflucht. Alle an­ wesenden Cardinäle und Bischöfe warfen ihre brennenden Kerzen auf die Erde, und der Papst rief: „Des Kaisers Macht und Glück soll ausgeloschen sein, wie diese Kerzen." Als Friedrich den Spruch von Lyon vernahm, rief er von Zorn glühend: „Wie? abgesetzt, meiner Kronen beraubt hat mich der Papst? Bringt sie herbei!" Und man brachte ihm seine sieben Kronen, das waren die deutsche Königskrone, die Kaiserkrone, die eiserne von Lombardien, die Kronen von Neapel, Burgund, Sardinien und Jerusalem. Eine dieser Kronen setzte er sich aufs Haupt und rief: „Noch habe ich sie, und kein Papst soll sie mir rauben." Er erklärte den Fürsten: „Ihr sollt mir helfen: aber ihr thut nichts und lastet es geschehen, daß die ganze Welt in des Papstes Gewalt kommt." Heftige Kämpfe entbrannten. Nur die deutschen Städte blieben dem Kaiser treu und hörten nicht auf die Schaaren von Bettelmönchen, die das Volk zum Abfalle, ja sogar zum Mord des Kaisers aufwiegelten. Friedrich mußte es erleben, daß die Treue seiner treuesten Freunde wankend gemacht wurde; sogar sein Kanzler, „die Hälfte seiner Seele," wie er ihn nannte, wollte ihn vergif­ ten. Als er entdeckt wurde, zerstieß er sich den Kopf an den Wänden seines Kerkers. Schrecklich wüthete in Italien der Krieg zwischen der kaiserlichen und päpstlichen Partei, schrecklicher als in Deutschland. Das heiße Blut des rach­ süchtigen und jähzornigen Südländers führte unerhörte Greuelthaten herbei: Familie wider Familie, Stadt wider Stadt; weder Alter noch Stand entzog sich dem Kampfe. Parteiwuth beherrschte alles. Lange hielt sich Friedrichs hohe Gestalt aufrecht. Die Zahl der Feinde hob nur seinen Muth. Als aber sein hochsinniger Sohn Enzio in die Gewalt der Bologneser kam, und alle Versuche, den jungen, blond gelockten König aus dem Kerker zu befreien, schei­ terten, als selbst viele seiner Vertrautesten sich von der Gegenpartei gewinnen ließen: da brach endlich das Herz des Kaisers. Im 56. Jahre seines vielbe­ wegten Lebens verschied er in den Armen seines geliebtesten Sohnes Manfred und ward zu Palermo begraben. Es war ihm prophezeit worden, er solle unter Blumen sterben. Deßhalb mied er die Stadt Florenz, dachte aber nicht an Fiorenzuola. Als man sein Grab im Jahre 1781 öffnete, fand man ihn geschmückt mit Krone und Reichsapfel, gestickten Gewändern, Stiefeln und Sporen, in der Hand einen Ring mit kostbarem Smaragde. Ein hartes Geschick verfolgte alle noch übrigen Glieder des hohenstaufischen Hauses. König Enzio schmachtete zwanzig Jahre im Kerker und starb in Haft. Manfred fiel, um den Besitz Siciliens gegen Karl von Anjou rit­ terlich fechtend, mitten im Schlachtgetümmel. Auch er war so schön, daß seine Soldaten den Steinhaufen, der seine Leiche deckte, den Fels der Rosen nann­ ten. Seine Söhne ließ der unbarmherzige Karl bis an ihren Tod im Kerker schmachten. Des Kaisers Tochter Margaretha ward von ihrem Gemahl, ei­ nem Markgrafen von Thüringen, so mißhandelt, daß sie zur Nachtzeit aus der Wartburg entfloh und bei der Umarrüung ihrer beiden Knaben im Schmerz über die Trennung den einen so in die Wange biß, daß er ein Maal und den Beinamen „der Gebissene" davon behielt. Und der letzte Hohenstaufe, der schöne Konradin, mußte zu Neapel in der Blüthe seiner Jahre das Haupt dem Henker auf den Block legen. Nach vchse.

Dielitz und Heinrichs, deutsches Lesebuch.

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Geschickte.

46. Landgraf Ludwig uud der Löwe. Der heil'ge Ludwig ritt hervor Aus Wartburgs hochgewölbtem Thor. Er grüßet fromm den Morgenstrahl Und schaut hinab auf Stadt und Thal. Und wie er jetzt hinunterschaut, Schreckt ihn ein donnergleicher Laut; Er wendet sich nach dem Geschrei Und sieht bestürzt den Löwen frei,

Der aber blickt so fest ihn an, Wie ihm der Löwe kaum gethan. Und Auge fest in Auge ruht; Der Landgraf aber droht voll Muth „Gleich lege dich, mein edles Thier! Bei meinem Zorn befehl' ich's dir!"

Da hat der Löwe sich erschreckt Zu Ludwigs Füßen hingestreckt. Den Löwen, den man ihm geschenkt, Der Wärter eilt herbei entsetzt; Der seinen Kerker heut gesprengt. Der Landgraf steht da unverletzt. Sein Haupt, von Mähnen dicht umrollt, Ein fester Blick, ein hoher Muth, Bewegt er wild; die Stimme grollt; Die find zu allen Zeiten gut. Der Leu des feindlichen Geschicks Und seiner Augen Flammenstern Weicht oft dem Feuer kühnen Blicks. Ist starr gerichtet auf den Herrn. Pechstein.

47. Der Graf von Habsburg. Zu Aachen in seiner Kaiserpracht Äm alterthümlichen Saale Saß Königs Rudolfs heilige Macht Beim festlichen Krönungsmahle. Die Speisen trug der Pfalzgraf des Rheins, Es schenkte der Böhme des perlenden Weins, . Und alle die Wähler, die sieben, Wie der Sterne Chor um die Sonne sich stellt, Umstanden geschäftig den Herrscher der Welt, Die Würde des Amtes zu üben.

Und rings erfüllte den hohen Balkon Das Volk in freud'gem Gedränge; Laut mischte sich in der Posaunen Ton Das jauchzende Rufen der Menge; Denn geendigt nach langem, verderb­ lichen Streit War die kaiserlose, die schreckliche Zeit, Und ein Richter war wieder auf Erden. Nickt blind mehr waltet der eiserne Speer, Nicht fürchtet der Schwache, der Fried­ liche mehr, Des Mächtigen Beute zu werden.

Doch den Sänger vermiss' ich, den Brin­ ger der Lust, Der mit süßem Klang mir bewege die Brust Und mit göttlich erhabenen Lehren. So hab' ich's gehalten von Jugend an, Und was ich als Ritter gepflegt und gethan, Nicht will ich's als Kaiser entbehren."

Und sieh, in der Fürsten umgebenden Kreis Trat der Sänger im langen Talare; Ihm glänzte dre Locke silberweiß, Gebleicht von der Fülle der Jahre. „Süßer Wohllaut schläft in der Sai­ ten Gold; Der Sänger singt von der Minne Sold, Er preiset daS Höchste, das Beste, Was daS Herz sich wünscht, waS der Sinn begehrt; Doch sage, waS ist des Kaisers werth An seinem herrlichsten Feste?"

„Nicht gebieten werd' ich dem Sän­ ger," spricht Der Herrscher mit lächelndem Munde. Und der Kaiser ergreift den goldnen „Er steht in des größeren Herren Pflicht, Pokal Er gehorcht der gebietenden Stunde. Und spricht mit zufriedenen Blicken: Wie in den Lüften der Sturmwind saust, „Wohl glänzet das Fest, wohl pranget Man weiß nicht, von wannen er kommt das Mahl, und braust. Mein königlich Herz zu entzücken; Wie der Quell aus verborgenen Tiefen:

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Geschichte.

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So des Sängers Lied aus dem Innern Daß er labe den Kranken, der sein be­ gehrt, schallt Und wecket der dunklen Gefühle Gewalt, Und die heilige Pflicht nicht versäume. Und er selber auf seines Knappen Thier Die im Herzen wunderbar schliefen." Vergnüget noch weiter des Jagens Be­ Und der Sänger rasch in die Saiten gier; fällt Der Andre die Reise vollführet. Und beginnt sie mächtig zu schlagen: Und am nächsten Morgen mit danken­ „Aufs Waidwerk hinaus ritt ein edler dem Blick, Held, Da bringt er dem Grafen sein Roß Den flüchtigen Gemsbock zu jagen. zurück Ihm folgte der Knapp' mit dem Jäger­ Bescheiden am Zügel geführet. geschoß, Und als er auf seinem stattlichen Roß Nicht wolle das Gott! rief mit DeIn eine Au' kommt geritten: muthsinn Ein Glöcklein hört er erklingen fern, Der Graf, daß zum Streiten und Jagen Ein Priester war's mit dem Leib des Das Roß ich beschritte fürderhin, Herrn; Das meinen Schöpfer getragen! Voran kam der Meßner geschritten. Und magst du's nicht haben zu eignem Gewinnst, Und der Graf zur Erde sich neiget So bleibt es gewidmet dem göttlichen hin, Dienst! Das Haupt mit Demuth entblößet, Zu verehren mit gläubigem Christen­ Denn ich hab' es dem ja gegeben, Von dem ich Ehre und irdisches Gut sinn, Zu Lehen trage und Leib 'und Blut Was alle Menschen erlöset. Und Seele und Athem und Leben. Ein Bächlein aber rauschte durch's Feld,

Von des Gießbachs reißenden Fluthen geschwellt, Das hemmte der Wanderer Tritte. Und beiseit legt jener das Sakrament, Von den Füßen zieht er die Schuhe behend, Damit er das Bächlein durchschritte.

So mög' auch Gott, der allmächtige Hort, Der das Flehen der Schwachen erhöret, Zu Ehren euch bringen hier und dort, So wie ihr jetzt ihn geehret. Ihr seid ein mächtiger Graf, bekannt Durch ritterlich Watten im Schweizer­ land; Was schaffst du? redet der Graf ihn Euch blühen sechs liebliche Töchter. an, So mögen sie, rief er begeistert aus, Der ihn verwundert betrachtet. Herr, ich walle zu einem sterbenden Sechs Kronen euch bringen in euer Haus Und glänzen die spätsten Geschlechter!" Mann, Der nach der Himmelskost schmachtet. Und mit sinnendem Haupt saß der Und da ich mich nahe des Baches Steg, Kaiser da, Da hat ihn der strömende Gießbach Als dächt' er vergangener Zeiten; hinweg Jetzt, da er dem Sänger ins Auge sah, Im Strudel der Wellen gerissen. Da ergreift ihn der Worte Bedeuten. Drum daß dem Lechzenden werde sein Die Züge des Priesters erkennt er schnell Heil, Und verbirgt der Thränen stürzenden So will ich das Wässerlein jetzt in Quell Eil' In des Mantels purpurnen Falten. Durchwaten mit nackenden Füßen. Und alles blickte den Kaiser an Da setzt ihn der Graf auf sein rit­ Und erkannte den Grafen, der das ge­ terlich Pferd than, Und reicht ihn: die prächtigen Zäume, Und verehrte das göttliche Walten. Schiller.

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48. Rudolfs Ritt zum Kaisergrabe. Auf der Burg zu Germersheim, Stark am Geist, am Leibe schwach, Sitzt der greise Kaiser Rudolf, Spielend das gewohnte Schach.

Mancher eilt des Wegs daher, Der gehört die bange Sage, Sieht des Helden sterbend Bild Und bricht aus in laute Klage.

Und er spricht: „Ihr guten Meister Aber nur von Himmelslust Spricht der Greis mit jenen zweien. Aerzte, sagt mir ohne Zagen, Lächelnd blickt sein Angesicht, Wann aus dem zerbrochnen Leib Wird der Geist zu Gott getragen?" Als ritt' er zur Lust im Maien.

Bon dem hohen Dom zu Speier Und die Meister sprechen: „Herr, Wohl noch heut erscheint die Stunde." Hört man dumpf die Glocken schallen; Freundlich lächelnd spricht der Greis: Ritter, Bürger, zarte Frauen „Meister! Dank für diese Kunde!" Weinend ihm entgegen wallen. „Auf nach Speier! Auf nach Speier!" In den hohen Kaisersaal Ist er rasch noch eingetreten. Ruft er, als das Spiel geendet; „Wo so mancher deutsche Held Sitzend dort auf goldnem Stuhl, Liegt begraben, sei's vollendet! Hört man für daS Volk ihn beten.

Blast die Hörner, bringt Das mich oft zur Schlacht Zaudernd stehn die Diener Doch er ruft: „Folgt ohne

das Roß, getragen!" all', Zagen!"

„Reichet mir den heil'gen Leib!" Spricht er dann mit bleichem Munde. Drauf verjüngt sich sein Gesicht Um die mitternächt'ge Stunde.

Da auf einmal wird der Saal Und das Schlachtroß wird gebracht. Nicht zum Kampf, zum ew'gen Frieden, Hell von überird'schem Lichte, Und verschieden sitzt der Held, Spricht er, trage, treuer Freund, Himmelsruh im Angesichte. Jetzt den Herrn, den Lebensmüden.

Glocken dürfen's nicht verkünden, Weinend steht der Diener Schaar, Als der Greis auf hohem Roste, Boten nicht zur Leiche bieten; Alle Herzen längs am Rheine Rechts und links ein Kapellan, Zieht, halb Leich', aus seinem Schlosse. Fühlen, daß der Held verschieden. Trauernd neigt des Schlosses Linde Bor ihm ihre Aeste nieder; Bögel, die in ihrer Hut, Singen wehmuthsvolle Lieder.

Nach dem Dome strömt das Volk, Schwarz, unzähliges Gewimmels; Der empfing des Helden Leib, Seinen Geist der Dom des Himmels. Kerner.

49. Kaiser Albrechts Hund. Voll Unmuths und ergriffen vom finstern Menschenhaß Zu Wien in seiner Hofburg der Kaiser Albrecht saß. Ihm durfte niemand nahen, er wollte niemand sehn, Er ließ die Wellgeschäfte, so wie sie wollten, gehn.

Die nahmen für ihn freilich wohl ärgerlichen Lauf; Unruhig war der Deutsche, der Schweizer stand schon auf, Der Schwabe wollte Hansen, doch Hansens Uebermuth, Der machte ja vor allem dem Kaiser böses Blut. Oft rief er seinem Hunde; der Hund war ihm getreu. „Steh' du mir, treuer Packan, vor falschen Menschen bei!" Da kroch der Bullenbeißer sogleich an seinen Ort, Hielt an der Thüre Wache und jagte jeden fort.

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Die Schranzen nahten leise; da hob er nur den Kopf Und knurrte. Hei! sie flohen, als hielt er sie beim Schopf. Der Marschall einftolziret, den springt er grimmig an, Und schnell hinaus zur Pforte treibt er den stolzen Mann.

Nun Herzog Leupold nahet mit leichtem Iünglingsschritt. ES kennt der Hund von weitem des Kaisersohnes Tritt Und eilet ihm entgegen und wedelt mit dem Schwanz, Umhüpft ihn auf zwei Beinen im freundelichen Tanz. Die Tatzen auf den Schultern giebt er ihm manchen Kuß; Der Herzog sanft erwidert durch Streicheln seinen Gruß. Jetzt schiebt er ihn zur Seite, rasch wandelnd hin zur Schwell': Da springt der Hund inzwischen mit Winseln und Gebell

Und faßt mit Kraft den Mantel und zerrt den Herrn zurück Und schmeichelt ihm nun wieder mit flehentlichem Blick. Schon ward der Herr unwillig und gab ihm einen Stoß Und ging im Doppelschritte rasch auf die Thüre los. Der Hund kennt seine Pflichten und setzet nach mit Hast, Am Halse schnell den Kragen er fest dem Herzog faßt; Da ballt die Faust Herr Leupold und giebt ihm einen Schlag; Der Hund hielt nie mehr Wache. Wohl war's sein letzter Zlag.

Wie klug nun auch der Herzog die Flucht in Eile nahm. Doch allzubald die Märe vor Albrechts Ohren kam: Man habe vor der Thüre den Hund gefunden todt, Erschlagen ohne Zweifel; der Boden sei noch roth. Der Herr, Unmaßen grimmig, berief den ganzen Hof, Die Ritter und die Frauen, den Knappen und die Zof', Die Söhne mit Herrn Hansen, dem war er nimmer gut, Ihn zieh er schon im Stillen des treuen Packans Blut.

Der Hof war nun versammelt; der Herr im Thronstuhl sitzt; Sein vorgetretnes Auge ganz blutdurchströmet blitzt. Es bebet ihm die Lippe, ha! furchtbar anzuschaun, Darum wohl fühlet Leupold im Herzen heimlich Graun. Nun donnert Kaiser Albrecht: „Der Hund war meine Lust, Das war von euch wohl jedem seit Jahren her bewußt. Recht mich ins Herz zu kränken, traf ihn der Todesschlag, Doch zittern mag der Mörder. Die That muß mir an Tag.

Wer mir den Thäter kündet, und sei's ein schlechter Knecht, Belehn' ich reich mit Gütern aus vollem Kaiserrecht. Weh aber ihm, dem Mörder! Er soll von meinem Thron Entfliehen als ein Bettler, und wär's mein eigner Sohn."

Da siehet Leupold beben der schöne Friederich; Schnell zu des Balers Füßen hin wirft er flehend sich Und ruft: „Verzeihung, Vater! Ich schlug den Packan todt; Er fiel mich an so wüthend; es that mir wahrlich Noth." Und Albrecht, sich vergessend, die Hand empor schon schwingt, Als schneller aus den Schaaren vorfliegend Leupold dringt. Der fängt die Hand des Kaisers und rufet: „Vater, halt! Mich trifft ja nur nach Rechten nun deines Zorns Gewalt.

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Mein Friederich, nicht lüge! Wie bist du gar so gut! Für mich zu sterben, wahrlich, des hättest du wohl Muth ! Doch solchen Hund zu todten, hast du wohl nicht die Kraft, Hab' ich ja selbst zum Schlage mich ganz emporgerafft." Schnell Friederich entgegnet: „Nicht traue seinem Wort, Er will mich retten, Vater, will in die Welt nun fort. Stets strebt zum heil'gen Lande sein ehrbegier'ger Sinn, Doch hätt' wohl Oestreich nimmer von diesem Zug Gewinn."

„Durch Gott!" aufbrauset Leupold. „Wohl zeigt es meine Hand, Noch ist vom Schlag sie blutig und auch des Wammses Rand. Jetzt magst du, Herr, mich bannen aus deinem Angesicht, Es sei! Nur, Herr, entziehe mir deinen Segen nicht!"

Darob dem guten Friedrich das Aug' in Thränen schwellt, Schnell um den Hals des Bruders er nun laut schluchzend fällt. Der Kaiser beide Augm sich mit den Händen drückt, Dann schnell zu seinen Söhnen sich liebvoll niederbückt Und leget ihre Häupter wohl sanft an seine Brust, Sie küssend und sie herzend mit wahrer Vaterlust. Es sieht der Hof mit Staunen, der strenge Kaiser weint; Des halten sie ihn fähig wohl nimmermehr gemeint.

Anjetzt der Kaiser saget zum edlen Bruderpaar: „Zwei Dinge werden Plötzlich nun meinem Geiste klar. Der Mensch ist doch nicht böse, kommt gut aus Gottes Hand. Gelobet sei der Höchste, daß ich euch gut erfand! Und Habsburg kann nicht sinken, wenn seine Söhne sich So brüderlich stets lieben, so fest, so inniglich. Und wie die Feinde drängen, und wie der Meuter bellt, Ihr Brüder, stellt euch siegend entgegen einer Welt!" Collin.

50. Wilhelm Tell. Unter dem Kaiser Albrecht that Geßler, Landvogt zu Uri und Schwyz, den Landleuten daselbst großen Zwang an, hielt sie streng und hart und nahm sich vor, eine Feste in Uri zu bauen, damit er und andere Landvögte nach ihm um so sicherer dort wohnen möchten, wenn Aufruhr entstände, und auch das Land in desto größerer Furcht und in Gehorsam erhalten würde. Er fing also an, auf einem bei Altorf, dem Hauptflecken, gelegenen Hügel den Bau ins Werk zu richten, und wenn ihn jemand fragte, wie die Feste heißen werde, onU wortete er: „Zwing Uri wird ihr Name sein." Das verdroß die edlen Land­ sassen und gemeinen Landleute in Uri,- und als sie sich das merken ließen, wurde Geßler grimmig und drohete, er wolle sie so weich und zahm machen, daß man sie um einen Finger winden könnte. Da ließ er zu Altorf am Platze bei der Linde, wo viele vorübergingen, eine Stange aufrichten, einen Hut oben darauf legen und gebieten, daß jeder, der vorüberginge, sich dem Hute neigen sollte, als ob der König selbst zugegen wäre; widrigenfalls ihn Verlust seines Gutes und Leibesstrafe treffen würde. Auch stellte er einen steten Wächter hin, der diejenigen anzeitzen sollte, welche dem Gebote nicht Folge leisteten. Dieser große Uebermuth drückte das Volk noch ärger, als der Bau des Schlosses; doch wag­ ten sie aus Furcht vor des Kaisers Ungnade und gewaltiger Macht keine Wider­ setzlichkeit. Da ging an einem Sonntage im November ein redlicher, frommer

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Landmann, Wilhelm Tell genannt, an dem aufgesteckten Hute vorüber, ohne sich vor ihm zu neigen. Das ward dem Landvogt angezeigt. Morgens darnach, am Montage, beruft er den Tell vor sich und fragt, warum er seinem Gebote nicht gehorsam wäre und dem Kaiser wie auch ihm zum Trotz sich vor dem Hute nicht geneigt hätte. Tell gab zur Antwort: ,,Lieber Herr, es ist von un­ gefähr und nicht aus Verachtung geschehen; ich dachte nicht, daß es Euer Gna­ den so hoch ansehen würden." Nun war der Tell ein guter Armbrustschütze, daß man einen besseren kaum fand, und hatte hübsche Kinder, die ihm lieb wa­ ren. Die ließ-der Land-vogt holen und sprach: „Tell, welches unter den Kin­ dern ist dir das liebste?" Der Tell antwortete: „Herr, sie sind mir alle gleich lieb." Da sprach der Landvogt: „Wohlan, Tell, du bist ein guter Schütze, wie ich höre; nun wirst du deine Kunst vor mir bewähren und einem deiner Kinder einen Apfel vom Haupte schießen; triffst du ihn nicht auf den ersten Schuß, so kostet eö dir dein Leben." Der Tell erschrak und bat den Landvogt um Gottes willen, daß er ihm den Schuß erließe; denn es wäre unnatürlich, daß er auf sein liebes Kind schießen sollte; er wolle lieber sterben. Der Land­ vogt sprach: „Das mußt du thun oder du und das Kind sterben." Nun sah Tell, daß er nicht ausweichen konnte, bat Gott inniglich, daß er ihn und sein liebes Kind behüten möge, nahm seine Armbrust, spannte sie, legte den Pfeil auf und steckte noch einen Pfeil hinten in sein Koller. Der Landvogt selber legte dem Kinde den Apfel auf das Haupt. . Tell zielte und schoß ihn glücklich dem Kinde vom Scheitel. Der Landvogt verwunderte sich des meisterhaften Schusses und lobte den Tell wegen seiner Kunst. „Aber eins," sprach er, „wirst du mir sagen: Was bedeutet es, daß du den ersten Pfeil hinten in das Koller stecktest?" Tell er­ schrak und sprach: „Das ist so der Schützen Gewohnheit." Der Landvogt aber wußte wohl, daß Tell-etwas anderes im Sinne gehabt hatte, und redete ihm gütlich zu: „Tell, nun sage mir fröhlich die Wahrheit und fürchte nichts; du sollst deines Lebens sicher sein, aber die gegebene Antwort nehme ich nicht an." Da sprach Wilhelm Tell: „Wohlan, Herr, da ihr mich meines Lebens versichert habt, so will ich euch die gründliche Wahrheit sagen. Hätte ich den Apfel verfehlt, so würde ich euch mit dem andern Pfeile nicht verfehlt haben." Darüber erschrak der Vogt und sprach: „Deines Lebens habe ich dich zwar ver­ sichert; weil ich aber deinen bösen Willen gegen mich erkannt habe, so will ich dich an einen Ort führen lassen, wo du weder Sonne noch Mond sehen sollst, damit ich vor dir sicher sei." Hierauf ließ er ihn binden und auf ein Schiff führen; denn er wollte gen Brunnen fahren und von dort seinen Gefangenen über Land durch Schwyz in sein Schloß Küßnacht führen. Als sie nun auf dem See waren, da ließ Gott einen so ungestümen Sturmwind losbrechen, daß sie alle elend zu verderben meinten. Da sprach der Diener einer zum Land­ vogt: „Herr, ihr sehet eure und unsere Lebensgefahr; nun ist der Tell ein star­ ker Mann und versteht sich gut darauf, mit einem Fahrzeuge umzugehen; man sollte ihn jetzt in der Noth gebrauchen." Sogleich wandle sich der Landvogt an Tell mit den Worten: „Wenn du dich getrautest, uns aus dieser Gefayr zu helfen, so wollt' ich dich deiner Banden entledigen." Der Tell gab zur Ant­ wort: „Ja, Herr, ich getraue uns mit Gottes Hülfe wohl ju retten." Also ward er losgebunden, trat an das Steuerruder und fuhr redlich dahin; doch lugte er allenthalben auf gute Gelegenheit zu entrinnen und auf sein Schießzeug, welches im Schiff beim Steuerruder lag. Und als er der Felsenplatte nahe kam, welche seitdem den Namen Tellsplatte behalten hat, ersah er seinen Vortheil und ermunterte die Knechte fest anzuziehen, bis sie vor jene Platte kämen; denn dann hätten sie das Schlimmste überwunden. Also kamen sie der Platte nahe; da drückte er das Schifssende mit Macht an den Felsen, erraffte sein Schieß-

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zeug und that einen Sprung hinaus auf die, Platte; das Schiff aber stieß er mit Gewalt weit hinter sich in den See zurück. Nun kletterte er den Berg hinauf und floh durch das Land Schwyz bis auf die Höhe an der Landstraße bei Küßnacht, und wo dort eine hohle Gasse ist, verbarg er sich im Gebüsch, den Landvogt erwartend. Dieser und seine Diener kamen, mit genauer Noth dem See entronnen, durch den Hohlweg geritten. Tell hörte in seinem Versteck allerlei Anschläge des Landvogts wider ihn, nahm seine Armbrust und durch­ schoß den Vogt mit einem Pfeile, daß er todt vom Roß zu Boden sank. Hier­ auf entfloh Tell über die Gebirge gen Uri; das Volk aber freute sich überall, wo die That ruchbar wurde, daß es seines schlimmsten Gewaltherrn entle­ digt war. Baßler.

51. Seifried Schweppermann. Dem Baier Ludwig ließen ES ritt ein wackrer Streiter Sie dort das blut'ge Feld. Zu Nürnberg aus dem Thor; Wie ward von ihm gepriesen Doch ragte just der Reiter Herr Schweppermann, der Held! Zu Roß nicht hoch empor. „>L>ag1, wer wohl würd'ger streitet," Drob lachten fein die Recken: Sprach er, „in diesem Krieg? „Vom Mann ist keine Spur, Er hat allein bereitet Wo mag der Ritter stecken? Uns den ruhmvollsten Sieg!" Man sieht den Helmbusch nur!" Doch nach dem heißen Trabe Der ließ sich das nicht stören, Ritt still und keck von dann. Gab's auf der ganzen Flur Schier weiter nichts zur Labe Sollt seinen Namen hören, Als wenig Eier nur. Er hieß Herr Schweppermann! Gen Mühldorf mußt' er reiten, Herr Ludwig sprach: „Bekommen Da war 'ne heiße Schlacht, Soll männiglich ein Ei; Doch meinem Held, dem Frommen, Da- that er bester streiten Gehören billig zwei!" Denn alle, die gelacht. Wie saß er stolz zu Pferde, That Schweppermann sich heben That nicht die Feinde scheun! 3m Sattel hocherfreut; Ihr Herrn, ich fürcht', es werde Der kleinste Ritter eben, Euch euer Spott gereun. Der ward der größte heut'! Seht seines Schwertes Schimmer Gen Nürnberg ritt er heiter; Hell leuchten durch die Schlacht! Da ging ein froh Geschrei: Am besten lacht doch immer, ,,Ein Ei gebt jedem Reiter, Wer just am letzten lacht! Dem frommen Schweppermann zwei! (Ddcfcre.

52. Der reichste Fürst. preisend mit viel schönen Reden Goldne Saaten in den Thälern, Ihrer Länder Werth und Zahl, Auf den Bergen edlen Wein! Saßen viele,deutsche Fürsten Große Städte, reiche Klöster, Einst zu WormS im Kaisersaal. Ludwig, Herr zu Baiern, sprach, Herrlich, sprach der Fürst von Sachsen, Schaffen, daß mein Land den euern Ist mein Land und seine Macht, Wohl nicht steht an Schätzen nach. Silber hegen seine Berge Eberhard, der mit dem Barte, Wohl in manchem tiefen Schacht. WürtembergS geliebter Herr, Seht mein Land in üpp'ger Fülle, Sprach: „Mein Land hat kleine Städte, Sprach der Kurfürst von dem Rhein, Trägt nicht Berge silberschwer.

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VI. Geschichte. Doch ein Kleinod hält's verborgen: Daß in Wäldern noch so groß Ich mein Haupt kann kühnlich legen Jedem Unterthan in Schooß!" "

Und eS rief der Herr von Sachsen, Der von Baiern, der vom Rhein: „Graf im Bart! ihr seid der reichste, Euer VanD trägt Edelstein!"

Kerner.

53. Timur, der Mongole. Timur, gewöhnlich Timur lenk (d. i. der lahme Timur) oder Tamerlan genannt, war wohl der blutigste unter allen Tyrannen. Bei seinem Bolke hieß er auch „der große Wolf," „der Herr der Zeit" und „der Eroberer der Welt." Das Blut von Hunderttausenden fließen zu lassen, war seine Wonne, und sein wilder Ehrgeiz hatte keinen andern Zweck, als die unersättliche Lust des Eroberns und Herrschens; in der schonungslosesten Rachsucht und in der wildesten Bar­ barei übertraf er auch den entsetzlichen Dschingiskan. Durch außerordentliche Tapferkeit und Herrscherklugheit schwang er sich auf den Thron von Dschgatai, und Samarkand ward zu seinem Herrschersitz erhoben. Aber dieser Krone fügte er noch sechsundzwanzig andere hinzu, die seine Beute wurden in den fünfund­ dreißig Jahren seiner Negierung und seiner Kriegszüge, auf welchen er die Böl­ ter von der chinesischen Mauer bis zum Mittelmeer, von Moskau bis an dieGreruen Aegyptens unterwarf: wie nur ein Gott, solle auch nur ein Herrscher auf Erden sein, sagte Timur. Verheerte und entvölkerte Länder, zerstörte Städte und Schädelpyramiden waren die Denkmäler, die er zurückließ. Nachdem die persischen Mongolen unterworfen waren, machten die Einwohner einer Stadt einen Aufstand; Timur ließ zweitausend derselben lebendig über einander schich­ ten und statt Bausteine mit Lehm und Kalt zu Thürmen aufmauern. Eine andere Stadt wagte gleichfalls Empörung; da gab Timur Befehl zur Wieder­ besetzung mit stürmender Hand, zur Plünderung und zum allgemeinen Blutbad der Rache. Jeder Soldat ward zur Lieferung einer bestimmten Anzahl von Köpfen aufgeboten; viele aber waren zuletzt von Blut und Beute so übersättigt, daß sie die vorgeschriebenen Köpfe lieber tauften. Nach der geringsten Angabe waren es siebzigtausend Erschlagene, die hier den Rache- und Blutdurst des Wiitherichs befriedigen mußten. Auch über den Indus richtete der Mongole seine blutig flammende Laufbahn, und noch ehe daselbst eine Schlacht geschehen' war, schleppte das Heer schon über hunderttausend Gefangene mit sich. Bei Delhi erwartete sie Muhamed 11. mit der gesammelten Reichsmacht. Als der Anblick seiner KriegSelephanten auf den Gesichtern der Hindusklaven freudige Erwartungen zeigte, befahl Timur, sie sämmtlich niederzuhauen, und eine Stunde kostete mehr als Hunderttausenden das Leben. Noch größer war daß Gemetzel in der darauf folgenden Schlacht, in welcher die Mongolen trotz hartnäckiger Gegenwehr und trotz des betäubenden Lärms der indischen Glocken und Trom­ peten und der Beckenschläge, die von den Rücken der Elephanten herab ertönten, ihre Feinde niedermähten. Delhi wurde geplündert; von den überlebenden Ein­ wohnern schleppte jeder Mongole so viel Sklaven fort, als er wollte, und gemeine Soldaten zogen wohl mit fünfhundert davon. Bon den rauchenden Trümmern, die er an Delhi's Stelle hinterließ, eilte Timur gen Merut, eroberte es und ließ die ganze Bevölkerung lebendig schinden. Nach einem ebenso blutigen Rück­ züge wurde Silvas, damals eine der bevölkertsten Städte Kleinasiens, erstürmt, und furchtbar waren die Frevel, welche auch diese Einnahme bezeichneten, beson­ ders die Todesmartern, welche den gefangenen Christen angethan wurden. Vier­ tausend armenische Reiter, welche große Tapferkeit bei der Vertheidigung gezeigt hatten, sollten lebendig begraben werden. Der Kopf wurde ihnen zwischen die Schenkel gebunden, je zehn in eine Grube gerollt, diese mit Brettern und dann erst mit Erde bedeckt, daß die Todesqual sich länger hinzbehe. Von hier wandte

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sich Timur nach Aleppo und drang siegreich in die Stadt; vierzehn Tage dauerte die Plünderung und Zerstörung. Auch Damaskus wurde erobert, Feuer in die Gebäude geworfen, und alle zahlreichen Kunstwerke wurden gleichfalls ein Raub der Flammen. Nach der Erstürmung von Irak mußte jeder Mann des Heeres einen Kopf liefern, wenn er seinen eigenen behalten wollte; so konnten neunzigtausend Schädel zum Siegesdenkmal aufgerichtet werden. Bei Angora im alten Galatien stieß Timur mit einem andern wilden Eroberer, der Bajae hieß, zusammen; die beiden Heere mochten zusammen wohl eine Million nschen zählen. Auch hier blieb £ininr nach gräßlichem Gemetzel Sieger. Drei Jahre nachher jedoch, 1405, machte der Tod seinem blutigen Leben ein Ende; er starb auf einem Zuge gegen China.

54. Die Belagerung von Ottenstein. Vor Ottenstein, der Feste, der Bischof Otto lag; Er hielt- sie eingeschlossen wohl über Jahr und Tag Und ließ aus ihren Thoren nicht Mann noch Weib entfliehn Und ließ in ihre Thore nicht Roß noch Wagen ziehn.

In Ottenstein, der Feste, da herrschte bittre Noth, Auf Wall und Straßen wandeln der Hunger und der Tod; Und wie sie fürbaß schreiten, manch Aug' in Qualen bricht; Die Bürger stehn in Treuen, die Herzen wanken nicht. bekümmert Heinrich, von Solms der edle Graf, so die Seinen um seinetwillen traf. wollt' er öffnen, bevor die Sonne sank, von dannen zöge die Tochter frei und frank.

Tief ist Ob allem, Die Thore Wenn nur

Ins Zelt des Feldherrn schreitet alsbald des Herolds Fuß: „Der Graf von Solms entbietet dem Bischof seinen Gruß. Es jammert ihn des Volkes; ergeben soll sich euch Die Feste sammt der Mannschaft und allem Kriegeszeug.

Ein einziges Bedingniß stellt euch der Graf dabei: Daß seine Tochter ziehe von bannen frank und frei Mit dem, was an Kleinodien sie theuer hält und werth. Entscheidet, ob's genehm ist. Entscheide sonst das Schwert!" Der Bischof lächelt grimmig; bald kühlt er alten Groll: „Wenn bis zur Mittagsstunde das Thor sich öffnen soll, Dann mag die Jungfrau wandeln hinweg aus unserm Bann Mit allen ihren Schätzen, soviel sie tragen kann."

Und kürzer fällt der Schatten; das Heer steht hart am Wall, . Zum Einzug oder Stürmen ruft heller Trommelschall, Und ungeduldig schmettern Trompetentöne drein: Da schlägt die zwölfte Stunde vom Thurm zu Ottenstein. Da klirren rost'ge Riegel; weit thut sich auf das Thor, Und schüchtern tritt und zagend die zarte Maid hervor. Das wilde Kriegsvolk staunet der Reichbeladnen dort, Die trägt auf ihren Schultern den greisen Vater fort.

Der Groll des Bischofs schwindet, sein Herz ist umgewandt, Den reichsten Segen spendet der Jungfrau seine Hand: „Mein Wort gilt, hat's teilt Feinde die Freiheit auch verliehn!" Und mit dem Kuß des Friedens den Grasen läßt er ziehn. '

Vincke.

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55. Tie Belagerung vou Marienburg. Furcht und Entsetzen hatte die Trauerbotschaft der verlernen Schlacht bei Tannenberg im ganzen Preußenlande verbreitet. Jedermann hielt nun die Sache des Ordens für rettungslos verloren, und in banger Verzagtheit wartete man, welches Loos der Sieger dem Lande zuerkennen würde. Fast alle Städte und Burgen öffneten dem polnischen Könige freiwillig ihre Thore, als dieser am vierten Tage nach der Schlacht gegen die Marienburg loszog, und schwu­ ren ihm den Eid der Treue und des Gehorsams. Selbst ein Theil der Or­ densbrüder verzweifelte an der eignen Sache und räumte dem Polenkönige mehrere Burgen unter der Bedingung des freien Abzugs ein. Inzwischen er­ ließ Jagjiel, der Polenkönig, eine Aufforderung an alle Bewohner des Landes, ihm zu huldigen und seine Unterthanen zu werden. Da wandle sich fast alles zu ihm, was bisher noch die Sünde gescheut hatte, seinem rechtmäßigen Herrn untreu und meineidig zu werden. Nur von wenigen Ordensburgen wehte noch das Kreuzbanner einsam herab; auf allen übrigen Burgthürmen und Zinnen flatterte Üolz die polnische Fahne. Verloren und aufgegeben schien jetzt der deutsche Örden; aber er war es nicht. Eine Heldenbrust athmete noch zu sei­ ner Rettung; ein Heldenarm riß ihn noch einmal empor aus dem Abgrunde des nahen Verderbens. Dem Komthur von Schwetz, Heinrich von Plauen, hatte Ulrich von Junaingen, als er zum Kampfe auszog, den Schutz Pommerellens übertragen. Aber kaum vernahm der heldenherzige Ritter das Unglück, das auf dem Mord­ gefilde von Tannenberg sich zugetragen: da sammelte er in der Eile eine Schaar von Kriegern, um des Ordens Haupthaus, die hehre Marienburg, vor den Händen der Polen zu retten. Schon am dritten Tage nach der Schlacht zog er mit den Seinen in die Burg ein. Aber er fand sie entblößt von allen Vorräthen; es fehlte ihr selbst an Mannschaft. Doch Plauens rascher Feld­ herrnblick wußte bald die Mittel zu entdecken, die aus dieser Noth führen konn­ ten. Er ließ die Speicher und Vorrathshäuser der Stadt leeren und alles,. waS zur Nahrung und Nothdurft der Menschen brauchbar war, auf die Burg bringen. Auch ließ er aus der Umgegend so viel Schlachtvieh eintreiben, als es ihm die Eile, womit er handeln mußte, gestattete. Darauf gebot er den Bürgern Marienburgs, aus ihren Häusern die beste Habe zu nehmen und mit Weib und Kind auf das Schloß zu ziehen; denn die Stadt, die nicht verthei­ digt werden konnte, sollte den Flammen preisgegeben werden, damit sie den Polen nicht etwa zu einem Bollwerke gegen die Burg dienen möchte. Inzwischen zogen die einzelnen Heerhaufen, die sich aus der Tannenber­ ger Schlacht gerettet, mit ihren Führern in die Burg ein. Zu ihnen gesellte sich flüchtiges Landvolk, und aus Danzig zogen 400 Matrosen mit Harnisch und Wehre zur Vertheidigung des Schlosses herbei, so daß sich die Besatzung der Feste bis auf 5000 Mann belief. Zu allen diesen Vorbereitungen hatte der Polenkönig dem wackern Plauen Zeit gelassen; denn erst sieben Tage nach­ her, seitdem dieser in die Marienburg gerückt, sah man die polnischen Fahnen vor der Feste Verderben drohend daherwehen. Des Königs ganze Streitmacht zog sich wie eine Gewitterwolke um die Burg zusammen. Da wimmelte es von Polen, Litthauern und Tartaren ringsum, und von allen Seiten drohete das Wurfgeschütz den festen Mauern. Aber Heinrich von Plauen zagte nicht. Mit klugem Feldherrngeiste vertheilte er die Vertheidigung auf alle Posten des belagerten Schlosses und beseelte seine Schaar durch Wort und Beispiel mit dem kühnen, unerschütterlichen Heldenmuth, der in seiner eignen Brust wohnte. Schon wochenlang dauerte die Belagerung, und noch hatte Jagjiel auch nicht einen einzigen Graben der Feste gewonnen. Doch Henrich von Plauen sah

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mit besorgten Blickm, wie der Mundvorrath in dem Schlosse täglich abnahm und nicht mehr auf lange Zeit hinreichen konnte; und mehr als diese Besorgniß noch ging dem edeln Ritter des Landes Roth und Drangsal zu Herzen. Immer war der Himmel von brennenden Dörfern geröthet, und das geängstete Bolk wußte vor dem raub- und mordgierigen Feinde keine Freistatt mehr zu finden. Solchen Jammer konnte Plauen nicht länger ertragen. Ihm ward bald nach seiner Ankunft in der Marienburg von den dortigen Ordensrittern aufgetragen,.des Hochmeisters Stelle zu vertreten, und darum beschloß er, dem Polenkönige Friedensvorschläge zu macken. Nachdem ihm sicheres Geleite zu?esagt war, begab er sich, von einigen seiner Ritter begleitet, in das Zelt des kindlichen Fürsten und bat um Frieden. Doch Iagjiel verachtete auch die Vortheilhaftesten Vorschläge des Statthalters. Voll Ungeduld sahen die Ordensritter der Rückkehr ihres Feldherrn ent­ gegen; sie hofften ja, er würde ihnen Frieden bringen. Er aber schilderte ihnen der seiner Rückkehr des Polenkönigs Stolz und Grausamkeit und entflammte sie zu neuem Muthe und neuen Thaten. Und als hätte eine Höhere Macht Plauens sich angenommen, so brachen ansteckende Seuchen in dem Belagerungs­ heere auS; der Mundvorrath fing auch an zu fehlen, und Unmuth und Ver­ druß herrschten rings im Lager. Da fochten die Vertheidiger der Burg mit erhöhtem Muthe, zumal der König von Ungarland sie auffordern ließ, sich wacker und ritterlich zu halten, da er bereits mit einem großen Heere zu ihrer Rettung herbeigezogen sei, und der Ordensmarschall ans Liefland gleichfalls seine Ankunft mit einem Hülfsheere meldete. Auch empfanden die Polen bald, welch ein neuer Muth unter die Belagerten gekommen; denn mit doppelter Kühnheit fielen diese nun täglich auS und halten mit den Heiden und Polen manch ritterlich Spiel vor der Burg, also daß die Feinde sich ihrer kaum er­ wehren konnten. Da Iagjiel nun sah, daß er mit offener Gewalt nichts schaffen konnte, nahm er zu List und Verrath seine Zuflucht. ES fand sich ein treuloser Bube in der Burg, der sich mit polnischem Golde zu schnöder Verrätherei erkaufen ließ. In der Marienburg ist ein prächtiger Saal, dessen kühnes Gewölbe von einem einzigen Granitpfeilcr stolz getragen wird. Seine hohen, schön verzierten Fenster schauen weithin über den großen Werder und erfreuen das Auge mit der lieblichsten Aussicht. Hier pflegte Plauen sich oft mit seinen Rittern zur Berathung zu versammeln. Nun meinte der Verräther, wenn es dem Feinde gelänge, mit seinem Wursgeschütze den Pfeiler, auf dem das Gewölbe ruht, zu zertrümmern, so müsse der Saal zusammenstürzen. Darum versprach er, sobald der Statthalter und seine Ritter sich wieder in dem Saal versammelt haben würden, eine rothe polnische Mütze auS dem Fen­ ster zu hängen, gerade dem Pfeiler gegenüber. Dann sollte der Büchsenmeister seine Donnerbüchse nur auf dieses Ziel richten, und sicher würde so der Pfei­ ler gestürzt und die edle Versammlung von den Trümmern des einbreckenden Gewölbes erschlagen werden. Der Verräther hielt Wort. Die rothe Mütze war als Zeichen ausgesteckt. Genau richtete der Büchsenmeister das Geschoß. Jetzt donnerte der Schuß; aber das Bubenstück mißlang. Hart an dem Gra­ nitpfeiler vorbei sauste die mächtige Steinkugel und schlug krachend in die ge­ genüberstehende Wand dos Saales. Dort ist sie eingemauert zum ewigen Denkmal der Schande für den Verräther und noch bis auf den heutigen Tag zu sehen. Inzwischen aber wuchs mit jedem Tage der Unmuth und die Un­ zufriedenheit im polnischen Lager. Immer mächtiger griff die Krankheit um sich, und immer fühlbarer und drückender ward der Mangel an Lebensrnitteln. Da knirschte Iagjiel vor Zorn, daß an der einzigen Burg sein stolzes Sieges­ glück zu scheitern drohte. Noch einen Bersuck beschloß er zu machen, um nicht ganz mit Schimpf und Schande wieder abziehn zu müssen. Er sandte auf

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das Schloß und ließ dem Statthalter Frieden anbieten unter den Bedingungen, die er selbst früher verschmäht. Plauen aber schickte des Königs Boten mit abschlägiger Antwort zurück. In die zehnte Woche dauerte schon die Belage­ rung, als Zagjiel durch vas laute Murren seines Heeres und durch die immer näher drohende Gefahr aus Ungarn, Deutschland und Liefland sich endlich ge­ nöthigt sah, seinen Rückzug anzutreten. Wie ein Geschlagener zog er von Marienburgs Mauern ab, an deneu seine Macht sich gebrochen hatte wie die Meereswellen an einem Felsen. IXacb feinet.

56. Das Mahl zu Heidelberg. Bon Würtemberg und Baden die Herren zogen aus, Von Metz des Bischofs Gnaden vergaß das Gotteshaus; Sie zogen aus zu kriegen wohl in die Pfalz ant Rhein, Sie sahen da sie liegen int Sommersonnenschein.

Umsonst die Rebenblüthe sie tränkt mit mildem Dust, Umsonst des Himmels Güte aus Aehrenfeldern ruft; Sie brannten Hof und Scheuer, daß heulte Groß und Klein; Da leuchtete vom Feuer der Neckar und der Rhein. Mit Gram von seinem Schlosse sieht es der Pfälzer Fritz; Heißt springen auf die Rosse zween Mann auf einen Sitz. Mit enggedrängtem Volke springt er durch Feld und Wald, Doch ward die kleine Wolke zum Wetterhimmel bald. Sie wollen seiner spotten, da sind sie schon umringt, Und über ihren Rotten sein Schwert der Sieger schwingt. Vom Hügel sieht man prangen daö Heidelberger Schloß, Dorthin führt man gefangen die Fürsten sammt dem Troß.

Zuhinterst an der Mauer, da ragt ein Thurm so fest, DaS ist ein Sitz der Trauer, der Schlang' und Eule Nest. Dort sollen sie ihm büßen im Kerker trüb' und kalt; ' Es gähnt zu ihren Füßen ein Schlund und finstrer Wald. Hier lernt Der Bischof Sie mochten Da trat ant

vom Grimme rasten der Würtemberger Utz, hält ein Fasten, der Markgraf läßt vom Trutz. schon in Sorgen um Veib und Leben sein, andern Morgen der stolze Pfälzer ein.

„Herauf, ihr Herrn, gestiegen in meinen hellen Saal! Ihr sollt nicht fürder liegen in Finsterniß und Qual. Ein Mahl ist euch gerüstet, die Tafel ist gedeckt, Drum, wenn es euch gelüstet, versucht, ob es euch schmecktk" Sie lauschen mit Sie wandeln durch Und in dem Saale ES dampfet und es

Gefallen, wie er so lächelnd spricht, die Hallen ans goldne Tageslicht. winket ein herrliches Gelag, blinket, was nur baS* Land vermag.

Es satzten sich die Fürsten; da möcht' es seltsam sein: Sie hungern und sie dürsten beim Braten und beim Wein. „Nun, will's euch nicht behagen? Es fehlt doch, däucht mir, nichts? Worüber ist zu klagen? An was, ihr Herrn, gebricht'S? Es schickt zu meinem Tische der Odenwald das Schwein, Der Neckar seine Fische, den frommen Trank der Rhein.

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Ihr habt ja sonst erfahren, was meine Pfalz beschert! Was wollt ihr heute sparen, wo keiner es euch wehrt?" Die Fürsten sahn verlegen den andern jeder an, Am Ende doch verwegen der Ulrich da begann: „Herr, fürstlich ist dein Bissen, doch eines thut ihm noth, Das mag kein Knecht vermissen! Wo ließest du das Brot?" „Wo ich das Brot gelassen?" sprach da der Pfälzer Fritz. Er traf, die bei ihm saßen, mit seiner Augen Blitz; Er that die Fensterpforten weit auf im hohen Saal, Da sah man aller Orten ins offne Neckarthal.

, Sie sprangen von den Stühlen und blickten in das Land, Da rauchten alle Mühlen rings von des Krieges Brand; Kein Hof ist da zu schauen, wo nicht die Scheune dampft, Bon Rosses Huf und Klauen ist alles Feld zerstampft.

„Nun sprecht, von wessen Schulden ist so mein Mahl bestellt? Ihr müßt euch wohl gedulden, bis ihr besä't mein Feld, Bis in des Sommers Schwüle mir reifet eure Saat, Und bis mir in der Mühle sich wieder dreht ein Rad. Ihr seht, der Westwind fächelt in Stoppeln und Gesträuch; Ihr seht, die Sonne lächelt, sie wartet nur auf ench! Drum sendet flugs die Schlüssel und öffnet euern Schatz, So findet bei der Schüssel das Brot den rechten Platz!" Schwab.

57. Columbus. „Was willst du, Fernando, so trüb und bleich? Du bringst mir traurige Mär?" „Ach, edler Feldherr, bereitet euch! Nicht länger bezähm' ich das Heer. Wenn jetzt nicht die Küste sich zeigen will, So seid ihr ein Opfer der Wuth; Sie fordern laut wie Sturmgebrüll Des Feldherrn heiliges Blut!" Und eh' noch dem Ritter das Wort entflohn, Da drängle die Menge sich nach, Da stürmten die Krieger, die wüthen­ den, schon Gleich Wogen ins stille Gemach, Verzweiflung im wilden, verlöschenden Blick, Auf bleichen Gesichtern den Tod: „Berräther, wo ist nun dein gleißen­ des Glück? Jetzt rett' uns vom Gipfel der Noth!

Sanft stellte der Große den Felsenmuth Entgegen der stürmenden Fluth. „Befriedigt mein Blut euch, so nehmt es und lebt! Doch, bis noch ein einzige- Mal Die Sonne dem leuchtenden Osten ent­ schwebt, ' Vergönnt mir den segnendm Strahl! Beleuchtet der Morgen kein rettend Gestad, So biet' ich dem Tode mich gern; Bis dahin verfolgt noch den muthigen Pfad, Und trauet der Hülfe des Herrn!" Die Würde des Helden, sein ruhiger Blick Besiegte noch einmal die Wuth; Sie wichen vom Haupte des Hohen zu­ rück Und schonten sein heiliges Blut.

„Wohlan denn, es sei noch! Doch hebt sich der Strahl Du giebst uns nicht Speise, so gieb Und zeigt uns kein rettendes Land: und denn Blut! So siehst du die Sonne zum letzten Mal! Blut!" riefen die Schrecklichen, „Blut!" So zittre der strafenden Hand!"

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Geschloffen war also der eiserne Bund; „Leb' wohl denn, mein Feldherr, leb' Die Schrecklichen kehrten zurück. ewig wohl! Es thue der leuchtende Morgen uns kund Ich höre die Schrecklichen nahn!" Des herrlichen Dulders Geschick. Und eh' noch dem Ritter das Wort entflohn, Die Sonne sank, der Schimmer wich, Da drängle die Menge sich nach, Des Helden Brust ward schwer: Da strömten die Krieger, die wüthen­ Der Kiel durchrauschte schauerlich den, schon Das weile, wüste Meer. Gleich Wogen ins stille Gemach. Die Sterne zogen still herauf, „Ich weiß, was ihr fordert, und bin Doch ach! kein Hoffnungsstern; Und von des Schiffes ödem Vauf bereit, Ja, werft mich ins schäumende Meer! Blieb Land und Rettung fern. Doch wisset, das rettende Ziel ist nicht Sein treues Fernrohr in der Hand, weit. Die Brust voll Gram, durchwacht, Gott schütze dich, irrendes Heer!" Nach Westen blickend unverwandt, Dumpf klirrten die Schwerter, ein Der Held die düstre Nacht. wüstes Geschrei „Nach Westen, o nach Westen hin Erfüllte mit Grausen die Luft. Beflügle dich, mein Kiel! Dich grüßt, noch sterbend, Herz und Der Edle bereitete still sich und frei Zum Wege der fluchenden Gruft. Sinn, Gelöst war nun jedes geheiligte Band, Du meiner Sehnsucht Ziel! Schon sah sich zum schwindelnden Rand Doch mild,.o Gott, von Himmels­ Der treffliche Feldherr gerissen und — hohn Land! Blick auf mein Volk herab! Land!" rief es und donnert' es, „Land!" Laß sie nicht trostlos untergehn Ein glänzender Streifen, mit Pur­ Im wüsten Fluthengrab!" So sprach der Held, von Mitleid weich, pur gemalt, Erschien dem beflügelten Blick; Da, horch! welch' eiliger Tritt? „Noch einmal, Fernando, so trüb und Boni Golde der steigenden Sonne be­ bleich? strahlt. Erhob sich das winkende Glück: Was bringt dein bebender Schritt?" Was kaum noch geahnet der zagende „Ach, edler Feldherr, es ist geschehn! Sinn, Jetzt hebt sich der östliche Strahl!" Was muthvoll der Große gedacht. „Sei ruhig, mein Lieber, auf himmli­ Sie stürzten zu Füßen dem Herrlichen schen Höhn hin Entsprang der belebende Strahl. Und priesen die göttliche Macht. ES waltet die Allmacht von Pol zu Pol; Mir lenkt sie zum Tode die Bahn." Luise Lrachmcmn.

58. Martin Luther. Schon längst waren über den traurigen Zustand der Kirche von vielen den­ kenden Männern und selbst von ganzen Völkern laute Klagen erhoben worden. Besonders war es die Unwissenheit und Sittenlosigkeit der meisten Pfarrer und Mönche, welche dem ganzen geistlichen Stande die allgemeine Verachtung zuzog. Gab eS doch damals zahllose Geistliche, welche von der Geschichte der christlichen Kirche und von den Sprachen, in denen die heiligen Bücher geschrieben sind, nicht das Geringste verstanden, und welche die Bibel auch nicht einmal in der lateinischen Übersetzung gelesen hatten. Noch trauriger aber sah es mit dem Lebenswandel die er Männer aus, welche berufen waren, den Anderen das Bei­ spiel eines tugendhaften Wandels zu geben, und die sich statt dessen ungeschent dem lasterhaftesten Leben überließen. Und diese Unsittlichkeil war nicht blos in

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der niederen Geistlichkeit herrschend, sondern wurde auch an Bischöfen .und Erz­ bischöfen wahrgenommen, und 'selbst Päpste gab es, welche angesichts der vielen gläubigen Christen, die alljährlich nach Rom pilgerten, den päpstlichen Stuhl durch Sünden und Laster schändeten. So oft auch der Wunsch nach einer Verbesserung der Kirche an Haupt und Gliedern laut geworden war, immer hatte die Geistlichkeit die gesetzmäßige Durch­ führung derselben zu hintertreiben gewußt. Als aber zu den vielen Gebrechen noch ein neuer, schreiender Mißbrauch hinzutrat, da kam der Unwille der Völker zum Ausbruch und führte eine gewaltsatne Trennung der Kirche und in Folge derselben eine Reihe blutiger Kriege herbei. Es war nämlich eine alte Sitte, daß die Kirche bußfertigen Sündern, welche für irgend ein frommes Werk, na­ mentlich für die Erbauung einer Kirche oder Schule, eine Geldspende gaben, einen Theil der von ihnen verwirkten Kirchenstrafen erließ. Dadurch war all­ mählich unter dem ungebildeten Volke die verderbliche Ansicht entstanden, daß die Sünde durch Bezahlung eines Ablaßzettels gesühnt werden könne, und in diesem Irrthum wurde das Volk von manchem eigennützigen Prediger, der aus dem Handel mit Ablaßbriefen Vortheil zog, noch bestärkt. Viele derselben trie­ ben diesen verderblichen Handel mit einer solchen Unverschämtheit, 'daß sie für die schwersten Verbrechen, selbst für Kirchenraub, Meineid und Mord, Ablaß verkauften, und einige gaben sogar für zukünftige Sünden Ablaß. Besonders erregte ein Dominikanermönch, Johann Tezel, welcher in Sachsen und Bran­ denburg den Ablaß ausbot, den der Papst Leo X. ausgeschrieben hatte, um die von seinem Vorgänger angefangene Peterskirche in Rom vollenden zu können, durch sein schamloses Benehmen den allgemeinen Unwillen. Er begnügte sich nicht, den Ablaß von der Kanzel herab zu verkünden, sondern bot ihn auf Märk­ ten und in Wirthshäusern wie eine gemeine Waare zum Verkauf aus. Dabei rühmte er sich öffentlich, mit seinem Ablaß mehr Seelen erlöst zu haben, als Petrus mit seinem Evangelium. Auch behauptete er, durch seine Zettel die Pforten des Himmels öffnen zu können; ,,denn," sagte er, ,,sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt." So eilten denn von allen Seiten unwissende und thörichte Menschen herbei, um durch die Bezahlung eini­ ger Groschen die Seele irgend eines lieben Verwandten aus dem Fegefeuer zu befreien. Gegen diesen Mißbrauch erhob sich ein Lehrer an der Universität Wit­ tenberg, der Augustinermönch Martin Luther, ein Mann, der wegen seiner Gelehrsamkeit und seines trefflichen Charakters von allen, die ihn kannten, hoch­ geachtet wurde. Er war der Sohn eines armen Bergmanns und am 10. No­ vember 1483 in Eisleben geboren. Nachdem er ein Jahr lang die lateinische Schule in Magdeburg besucht hatte, brachte ihn sein Vater nach Eisenach, wo er sich sein Brot durch Singen vor den Thüren verdienen mußte, bis eine wohl­ thätige Frau ihn in ihr Haus aufnabm und für seinen Unterhalt sorgte. In seinem achtzehnten Jahre bezog er die Universität Erfurt, um sich nach dem Wunsch seiner Eltern der Rechtswissenschaft zu widmen. Doch eine unwider­ stehliche Neigung führte ihn zum Studium der Philosophie, der lateinischen Schriftsteller und der Bibel, und endlich brachten ihn zwei Vorfälle, welche sein reizbares Gemüth mächtig erschütterten, zu dem Entschluß, Gott allein sein Le­ ben zu weihen. Als er nämlich im Begriff war, eine Reise nach Mansfeld zu seinen Eltern anzutreten, und von seinem liebsten Freunde, Namens Alexis, Ab­ schied nehmen wollte, fand er diesen von Räubern ermordet und in seinem Blute schwimmend. In tiefster Bestürzung und Kümmerniß machte er sich auf den Weg und kehrte nach wenigen Tagen nach Erfurt zurück. Unterwegs wurde er von einem heftigen Gewitter überrascht, und plötzlich fuhr dicht neben ihm ein Blitzstrahl mit solcher Gewalt in die Erde, daß er besinnungslos zu Boden

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stürzte. Als er nach Erfurt kam, gab er, ohne ein Wort von seinem Vorhaben zu äußern, seinen Freunden einen Abschiedsschmaus und ging in der darauf folgenden Nacht in das Augustiner-Kloster. Hier mußte er lange Zeit die nie­ drigsten Dienste verrichten, die Zimmer reinigen, den Unrath wegtragen, die Kirche auf- und zuschließen und mit dem Bettelsack durch die Stadt laufen, um für das Kloster Brot, Eier und Fleisch bei den Bürgern einzusammeln. Zwei Jahre später erhielt er die Priesterweihe; aber den Seelenfrieden, den er als Mönch zu finden gehofft hatte, suchte er noch immer vergebens. Er war ins Kloster gegangen, um die sündhaften Stegungen in seinem Innern durch eine harte Lebensweise und durch strenge Fasten und Kasteiungen zu ertödten, und da ihm dies nicht vollständig gelang, so wurde er bei dem Gedanken an Gott, in dem er nur den strengen, unversöhnlichen Richter sah, von einer quälenden Angst erfüllt. Endlich eröffnete er sein Herz dem Generalvikar seines Ordens, Johann von Staupitz, einem eben so wohlwollenden als gelehrten Manne, der ihn zu trösten und zu ermuthigen verstand und ihn, um ihm einen angemessenen Wirkungskreis zu verschaffen, dem Kurfürsten von Sachsen rum Professor der Theologie an der neuerrichteten Universität Wittenberg empfahl. Freudig folgte er diesem Rufe; doch blieb er noch immer seinem Orden treu, und bewohnte auch in Wittenberg eine Zelle des dortigen Augustiner-KlosterS. Seine Pre­ digten fanden hier solchen Beifall, daß er schon im folgenden Jahre von der Gemeinde zum Prediger gewählt wurde. Diese Erfolge hatten zugleich den wohl­ thätigsten Einfluß auf seine Gemüthsstimmung, denn nun erfüllte ihn ein freu­ diger Muth und ein unerschütterliches Vertrauen auf Gott. Auch seine frühere Blödigkeit verließ ihn, und aus den» schwermüthigen, geängstigten Manne wurde der heiterste, angenehmste Gesellschafter. Im Jahre 1510 ward Luther nebst einem andern Mönche in Angelegen­ heiten seines Ordens nach Rom gesandt. Voll Ehrfurcht und Andacht machte er sich nach dem Wohnsitz des Statthalters Christi auf den Weg; aber je mehr­ er sich der heiligen Stadt näherte, desto größer fand er die Sittenlosigkeit der Geistlichen und den Leichtsinn, mit dem sie alle religiösen Angelegenheiten ver­ handelten. Besonders empörte ihn daö gedankenlose und leichtfertige Herplap­ pern der Gebete. In späteren Jahren pflegte er zu sagen, er möchte nicht tau­ send Gulden dafür nehmen, daß er diese Steife nicht sollte gemacht haben. Nach seiner Rückkehr erwarb er sich auf Zureden seines Gönners Staupitz die theologische Doktorwürde, indem der Kurfürst Friedrich der Weise von Sach­ sen, der ihn als trefflichen Prediger schätzte, die Gebühren für ihn bezahlte. Seitdem beschäftigte er sich, um die Bibel richtiger verstehen zu lernen, beson­ ders mit dem Studium der hebräischen und der griechischen Sprache. Je tiefer er aber in den Geist des Evangeliums eindrang', desto verhaßter wurden ihm die Spitzfindigkeiten, welche die Schulweisheit der Geistlichen in die einfache christliche Lehre hineingetragen hatte, desto schärfer erkannte er die zahllosen Miß­ bräuche, auf deren Abstellung die Völker mit so großer Sehnsucht hofften. Es war am 31. Oktober des Jahres 1517, als Luther fünfundneunzig lateinische Lehrsätze oder Thesen, in denen er besonders den Ablaßkram angriff, an die Thür der Schloßkirche zu Wittenberg anschlug und zu einer öffentlichen Disputation über den Inhalt derselben ausforderte. Diese Sätze verbreiteten

sich schnell in zahllosen Abdrücken über ganz Deutschland; überall fanden sie den lebhaftesten Beifall aller denkenden Männer, und auch das Volk regten sie so mächtig auf, daß die Ablaßkrämer an vielen Orten verhöhnt und beschimpft wurden. Tezel selbst empfand bald, wie sehr sich die öffentliche Meinung geän­ dert hatte. Als er aus Jüterbogk auszog, ritt ihm ein Edelmann mit mehreren Knechten nach, holte ihn im Walde ein und löste sich einen Ablaßbrief für eine Sünde, die er begehen wollte. Sobald er den Zettel erhalten hatte, nahm

Dielitz und Heinrichs, deutsches Lesebuch.

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er dem Ablaßkrämer seinen vollen Geldkasten weg, erklärte, daß dies die Sünde sei, für die er ihm Ablaß gegeben habe, und brachte den Kasten nach Iüterbogk, wo er noch jetzt in einer Kirche aufbewahrt wird. Der Streit über die Rechtmäßigkeit des Ablaßhandels war unterdeß so allgemein geworden, daß Luther vom Papste nach Rom vorgeladen wurde, um sich hier wegen seiner Thesen zu verantworten. Zu seinem Glück erlangte es der Kurfürst Friedrich, der durch seine Entfernung die Blüthe der Universität Wittenberg gefährdet glaubte, daß die Sache in Deutschland verhandelt werden durfte, und so erhielt denn Luther einen zweiten Befehl, in Augsburg vor dem Cardinal Cajetan zu erscheinen. Da eine zweitägige Unterredung zu keiner Ei­ nigung führte, so wurde er mit deck Worten entlassen: „So gehe denn hin und komme nicht wieder, es sei denn, du wolltest einen Widerruf thun." Eine Disputation, die er im folgenden Jahre in Leipzig mit dem gelehrten Doctor Eck hatte, entfernte ihn immer weiter von seinen Gegnern; obgleich diese aber eine päpstliche Bulle erwirkten, durch welche vierzig seiner Sätze als ketzerisch verdammt wurden, so war er doch immer noch zum Frieden geneigt und ver­ sprach dem Papste in einem Briefe, er wolle den ärgerlichen Streit ruhen las­ sen, wenn.nur auch seinen Gegnern Stillschweigen auferlegt würde. Jetzt aber lag es nicht mehr in seiner Gewalt, der Sache ein Ende zu machen, denn schon erhoben sich von allen Seiten laute Stimmen gegen die Anmaßungen der Päpste. Namentlich trat ein Theil des deutschen Adels auf seine Seite und bot ihm Schutz und Hülfe an. Unter diesen ist besonders Franz von Sickingen zu nen­ nen, ein kühner und unternehmender Ritter, auf dessen Burgen viele von der Geistlichkeit verfolgte freisinnige Männer eine Zuflucht fanden. Auch der wackere Ulrich von Hutten, ein kühner Kämpfer für Aufklärung und Geistesfreiheit, trat für Luther in die Schranken, indem er in zahlreichen Schriften die Geistlichkeit wegen ihrer Anmaßung und ihrer Unwissenheit angriff. Den eifrigsten Gehül­ fen aber fand Luther an Philipp Melanchthon, einem Manne von hoher Ge­ lehrsamkeit und sanfter, friedlicher Sinnesart, dessen Vorlesungen solchen Bei­ fall fanden, daß sie oft von zweitausend Zuhörern besucht waren. Luther hatte unterdeß, statt seine Sätze zu widerrufen, in einer Schrift an den deutschen Adel viele in der römischen Kirche geltenden Lehren angegriffen und das Volk zur Abschüttelung des päpstlichen Joches aufgefordert. Seine Gegner machten jetzt die päpstliche Bulle bekannt, durch welche er mit dem Kirchenbann belegt wurde, und bewirkten, daß seine Schriften in mehreren Städ­ ten verbrannt wurden; doch wurde die Bannbulle in den meisten Orten, in de­ nen sie öffentlich angeschlagen ward, vom Volke abgerissen. Luther selbst berief am 10. December 1520 die ganze Universität vor das Elsterthor in Wittenberg und warf die Bulle nebst dem kanonischen Recht mit den biblischen Worten ins Feuer: „Weil du den Heiligen des Herrn betrübt hast, so verzehre dich das ewige Feuer!" Im folgenden Jahre erhielt er^die Aufforderung, nach WormS zu kom­ men, wohin der neugewählte Kaiser Karl V. seinen ersten Reichstag berufen hatte. Obgleich durch eine Krankheit entkräftet, machte er sich sogleich auf den Weg, predigte in mehreren der Orte, welche er auf seiner Reise berührte, und ward überall vom Volke mit Begeisterung empfangen. Als er in die Nähe von Worms kam, erinnerte ihn einer seiner Freunde an das Schicksal des Jo­ hann Huß, der ungeachtet des kaiserlichen Geleites in Kostnitz seinen Tod ge­ funden hatte; er aber erwiderte: „Und wenn so viele Teufel in Worms wären, als Ziegel auf den Dächern, so würde ich doch hineingehen." Bei seinem Ein­ zug vermochte der vor dem Wagen herreitende Reichsherold sich nur mit Mühe einen Weg nach der angewiesenen Herberge zu bahnen, so groß war die Volks­ menge, welche von allen Seiten herbeiströmte, um den merkwürdigen Mann zu

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sehen. Auch die ganze Nacht war das Haus von Neugierigen umlagert, und als Luther am folgenden Morgen durch den Reichsmarschall auf das Nathhaus geführt wurde, wo der Reichstag versammelt war, mußten beide ihren Weg durch Gärten und Hintergebäude nehmen, weil die Straßen durch die Bolksmaffen gesperrt waren. Bor der Saalthür stand der alte, tapfere Feldhaupt­ mann Georg von FrundSberg; der klopfte Luthern treuherzig auf die Schultern und sagte: „Mönchlein, Mönchlein! Du gehst jetzt einen schweren Gang, der­ gleichen ich und mancher Krieger auch in der schwersten Schlacht nicht gethan habe. Bist du aber auf dem rechten Wege und deiner Sache gewiß, so fahre in Gottes Namen fort und sei getrost, denn der Herr wird dich nicht ver­ lassen." Es war am 17. April des Jahres 1521, als Luther in seinem Mönchs­ gewände vor der glänzenden Reichsversammlung erschien. Der Kaiser saß auf dem Thron, umgeben von seinem Bruder, dem Erzherzog Ferdinand, sechs Kur­ fürsten, vierundzwanzig Herzogen, acht Markgrafen, dreißig Bischöfen und vie­ len Fürsten, Grafen und Herren. Aller Augen waren auf den eintretenden Mönch gerichtet. Ehrerbietm nahte sich dieser dem Throne. Als ihm die Frage vorgelegt wurde, ob er die Bücher, die man ihm vorzeigte, als die seinigen an­ erkenne und ihren Inhalt widerrufen wolle, wurde er befangen und erbat sich Bedenkzeit. Am folgenden Tage hatte er seine frühere Zuversicht wiedergewon­ nen und vertheidigte seine Grundsätze mit solcher Ruhe und Geistesgegenwart und in einer so edlen und würdevollen Sprache, daß er die Herzen vieler An­ wesenden gewann. Die Aufforderung zum Widerruf wies er mit der Erklärung zurück, daß er nicht eher widerrufen würde, als wenn er mit Zeugnissen der heiligen Schrift oder mit klaren Gründen widerlegt wäre, weil es nicht ge­ rathen sei, etwas wider das Gewissen zu thun, und schloß mit den Worten: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen." Da auch alle weiteren Versuche, ihn auf andere Gedanken zu bringen, vergeblich waren, so wurde ihm befohlen, wieder abzureisen; der Kaiser erneuerte das ihm verheißene freie Geleit zur Rückreise auf einundzwanzig Tage und sprach dann über ihn und alle seine Anhänger und Beschützer die Reichsacht aus. Der Kurfürst Friedrich der Weise hatte indeß schon für die Sicherheit sei­ ne- Schützlings gesorgt. Als dieser auf seiner Rückreise durch den Thüringer Wald kam, wurde er in der Gegend von Altenstein von fünf verkappten Rei­ tern überfallen, mit scheinbarer Gewalt aus dem Wagen gerissen und auf die Wartburg bei Eisenach gebracht. Hier lebte er, vor Freund und Feind verbor­ gen, fast ein Jahr lang; er hieß Junker Georg, trug einen Bart und ritter­ liche Kleidung, und niemand ahnte, wer er war. Von dieser Freistatt aus för­ derte er das begonnene Werk durch treffliche Schriften; auch begann er hier die Uebersetzung der Bibel, während er mit manchen Anfechtungen zu kämpfen hatte, da er sich vom Teufel heftig verfolgt wähnte. Endlich bestimmten ihn die Nach­ richten, die er von den Unruhen in Wittenberg erhielt, seinen Zufluchtsort zu verlassen. ES waren nämlich mehrere seiner Anhänger, an deren Spitze eut gewisser Karlstadt stand, in ihrem Eifer so weit gegangen, daß sie alles, was an den früheren Gottesdienst erinnerte, zerstörten, die Altäre zertrümmerten und die geweihten Gefäße, die Beichtstühle und die Heiligenbilder auS den Kirchen warfen. Mit ihnen verbanden sich andere Schwärmer, welche die Kindertaufe abschaffen wollten, und deren Gewaltthaten alle bürgerliche Ordnung aufzulösen drohten. AlS Luther hiervon Kunde erhielt, verließ er trotz der Abmahnungen des Kurfürsten die Wartburg und kehrte nach Wittenberg zurück. Hier predigte er acht Tage hintereinander mit solcher Kraft gegen die eingerisseüen Unordnungen, daß die Ruhe in kurzer Zeit völlig wieder hergestellt war. Aber nun kam der

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Aufstand in anderen Gegenden Deutschlands zum Ausbruch, indem namentlich die hartbedrückten Bauern sich gegen ihre Herren erhoben. Luther ermahnte zum Frieden, indem er jeder der beiden Parteien ihr Unrecht vorwarf. Den Fürsten und Herren schrieb er: „Ihr allein seid an diesem Aufruhr Schuld, die ihr um eures Hochmuths willen eure Unterthanen schindet und schätzt, bis die Armen es nicht länger ertragen können. Ihr müßt anders werden, wenn eure stolze Vermessenheit euch nicht den Hals brechen soll. Bon den Forde­ rungen der Bauern sind die meisten billig und gerecht; thut also, was sie be­ gehren, damit nicht Verachtung und Verderben über euch komme/' Und als er von den Gewaltthätigkeiten hörte, welche die aufrührischen Bauern verübten, schrieb er diesen: „Auch wenn die Obrigkeit böse und unleidlich ist, so entschul­ digt dies den Aufruhr nicht; denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen. Wenn ihr aber handelt, wie ihr jetzt thut, so seid ihr noch viel ärgere Räuber als jene." Bei der Nachricht aber von den Greuel­ scenen in Schwaben ließ er eine Schrift „wider die räuberischen und mörde­ rischen Bauern" drucken, in der es hieß: „Hier soll zuschlagen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, und bedenken, daß es nichts Gif­ tigeres, Schädlicheres und Teuflischeres giebt, als einen aufrührischen Menschen, gleichwie du einen tollen Hund todtschlagen mußt, damit er nicht dich und ein ganzes Land verderbe." Ungeachtet dieser traurigen Ereigniffe nahm die Kirchenverbefserung in vie­ len Gegenden Deutschlands ihren ungestörten Fortgang, indem die Messe ab­ geschafft, der Gottesdienst in deutscher Sprache gehalten, die Mönche ihrer Ge­ lübde entbunden, die Klöster aufgehoben und allen Geistlichen die Ehe gestaltet wurde. Luther selbst vermählte sich im Jahre 1525 mit einer ehemaligen Nonne, Katharina von Bora; doch erlitt sein Fleiß im Schreiben und Lehren durch sei­ nen Ehestand keine Störung. Vielnrehr fuhr er unablässig fort, theologische Schriften und Predigten herauszugeben; zugleich arbeitete er an der Verbefferung und Fortsetzung seiner Bibelübersetzung und faßte die Hauptsätze der Glaubenslchre in seinem berühmten Katechismus zusammen. Melanchthon schrieb unter» deß ein Lehrbuch des christlichen Glaubens und eine Anweisung, wie in Kirchen und Schulen gelehrt werden solle. Da die schnellen Fortschritte der Reformation den katholischen Reichsstän­ den ernstliche Besorgnisse einflößten, so bewirkten diese 1529 auf dem Reichs­ tage zu Speier den Beschluß, daß die, welche sich der neuen Lehre zugewandt hätten, sich bis zu einer Kirchenversammlung aller weiteren Veränderungen in kirchlichen Angelegenheiten enthalten sollten. Gegen diesen Beschluß reichten die Evangelischen eine Protestation ein und wurden seitdem Protestanten genannt. Im folgenden Jahre aber Übergaben sie dem Kaiser auf dem Reichstage zu Augsburg ihr durch Melanchthon verfaßtes GlaubenSbekenntniß, welches später die Augsburgische Confession genannt wurde. Alle Versuche einer Vereinigung, welche auf diesem und aus späteren Reichstagen gemacht wurden, blieben vergeb­ lich; vielmehr wurde die Feindschaft zwischen den beiden Parteien mit jedem Tage größer und führte endlich eine Reihe blutiger Kämpfe herbei. Ehe aber noch der Krieg zum AuSbruch kam, starb Luther am 18. Februar 1546 in sei­ ner Geburtsstadt Eisleben. Er war, obschon krank, hierher gereist, um einen Streit unter den Grafen von Mansfeld zu schlichten. Ungeachtet seiner zuneh­ menden Schwäche predigte er noch viermal und wohnte allen Sitzungen bei, welche zur Beilegung jenes Zwistes gehalten wurden. Endlich mußte er sich ent­ schließen, in seinem Zimmer zu bleiben. Er ging hier langsam auf und nieder und ruhte abwechselnd auf einem Lehnstuhl aus; dabei betete er viel und unter­ hielt sich mit seinen Freunden. Da die Brustbeklemmungen zunahmen, so er­ boten sich mehrere Freunde, namentlich der Doctor JonaS aus Halle, die Nacht

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über bei ihm zu wachen. Nachdem er in sein Bett gebracht war, schlief er schwer athmend ein; um ein Uhr Morgens aber stand er wieder auf und ging einige Male auf und ab. Da er immer heftiger über Beklommenheit klagte, wurde er wieder auf das Bett gelegt und ihm der Leib mit warmen Tüchern gerieben. Unterdeß war der Graf Albrecht von Mansfeld mit seiner Gemahlin erschienen und hatte stärkende Tropfen mitgebracht, mit denen man ihm den PulS bestrich. Doch nahm die Schwäche und Beklommenheit zu, so daß Doctor Ionas ihn endlich fragte: „Ehrwürdiger Vater, wollt ihr auf die Lehre von Christo, wie ihr sie gepredigt, sterben?" Mit deutlicher Stimme antwor­ tete er ,,Ja," wandte sich dann" auf die Seite und entschlief so sanft, daß die Umstehenden lange Zeit glaubten, er schlummere nur. Zwei Tage später ward die Leiche in einem zinnernen Sarge, begleitet von allen anwesenden Grafen, vielen Edelleuten und Geistlichen und der ganzen Büraerschast von Eisleben, nach Halle gebracht. In allen Orten, durch welche der Trauerzug kam, wurden die Glocken geläutet, und weinend schlossen sich ihm

Männer, Weiber und Kinder an. Aus Halle kam ihm der Magistrat, die Geistlichkeit und die Bürgerschaft in feierlichem Zuge entgegen; noch rührender aber war der Einzug in Wittenberg, wo der Sarg in der kurfürstlichen Schloß­ kirche beiaesetzt wurde. An Luthers Seite ruht sein treuer Gefährte Melanchthon, welcher, nachdem er noch vierzehn Jahre in Schriften und Predigten für die Kirchenverbesserung gewirkt hatte, im Jahre 1560 zu Wittenberg starb. Dieliy.

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Luther und Frundsberg.

Schon harret an den Thüren Des Volkes Menge dicht, Als sie den Luther führen Vor Kaiser und Gericht; Und an der Thüre Pfosten, Dem Eingang Luthers nah, Steht fest auf seinem Posten Der alte Frundsberg da.

Der Ritter steht den Priester Sich werfen in den Tod, In seinen Zügen liest er Der Losung ernst Gebot, Das siegen oder sterben Den Frommverweg'nen heißt, Und vor dem Himmelserben Beugt sich des Helden Geist.

Wie unter Blitzesflammen, Wie unter Sturmeswehn Zwei Eichen dicht beisammen Auf zähen Wurzeln stehn, So stehen kühngestaltig Die beiden Helden dort, In Waffen Der gewaltig Und Jener in dem Wort.

„Monchlein," begann der Ritter, „Du gehest einen Gang, Wie auch im Schlachtgewitter, Im Mord- und Sturmesdrang Ich noch bestanden keinen Und keinen werd' bestehn; Bist du mit Gott im Reinen, Magst du den Gang auch gehn!"

Den schirmt die Pickelhaube, Das Panzerhemd aus Erz; In Jenem stählt der Glaube Das vielgeprüfte Herz. In Schlachten schaut der Eine Dem Tod ins Angesicht; Dem zittern die Gebeine Auch vor dem Teufel nicht.

So gab der greise Degen Am heißen Kampfestag Dem Luther seinen Segen, Den Hand- und Ritterschlag. Wohlauf denn, Held! und schwinge Dein ritterliches Schwert! Laß sehn, ob sich die Klinge Als flammende bewährt! Hagenbach.

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60. Herzog Alba in Rudolstadt. Eine Gräfin von Schwarzburg' hätte den fürchterlichen Herzog von Alba durch ihr entschlossenes.Betragen beinahe zum Zittern gebracht. Als Karl V. im Jahre 1547 nach der Schlacht bei Mühlberg auch durch Thüringen kam, wirkte die verwittwete Gräfin Katharina von Schwarzburg, eine geborne Für­ stin von Henneberg, einen Sauve-Garde-Brief bei ihm aus, daß ihre Unter­ thanen von der durchziehenden spanischen Armee nichts zu leiden haben sollten. Dagegen verband sie sich, Brot, Bier und andere Lebensmittel gegen billige Bezahlung aus Rudolstadt an die Saalbrücke schaffen zu lasien und die spa­ nischen Truppen, die dort übersetzen würden, zu versorgen. Doch gebrauchte sie dabei die Vorsicht, die Brücke, welche dicht bei der Stadt war, in der Ge­ schwindigkeit abbrechen und in einer größern Entfernung über daö Waffer schla­ gen zu lassen, damit die allzugroße Nähe der Stadt ihre raublustigen Gäste nicht in Versuchung führte. Zugleich wurde den Einwohnern aller Ortschaften, durch welche der Zug ging, vergönnt, ihre besten Habseligkeiten auf das Rudolstädter Schloß zu flüchten. Mittlerweile näherte sich der spanische General, vom Herzog Heinrich von Braunschweig und dessen Söhnen begleitet, der Stadt und bat sich durch einen Boten, den er voran schickte, bei der Gräfin von Schwarzburg auf ein Mor­ genbrot zu Gaste. Eine so bescheidene Bitte, an der Spitze eines Kriegsheeres gethan, konnte nicht wohl abgeschlagen werden. Man würde geben, was das Haus vermöchte, war die Antwort; Seine Excellenz möchten kommen und vor­ lieb nehmen. Zugleich unterließ man nicht, der Sauve-Garde noch einmal zu gedenken und dem spanischen General die gewissenhafte Beobachtung derselben ans Herz zu legen. Ein freundlicher Empfang und eine gutbesetzte Tafel erwarteten den Her­ zog im Schlosse. Noch hat man sich kaum niedergesetzt, als der Gräfin ge­ meldet wird, daß in einigen Dörfern unterwegs die spanischen Soldaten Ge­ walt gebraucht und den Bauern das Vieh weggetrieben hätten. Aufs äußerste über diese Wortbrüchigkeit entrüstet, doch von ihrer Geistesgegenwart nicht ver­ lassen, befiehlt sie ihrer ganzen Dienerschaft, sich in aller Geschwindigkeit und Stille zu bewaffnen und die Schloßpforten wohl zu verriegeln: sie selbst begiebt sich wieder nach dem Saal, wo die Fürsten noch bei Tische sitzen. Hier klagt sie ihnen in den beweglichsten Ausdrücken, was ihr eben hinterbracht worden, und wie schlecht man das gegebene Kaiserwort gehalten. Man erwidert ihr mit Lachen, daß dies nun einmal Kriegsgebrauch sei, und daß bei einem Durch­ marsch von Soldaten dergleichen kleine Unfälle nicht zu verhüten stünden. „Das wollen wir doch sehen," antwortete sie aufgebracht. „Meinen armen Unterthanen muß das Ihrige wieder werden, oder bei Gott! Fürstenblut für Ochsenblut!" Mit dieser bündigen Erklärung verließ sie das Zimmer, das in wenigen Augenblicken von Bewaffneten erfüllt war, die sich, das Schwert in der Hand, hinter die Stühle der Fürsten pflanzten und das Frühstück bedien­ ten. Beim Eintritt dieser kampflustigen Schaar veränderte Herzog Alba die Farbe; stumm und betreten sah man einander an. Abgeschnitten von der Ar­ mee, von einer überlegenen handfesten Menge umgeben, was blieb ihm übrig, als sich in Geduld zu fassen und, auf welche Bedingung es auch, sei, die beleidigte Dame zu versöhnen. Heinrich von Braunschweig faßte sich zuerst und brach in ein lautes Gelächter aus. Er ergriff den vernünftigen Ausweg, den ganzen Vorgang ins Lustige zu kehren und hielt der Gräfin eine Lobrede über ihre landesmütterliche Sorgfalt und den entschlossenen Muth, den sie bewiesen. Er bat sie, sich ruhig zu verhalten, und nahm es auf sich, den Herzog von Alba zu allem, was billig sei, zu vermögen. Auch brachte er es bei dem

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Geschichte.

Letztem wirklich dahin, daß er auf der Stelle einen Befehl an die Armee auSfertigte, das geraubte Vieh den Eigenthümern ohne Verzug wieder auszuliefem. Sobald die Gräfin von Schwarzburg der Zurückgabe gewiß war, bedankte sie sich aufs schönste bei ihren Gästen, die sehr höflich von iht Abschied nahmen.

Schiller.

61. Einer oder der Andere. Zu König Heinrichs des Vierten Zeiten ritt ein Bäuerlein vom Lande her des Weges nach Paris. Nicht mehr weit von der Stadt gesellt sich zu ihm ein gar stattlicher Reiter, welches der König war, und sein kleines Ge­ folge blieb absichtlich in einiger Entfernung zurück. „Woher des Landes, gu­ ter Freund?" „Da und da her." „Ihr habt wohl Geschäfte zu Paris?" „Das und das, auch möchte ich gern unsren guten König einmal sehen, der so väterlich sein Volk liebt/' Da lächelte der König und sagte: „Dazu kann euch heute Gelegenheit werden." „Aber wenn ich auch nur wüßte, welcher es ist un­ ter den vielen, wenn ich ihn sehe!" Der König sagte: „Dafür ist Rath. Ihr dürft nur achtgeben, welcher den Hut allein auf dem Kopfe behält, wenn die andern ehrerbietig ihr Haupt entblößen." Also ritten sie mit einander in Pa­ ris ein und zwar das Bäuerlein hübsch auf der rechten Seite des Königs. Denn das kann nie fehlen. Was die liebe Einfalt Ungeschicktes thun kann, sei es gute Meinung oder Zufall, das thut sie. Aber ein gerader und unverkünstelter Bauersmann, was er thut und sagt, das thut und sagt er mit gan­ zer Seele und sieht nickt um sich, was geschieht, wenn's ihn nicht angeht. Also gab auch der unsrige dem König auf seine Fragen nach dem Landbau, nach seinen Kindern, und ob er alle Sonntage ein Huhn im Topfe habe, ge­ sprächige Antwort und merkte lange nichts. Endlich aber, als er doch sah, wie sich alle Fenster öffneten imb alle Straßen mit Leuten sich füllten, und alles rechts und links auswich und ehrerbietig das Haupt entblößt hatte, ging ihm ein Licht auf. „Herr!"sagte er und schaute seinen unbekannten Begleiter mit Bedenklichkeit und Zweifel an, „entweder seid ihr der König, oder ich bin's! Denn wir zwei haben noch allein die Hüte auf dem Kopf." Da lächelte der König und sagte: „Ich bin's. Wenn ihr euer Rößlein eingestellt und eure Geschäfte besorgt habt," sagte er, „so kommt zu mir in mein Schloß. Ich will euch alsdann mit einem Mittagssüpplein aufwarten und euch auch mei­ nen Ludwig zeigen." Bon dieser Geschichte her rührt das Sprüchwort, wenn jemand in einer Gesellschaft aus Bergeffcnheit oder Unverstand den Hut allein auf dem Kopf behält, daß man ihn fragt: Seid ihr der König oder der Bauer?

Hebel.

62. Die Zerstörung Magdeburgs. Diese reiche, blühende und stark befestigte Hansestadt war seit dem Ende deS März 1631 Tillhs Hauptaugenmerk geworden. Aber vergeblich hatte er sechs Wochen lang seine ganze Kriegskunst aufgeboten, sie in seine Gewalt zu bekommen. Zwar ging ihr zuletzt die Munition aus, allein der schwedische Commandant Falkenberg wußte durch weise Bertheilung des kleinen Nestes und durch glückliche Ausfälle den Kaiserlichen noch immer vielen Schaden zu thun. Die größte Hoffnung der Bürger ruhte aber auf Gustavs Ankunft, und das Vertrauen auf die Nähe dieses Schutzgeistes machte sie so sicher, daß sie gar nicht glaubten, Tilly werde es jetzt noch wagen, etwas gegen sie zu unterneh­ men. In diesem Glauben bestärkte sie Tilly selbst, als er am 19. Mai mit Kanoniren innehalten und am Nachmittage sogar die bisher so tapfer gebrauchten Stücke abführen ließ. Sie hielten dies für ein sicheres Zeichen, daß

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Gustav nahe sei, während es ein Vorbote des Sturmes war, den der General auf den Rath seiner besten Offiziere beschlossen hatte. In größter Stille wurden dazu die Nacht vorher die Leitern in Bereitschaft gelegt, und den Sol­ daten ward befohlen, sich zu morgen früh nm fünf Uhr fertig zu halten. Die Wächter auf der Mauer blieben bis nach Mitternacht auf ihren Posten; da aber alles still blieb, gingen sie beim Anbruch der Morgendämmerung in ihre Wohnungen, um einige Stunden der Ruhe zu pflegen. Ach, sie wußten nicht, welch ein Erwachen ihnen bereitet war! Endlich schlug die bestimmte Stunde. Die Soldaten standen bereit; aber das Zeichen erfolgte noch nicht. Ungewiß, was er thun sollte, hatte Tilly seinen Kriegsrath noch einmal zusammenberufen. Die meisten Stimmen ver­ einigten sich abermals für das Sturmlaufen, und so ward dann um sieben Uhr den harrenden Kriegern das Zeichen gegeben. Sogleich ward die Mauer von allen Seiten berannt: man setzt die Leitern an, die größten Stücke werden herangezogen, um irgendwo eine Bresche zu schießen. Ein wildes Geschrei von vielen tausend Stimmen dringt durch die Luft. Die erschrockenen Bürger über­ fällt eine Todesangst. Falkenberg, der eben mit einem seit gestern aufgehal­ tenen kaiserlichen Trompeter auf dem Rathhause in Gegenwart des Magistrats unterhandelt, eilt schnell auf seinen Posten und findet hier in dem fürchter­ lichen Kugelregen seinen Tod. Die Besatzung, nun ohne Anführer, denkt bald nicht mehr an die Vertheidigung; jeder eilt nach Hause, bringt seine Baar­ schaft bei Seite und verbirgt sich, wo er kann. Die Mauer ward erstiegen; um neun Uhr war der Feind in der Stadt. Hie und da wagt eS ein Bürger noch, aus dem Fenster zu schießen; selbst Weiber werfen Ziegeln von den Dächern herab. Aber nun beginnt das eigentliche Trauerspiel. Die Erlaub­ niß zum Plündern wird gegeben. Die lange verhaltene Thierheit bricht plötzlich loS. Aus Menschen werden gereizte Tiger. Blutdurst und Raubsucht, diese verschiedenartigen und doch so verschwisterten Begierden, bemächtigen sich der ungebundenen Willkür, und alle Gräuel der Unmenschlichkeit werden ohne Scheu und Scham geübt. In der Katharinenkirche fand man dreiundfunfzig Weiber mit abgeschlagenen Köpfen; die Straßen waren mit zuckenden und röchelnden Körpern bedeckt, und kein Haus war ohne Blut. Um zehn Uhr kam an meh­ reren Stellen Feuer aus, welches bald so um sich griff, daß selbst die Plün­ derer genöthigt wurden, sich auf die Wälle zurückzuziehen. Viele, die sich auf den Böden versteckt hatten, verbrannten nun auf die jämmerlichste Art. Man sah kleine Kinder auf den Straßen herumlaufen und nach ihren Müttern schreien, und Kroaten, die unmenschlich genug waren, diese unschuldigen Kleinen aufzuspießen und in die Flammen zu werfen. Einige menschenfreundliche Offi­ ziere brachten Tilly draußen im Lager von diesen Gräueln Nachricht und frag­ ten ihn, ob er nicht dem Plündern Einhalt thun wolle. Er aber antwortete: „Lasset ihnen immer noch eine Stunde Zeit, und dann kommt wieder! Der Soldat muß für seine Mühe und Gefahren auch was haben." Abends um zehn Uhr legte sich der Brand, nachdem von der ganzen herrlichen Stadt nichts weiter als die Domkirche, das Liebfrauenkloster und eine Reihe entlegener Fischerhäuser an der Elbe übrig geblieben war. Am folgenden Tage kamen die Sieger abermals in die Stadt, um die Keller zu durchsuchen, und hier fanden sie unermeßliche Beute. Auch eine Menge erstickter Leichname ward Herausgeivorfen. Etwa vierhundert der reichsten Bürger waren von den Offi­ zieren, die sich ansehnliche Lösegelder von ihnen versprachen, in das Lager ge­ rettet worden. Zwei Tage nach dem Brande ward die Domkirche geöffnet, und hier fand man gegen tausend Unglückliche, die von Angst, Hunger und Durst so abgemattet waren, daß sie mehr Leichen als Lebendigen glichen. Man gab dem Tilly davon Nachricht, und er schenkte ihnen nicht nur das Leben,

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sondern ließ auch Brot unter sie austheilen. Jetzt schien sein Zorn befriedigt zu sein. Auch war ja sein Hauptzweck erreicht. Man brauchte viele Tage dazu, um die Straßen insoweit aufznräumen, daß der General seinen Einzug hallen konnte. Am 25. Mai geschah endlich Tillys feierlicher Einzug. Nach­ dem in der Domkirche Messe gehalten, das Tedeum gesungen und um die Stadt herum mit allen Kanonen dreimal Victoria geschoffen worden war, ritt der Sie­ ger mit seinem Gefolge durch die Hauptstraßen iiitb weidete sich an den furcht­ baren Denkmälern seiner Macht. Nickt ohne Selbstzufriedenheit schrieb er dar­

auf in dem nach Wien zu sendenden Bericht, er glaube, daß seit Trojas und Jerusalems Zerstörung solch ein Sieg nicht sei gesehen worden. Vccker.

63. Die Schlacht bei Lützen. Auf den Feldern de- Dorfe- Breitenfeld bei Leipzig hatte Gustav Adolf den alten, nie besiegten Tilly in einer blutigen Schlacht geschlagen (1631) und zog nun wie im Triumph durch Thüringen und Franken an den Rhein und dann nach Baiern. Mit unbeschreiblichem Jubel schlugen die Herzen dem königlichen Sieger entgegen. Tilly, der Baiern beschützen sollte, wagte es nicht mehr, ihm im offenen Felde entgegenzutreten, fand auch bald durch eine Ver­ wundung seinen Tod. Das . bairische Volk zitterte vor der Ankunft des Kö­ nigs; es hatte seinen Zorn durch grausame Ermordung einzelner Schweden ge­ reizt. Aber gnädig empfing der edle Fürst die Abgesandten, welche ihm die Schlüffel der Stadt München überbrachten. ,,Mit Recht hätte ich an eurer Stadt daS Unglück Magdeburgs rächen können," sagte er, „allein fürchtet nichts; geht in Frieden und seid eurer Güter und eurer Religion wegen un­ besorgt!" Baiern war arößtentheils in des Königs Gewalt, und Wien zitterte um so mehr, da die Sachsen in Böhmen eingedrungen waren und Prag er­ obert hatten. In solcher Noth blieb dem bedrängten Kaiser Ferdinand nichts übrig, als sich wieder an Wallenstein zu wenden. Nach vielen Bitten ließ sich der stolze Mann bewegen, aufs neue ein Heer für den Kaiser zu werben, und so stand er denn nach wenigen Monaten mit unumschränkter Gewalt an der Spitze einer bedeutenden Macht, die sich noch täglich durch neue Werbungen vermehrte. Nachdem er lange gezögert hatte, brach er endlich nach Sachsen auf, wo Raub und Mord und Brand feinen Einzug bezeichnete. Gustav Adolf eilte ihm nach und wurde von dem Volke als ein reitender Engel empfangen. In Naumburg an der Saale umringten sie ihn, drängten sich an ihn und suchten ihm die Füße zu küssen. „Unsere Sachen stehen gut," sagte er, „allein ich fürchte, daß mich Gott wegen der Thorheit dieses Volkes strafen werde. Hat es nicht das Ansehen, daß diese Leute mich recht zu ihrem Abgott machen? Wie leicht könnte der Gott, welcher den Stolzen demüthigt, sie und mich selbst empfinden lassen, daß ich nichts als ein schwacher, sterblicher Mensch bin!" Am Abend des 15. November 1632 traf er bei Lützen auf das Wallenstein'sche Heer, und jeder bereitete sich zur morgenden Schlacht vor. Der Kö­ nig blieb die Nacht in seinem Wagen und gab die nöthigen Anordnungen und Befehle. Ein dichter Nebel verhüllte den neuen Morgen und verhinderte, die Stellung der Gegner zu erkennen. Schweigend verharrte die Menge. Im La­ ger der Schweden erhebt fick Pauken- und Trompetenschall, und tote Tausende von Kriegern stimmen ein in das Lied: ,,®n’ feste Burg ist unser Gott." Jetzt, nach 11 Uhr, blickt die Sonne freundlich durch den Nebel. Der König schwingt fick aufs Pferd und ruft: ,,Nun wollen wir dran! Das walt' der liebe Gott! Jesu, Jesu, hilf mir heut streiten zu deines Namens Ehre!" Dar­ auf stürmt er mit den Seinen gegen die Straße, welche von Lützen nach Leip­ zig führt. Hier wird er durch em fürchterliches Feuer aus den Verschanzungen

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und Gräben empfangen, und viele sinken in den Tod. Dennoch setzen die Uebrigen über den Graben und bringen die Wallensteinschen zum Weichen. Indeß stürmt Pappenheim mit seinen Reitern herbei, und die Schlacht wird zu einem grausigen Getümmel. Der König eilt mit einer Reiterschaar seinem wankenden rechten Flügel zu Hülfe. Von dem Herzoge Franz von SachsenLauenburg und einigen andern begleitet, sprengt er weit vor, um die Stellung des Feindes zu erspähen. Sein kurzes Gesicht läßt ihn aber zu nahe an die Kaiserlichen gerathen. Er erhält einen Schuß in den Arm, und indem er sich umwendet, trifft ihn ein zweiter in den Rücken. Mit dem Rufe: „Mein Gott, mein @ott!" sinkt er vom Pferde. Die schnaubenden Rosse stürmen über ihn hinweg und zertreten ihn mit ihren Hufen. Das dahersprengende blutige Pferd bringt den Schweden die Schreckenskunde, und das Gefühl der Rache treibt sie unaufhaltsam vorwärts. Der heldenmüthige Herzog Bernhard von Weimar übernimmt die Führung. Die Kaiserlichen werden geworfen. Mit dem Rufe: „Die Schlacht ist verloren; der Pappenheimer ist todt; die Schwe­ den kommen über uns!" ergriffen sie die Flucht. Die Schlacht hatte elf Stun­ den gedauert, und 9000 Lerchen bedeckten den Wahlplatz. Die Schweden ver­ folgten wegen der Dunkelheit und Ermüdung den Feind nicht und brachten die Nacht auf dem Schlachtfelds zu. Am folgenden Morgen fanden sie nach lan­ gem Suchen den nackten und blutigen Leichnam ihres Königs unter einem Haufen von Todten; er lag, mit elf Wunden bedeckt, von Hufen zertreten und bis zur Unkenntlichkeit entstellt, zwischen der Stadt Lützen und dem 'großen Feldsteine, der seitdem der Schwedenstein heißt und noch heute an jener Stelle zu sehen ist. Sein Leichnam wurde nach Stockholm gebracht. Die goldene Kette und seinen blutigen Koller, welche ihm die Kroaten abgenommen hatten, sandte Wallenstein nach Wien zum Kaiser. Dieser rief mit Thränen in den Augen: „Gern hätte ich dem Helden ein längeres Leben und eine fröhliche Rückkehr in sein Königreich gegönnt, wenn nur in Deutschland Frieden gewor­ den wäre!" Ein Weheruf durchzuckte die protestantischen Länder. Aber das Werk des großen Königs ging nicht verloren. Was er angefangen haye, haben seine Helden Bernhard von Weimar, Banner, Torstenson und andere im Bunde mit Frankreich vollendet. Wallenstein hat den heldenmütigen König nicht lange überlebt. Er gerieth in den Verdacht, mit den Schweden gemeinschaftliche Sache machen zu wollen, und da man offene Gewalt gegen den gewaltigen Mann fürchtete, so ward der Dolch des Meuchelmörders für ihn geschliffen. Es war am 25. Fe­ bruar 1634, als die gedungenen Mörder in sein Schlafgemach zu Eger dran­ gen. Aus dem Bette springend, will der Feldherr um Hülfe rufen. Als er aber sieht, daß keine Rettung möglich ist, entblößt er selbst die Brust und empfängt schweigend den Todesstoß. Seine Güter wurden vom Kaiser einge­ zogen; sein Tod blieb ungerächt.

Nach Henning.

64. Die Sieger. ES sitzen zu Wim im Kaisersaal Die Fürsten und Heldm in großer Zahl; Sie'haben entsetzet die bange Stadt, Nach der so gelüstet die Heiden hat. Und als nun geendet das reiche Mahl Und freudig geleert der Siegespckal, Spricht Einer: „Genug nun mit Sang und Klang!

Nun sagt, wer die beste Beute errang!" Ein Pole entgegnet: „DeS Sultans Gold Hab' ich mir aus seinem Zelt geholt." Ein Lothringer drauf: „Sein stolze» Panier Erkämpft' ich mit blutigem Degen mir." Ein Wiener sodann: „Manch reiche» Gewand

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Entriß ich dm Flücht'gen mit dieser Hand." Ein Andrer: „Ich wählte in aller Eil' Kameele und Pferde zu meinem Theil." So wußte ein jeder nach seiner Art Zu sagen, was ihm für Beute ward. Wur einet im Kreise der Sieger saß, Der über die Andern das Wort vergaß. „Wie stumm doch, Herr Bischof! Be­ kennet auch ihr! Mich dünkt, ihr errangt das Geringste schier." Herr Kollonitsch, also der Bischof hieß, Entgegnet mit Lächeln: „Eins ist gewiß: Was ihr auch erlangt durch der Heiden Flucht, Nach meiner Beute hat keiner gesucht. Und doch ist'S das Köstlichste in der That, Was man erobert vom Schlachtfeld hat." Drauf winkt er den Dienern; auf thut sich das Thor,

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Da dränget ein Heer sich von Kindern hervor, Von Knaben nnd Mägdlein, so zart und hold, Die Wangen wie Röslein, die Locken wie Gold. Die sinken aufs Knie vor dem GotteSmann Und schmiegen mit Weinen an ihn sich an. „Das ist meine Beute," der Bischof sagt, „Nach der hat nicht einer von euch ge­ fragt. Ich fand sie verlasien in Harm und Noth, Erwürgt ihre Mütter, die.Väter todt. Da führt' ich sie alle nach Wien herein Und will den Verwaisten ein Vater sein." Und als er zu ihnen gesagt das Wort, Da schwiegen beschämt wohl die Andern dort; Was alle sie auch nach Hause gebracht, Nicht glich es der Beute, die er gemacht. Vogl.

65. Die Schlacht bei Fehrbellin. Im Dezember 1674, als der große Kurfürst Friedrich Wilhelm mit sei­ nen Truppen im Elsaß gegen Turenne focht, rückten 16000 Schweden unter dem Feldmarschall Wrangel in die wehrlosen Marken und späterhin auch in Hinterpommern ein, verübten schwere Brandschatzungen, betrugen sich als Her­ ren des Landes und lebten in Ueberfluß und Verschwendung. Nicht einmal die Kirchen wurden von ihnen verschont; sie stiegen sogar in die Grüfte hinab und beraubten die Leichen. Diese Frevel erbitterten alles; man stand gegen die Schweden auf, um sich vor ihnen zu retten und, wenn man stark genug war, Mutige, aber gerechte Rache an ihnen zu nehmen. In der Altmark schaarten sich' die Landleule in großen Haufen zusammen; auf ihren Fahnen von weißer Leinwand mit einem rothen Adler, die an schwarzen Stangen flatterten, standen die einfachen, aber treu gemeinten Worte: „Wir sind Bauern von ge­ ringem Gut und dienen unserem Kurfürsten mit unserem Blut." Friedrich Wilhelm schrieb seinem Statthalter in der Mark, dem Fürsten Georg von Dessau, man solle so lange in Geduld verharren, bis er mit seiner ganzen Macht zu Hülfe kommen könne. Mit seinen in den fränkischen Winterquar­ tieren wohl verpflegten Brandenburgern brach er zu Anfang des Juni 1675 plötzlich auf, eilte mit angestrengten Märschen nach Magdeburg, ließ hier den größten Theil seiner Truppen zurück und stand mit 6000 Reitern und 1200 Musketieren, welche auf Wagen fortgeschafft worden waren, am 25. Juni vor Rathenow, als man ihn noch tief in Franken glaubte. Schrecklich war die Ueberraschung der in Rathenow befindlichen Schweden, als sie sich plötzlich von allen Seiten angegriffen sahen. Nach einem Kampfe von wenigen Stunden war die Stadt genommen, und der Kurfürst eilte weiter, um das feindliche Heer, welches in den Umgebungen von Brandenburg, Pritzerbe und Havelberg stand, vereinzelt zu überfallen. Bei Fehrbellin traf er auf den Generallieute­ nant Wrangel, einen Stiefbruder des Feldmarschalls. Da die Schweden ihm an Zahl weit überlegen waren, denn ihre Stärke betrug 11000 Mann und

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38 Geschütze, so widerriethen die meisten Befehlshaber dem Kurfürsten, einen so kriegerischen und sieggewohnten Feind mit bloßer Reiterei anzugreifen. Frie­ drich Wilhelm wollte dagegen den Vortheil, den ihm die Abwesenheit des kriegs­ erfahrenen Feldmarschalls Wrangel auf der feindlichen Seite gewährte, nicht fahren lassen und beschloß die Schlacht. Der Prinz von Heffen-Homburg führte die Brandenburgische Vorhut, 1500 Reiter, und hieb kühn in die. Feinde, ehe die übrigen Truppen herankamen. Endlich erschien der Kurfürst und erkannte trotz eines dichten Nebels bald die Vortheilhaftesten Punkte des Schlachtfeldes. Auf einem Sandhügel, welcher die Stellung der Schweden beherrschte, ließ er seine ganze Artillerie, nur dreizehn Geschütze, auffahren, zu deren Deckung die Dragonerregimenter Derfflinger und Bomsdorf absaßen und die umliegenden Gebüsche besetzten. Hier wurde der Kampf am heftigsten; denn Wrangel, die Wichtigkeit dieser Anhöhe wohl einsehend, ließ den gegen dieselbe gerichteten Angriff unablässig erneuern. Der Kurfürst befand sich überall, wo die Gefahr am größten war, und feuerte durch Wort und Beispiel den Muth seiner wacke­ ren Krieger an. Um diese Zeit war es, als der kurfürstliche Stallmeister Froben seinen Herrn beredete, den Schimmel, den er ritt, mit seinem Pferde von dunklerer Farbe zu vertauschen, aber kurz nach diesem hochherzigen Tausche von einer Kanonenkugel zwei Schritte von seinem hohen Herrn zu Boden ge­ rissen wurde und verschied. Einen Augenblick war der Kurfürst im Handge­ menge von schwedischen Reitern rings umzingelt, aber neun seiner tapferen Dragoner hieben ihn aus der Mitte der Schweden heraus. Gegen Mittag wichen die Feinde auf allen Punkten; sie halten dreitausend Mann an Todten und Gefangenen verloren und eilten nach Vorpommern zurück, wohin der Feld­ marschall Wrangel mit seiner Abtheilung schon vorausgegangen war. Friedrich Wilhelm aber verfolgte seinen Vortheil und bemeisterte sich im Herbste des größten Theiles von Vorpommern. Der Sieg bei Fehrbellin verschaffte dem brandenburgischen Namen in ganz Europa Ruhm und Achtung. Nach Lecker-

66. Fehrbellin. Herr Kurfürst Friedrich Wilhelm, der große Kriegesheld, Seht, wie er auf dem Schimmel vor den Geschützen hält! Das war ein rasches Reiten vom Rhein bis an den Rhin, Das war ein heißes Streiten am Tag bei Fehrbellin. Wollt ihr, ihr trotzten Schweden noch mehr vom deutschen Sand? Was tragt ihr in die Marken den wüth'gen Kriegesbrand? Herr Ludwig von der Seine, der hat euch aufgehetzt, Daß Deutschland von der Peene zun^ Elsaß werd' zerfetzt. Doch nein, Graf Gustav SBrangcI, hier steh nun einmal still; Dort kommt Herr Friedrich Wilhelm, der mit dir reden will. Gesellschaft aller Arten bringt er im raschen Ritt Sammt Fahnen und Standarten zur Unterhaltung mit. Nun seht ihn auf dem Schimmel, ein KriegSgott ist er traun! Den Boden dort zum Tanze will er genau beschaun. Und unter seinen Treuen, da reitet hintenan Zuletzt, doch nicht auS Scheuen, Stallmeister Froben an. Und wie der Wrangel drüben den Schimmel nun erblickt, Ruft er den Kanonieren: „Ihr Kinder, zielt geschickt! Der auf dem Schimmel sitzet, der große Kurfürst ist'S; Nun donnert und nun blitzet; auf wen'S geschieht, ihr wißt's." Die donnern und die blitzen und zielen mal nichts Schlechte, Und um den Herren fallen die Seinen links und rechts;

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Dem Derfflinger, dem Alten, fast wird es ihm zu warm, Er ist kein Freund vom Halten mit dem Gewehr im Arm. Und dicht und immer dichter schlägt in die Heeresreih'n Dort in des Schimmels Nähe der Kugelregen ein. „Um Gott, Herr Kurfürst, weichet!" Der Kurfürst hört eS nicht; Es schaut sein Blick, der gleiche, dem Feind ins Angesicht. Der Schimmel möcht' es ahnen, wem dieses Feuer gilt; Er steigt und schäumt im Zügel, er hebt sich scheu und wild. Die Herren alle bangen, doch ihm sah's keiner an; Wär' doch nicht rückwärts gangen, der fürstlich große Mann. Und doch, der Tod ist nahe und mäht um ihn herum, Und alles zagt und trauert, und alles bleibet stumm. Die Scheibe ist der Schimmel, das merket jeder nun; Doch helfen mag der Himmel, von uns kann's keiner thun! Da reitet zu dem Fürsten Emanuel Froben her: „Herr Kurfürst, euer Schimmel, er scheut sich vorm Gewehr; Das Thier zeigt seine Launen, ihr bringt's nicht ins Gefecht;! So nehmt nur meinen Braunen, ich reit's indeß zurecht." Der Herr schaut ihm herüber: „ES ist mein Lieblingsroß; Doch das verstehst du besser, so reit' es nur zum Troß." Sie wechseln still, dann sprenget, rasch ohne Gruß und Wort, Den Zügel lang verhänget, der edle Froben fort. Und weit von seinem Herren hält er zu Rosse nun, Für wenig Augenblicke scheint das Geschütz zu ruhn; Der Kurfürst selber sinnet, warum es, jetzt verstummt, Und „wacker war's gemeinet," der alte Derffling brummt. Doch Plötzlich donnert's wieder gewaltig übers Feld; Doch nur nach einem Punkte ward das Geschütz gestellt. Hoch auf der Schimmel setzet, Herr Froben sinkt zum Sand, Und Roß und Reiter netzet mit seinem Blut das Land. Die Ritter alle schauen gar ernst und treu hinein: O Froben hart am Boden, wie glänzt dein Ruhmesschein! Der Kurfürst ruft nur leise: „Ha, war das so gemeint?" Und dann nach Feldherrn Weise: „Nun vorwärts in den Feind!" Mindmg.

87. Feldmarschall Derfflinger. Der Kurfürst saß beim Mahle, Die Becher kreisten froh; Es saß an seiner Seite Der Held von Rathenow. Er hatte kühn geschwungen Für seinen Herrn das Schwert Und Ehre sich erstritten, DeS schönsten Ruhmes werth.

Ein Herr aus Baierlande, Wohl sechzehn Ahnen schwer, Sprach zierlich und geschliffen Bom Brandenburger Heer Und fragt, verächtlich lächelnd, Geröthet vom Pokal: „Jst'S wahr? Ein Schneider wurde Ein großer General?"

Der Wein, der macht beredter Und öffnet jedes Herz, Und lauter ward die Freude, Und freier ward der Scherz. Doch mancher Höfling schaute, Gereizt von schnödem Neid, Scheel nach dem kühnen Helden Und grollt' in Bitterkeit.

Drob freute sich verstohlen Die feige HöflingSschaar Und reicht dem fremden Grafen Noch einen Becher dar. Sieh, da erhebt sich plötzlich Mit Stolz der General Und schlägt an seinen Degen Und spricht laut durch den Saal:

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„Ihr Herren, den ihr meinet, Der General bin ich! Der Schneider ist behende, Glaubt mir es sicherlich. Denn hier mit meiner Elle Mess' ich die Kreuz und Quer Jedweden Wicht, auch wenn er Von altem Erze wär'!"

Geschichte. Der große Kurfürst lächelt Mit biedrem Angesicht, Reicht freundlich ihm die Rechte Und spricht voll Zuversicht: „Wohl mir und meinem Volke! Das schönste Ritterthum Ist unserm Vaterlande Verdienst und eig'ner Ruhm!" Lehmann.

68. Friedrichs des Großen Jugend. Auf den ersten König von Preußen, Friedrich I-, den Sohn und Nachfol­ ger des großen Kurfürsten, war im Jahre 1713 Friedrich Wilhelm I. gefolgt, ein Fürst von heftiger Gemüthsart, der bei großer Frömmigkeit und Herzens­ güte und vielen andern trefflichen Eigenschaften doch ein strenger Regent und ein eben so strenger Vater war. Auf Kunst und Wissenschaften gab er wenig, desto eifriger aber betrieb er die Verbesserung des Ackerbaus, und seine größte Freude hatte er an seinem Kriegsheer und besonders an dem Grenadier-Regi­ ment, für das er aus allen Gegenden Deutschlands die größten und schönsten Leute mit großen Kosten anwerben ließ. Sein ältester Sohn, der nachmalige König Friedrich II., der am 24. Januar 1712 zu Berlin geboren war, zeigte schon in früher Jugend einen ganz anderen Sinn. Dieser haßte den Zwang, mit dem man ihn von seinem achten Jahre an zu militärischen Uebungen an­ hielt, und die Strenge, mit der damals die Soldaten behandelt wurden, und ebenso verhaßt waren ihm die Vergnügungen seines Vaters, die Jagd und die Abendunterhaltungen, die man das Tabacks-Collegium nannte. Dagegen zeigte er den größten Eifer für Künste und Wissenschaften, und schon als Knabe wid­ mete er den Büchern und dem Flötenspiel alle seine Mußestunden. Die Miß­ helligkeiten, die durch diese Verschiedenheit in den Ansichten und Neigungen zwischen Vater und Sohn entstanden, wurden noch durch viele andere Dinge vermehrt. Der König hielt Sparsamkeit und Ordnung für die vorzüglichsten Tugenden eines Regenten und hatte den Schmerz, seinen Sohn mehrmals Schul­ den halber mit Arrest bestrafen zu müssen. Er hielt ferner die Uniform für die einzig passende Kleidung eines Prinzen, und zu seinem Verdruß trug der Kronprinz, wo es heimlich geschehen konnte, französische Kleidung. Einmal über­ raschte er seinen Sohn, wie dieser eben mit seinem Lehrer, dem berühmten Quanz, die Flöte blies. Zwar gelang es einem Freunde des Prinzen, dem Lieutenant Katt, Flöte und Noten bei Seite zu schaffen und sich mit Quanz in einem Kamin zu verbergen; aber der schöne, goldgestickte Schlafrock wurde von dem erzürnten König gefunden und ins Feuer geworfen, die Bücher, die sich im Zimmer befanden, wurden dem Buchhändler zurückgeschickt, und der Hofchirurg mußte dem Prinzen die schön frisirten Haare abschneiden. Durch solche Vorfälle wuchs die Spannung zwischen Vater und Sohn dermaßen, daß er­ sterer daran dachte, den Kronprinzen von der Thronfolge auszuschließen und sei­ nen zweiten Sohn zum Thronerben zu ernennen. Als endlich Friedrich gegen seine Neigung vermählt werden sollte, faßte er den Entschluß, sich mit zwei Freunden, den Lieutenants v. Keith und v. Katt, durch die Flucht nach England der väterlichen Gewalt zu entziehen. Der Plan sollte auf einer Reise nach dem Rhein zur Ausführung gebracht werden, wurde aber durch einen Brief, der in die Hände des Königs kam, verrathen. Sogleich ließ dieser den Kronprinzen verhaften und nach Mittenwalde bringen, wo er als Deserteur gerichtet werden sollte. Keith hatte vom Kronprinzen noch zu rechter Zeit einen Zettel mit den Worten: „Retten Sie sich, es ist alles entdeckt!" erhalten und war glücklich

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nach England entkommen; Katt aber wurde in Berlin verhaftet, als Deserteur zum Tode verurtheilt und vor den Augen des Kronprinzen, den man unterdes­ sen nach Küstrin gebracht hatte, enthauptet. Der Zorn des Königs richtete sich jetzt gegen alle, die mit seinem Sohne in Verbindung gestanden hatten. Ein Minister erhielt seinen Abschied, viele angesehene Männer wurden vom Hofe verwiesen, die unschuldigen Diener des Kronprinzen kämm ins Zuchthaus, und selbst die Prinzessin Wilhelmine wurde nur durch eine beherzte Kammerfrau vor den Mißhandlungen ihres Vaters gerettet. Friedrich selbst wurde durch ein Kriegsgericht zum Tode verurtheilt, und der König war entschlossen, das Urtheil vollstrecken zu lasten. Da rief der alte General Buddenbrock: „Wenn Ew. Ma­ jestät Blut wollen, so nehmen Sie meins; das des Kronprinzen bekommen Sie nicht, so lange ich noch reden darf." Ebenso sprach der Fürst von Deffau, und der Kaiser ließ dem Könige durch seinen Gesandten sagen, daß er nicht das Recht habe, seinen Sohn, der nur auf einem Reichstage gerichtet werden könne, zum Tode zu verurtheilen. Als der König erwiderte, daß er über seinen Sohn m Königsberg werde Gericht halten lassen, wo niemand über ihm stehe, sagte der Propst Reinbeck: „Niemand als Gott, und dem werden Ew. Majestät über das Blut ihres Sohnes Rechenschaft geben müssen." Bei diesen Worten wurde der König nachdenklich, und sprach seitdem nicht mehr von der Todesstrafe. Friedrich blieb jetzt in Küstrin und wurde anfangs so strenge gehalten, daß nicht einmal Licht in seinem Kerker brennen durfte. Die religiösen Ge­ spräche, die er täglich mit dem Feldprediger Müller hielt, machten einen so leb­ haften Eindruck auf ihn, daß er in einem Briefe an seinen Vater sein Unrecht bekannte und in den demüthigsten Ausdrücken um Verzeihung bat. Jetzt ver­ sprach ihm der König Begnadigung, wenn er eidlich geloben wolle, sich wegen des Borgefallenen nie an irgend einem Menschen zu rächen und künftig in allen Stücken seinem Vater gehorsam zu sein. Nachdem Friedrich diesen Eid in Ge­ genwart mehrerer Minister und Generale abgelegt hatte, erhielt er Orden und Degen zurück, mußte nun aber noch mehrere Jahre in Küstrin als KriegSrath arbeiten. Erst im November 1731 fand bei der Vermählung der Prinzessin Wilhelmine die völlige Versöhnung statt, und da der Kronprinz sich seitdem be­ mühte, seinem Vater stets mit Ehrerbietung und pünktlichem Gehorsam zu be­ gegnen, so hatte bald aller Groll ein Ende. Auch in Bezug auf seine Ver­ mahlung mit der braunschweigischen Prinzessin Elisabeth Christine fügte sich Friedrich dem Willen seines Vaters, obgleich feige Neigung dabei nicht befragt worden war. Ein neues, schöneres Leben begann für den lebhaften Prinzen, als ihm sein Vater im Jahre 1734 das Lustschloß Rheinsberg kaufte. Hier konnte er ungestört den wissenschaftlichen Beschäftigungen obliegen, zu denen ihn die leb­ hafteste Neigung hinzog; hier las er mit Bewunderung die Thaten der Helden aller Zeiten; hler nährte er an den klassischen Werken des Alterthums, die er fteilich nur in französischen Uebersetzungen kennen lernte, seine Begeisterung für alle- Große und Schöne. Zugleich versammelte er viele geistreiche und gebil­ dete Männer an seinem kleinen Hofe, in deren Gesprächen er die schönste Er­ holung nach den Stunden der Arbeit fand. Hier wechselten Witz und Scherz mit lehrreichem Ernst, und auf wissenschaftliche Verhandlungen folgten musika­ lische Genüsse, bei denen auch Friedrich durch sein meisterhaftes Flötenspiel mit­ wirkte. Dabei wurde jedoch die Kriegskunst nicht vergessen; vielmehr benutzte der wißbegierige Prinz jede Gelegenheit, um sich durch Gespräche mit gebildeten Offizieren auch in militärischer Beziehung auszubilden. Der 31. SKat des Jahres 1740, der Todestag Friedrich Wilhelms L, rief den vielgeprüften Prinzen in seinem achtundzwanzigsten Lebensjahre auf den Thron. Freudig jubelte ihm das Volk entgegen, als er am 8. August die Hul-

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digung empfing; er aber blieb nach Beendigung der Feier noch eine halbe Stunde auf dem Balkon des Schlosses stehen und jchaute mit festem und nachdenkendem Blick auf die unermeßliche Volksmenge hinab. Er begann seine Regierung mit einer Uulstcht und Thätigkeit, welche alle in Erstaunen setzte. Um die durch Mißwachs und Theuerung entstandene Noth zu lindern, ließ er seine Magazine öffnen und das Korn zu einem billigen Preise verkaufen. Die schon von seinem Großvater gestiftete Gesellschaft der Wissenschaften, die unter seinem Vater ganz in Verfall gerathen war, rief er unter dem Namen einer Akademie der Wissen­ schaften mit neuem Glanz ins Leben. Er ließ ferner den von seinem Vater verbannten Philosophen Wolff nach Halle znrückkommen und erklärte, daß er in Religionssachen die größte Duldung üben werde. Dieliy.

69. Die Schlacht bei Roßbach. Bei Kollin stieß Friedrich wieder mit den Oestreichern zusammen. Er verlor aber die Schlacht. Das gab seinen Feinden Muth, und nun wollten alle, über ihn siegen. Die Russen drangen raubend und plündernd in Ostpreu­ ßen ein und schlugen den preußischen General Lewald bei Großjägerndorf; die Schweden besetzten Pommern, die Franzosen zogen, 10000 Mann stark, durch Westphalen nach Sachsen. Hier vereinigten sich noch über 20000 Reichs­ truppen mit ihnen. Friedrichs Lage schien verzweiflungsvoll. Doch er verlor den Muth nicht. Mit 22000 Preußen trat er den Franzosen beim Dorfe Roßbach unweit Merseburg entgegen. Die Feinde, stolz auf ihre dreifache Uebermacht, tafelten, spielten und scherzten. Ihr Anführer, Prinz von Sou­ bise, schrieb nach Paris, nächstens würde der König von Preußen als Gefan­ gener dort, eintreffen; dabei war er sehr besorgt, Friedrich möchte ihm ent­ wischen. Der König dachte aber an nichts weniger als an Flucht. Während die Feinde mit klingendem Spiel und mit wehenden Fahnen zum Angriffe herausrücken, hält er mit seinen Generalen ruhig das Mittagsmahl. Die Soldaten im Lager kochen, braten und schmausen ebenfalls ohne Sorgen. Die Franzosen halten das für dumpfe Verzweiflung. Plötzlich aber erschallt das Commandowort des Königs; die Zelte verschwinden, die Krieger stehen in Reih' und Glied, die bedeckten Batterien beginnen ihr schreckliches Spiel. Wie der Blitz stürzt sich Sehdlitz mit der Reiterei auf den Feind. Zugleich rückt das Fußvolk im Sturmschritt vor. Die Franzosen halten mir em dreimaliges Feuern aus; Verwirrung und Schrecken fährt in ihre Reihen; eilend wie ge­ scheuchtes Wild suchen sie ihr Heil in wilder Flucht. Ein paar Dragoner nahmen hundert Franzosen gefangen. Manche von den Flüchtigen sehen sich nicht eher um, bis sie die Fluthen des Rheins rauschen hören. Noch nicht anderthalb Stunden hatte die Schlacht gedauert, und den Preußen kostete der fröhliche Sieg nur 91 Todte. Ihr Ruhm drang durch ganz Europa. Ueberall sang man:

Und wenn der große Friedrich kommt Und klopft nur auf die Hosen, So läuft die ganze Reichsarmee, Panduren und Franzosen.

Lükttingdaus

70. Aus dem Leben Friedrichs des Großen. Friedrich der Große hat noch 23 Jahre nach dem Frieden von Huberts­ burg regiert und diese Zeit recht eigentlich dazu angewendet, die Wunden zu heilen, die der siebenjährige Krieg seinem Lande geschlagen. Nach weisen Grund­ sätzen ordnete er den Haushalt des Staates und mit weiser Sparsamkeit auch

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den eignen Haushalt. Mehr als 24 Millionen Thaler betragen die Geschenke, die er den Provinzen und einzelnen Personen aus seiner Privatkaffe gespendet. Jedes nützliche Unternehmen fand bei ihm Unterstützung; aber Anlagen, die er für verderblich hielt, hat er niemals gefördert. Einem Kaufmann in Ber­ lin, der zu einer Arrak- und Rumfabrik Unterstützung begehrte, gab er die Antwort: „Ich werde mich hüten, für solche Dinge Geld zu geben; ich wollte, daß das abscheuliche Zeug nicht in der Welt wäre!" An Tadlern und Verleumdern hat eS dem Könige auch nicht gefehlt, und vor allen verstand es ein Franzose, den er mit Wohlthaten und Gnadenbezeu­ gungen überhäufte, der witzige, aber unwürdige Voltaire, sein Privatleben zu verunglimpfen. Hat er irgend worin gefehlt, so war's, daß er den leichtferti­ gen Franzosen höher stellte, als die gediegensten Männer seines Volkes. Was er sonst menschlich gefehlt, das hat er im Leben auch gebüßt; darum nichts weiter von seinen Irrthümern uüd Fehlern, sondern lieber noch einige Züge, in denen seine liebenswürdigen Seiten hervortreten. Zuerst von seiner Herablassung und Freundlichkeit auch gegen den Gering­ sten. Einmal, als auf der Reise die Pferde gewechselt wurden, drängte sich ein Mütterchen dicht an den Wagen des Königs. „Was wollt ihr?" fragte der König sehr gnädig. „Nur ihr Angesicht sehen und nichts weiter," erwi­ derte die Alte. Der König nahm einige FriedrichSd'or und sagte: „Seht, liebe Frau, auf diesen Dingern da stehe ich viel besser; da könnt ihr mich an­ sehen, so lange ihr wollt; jetzt habe ich nicht Zeit, mich länger ansehen zu lassen." Wenn er in Berlin vom Schlosse aus die breite Straße hinunter ritt, sammelten sich die Knaben in ganzen Schaaren um sein Pferd herum, und wem eS gelang, den Steigbügel zu fassen, der war für den Tag und die ganze folgende Woche ein glücklicher Mensch. Er litt es nicht, daß man die Jungen auseinander trieb; aber die Wache am köllnischen Rathhause hatte schon die Weisung, sie mit guter Manier zurückzuhalten. Als sie es einmal, es war ein Sonnabend Nachmittag, zu arg trieben, hob der König drohend den Stock in die Höhe mit den Worten: „Werdet ihr in die Schule gehen, ihr Jungen!" „Seht doch," sagte darauf ein kecker Bube zu den andern, „seht nur, der will König sein und weiß nicht, daß Sonnabend Nachmittag keine Schule ist!" Der König soll herzlich gelacht haben, als man ihm den Einfall erzählte. Der König hatte es gern, daß man ihm freimüthig antwortete; wenn die Antwort nur treffend war, so nahm er auch ein dreistes Wort nicht übel. Einen Soldaten, der bei Kottin mehrere Hiebe über das Gesicht erhallen hatte, fragte er bei der Musterung: „In welcher Schenke hast du die Bierhiebe er* halten?" „Bei Kollin," war die Antwort, „wo Ew. Majestät die Zeche be­ zahlt haben." Diese Dreistigkeit durfte aber nicht in Unbescheidenheit auSarten, beson­ ders wenn von ernsthaften Dingen die Rede war. Ein junger Landrath hatte ihm gemeldet, es zeigten sich in seinem Kreise ganze Schaaren von Heuschrecken; daS wollte der König nicht glauben, und der Landrath schickte zum Beweise eine Schachtel mit lebendigen Heuschrecken, die beim Oeffnen der Schachtel lustig im Zimmer des Königs umhersprangen. Der König ließ es zwar gut sein; der Domänen-Kammer aber schrieb er, sie sollten nicht junge Leute zu Landräthen machen, sondern Leute von wenigstens 35 Jahren, erfahrene Offi­ ziere, die schon wüßten, was sich schicke, und wie sie ihrem Könige begegnen müßten. Verdienstvollen Generalen hielt er schon eher etwas zu gute. Dem Ge­ neral Seydlitz, dessen Reiterei die Schlacht bei Roßbach vornehmlich entschieden hatte, sagte er einst bei der Revue: „Mein lieber Seydlitz, ich dächte, Sein Dielih und Heinrichs, deutsche- Lesebuch. 15

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Regiment ritte viel länger in den Bügeln, als meine übrige Reiterei." „Ihro Majestät," erwiderte Seydlitz, „das Regiment reitet heute noch so wie bei Roßbach," und der König vermied es, ferner Bemerkungen zu machen, die den General hätten kränken können. Geistesgegenwart und Muth besaß Friedrich, wie wenige Menschen. In der Schlacht bei Kollin führte er selbst einen kleinen Haufen gegen eine öst­ reichische Batterie; die Leute flohen entmuthigt, sobald sie in den Bereich der feindlichen Kugeln gekommen waren; Friedrich bemerkte es nicht und ritt in Gedanken immer weiter. „Sire!" rief ihm ein Major zu, „wollen Sie denn die Batterie allein erobern?" Da bemerkte Friedrich erst seine mißliche Lage. Er hielt sein Pferd an, betrachtete die Batterie durch ein Fernglas und ritt dann langsam zu den Seinigen zurück. Einmal im Felde machte er einen Ritt gegen das östreichische Lager und kam dabei den feindlichen Borposten zu nahe. Da legte ein Pandur daS Ge­ wehr auf ihn an, und wenn er abdrückte, so hatte er dem siebenjährigen Kriege vor der Zeit ein Ende gemacht. Der König, der es bemerkte, hob den Stock mit einem drohenden „Du, du!" gegen den Panduren. DieS setzte diesen so in Verwirrung, daß er sein Gewehr senkte und den König ruhig davon rei­ ten ließ. Nach der Schlacht bei Leuthen ließ er sich fast mit Lebensgefahr nach Liffa leuchten und ritt in schwacher Begleitung gerade dem dortigen Schlosse zu. Das war aber noch voll östreichischer Offiziere. Sie kamen ihm mit brennen­ den Lichtern entgegen und hätten ihn unmittelbar nach dem schönsten Siege gefangen nehmen können. Er aber redete sie unbefangen an mit den Worten: „Guten Abend, meine Herren, Sie waren mich hier wohl nicht vermuthen? Kann man denn auch noch mit unterkommen?" Mit diesen Worten ging er furchtlos durch die feindlichen Offiziere hindurch, die nichts als ein ehrfurchts­ volles „Ah!" erwidern konnten. Bald darauf kamen mehrere Preußen und nahmen die Oestreicher sämmtlich gefangen. Gleiche Furchtlosigkeit verlangte er aber auch von seinen Offizieren. Ei­ nem seiner Pagen, von Pirch, den er sonst sehr liebte, und der im Vertrauen auf die Gunst seines Königs früher manchen Pagenstreich hatte auslaufen las­ sen, wurde bei der Belagerung von Schweidnitz das Pferd unter dem Leibe erschossen, und er selbst erhielt eine bedeutende Quetschung. Mit Geberden des Schmerzes wollte der Page davon eilen, als der König mit ernster Stimme ihm zurief: „Wo will Er hin? Will Er den Sattel wohl mitnehmen!" Der Page mußte den Sattel abschnallen und mitnehmen und durfte sich an die Kugeln nicht kehren, die ihn wie den König umsausten. Die Klagen seiner Unterthanen, besonders der Bauern und überhaupt der­ jenigen, die man sehr unpassend „gemeine Leute" nennt, hörte er mit großer Geduld an, prüfte ihre Beschwerden oder ließ sie durch seine Behörden genau untersuchen. Zu vielen Klagen gab die französische Regie Beranlaffung, d. i. die Verwaltung der Steuern von Kaffee, Taback und andern Waaren, wozu der König sich ein ganzes Heer französischer Beamten kommen ließ, weil er meinte, die Leute verstünden das so recht aus dem Grunde. DaS mag nun auch wohl gewesen sein; aber sie verstanden's auch, die Leute unnöthig zu placken und wußten keinen Unterschied zu machen, ob einer mit Absicht den König um die Steuer betrügen wollte, oder ob er blos aus Unwissenheit gefehlt hatte. Als der König einmal ausritt, stand eine ganze Menge von Leuten mit ihren Bittschriften umher und unter diesen auch ein Bauer aus Prelißen. Der König sagte ihnen: „Gebt eure Suppliken nur ab; ihr sollt alle Bescheid ha­ ben;" den Bauer aber fragte er besonders, was er denn wolle. „Ach, Ew. Majestät," sagte der Bauer, „ich wollte Sie bitten, daß Sie doch die Regie

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abschaffen mochten, die bringt uns alle ums Brot." „Warum nicht gar? Was hat euch denn die Regie gethan?" „Ew. Majestät, sie haben mir Wagen und Pferde genommen, weil ich Contrebande gefahren habe, und ich habe doch nichts davon gewußt." „Alter, ihr werdet eS wohl gewußt haben." „Wahr- und wahrhaftig nicht! Ich habe es ihnen auch gesagt; aber die Kerls nehmen keine Vernunft an." „Nun hört einmal, das ist nur dummes Zeug, daß ich die Regie abschaffen soll; daS versteht ihr nicht. Aber ich will eure Sache unter­ suchen lassen, und wenn's angeht, soll euch geholfen werden." Der König be­ fahl, dem armen Manne alles herauszugeben, und schrieb mit eigener Hand unter die Cabinets-Ordre: „Man muß den Kerl bald ruhig machen, sonst will er die Regie abgeschafst wiffen; wonach man sich zu achten hat." Ein besonderer Zug in dem Charakter Friedrichs des Großen war seine strenge Gerechtigkeitsliebe und seine unermüdete Sorgfalt für eine unparteiische Rechtspflege. Auf einer Reise nach Preußen fragte er den Präsidenten der pommerschen Regierung (so nannte man damals die Obergerichte), ob er auch Güter habe, und ob er sich nicht ankaufen wolle. Der Präsident erwiderte, daß er aus einer armen Familie sei und von seinem Vater nichts weiter als einen ehr­ lichen Namen geerbt habe. „Das ist gut," sagte der König, „da weiß Er, wie armen Leuten zu Muthe ist; beug' Er das Recht nicht." Allgemein bekannt ist die Geschichte der Windmühle bei Sans-Souci, die noch jetzt als ein Denkmal der Gerechtigkeit des großen Königs in nicht gar weiter Entfernung von dem königlichen Schlöffe steht. Der König hätte den Raum, den jene Windmühle einnahm, gar zu gern in die neuen Garten­ anlagen bei Sans-Souci hineingezogen; vielleicht war ihm auch das Geräusch der klappernden Mühle zuwider. So ließ er den Müller zu sich kommen und fragte ihn: „Wie theuer haltet ihr eure Mühle? Ich will sie euch abkaufen." ,,Ew. Majestät," erwiderte der Müller, „die Mühle ist mir nicht feil, sie ist ein Erbstück von meinem Vater und Großvater." „Aber," sagte der König, „ihr seht doch, daß ich die Mühle gern haben will, ich will euch drei Mal so viel geben, als sie werth ist," und damit that er ein Gebot, das einen Andern schon gereizt hätte. Aber der Müller blieb dabei, die Mühle sei ihm nicht feil, sie sei ein Erbstück vom Vater und Großvater. Da wurde der König doch etwas unwillig und fragte: „Wißt ihr denn wohl, daß ich euch die Mühle auch wider euren Willen nehmen kann? Ich lasse sie taxiren und gebe euch, was sie werth ist." „Ja," sagte der Müller ganz ruhig, „da müßte es in Berlin kein Kammergericht mehr geben." Der König entließ den Müller, zwar verstimmt über die Hartnäckigkeit, mit der ihm der Kauf der Mühle verweigert ward, im Herzen aber doch erfreut, daß der Müller zu dem Kammergericht ein so gutes Vertrauen hatte. Eine besondere Langmuth bewies der König gegen die Schmähungen übel­ wollender Menschen; auf Schmähschriften, die gegen ihn erschienen, hat er niemals geachtet, und es ist keiner deshalb jemals bestraft worden. Gegen einen Bürger einer kleinen Stadt war angezeigt worden, daß er auf Gott, den König und den Magistrat des Ortes geschmäht habe. Da ant­ wortete der König: „Daß der Mensch Gott schmäht, ist ein Zeichen, daß er ihn nicht kennt; daß er mich geschmäht hat, daS verzeihe ich ihm; daß er aber den hochedeln Magistrat geschimpft hat, dafür soll er. auf einen Tag nach Spandau." Zur Zeit der Kaffee-Regie ritt er einmal, blos von einem Heiducken be­ gleitet, die Jägerstraße hinab und fand an dem sogenannten Fürstenhause einen Auflauf. „Was giebt es denn?" fragte er den Heiducken. „Sieh doch, was die Leute dort haben." Es war ein Spottbild auf Friedrich und die Kaffee15*

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Regie. „Laßt das Ding doch niedriger hängen," sagte der König, „die Leute müssen sich ja sonst die Hälse ausrecken." Ein lauter Jubel folgte dem Kö­ nige, als er langsam davonritt; die Leute aber rissen das Spottbild herunter und vernichteten es in gerechtem Unwillen.

O. Schulz

71. Die eonfiscirten Batzen. (Erzählung eines thüringiscken Eandidaten.)

Als ich zum ersten Mal im Jahre 1766 nach Berlin kam, wurden mir bei Visitirung meiner Sachen auf dem Packhofe 400 Reichsthaler in Nürn­ berger Batzen genommen. Der König, sagte man mir, hätte schon etliche Jahre die Batzen ganz und gar verschlagen lassen; sie sollten in seinem Lande nichts gelten, und ich wäre so kühn und brächte die Batzen hieher, in die kö­ nigliche Residenz. „Auf den Packhof! Contrebande! Contrebande!" Das war ein schöner Willkommen! Ich entschuldigte mich mit der Unwissenheit, käme aus Thüringen, viele Meilen Weges her, hätte mithin ja unmöglich wiffen können, was Seine Majestät in Dero Ländern verbieten fassen. „DaS ist keine Entschuldigung," hub der Packhofs-Jnspector an; „wenn man in eine solche Residenz reisen und daselbst verbleiben will, so muß man sich nach allem genau erkundigen und wiffen, was für Geldsorten im Schwünge gehen, damit man nicht durch Einbringung verrufener Münze Gefahr laufe." „Aber, was soll ich denn anfangen? Sie nehmen mir ja sogar unschuldig die Gelder weg! Wie und wovon soll ich denn leben?" „Da muß Er zusehen, und ich will Ihn sogleich bedeuten; wenn die Sachen auf dem Packhofe visitirt worden, so müssen solche von der Stelle geschafft werden." Es wurde ein Schiebkärner herbeige­ rufen, meine Effecten fortzufahren; dieser brachte mich in die Jüdenstraße, in den weißen Schwan, warf meine Sachen ab und forderte vier Groschen Lohn. Die hatte ich nicht. Der Wirth kam herbei, und als er sah, daß ich ein gemachtes Federbett, einen Koffer voll Wäsche, einen Sack voll Bücher und andere Kleinigkeiten hatte, so bezahlte er den Träger und wies mir eine kleine Stube im Hofe an; da könne ich wohnen, Essen und Trinken wolle er mir geben. Und so lebte ich denn in diesem Gasthofe acht Wochen lang ohne einen blutigen Heller, in lauter Furcht und Angst. In dem weißen Schwan span­ nen Fuhrleute aus und logiren da, und so kam denn öfters ein Advocat da­ hin und hatte sein Werk mit den Fuhrleuten; mit diesem wurde ich bekannt und klagte ihm meine Fata. Er verpflichtete sich, meine Gelder wieder herbei xu schaffen, und ich versprach ihn: für seine Bemühung einen LouiSd'or. Den Augenblick mußte ich mit ihm fortgehen, und so kamen wir in ein großes Haus; da ließ er durch einen Bedienten sich anmelden, und wir kamen in continenti vor den Minister. Der Advocat trug die Sache vor und sagte unter anderm: „Wahr ist es, daß der König die Batzen ganz und gar hat verschlagen lassen; sie sollen in seinem Lande nicht gelten; aber das weiß der Fremde nicht. Ohnehin extendirt sich das Edict nicht so weit, daß man den Leuten ihre Batzen wegnehmen soll." Hierauf fing der Minister an zu reden: „Monsieur, seid ihr der Mann, der meines Königs Mandate durchlöchern will? Ich höre, ihr habt Lust auf die Hausvogtei? Siebet weiter, ihr sollt zu der Ehre gelangen." Was thut mein Advocat? Er submittirte sich und ging zum Tempel hinaus«; ich hinter ihm her, und als ich auf die Straße kam, war er über alle Berge; und so hatte er denn meine Sache ausgemacht bis auf die streitigen Punkte. Endlich wurde mir der Rath gegeben, den König supplicando anzutreten, das Memorial aber muffe ganz kurz, gleichwohl aber die contenta darinnen sein. Ich concipirte eins, mundirte es und ging damit mit dem Aufschluß

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deS Thores, ohne nur einen Pfennig Geld in der Tasche zu haben, in Gottes Namen nach Potsdam, und da war ich auch so glücklich, sogleich den König zum ersten Male zu sehen. Er war auf dem Schloßplatz beim Exereiren sei­ ner Soldaten. Als dieses vorbei war, ging er in den Garten; vier Offiziere aber blieben auf dem Platze und spazierten auf und nieder. Ich wußte vor Angst nicht, waö ich machen sollte, und holte die Papiere aus der Tasche. DaS war das Memorial, zwei Testimonia und ein gedruckter thüringischer Paß. DaS sahen die Offiziere, kamen gerade auf mich zu und fragten, was ich da für Briefe hätte. Ich communicirte solche willig und. gern. Da sie gelesen hatten, so sagten sie: „Wir wollen Ihm einen guten Rath geben. Der König ist heute extra gnädig und ganz allein in den Garten gegangen. Gehe Er ihm auf dem Fuße nach; Er wird glücklich sein." Das wollte ich nicht, die Ehrfurcht war zu groß; da griffen sie zu. Einer nahm mich beim rechten, der Andere beim linken Arm. „Fort, fort in den Garten!" Als wir nun dahin kamen, so suchten sie den König auf. Er war bei einem Gewächse mit den Gärtnern, bückte sich und hatte uns den Rücken zugewendet. Hier mußte ich stehen, und die Offiziere fingen an in der Stille zu commandiren: „Den Hut unter den linken Arm! Den rechten Fuß vor! Die Brust heraus! Den Kopf in die Höhe! Die Briefe aus der Tasche! Mit der rechten Hand hoch schalten! Sv steht!" Sie gingen fort und sahen sich immer um, ob ich auch o würde stehen bleiben. Ich merkte wohl, daß sie beliebten, ihren Spaß mit mir zu treiben, stand aber wie eine Mauer, voller Furcht. Die Offiziere wa­ ren kaum aus dem Garten hinaus, so richtete sich der König auf und sah die Maschine • in ungewöhnlicher Positur dastehen. Er that einen Blick auf mich; eS war, als wenn mich die Sonne durchstrahlte; er schickte einen Gärt­ ner, die Briefe abzuholen, und als er solche in die Hände bekam, ging er in einen andern Gang, wo ich ihn nicht sehen konnte. Kurz darauf kam er wie­ der zurück zu dem Gewächse, hatte die Papiere in der linken Hand aufßeschlagen und winkte damit, näher zu kommen. Ich hatte das Herz und ging ge­ rade auf ihn zu. O wie allerhuldreichst redete mich der große Monarch an: „Lieber Thüringer! Er hat zu Berlin durch fleißiges Informiren der Kinder daS Brot gesucht, und sie haben Ihm beim Visitiren der Sachen auf dem Packhof sein mitgebrachteS thüringer Brot weggenommen. Wahr ist es, die Batzen sollen in meinem Lande nichts gelten; aber man hätte auf dem Packhofe sagen sollen: Ihr seid ein Fremder und wiffet daS Verbot nicht. Wohlan, wir wollen den Beutel mit den Batzen versiegeln; gebt solche wieder zurück nach Thüringen und lasset euch andre Sorten schicken, aber nicht wegnehmen. Gebe Er sich zufrieden, Er soll sein Geld cum Interesse zurückerhalten. Aber, lieber Mann, Berlin ist schon ein heißes Pflaster; sie verschenken da nichts; Er ist ein fremder Mensch; ehe Er bekannt wird und Information bekommt, so ist daS Bischen Geld verzehrt, was dann?" Ich verstand die Sprache recht gut; die Ehrfurcht war aber zu groß, als daß ich hätte sagen können: „Ew. Majestät haben die allerhöchste Gnade und versorgen mich." Weil ich aber so einfältig war und um nichts bat, so wollte er mir auch nichts anbieten. Und so ging er denn von mir weg, war aber kaum sechs bis acht Schritte ge­ gangen, so sah er sich nach mir um und gab ein Zeichen, daß ich mit ihm gehen solle. Der König fragte mich nun, wo ich studirt, und welche Professo­ ren ich gehört habe; auch noch andere Fragen that er an mich, die ich ihm beantworten mußte. Jetzt schlug die Glocke Eins. „Nun muß ich fort," sagte der König, „sie warten auf die Suppe." Und da wir ans dem Garten ka­ men, waren die vier Offiziere noch gegenwärtig und auf dem Schloßplätze; die gingen mit dem Könige ins Schloß hinein, und kam keiner wieder zurück. Ich blieb auf dem Schloßplätze stehen, hatte in 27 Stunden nichts genossen, nicht

einen Dreier in der Tasche zu Brote und war in einer vehementen Hitze vier Meilen im Sande gewatet. Da war's wohl eine Kunst, das Heulen zu ver­ beißen. In dieser Bangigkeit meines Herzens kam ein Kammerhusar aus dem Schlosse und fragte: „Wo ist der Mann, der mit meinem Könige in dem Garten gewesen?" Ich antwortete: „Hier!" Dieser führte mich ins Schloß, in ein großes Gemach, wo Pagen, Lakaien und Husaren waren. Der Husar brachte mich an einen kleinen Tisch, der war gedeckt und stand darauf eine Suppe, ein Gericht Rindfleisch, eine Portion Karpfen mit Gartensalat; Brot, Messer, Gabel,. Löffel und Salz war alles da. Der Husar präsentirte mir einen Stuhl und sagte: „Die Speisen, die hier auf dem Tische stehen, hat Ihm der König auftragen lasten und befohlen, Er soll sich satt essen, sich an niemand kehren, und ich soll serviren. Nun also frisch daran!" Ich war sehr betreten und wußte nicht, was zu thun sei; am wenigsten wollte mir's in den Sinn, daß des Königs Kammerhusar auch mich bedienen sollte. Ich nöthigte ihn, sich zu mir zu setzen; als er sich weigerte, that ich, wie er gesagt hatte, und ging frisch daran, nahm den Lössel und fuhr tapfer ein. Der Husar nahm das Fleisch vom Tische und setzte es auf die Kohlenpfanne; eben so continuirte er mit Fleisch und Braten und schenkte Wein und Bier ein. Ich aß und trank mich recht satt. Den Confect, dito einen Teller voll großer, schwar­ zer Kirschen und einen Teller voll Birnen packte mein Bedienter ins Papier und steckte mir solche in die Tasche, auf dem Rückwege eine Erfrischung zu haben. Und so stand ich denn von meiner königlichen Tafel auf, dankte Gott und dem Könige von Herzen, daß ich so herrlich gespeiset worden. Der Husar räumte auf. Den Augenblick darauf tritt ein Sekretarius herein und brachte ein verschlostenes Rescript an den Packhof nebst meinen Testimoniis und dem Passe zurück, zählte auf den Tisch fünf Schwanzducaten und einen FriedrichSd'or: „Das schicke mir der König, daß ich wieder nach Berlin kommen könne." Hatte mich nun der Husar ins Schloß hineingeführt, so brachte mich der Se­ kretarius wieder bis vor daS Schloß hinaus. Und da hielt ein königlicher Proviantwagen mit sechs Pferden bespannt; zu dem brachte er mich und sagte: „Ihr Leute, der König hat befohlen, ihr sollt diesen Fremden mit nach Berlin fahren, aber kein Trinkgeld von ihm nehmen." Ich ließ mich durch den Sekretarium noch einmal unterthänigst bedanken für alle königliche Gnade, setzte mich auf und fuhr davon. Als wir nach Berlin kamen, ging ich sogleich auf den Packhof gerade in die Expeditionsstube und überreichte das'königliche Rescript. Der Oberste er­ brach eS; bei Lesung destelben verfärbte er sich bald bleich, bald roth, schwieg still und gab es dem Zweiten. Dieser nahm eine Prise Schrmpftaback, räu­ sperte und schnäuzte sich, setzte eine Brille auf, laS eS, schwieg still und Hab es weiter. Der Letzte endlich regte sich, ich sollte näher kommen und eine Quittung schreiben, daß ich für meine 400 Reichsthaler ganze Batzen so viel an brandenburger Münzsorten ohne den mindesten Abzug erhalten. Meine Summe wurde mir sogleich richtig zugezählt. Darauf wurde der Schaffner gerufen mit der Ordre, er solle mit mir auf die Iüdenstraße in den weißen Schwan gehen und bezahlen, was ich schuldig wäre und verzehrt hätte. Dazu gaben sie ihm 24 Reichsthaler, und wenn das nicht zureiche, solle er kommen und mehr holen. Das war es, das der König sagte: „Er soll seine Gelder cum Interesse wieder bekommen," daß der Packhof meine Schulden bezahlen mußte. Es waren aber nur 10 Thaler 4 Groschen 6 Pfennig, die ich in acht Wochen verzehrt hatte; und so hatte denn die betrübte Historie ihr erwünschtes Ende.

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72. Der Choral von Leuthen. Gesiegt hat Friedrichs kleine Schaar. Rasch über Berg und Thal Von dannen zog das Kaiserheer im Abendsonnenstrahl; Die Preußen stehn auf Leuthens Feld, das heiß noch von der Schlacht, Des TageS Schreckenswerke rings umschleiert mild die Nacht. Doch dunkel ist's hier unten nur, am Himmel Licht an Licht, Die aoldnen Sterne ziehn herauf wie Sand am Meer so dicht; Sie strahlen so besonders heut, so festlich hehr ihr Lauf, Es ist, als wollten sagen sie: Ihr Sieger, blicket auf! Und nicht umsonst. Der Preuße fühlt's: es war ein großer Tag. Drum still im ganzen Lager ist's, nicht Jubel noch Gelag, So still, so ernst die Krieger all', kein Lachen und kein Spott; Auf einmal tönt es durch die Nacht: Nun danket alle Gott!

Der Alte, dem'S mit Macht entquoll, singt's fort, doch nicht allein, Kam'raden um ihn her im Kreis, gleich stimmen sie mit ein, Die Nachbarn treten zu, es wächst lawinengleich der Chor, Und voller, immer voller steigt der Lobgesang empor.

Aus allen Zelten strömt's, es reiht sich singend Schaar an Schaar, Einfällen jetzt die Jäger, jetzt fällt ein and) der Husar. Auch Musika will feiern nicht; zu reiner Harmonie Lenkt Horn, Hobo' und Klariuett die heil'ge Melodie. Und stärker noch und lauter noch, es schwillt der Strom zum Meer, Am Ende, wie aus einem Mund, singt rings das ganze Heer; Im Echo donnernd wiederhallt's das aufgeweckte Thal, Wie hundert Orgeln braust hinan zum Himmel der Choral. Vesser.

73. Zorndorf. Ist der alte Fritz geritten Weit von Olmütz her in Mähren, Neben ihm der alte Zielen Fragte, wo die Rusten wären.

Als der alte Fritz gekommen, Tief betrübt in seinem Muthe, Hat das ganze Land geschwommen Nur in Thränen, nur im Blüte.

Fritz hat selber fast geweinet, Brauchte gar nicht lang' zu fragen, Roch den Brand auf hundert Meilen, Der doch sonst nicht weichlich eben; Und die Reiter ha'n gemeinet: Hülferufen, Jammer, Klagen: Hier wird kein Pardon gegeben. Alter Fritz, du mußt dich eilen! Saht ja selber die Kosaken Jüngster Tage noch im Lande, Auf den Kleppern hohe Packen, Eine wahre Räuberbande.

Aschenhaufen, Schutt und Leichen, Todte Mütter, nackte Kinder: „Auf, die Russen zu erreichen, Nur geschwinder, nur geschwinder!"

Weil sie da als Freunde kamen, Ließ es eher sich verpaffen, Wenn sie manches mit sich nahmen, Denn sie können's halt nicht lasten.

Wie der Herr in seinem Zorne Ist bei Zorndorf angekommen, Hat er gleich den Feind von vorne Und im Rücken vorgenommen»

Doch wie Fermor bei Küstrin Vorn mit Seydlitz' Kürassieren, ES mit Mord und Brand thät treiben, Da ward kein Pardon gegeben; Dieses ist mir nicht verliehn, Hinten mit den Kanonieren, Und die ließen auch nicht leben. Es gehörig zu beschreiben.

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Hei, das gab ein Hufenstampfen, Hei, das gab ein Kugelschwirren, Hei, das gab ein Pulverdampfen, Schwerterblitzen, Panzerklirren!

Er, so reich an Ehrensiegen, Sieht, der Weise, Große, Milde, Ueberwundne vor sich liegen Mehr nach Thier als Gottes Bilde.

Endlich muß das Würgen enden; Was nicht todt ist, ist entlaufen, Dort nur mit gebundenen Händen Noch ein paar Kosakenhaufen.

Lange blickt er auf die Strolchen, Und dann hörte man ihn sagen: „Seh' er, Wedel, nur mit solchen Lumpenkerl'n muß ich mich schlagen/

Heulend, zitternd, weinend wühlen Sie im Staube vor dem Helden; Was der König mochte fühlen, Mögen andre Sänger melden.

Und dann wandte er die blauen Augen' zu den Märker Bauern: „Ich will alles wieder bauen, Kinder, höret auf zu trauern!" Minding.

74. Die Schlacht bei Kunersdorf. Das Jahr 1759 war für Friedrich II. ein unglückliches. Die Franzosen wurden zwar vom Herzoge von Braunschweig bei Minden und Crefeld geschla­ gen: Friedrich selbst verlor aber eine große Schlacht gegen die Oestreicher und Russen. Diese halten sich vereinigt und standen, 70,000 Mann stark, bei Ku­ nersdorf unweit Frankfurt an der Oder auf fest verschanzten Anhöhen. Mit einem viel geringeren Heere wagte Friedrich den Angriff. Zuerst warf er sich auf den linken Flügel der Russen. Furchtbar werden seine Krieger empfangen, reihenweise streckt sie das russische Geschütz nieder; dennoch trägt die preußische Tapferkeit hier den Sieg davon. Allein noch stand der rechte russische Flügel unerschüttert, und noch waren die Oestreicher gar nicht zum Kampfe gekommen. Friedrich erneuert den Angriff trotz der Gegenvorstellungen seiner Generale, trotz der Müdigkeit seiner Truppen, aber er findet den heftigsten Widerstand, und der Sieg geht in völlige Niederlage, in grauenvolle Flucht über. Der König setzt sich den größten Gefahren aus. Seine Uniform wird von Kugeln durch­ bohrt, zwei Pferde werden ihm unter dem Leibe erschossen, eine Kugel zerschmet­ tert seine goldene SchnupftabackSdose in der Westentasche. Mit Gewalt muß man ihn vom Schlachtfelde reißen. „Alles ist verloren, reiten Sie die könig­ liche Familie!" schrieb er gleich nachher an seinen Minister von Finkenstein; und einige Stunden später: „Ich werde des Vaterlandes Sturz nicht überleben; Gott befohlen auf immer!" Er war auch in der That in einer verzweiflungs­ vollen Lage. Nur 5000 Mann sammelten sich am andern Morgen um feine Fahnen; sämmtliches Geschütz war verloren. Doch auch die Feinde hatten schrecklich gelitten, sodaß der russische Feldherr sagte: „Wenn ich nochmals eine solche Schlacht gewinne, so werde ich mit einem Stabe in der Hand die SiegeSnachricht allein nach Petersburg bringen müssen!" Lürrringha«s.

75. Die Schlacht bei Torgau. Daun hatte seine ganze Macht zusammengezogen und sich in ein sehr festes Lager bei Torgau gelegt. Friedrich II. wollte ihn daraus vertreiben, es mochte kosten, was es wolle. Am 3. November Nachmittags griff er mit seinen Grenadierenßdie furchtbaren Verschanzungen an, während Zielen den Feind umgina, um ihm in den Rücken zu fallen. Furchtbar werden die Preußen von den Oestreichern empfangen. Reihenweise, wie sie vordringen, werden sie niedergeschmet­ tert und liegen noch im Tode geordnet. Der König selbst gesteht, daß er ein fff entsetzliches Krachen nie erlebt habe. Er hält mitten im grausen Getümmel, im dichtesten Kugelregen. Bon der aufgewühlten Erde ist sein Pferd in steter

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Bewegung. Jetzt schlägt eine Kanonenkugel dicht bei ihm durch die Trommel eines Tambours. Das Pferd eines Trompeters wird scheu und geht mit ihm durch. „Sag' den Oestreichern," ruft Friedrich ihm lachend nach, „sie sollen bald aufhören zu schießen, sonst nehme ich ihnen die Kanonen weg." Der kurze Novembertag ist zu Ende; er hat nichts entschieden. Die rabenschwarze Nacht bricht herein; aber sie bringt keinen Frieden. Hier irrt ein Trupp Oestreicher umher; sie gerathen den Preußen in die Hände und werden gefangen. Dort geht es einer Abtheilung Preußen nicht besser. Freunde schießen auf Freunde,

bis sie endlich sogar in der Dunkelheit einander erkennen. Jetzt brennen zahl­ reiche Feuer in dem Torgauer Walde. Freund und Feind folgt dem locken­ de» Scheine, um der empfindlichen Kälte bei dem wärmmden Feuer iu entge­ hen. Niemand denkt daran, den Andern zu vertreiben; die gemeinschaftliche Noth macht sie alle einig. Da niemand weiß, wer die Schlacht gewonnen hat, so kommen sie mit einander überein, sich am Morgen dem Sieger zu übergeben. Schrecklich ist der Zustand der Verwundeten. Die Nässe dringt ihnen durch die Kleider, und der Frost schüttelt ihnen die zerschmetterten Glieder. Unmenschen aus der Umgegend erscheinen, um das Elend der Unglücklichen noch zu vermehren; gierigen Raubthieren gleich, durchsuchen sie daS Schlachtfeld nach Bente. Da hilft kein Angstgeschrei, kein Stöhnen, kein Flehen um Erbarmen. Die hülslosen Unglücklichen werden ihres letzten Kleidungsstückes beraubt und sinken vor Kälte deni Tode in den Arm. Während der Nacht sitzt der König auf den Stufen des Altars in der Kirche des Dorfes Elsnig. Der Kern sei­ ner Truppen liegt auf vem Schlachtfelde; die meisten Anführer sind gefallen. Sein Herr ist vor Kummer gebeugt. Als endlich der Morgen graut, besteigt er das Pferd und reitet zum Dorfe hinaus. Da taucht eine Anzahl Reiter in weißen Mänteln aus den grauen Nebeln auf und kommt ihm entgegen. Es ist Zieten mit seinen Husaren. Er sprengt auf den König zu: „Ew. Majestät, der Feind ist geschlagen!" In demselben Augenblicke stürzen beide vom Pferde, und der König liegt in ZietenS Armen. Der graue Feldherr, feister Gefühle nicht »lehr mächtig, weint wie ein Kind laut auf und kann kein Wort weiter hervorbringen. Als er sich endlich wieder gefaßt, sprengt er zu den Kriegern zurück und ruft: „Burschen, der Feind ist völlig geschlagen. ES lebe unser gro­ ßer König!" Und alle stimmen jubelndem: „ES lebe unser großer König! Aber unser Vater Zieten, unser Husarenlönig, auch!" Diese furchtbare Schlacht, nächst Zorndorf die blutigste deS ganzen Krieges, war auch zugleich die letzte. Noch zwei Jahre schleppte sich der Krieg zwar hin, brachte aber, wenn auch noch viel Leiden, doch keine große Thaten mehr. End­ lich machte im Jahre 1763 der HubertSburger Friede den Drangsalen deS sieben­ jährigen Blutvergießens ein Ende. Friedrich behielt, was er verlangte, Schlesien. Nach Henning.

76. Der alte Zieten. Joachim HanS von Zieten, Husaren-General, Dem Feind die Stirne bieten That' er wohl hundertmal. Sie haben's all' erfahren, Wie er die Pelze wusch Mit seinen Leibhusaren, Der Zieten aus dem Busch. Hei! wie den Feind sie bläuten Bei Lowofitz und Prag,

Bei Roßbach und bei Leuchen Und weiter Schlag auf Schlag! Bei Torgau — Tag der Ehre! — Ritt selbst der Fritz nach Haus; Doch Zieten sprach: „Ich kehre Erst noch daS Schlachtfeld aus!" Sie stritten nie alleine, Der Zieten und der Fritz; Der Donner war der eine, Der andre war der Blitz.

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ES wieS sich keiner träge; Drum schlug'S auch immer ein, Ob kalt', ob warme Schläge, Sie Pflegten gut zu sein.

Ein Höfling wollt' ihn wecken. Der König aber rief: „Laßt schlafen mir den Alten! Er hat in mancher Nacht Für unS sich brav gehalten; Der hat genug gewacht."

Der Friede war geschloffen; Doch Kriegeslust und Qual Ward von den Schlachtgenossen Durchlebt noch manches Mal. Wie Marschall Daun gezaudert Und Fritz und Zieten nie, ES ward jetzt durchgeplaudert Bei Tisch in Sanösouci.

Und als die Zeit erfüllet Des alten Helden war, Lag einst, schlicht eingebüllet, HanS Zieten, der Husar. Wie selber er genommen Die Feinde stets im Husch, Einst möcht' eS ihm nicht schmecken, So war der Tod gekommen, Ein Zieten aus dem Busch. Der alte Aieten schlief; Soutane.

77. Zielen. Der große König wollte gern sehn, Was seine Gen'rale wüßten; Da ließ er an alle Briefe ergehn, Daß sie gleich ihm schreiben müßten, Was jeder von ihnen zn thnn gedenkt. Wenn der Feind ihn so oder so bedrängt.

„Zum Schwerenoth, Zieten, ist er toll? Was soll ich vom Wische da halten?" Den Bart streicht sich Zieten: „Da­ ist bald erklärt, Wenn En'r Majestät mir Gehör ge­ währt.

Der Vater Zieten, der alte Husar, Besah verwundert den Zettel. „Der König hält mich zum Narren wohl gar," So stacht er, „waS soll mir der Bettel? Husar, daS bin ich, potz Element! Kein Schreiber oder verpfuschter Stu» dent."

Der große Klex in der Mitte bin ich, Der Feind einer dort von den vieren. Der kann nun von vor« oder hinten auf mich, Bon rechts oder link- auch marschiren. Dann rück' ich auf einem der Striche vor Und hau' ihn, wo ich ihn treffe, aufs Ohr."

Da macht' er auf einem Bogm Papier Einen großen Klex in der Mitten, Rechts, oben, links, unten dann Linien vier, Die all' in dem Klexe sich schnitten, Und jede endete auch in ’nem Klex. So schickt er den Bogen dem alten Rex.

Da hat der König laut aufgelacht Und bei sich selber gemeinet: „Der Zieten ist klüger, al- ich e- ge­ dacht. Sein Geschmier sagt mehr, al- e- schei­ net. DaS ist mir der beste ReiterSmami, Der den Feind schlägt, wo er auch rücket Der schüttelt den Kopf gedankenvoll, an." Fragt bei der Revue dann den Lilien: Salla.

78. Gerechtigkeitsliebe Joseph'ö II. Einst herrschte in Böhmen große Theuerung, so daß viele Einwohner dem bittersten Mangel auSgesetzt waren und nicht Brot genug hatten, um ihren Hunger zu stillen. Aber Joseph II., der edle Menschenfreund, war Kaiser, und er ließ Korn und andere Leben-mittel in großen Massen nach jenem Lande schaf­ fen, reiste auch selbst dahin ab, um zu sehen, ob wohl die Vertheilung so ge­ schähe, wie er sie angeordnet hatte. Ohne sich kenntlich zu machen, kam er in eine kleine Stadt. Hier standen mehrere mit Getreide beladene Wagen und Karren vor der Thür eines AmtshauseS; die Bauern aber, denen die Wage«

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gehörten, standen dicht beisammen imi) sprachen heftig mit einander. Als sich Joseph nach der Ursache erkundigte, antworteten die Leute: „Wir warten schon sehr lange und haben noch einen Rückweg von acht Stunden zu machen." „Da­ ist die Wahrheit," setzte der anwesende Amtsschreiber hinzu, „und außer ihnen warten noch die Einwohner des Orts schon feit mehreren Stunden vergeblich auf die Bertheilung des Getreides." Der Kaiser, welcher mit einem einfachen Oberrock bekleidet war, trat nun in daS Haus und ließ sich durch den Amtsschreiber bei dem Amtnianne, welcher eben große Gesellschaft hatte, melden. „Wer sind Sie?" fragte der Amtmann. „Officier in kaiserlichen Diensten," war die Antwort. „Womit kann ich dienen?" „Damit, daß Sie die armen Leute unten abfertigen, die schon so lange warten." „Die Bauern können noch länger warten;'ich werde mich durch sie nicht in meinem Vergnügen stören lassen." „Aber die Leute haben noch einen weiten Weg zu machen und schon lange genug gewartet." „Was gehen Sie die Bauern an?" „Man muß menschlich sein und die Bauern nicht ohne Noth Plagen." „Ihre Sittenlehre ist hier am unrechten Orte; ich weiß, was ich zu thun habe." Länger ertrug der Kaiser die Grobheit und Hartherzigkeit de- Beamten nicht. „Nun, so muß ich Ihnen eröffnen," sagte er, „daß Sie da- Korn und die Austheilung desselben gar nichts mehr angeht. Hören Sie, lieber Freund," fuhr er fort., indem er sich zu dem Amisschreiber wendete, „fertigen Sie die Leute ab. Sie sind von jetzt ab Amtmann, und Sie" (hier kehrte er sich wie­ der zu dem Amtmann) „erkennen Sie in mir Ihren Kaiser, der Sie hiermit Ihres Amtes entsetzt." Damit entfernte sich Joseph und überließ den harther­ zigen Beamten dem Gefühl seiner Schmach und seine- selbstverschuldeten Un­ glücks. (Brubt.

79. Ein gute- Recept. In Wien der Kaiser Joseph war ein weiser und wohlthätiger Monarch, wie jedermann weiß; aber nicht alle Leute wissen, wie er einmal der Doetor gewesen ist und eine arme Frau curirt hat. Eine arme, kranke Frau sagte zu ihrem Büblein: „Kind, hol mir einen Doctor, sonst kann ich'- nimmer au-halten vor Schmerzen." Das Büblein lief zum ersten Doetor und zum zweiten, aber keiner wollte kommen; denn in Wien kostet ein Gang zu einem Patienten einen Gulden, und der arme Knabe hatte nichts als Thränen, die wohl im Himmel für gute Münze gelten, aber nicht bei allen Leuten auf der Erde. Als er aber zum dritten Doctor auf dem Wege war, fuhr langsam der Kaiser in einer offenen Kutsche an ihm vorbei. Der Knabe hielt ihn wohl für einen reichen Herrn, ob er gleich nicht wußte, daß eS der Kaiser war, und dachte: „Ich will'S probiren." „Gnädiger Herr," sagte er, „wolltet ihr mir nicht einen Gulden schenken? Seid so barmherzig!" Der Kaiser dachte: Der faßt's kurz und denkt, wenn ich den Gulden auf einmal bekomme, so brauch ich nicht sechzig­ mal um den Kreuzer zu betteln. „Thut'S ein Käsperlein oder zwei Vierund­ zwanziger nicht auch?" fragt ihn der Kaiser. DaS Büblein sagte: „Nein," und offenbarte ihm, wozu er das Geld benöthigt fei. Also gab ihm der Kaiser den Gulden und ließ sich genau von ihm beschreiben, wie seine Mutter heißt, und wo sie wohnt, und während das Büblein zum drittm Doctor springt, und die kranke Frau betet daheim, der liebe Gott wolle sie doch nicht verlasien,

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fährt der Kaiser zu ihrer Wohnung und verhüllt sich ein wenig in seinen Man­ tel, also daß man ihn nicht recht erkennen konnte, wer ihn nicht expreß darum ansah. Als er aber zu der kranken Frau in ihr Stüblein kam, und sah recht leer und betrübt darin aus, meint sie, eS ist der Doctor, und erzählt ihm ihren Umstand, und wie sie noch so arm dabei sei und sich nicht pflegen könne. Der Kaiser sagte: „Ich will euch jetzt ein Recept verschreiben," und sie sagte ihm, wo des Bübleins Schreibzeug ist. Also schrieb er das Recept und belehrte die Frau, in welche Apotheke sie eS schicken müsse, wenn daS Kind heim kommt, und legte es auf den Tisch. Als er aber kaum eine Minute fort war, kam der rechte Doctor auch. Die Frau verwunderte sich nicht wenig, als sie hörte, er sei auch der Doctor, und entschuldigte sich, eS sei schon so einer dagewesm und hab' ihr etwas verordnet, und sie habe nur auf ihr Büblein gewartet. Als aber der Doctor das Recept in die Hand nahm und sehen wollte, wer bei ihr gewesen sei, und waS für einen Trank oder Pillelein er ihr verordnet hat, erstaunte er auch nicht wenig und sagte zu ihr: „Frau, ihr seid einem guten Arzt in die Hände gefallen, denn er hat euch fünfundzwanzig Dublonen ver­ ordnet, beim Zahlami zu erheben, und unten dran steht Joseph, wenn ihr ihn kennt. Ein solches Magenpflaster und Herzsalbe und Augentrost hätte ich euch nicht verschreiben können." Da that die Frau einen Blick gegen den Himmel und konnte nichts sagen vor Dankbarkeit und Rührung, und daS Geld wurde hernach richtig und ohne Anstand von dem Zahlamt auSbezahlt, und der Doetor verordnete ihr eine Mixtur, und durch die gute Arznei und durch die gute Pflege, die sie sich jetzt verschaffen konnte, stand sie in wenig Tagen wieder auf (gesunden Beinen. Also hat der Doctor die kranke Frau curirt und der Kai­ er die arme. Hebel.

80. Der Staar. Wer in Baiern gewesen ist, als Max Joseph daS Land regierte, oder wer noch jetzt dahin kommt, der wird von diesem Könige vieles vernehmen, woran er sich freuen kann. Er war aber auch recht die Freude und der Hort seiner Unterthanen, und sie liebten ihn, wie Kinder ihren Vater lieben. Auch war er jedem zugänglich, und wer mit Thränen deS Kummers bei ihm eintrat, der tyn mit Thränen der Dankbarkeit von ihm heraus; denn auch wo er mit Tha­ ten nicht helfen konnte, half er mit tröstenden Worten, die von dem Munde eines Königs noch besser zu Herzen gehen, als von andern. Früh schon und eh' er hoffen konnte, irgend etwas zu regieren, galt er für den besten Mann im Lande und gewann die Herzen aller, die ihm nahe kamen. WaS aber gar oft geschieht, daß, wenn Stand, Macht und Reichthum wächst, das Herz sich zusammenzieht, und wenn der äußere Mensch sich erhebt, der innere niedersinkt, das widerfuhr dem guten Max Joseph nicht; sein Herz blieb, wie eS gewesen war, ehe die Krone sein Haupt schmückte, und der Strom menschlicher Gefühle ergoß sich bei ihm noch reicher als zuvor unter dem königlichen Purpurmantel. Daher war die Bestürzung des Volkes so groß, die Trauer so allgemein, als der König unerwartet eines Morgens in seinem Bette todt gefunden wurde. Einige Zeit nach seinem Tode wurde nebst vielen andern Dingen auch die Menagerie verkauft, die er in Nymphenburg gehalten hatte; viele seltne Thiere mannigfaltiger Art, auch überseeische LoriS, Papageien und deutsche Staare. Bon den letzter« war nur einer noch übrig, der letzte und von unscheinbarem Aeußern. Still und mit struppigem Gefieder saß er auf der Stange, als ob er sich noch über den Tod seines Herrn betrübte. Da nun der alte Vogel un­ ter den Hammer kam, bot niemand auf ihn, und nachdem ihn der Ausrufer drei- oder viermal angeboten hatte, und alles schwieg, wurde der Käfig mit dem

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Staate in eine Ecke bei Seite gesetzt und andere Dinge ausgerufen. Auf ein­ mal schallt eS aus der Ecke: „Max Joseph! Vater Max!" Alle Köpfe wendeten sich nun nach der Seite hin, woher der Ruf kam. „Wer ist's? Wer tust?" fragten viele, und da einer, der dem Käfig zunächst stand, sagte: „Es ist der Staat, der weggesetzt worden ist," da riefen alle wie aus einem Munde: „Den Staat, den Staat her!" So kam der unscheinbare Vogel.mit einem Male zu Ehren, weil es eben jedem vorkam, als habe die treue Liebe, die er selbst im Herzen hegte, durch den Vogel eine Stimme bekommen. Der Staat selbst aber, da alles um ihn her so lebendig wurde, und alle Anwesenden ihn liebkosten und lobten, wurde nun auch ganz munter und rief in einem fort: „Max Joseph, Vater Max!" nicht, wie man zu sagen pflegt, als ob er dafür bezahlt würde, sondern so recht aus vollem Herzen. Ta wollte nun jeder den beredt gewor­ denen Bogel haben, und die Gebote jagten und überstiegen sich, so daß wohl nie ein Staat so theuer bezahlt worden ist. Und der, welcher ihn endlich er­ hielt, meinte, einen Sieg gewonnen zu haben, und trug ihn im Triumphe nach Hause, und die Andern beneideten ihn. DaS war denn auch eine Leichenfeier von eigenthümlicher Art und gewiß keine der schlechtesten.

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81. Der Preuße in Lissabon. Ein Bürgersmann von echtem Schrot und Korn, Der tapfer noch im vor'gen Krieg, als Kolberg Sdaßctt ward, ein Greis, gestritten hat Und jetzt begraben liegt im kühlen Sande, Der alte, wohlbekannte Nettelbeck, War einst als eines Schiffes Capitän In Lissabon und in bedrängter Lage. Er wußte keine Ladung für sein Schiff Und sah bekümmert in die Zukunft wohl Und dachte trauernd an die lieben Sei­ nen Im fernen Preußenland. Geladen nun Zu einem Schmaus bei einem Portu­ giesen, Den kaum er kennt dem Namen nach, geht still Und düstren Sinns er seinen Weg. Am Markt Erblickt er plötzlich, und er glaubt zu träumen, Traut seinen Augen nicht, den perlenden, Und faßt sich bebend vor Erstaunen an, Erblickt er plötzlich groß vor einem Zelt In voller Pracht zwei preußische Sol­ daten. Zwei Grenadiere waren's, wie sie da­ mals Gekleidet gingen, majestätisch, steif; Der Zopf nicht fehlte; wie in Erz gegossen,

So standen die vor jenem Zelte da, Und auf dem Zelte weht die preuß'sche Flagge. Er denkt bei sich: die mußt du rasch begrüßen, Tritt auf sie zu, reicht ihnen froh die Hand Und sieht, daß es Wachspuppen sind, doch schön gebildet. „Ha!" ruft er aus, „wo solch ein Aus­ hängschild Gewählt ist worden, muß auch mehr noch stecken, Was eines Preußen Herz erlaben kann!" Und zahlt sein Eintrittsgeld und tritt hinein. Und tritt hinein und sieht, o welch Ent­ zücken ! Es war im Jahre siebzehnhundertachtzig, Und sieht auf einem Thron den alten Fritz, Zum Sprechen ähnlich. Und die Sie­ gesgöttin Und die Gerechtigkeit umschweben ihn. Ringsum geschaart stehn viele Portu­ giesen Und horchen staunend mit bewegtem AntDen Thaten jenes göttlichen Monarchen, Die ein begeisterter Rhapsode singt. Gar tief ergriffen scheint der ganze Kreis; Da fasset unsern Nettelbeck der Sturm;

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Ähm pocht daS Herz, so drückt er selbst sich aus, Und hämmert ihm gewaltig in der Brust. Da stürzt er vor und sinkt dem Bild zu Füßen; Gebrochne Stimme, Auge voll von Thrä­ nen, Gefaltne Hände, liegt er auf dem Bo­ den Und jauchzet auf: „Ja, preiset, preiset ihn, Er ist mein König, ich bin auch ein Preuße!" Und Jubel tönt durchs Zelt, und jeder drängt Sich näher hin, den Preußen anzuschaun, Drückt ihm die Hand, beneidet ihm den König. Doch Nettelbeck geht stolz zum Zelt hin­ aus, Umdrängt von Volk, läßt seine Augen leuchten, Arm, wie er ist, im tiefsten Herzen reich, Und murmelt nur: „Ja, ich bin auch ein Preuße!" So bewegt in tiefster Seele Kommt er zu dem großen Schmause. Capitäne vieler Schiffe Trifft er in dem reichen Hause. Alle sind sie eingeladen Zu dem wunderlichen Feste, Und der Wirth bewirthet köstlich Alle seine fremden Gäste. Starke Weine fließen strömend, Heiß wird allen zugetrunken;

So ist einer nach dem andern Selig untern Tisch gesunken. Nur der Nettelbeck steht sicher, Hat stch's heilig vorgenommen, Seine Sinne zu erhallen, Und kein Glas mehr angenommen; Sagt nur (ob man ihn bestürme. Ihn ein schwächlich Männlein heiße) „Nein, ich habe zur Genüge, Und ich gab mein Wort als Preuße, Keinen Tropfen trink' ich drüber!" Als nun all die durst'gen Seelen Schnarchend unterm Tische liegen, Will sich Nettelbeck empfehlen; Und es spricht der Wirth: „Du, bleibe! Prüfen wollt' ich meine Leute, Du nur, Preuße, hast bestanden; Rüste du dein Schiff noch heute! Solche Männer, fest und tüchtig,, Können mir Vertraun erwecken;' Du bekommst die reichste Ladung." Und so wurde Nettelbecken Mitten in der Armuth Weh Eine volle Ladung Thee Und ein Frachtgedot von dreißig, Sage dreißigtausend Thaler. Jener war ein prompter Zahler; Und der Capitän lud fleißig, Stach bei hellem Sonnenschein In die blaue See hinein. Aber eh' er fortgezogen, Hat er, wer verdenkt ihm das? Noch einmal das Zelt besucht, Wo der alle Fritze saß. göltet.

82. Aus Napoleons Soldatenleben. Bei der letzten Heerschau, die der Kaiser zu Ende des Januars 1814 abhielt, ließ er seinen Blick über die Schaar der Tapfern streifen, deren viele nicht ahnten, daß sie heute ihren Kaiser zum letzten Male sahen. Es fällt ihm ein alter Soldat auf, der keine anderen Abzeichen trägt, als die eines Sergean­ ten: ein Gesicht, daS die Sonne in zwanzig Feldzügen zu Erz gebräunt hatte, unter buschigen Augenbraunen zwei große, rollende und blitzende Augen, das kriegerische Antlitz zur Hälfte von einem ungeheuern Schnurrbarte bedeckt. Der Kaiser winkt ihm vorzutreten und heranzukommen. Bei diesem Winke wird daS eiserne Herz deS Tapfern, der in seinem Leben nie gezagt, von einer Be­ wegung ergriffen, die er nicht bemeistern kann, und Rothe flammt über sein Gesicht. „Dich hab' ich schon irgendwo gesehen," redete ihn Napoleon theiluehmend an, „eS ist aber schon lange her. Wie heißest du?" „Noöl, Ew. Majestät." „Novl? Des Namens kenne ich mehrere; woher bist du?" „Ein, Pariser Kind." „Ah, nun weiß ich, du bist mit mir in Italien gewesen, nicht wahr?" „Ja, Sire, ich war auf der Brücke bei Arcole." „Richtig, richtig,

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ich erkenne dich wieder; du bist Sergeant geworden, nicht wahr?" „Sergeant bei Marengo." „Und seitdem?" „Seitdem," wiederholte Noöl und ließ den Kopf traurig sinken, „seitdem, Sire, weiter nichts." „Warum hast du nicht zur Garde gehen wollen?" „O, ich wollte wohl, es war mein einziger Wunsch; rch habe bei Austerlitz, bei Wagram, in allen großen Schlachten mitgekämpft." „DaS wundert mich von dir nicht. Hast du aus den Listen zur Ehrenlegion gestanden?" „Jahr für Jahr, Sire." „Nun, darüber müssen wir sogleich aufs reine kommen. Geh wieder auf deinen Platz!" Der Kaiser wendet sich an den Obersten deS Regiments; sie sprechen fünf Minuten lang leise mit einander. Von Zeit zu Zeit werfen sie einen Blick auf Noöl; man sieht offenbar, daß von ihm die Rede ist. Der Kaiser er­ fährt die Wahrheit. Noöl ist einer von den unschätzbaren, tapfern, besonnenen und pflichtgetreuen Soldaten, der nie den Gehorsam, den Anstand, die Disci­ plin gebrochen, ein Soldat nach des Kaisers $en und Sinn. Bei jeder Ge­ legenheit hat er sich ausgezeichnet, aber aus Bescheidenheit, aus Mangel an Selbstvertrauen nicht gewagt, die Beförderung, die ihm längst gebührte, zu ver­ langen; es ist seinen Oberen zur Gewohnheit geworden, ihn zu vergessen. Na­ poleon erkennt, daß hier eine große Ungerechtigkeit begangen worden ist; er nimmt sich vor, sie vollständig, glänzend wieder gut zu machen. Er ruft den Sergeanten wieder vor. „Nimm das Kreuz, Freund Noöl!" spricht er zu ihm. „Du hast eS längst verdient, du bist immer ein tapferer Soldat gewesen." Mit diesen Worten nimmt der Kaiser sein eigenes Kreuz von der Brust und heftet es an die Uniform des alten Soldaten. Auf ein Zeichen, daö der Oberst mit dem Degen giebt, schlagen die Tambours einen Wirbel; die ganze Colonne steht in tiefem, erwartungsvollem Schweigen. Der Oberst führt den neu ernannten Ritter der Ehrenlegion vor die Front des Regiments und ruft mit lauttönender Stimme: „ 9m Namen des Kaisers! Ich verkünde euch: der Sergeant Noöl ist zum Unterlieutenant in eurem Regiment ernannt." Die garue Front präsentirt daS Gewehr; die Trompeter blasen eine Fanfare; Noöl weiß nicht, wie ihm geschieht, es ist ihm wie ein Traum. Sein Auge sucht den Kaiser, eS drängt ihn, hervorzustürzen und sich ihm zu Füßen zu werfen; aber Napoleons Antlitz ist ruhig, unbewegt, nicht wie das eines Fürsten, der Gnade erweist, sondern wie das eines Richters, der Gerechtigkeit vollzieht. Aufs neue winkt der Kaiser dem Obersten; dieser schwingt den Degen über dem Haupte, die Trommeln wirbeln abermals, und als sie schweigen, erhebt er seine Stimme: „Im Nacken des Kaisers! Ich mache euch bekannt: der Unter-Lieutenant Noöl ist zum Lieutenant in eurem Regiment ernannt." DaS war dem alten Pariser Kinde wie ein Donnerschlag, seine Kniee wankten, seine Augen, die im Leben nicht geweint, wurden feucht und trübe. Man sah seine hohe Gestalt schwanken, seine Lippen sich stammelnd bewegen, aber er war kei­ nes Wortes mächtig. Zum dritten Mal wirbelten die Trommeln, und zum dritten Mal erhebt der Dberst seine Stimme: „Im Namen deS Kaisers! Ich mache euch bekannt: der Lieutenant Noöl ist zum Capitän in eurem Regi­ ment ernannt." So lange hatte Napoleon unbeweglich zu Pferde gehalten; jetzt setzte er sich in Bewegung und fuhr, von seinem glänzenden Generalstabe umgeben, mit der Revue fort, als ob nichts geschehen wäre. Einen letzten, ernsten und ru­ higen Blick warf er auf den braven Noöl, der, von freudigem Schreck und Rührung überwältigt, mit bleichem Antlitz, mit zitternden Lippen Segens­ wünsche für den Kaiser stammelnd, in die Arme seines Obersten gesunken war. Denkwürdigkeiten aus der Geschichte.

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83. Deutschland in seiner Erniedrigung. Napoleon verstand die Kunst, den Samen der Zwietracht in die Herzen der deutschen Fürsten zu säen. Während er die kleineren derselben schlau an sich zu ziehen und mit sich zu verbinden wußte, gelang es ihm, die größten deutschen Mächte, Preußen und Oestreich, von einander fern zu hatten und sie einzeln zu besiegen und zu zerstückeln. Zuerst wandle er sich gegen Oestreich, das sich mit den Russen gegen ihn verbündet hatte. Am 14. October 1805 traf er mit den Oestreichern bei Ulm zusammen. „Es genügt mir nicht, den Feind zu besiegen, ich will ihn vernichten/' So sprach er, und darnach han­ delte er. Der General Mack mußte sich mit seinem Heere den Franzosen er­ geben, die nun rasch auf Wien zu weiter zogen. Um die Mitte des Novem­ ber waren sie in der Kaiserstadt. Drauf drangen sie bis nach Mähren vor. Hier trafen sie auf ein östreichisches und russisches Heer mit ihren Kaisern an der Spitze. Bei dem Dorfe Austerlitz kam es. am 2. December 1805 zu ei­ ner sehr blutigen Schlacht, die von Napoleon, dem Sieger, die Drei-Kaiser­ schlacht genannt wurde. In dem darauf folgenden Frieden von PreSburg ver­ lor Oestreich wieder schöne Provinzen. Davon erhielten Baiern, Würtemberg und Baden bedeutende Gebietsvergrößerungen. Auch erhob Napoleon die bei­ den ersteren Staaten, sowie späterhin auch Täcksen zu Königreichen. Diese und noch mehrere andere Fürsten des südlichen und westlichen Deutschlands sagten sich nun vom deutschen Reiche los und schlossen unter sich einen neuen Verein, den Rheinbund. Napoleon erklärte sich darauf zum Protector (Be­ schützer) desselben, wobei er sich von den Bundesgliedern versprechen ließ, ihn in allen seinen Kriegen zu unterstützen. So wußte Napoleon die deutschen Völker auseinander zu reißen und unter das französische Joch zu bringen. Kaiser Franz II. erklärte nun selbst daS heilige römische Reich deutscher Na­ tion für aufgelöst, nachdem eS, von der Kaiserkrönung Karls des Großm an Serechnet, tausend und sechs Äahre bestanden hatte, und nannte sich jetzt Franz I., kaiser von Oestreich (1806). Nun kannte Napoleons Uebermuth keine Ärenzm mehr; er verschenkte Länder und Kronen wie feile Waaren an seine Ver­ wandten und Generale. Ferdinand, König von Neapel, hatte englische und russische Truppen in seinem Königreiche landen lassen. Da erklärte Napoleon mit lakonischer Kürze: Ferdinand hat aufgehört zu regieren. Sein Macht­ spruch wurde auSgeführt, und sein Bruder Joseph erhielt den Thron von Nea­ pel. Seinen Bruder Ludwig erbaten sich die Holländer zu ihrem Könige. Seinen Schwager Murat machte er zum Großherzog von Berg und Cleve, den Marschall Berthier zum Fürsten von Neufchalel. Preußen hatte bis jetzt ruhig zugesehen, wie das deutsche Reich zerstückelt und aufgelöst worden war. Der edle König, Friedrich Wilhelm III., 1770 geboren und 1797 zur Regierung gelangt, suchte, so viel an ihm war, mit Napoleon Frieden zu halten; das ging aber auf die Dauer nicht; auch Preu­ ßen mußte fallen, weil eS der französische Kaiser so wollte. Napoleon hatte den Engländern Hannover abgenommen und es Preußen zugetheilt, das ihm dafür AnSbach, Cleve und Berg abgetreten hatte. Nun bot er dasselbe seinen früheren Besitzern wieder an. Da erklärte der tiefgekränkte König von Preu­ ßen dem französischen Kaiser den Krieg. DaS war Napoleon recht. Rasch und in Eilmärschen rückte er mit seiner Armee in Thüringen ein. Bei Saat­ feld wurde schon am 10. October 1806 die Vorhut der Preußen auseinander S'prengt, wobei Prinz Ludwig Ferdinand von Preußen, die Zierde der Ritter­ aft und des Hofes, sein Leben verlor. Am 14. October wurde bei Jena und Auerstädt eine Doppelschlacht geschlagen. Sie fiel sehr unglücklich für Preußen auS. Ueber 50,000 Mann verlor der König an diesem Unglückstage.

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Beispiellos war die Verwirrung. Ganze Heereshaufen wurden gefangen ge­ nommen. Der Kurfürst von Sachsen trennte sich gleich nach der Schlacht von Preußen, mit dem er verbündet gewesen war, und ging zum Rheinbünde über. Dafür wurde er von Napoleon mit der Königswürde beschenkt. Schon nach 14 Tagen zog der französische Kaiser in Berlin ein, nahm dort weg, waS er an Kostbarkeiten fand, sogar den Degen Friedrichs des Großen, und sandte eS nach Paris. Dann setzte er die Verfolgung des preußischen Heeres fort und hatte bald das ganze Land in Besitz. Die Trümmer der preußischen Ar­ mee sammelten sich langsam hinter der Oder. In ihr herrschte nicht mehr der Geist des alten Fritz. Eine unbegreifliche Muthlosigkeit hatte das Heer erfaßt. Unter den Anführern gab es schändliche Berräther. Die besten Festungen wur­ den ohne Widerstand übergeben: so fielen Erfurt, Magdeburg, Spandau, Stet­ tin und Küstrin. Doch gab es auch noch Männer voll echten Preußenmuthes und edler Preußentreue. Der General Blücher sammelte ein muthiges Häuflein, warf sich damit in die Stadt Lübeck und vertheidigte sich so lange, bis er der Uebermacht erliegen mußte. Der General von Thiele übergab Breslau erst, als die Bürger und Truppen nichts mehr vermochten. So handelten auch von Steensen in Neiße, von Reumann in Cosel, von Götzen in Glatz und der wackere Kalkreuth in Danzig. Als man den alten Commandanten Courbivre von Graudenz mit den Worten zur Uebergabe der Festung aufforderte: Es giebt keinen König von Preußen mehr: antwortete er: „Nun, dann will ich sehen, wie lange ich König von Graudenz sein kann!" Der Oberst Hermann zu Pillau ließ die Besatzung in einen Kreis treten und sprach: „Kameraden, lebendig übergebe ich die Festung nicht. Da steht mein Sarg. Wer mich überlebt, lege mich hinein. Wer ein braver Soldat ist, der schwöre: Preußen oder Tod!" Alle schwuren. Pillau wurde nicht genommen. So retteten Gneisenau, Nettelbeck und Schill die Festung Kolberg. Der König von Preußen zog sich bis nach Memel zurück. Endlich kamen die Russen zu Hülfe. Zu ihnen stießen die Ueberreste des preußischen Heeres. Darauf wurde am 7. und 8. Februar die mörderische Schlacht bei Eylau geschlagen. Das Blut floß in Strömen über den gefrornen Schnee hin. „O wie schön sehen die rothen Blumen auf dem weißen Teppiche aus!" rief Napoleon. Die Schlacht blieb unentschieden. Am 14. Juni desselben Jahres wurde bei Friedland noch einmal blutig gestrit­ ten, aber von Napoleon ein vollkommener Sieg errungen. Da sah sich Frie­ drich Wilhelm genöthigt, mit Napoleon den unglücklichen Frieden von Tilsit zu schließen, der ihn der Hälfte seines Landes beraubte und ihm außerdem noch 30 Millionen Kriegssteuern auferlegte. An die abgetretenen Unterthanen schrieb der König: „Ich scheide von euch, aber wie ein Vater von seinen Kindern. Euer Andenken wird nie aus meinem und der Meinigen Herzen vertilgt wer­ den." Aus Westphalen erhielt er eine Antwort, worin der Schluß so lautete: „Leve wohl, olle gode König! God geve, dat de Oeverreste dines Landes di trouwere Generale un klökere Ministers finden late, als de weren, de di bedrövden." (Lebewohl, alter guter König! Gott gebe, daß die Ueberreste deines Landes dich treuere Generale und klügere 9J?intfter finden lassen, als die waren, die dich betrübten). Dieser freimüthige Wunsch der biederen Bewohner des al­ ten Sachsenlandes wurde erfüllt. Der König fand einen Freiherrn von Stein, einen Scharnhorst und einen Hardenberg. Mit Hülfe dieser Männer wurde das Staats- und Heerwesen durchgreifend verbessert und in der Stille alles zu einem neuen Kampfe für die Befreiung des Vaterlandes vorbereitet. Aus den Landestheilen, die Napoleon zwischen Elbe und Rhein von Preu­ ßen abgerissen hatte, sowie aus Hannover, Braunschweig und Hessenkassel bil­ dete er das Königreich Westphalen und gab es seinem jüngsten Bruder Hiero­ nymus. So entstand jetzt ein kleines Frankreich im Herzen von Deutschland,

Dielitz und Heinrichs, deuksches Lesebuch.

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und fremde Völker geboten in dem Lande Hermanns und Wittekinds. Solche Schmach war über uns gekommen, weil wir nicht einig waren, weil der Deutsche in dem Deutschen nicht den Bruder erkannte und zu seiner Rettung herbeieilte, da es galt in den Zeiten der Noth. Dieser Zustand war für manche Vaterlandsfreunde unerträglich, und sie unternahmen auf eigene Hand einen Kampf, so die biederen Tyroler, so der edle Schill. Letzterer rief seinen Husaren zu, mit denen er am 29. April 1809 aus Berlin entwich: „Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!" Seine Schaaren wuchsen bald zu Tau­ senden an. Tapfer schlug er sich mit den Truppen des Königs von Westpha­ len herum, der einen Preis von 10,000 Franken auf seinen Kopf setzte. Von seinen Feinden verfolgt und von allen Seiten eingeengt, wurde seine Helden­ schaar in Stralsund, wohin er sich zurückgezogen hatte, theils niederaehauen, theils gefangen genommen. Er selbst fiel im Kampfe. Elf seiner Offiziere wurden gefangen nach Wesel abgeführt und dort erschossen. Ein schönes Denk­ mal ziert jetzt ihr Grab. Glücklicher war der Herzog Wilhelm von Braunschweia-Oels, ein Sohn des bei Auerstädt gefallenen preußischen Feldmarschalls, dem Napoleon sein Land geraubt hatte. Mit 1200 seiner schwarzen Husaren, dem . Schrecken der Franzosen, bahnte er sich einen Weg von 70 Bteilen mitten durch die feindlichen Haufen und entkanr nach England, wo man ihn mit Stau­ nen und Jubel empfing. Solche Beispiele des Muthes zeigten, daß Deutsch­ land noch nicht verloren sei, und daß ein schöner Morgen der langen, schmach­ vollen Nacht folgen werde. £üttringl)ftue.

84. Andreas Hofer. Im Jahre 1805 riß Napoleon Tyrol von Oestreich los und theilte eS dem neuen Königreiche Baiern zu. Damit waren die Tyroler gar nicht zufrieden. Oestreich hatte ihre uralte Verfassung, ihre Rechte und Freiheiten, ihre Sitten und Landesgebräuche stets unangetastet gelassen. Dafür war das biedere Berg­ volk dem angestammten Kaiserhause mit unerschütterlicher Treue zugethan und hing mit rührender Liebe an seinem Kaiser Franz. Baiern machte allerlei Veränderungen, legte dem Lande drückende Steuern auf und verwandelte gar den alten Namen Tyrol in Südbaiern. Dadurch wurden die Tyroler, die mit großer Vorliebe an dem Altherkömmlichen hielten, tief in ihrem Innersten verletzt, und sie faßten den Plan, das Joch der baierisch-französischen Fremd­ herrschaft mit Gewalt abzuschütteln. Von Wien aus wurde ihr Unternehmen gebilligt und unterstützt. Die Häupter des Volksaufstandes waren Andreas Hofer, Joseph Speckbacher und Martin Teimar. Hofer hielt ein Wirthshaus am Sande im Passeyer Thale und trieb Pferdehandel. Er war von kräftiger Gestalt und ein schlichter, frommer Mann. Ein schöner, schwarzer Bart, der bis zum Gürtel reichte, zierte sein biedres Antlitz. Speckbacher, ein Unterinnthaler, war der beste Schütze weit und breit, verwegen zu jeder großen That und meisterlich klug. Der Aufstand brach los. In der 9?ad)t auf den 9. April 1809 vernahm man unaufhörliche Freudenschüsse aus Mörsern, Böllern und Stutzern; in den Thälern erschollen Sturmglocken, auf den Höhen loderten Wachtfeuer; überall liefen Weiber und Kinder mit Zettelchen umher, worauf die Worte standen: 's ist Zeit! Und als der Morgen anbrach, rollten Fels­ stücke und Baumstämme von der: Bergen herab auf die überraschten Krieger; aus den Klüften, Hecken und Hütten pfiffen die Kugeln, und wenige verfehlten ihren Manu. JnSbruck wurde erstürmt, die Feste Kuffstein belagert, und in einigen Tagen war Tyrol von den Feinden befreit. Das dauerte aber nicht lange. Die Oestreicher verloren die Schlacht bei Wagram, und die Franzosen drangen in zahllosen Schaaren über Salzburg ins Tyrolerland ein. Da be-

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gann bei dem Berge Jsel ein langer, furchtbarer Kampf. Die Tyroler lockten die Feinde in die Schluchten, stürzten Felsblöcke auf sie, hinab, und es war, als sielen die Berge über sie, und als bedeckten sie die Hügel. Der Speckbabacher verlegte ihnen den Weg bei Hall. Sein zehnjähriges Söhnlein, der Ändert genannt, folgte ihm lustig ins Gefecht, grub mit dem Meffer die feind­ lichen Kugeln auö, wie sie um ihn in den Boden schlugen, und brachte sie sei­ nem Vater im Hütlein. Die Franzosen erlitten ungeheuere Verluste, und Tyrol wurde abermals frei. Es half aber alles nichts; denn bald darauf wurde im Wiener Frieden das Sant wieder Baiern zugesprochen, und Kaiser Franz mußte seine braven Tyroler aufgeben. Er ließ ihnen durch den Erzherzog Jo­ hann sagen, sie möchten sich ruhig halten und nicht nutzlos ausopfern. Da schrieb Hofer an Speckbacher: Oestreich hat uns verlassen, es ist alles aus! Es kam aber noch ärger. Ein gewisser Kolb, ein Adliger von Geburt, aber ein Schurke von Gesinnung, täuschte Hofer durch allerlei erlogene Nachrichten von den Siegen der Oestreicher und verleitete ihn mit Hülfe eines Priesters Douay, seine Getreuen aufs neue unter die Waffen zu rufen; doch sie unter­ lagen. Nun wurde Hofer von den Franzosen für vogelfrei erklärt. Er hätte leicht aus dem Lande fliehen können; er wollte aber nicht. Eine einsame Senn­ hütte, hoch in der Schneewelt der Alpen, verbarg ihn zwei Monate lang. Seine Getreuesten brachten ihm Speise und Trank. Als man ihm sagte, er sei ver­ rathen und müsse fliehen, sprach er: Kein Tyroler verräth mich. Dennoch wurde der Priester Douay sein Judas. Am Morgen deS 30. Januar 1810, als die Sonne noch nicht am Himmel stand, klopften die Häscher mit ihren Bajonetten dreimal an die Thür der Hütte. Hofer öffnet und antwortet, als man ihn fragt, wer er sei, frei und stolz: „Ich bin Andreas Hofer, mein Schicksal ist in euren Händen, schonet mein Weib und meine Sinter." Er wurde gebunden nach Mantua abgeführt und auf Befehl Napoleons daselbst am 20. Februar 1810 erschossen. Lürrringhau».

85. Andreas Hofer. Dem Tambour will der Wirbel Zu Mantua in Banden Nicht unterm Schlägel vor, Der treue Hofer war; Als nun Andreas Hofer In Mantua zum Tode Führt' ihn der Feinde Schaar; Schritt durch das finstre Thor. Andreas, noch in Banden frei, Es blutete der Brüder Herz, Ganz Deutschland, ach, in Schmach und Dort stand er fest auf der Bastei, Der Mann vom Land Tyrol. Schmerz! Mit ihm das Land Tyrol. Dort soll er niederknieen; Die Hände auf dem Rücken, Er sprach: „Das thu' ich nit! Andreas Hofer ging Will sterben, wie ich stehe, Mit ruhig festen Schritten, Will sterben, wie ich stritt, Ihm schien der Tod gering, So wie ich steh' auf dieser Schanz! Der Tod, den er so manches Mal Es leb' mein guter Kaiser Franz, Vom Jselbera geschickt ins Thal Mit ihm sein Land Tyrol!" Im heil'gen Land Tyrol. Und von der Hand die Bande Doch als aus Kerkergittern stimmt ihm der Corporal; Im festen Mantua Andreas Hofer betet Die treuen Waffenbrüder Allhier zum letzten Mal; Die Hand' er strecken sah, Dann ruft er: „Nun, so trefft mich Da rief er laut: „Gott sei mit euch, recht! Mit dem verrathnen deutschen Reich Gebt Feuer! Ach, wie schießt ihr schlecht! Und mit dem Land Tyrol!" Ade, mein Land Tyrol!" IHofen.

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Ein deutscher Bauer.

Als in der schweren Prüfungszeit nach dem Frieden zu Tilsit die preu­ ßische Königsfckmilie sich in Königsberg und Memel aufhielt, zeigte sich in allen Bolksklassen die innigste Theilnahme, die im stillen Schmerze der Liebe von Herzen kam und zu Herzen ging. Jeder beeiferte sich, sein Mitgefühl, so gut er konnte, auszudrücken. So kam aus der Weichselniederunz bei Kulm ein Bauer, der Secte der Mennoniten angehörig, mit Namen Abraham Nickel, nebst seiner Frau zum Könige und der Königin. Der ehrliche Mann, treuher­ zig und bieder, brachte ein Geschenk von dreitausend Stück Friedrichsd'or, und die Frau trug einen Korb mit frischer Butter. Er sprach schlicht und einfach, wie ihr kirchliches System vorschreibt, mit bedecktem Haupte und der Anrede Du, also: „Gnädigster Herr! Deine getreuen menncnitischen Unterthanen in Preußen haben mit Schmerz erfahren,, wie groß die Noth ist, die Gott über dich, dein Haus und Land verhängt hat. Das that uns allen leid, und darum sind unsere Gemeinden zusammengetreten und haben gern und willig diese Klei­ nigkeit zusammengebracht. Von ihnen geschickt, komme ich ih ihrem Namen, un­ sern lieben König und Herrn zu bitten, diese Gabe aus treuen Herzen wohl­ wollend anzunehmen, und werden wir nicht aufhören, für dich zu beten." Die Mennonitin aber überreichte ihren Korb voll frischer Butter der Königin mit den Worten: „Man hat mir gesagt, daß unsre gnädige Frau Königin gute, frische Butter sehr liebt, und auch die jungen Prinzchen und Prinzeßchen gern ein gutes Butterbrot essen. Diese Butter ist hier rein und gut, aus meiner eige­ nen Wirthschaft, und da sie jetzt rar ist, so habe ich gedacht, sie würde wohl angenehm sein. Die gnädige Königin wird auch meine kleine Gabe nicht ver­ achten; du siehst ja so freundlich und gut aus; wie freue ich mich, dich einmal in der Nähe so sehen zu können." Solche Sprache verstand die Königin; mit Thränen der Rührung im Auge drückte sie der Bauernfrau die Hand, nahm das Umschlagetuch, das sie so eben trug, ab und hing es der gutmüthigen Ge­ berin um mit den Worten: „Zum Andenken an diesen Augenblick!" Auch der König nahm die Gabe treuer Liebe gern an, quittirte aber über den Empfang, und daß er späterhin reich und königlich vergalt, darf nicht erst versichert wer­ den. Als mehrere Jahre nachher den Abraham Nickel das Unglück traf, durch Brand sein Wohnhaus nebst Ställen zu verlieren, ließ der König das Gehöft des Mennoniten beffer, als es vorher gewesen, wieder herstellen. Die gute Ge­ sinnung aber, welche die Mennoniten-Gemeinde in Preußen zu jener Zeit be­ thätigte, hatte auf ihn einen so liefen, günstigen Eindruck gemacht, daß, so oft von dieser friedlichen und harmlosen Secte die Rede war, er ihrer immer mit besonderm Wohlwollen gedachte. Bvlerr.

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Luise, Königin von Preußen.

Luise war die Gemahlin Friedrich Wilhems III. und eine Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz. Schon in ihrem 6. Jahre verlor sie ihre Mutter. Un­ ter der Leitung und Pflege ihrer Großmutter, der verwittweten Landgräsin von Heffen-Darmstadt, entfaltete sich ihr liebenswürdiger Charakter in schönster Weise. Ihre Güte und Milde, ihre echte Frömmigkeit und Tugend erwarben ihr schon als Prinzessin allgemeine Liebe; als Königin aber tourte sie ein Ge­ genstand wahrer Verehrung, und dem preußischen Volke wird sie ewig unver­ geßlich bleiben. Einen Theil ihrer Jugend verlebte sie mit ihrer Großmutter auf dem Schlosse Broich bei Mühlheim an der Ruhr, wo man roch jetzt viele schöne Züge ihres menschenfreundlichen Herzens mit wahrer Begeisterung erzählt. Die Vermählung mit Friedrich Wilhelm III. fand am 24. December 1793 zu Berlin statt. Ihre Ehe wurde durch das reinste und dauerndste Glück ge-

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krönt. Nichts Schöneres war zu sehen als die in Vtebe und Treue glückliche königliche Familie im gar einfachen, stillen, häuslichen Kreise. Wohin die Kö­ nigin Luise kam, folgten ihr Friede und Freude; vom Throne herab verbrei­ tete sie Segen auf Stadt und Land bis in die ärmlichsten Hütten. In allen Leiden, welche sie und ihr Land trafen, bewährte sie sich als ergebene und fromme Dulderin. Von Memel aus schrieb sie am 17. Juni 1807 an ihren Vater: „Es ist aufs neue ein ungeheures Unglück über uns gekommen (Verlust der Schlacht bei Friedland), und wir stehen auf dem Punkte, das Königreich zu verlassen. Bedenken Sie, wie mir dabei ist. Dock glauben Sie ja nicht, daß Zweifel und Kleinmuth mein Haupt beugen. Wir sind kein Spiel des Zufalls , sondern wir stehen in Gottes Hand, und die Vorsehung leitet uns, wenngleich durch Finsterniß, doch am Ende zum Lichte; und gehen wir unter, so geschieht es mit Ehren. Der König hat es bewiesen, der Welt hat er es bewiesen, daß er nicht Schande will, sondern Ehre, und er ist besser, als sein Schicksal. Preußen will nicht freiwillig Sklavenketten tragen. Nock eins zu Ihrem Troste: Von unserer Seite wird nie etwas geschehen, was nicht mit der strengsten Ehre verträglich ist. Der König steht mitten im Unglück ehr­ würdig und charaktergroß da." Acht Tage später schrieb sie: „Mein Glaube soll nickt wanken, aber hoffen kann ich nicht mehr. Auf dem Wege des Rechts leben, sterben und, wenn es sein muß, Brot und Salz essen; nie werde ich ganz unglücklich sein; nur hoffen kann ich nicht mehr. Kommt daö Gute, o! kein Mensch kann es dankbarer empfinden, als ich es empfinden werde, aber erwarten thue ich es nicht mehr. Kommt das Unglück, so wird es mich auf Augenblicke in Verwunderung setzen, aber beugen kann es mich nie, sobald es nicht verdient ist." Wahrhaft groß stand Luise am 6. Juli 1807 Napoleon gegenüber. Sie war entschlossen, den gewaltigen Sieger selbst durch Bitten zu einem ehrenvol­ len Frieden und zur Schonung des Landes und Volkes zu bewegen. In ihrer reinen hochherzigen Liebe für' das Volk scheute sie diese Erniedrigung nicht.

Aber Napoleon war unbeweglich. Finster, kalt und stolz fragte er die Königin: „Wie konnten Sie es wagen, mit mir einen Krieg anzufangen?" Da erwi­ derte ihm Luise mit edler Würde: „Es war Preußen erlaubt, ja es war uns erlaubt, uns durch den Ruhm Friedrichs des Großen über die Mtttel unserer Macht zu täuschen, wenn wir uns überhaupt getäuscht haben!" Doch die wahr­ haft deutsche Frau hatte sich nicht getäuscht, als sie auf den Geist des Volkes baute; aber darin hatte sie sich getäuscht, daß sie von Napoleons Edelmuthe etwas hoffte. Sie sollte aber den Morgen der Freiheit nicht leuchten sehen, den Befreiern des Vaterlandes keine Siegeskränze reichen. Ein heftiges Fie­ ber raffte sie nach einem kurzen Krankenlager am 19. Juli 1810 dahin, als sie bei ihrem Vater auf dem Schlosse Hohenzieritz bei Strelitz zum Besuch war. Sie liegt in Charlottenburg bei Berlin begraben. Seit 1840 ruht ihr edler Gemahl, Friedrich Wilhelm der Gerechte, neben ihr. lf üttringbrtue.

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Der Freiherr von Stein.

Von ihm heißt es: Er war allem Unrecht ein Eckstein, des Rechtes Grund­ stein, der Deutschen Edelstein. Er wurde 1757 zu Nassau geboren und in jüngeren Jahren Bergrath zu Wetter in der Grafschaft Mart, dann Ober­ präsident der Provinz Westphalen, und nach dem Frieden von Tilsit (1807) wurde er preußischer Staatsminister. Von Napoleon geächtet, ging er nach Oestreich und später nach Rußland. Hier theilte er dem Kaiser Alexander seinen Haß gegen Napoleon mit, und die Gluth desielben wurde auch jeden Morgen neu, bis das große Werk vollendet war. Stein war ganz deutsch,

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und die Ehre, Selbständigkeit und Freiheit des Vaterlandes war ihm Sache des Herzens und Aufgabe des Lebens. Keiner hat mehr dafür gedacht, gethan, gelitten, als er; er lst und bleibt daher auch einer der merkwürdigsten Män­ ner dieser großen Zeit. Ehre seinem Andenken! Stein starb 1831 auf seinen Gütern in Naffan. Und' iBykrt.

89. Napoleons Feldzug gegen Rußland. Bis zum Jahre 1812 waren Napoleons Unternehmungen fast alle wun­ derbar geglückt. Er stand nun auf dem höchsten Gipfel seiner Macht. Die meisten europäischen Völker mußten seinem Winke gehorchen; nur England hatte er nicht zu bezwingen vermocht, und auch Rußland stand noch ungebeugt da. Nach des kühnen Eroberers Willen sollte aber nun auch dieses Reich der Streich der Vernichtung treffen. Ein Grund zur Kriegserklärung war bald gefunden. Im Frühlinge des JahreS 1812 ließ der französische Küiser ein Heer von sechsmalhunderttausend Mann mit 200,000 Pferden und 1300 Stück Geschützen durch Deutschland und Polen nach Rußland marschiren. Ganz Europa gerieth in Bewegung, denn fast alle Völker dieses Erdtheils mußten HülfStruppen stel­ len. Seit der Völkerwanderung und den Kreuzzügen waren solche Heereszüge nicht gesehen worden. Mit Stolz nannte Napoleon dieses auserlesene Heer bte große Armee. Am Johannistage überschritt das Hauptheer den Grenzfluß Rie­ men und wälzte sich, wie die Meereswogen, wenn der Sturmwind rast, durch die Ebenen Rußlands hin auf Moskau zu. Die Rusien wichen anfangs über­ all zurück. Bei der Stadt Smolensk am Dniepr entbrannte die erste Schlacht. Die Russen standen wie Mauern. Auf beiden Seiten fielen Tausende. Am Abend ließ Napoleon Granaten in die Stadt werfen. Große Flammensäulen stiegen auf. Schweigend blickte der Kaiser auf daö Feuermeer; später sollte er ein noch gräßlicheres Schauspiel sehen. Während der Nacht zogen die Rusien ab. Die Franzosen rückten weiter vor. Beim Dorfe Borodino an der Moskwa kam eS abermals zur Schlacht. Eine blutigere ist in neuerer Zeit nicht gelie­ fert worden. 1200 Kanonen brüllten den ganzen Tag, und am Abende lagen 70,000 Todte und Verwundete auf dem Schlachtfelds Die Franzosen haben gesiegt, aber stumm und düster blicken die Generale auf den Kaiser, und in seinem Gesichte ist kein Strahl der Freude zu lesen. Der Weg nach Moskau war nun frei. Dort hofften die ermatteten Krieger Ruhe und Erquickung zu finden nach so vielen Mühseligkeiten. End­ lich erreichten sie das Ziel ihrer Sehnsucht. Die herrliche Stadt liegt vor ih­ ren Blicken da; die Thürme der 300 Kirchen und deren goldene Kuppeln fun­ keln im Glanze der Sonne, und ein unendlicher Jubelruf: Moskau! Moskau! durchläuft die Reihen der Hunderttausende. „Da ist sie!" ruft auch Napo­ leon; „aber," setzt er hinzu, „es war auch Zeit!" Am 14. September stand Napoleon vor den Thoren der alten Czarenstadt. Er erwartete, umgeben von seinen Marschällen, einen feierlichen Empfang von den Behörden. Sie erschie­ nen nicht. Ueber der Stadt lag eine schauerliche Grabesstille. Die Thore waren unbesetzt. Der Einzug begann. Nirgends Widerstand. Die Straßen sind leer; die Häuser verschlossen, die Einwohner entflohen. Napoleon nahm seinen Sitz in dem alten Kaiserpalaste, dem Kreml; die ausgehungerten Sol­ daten erbrachen die Thüren der leeren Wohnungen, suchten Nahrungsmittel und raubten und plünderten. Aber schon in der folgenden Nacht bricht Feuer auS. Niemand löscht eS. Die Flammen greifen weiter um sich, und bald wogt ein ungeheures Feuermeer über die weite Stadt hin. Nun ist das Löschen zu spät; auch haben die Einwohner alle Löschgeräthe mit fort genom­ mene Napoleon schläft; endlich weckt ihn der Helle Schein. Erschrocken springt

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er auf und sieht mit Schaudern von einer Terrasie des Kreml das majestä­ tische Schauspiel. „Entsetzlicher Anblick!" ruft er aus; „das haben sie selbst gethan! Welche Menschen! Das verkündet uns schweres Unglück!" Er wirft sich rasch auf ein Pferd und entkommt nur mit genauer Noth den prasselnden Flammen. So versank Moskau in einen Aschenhaufen. Hunderttausende waren ob­ dachlos. Es fehlte durchaus an allen Vorräthen, und ein langer nordischer Winter war vor der Thür. Da mußte Napoleon endlich seinen stolzen Sinn beugen. Er bot denl Kaiser Alexander den Frieden an, erhielt aber nach lan­ gem Warten zur Antwort: „Jetzt geht der Krieg erst recht los." Nun er­ kannte er mit Schmerz und Grimm, daß ihm zur Rettung nur noch der Rück­ zug übrig blieb. Er trat ihn an, den 150 Meilen langen Weg. Es ist derselbe, den er beim Einrücken gemacht, auf dem er weit und breit alles ver­ heert und verwüstet hat. Die Russen verfolgen ihn und drängen ihn von allen Seiten. Mit gewohntem Heldenmuthe kämpft die große Armee um Weg und Steg. Aber eö brechen noch schlimmere Feinde, Schnee, Frost und Hungers­ noth, gleich Würgengeln über sie herein. Da fallen die Rosse zu Tausenden. Da wanken die alten Krieger, das Blut in den Adern erstarrt, die Bärte voll Reif, die finstern, narbenvollen Gesichter vom Odem des Todes angehaucht, durch die weiten Schneefelder hin. Nirgends bietet sich ein Obdach gegen den schneidenden Wind; nur ein Plätzchen im Schnee am flackernden Feuer während der langen Nacht und ein Stück Pferdefleisch bleibt zu hoffen. Um die nieder­ gebrannten Wachtfeuer liegen am Morgen Haufen von Erfrorenen. Hier nnd da arbeitet sich noch ein Hebender unter den Leichnamen seiner Brüder empor, um in der nächsten Nacht seinen Untergang zu finden. Hunger und Frost machen manchen wahnsinnig, der nun das Fleisch von seinen schwarzen, erfro­ renen Händen nagt und mit den Zähnen Stücke von den Leichnamen seiner Kameraden reißt. Zn allem diesem Jammer gesellte sich noch die Verfolgung der Russen. Tausende werden von den Lanzen der Kosaken niedergestoßen, Tausende von den Keulen der ergrimmten Bauern erschlagen. Am gräßlichsten wüthete der Tod an der Beresina. Napoleon ließ über diesen Fluß eine Brücke schlagen. Er selbst mit einem Theile seiner Garden drängte sich .rerst hin­ über. Plötzlich wurde ein furchtbares Hurrahgeschrei der Kosaken und das Donnern der russischen Kanonen gehört. Da stürzt sich alles auf die Brücke zu. Jeder will der erste sein. Kein Befehl wird mehr geachtet, kein Rang mehr anerkannt: jeder kämpft um sein Leben. Unzählige werden erdrückt, zu Boden getreten, unter die Eisschollen hinabgestoßen oder von den Kanonen- oder Kartätschenkugeln der Feinde zerschmettert. Endlich bricht die Brücke unter der furchtbaren Last zusammen, und niemand hat gezählt, wie viele die Fluthen ver­ schlangen. Solches begab sich gegen das Ende des November. Am 4. Dezem­ ber verließ Napoleon sein Heer, eilte über Wilna, Warschau, Dresden und Mainz nach Paris, um aufs neue zu rüsten. Die Trümmer der großen Ar­ mee bewegten sich unterdessen langsam vorwärts. Soldaten von allen Regi­ mentern liefen wild durcheinander. Alle Zucht und Ordnung hatte aufgehört. Das Elend hatte den höchsten Grad erreicht. Vergebens streckte der Hülflose die Hand auS; niemand bot ihm die seinige. Alles Mitgefühl war erstorben. Endlich, endlich war die Grenze erreicht. Aber was war aus der großen Ar­ mee geworden? Etwa 30,000 Mann waren übrig geblieben. Die Straße von Moskau bis zur Grenze Preußens war mit todten Menschen und Pferden wie besäet, und die Russen sollen im folgenden Jahre 243,000 erstarrte Menschen­ leiber verbrannt haben. Der Bdand Moskaus war die Morgenröthe der deut­ schen Freiheit. Lürrringhaus.

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9V. Das preußische Volk im Jahre 1813. Im März 1813 erließ Friedrich Wilhelm III. einen Aufruf an sein Volk. Darin sagte er unter anderm: „Wir unterlaßen der Uebermacht Frankreichs. Der Frieden, der mir die Hälfte meiner Unterthanen entriß, gab uns seine Segnungen nicht; er schlug unS tiefere Wunden, als selbst der Krieg. Das Mark des Landes ward ausgesogen, der Ackerbau gelähmt, die Freiheit des Handels gehemmt und dadurch die Quelle des Erwerbes und des Wohlstandes verstopft. Das Land ist ein Raub der Verarmung geworden. Brandenburger, Preußen, ihr wisset, was ihr seit sieben Jahren erduldet habt; ihr wisset, waS euer trauriges Loos ist, wenn wir den beginnenden Kampf nicht ehrenvoll en­ den. Erinnert euch an die Vorzeit, an den großen Kurfürsten, den großen Friedrich. Bleibet eingedenk der Güter, die unter ihnen unsere Vorfahren blu­ tig erkämpften: Gewissensfreiheit, Ehre, Unabhängigkeit, Handel, Kunstfleiß und Wissenschaft. Gedenket des großen Beispiels unserer mächtigen Verbünde­ ten, der Russen, gedenket der Spanier, der Portugiesen. Große Opfer werden von allen Ständen gefordert werden, denn unser Beginnen ist groß^ und nicht gering sind die Zahl und die Mittel unserer Feinde. Es ist der letzte Kampf, den wir für unsern Namen, für unser Dasein wagen, und unser Losungswort ist ehrender Friede oder rühmlicher Untergang. Auch den letzten dürft ihr nicht scheuen, weil ehrlos der Deutsche nicht zu leben vermag. Aber wir hoffen mit Zuversicht, Gott und fester Wille werden uns Sieg verleihen und der Sieg die besseren Tage zurückführen." Mit Jubel wurde dieser Aufruf überall vernommen. Es war, als ob ein elektrischer Schlag jedes Herr mit einem zuvor noch nie empfundenen Feuer durchzuckte. Bon Memel bis Demmin, von Kolberg bis Glatz war unter den Preußen nur eine Stimme, ein Gefühl, ein Zorn und eine Liebe, das Vater­ land zu retten, Deutschland zu befreien und den französischen Uebermuth ein­ zuschränken. Das ganze Volk stand auf wie zu einer Völkerwanderung. Krieg, Gefahr und Tod wollten alle; den Frieden siirchteten sie, weil sie von Napo­ leon keinen ehrenvollen, preußischen Frieden hoffen dursten. Krieg! Krieg! schallte es von den Karpathen bis zur Ostsee, von dem Riemen bis zur Elbe. Krieg! rief der Edelmann und Landbesitzer, der verarmt war; Krieg! der Bauer, der sein letztes Pferd unter Vorspann und Fuhren todt trieb; Krieg! der Bür­ ger, den die Einquartierungen und Abgaben erschöpften; Krieg! der Tagelöhner, der keine Arbeit finden konnte; Krieg! die Wittwe, die ihren einzigen Sohn ins Feld schickte; Krieg! die Braut, die den Bräutigam zugleich mit Thränen des Stolzes und des Schmerzes entließ. Jünglinge, die kaum wehrhaft waren, Männer mit grauen Haaren und wankenden Knieen, Offiziere, die wegen Wun­ den und Verstümmelungen lange ehrenvoll entlassen waren, reiche Gutsbesitzer und Beamte, Väter zahlreicher Familien, Verwalter weitläufiger Geschäfte, in dieser Hinsicht jedes Kriegsdienstes entschuldigt, wollten sich selbst nicht entschul­ digen. Selbst Frauen und Jungfrauen in Männerkleidern, vom Strome der Begeisterung mit fortgerissen, drängten sich zu den Waffen, um für das Va­ terland zu streiten und zu sterben. Jede Stadt, jeder Flecken, jedes Dorf er­ schallte von Kriegslust und Kriegsmusik und war in einen Uebungs- und Waf­ fenplatz verwandelt; jede Schmiede war eine Wasfenwerkstälte. Wer seinen Arm nicht bieten konnte, der bot seine Habe dar; große Geldsummen, Gold und Edelsteine, Finger- und Ohrringe, Kleidungsstücke, Betten, Leinwand wurden auf den Altar des Vaterlandes niedergelegt: eine schlesische Jungfrau opferte das Einzige, was sie hatte, ihr schönes, goldenes Haar. Das Schönste bei die­ sem heiligen Eifer war, daß alle Unterschiede von Ständen und Klassen, von Altern und Stufen vergessen und aufgehoben waren; daß jeder sich demüthigte

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und hingab zu dem Geschäfte und Dienste, wo er der brauchbarste war; daß das eine große Gefühl des Vaterlandes und seiner Freiheit und Ehre alle an­ deren Gefühle verschlang. Die Menschen fühlten es: sie waren gleich geworden durch das lange Unglück; sie wollten auch gleich sein im Dienste und im Ge­ horsam. Die Begeisterung, welche Preußen bewegte, theilte sich auch bald dem übri­ gen Deutschland mit; überall in dem weiten Vaterlande wiederholte sich der­ selbe Sinn, dasselbe Streben bei Jung und Alt, bei jedem Alter und Ge­ schlecht, und bald reichten sich alle deutschen Männer die Bruderhand, um den gemeinsamen Feind mit vereinten Kräften zu bekämpfen. Nach Alüdt.

91. Preußens Kronprinz (Friedrich Wilhelm IV.) in der Lützener Schlacht. Wer sprenget auf dem stolzen Roß Bis in die vordren Reihen Und will dem Eisen, dem Geschoß DaS tnunfre Leben weihen? Das ist ein junger Königssohn, Der Erbe von dem Preußenthron.

O reite, junges, edles Wild, Du ritterlicher Degen; Vom Himmel schaut ein sel'ges Bild Mit Lust nach deinen Wegen; Die Mutter schützt den Königssohn, Du erbest doch der Väter Thron.

Drob zürnet ihm des Königs Muth Und straft mit mildem Worte: „Zurück, du junges Zollernblut, Zum angewies'nen Orte. Du rascher, junger KönigSsohn, Mußt erben ja den hohen Tyron."

Du wirst uns lang' im Ehrenfeld Mit Blick und Schwert regieren, In späten Jahren, werther Held, Ein frommes Scepter führen. Du rascher, lieber Königssohn, Wir retten auch für dich den Thron! Schenken^orf.

92. Die Schlacht bei Groß-Beeren. Nicht mindere Siege als die schlesische Armee unter Blücher und die große unter Fürst Schwarzenberg erfocht die Nord-Armee, welche in der Mark Bran­ denburg unter dem Commando des Kronprinzen Karl Johann von Schweden aufgestellt war. Aber dieser Oberbefehlshaber that dabei das wenigste. Die beiden ruhmwürdigen Ereignisse, deren eines wir erzählen werden, verdankt un­ ser König dem selbständigen Entschluß seiner Corpsführer, den Generalen von Bülow und von Tauentzien. Dem französischen Marschall Oudinot hatte sein Kaiser den Befehl gegeben, Berlin um jeden Preis zu gewinnen. Demgemäß war der Marschall gleich nach Beendigung des Waffenstillstands in der Mitte August über die preußische Grenze geschritten und allmählich weiter vorgedrun­ gen. Schon waren seine vordersten Truppen zwei, drei Meilen von Berlin ab. Der Kronprinz von Schweden konnte sich zu einem entscheidenden Wag­ stück nicht entschließen. Da, als die Feinde am 23. August bei Groß - Beeren, einem Dorfe zwei Meilen von Berlin, erschienen, ließ der General von Bülow, des Zauderns müde, seinem Oberbefehlshaber ohne Weiteres melden, er greife die Franzosen an, und that es sofort auf eigene Verantwortung. Die Feinde waren beschäftigt, Bivouaks einzurichten, als die Kanonade losbrach. Der französische Anführer glaubte an keinen ernstlichen Angriff und ließ alle Mel­ dungen unbeachtet. 3n solche Sorglosigkeit hatte das Verfahren des Kron­ prinzen von Schweden die Feinde eingeschläfert. Der General von Borstell umging ihren rechten Flügel. Eine feindliche Batterie wurde am äußersten Ende gefaßt und genommen. Im Sturmschritt drangen darauf die Preußen vor. Es regnete; die Gewehre konnten nicht ab-

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gefeuert werden; man schlug sich denn mit Kolben und Bajonetten. Schnell war das Dorf Groß-Beeren den Feinden abgenommen; sie wurden gqnz ge­ worfen und ihre Reiterei zersprengt. Noch wollte der französische Marschall die Reserven vorrücken lassen. Aber die Preußen stürmten ihnen mit Uebermacht entgegen, sobald sie aus dem Gehölz hervortraten. Das feindliche Ge­ schütz wurde genommen, und die Franzosen mußten den Kampf abbrechen. Sie zogen sich an die Elbe nach Wittenberg und Torgau zurück. Napoleons Plan auf Berlin war schmählich vereitelt. Der General von Bülow hatte seine Siegeslaufbahn nach dem Waffenstillstand begonnen. Dem neunten preußischen Regiment, das schon im Jahre 1807 bei der Bertheidigung Kolbergs Wunder der Tapferkeit und Ausdauer vollführt hatte, diesem „Kolberger" Regimente wurde der Schlachttag ein neuer glänzender Ehrentag. Drei­ ßig Kanonen, zweitausend Gefangene waren der Gewinn des Sieges.

93. Die Schlacht an der Katzbach. Napoleon stand mit dem Kern seiner Heeresmacht bei Dresden. Die Trup­ pen der Verbündeten waren in drei große Heere getheilt. Eine östreichische Ar­ mee unter dem Fürsten Schwarzenberg stand in Böhmen, eine preußische unter Blücher in Schlesien und die sogenannte Nordarmee unter dem Kronprinzen von Schweden im Brandenburgischen. Zuerstwarf sich Napoleon auf das schlesische Heer; Blücher zog sich zurück. Unterdessen rückte Schwarzenberg in der Richtung gegen Sachsen vor. Da ließ der französische Kaiser seinen Marschall Macdonald mit 80000 Mann in Schle­ sien und kehrte nach Dresden zurück. Nun rückte Blücher wieder vor. Unge­ fähr in der Mitte zwischen den Städten Jauer, Liegnitz und Goldberg stieß er auf die Franzosen, als sie eben eilig aus dem Thale der wüthenden Neiße her­ aufkamen. Es war ein fürchterliches Wetter. Schon drei Tage und Nächte lang stürzte der Regen in Strömen vom Himmel. Der Erdboden war mit Schlamm bedeckt. Die Bäche brausten schäumend von den Bergen herab, die Flüsse traten aus ihren Ufern; den Soldaten faulten die Stiefeln, den Pferden die Hufe ab. Schnell ordnete Blücher seine Schaar. „Vorwärts, Kinder, vor­ wärts!" ruft er seinen Kriegern zu; „zeigt, daß ihr brave Preußen seid!" Ein furchtbarer Kampf entbrannte. Die Gewehre wollten nicht losgehen. Da stürzte sich das Fußvolk mit den Bajonetten und die Reiterei mit geschwungenen Sä­ beln auf die Franzosen. Mann an Mann, Herz an Herz wird gefochten, mit Muth und Wuth, bis die Feinde wanken und fliehen. Zürnend rauschen die hoch angeschwollenen Fluthen der wüthenden Neiße und Katzbach und reißen die Fliehenden zu Tausenden hinab. Achtzehntausend wurden gefangen. Der Ge­ neral Macdonalv schrieb an seinen Kaiser: „Sire, Ihre Armee am Bober ist nicht mehr!" Schlesien war gerettet. Der König von Preußen erhob den alten Blücher zum Feldmarschall und später zum Fürsten von Wahlstadt; die preu­ ßischen Krieger nannten ihn von nun an blos ihren „Marschall Vorwärts." isütrringbaite.

94. Die Schlacht bei Dennewitz. Nachdem den Franzosen die Wege nach Schlesien und Böhmen durch die Schlachten an der Katzbach, bei Dresden und bei Kulm versperrt waren, ver­ suchte es ihr Kaiser Anfangs September noch einmal mit Berlin. Er gab von seinen Marschällen, dem er am meisten traute, dem Marschall Ney, achtzigtausend Mann. Damit sollte dem Kriege im Norden eine andere Wendung ge­ geben werden. Wie sich's der Kaiser ungefähr dachte, zeigt seine Instruction)

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„Der Marschall Ney soll am 5. September die preußische Grenze überschreiten, am 9., spätestens am 10. Berlin angreifen und nehmen. Das wird leicht ge­ lingen. Denn die Kosaken-Schwärme und die Regimenter schlechter Infanterie und Landwehr werden sicher vor ihm zurückweichen, wenn er entschlossen vorgeht. Er soll rasch manövriren, damit zugleich von der Verwirrung der verbündeten Hauptarmee in Böhmen Nutzen gezogen werden sonne." So lauteten Napoleons Befehle. Er hatte sich in allem sehr geirrt. Doch fürs erste vollführte es der Marschall Ney, wie ihm Napoleon be­ fohlen. Er rückte am 5. September über die preußische Grenze, vertrieb aus den nächstliegenden Orten die ersten vereinzelten Vorposten der verbündeten Macht, aus Zahna die Kosaken und die Landwehr unter General von Dobschütz, aus Seyda das Corps des Generals Tauentzien. Er war auf dem graden Wege nach Berlin. Beide genannte Generale wichen vor seiner Uebermacht auf der Straße nach Jüterbogk zurück; der Marschall Ney folgte ihnen auf dem Fuße. Die Heerestheile der Verbündeten standen zu entfernt, um schnell genug ver­ einigt zu werden. Erst Jüterbogk war zum Sammelplatz bestimmt. Nichts desto weniger marschirten die Franzosen am Morgen des 7. September um diese Stadt herum, als die meisten Truppentheile noch weit davon waren. Der General Tauentzien aber erkannte die Wichtigkeit dieses Ortes. Wiewohl er wußte, daß seine geringe Macht auf die Länge der Zeit den Franzosen nicht Stand Hallen könne, faßte er doch beim Dorfe Dennewitz, das dicht bei Jüter­ bogk liegt, feste Stellung und griff die vorüberziehenden Franzosen an. Sie suchten vergeblich, ihn aus seiner Stellung zu verdrängen. Die preußische Land­ wehr, die er kommandirte, hielt sich vortrefflich. Nur allmählich begann Pulver und Kugeln zu fehlen. Fast schien es, als müßte er vom Kampfe abstehen. Da kam im Augenblick der höchsten Noth Bülow und mit ihm wieder preußische Landwehr. Sie wollte zeigen, ob sie gut oder schlecht sei. Bülows Reiter schlugen die französische Infanterie im ersten Angriff zurück. Bald aber stellte sich der Kampf wieder ins Gleichgewicht und schien allmählich abermals zu Gunsten der Franzosen zu neigen. Sie hatten unterdeffen gleichfalls bedeu­ tende Verstärkung empfangen. Und wirklich waren zum zweiten Mal die Kräfte der Preußen, des Tauentzienschen und des Bülowschen Corps, aufs äußerste er­ schöpft. Sie waren wieder nahe daran, den Kampf abbrechen zu müssen. Da erschien die preußische Brigade des Generals von Borstell und warf die Feinde mit Macht aus ihrer Stellung. Nun, nachdem die preußische Landwehr den heißen Tag mit Ruhm bestanden hatte, rückte am späten Abend noch der Haupt­ theil der Nordarmee unter dem Kronprinzen von Schweden heran. Dieser saum­ selige Oberbefehlshaber wollte, wenn nicht an der Schlacht selbst, doch wenigstens an ihrem Ruhme Antheil haben. Er hatte leichtes Spiel; ungeheure Massen, siebzig Bataillone in mehreren Kolonnen, ließ er im Sturmschritt angreifen. Zehntausend Reiter und hundert und fünfzig Kanonen unterstützten ihren An­ griff. Da wurden die Franzosen völlig zurückgeworfen und in die wildeste Un­ ordnung gebracht. Sie ergriffen die Flucht. Nichts konnte sie darin aufhalten. Bis vor Torgau wurden sie verfolgt. Da endlich retteten sich, die nicht um­ gekommen oder gefangen waren, über die Elbe. Die große Armee war gänzlich aufgelöst. Dreizehntausend Gefangene, achtzig Kanonen und vierhundert Kriegs­ wagen waren in die Gewalt der Verbündeten gekommen. Napoleon, im höchsten Unmuth über diese Niederlage seiner Truppen, drohte, ihren Befehlshaber, seinen Lieblingsmarschall Ney, in einen Weiberrock zu stecken und zur Schmach durch die Thore von Paris führen zu lassen. Seine Absichten auf Berlin waren abermals an einem Tage gänzlich zu Schanden ge­ worden. ^abn.

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95. Die Völkerschlacht bei Leipzig. Ach, Wären wir doch eins, ihr deutschen Brüder, Dor unsrer Brust zerbräche eine Welt. Mosen.

Es war in den ersten Octobertagen des Jahres 1813. Kaiser Napoleon hatte sein Hauptquartier Dresden verlassen und sich mit seinen Truppen in die große Ebene von Leipzig gezogen. Hier war es, wo vorn 16. bis 19. Oc­ tober Männer vom Tajo und Ebro, vom Po und dem Tiber, von der Seine und dem Rheine in blutigem Kampfe gegenüberstanden den Söhnen der Do­ nau, der Elbe, der Oder, der Weichsel, des Don, der Wolga, des weißen und des schwarzen Meeres! $ter wütheten 2000 Feuerschlünde 3 Tage lang unter 400,000 Soldaten, von denen die einen voll hoher Begeisterung und voll Muth für die heilige Sache des Vaterlandes, die andern für Ehre und vieljährigen Waffenruhm stritten. Im Süden Leipzigs bei Connewitz und Liebertwolkwitz beginnt der Kampf; Oestreicher und Russen unter Fürst Schwarzenbergs Oberbefehle eröffnen ihn. Bald hört man nicht mehr die einzelnen Schüsse; ein unaufhörliches Nollen er­ schüttert die Lust und macht die Veste der mit Rauchwolken bedeckten Erde er­ beben; im weilen Umkreise klirren die Fenster, und die ältesten Soldaten erinnern sich solches furchtbaren Geschützdonners nicht. Die Hurrahs der Angreistnden erschallen in die Schmerzensrufe der Verwundeten und Sterbenden, das Raffeln der Kanonen und Geschützwagen in den Marsch der Bordringenden, die Trom­ melwirbel, die Horn- und Trompetensignale der Streiter zu Fuß und Roß in das unaufhörliche Knattern der Gewehre. Adjutanten fliegen hin und her! Verwundete kommen blutend oder werden von andern hinter die Angriffslinien gebracht! Tod und Schrecken, Angst, Freude, Muth und Verwirrung auf allen Seilen in allen pulvergeschwärzten Gesichtern der Streiter! Gewaltige Heeresmäffen im An- und Abzüge, furchtbare Artillerie mit ihren zahllosen Feuer­ schlünden, Kugel- und Kartätschenladungen nach allen Seiten sendend. Da giebt's Blut! Schon werden die Franzosen zurückgedrängt, aber ungeheure Heeresmaffen eilen im Sturmschritte den bedrängten Punkten zu, und die franzö­ sische Reiterei, von Wachau hervorstürzend , wirft endlich alles vor sich nieder. Es ist Nachmittags 3 Uhr. Siegesboten, von Napoleon gesendet, fliegen nach Leipzig, zu künden den Sieg, und in den Donner der Geschütze tönt das Siegesläuten der Glocken von Leipzig. Doch im Buche des Schicksals stand eine andere Losung! Den kühnen Streitern fehlte der Nachdruck, und Kosaken ent­ rissen ihnen die mit unglaublicher Kühnheit gewonnene Beute an Geschützen. Vergeblich waren alle wiederholten Anstrengungen der Franzosen; die Schlacht war zum Stehen gekommen. Unterdessen hatte der Kampf auch auf der West- und Nordostseite von Leipzig, bei Lindenau und Möckern, getobt. Mehr als 50 Feuerschlünde sind bei letzterem Dorfe aufgepflanzt und senden unaufhörlich Tod und Verderben in die Reihen der Preußen. Wiederholt wird das lange Dorf vergeblich er­ stürmt.. Endlich wirft sich die preußische Reiterei auf die französischen Vierecke und sprengt sie, alle Bataillone rücken ohne Befehl vor, französische Pulver­ wagen fliegen in die Luft und bringen Verwirrung in die Reihen, die vsn der andern Seite mit Umgehung bedroht sind; da verlassen die Franzosen mit dem Abende das vertheidigte und nun an mehreren Orten in Flammen auflodernde Dorf. Von 20.000 preußischen Kämpfern liegen über 5000 todt auf dem Schlachtfelde. So groß der Verlust auch war, so war doch die Errungenschaft nicht zu theuer erkauft, denn Blüchers Sieg bei Möckern entschied das Geschick der ganzen Schlacht.

VI.

Geschichte.

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Ueberall gewaltige Kriegermassen, hier um die Wachtfeuer gelagert, dort sich schon dem Schlummer überlassend, da noch im Marsche, um neue Stel­ lungen zu beziehen! Ueberall Verwüstung und Schrecken! In den Dörfern die angsterfüllten Bewohner, die noch nicht in der Ferne und in den Wäldern Schutz fanden, überall die Plünderung ihrer Habe und rohe Mißhandlung. Und auf den beiden großen Schlachtfeldern! Tausende liegen entseelt; aus allen Wunden rinnt das Blut; hier das Wimmern der hülflos verlassenen Verwun­ deten, dort die Aerzte in blutiger Arbeit, die zerschossenen Glieder abzunehmen, weit klaffende Wunden zu verbinden. Vom Körper losgerissene Glieder liegen überall zerstreut, Massen getödteter oder krampfhaft zuckender verwundeter Pferde, Trümmer von Wagen und Kanonen, umgestürztes Fuhrwerk, Heerden geraub­ ten Viehes brüllend durch die Kriegerhaufen rennend, Waffen und anderes Heergeräthe zerstreut in Stücken und ganz umherliegend. Ueberall das Grauenhaf­ teste, was je die Phantasie sich denken kann, in trauriger Wirklichkeit, und diese Scenen, die mild die Natur mit dem Schleier der Nacht dem menschlichen Auge verbergen will, erleuchteten zahllose Wachtfeuer, unter denen die blutrothen Feu­ ersäulen vieler brennender Dörfer hoch zur Feuergluth des Himmels empor­ züngeln. Und wie ans den Fluren, so in den Straßen von Leipzig. Ueberall Verwundete, Jammer, Noth und Elend! Wer möchte sie zählen, alle jene, die in der kalten Herbstnacht hülflos und verlassen vor Hunger, Kälte und Verblu­ tung ein Äammerleben endeten! So brach der 17. October, ein Sonntag, an. Schwere Nebel lagerten auf der blutigen Erde, llnd die ermatteten Truppen trafen Vorbereitungen für den folgenden Tag. Düster und trübe war der Morgen des verhängnißvollen 18. October, als der rollende Kanonendonner in der achten Stunde den Beginn der Schlacht auf allen Seiten verkündigte. 162,000 Franzosen kämpften heute gegen 290,000 Mann verbündeter Truppen. Bei Connewitz, wo der Polenfürst Poniatowski stand, begann der Kampf. Jeder Fuß Landes ward mit Strömen Bluts er­ kauft; rastlos drangen die Verbündeten vorwärts bis an die Hauptstellung der Franzosen bei Propsthaida. Hier aber, wo Massen gegen Massen stürmen, die einen mit Erbitterung und Siegesfreude, die andern mit Verzweiflung und kalter Todesverachtung, hier war der Kampf nicht Schlacht, ein Schlachten war's zu nennen. Angriff auf Angriff, 300 französische Kanonen donnern gegen die Verbündeten, Berge von Leichen und Verwundeten thürmen sich an den Dorf­ eingängen. Da ließen die in der Nähe weilenden Monarchen, Zuschauer des furchtbaren Kampfes, diesen endlich einstellen; desto unglücklicher war die fran­ zösische Armee bei Abtnaundorf, Paunsdorf und Stötteritz. Ganze Regimen­ ter wurden vernichtet. Der Kronprinz von Schweden hat beim Vorwerke „Hei­ terer Blick" den vom Marschall Ney kommandirten Mittelpunkt der französischen Armee durchbrochen, und furchtbare Heeresmassen drängten die Besiegten vor sich her. Gräßlich war der Kampf um den Besitz von Schönefeld, das von den Russen unter Längeren angegriffen wird. Siebenmal rückt man mit Sturm­ schritt vor, es steht das große, breite Dorf in Flammen, noch wich der Mar­ schall Marmont nicht. Da macht der Abend dem grausigen Würgen ein Ende, es ziehen sich die Franzosen nach Volkmarsdorf und Reudnitz zurück. Um das Unglück voll zu machen, hatten zwei Regimenter Würtemberger und das säch­ sische Armeecorps die Reihen der Franzosen verlassen, letzere längst grollend wegen alles Elendes, das die Franzosen über Sachsen gebracht hatten, und er­ griffen von Begeisterung für die deutsche Sache. Kanonenschüsse in ihre Rei­ hen waren der Scheidegruß; aber auch die sächsische Artillerie wendet ihr Ge­ schütz und sendet tausendfach den Tod in jene Schaaren, mit denen sie so eben noch gestritten. Dies hemmt den Lauf der feindlichen Armee; Verwirrung

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VT. Geschichte,

bricht herein, sie müssen weichen und verlassen am andern Morgen selbst Stöt­ teritz und Probsthaida. Es war um 8 Uhr Abends, da ritt der Feldmarschall Fürst Schwarzen­ berg nach der Höhe von Meusdorf, von wo aus die verbündeten Fürsten dem Getümmel der Schlacht zugesehen hatten, und verkündigte den vollständigen Sieg. Da stiegen sie von ihren Rossen, entblößten die Häupter und sandten fromme Blicke zum Himmel empor. Napoleon aber ging nach Leipzig und diktirte in der Nacht die Anordnungen für den Rückzug. Nachts, schon nach Aufgang des Mondes, ward er angetreten. Lange Heereszüge, 'die Garden voran, bewegten sich auf der Straße über Lindenau nach Lützen und Weißenfels zu. Schon hatte der Kampf wieder begonnen, da bestieg Napoleon sein Schlachtpferd, nahm Abschied von dem Könige von Sach­ sen, Friedrich August, und begab sich nach dem Ranstädter Thore, das zu pasfiten ihm endlich nach vielen Mühen durch ein Seitengäßchen gelang. Furchtbar war hier das Gewühl! Da zog Fußvolk und Reiterei in der engen Straße, Geschütz und Pulverwagen, Gesunde, Verwundete und Sterbende, Wagen mit Frauen und Kindern, Marketender und Viehheerden, alles im wildesten Getüm­ mel, in endloser Hast, mit Drängen, Stoßen und Geschrei bunt durcheinander. Jeder Aufenthalt auf der engen Straße bringt Stocken in den ganzen Knäuel; wer zu Falle kommt, ist verloren! Umgestürzte Kanonen, verlassenes Fuhrwerk aller Art, Pulverwagen und Gepäck, alles hindert den Zug. Bon der andern Seite drängen, stürmen, schießen die Verbündeten, und noch sind mehr als 20,000 Franzosen in der Stadt! Da ertönt, es ist Mittags 12 Uhr, ein dum­ pfer Knall! Ein Schrei des bangsten Entsetzens durchzuckt die Reihen der Fran­ zosen, die steinerne Elsterbrücke, die einzig Rettung versprechende, ist durch Uebereilung eines Feuerwerkers zu frühzeitig gesprengt! Der Elsterfluß mit tiefem Bette und hohen Ufern wehrt dem Vorwärtsdringenden. Man stürzt sich in die kalten Fluthen, sie zu durchschwimmen; Tausende, unter ihnen auch der Po­ lenheld Poniatowski, ertrinken, und Menschen und Pferde erheben sich in grau­ envollen Gruppen über dem blutgefärbten Gewässer. 15,000 müssen sich als Kriegsgefangene ergeben. Durch die Grimmaische Straße aber bewegt sich eine Stunde später ein einfacher Zug: Kaiser Alexander und König Friedrich Wilhelm von Preußen sind's, umgeben von den ruhmumstrahlten Helden der blutigen Tage, Schwar­ zenberg und Blücher, dem greisen, unermüdeten Krieger! Deutschland jubelt über den Sieg bei Leipzig. Das Joch der Fremdherrschaft war abgeworfen, und Deutschlands Stämme waren wieder, wie einst am großen Tage Her­ manns, eins gewesen bei einer großen Sache. Mit Ruhm wird man noch in den fernsten Zeiten der Tage von Leipzig gedenken. Die Wiedergeburt Deutsch­ lands, ja Europas beginnt mit den Tagen der Leipziger Völkerschlacht, und manche Ernte jener blutigen Aussaat reift wohl noch. Tboniae.

96. Gebhard Lebrecht von Blücher. In Harren und Krieg, in Sturz und Sieg Bewußt und groß, so riß er uns vom Feinde los. Goethe- Gradschrift auf Blücher.

Blücher war von großer, schlanker Gestalt, von wohlgebildeten, starken Gliedern. Ein herrlicher Schädel, eine prächtige Stirn, eine starkgekrümmte Nase, scharfe, heftig rottende und doch im Grunde sanftblickende, hellblaue Au­ gen, dunkel aeröthete Wangen, ein feiner, aber vom starken herabhängenden Schnurrbart fast überschatteter Mund, ein wohlgeformtes, starkes Kinn: alles dies stimmte zu einem tüchtigen Menschenantlitz überein, dessen ausgearbeitete

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Züge sogleich einen bedeutenden Charakter erkennen ließen. Sein ganzes An­ sehen trug das Gepräge eines Kriegshelden, eines gebietenden, wie eines voll­ streckenden. Muth und Kühnheit leuchteten aus seinem ganzen Wesen hervor. Seine Unerschrockenheit in gefährlichen Lagen, seine Ausdauer im Unglück und sein bei allen Schwierigkeiten wachsender Muth gründeten sich auf das Be­ wußtsein seiner körperlichen Kraft, die er in früheren Feldzügen im Handge­ menge oft geübt hatte. So war es bei ihm nach und nach zur Ueberzeugung geworden, daß eS keine militärische Berlegenheit gäbe, aus welcher man sich nicht am Ende durch einen Kampf, Mann gegen Mann, herausziehen könne. Wenn die Truppen ihre Befehle hatten, so konnte er die Ausführung kaum erwarten, und alle Bewegungen schienen ihm zu langsam. Es war nicht rathsam, ihm den Entwurf zu einer Schlacht vorzulegen, deren Dauer auf den gan­ zen Tag und die Entscheidung auf den Abend berechnet war. Sein Charakter verlangte schnellere Entscheidung. Die Reiterei war seine Lieblingswaffe. Von seinem Gleichmuthe in Gefechten, von seiner Todesverachtung werden viele Züge erzählt. Im größten Kugelregen bei Ligny rauchte er gelaßen seine Pfeife, die er an der brennenden Lunte des nächsten Kanoniers angezündet hatte. Seine Umgebungen hatten immer alle Mühe, ihn von der persönlichen Theilnahme an einzelnen Angriffen zurückzuhalten, besonders wenn ein Gefecht ungünstig ausfiel: dann wollte er zuletzt immer persönlich mit der Reiterei alles wieder umlenken, und indem er sagte: „Ich werde sie gleich mal anders fassen!" oder: „Na, ich will schon machen, laßt mich nur erst unter sie kommen," sah er sich eifrigst nach der nächsten Reiterei um, rief die Anführer herbei, denen er das Meiste zutraute, und war oft kaum zu verhindern, seinen für das Ganze viel leicht schon zwecklosen, für die Truppen aber, selbst im Gelingen, verderblichen Anschlag auszuführen. Auö dem Schlaf aufgerüttelt, um die Meldung zu ver­ nehmen, daß Napoleon eine neue, so unerwartete als kühne Bewegung aus­ führe, antwortete Blücher gähnend: „Da kann er die schönste Schmiere krie­ gen!" gab einige für den Fall nöthige Befehle und drehte sich gelassen auf die andere Seite zum Weiterschlafen. Durch solche Art zu sein und die Dinge zu nehmen, hatte Blücher eine unwiderstehliche Wirkung auf das Volk: der gemeine Mann war ihm überall, wo er sich zeigte, sogleich zugethan; selbst in Frank­ reich hatte das Volk eine Art Vorliebe für ihn. Ihm war insbesondere die Gabe eigen, mit den Soldaten umzugehen, sie zu ermuntern, zu befeuern; mit dem Schlage weniger Worte, wie sie der Augenblick ihm eingab, durchzuckte er die rohesten Gemüther. Einst wollte er kurz vor einem Sturme seine Truppen anreden; da fiel ihm ihr schmutziges Aussehen auf und sogleich an diesen Ein­ druck seine Worte anknüpfend, rief er in seiner Kraftsprache: „Kerls, ihr seht ja aus wie die Schweine; aber ihr habt die Franzosen geschlagen. Damit ist's aber nicht genug. Ihr müßt sie heut wieder schlagen: denn sonst sind wir alle verloren!" Eine Anrede, welche von der größten Redekunst nicht glücklicher auSgedacht und angeordnet werden konnte. Eben so glücklich trafen oft seine Scherzworte, z. B. wenn er einem Bataillon Pommern, welches beim Eindrin­ gen in Frankreich überaus brav gethan, aber auch sehr gelstten hatte und in ernster, fast düsterer Haltung einherzog, vertröstend zurief: „Nun, Kinder, sollt ihr so lang' in Frankreich bleiben, bis ihr alle französisch könnt!" Das ganze Bataillon war augenblicklich in gute Laune versetzt. Nichts war merk­ würdiger, als wenn er von seinen Kriegsereignissen erzählte. Am liebsten sprach er von den Vorfällen in Schlesien, von dem Gefechte bei Hainau und besonders von der Schlacht an der Katzbach. Wahrhaft groß erscheint Blücher in seiner neidlosen Anerkennung des Ver­ dienstes anderer, sowohl solches, das er selbst nicht theilen konnte, als auch des­ sen, welches in der Bahn des seinigen lag. Jede würdige Erscheinung, jede

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tüchtige Kraft hielt er in Ehren, den Staatsmann und den Schriftsteller, den Kaufmann und den Künstler, sobald sie ihm in der Persönlichkeit oder in dem Namenansehen entgegentraten, die ihren Werth ihm verständlich machten. Hier­ her gehört denn auch das große Wort, durch welches Blücher einst die Lobre­ den, die man ihm zum Ueberdrusse vorgetragen, ungeduldig unterbrach. „Was ist's, das ihr rühmt?" rief er wie begeistert, „es war meine Verwegenheit, Gneisenaus Besonnenheit und des großen Gottes Barmherzigkeit!" Ein ander­ mal in einer großen Versammlung, als bei Tische viele Trinksprüche schon aus­ gebracht und Sinn und Streben auf Seltenes und Wunderliches gerichtet war, verhieß Blücher, alle überbietend, er wolle thun, was ihm kein Anderer nach­ machen könne: er wolle seinen eigenen Kopf küssen. Das Räthsel blieb nicht lange ungelöst; er stand auf, ging zu Gneisenau hin und k.üßte ihn mit herz­ licher Umarmung. Noch bei vielen Gelegenheiten gab er wiederholt das offene Bekenntniß, er selbst sei im Felde nur der ausführende Arm, aber Gneisenau das leitende Haupt gewesen. Ihre beiderseitige Freundschaft blieb ungetrübt bis ans Ende, und kein Augenblick von Eifersucht rief jemals eine Theilung und Sonderung dessen herbei, was durch das Leben selbst vereint worden und nur also vereint in seinem vollen Werthe besteht. Varpbstflen von Lnsc

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Blücher in den Schlachten bei Ligny und Belle-Alliance.

Napoleon befand sich auf der Insel Elba, und die verbündeten Monarchen glaubten, mit ihm fertig zu sein. Sie begaben sich nach Wien, um die zerrüt­ teten Verhältnisse Europas zu ordnen. Damit ging es aber langsam, und noch waren sie nicht fertig, als plötzlich die Kunde erscholl: Napoleon hat Elba ver­ lassen und ist nach Frankreich zurückgekehrt! Diese Nachricht versetzte die Völ­ ker Europas in große Aufregung. Worte vermögen kaum zu schildern, was Millionen bewegte; in Deutschland war es Zorn und Wuth, Furcht und Ent­ setzen ; in Frankreich unendlicher Jubel. Die Städte öffneten ihrem alten Kai­ ser die Thore, die Soldaten sammelten sich unter seinen Fahnen. Der König von Frankreich, der sich die Liebe seiner Unterthanen nicht zu verschaffen gewußt hatte, schickte ihm ein Heer entgegen, aber eS ging zu ihm über, und wie im Triumphe zog Napoleon am 20. März 1815 in Paris ein. Ludwig XVIII. hatte die Flucht ergriffen. Napoleon sprach zu den Verbündeten Worte des Friedens. Diese aber riefen einmüthig: Napoleon ist ein Verräther, und wir werden ihn bis auf den letzten Mann bekämpfen. Blücher, der nach Beendi­ gung des Krieges einen schlichten Bürgerrock angezogen hatte, erschien nun un­ ter dem Zujauchzen des Volkes in den Straßen Berlins auf einmal wieder in der Feldmarschalls-Uniform und trieb zu energischen, kräftigen Rüstungen. Ganz Deutschland wurde aufs neue zu den Waffen gerufen. 3n vier großen Haufen rückten die Preußen unter Blücher in die Niederlande ein bis dicht an die Grenzen Frankreichs. Neben ihnen sammelten sich die Engländer, Nieder­ länder, Hannoveraner und Braunschweiger unter dem englischen Feldherrn Wellington. Blücher hatte sein Hauptquartier zu Namur, Wellington zu Brüs­ sel. Beide Heerführer hatten sich gegenseitig schnelle Hülfe zugesagt. Napo­ leon warf sich zuerst auf Blüchers Heer. Bei Ligny standen am 16. Juni 130,000 Franzosen gegen 90,000 Preußen. Es war ein schreckliches Gewühl. Üm die Höhen und Dörfer wurde gekämpft. Bald hatten sie die Franzosen, bald die Preußen inne. Blücher wartete vergebens auf die 20,000 Mann Hülfstruppen, die ihm Wellington versprochen hatte. Seine Krieger waren schon alle im Feuer gewesen, und Napoleon konnte noch immer neue Schaaren einrücken lassen; dennoch hielten die Preußen Stand bis gegen Abend. Da ließ Napoleon seine Garden aufmarschiren; diese warfen alles vor sich nieder.

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Blücher fliegt ihnen mit der Reiterei entgegen. Da trifft eine Kugel sein Pferd, es stürzt und wirft sich auf ihn. „Nostitz, ich bin verloren," ruft der Helden­ greis seinem Begleiter zu. Dieser kommt ihm aber schleunig zu Hülfe, zieht ihn, als die feindliche Reiterei glücklich an ihnen vorübergebraust ist, unter dem Pferde hervor und bringt ihn in Sicherheit. Die Schlacht ist verloren, aber der Feldherr gerettet, und sein Muth ist ungebeugt geblieben. ,,Wir haben Schläge gekriegt," ruft er heiler seinem Freunde Gneisenau zu, „aber wir wer­ den die Scharte auswetzen!" Unter heftigen körperlichen Schmerzen liegt er die Nacht schlaflos in einer Bauernhütte; doch Kopf und Herz sind gesund. Den Bericht an den König ordnet er noch selbst. Als er eben damit fertig ist, will ihm ein Wundarzt die gequetschte Stelle einreiben. Blücher fragt, was er da habe? „Spirituosa," erhält er zur Antwort. „Na," erwidert der Feldherr, „auswendig hilft das nicht viel. Ich will dem Dinge bester beikommen; bringt mir Champagner!" Darauf trank er mit den Worten dem Courier zu: „Sa­ gen Sie nur Sr. Majestät, ich hätte kalt nachgetrunken, es würde schon besser werden." Am Morgen des 17. Juni ließ Wellington bei Blücher anfragen, ob er ihm zu einer Hauptschlacht mit zwei Heeresabtheilungen zu Hülfe kom­ men könnte. „Mit meiner ganzen Armee," war Blüchers Antwort, „und wenn uns die Franzosen nicht angreisen, so wollen wir sie angreifeu." Der Erfül­ lung dieses Versprechens stellten sich aber bedeutende Hindernisse entgegen. Den 17. mußte er in Folge seines Sturzes im Bette zubringen, und als er am 18. in der Frühe unmittelbar aus dem Bette aufs Pferd sollte, hatte man Ursache, sehr besorgt um ihn zu sein. Der Wundarzt wollte ihn zu guter Letzt noch einreiben. Er wehrte ihn aber mit beiden Händen ab und versetzte: „Ach, nicht erst noch schmieren; ob ich heute balsamirt oder unbalsamirt in die andere Welt gehe, wird wohl so ziemlich einerlei sein!" Er setzte sich zu Pferde, wie sehr ihn auch die gequetschten Glieder schmerzten, und rief: „Vorwärts, Kinder!" Seine Truppen waren aber noch sehr angegriffen von der vorgestrigen Schlacht. Der Weg war weit, der Boden ganz durchweicht, der Regen stürzte in Strö­ men vom Himmel, und nur mit unsäglicher Mühe konnte das Heer vorrücken. Blücher war überall; den Regen nennt er seinen Bundesgenossen von der Katzbach, wodurch dem Könige wieder viel Pulver erspart werde. Er räth, ermahnt, befiehlt, ruft sein bekanntes: Vorwärts, Kinder! Trotz alledem muß er das Ge­ murmel hören: Es geht nicht! Es ist unmöglich! Da redet er mit tiefster Be­ wegung und Kraft seine Krieger an: „Kinder, wir müssen vorwärts! Es heißt wohl, es geht nicht, aber es muß gehen, ich habe es ja meinem Bruder Wel­ lington versprochen! Ich habe es versprochen, hört ihr wohl? Und ihr wollt doch nicht, daß ich wortbrüchig werden soll?" Das wirkte. Doch erst gegen 5 Uhr Nachmittags kamen die ersten Züge auf dem Schlachtfelde an. Es war die höchste Zeit, denn Wellington wurde hart bedrängt. Napoleon hatte des Morgens früh ausgerufen: Ha, nun habe ich sie, diese Engländer! 130,000 Mann stürzten sich auf 80,000. Den ganzen Tag ging's Sturm auf Sturm. Die Engländer singen endlich an zu wanken. Wellington rief ihnen zu: „Brü­ der, wir mästen uns tapfer halten, wir dürfen nicht geschlagen werden; was würde man in England sagen?" Und seine Truppen hielten sich über ihre Kräfte. Er schickte Boten über Boten an Blücher ab. Er kam nicht. Seine Reihen wurden immer dünner. Schon sind die Straßen nach Brüssel mit Flüchtlingen aus dem englischen Heere bedeckt, und Napoleon sendet Boten mit der Sieges­ nachricht nach Paris. Da setzt sich Wellington fast in Verzweiflung auf die Erde und spricht: „Hier werde ich bleiben und keinen Fuß breit von dannen weichen." Und gegen 5 Uhr ruft er seufzend: „Ich wollte, es wäre Nacht, oder die Preußen kämen!" Bald darauf hörte er im Rücken und in der rechten Seite der Feinde heftigen Kanonendonner. Da springt er begeistert auf und Dtelitz und Heinrichs, deutsches Lesebuch.

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jubelt mit Thränen in den Augen: „Nun, Gottlob, da kommt der alte Blü­ cher!" Die Preußen warfen sich auf den siegenden Feind. Der Kampf wurde heftiger denn je. Die Franzosen verrichteten Wunder der Tapferkeit; allein ein Haufe nach dem andern wird geworfen. Nur der Kern der französischen Armee hält noch Stand! Ihre Adler sind mit Trauerflor umwunden; erst nach dem Siege sollen sie entschleiert werden. Doch die treue Schaar kämpft den Kampf der Verzweiflung vergebens. Die englische Reiterei ruft ihr zu, sich zu erge­ ben. Darauf erschallt die Antwort: Die Garde stirbt, sie ergiebt sich nicht! Und ihre Worte wurden zur blutigsten Wahrheit. Kurz vor neun Uhr war der Sieg errungen, und dre französische Armee löste sich in grauenvolle Flucht auf. Blücher befahl: Der letzte Hauch von Menschen und Pferden muß zur Verfolgung des Feindes aufgeboten werden. Der General Gneisenau vollzog diesen Befehl. Der Mond leuchtete ihm. Neunmal wurden die Feinde wäh­ rend der Nacht in den Dörfern und Getreidefeldern aufgescheucht. Zu Jemappe wollte Napoleon ein wenig ausruhen. Plötzlich erschallter die preußischen Hör­ ner, und die Sieger brachen in die Stadt ein. Die Angst und Verwirrung war unbeschreiblich. Alles floh voll Entsetzen in wilder Eile durch- und über­ einander. Beinahe wäre Napoleon gefangen geworden. Hut und Degen, Kaisermantel und Ordenssterne zurücklassend, stürzte er aus seinem Wagen und ent­ kam auf schnellem Roffe; aber sein Stern war unteraegangen. Die Verbündeten nahmen nochmals Paris ein. Napoleon wurde des Thro­ nes für verlustig erklärt. Er ergriff die Flucht, gerieth aber den Engländern in die Hände; diese führten ihn als Gefangenen nach der Insel St. Helena, wo er am 5. Mai 1821 am Magenkrebse starb. Seine irdischen Ueberreste wurden 1840 nach Paris gebracht und dort beigesetzt, llücrringhaus.

98. Das Lied vom Feldmarschall. Was blasen die Trompeten? Husaren heraus! Es reitet der Feldmarschall im fliegenden Saus. Er reitet so freudig sein muthiges Pferd, Er schwinget so schneidig sein blitzendes Schwert. O schauet, wie ihm leuchten die Augen so klar ! O schauet, wie ihm wallet sein schneeweißes Haar! So frisch blüht sein Alter wie greifender Wein, Drum kann er Verwalter des Schlachtfeldes sein. Der Mann ist er gewesen, als alles versank, Der muthig auf gen Himmel den Degen noch schwang. Da schwur er beim Eisen gar zornig und hart, Den Wälschen zu weisen die deutscheste Art. Den Schwur hat er gehalten. Als KriegSruf erklang, Hei, wie der weiße Jüngling tn’n Sattel sich schwang! Da ist-er's gewesen, der Kehraus gemacht, Mit eisernem Besen das Land rein gemacht. Bei Lützen auf der Aue er hielt solchen Strauß, Daß vielen tausend Wälschen der Athem ging aus, Daß Tausende liefen dort hasigen Lauf, Zehntausend entschliefen, die nimmer wachen auf. Am Wasier der Katzbach er's auch hat bewährt, Da hat er den Franzosen das Schwimmen gelehrt. Fahrt wohl, ihr Franzosen, zur Ostsee hinab Und nehmt, Ohnehosen, den Walfisch zum Grab!

VII. Natur-, Länder- und Völkerkunde.

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Bei Warburg an der Elbe, wie fuhr er hindurch! Da schirmte die Franzosen nicht Schanze noch Burg, Da mußten sie springen wie Hasen übers Feld, Hinterdrein ließ erklingen sein Hussa! der Held. Bei Leipzig auf dem Plane, o herrliche Schlacht! Da brach er den Franzosen das Glück und die Macht; Da lagen sie sicher nach blutigem Fall, Da ward der Herr Blücher ein Feldmarschall.

Drum blaset, ihr Trompeten! Husaren, heraus! Du reite, Herr Feldmarschall, wie Winde im Saus Dem Siege entgegen zum Rhein, übern Rhein, Du tapferer Degen, in Frankreich hinein! Arndl.

Vll. Natur-, Länder- und Völkerkunde. 1. Die Zugvögel. Jnumr mehr verbreitet sich eine Stille über die Natur, wenn die zahl­ losen Scharren der Zugvögel unsere Gegenden verlassen und sich nach dem Sü­ den hinwerden. Dort hat der Allmächtige für die Millionen dieser gefiederten Ansiedler Nahrung in reicher Fülle bereitet; aber wie wohl sie sich auch bei dieser Füll: in ihrer zweiten Heimath befinden mögen, sie suchen dennoch, von ihrem mächtigen Naturtriebe aufgeregt und geleitet, die erste und ihr altes Nest wieder auf. Dabei ist es merkwürdig, daß nicht alle gesellig und in Schaaren ziehen; einige machen sich ganz einzeln auf den Weg, z. B. die Amseln, Nach­ tigallen mtD Wiedehopfe; andere ziehen nur familienweise fort, wie die Wach­ teln, Weindrosseln, Haidelerchen und Gimpel, oder sie ziehen auch paarweise. Eben so merkwürdig ist die Zeitordnung, welche dabei von den Zugvögeln ge­ nau'beobachtet wird, indem sie mental# zu gleicher Zeit aufbrechen, sondern in einer geholfen Aufeinanderfolge. Bei dem Rückzüge kommen auch die fremden Bögel wieder bei nns durch, die im Herbste ans den nördlichen Gegenden bei uns vorübrrzogen, aber nicht in unserm Himmelstrich überwintern, z. B. die wilden Enten und Gänse. Die europäischen Zugvögel ziehen meistens nach Asien und Afrika; die Ufer des Dniepr, Natolien, Griechenland, Palästina und besonders das reiche Aegypten sind die Zufluchtsörter dieser Auswanderer. Ein ganz eigenthüm­ licher Ton, wodurch sie einander zum Aufbruch züsammenrufen, ist das Signal zum Wegziehen. Einige, besonders die Schwalben, stellen eine Art von Vor­ übung mit ihren Jungen ent, ehe sie abziehen. In mondhellen Nächten wäh­ rend des Septembers und Oktobers hört man das laute Geschrei der Wegzie­ henden hock in der Luft, und die Märchen vom wilden Jäger und wüthenden Heere, weLhe der Aberglaube ersonnen hat, sind hieraus zu erklären. Sehr verschieden ist die Ordnung, welche sie auf dem Zuge selbst beobachten. Einige bilden eine gerade Linie, andere einen Winkel, desien Mitte die Luft zuerst durch­ schneiden muß; wieder andere geben ihrem Heereszuge die Gestalt eines Keils, z. B. die vilden Gänse und Enten, und die voraüfliegende, welche die Spitze des Keils bildet, wird nach einiger Zeit abgel'öst; noch andere ziehen in nnab-

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VII. Natur-, Länder- und Völkerkunde.

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Bei Warburg an der Elbe, wie fuhr er hindurch! Da schirmte die Franzosen nicht Schanze noch Burg, Da mußten sie springen wie Hasen übers Feld, Hinterdrein ließ erklingen sein Hussa! der Held. Bei Leipzig auf dem Plane, o herrliche Schlacht! Da brach er den Franzosen das Glück und die Macht; Da lagen sie sicher nach blutigem Fall, Da ward der Herr Blücher ein Feldmarschall.

Drum blaset, ihr Trompeten! Husaren, heraus! Du reite, Herr Feldmarschall, wie Winde im Saus Dem Siege entgegen zum Rhein, übern Rhein, Du tapferer Degen, in Frankreich hinein! Arndl.

Vll. Natur-, Länder- und Völkerkunde. 1. Die Zugvögel. Jnumr mehr verbreitet sich eine Stille über die Natur, wenn die zahl­ losen Scharren der Zugvögel unsere Gegenden verlassen und sich nach dem Sü­ den hinwerden. Dort hat der Allmächtige für die Millionen dieser gefiederten Ansiedler Nahrung in reicher Fülle bereitet; aber wie wohl sie sich auch bei dieser Füll: in ihrer zweiten Heimath befinden mögen, sie suchen dennoch, von ihrem mächtigen Naturtriebe aufgeregt und geleitet, die erste und ihr altes Nest wieder auf. Dabei ist es merkwürdig, daß nicht alle gesellig und in Schaaren ziehen; einige machen sich ganz einzeln auf den Weg, z. B. die Amseln, Nach­ tigallen mtD Wiedehopfe; andere ziehen nur familienweise fort, wie die Wach­ teln, Weindrosseln, Haidelerchen und Gimpel, oder sie ziehen auch paarweise. Eben so merkwürdig ist die Zeitordnung, welche dabei von den Zugvögeln ge­ nau'beobachtet wird, indem sie mental# zu gleicher Zeit aufbrechen, sondern in einer geholfen Aufeinanderfolge. Bei dem Rückzüge kommen auch die fremden Bögel wieder bei nns durch, die im Herbste ans den nördlichen Gegenden bei uns vorübrrzogen, aber nicht in unserm Himmelstrich überwintern, z. B. die wilden Enten und Gänse. Die europäischen Zugvögel ziehen meistens nach Asien und Afrika; die Ufer des Dniepr, Natolien, Griechenland, Palästina und besonders das reiche Aegypten sind die Zufluchtsörter dieser Auswanderer. Ein ganz eigenthüm­ licher Ton, wodurch sie einander zum Aufbruch züsammenrufen, ist das Signal zum Wegziehen. Einige, besonders die Schwalben, stellen eine Art von Vor­ übung mit ihren Jungen ent, ehe sie abziehen. In mondhellen Nächten wäh­ rend des Septembers und Oktobers hört man das laute Geschrei der Wegzie­ henden hock in der Luft, und die Märchen vom wilden Jäger und wüthenden Heere, weLhe der Aberglaube ersonnen hat, sind hieraus zu erklären. Sehr verschieden ist die Ordnung, welche sie auf dem Zuge selbst beobachten. Einige bilden eine gerade Linie, andere einen Winkel, desien Mitte die Luft zuerst durch­ schneiden muß; wieder andere geben ihrem Heereszuge die Gestalt eines Keils, z. B. die vilden Gänse und Enten, und die voraüfliegende, welche die Spitze des Keils bildet, wird nach einiger Zeit abgel'öst; noch andere ziehen in nnab-

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sehbaren Reihen hinter einander, wie die Meisen, Bachstelzen und Schwalben. Die wunderbarste Ordnung beobachten die Staare; diese fliegen in einem Wir­ bel, und indem sie immer gegen den Mittelpunkt des Kreises, den sie dabei beschreiben, zu fliegen scheinen, treibt sie ihr rascher Flug dennoch vorwärts, so daß es aussieht, als ob sie sich allmählich in der Luft fortwälzen. Auf diese Art scheinen sie sich vor den Raubvögeln schützen zu wollen; denn kein Raub­ vogel kann es wagen, in diesen Wirbel einzudringen, weil er mit fortgerissen werden würde. Die Kraniche, welche unter allen Zugvögeln die längste und kühnste Reise unternehmen, ziehen aus den nördlichen Erdstrichen in die gemä­ ßigten und aus diesen tief gegen den Süden bis ins Innere von Afrika. Sie fliegen dicht an einander geschlossen, so daß jeder seinen Schnabel auf dem Schwänze des vor ihm fliegenden ruhen läßt. So bilden sie ein gleichschenkli­ ges Dreieck, indem sie sich immer in einer bedeutenden Höhe der Luft hallen. Ist ihnen der Wind entgegen, oder werden sie von einem Raubvogel bedroht, so schließen sie augenblicklich einen Kreis. Dabei läßt der Anführer beständig ein Geschrei hören. In den ersten Tagen des Herbstmonats ziehen die Nachtigallen fort, und die Fliegenfänger kehren aus den nördlichen Gegenden zurück. Um die Mitte des Monats langen die Sing - und Weindrosieln an, jedoch noch nicht zahlreich, bis der erste Schnee die niedern Berge der Alpen und des Iura bedeckt. Dann fallen die Singdrosseln, die in den Alpenwäldern genistet haben, in großen Schaaren auf die Ebene, und mit ihnen vereinigen sich diejenigen, welche aus nördlichen Gegenden kommen. Nichts ist regelmäßiger, als das tägliche Leben dieser Drosseln. Mit Sonnenaufgang verlassen sie die Wälder, um sich bis Mittag in den Reben aufzuhalten; dann ziehen sie wieder nach dem Gehölz, wo sie zwei Stunden verweilen; hernach kehren sie abermals in die Reben zu­ rück, welche sie erst nach Sonnenuntergang wieder verlassen. Gegen die Mitte des Septembers kommen auch die Wachteln wieder von den Bergen in die Ebene herab, während diejenigen, die in nördliche Länder gezogen waren, zurückkehren, um sich nach wärmeren Gegenden zu verfügen. Diese reisen immer während der Nacht. Unterdessey reifen die Beeren im Gesträuch und in Hecken; die Am­ seln verlassen das Gehölz und finden sich schaarenweise um die Zäune und Büsche ein, wo es dann auch von Grasmücken und andern Sängern wimmelt, die sich von Brombeeren, Maulbeeren und Kornelkirschen nähren. Einige Tage nach den Wachteln ziehen die Staare in großen Schaaren nach den Gehölzen, während die Wachtelkönige die niedrigen Gesträuche besuchen. Durch die Erscheinung dieser nordischen Ankömmlinge gleichsam erinnert, schicken

sich diejenigen Vögel der gleichen Arten, welche den Sommer über bei uns ge­ blieben sind, an, mit jenen nach Süden zu reisen. Eben so sieht man die Rauchund Hausschwalben um diese Zeit ihren Rückzug beginnen, vereinigt mit den aus Norden zurückkehrenden Ankömmlingen ihrer Arten. Ihr Zug dauert un­ gefähr einen Monat. Während dieser Zeit bemerkt man, daß Morgens und Abends die Schwalben sich in Menge um den Wipfel irgend eines hohen Bau­ mes versammeln und unter fortwährendem Geschrei um seine Neste fliegen. Auch bemerkt man andere beträchtliche Schaaren, die von Norden nach Süden ziehen, ohne sich aufzuhalten. Die kleinen Sänger reisen des Nachts, man möchte sagen, sie schleichen sich fort von Gebüsch zu Gebüsch, um ihren Feinden zu entgehen. Im Oktober endigen diese Züge. Gegen den «lOten sind alle Haus- und Rauchschwalben und die verschiedenen Sylvien fort. Gegen den löten haben uns die letzten Wachteln und die letzten Staare verlassen, einige Tage später erblickt man auch keinen Wachtelkönig mehr. Dann sieht man die Sperber in Truppen von 12 bis 15 mit einander nach wärmeren Himmels­ strichen ziehen. Auch kommen in der Mitte dieses Monats Flüge der Schlag-,

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Holz- und Turteltauben aus den Alpenwäldern, wo sie genistet haben, durch den Schnee vertrieben, in die Ebene; aber nach wenigen Tagen verlassen sie die­ selbe mit den Individuen ihrer Arten, die gleichzeitig von Norden hergekommen sind, um in südlichere Länder zu ziehen. Zu gleicher Zeit beginnt der Zug der Waldschnepfen, der gewöhnlich bis zum 25sten November dauert. Die Wie­ sen sind dann mit weidenden Kühen bedeckt, zwischen deren Füßen die gelben Bachstelzen furchtlos herumlaufen. Die Sing- und Weindrosseln, die nach der Weinlese sich von Wachholderund andren Beeren nähren, ziehen nun auch bald ab und werden durch die Wachholder- oder Nisteldrosieln ersetzt; diese beiden Drosselarten sind wilder als jene und bringen den Winter im Lande zu. Im Spätherbst sieht man zuwei­ len auch ganze Legionen Krähen von Norden nach Süden ziehen, die oft einen ununterbrochenen Zug von einem Punkte des Horizonts bis zu dem entgegen­ gesetzten bilden. Ein solcher Zug gleicht dem Zuge einer Armee; sie scheinen dabei in besondere Haufen getheilt zu sein, welche sämmtlich der allgemeinen Bewegung folgen, die Lüfte mit ihrem wiederholten Gekrächze erfüllend. Er­ hebt sich irgend wo auf einer Wiese ein einziger hoher Baum, so nimmt der Vortrab des Zugs seinen Sitz auf den entblätterten Aesten und kündet durch sein Geschrei an, daß er einen Ruheplatz gefunden, worauf die übrige Schaar sich ungesäumt dahin begiebt. Da aber der einzige Baum nicht alle diese Vögel fassen kann, so setzen sich viele auf die Erde und suchen Schnecken und Würmer zu ihrer Nahrung. Doch nicht lange, so wird das Zeichen zum Aufbruch ge­ geben; augenblicklich erhebt sich die ganze Schaar mit lautem Geschrei, und bald ist sie dem Auge entschwunden. Dohlen und Nebelkrähen befinden sich biswei­ len auch unter den andren Krähenarten. Am Ende des Winters sehen wir unsere Seen von einer Menge Enten verschiedener Art bewohnt, welche auf denselben die kalte Jahreszeit zugebracht haben. Mit der Annäherung des Frühlings eilen diese Schwimmvögel, welche die Hitze scheuen, die Meere und Sümpfe des Nordens wieder zu erreichen, die sie im Herbste zu verlassen genöthigt waren. Gleichzeitig aber sehen wir Vögel der gleichen oder anderer Art durchziehen, die den Winter auf südlicheren Tei­ chen oder Sümpfen oder an den Küsten des mittelländischen Meeres zugebracht hatten. Zu Ende Aprils und Anfangs Mais sieht man über den Seen eine Menge Seeschwalben herumfliegen. Es sind besonders zwei Arten, welche unsre Gegenden besuchen. Zuerst langt die rothfüßige Meerschwalbe an. Sie erscheint nie sehr zahlreich, und ihr Durchzug dauert nicht lange. Die schwarzgraue Meerschwalbe erscheint gegen den 6ten Mai und alsdann in ihrem vollkomme­ nen schwarzen Frühlingskleide. Sie ist bei weitem häufiger, und oft sieht man Schaaren von mehreren Hunderten auf demselben See. Die andern bringen den Sommer in nördlichen Ländern zu. Die Möven sind ebenfalls sehr häu­ fig auf unseren Seen. Es sind zwei Arten, die regelmäßig bei uns erschei­ nen, nämlich die graue Möve, die sich vornehmlich im Herbst und Winter einfindet, und die Lachmöve, die sich in allen Jahreszeiten sehen läßt, die Brütezeit ausgenommen. Gegen den 10. Julius langen gewöhnlich ziemlich be­ trächtliche Schaaren bei uns an, die aus Alten beiderlei Geschlechts im Herbst­ kleide und aus Jungen vom Jahre bestehen. Während heftiger Nordostwinde verlassen diese Möven die Seen und versammeln sich auf den nahgelegenen Wie­ sen und Brüchern. Wenn sie im Winter zahlreicher bei uns sind, so ist es, weil zu dieser Jahreszeit noch viele aus dem Norden kommen, um in unsern Gegenden zu überwintern. Auch bedecken sich bei der Annäherung des Win­ ters unsere Seen mit Schwimmvögeln mancher Art, und während das trockene Land sich nach und nach von seinen gefiederten Bewohnern entvölkert, wird das Waffer belebt durch eine Menge nordischer Vögel, welche, von der Kälte vertrie-

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ben, einen milderen Himmel und Gewässer aufsuchen, die auch in den strengsten Wintern nicht zufrieren. Zuerst sieht man in der Mitte Septembers Schaaren wilder Enten anlangen, zu welchen sich in wenigen Tagen Paare gesellen, die auf unseren Sümpfen gebrütet haben. Mit ihnen erscheinen die Tafelenten und die Halbenten. Zu diesen kommen in der Mitte Oktobers neue Schaaren von Schell- und Reiherenten. So lange die mit Wasser bedeckten Moore noch nicht gefroren sind, pflegen alle diese Enten sich des Nachts dahin zu begeben, um ihre Nahrung zu suchen. Mit Tagesanbruch kommen sie auf die Seen, wo sie nicht Gefahr laufen, während des Schlafs, dem sie sich bei Tage überlassen, von einem unerwarteten Frost überrascht zu werden. Sind die Moore einmal gefroren, so verlassen die Enten die Seen nicht mehr. Sie halten sich in be­ deutender Menge dicht zusammengedrängt und sind äußerst vorsichtig, so daß es schwer hält, sich ihnen auf Schußweite zu nähern. Mit den Enten kommen die Säger, die gleichfalls in Schaaren leben, aber doch minder zahlreich sind. Die einzige Art derselben, welche,in größerer Menge angetrosfen wird, ist der langschnäblige Säger. Diese Vögel, die in ihrem Betragen den Enten gleichen, sind lebhafter und muntrer als diese. Man sieht sie stets untertauchen und auf dem Wasser spielen. Ihr schlechtes Fleisch sichert sie vor den Verfolgungen der Jäger. Unter den Wasservögeln werden die Sylvien oder Sänger am we­ nigsten bei ihrem Wegziehen bemerkt. Die ganze Ordnung, zu welcher sie ge­ hören, die Singvögel, zeigt wenig Geselligkeit. Es gehören zu dieser Gattung Grasmücken, Blaukehlchen, Wurmfresser, Schilfsänger und Laubsänger, lauter Vögel mit zahlreichen Abarten. Die Züge der Zugvögel sind unglaublich zahlreich. Ein Reisender sah einst im April drei Züge von Störchen, die aus Aegypten zurückkehrten. Je­ der dieser Züge brauchte drei Stunden zum Vorüberziehen und nahm eine Strecke von einer halben Meile in der Breite ein. Die Schnelligkeit, mit wel­ cher die Zugvögel ihre Reise vollenden, ist erstaunenswürdig. Man hat berech­ net, daß sie bei einem Fluge von sechs Stunden 200 Meilen zurücklegen, wo­ bei also viel Zwischenzeit am Tage und die ganze Nacht jum Ausruhen übrig bleibt. Nach dieser Berechnung würden sie in 8 bis 10 Tagen sehr gut aus unsern Gegenden bis unter die Linie reisen können. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß vorzüglich das Bedürfniß, in derselben Temperatur der Luft zu leben, das Wegziehen der Vögel veranlaßt, verbunden mit dem eigenthümlichen Bau ihres Körpers. Vögel, die in unserem Klima Zugvögel sind, ziehen daher aus dem südlichen Frankreich, aus Italien und Spanien nicht weg, weil die Temperatur im Süden sich mehr gleich bleibt; dagegen sind im höheren Norden, in Schweden und Norwegen, viele Vögel Zugvögel, die bei uns Standvögel sind und also niemals wegziehen, folglich unsern Winter ertragen können. Kommen diese Fremdlinge aus dem Norden zu uns, so bleiben sie selten, sondern ziehen, nachdem sie einmal ihre Heimath verlassen haben und auf der Wanderung sind, noch weiter südlich, wie z. B. die Dohlen. Diese kommen im Herbst in zahlreichen Schaaren bei uns an, streifen mit unsern Dohlen eine Zeit lang herum und ziehen weiter, wenn der Winter eintritt. Man hat bemerkt, daß sie die bei uns einheimischen Dohlen zum Mitziehen anlocken, doch ohne Erfolg; diese werden also durch eine natür­ liche Liebe zu ihrer Heimath zurückgehalten. Das Wandern der Vögel von Norden nach Süden findet auf beiden Halb­ kugeln der Erde auf gleiche Weise statt, in Amerika wie auf dem alten Konti­ nent. Mit Sicherheit haben die Naturkundigen uns noch keinen Aufschluß über diese Wanderungen geben können. Daher wissen wir auch nur von wenigen unserer Zugvögel, wo sie überwintern, und eben so wenig, ob sie die Reise un­ unterbrochen, d. h. so fortsetzen, daß sie unterwegs nur die nöthige Ruhe und

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Nahrung genießen, oder ob sie lange verweilen und Streif- und Querzüge machen. Dürfen wir indeß aus ähnlichen Erscheinungen, die wir vor Augen haben, einen Schluß ziehen, so mögen die von uns nach Süden gezogenen Vögel sich dort wohl eben so benehmen, wie die Ankömmlinge auS Norden bei uns, die sich als Gäste im Winter bei uns aufhalten. Sie leben unstätt, streifen aus einer Gegend in die andere, schlafen und freffen da, wo es ihnen am besten dünkt, £en sich auch wohl zu den einheimischen Vögeln, wie z. B. der Bergfink, hen mit ihnen als willkommene oder beschwerliche Gäste sehr zudringlich die Bauerhöfe, Landstraßen und Getreidehaufen und ziehen zurück, wenn eine mildere Lust auf eine uns unbegreifliche Weise sie wieder nach Norden hinlockt. Zur Zeit der Wanderung regt sich selbst bei eingesperrten Vögeln der Wande­ rungstrieb ; sie werden unruhig, flattern besonders des Nachts im Käfig herum und zeigen deutlich, daß die Temperatur der Luft, ob sie gleich in warmen Zim­ mern und int Ueberflusse leben, dennoch unwiderstehlich auf sie einwirkt. wilmsen.

2. Der Walfisch. Obgleich der Mensch im Vergleich mit vielen Thieren klein und schwach erscheint, so ist er doch vom Schöpfer durch die Vernunft befähigt, die ganze' thierische Schöpfung zu beherrschen. Er weiß durch Netz und Angel den Fisch auS der Tiefe des Wassers hervorzuziehen; sein tödtliches Geschoß ereilt den schnellsten Vogel in der Luft und das hurtigste Thier des Gefildes; selbst der furchtbaren Kraft des Löwen spottet er, und von seiner Kugel oder seinem Pfeile erreicht, wälzt sich der König der Thiere vor ihm in seinem Blute. Sogar den Riesen der Meere, den Walfisch, zu überwältigen, ist ihm gelungen. Folgt mir im Geiste über das wette Meer; wir wollen ihn selbst aufsuchen in seinem Elemente und Zeugen sein, wie er der erfinderischen Kraft des Men­ schen erliegen muß. In Hamburg besteigen wir ein Schiff, das zur Fahrt auf den Walfischfang ausgerüstet ist; denn der Frühling naht, welcher in den not# dischen Meeren, wo die Walfische sich am häufigsten finden, das Eis vermin­ dert. Sobald sich ein günstiger Wind erhebt, werden an den drei großen Mast­ bäumen die weißen Segel ausgespannt, die Anker gelichtet, und dahin schwebt das stolze Gebäude den breiten Elbstrout entlang. Bald haben wir. die Mün­ dung erreicht, und vor uns liegt das unabsehbare Meer, dessen Wellen unab­ lässig um daS Schiff spielen, indem sie an die Planken desselben anschlagen und zurückprallen. Friedlich und anmuthig erscheint es jetzt, da die Stürme ruhen; aber furchtbar kann eS sich verwandeln, wenn ein Orkan eS aufregt. Die jetzt sanft bewegte Fläche wird dann zu Bergen und Thälern, die schnell mit einan­ der wechseln; thurmhoch heben die schwarzen, weißschäumenden Wellen das Schiff und stürzen es schnell in einen Abgrund hinunter, auS dem eine neue Woge es bald emporreißt. Aber dennoch trotzt es der Gefahr, wenn nur nicht Klip­ pen und Sandbänke oder eine Küste in der Nähe ist, woran es zerschellen müßte; mit festgebundenen Segeln fliegt es vor dem Winde dahin, wenngleich die Wel­ len darüber sich hinstürzen und manchmal es gänzlich zu bedecken scheinen. Un­ sere Fahrt geht immer nordwärts; wir steuern durch die Nordsee, dann nach Nord-West in das große atlantische Meer. Noch immer geht es vorwärts; schon lange haben wir nichts als das Meer und den Himmel gesehen. Ilpmer kälter wird eS, obgleich in unserm Vaterlande der Frühling schon völlig seinen Einzug gehalten hat. Bald erblicken wir andere Schiffe, die ein ähnlicher Zweck diese kalten Meere aufsuchen ließ, und nachdem wir mehrere Wochen unterwegs gewesen sind, sind wir in der Davis-Straße in der Nähe der grönländischen Küste angelangt, wo wir Anker werfen. Vor mehreren Wochen bedeckten hier

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noch meilenweite Eisfelder die See, von denen sich ungeheure Maffen krachend losrissen, in daS aufbrausende Wasser stürzten und, mannigfach gestaltet und von der Sonne gefärbt, als Verderben drohende Eisberge umherschrvammen. Auch jetzt sind sie noch nicht völlig entschwunden, jene Erscheinungen des in die­ sen Gegenden nur auf kurze Zeit entweichenden Winters; aber ihr furchtbares Ansehn hat die Natur einstweilen verloren. Auf unserm Schiffe herrscht jetzt das munterste Leben; man trifft die zu der bevorstehenden Arbeit nothwendigen Vorkehrungen, denn schon hat man Walfische erblickt. Seht ihr.dort die Was­ serstrahlen, die gleich Fontänen vom Meere aufsteigen? Hier gewähren sie, von der Sonne beleuchtet, den prachtvollsten Anblick; dort in weiterer Entfernung sind sie dem auS den Schornsteinen emporsteigenden Rauche nicht unähnlich. Daran erkennt ihr die Nähe der Walfische; denn sie sind es, welche durch zwei große Spritzlöcher auf dem Kopfe, die ihnen zum Athmen dienen, daS beim Fressen oder Athemholen verschluckte Wasser mit großer Kraft, daß man weit­ hin das Brausen hört, hervorblasen. Jetzt werden kleine Böte, von denen un­ ser Schiff fünf bei sich führt, vom Verdeck niedergelassen und jedes mit sechs bis sieben Matrosen bemannt. Eins besteigen auch wir; die Fahrzeuge stoßen ab und verbreiten sich nach verschiedenen Richtungen, um Walfische aufzusuchen und Jagd auf sie zu machen. Da brauset unserm Boote nicht fern ein mäch­ tiges Thier durch die Fluthen daher; das Waffer schäumt, von seinem kräftigen Schwänze geschlagen, und Hochauf spritzen die Wasserstrahlen auS seinen Nasen­ löchern. Kühn rudern die Matrosen mit verdoppelter Schnelligkeit hin; sie sind fteudig erregt in der Hoffnung auf die nahe Beute; unser Herz erbebt vor der nahen Gefahr; denn tauchte der Walfisch unter unserm Schiffchen empor, so würde es- auf seinem Rücken zerbrechen, oder träfe es ein Schlag seines Schwanzes, so würde es davon zerschellt werden. Jetzt sind wir ihm ganz nahe gekommen; ruhig liegt er nun auf der Meeresfläche und laßt von dm Wellen sich schaukeln. Schon steht im Vordertheil unseres Bootes der Harpunirer, den aufmerksamen Blick auf den Walfisch gerichtet, die Harpune in der Hand. So nennt man einen Wurfspieß von fünf bis sechs Fuß Länge, der auS einem dicken, hölzernen Stiele und einer stählernen Spitze mit Widerhaken besteht. Noch ein paar Schritte rudern die Matrosen weiter; dann halten sie die Ruder an, mit aller Kraft wirft der Harpunirer sein Geschoß, und der Walfisch ist getroffen, was ein Springquell von Blut verkündet, Sobald er seine Wunde fühlt, schießt er mit Blitzesschnelle in den Meeresgrund hinab. Ihm folgt das lange Seil, welches mit dem einen Ende an der Harpune be­ festigt ist und schnell und leicht von einer Winde im Schiffe abläuft, indem er niederfährt. Lange aber kann er nicht in der Tiefe ausdauern, weil er wieder Athem schöpfen muß; er taucht wieder auf; aber sobald er sichtbar wird, wer­ den neue Geschosse auf ihn geschleudert. Er taucht wieder unter und kommt, immer matter werdend, bald wieder empor. Jetzt wagt das Schifflein sich noch näher heran; eine Menge von Lanzen wird auf ihn geschleudert, und endlich sucht man ihm, indem man einen Spieß in seinen Leib bohrt, den Todesstoß zu geben. Aber jetzt haben wir alle Ursache, auf unserer Hut zu sein und un­ ser Boot vor ihm zu wahren, denn noch einmal, jedoch zuletzt, äußert er seine furchtbare Kraft; Strahlen von Wasser und Blut fahren aus seinen Spritz­ löchern, und wüthend schlägt er mit seinem Schwänze, daß das Wasser schäu­ mend hoch emporspritzt. Dann wird er still, legt sich auf die Seite und stirbt. Sobald der Walfisch von der Harpune getroffen war, hatte man im Boote eine kleine Fahne aufgesteckt, um dem Schiff, zu dem es gehört, ein Zeichen von dem glücklichen Erfolge der Jagd zu geben. Kaum hat man es dort bemerkt, so springt, was nur das Schiff verlassen kann, in ein Boot und rudert schnell zu uns heran. Jetzt befestigt man Stricke um Hals und Schwanz des todten

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Thieres und zieht es so an das große Schiff heran. Dann springen einige Matrosen aus den Böten auf seinen Leib, die Schuhe mit Stacheln versehen, damit sie nicht ausgleiten, und fangen an, den Speck loszuhauen; denn das Fleisch des Thieres wird von den Europäern nicht benutzt. Wir wollen ihnen folgen, um den Walfisch genauer betrachten zu können. Seiner Gestalt nach gleicht er ganz einem Fische, wofür man ihn auch sonst hielt, wie sein Name bezeugt; er gehört jedoch zu den Säugethieren, da er ro­ thes, warmes Blut hat, durch Lungen athmet und seine Jungen säugt. Durch seine Größe übertrifft er alle andren Thiere auf dem Lande und im Meere; denn seine Länge beläuft sich auf 60 — 70 und seine Breite in der Mitte auf 40 Fuß. Das ganze Gewicht kann man auf 100,000 Pfund schätzen. In früheren Zeiten, als man den Thieren noch nicht so viel nachstellte, und sie da­ her länger lebten und ihre eigentliche Größe erreichten, sollen manche von 120 Fuß Länge und 300,000 Pfund Gewicht gefangen worden sein. Die über ei­ nen Zoll dicke Haut ist ganz glatt, oft mit Seegewächsen, Muscheln und ande­ ren Seethieren besetzt und sieht schwarzgrau aus. Unter der Haut liegt der Speck, welcher einen halben bis einen ganzen Fuß dick ist, womit die Natur alle warmblütigen Thiere versehen hat, die in den kälteren Gewässern leben, um sie gegen die Kälte zu schützen. Sehr groß ist der Kopf, der fast ein Drit­ tel der Länge des ganzen Körpers ausmacht. Dieser läuft nicht spitzig aus, wie bei den meisten Fischen, sondern ist bis ans Ende ziemlich gleich breit und dick. Oben, ungefähr auf der Mitte desselben, sitzen die beiden schon erwähnten Spritzlöcher, die er gebraucht, wie andere Thiere die Nase, um Athem zu holen, und durch welche er das Wasser von sich spritzt. Ungeheuer weit ist der Ra­ chen; denn seht, dort fährt ein Kahn mit acht Menschen hinein, welche die Zunge und die Barten herausarbeiten wollen. Die Zunge ist am Unterkiefer festge­ wachsen und besteht fast aus lauter Speck. Natürlich ist diese auch nicht klein: sie wiegt nicht selten ein paar tausend Pfund. Die Barten sind mehrere hun­ dert lange, hornartige Platten im Oberkiefer, aus welchen man das Fischbein bereitet, das euch ja bekannt genug ist. Zähne bemerken wir gar nicht; der Walfisch gebraucht auch keine, da er sich nur von kleinen Fischen, Krebsen, See­ würmern und dergleichen nährt, die er nicht zu zerkäuen braucht, sondern ganz verschluckt. Nur klein dürfen die Thiere, welche seine Nahrung ausmachen, sein; denn sein Schlund ist nur so weit, daß man eben eine Faust hindurchstecken kann. Zu beiden Seilen des Kopfes, ziemlich weit nach hinten zu, befinden sich die verhältnißmäßig kleinen Augen, die nicht viel größer als Ochsenaugen sind. Wo der Kopf sich an den übrigen Körper anschließt, bemerken wir unten ein paar Flossen, mit welchen der Walfisch blitzschnell im Wasser umherfahren kann. Bei genauerer Untersuchung erkennen wir darin deutlich die Knochen, die bei den anderen Säugethieren den Fuß bilden. Den größten Umfang hat das Thier in der Mitte, wo sich der Rücken etwas wölbt und dann immer schmäler bis zum Schwänze ausläuft. Auch dieser unterscheidet den Walfisch von den Fischen; denn er liegt platt auf dem Wasser. Nachdem nun unsere Gefährten Speck, Zunge und Barten losgehauen und in das große Schiff gebracht haben, läßt man das Uebrige im Wasser liegen, wo es bald Raubthieren aller Art zur willkommenen Beute wird. Der Speck, aus dem in Europa Thran gemacht werden soll, wird darauf in Tonnen ver­ packt, und wohl an hundert werden damit gefüllt. Den Gewinn, den man aus einem mittelmäßigen Walfische zieht, rechnet man gewöhnlich auf 1500 Thaler ; ein großer dagegen ist wohl 5000 Thaler werth. Dabei darf aber nicht verges­ sen werden, daß auch die Ausrüstung und Unterhaltung eines Schiffes zum Walfischfange sehr viel kostet. Mit dem Fange des einen Thieres sind aber unsre Schiffsgenossen nicht zufrieden; man sucht, wo möglich, drei zu erhalten,

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und erst dann kehrt man, froh der gemachten einträglichen Beute, nach Europa zurück. Immer freilich gelingt es nicht, so viele Thiere zu fangen. Olrrogge.

3. Der Walfischfang. Das unwirthbare, von Eismassen starrende grönländische Meer u— so nennt man den zwischen Grönland und Spitzbergen gelegenen Theil des nörd­ lichen Eismeers — wird, wenn man die wenigen Schiffe ausnimmt, die der Entdeckungen wegen hierher kommen, nur von Walfischfängern besucht. Jahr­ hunderte lang gab es im Ocean keine Stelle, welche so reich an Walfischen war, wie diese; feit einiger, Zeit aber scheinen die Thiere durch die ununter­ brochenen Angriffe, denen sie hier ausgesetzt sind, verscheucht worden zu sein und sich über andere Theile des Oceans zerstreut zu haben. Obgleich jedoch ihre Anzahl sichtlich abgenommen hat, so wird das grönländische Meer doch alljährlich noch von mehreren hundert Schiffen befahren, deren einziger Zweck der Walsischfang ist. Sobald ein Schiff die Gegenden erreicht, in denen sich Walfische aufzu­ halten Pflegen, muß die Mannschaft jeden Augenblick auf ihrer Hut sein und Tag und Nacht auf das sorgfältigste Wache halten. Die sieben Böte sind an den Seiten des Schiffes aufgehängt und so ausgerüstet, dctß sie in wenigen Minuten hinabgelassen werden können, und wo es der Zustand der See erlaubt, befindet sich eins von ihnen vollständig bemannt auf den Wellen. Die Böte sind zwanzig bis dreißig Fuß lang, fünf bis sechs Fuß breit und so gebaut, daß sie mit Leichtigkeit fortgerudert und gelenkt werden können. Einer der Of­ fiziere sitzt in dem Mastkorbe und überblickt weithin das Meer, und in dem Augenblick, wenn er den Rücken oder den Wasserstrahl eines Walfisches wahr­ nimmt, ruft er dies der Deckwache zu. Einige von der Mannschaft springen sogleich in ein Boot, welches eiligst hinabgelassen wird, und auf welches sogleich ein zweites folgt. In jedem der Böte befindet sich ein Harpunirer und eine Menge Tauwerk, welches so zusammengelegt ist, daß es sich schnell zu einer Leine von mehr als viertausend Fuß Länge verbinden läßt. An das Ende derselben ist die Harpune befestigt, ein Instrument, welches nur dazu dient, in den Körper des Thieres einzudringen, in demselben sitzen zu bleiben und dadurch sein Entrinnen zu verhüten. Eines der Böte rudert nun auf den Walfisch los, indem es jeden, auch den geringsten Lärm zu vermeiden sucht. Sobald man nahe genug herangekommen ist, wirft der Harpunirer sein In­ strument in den Rücken des Ungeheuers. Dies ist ein gefährlicher Augenblick, denn wenn das mächtige Thier sich getroffen fühlt, werden seine Bewegungen so gewaltig, daß ein Schlag seines Schwanzes hinreicht, um ein Boot zu »zer­ trümmern oder hoch in die Luft zu schleudern. Gewöhnlich jedoch taucht der Walfisch, sobald er verwundet ist, mit reißender Schnelligkeit in die Tiefe der See oder unter Eisfelder und schwimmende Eisberge hinab. Alsdann muß die größte Behutsamkeit angewandt werden, daß das Tau, an welchem die Harpune befestigt ist, mit Leichtigkeit und ohne irgend ein Hinderniß mit ihm fortgehen kann. Sollte es auch nur für einen Augenblick in Verwirrung ge­ rathen, so würde die Kraft des Walfisches das Boot sogleich unter das Wasser ziehen. Auf das erste Boot muß schnell ein zweites folgen, um mehr Tauwerk herbeizuschaffen, wenn das des ersten abgelaufen ist. Bemerkt die Mannschaft eines Bootes, daß seine Vorräthe an Tauen nicht ausreichen, so werden zwei oder drei Ruder in die Höhe gehalten , um den andern Böten von dem drin­ genden Bedürfniß Kunde zu geben. Zu gleicher Zeit dreht man auch wohl das Tau ein oder zweimal um einen Zapfen, um dadurch den Lauf des Thie­ res etwas zu hemmen. Dies ist jedoch ein sehr gefährliches Mittel, weil nun

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das Boot durch eine plötzliche Bewegung des Thieres leicht unter das Wasser gezogen werden kann. Während die Schnur um den Zapfen sich dreht, ist die Reibung so heftig, daß der Harpunirer mit Rauch umhüllt wird, und daß fortwährend Wasser auf den Zapfen gegossen werden muß, um das Feuerfan­ gen zu verhüten. Wenn aber trotzdem keine Hülfe herbeikommt und das Tau ganz abgelaufen ist, bleibt der Mannschaft nichts übrig, als es abznschneiden, und dann Ist nicht nur der Walfisch, sondern auch die Harpune und alles Tau­ werk verloren. Sobald der Walfisch getroffen ist und in die Wellen untertaucht, richtet die Bootsmannschaft eine Flagge auf, um der Wache auf dem Verdeck ein Zeichen zu geben. Einen Augenblick später ist das ganze Schiff in Bewegung, und alles eilt in die Böte, um, mit Lanzen bewaffnet, an der Jagd theilzunehmen. Die Zeit, welche ein verwundeter Walfisch unter dem Wasser zu­ bringt, ist verschieden, beträgt aber nie mehr als eine halbe Stunde, weil dann das Bedürfniß des Athmens ihn zwingt, wieder an die Oberfläche zurückzu­ kehren. Dies geschieht oft in beträchtlicher Entfernung von der Stelle, wo er harpunirt worden ist. Unterdessen haben sich die Böte in der Weise vertheilt, daß wenigstens eins derselben sich in der Nähe des Punktes befindet, wo der Walfisch in die Höhe kommt, und nun sucht man ihn noch mit einer oder zwei Harpunen zu treffen, während er zugleich von allen Seiten mit Lanzen verwundet wird. Sein Blut strömt, mit Thran vermischt, aus den Wunden und aus dm Luftlöchern und färbt weithin die Oberfläche des Meeres. Mit jeder Minute nimmt seine Erschöpfung zu; aber im Augenblick des Verschei­ dens bereitet er den kühnen Jägern noch große Gefahren, indem er seinen Schwanz hoch in die Luft wirft und mit einem Geräusche dreht, welches mei­ lenweit gehört wird. Endlich legt sich das vom Blutverlust erschöpfte Thier auf die Seite oder auf den Rücken und stirbt. Die Flagge wird nun abge­ nommen, und ein dreimaliges Hurrah ertönt von allen Böten. Jetzt werden zwei Löcher in den Schwanz gebohrt und Seile durchgezogen, mittelst welcher der Fisch unter lautem Freudengeschrei an die Seite des Schiffes gezogen wird. Das nächste Geschäft besteht im Ausschneiden des Specks und kann, wenn alles rüstig an die Arbeit geht, in ungefähr vier Stunden vollendet werden, obgleich oft viel längere Zeit darauf verwendet wird. Der Speck wird zuerst in große Stücke von ungefähr einer halben Tonne zertheilt; diese werden auf dem Verdeck in kleinere Stücke zerschnitten, und diese darauf in Fässer verpackt und im Schiffsraum untergebracht. Sobald der Theil des Fisches, der über dem Wasser liegt, von allem Speck entblößt ist, wird der Fisch durch große Winden gedreht, und in dieser Weise so lange fortgefahren, bis aller Speck ausgeschnitten ist. Nun werden noch die hornartigen Knochen der Kinnbacken, welche das Fischbein liefern, an Bord gebracht, und endlich alles, was von dem Fische noch übrig ist, den Raubvögeln, Füchsen und Eisbären preisgegeben. Unter den zahllosen Gefahren, die den Wallfischfänger bedrohen, sind zu­ erst diejenigen zu nennen, die ihm durch den Walfisch'selbst bereitet werden. Es ist schon erwähnt, daß dieses gewaltige Thier mit einem Schlage seines Schwanzes ein Boot zu zertrümmern oder hoch in die Luft zu schleudern ver­ mag; bisweilen greift es aber seine Feinde auch mit seinen ungeheuren Kinnbckcken an oder bringt ein Schiff durch einen Stoß mit seinem riesenhaften Kopfe zum Sinken. Beides ereignete sich auf einer Reise, die das Schiff Alexander aus New-Bedford in Massachusets im Jahre 1850 unternahm. Zwei Böte desselben, das eine vom Steuermann, das andere vom Kapitän selbst geführt, hatten sich zur Verfolgung eines Walfisches aufgemacht, und dem ersteren gelang es, das Thier zu harpnniren. Als der Walfisch eine kurze Strecke mit der Leine gelaufen war, wandte er sich Plötzlich um, schoß mit

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fürchterlicher Gewalt auf das Boot los, nahm es zwischen seine Kinnbacken und zermalmte es mit einem Biß in kleine Stücke. Der Kapitän eilte mit dem andern Boot herbei und war so glücklich, die ganze Mannschast, die sich noch zu rechter Zeit ins Wasser gestürzt hatte, zu reiten. Da man vom Schiffe aus den Vorfall wahrnahm, so schickte man sogleich ein Hülfsboot nach, wel­ ches nun den Steuermann und seine Mannschaft aufnahm. Der Kapitän be­ schloß jetzt einen zweiten Angriff auf das Thier, welches inzwischen untergetaucht war, und beide Böte setzten sich in der Richtung, welche der Walfisch eingeschlagen hatte, in Bewegung, indem sie sich, wie dies üblich ist, in einiger Entfernung von einander hielten. Als der Walfisch sich zeigte, war das Hülfs­ boot ganz in seiner Nähe. Der Harpunirer war eben im Begriff, seine Waffe zu schleudern, als das Thier sich abermals umwandle und mit allen Zeichen der äußersten Wuth heranstürmte. Diesmal hatte die Mannschaft kaum Zeit, ins Waffer zu springen; das Ungeheuer aber nahm das Boot in seinen Racken und zermalmte es dermaßen, daß nachher von den Trümmern desselben nichts aufzufinden war. Der Kapitän eilte, obgleich er in Gefahr war, das Schicksal seiner Gefährten zu theilen, mit seinem Boote herbei und hatte wiederum die Freude, die ganze Mannschaft zu retten. Er befahl jetzt, nach dem Schiffe zurückzurudern; das Boot war aber kaum gewendet, als man das Ungeheuer mit weit geöffnetem Rachen heranstürmen sah. Zum Glück schoß es in einiger Entfernung vorbei, und daS Boot erreichte ohne weiteren Unfall das Schiff. Da unter diesen Umständen ein weiterer Angriff mit den Booten nicht rathsam erschien, der Kapitän aber die Beute nicht aufgeben wollte, so wurde beschlossen, die Jagd mit dem Schiffe selbst fortzusetzen. In kurzer Zeit hatte man den Walfisch eingeholt; es wurde ihm ein Speer in den Kopf geworfen, und dann lief das Schiff an ihm vorbei. Nach einiger Zeit wurde gewendet und ein abermaliger Angriff versucht. Der Kapitän stand mit einem Speere in der Hand am vorderen Bug, um dem Walfisch den Todesstoß zu versetzen, wenn er'wieder zum Vorschein kommen sollte, als er Plötzlich wahrnahm, daß dieser mit rasender Geschwindigkeit heranschoß. Einen Augenblick später erfolgte ein Stoß von so fürchterlicher Gewalt, daß daS Schiff sich mit lautem Krachen emporhob, als wenn es auf einen Felsen gelaufen wäre. Der Kapitän eilte in den untersten Raum hinab und fand hier zu seinem Entsetzen, daß der Walfisch das Schiff etwa zwei Fuß vom Kiel in der Gegenv des Fockmastes gettoffen und ein großes Loch durch den Boden geschlagen hatte, durch welches daS Waffer wie ein rauschender Strom eindrang. Sogleich eilte er aufs Ver­ deck zurück und befahl dem Steuermann, die Anker abzuschneiden und die Ka­ beltaue über Bord zu werfen, um das Schiff noch so lange als möglich über Waffer zu hatten; es gelang dies indeß nur mit einem Anker und Tau, da die übrigen um den Fockmast befestigt waren. Das Schiff sank unterdeffen mit reißender Schnelligkeit. In die Kajüte hinabsteigend, fand der Kapitän bereits drei Fuß Wasser; er sprang daher auf das Verdeck zurück und befahl, die Böte hinabzulassen und Wasser und Lebensrnittel einzunehmen. Als er zum zweiten Mal in die Kajüte Hinabstieg, war das Wasser bereits so hoch gestiegen, daß er nichts mehr mitnehmen konnte. Inzwischen hatte sich die ganze Mannschast in die Böte begeben; der Kapitän blieb bis zuletzt auf dem Schiff, sprang dann ins Wasser und schwamm bis zu dem nächsten Boot. Das Schiff hatte sich während dessen so auf die Seite gelegt, daß die Raaen bereits ins Waffer tauchten. Die Böte entfernten sich daher in der größten Schnelligkeit, da man jeden Augenblick daS Untersinken des Schiffes erwarten mußte. Leider hatte man in der Eile nur zwölf Quart Waffer und nicht einen Bissen an Lebensmitteln mitnehmen können. Die Böte enthielten jedes elf Mann; sie waren leck und mußten die ganze Nacht ausgeschöpft werden. Am

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nächsten Morgen fuhr man zu dem Schiffe zurück, das noch immer nicht untergesunken war. Der Kapitän, der sich allein hinaufwagte, kappte die Masten; das Schiff richtete sich wieder auf, und nun kam auch die übrige Mannschaft herbei und suchte durch Einschlagen des Decks zu den Lebensmitteln zu gelan­ gen. Ihre Anstrengungen waren vergebens, denn aller Mühe ungeachtet konnte man sich nur ein Fäßchen mit Weinessig und zwanzig Pfund feuchtes Brot verschaffen. Länger in der Nähe zu verweilen, war nicht rathsam, da das Schiff jeden Augenblick unterzugehen drohte. Die Mannschaft hatte sich noch nicht weit entfernt, als sie das Schiff vorn überstürzen und dann untersinken sah. Alle überließen sich jetzt den wildesten Ausbrüchen der Verzweiflung; der Tod in seiner schrecklichsten Gestalt stand ihnen vor Augen, denn es fehlte ihnen an allen, auch den nöthigsten Lebensbedürfnissen, und sie befanden sich in einem Theile des Meeres, der nur wenig befahren wird. Doch ihre Leiden sollten nicht lange währen: schon am folgenden Tage hatten sie die unaussprechliche Freude, ein Schiff wahrzunehmen. Sie machten Nothsignale, die von dem Schiffe beantwortet wurden, und in kurzer Zeit befand sich die gesammte Mann­ schaft der beiden Böte an Bord. Größer und zahlreicher sind die Gefahren, welche den Walsischfängern durch die Eisschollen und durch die Stürme des grönländischen Meeres berei­ tet werden. So gingen hier vor mehreren Jahren zwanzig große Schiffe zu Grunde, indem sie an einem und demselben Tage durch schwimmende Eismas­ sen zertrümmert wurden. „Wer das Eismeer noch nicht gesehen hat," sagt Kapitän Roß, „der kann sich unmöglich einen Begriff von den Gefahren machen, von denen hier der Seefahrer stündlich umringt ist. Man denke sich ungeheure Berge von Eis, welche, von einer reißenden Fluth oder einem heftigen Winde in Bewegung gesetzt, mit dem Krachen des Donners an einander stoßen und sich gegenseitig zertrümmern, bis sie, das frühere Gleichgewicht verlierend, sich überstürzen und das Meer weit umher zu tobender Brandung in die Höhe werfen oder in schnellem Wirbel herumdrehen* man denke sich unermeßliche Eisfelder, welche, von der Fluth gegen jene Berge geschleudert, sich hoch aus dem Meere emporthürmen, bis sie in sich selbst zusammenfallen; man denke sich das furchtbare Krachen, von dem alle diese Scenen begleitet sind, und in­ mitten dieser Zerstörung denke man sich ein zerbrechliches Fahrzeug, das fort­ während in Gefahr schwebt, von jenen wilden Massen zertrümmert oder unter ihrer Wucht begraben zu werden! In solchen Augenblicken fühlt der Mensch seine ganze Hilflosigkeit; aber so furchtbar seine Lage auch ist, so läßt sie ihm doch nicht Zeit zur Furcht, denn jede Minute führt neue Ereignisse herbei, welche ihn eben so gut reiten wie vernichten können." Ein Beispiel von wunderbarer Rettung aus den Gefahren des Eismeers erzählt ein holländischer Grönlandfahrer, der vor mehreren Jahren, als er eben die Rückfahrt antreten wollte, von zahllosen Eisschollen eingeschloffen wurde. Drei Tage, berichtet er, waren wir bereits von einem heftigen Sturme zwischen den Eismassen umhergeschleudert worden, jeden Augenblick in Gefahr, an einer der zahllosen Klippen, die uns umringten, zu scheitern oder zwischen den schwim­ menden Eisbergen, die ununterbrochen mit lautem Krachen an einander stießen, zermalmt zu werden. Endlich erblickten wir vor uns eine Eisscholle von zwan­ zig bis dreißig Fuß Höhe und etwa einer halben Meile im Umfang, welche auf der uns zugewandten Seite zwei weit ins Meer hinausragende Spitzen hatte, zwischen denen sich ein geräumiges Becken befand. Wenn es uns gelang, in dieses einzulaufen und unser Schiff durch Anker an dem Eisfelde zu befesti­ gen, so waren wir, wie in einem Hafen, vor jedem Zusammenstoß sicher. Doch unsere Versuche waren vergeblich, denn keiner der Anker haftete an der glatten Fläche, und unsere Böte waren dermaßen beschädigt, daß sie nicht mehr zu

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brauchen waren. Endlich entschlossen sich einige Matrosen, mit einem Tau nach dem Eisfelde hinzuschwimmen. Es war dies ein gefahrvolles Unternehmen, welches beinahe den Untergang der muthigen Männer herbeigeführt hätte. Zwar litten sie während des Schwimmen? weniger von der Kälte, als wenn sie auf dem Schiffe geblieben wären, denn das Meereswasser war bedeutend wärmer als die Luft; sobald sie aber das Eis erreichten und hinaufkletterten, wurden sie, indem das von ihren Kleidern eingesogene Wasser gefror, mit einer Eis­ rinde überzogen, welche alle ihre Bewegungen hemmte und sie fast erstarren machte. Dessenungeachtet gelang es ihnen, durch das mitgenommene Seil ein stärkeres Tau auf das Eis zu ziehen und an demselben zu befestigen. Alsdann warfen sie sich wieder ins Meer und erreichten, wiewohl halb leblos, das Schiff, wo man sie mit Mühe wieder zu sich brachte. Jetzt wurde das Schiff in das Becken gezogen und mit starken Tauen an Eisblöcken befestigt. Die Folgen dieser Maßregel übertrafen noch unsere Er­ wartungen: wir lagen so ruhig und sicher wie in einem Hafen und durften hoffen, mit dem großen Eisfelde, welches sich mit ziemlicher Schnelligkeit nach Süden hin bewegte, allmählich daö offene Meer zu erreichen. So konnten wir uns denn nach dreitägiger, fast übermenschlicher Anstrengung auf einige Zeit der Ruhe überlassen, während um uns her das Toben der Elemente fortwährte und jeden Augenblick mächtige Eisberge laut krachend zusammenbrachen. Unser Schiff befand sich noch nicht lange in dem rettenden Hafen, als sich auf dem Eise ein widriges Geschrei hören ließ, das dem Bellen heiserer Hunde glich, und in welchem wir bald das Geschrei von Seehunden erkannten. Das Verlangen der Matrosen nach frischem Fleisch war so mächtig, daß sie sich ungeachtet ihrer Ermattung, mit Stöcken bewaffnet, auf das Eis begaben, um auf die Seehunde Jagd zu machen. Es kam ihnen zunächst nur ein einzelner zu Gesicht, welcher in einiger Entfernung von den übrigen gleichsam Schild­ wache stand. Als sie sich ihm näherten, richtete er seinen K^opf in die Höhe,

sprang auf und erhob ein fürchterliches Geheul. Hierauf brach die ganze Heerde aus ihren Schlupfwinkeln hervor und. stürzte mit solchem Ungestüm nach dem Wasser hin, daß mehrere von unseren Leuten umgerissen und eine Strecke, weit fortgeschleudert wurden. Wiewohl diesen Thieren keine große Schnellfüßigkeit

verliehen ist, so gelang es ihnen doch, den abgematteten Matrosen zu entkom­ men, und nur ein Junges, welches langsam und gemächlich hinter den übrigen Herzog und bei dem ersten Stockschlag auf die Nase zu Boden fiel, wurde er­ beutet. Kaum hatte man das Thier auf das Verdeck gebracht, so erholte es sich wieder, stand auf und vertheidigte sich mit seinen'Füßen und seinen Zäh­ nen so tapfer, daß ich endlich meine Flinte herbeiholen und es niederschießen mußte. Das Fleisch wurde noch an demselben Abend, so gut es geschehen konnte, zuberejtet und gewährte uns, da es sehr schmackhaft und saftig war, eine angenehme Mahlzeit. Diese Seehunde waren übrigens außer einigen Sturmvögeln die einzigen lebenden Wesen, die uns während unseres Aufent­ halts im Eise zu Gesicht kgm en. Nachdem wir uns durch einen langen, durch nichts gestörten Schlaf er­ quickt hatten, eilten wir beim Anbruch des Tages auf das Verdeck, um zu se­ hen, ob unser schwimmender Hafen bereits das offene Meer erreicht hätte. Wer beschreibt unser Entsetzen, als wir uns rings von endlosen Eismassen umge­ ben sahen! Der Winter war bereits angebrochen; die Eisschollen halten sich zu einer festen Masse zusammengefügt, und es war daher mit Sicherheit anzu­ nehmen, daß wir den acht Monat langen Winter in unserem Gefängniß zu­ bringen würden. Das war- eine traurige Aussicht, zumal da wir berechnen konnten, daß unsere Vorräthe auf eine so lange Zeit nicht ausreichen würden! Während die Mannschaft sich ihrem Schmerze überließ, versammelte ich die

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Offiziere, um mit ihnen zu berathen, wie wir uns den langen Winter hin­ durch gegen die Kälte und den Hunger schützen könnten. Um unsere schon sehr zusammengeschmolzenen Vorräthe an Brennholz möglichst zu schonen, wurde zuerst der ganzen'Mannschaft die Kajüte zur Wohnung angewiesen. Da fer­ ner die gewöhnlichen Kleidungsstücke gegen die Kälte nicht genug schützten, so gab ich alles bisher erbeutete Pelzwerk her, aus welchem der ^egelmacher, von einigen Matrosen unterstützt, vollständige Anzüge nebst Masken und Handschu­ hen für die' ganze Mannschaft anfertigen mußte. Schlimmer stand es mit den Nahrungsmitteln. Unser Zwieback war zum größten Theil aufgezehrt; doch hatten wir noch einen ziemlichen Vorrath an Korn, welches auf dem Ofen ge­ dörrt und dann in Kaffeemühlen zu einem groben Mehl zermahlen werden konnte.. Auch hoffte ich, daß es uns gelingen »würde, im Verlauf des Winters See­ hunde, Walrosse und Eisbären zu erlegen und dadurch unsere geringen Fleischvorräthe zu vermehren. Die größte Schwierigkeit machte uns die Zubereitung der Lebensmittel, da wir aus Mangel an Brennholz alle Speisen in einem Ofen in kleinen blechernen Trinkgeschirren kochen niußten. Um gegen Mangel an Wasser gesichert zu sein, wurde jeden'Morgen der während der Nacht ge­ fallene Schnee auf dem Verdeck zusammengeschaufelt und sorgfältig in der frü­ heren Malrosenkammer aufbewahrt. Als diese Anordnungen getroffen waren, dachten wir daran, wie wir für die Matrosen eine angemessene Thätigkeit schaffen könnten; aber alle unsere Bemühungen, sie der dumpfen Verzweiflung zu entreißen, blieben vergeblich. Alle waren fest überzeugt, daß sie zum Hungertode in der eisigen Einöde ver­ urteilt wären, und auch ich verlor bald allen Muth und alle Hoffnung, da ich mich immer mehr überzeugte, daß nur ein Wunder uns retten könnte. In dieser Weise waren drei Wochen vorübergegangen, ohne daß sich un­ sere traurige Lage irgendwie geändert hätte. Da erhob sich an einem Abend ein heftiger Sturm aus Nordost, der unser Schiff unfehlbar zertrümmert hätte, wenn es nicht von einer unbeweglichen, zusammenhängenden Eismasse eingeschlossen gewesen wäre. In der Nacht schien es uns, als ob das Schiff sich in Bewegung setzte, und am Morgen verkündete uns ein lautes Krachen, daß die uns um­ ringenden Eisschollen zerbrachen und mit Macht an einander stießen. Zwischen Furcht und Hoffnung schwebend, erwarteten wir sehnsüchtig den Anbruch des Tages, der uns vernichten oder retten sollte. Als wir endlich nach langem, peinlichen Harren den Morgen dämmern sahen, bemerkten wir mit unaus­ sprechlichem Entzücken, daß das Schiff dem Willen des Steuermanns folgte. Aber wenn wir nun auch aus unserem eisigen Gefängniß befreit waren, sö umdrohten uns doch noch zahllose Gefahren, denen zu entgehen wir kaum hoffen konnten. Mehrere Tage lang waren wir von schwimmenden Eismassen dermaßen eingeschloffen, daß wir uns nur äußerst langsam fortbewegten. Bald mußten große Eisschollen umsegelt, bald zwischen hohen Eisbergen ein gefahr­ voller Durchgang aufgesucht werden. Bisweilen saßen wir fest und mußten eiligst alle Se^el einziehen; dann aber schaffte uns der Andrang neuer Massen wieder Luft, mdem sie die uns umgebenden Schollen schichtweise übereinander schoben. Oft nahmen zwei gewaltige Eisschollen unser Schiff in die Mitte und preßten es mit solcher Macht, daß wir jeden Augenblick zerdrückt zu wer­ den fürchteten, und einmal brach ein schwimmender Eisberg, der ganz-vom Wasser untergraben sein mußte, dicht neben uns zusammen, so daß unser ar­ mes Schiff mehrere Minuten lang im Kreise herumgedreht wurde. Doch Got­ tes Vaterhand führte uns durch alle diese Gefahren hindurch, so daß wir nach fünf Tagen glücklich das offene Meer erreichten und drei Wochen später wohl­ behalten und mit reicher Beute beladen in einen schottischen Hafen einliefen. Aus Dieliy' amerikcrn. Reisedildern.

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4. Das Rennthier. Folgt mir jetzt in ein Land, wo den größten Theil des Jahres hindurch winterlicher Schnee Berge und Thäler bedeckt, nach Lappland. Hier finden wir das Rennthier, das dem Bewohner des Nordens eben so nützlich ist, wie das Kamee! dem Mauren und Araber, ja noch nützlicher, denn es ist sein Eins und Alles. Von einem Hügel aus können wir die Gegend umher überschauen. Auf den Gipfeln der Berge rings um uns her liegt der Schnee; aus dem vor uns sich ausbreitenden Thale hat der Sommer, der freilich nicht lange hier weilt, die weiße Decke hinweggenommen und einen grünen Teppich von Gras und Kräutern dafür hingedeckt. Kleine Waldungen ziehen sich am Fuße der Berge hin; aber Eichbäume und Buchen läßt das kalte Klima in ihnen nicht gedeihen; nur Birken und Tannen gewahren wir. In der Mitte des Thales erheben sich einige Wohnungen der Lappen, kleine, niedrige Hütten, leicht ausgeführt ans hölzernen Stangen, deren Zwischenräume mit Erde und Moos ausgestopft sind. Mit Rennthierhäuten hat man sie rings umher bekleidet, um den Regen und die Kälte abzuhalten. Vor diesen Hütten sind einige Leute beschäftigt, kleine Gestalten, vom Kopf bis auf die Füße in Rennthierfelle gekleidet. Die kleinen Augen liegen schief in dem gelbbraunen Gesichte, und die Backenknochen treten stark hervor. Aber bald wird es lebendiger im Thale; hinter jenem Hügel her­ vor kommt in munteren Sprüngen eine zahlreiche Heerde von Renntieren, die

von der Weide heimkehren. Hunde begleiten sie, die dem Hirten sie zusammen­ halten halfen und sie vor den Wölfen schützten. Aus den Hütten eilen jetzt Mädchen mit hölzernen Milchgefäßen der Heerde entgegen und fangen an, sie zu melken. Laßt uns nun das Rennthier etwas näher betrachten. Es hat die größte Ähnlichkeit mit dem Hirsche, nur ist es etwas länger und hat kürzere und et­ was dickere Beine als dieser. Die Füße haben gespaltene Klauen oder zwei Hufe, welche sehr breit sind, weshalb es leicht über den Schnee wegläuft, ohne tief einzusinken. Der weiche Pelz hat im Sommer eine braune Farbe; im Win­ ter sieht er fast weiß aus. Männchen und Weibchen sind mit einem langen, breitzackigen Geweih versehen, das sie im Frühlinge abwerfen, worauf schnell ein neues wächst, das einige Zacken mehr hat. Zur Nahrung dienen den Renn­ thieren im Sommer Gras und Kräuter; doch fressen sie lieber Knospen und Blätter der Sträucher und Bäume. Im Winter läßt die Natur in jenen Ge­ genden auch unter dem Schnee eine Art Aftermoos, das Rennthiermoos ge­ nannt, wachsen; dies ist dann ihre vorzüglichste Nahrung. Im wilden Zustande leben sie schaarenweise und sind der Hauptgegenstand der Jagd der nordischen Völker. Zahm gemacht, hält man sie in großen Heerden, die bei Reichen oft 500 bis 1000 Stück zählen; denn sie sind ihnen das nützlichste und einzige Hausthier. Man spannt sie vor den Schlitten, dertteicht von Holz gebaut und unten mit behaarten Rennthierfellen belegt ist, und pfeilschnell fliegt das Fuhr­ werk vorwärts. Die überaus fette Milch und das wohlschmeckende Fleisch der Thiere sind die vorzüglichste Nahrung der Lappen, Samojeden imb vieler Völ­ kerschaften in Sibirien und in Nordamerika. Auch das Blut, das Mark und die ganz jungen, noch knorpeligen Geweihe werden gegesien. In das Fell kleidet man sich und benutzt es zu Zelten und Betten. Selbst die Geweihe, Knochen, Klauen und Sehnen der Thiere bleiben nicht unbenutzt; aus ersteren verfertigt man allerlei Geräthschaften und Geschirre; der Sehnen bedient man sich statt des Zwirns. Alles an dem Thiere also ist nützlich und befriedigt die hauptsächlichsten Bedürfnisie des Menschen; denn es schafft ihm Nahrung, Kleidung, Wohnung und Hausgeräth. Das Innere jener nordischen Länder, wo kein Ackerbau mehr möglich ist, könnte ohne das Rennthier von Menschen gar nicht bewohnt werden. Olrrogge.

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5. Die Eiche. Unter unsern einheimischen Waldbäumen gebührt der prächtigen Eiche die erste Stelle, denn sie vereinigt Schönheit mit Stärke und Nutzen. Sie liefert Lum Bau unserer Wohnungen eisenfeste Pfeiler und schmückt unsere Zimmer mit brauchbaren Geräthen. Allen Völkern war sie von jeher ehrwürdig und im Alterthume sogar den Göttern geweiht. Bei uns giebt es zwei verschiedene Arten von Eichen, die beide in Europa, vorzüglich aber in Deutschland wach­ sen. Die Wintereiche oder Steineiche hat eine braune, gefurchte Rinde, die aber an den jüngeren Zweigen weißlich und glatt ist. Ihre Blüthe erscheint erst Ende Mai; die Eicheln wachsen traubenweise an kurzen Stielen, drei bis zwölf Stück neben einander, und reifen im November. Ihr Holz ist etwas röthlich und unter allen europäischen Hölzern das festeste und dauerhafteste. Eine andere Art ist die Sommereiche. Bei dieser erscheinen Blätter und Blü­ then einige Wochen früher, die Früchte stehen mehr einzeln an längeren Stielen und kommen schon im September und Oktober zur Reife. Die Rinde ist aus­ wendig schwärzlich, oft mit weißem Schimmel überzogen; das Holz ist blasser als von jener und wird im Alter etwas schwärzlich. "Die Wurzeln der Eichen breiten sich sehr weit in der Erde ans, und diese bekommen dadurch einen festen und sichren Stand. Ihr Stamm wächst gerade und erreicht eine ansehnliche Höhe. Die Aeste sind gewöhnlich sehr stark und stehen in großen Winkeln vom Stamm ab. Ihre Blätter sind groß und stark ausgeschweift, stehen büschel­ weise zusammen und haben eine dunkelgrüne Farbe, an welcher man die Eichen­ wälder schon von weitem erkennen kann. Ihre Früchte sind rund und haben einen sehr herben Geschmack. Am besten gedeihen die Eichen in hochgelegenen, nur wenig feuchten Wäldern. Ihre starke Ausdünstung macht, daß sie häufig vom Blitze getroffen werden. Sie wachsen sehr langsam, erreichen aber auch ein ungeheures Alter. Unter zwei- bis dreihundert Jahren wird ihr vollkommenes Wachsthum nicht vollendet. Dagegen werden sie aber auch fünfhundert Jahre alt, ja man hat Beispiele von Eichen, die gewiß wenigstens tausend Jahre alt waren. Den größten Nutzen gewährt die Eiche durch ihr Holz. Weil es sehr fest ist und der Fäulniß vorzüglich gut widersteht, so braucht man es mit. Vortheil zum Bauen, besonders zu solchen Dingen, welche der Einwir­ kung der Lust und des Wassers sehr ausgesetzt sind, wie zu Brückenpfeilern, Mühlwellen und dergleichen. Man verfertigt auch davon sehr dauerhaftes und schönes Hausgeräth. Wenn man den Baum, gleich nachdem er gefällt ist, ins Wasser legt und dann drei Jahre lang liegen läßt, so wird das Holz nicht ris­ sig. Die Rinde, welche viele herbe, zusammenziehende Bestandtheile enthält, braucht man zum Gerben des Leders; man kann aber dazu mit noch mehr Vor­ theil auch die Sägespäne verwenden. Die Eicheln geben eine gute Mästung für die Schweine. Durch den Stich eines Insekts, der Gallwespe/ entstehen an den Zweigen und Blättern Auswüchse, die man Galläpfel nennt und zur Bereitung der Dinte gebraucht. Männer, die sich um das Vaterland sehr ver­ dient gemacht hatten, wurden von den alten Deutschen mit Eichenkränzen be­ lohnt. Ehrhardt.

6. Der Heringsfang an der norwegischen Küste. Kaum giebt es ein wunderbareres Geschöpf, als den Hering, dessen Ge­ schichte in den tiefsten Tiefen des großen Salzwassers noch gar nicht so genau erforscht ist, als man meinen mag. Unter allen den kaltblütigen Geschlechtern in beschuppter Haut ist das seine wahrscheinlich das zahlreichste; denn wer zählte die ungeheuren Schwärme, welche jährlich aus den Meerestiefen aufstei­ gen, an allen Küsten des nördlichen Europas erscheinen, zu Milliarden gefangen Dielitz und Heinrichs, deutsches Lesebuch.

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werden, zu Milliarden den Raubfischen erliegen und doch immer wieder in der gleichen, zahllosen Fülle zum Vorschein kommen? An der Küste von Norwegen erscheint der Hering jährlich dreimal; aber der Hauptfang geschieht im Februar. Es ist dies die Frühlingsfischerei; sie liefert die größte Menge und die fetteste, größeste Art des Fisches. Mit dem Fange sind im Februar wenigstens zweitausend Böte beschäftigt. Die Fischer begeben sich Ende Januar auf die Inseln hinaus, miethen Hütten und Plätze und empfangen Vorschüsse für ihren Fang von den Kaufleuten, die sie mit dem, was sie nöthig haben, versorgen. Sie thun sich nun in Gesellschaften zusam­ men und bestimmen die Theilung, fügen sich den gesetzlichen Anordnungen, lasien sich die Fischplätze anweisen, wo sie ihre Netze auswerfen sollen, treffen Ver­ abredungen mit dem Empfänger ihrer Waare und erwarten dann die Herings­ schwärme, denen sie ungeduldig täglich bis weit ins Meer entgegenfahren, um den langersehnten silberblauen Schein zu entdecken, welcher das Nahen der Beute anzeigt. Noch ehe jedoch diese Stunde schlägt, verkündigen schnelle und fürch­ terliche Wächter den Heranzug des Thieres. Einzelne Walfische streichen an der Küste hin und werden mit lautem Jubel begrüßt, denn der Walfisch ist der sichere Verkündiger des Herings. Es ist-, als habe er den Auftrag erhalten, daß er den Menschen die Aufforderung bringe, sich zum Angriff bereit zu ma­ chen. Hat er diese Sendung vollbracht, .so jagt er zurück zu seinen Gefährten und hilft ihnen den geängstigten Hering rascher gegen die Küsten treiben, wo sich dieser in die Scheeren zwischen den Inseln und Klippen drängt und, um grimmigen Feinden draußen zu entkommen, andren noch schrecklicheren in die Hände fällt; denn hier erwarten ihn die Fischer mit den Netzen. Jedes Boot hat deren sechs und dreißig, die meisten zwei Faden lang und einen Faden tief. Mehrere werden an einander geknüpft und in Reihen aufgestellt, nachdem sie mit Steinen beschwert worden sind. Wären die Netze größer, so würden sie reißen; denn der Hering steht so dicht zusammen, daß, wenn der Fang gut ist, in jeder Masche des Netzes auch ein Fisch steckt. Dabei ist seine Menge so ungeheuer, daß er zuweilen eine Wand bildet, welche bis auf den Grund hingbreicht, und von deren Druck nach oben die Böte dann mehrere Zoll aus dem Wasser gehoben werden. Achtzehn Netze stellt jedes Boot und wirft die andere Hälfte aus, sobald die erste mit deni Fang herausgezogen ist. Und während nun jene sich wieder füllt, rudern die Fischer mit den armen Opfern ihrer Schlau­ heit zum Strande, wo der Kaufmann wartet. Dort werden sie gezählt und ihm überliefert. Schaluppen stehen bereit, in deren Raum die Fische geworfen werden, und sobald die Fahrzeuge gefüllt sind, eilen sie nach Bergen. Äort nun

eröffnet sich an der deutschen Brücke ein neues Schauspiel. Arbeiter karren den Hering aus den Schiffen unter die weiten Durchgänge der Häuser. Hier sitzt, von Tonnen umringt, eine gehörige Anzahl Menschen, größtentheils alte Frauen, die mit dem Messer in der Hand das Werk des Auskehlens verrichten. Die Karren werden bei ihren Plätzen umgestürzt, so daß sie bald in Fischbergen be­ graben sind. Sie ergreifen nun den einen nach dem andern, schneiden ihm die Kehle auf und reißen mit einem kunstgemäßen Zug Gedärm und Eingeweide heraus. Dann werfen sie ihn in die bereitstehenden Tubben, und sie haben in dieser Arbeit eine solche Fertigkeit, daß viele lausend Fische täglich dasselbe Ver­ fahren erleiden. Sobald die Tubben gefüllt sind, werden sie von anderen Ar­ beitern an den Platz des Einsalzens gefahren, dort in die Fäffer gepackt, mit der Salzlake begossen, vom Böttcher geschlossen und in dem Magazin aufgesta­ pelt. Nun sind sie zur Ausfuhr fertig und bereit. Wenn man bedenkt, daß in den letzten guten Zeiten von Bergen allein jährlich beinahe 30,000 Tonnen Heringe ausgefahren sind, kann man sich wohl einen Begriff von der Größe und Lebendigkeit dieses Handels machen. Alle gewinnen dabei. Das Holz zu

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den Tonnen kommt aus den Wäldern, und die Eigenthümer derselben, die Bauern, welche es heranfahren, die Handwerker, welche es verarbeiten, die Frauen und Kinder, die den Hering kehren, die Männer, welche ihn herbeischafsen, die Fischer und Schiffer, die Bootsleute und Rheder, vor allen aber die Kaufleute, theilen sich in den Vortheil. Kehren wir noch einen Augenblick zu den Fischern zurück. Diese setzen den Fang ununterbrochen vier Wochen lang und oft länger fort. Wie viele Fische auch täglich in dieser ungeheuren Zahl von ,Netzen herausgezogen werden, die Masse der übrigbleibenden scheint dadurch nicht vermindert. Immer neu drängt sich das unermeßliche Heer herauf auf die Oberfläche und draußen vor den Scheeren. Mitten zwischen den Fischerböten liegen oft die Wale wie abgerichtete Schäferhunde und scheuchen die furchtsame Heerde zurück, wenn sie Miene macht, sich zu entfernen. Mensch und Walfisch haben einen Bund geschlossen zur Ver­ nichtung des unglücklichen, widerstandslosen Gefangenen, der ihrer Wuth allein durch seine unvertilgbare Menge spottet, welche sich zur Schlachtbank drängt. Hunderte von Walen haben das Heringsheer herangetrieben, sie haben es schon weit im Meer erspäht, als es, von unbekannten Ursachen gezwungen, aus den Tiefen emporstieg. Kühnen Wüstenräubern gleich, haben sie dem Zuge aufzelauert, ihren gierigen Hunger gestillt, und jetzt liegen sie, riesenhaften Baum­ stämmen gleich, bewegungslos dicht vor dem Fischwalle, der nicht mehr entkommen kann, und in ihren geöffneten Rachen ziehen sie mit jedem Athemzuge eine An­ zahl lebendiger Geschöpfe hinab, deren Blut und Fleischstücke, mit grünlichem, übelriechendem Wasser vermischt, ihre Naslöcher in hohen Fontänen ausspritzen. Der Walfisch an der norwegischen Küste ist der Heringsjäger. Das mächtige Thier schwimmt in seinem Element mit der Geschwindigkeit eines Vogels. Trotz seiner unförmlichen Gestalt und seiner scheinbaren Trägheit ist er in allen seinen Bewegungen ein Musterbild der Kraft und Gelenkigkeit. Jetzt noch auf der Oberfläche des Meeres -ruhend, ist er im nächsten Augenblick verschwunden und tief hinabgesunken; im andern sieht man seine hohe Rückenflosse in weiter Ferne wieder emportauchen und durch das Wasser rauschen.- Jetzt ist er hier, jetzt dort und immer beschäftigt, den Raub zu verschlingen, der ihm aufstößt. Wie viele Tonnen Heringe täglich von diesen Ungeheuern verbraucht werden, ist leicht zu denken; aber die Fischer machen sie ihnen nicht streitig, sie haben ja dennoch mehr, als sie nehmen können. Der Walfisch ist im Gegentheil Gegenstand ihrer Sorge, niemand darf ihn beleidigen, niemand ihn von seinem Platze vertreiben, er ist ihr Gefährte, ihr Freund und Diener, den sie lieben, und der Fisch scheint dieses wohl zu wissen; denn so scheu und empfindlich er auch sonst ist, ruhig liegt er hier zwischen den Barken und verspeist, ganz unbekümmert nm alles Geschrei und Gelärm, seinen Antheil an der gemeinsamen Beute. Daher sind denn auch die Fischer einig darüber, daß der Wal ein so kluges, verständiges Geschöpf sei, wie irgend eines auf Erden, und sie erzählen viele Beispiele, welche Zeugniß dafür geben. Eines darunter ist folgendes. Ein Fischer war vor einigen Jahren bei Skudesnaes mit dem Fange be­ schäftigt; rund umher lagen mehr als hundert Böte in gleicher Arbeit; dicht neben dem seinen.aber ruhte ein ungeheurer Wal, der sich nicht im geringsten genirte und beim Heraufziehen der Netze kein. Haar breit aus dem Wege ging. Er vertilgte eine Tonne Hering zum Frühstück in völliger Gemüthsruhe, schlief vielleicht halb und halb dabei, denn er schüttete seine übelriechenden Fontänen über das Boot aus und kehrte sich nicht einmal daran, daß die Ränder dessel­ ben seinen Rücken streiften. Der Fischer, ein erfahrner Mann, ließ sich dies von dem unhöflichen Thiere in Betracht des Bündnisses und der sonstigen giften Dienste gefallen; sein Knabe aber fürchtete sich, die Hände in das Wasser zu stecken und das Netz dicht am aufgesperrten Schlunde des Ungeheuers aufzuzie-

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hen. Er nahm daher hinter' dem Rücken des Balers den Bootshaken und gab der schwarzaufragenden Insel eine hinterlistige Erinnerung zu verschwinden. Der Stoß half wie mit Zaubergewalt; denn kaum war er empfunden, als das Thier mit Blitzesschnelle fünfhundert Ellen weil mitten durch den Fischplatz zwischen Böten und andern Walen Hinschoß. Plötzlich aber kehrte es um, nahm denselben Weg zurück, und als wisse es genau, wo und an wem es die Belei­ digung zu rächen habe, suchte und fand es das Boot mit dem verräterischen Knaben und zerschmetterte es mit einem Schlage seines Schwanzes. Solche Beispiele mögen hinzugekommen sein, um den Fischern Achtung vor ihren star­ ken Freunden zu lehren, die eine so ungeheure Kraft besitzen, daß das stärkste Boot davon in Splitter fliegt. Aber der Walfisch ist es nicht allein, der die Beute mit den Fischern theilt. Vuft und Wasser beleben sich mit gefräßigen Räubern, die unermüdlich im Vernichten sind. Delphine, Kabeljaue, Schell­ fische und Haie umschwärmen in Schaaren die Verfolgten und machen wüthende Angriffe auf sie; aus der Luft aber stürzen die unzähligen Schwärme wild­ schreiender Möven, Seeraben und Fischadler auf sie ein. Endlich im März senken sich die Schaaren in die Tiefe, und mit dem Ende dieses Monats verschwinden sie gewöhnlich ganz. Der Fang ist beendet, und die Fischer empfangen, was sie vom Kaufmann zu fordern haben; aber dies ist meist trotz aller Gunst des Schicksals doch nur eine geringe Summe. Man hat vorher geborgt, das Leben ist theuer, der Fisch wohlfeil, und bald pocht das alte Elend wieder an die schmutzige Hütte des Armen, dessen Hoff­ nung sich dann auf den nächsten Glücksstern seines Netzes richtet. Nach Müggk.

7. Der Storch. Es ist Frühlings Anfang, die Sonne steht im Frühlingszeichen, im Wid­ der; so meldet es der Kalender. Wenn dieser es aber auch nicht sagte, der liebe Gott thut es durch lausend lebendige, laute und stumme Frühlingsboten kund. Da kommt denn auch einer der größten derselben, der Storch, aus dem fernen Pyramidenlande. Fest vertrauend auf seinen inneren Kalender, verkündet er überall ernst und feierlich, daß es nun wirklich Frühling geworden. Für diese frohe Botschaft hat ihn jeder gern; das weiß er auch, darum kommt er so zu­ traulich zu uns und nimmt Wohnung bei uns. Seht nur in den Dörfern nach den hohen Dachfirsten, da hat er sein Nest, da steht er so unerschrocken und furchtlos, als wollte er für die Zeit seines Hierseins zu dem Hausgeflügel gezählt werden. Wie bte Hausbewohner den Hühnern das Nest vorbereiten, so legten sie auch ihm in einem Wagen- oder Pflugrade das Fundament zum Neste und sicherten dies so vorsorglich mit ringsum eingeschlagenen Pfählen vor Wind und Sturm, daß es hundert Jahre aushalten könnte. Mit Dornen, Reisholz und Rasenstückchen baut der einziehende Storch dasselbe aus. Doch ehe er an diese Arbeit geht, hat das erfahrene Männchen, welches dem Weib­ chen vorausgeeilt ist, schon die Baulichkeit zu dem Neste geprüft. In demsel­ ben stehend, erwartet es, gleichsam als ein ausgestecktes Wahrzeichen, das nach­ kommende Weibchen. Mit vereinten Kräften ist nun bald alles für sie und die spätere Nachkommenschaft eingerichtet; denn Eile thut Noth, damit die junge Brut noch hinlänglich Zeit gewinne, sich für die erste weite Reise mit den El­ tern zu kräftigen. Hat das Weibchen zwei bis fünf Eier gelegt, so geht es ohne die geringste Verzögerung ans Ausbrüten derselben. Damit das Geschäft keine Unterbrechung erleide, theilen Weibchen und Männchen sich darein. Dafür haben sie aber auch die Freude, schon nach drei Wochen aus den großen Eiern die Jungen schlüpfen zu sehen. Jene eheliche Liebe, Treue und Sorgfalt, welche lange sprüch-

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wörtlich geworden ist und zu mancher Sage und Fabel Veranlasiung gegeben hat, findet aber in der Theilung der Arbeit noch nicht ihre Grenzen. Während ein Gatte brütet, leistet der andere getreulich Gesellschaft. Steif und fest steht er, wenn er nicht gerade ausgeflogen ist, um Frühstück, Mittag- oder Abend­ brot zu besorgen, auf der Dachfirste mit angezogenem Schnabel und aufgehobe­ nem Beine, wie eine leibhaftige Schildwache vor großer Herren Thüren. So lange nicht bei den Jungen der graue Flaum der Deckfedern und der schwarze der Schwungfedern sich vollständig in weiß und schwarz verwandelt hat, führt ein Familienglied die Aufsicht, und das andere zieht auf Nahrung aus. Mit dem ganzen Schlund voll Frösche, Eidechsen, Schlangen oder Maulwürfe und Mäuse kehrt er heim, kramt den Vorrath bis auf den letzten Bisien aus, zer­ legt für die Jungen selbst die einzelne Portion, wenn sie zu groß sein sollte, und hält so gemeinschaftliches Mahl im eigenen Hause. Bei aller Gemüthlich­ keit wird aber auch das Lernen nicht vergessen. Sind den Jungen die Federn und die Flügel hinlänglich gewachsen, so heißt es: ,,Heraus aus dem Neste und heran an die Arbeit!" Der erste Uebungsplatz ist die Dachfirste. Bor al­ lem wird das Gehen geübt. Die Alten gehen voran und machen vor, die Jun­ gen machen nach. Auch hier ist aller Anfang schwer. Aengstlich balanciren die Äungen einher und sind froh, wenn sie nur erst wieder ruhig und sicher ihre Hornschwarzen Schnäbel aus dem Neste hervorstrecken können. Doch die Ruhe ist von kurzer Dauer; die Alten treiben immer wieder von neuem an die Ar­ beit, bis die Fertigkeit im Gehen erreicht ist. Nun geht es ans Fliegen. Dies geschieht anfangs nur sprungweise geradeaus, vorwärts und rückwärts, aber mit regelrechtem Flügelschlage, dann mit nach hinten ausgestreckten Beinen linksum und rechtsum, in kleinern und größern Kreisen, bis sie sich auch hierin die Zufriedenheit der Alten erworben haben. Die bewiesene Aufmerksamkeit und der erprobte Fleiß sollen nun auch nicht unbelohnt bleiben. Mit den Eltern geht eS ins weite Feld zum nächsten großen Versammlungsorte, wo offene Tafel gehalten wird. Hier werden die Jungen zum ersten Male in die größere Ge­ sellschaft eingeführt, und jeder kann sich selbst sein Essen nehmen, aus welcher Schüssel eS ihm gerade gefällt, wobei noch besonders ergötzlich ist, daß die ganze Mahlzeit beim Spazierengehen abgemacht wird. Alt und Jung schreitet gravi­ tätisch durch einander hin. Die ellenlangen, zinnoberrothen Stelzenbeine haben zum Durchwaten bis über die Fußbeuge keine Federn. Die drei Vorderzehen sind mit einer Haut verbunden und an der Spitze mit abgestumpften Nägeln versehen, damit der Fuß nicht tief in den schlammigen Boden einsinke. Am gebogenen Halse ist der sechs bis acht Zoll lange, rothe und spitze Schnabel stets in Bereitschaft, die auftauchende Beute aufzuspießen und dann zu verschlin­ gen. Die ganze Haltung wie die Bekleidung giebt den Störchen einen ehrbaren, feierlichen Anstrich. Das reine Weiß der Deckfedern und das tiefe Schwarz der Schwungfedern steht ihnen so gut, wie den ländlichen Kirchengängerinnen ihr Festkleid. Dazu kommt noch ihre ausgezeichnete Höhe. Mißt der Körper in die Länge drei und einen halben Fuß, so ist das Maß der Höhe nicht viel geringer. Auffallend ist das stille Wesen des Storches. Weiter nichts als ein weithmschallendes Geklapper, hervorgebracht durch das Zusammenschlagen der beweglichen Kiefer, läßt er vernehmen, um dadurch Liebe, Zorn und Freude auszudrücken. Diese Schweigsamkeit hat ihren Grund; denn blicken wir in sei­ nen Schnabel, so zeigt sich die Zunge als ein tief im Schlunde liegendes, kur­ zes Knorpelstückchen. Darüber wird der Storch sich auch nicht sonderlich bekla­ gen; denn einmal verdankt er der stummen Rolle, die er spielt/verbunden mit seinem bedächtigen, kopfnickenden Gange, den Titel eines Philosophen, sodann aber der kurzen Zunge die Leichtigkeit und Gefahrlosigkeit, Maulwürfe zu spießen und den Schlangen trotz ihrer Giftzähne die Kehle zusammenzudrücken. Diesem

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Geschäfte geht er wohl täglich nach und bewährt sich, wenn auch nicht so sehr bei uns, doch in wärmeren Ländern als ein nützlicher Vogel. Während er in Aegypten den von der jährlichen Nilüberschwemmung zurückbleibenden Schlamm von Fröschen, Eidechsen und Schlangen säubert, vertilgt er in Kleinasien ganze Schaaren von Feldmäusen und macht dadurch hier wie dort dem Landmanne die Ernten möglich. < Kommt Ende August heran, so zieht sich eine ganze Schaar Störche aus weitem Umkreise zusammen, und ein großes Manöver beginnt. Da acht es in lang anhaltendem Fluge über Berge und Thäler, über Felder und Dörfer, um die Jungen zu dem weiten Marsche ganz taktfest zu machen. Eine entlegene Waldwiese dient zuletzt zur stillen,' geheimen Versammlungsstätte; zu den Wol­ ken erhebt sich die Schaar und zieht unbeirrt, durch ihren, wunderbaren Orts­ sinn geleitet, ohne Kompaß und Wegweiser der neuen Heimath zu. Hohe Ge-. birgsketten werden wie Klippen umschifft und die tiefsten Einschnitte ausgewählt/ eben so die großen Breiten der Meere vermieden und die schmälsten Striche aufgesucht, wo überdies Inselgruppen erwünschte Ruhestätten darbieten. Ueber Italien, Sicilien und Malta geht es nach Tunis und endlich nach Aegypten, wo der gütige Erhalter alles dessen, was lebet, auch den Storch immer wieder seine vollen Fleischtöpfe vorfinden läßt. Neuling.

8. Die Burg Hohenzollern. Zwei Gebirgskegel treten aus der langen Reihe der schwäbischen Alpenhöhen weithin sichtbar hervor, am östlichen Ende der Hohenstaufen, auf dessen kahlem Gipfel, freilich nur dem geistigen Auge sichtbar, aber für dieses unzer­ störbar, die Burg eines längst verschwundenen Geschlechtes unsterblicher Herr­ scher thront; gegen das Westende desselben Gebirges der Hohenzollern, die mit Trümmern gekrönte Bergwiege eines blühenden Königsstammes. Dieses letzere, einst sehr feste Bergschloß liegt eine halbe Stunde von Hechingen, der kleinen Hauptstadt des Fürstenthums Hohenzollern-Hechingen, auf einem freistehenden, kegelförmigen Berge, der gegen 800 Fuß hoch ist. Den Gipfel bildet ein Kalkfelsen, dessen Seiten überall senkrecht abgeschnitten sind. Zu dieser Spitze, auf welcher das Schloß liegt, führt nur ein, einziger, mit Brücken verbundener Zugang; überdies aber war die Burg noch absatzweise durch neun stark mit Eisen beschlagene Thore verwahrt. Das Schloß selbst bildet ein längliches Viereck und besteht aus einem Hauptgebäude und zwei Flügeln, von welchen die südöstliche Seite, deren Flügel längst eingestürzt ist, mit Ausnahme der Kirche offen steht. Rechts hat der Eintretende hier das Zeughaus, in welchem einiges Geschütz und eine sehenswerthe Sammlung von Waffen des Mittelal­ ters aufbewahrt wird: eiserne Panzer, Helme, Morgensterne, Spieße und was spnst von Waffen der veränderte Kriegsgebrauch längst unnütz gemacht hat. Darunter zeichnen sich einige schön von Stahl gefertigte und mit Zierrathen versehene Rüstungen der alten Grafen von Hohenzollern besonders aus. Das Ganze ist in einem alten Saale aufgestellt. Neben diesem Zeughause sind zwei Mühlen über einander, von eigenthümlichem Mechanismus, von welchen die untere durch Pferde, die obere "durch Menschen in Bewegung gesetzt wurde. Jenem Hause gegenüber steht links, unansehnlich, aber doch nicht ungeräumig, die Burgkapelle, der älteste Theil des Schlosses; denn ihre Erbauung fällt ge­ wiß schon ins elfte Äährhundert. Die ganze Burg hat keinen Brunnen mit lebendigem Wasser; eine große, gemauerte Cisterne, welche die dahin abgeleitete Traufe der Däcker auffing, vertrat für die Bewohner seine Stelle. Den übri­ gen Theil des Schlosses nehmen hohe und geräumige Säle und Zimmer ein, die jedoch nichts Bedeutendes darbieten. Im Hofe stehen einige alte Bäume.

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Mühevoll in Felsen gehauene Gewölbe ziehen sich unter der Oberfläche deS Berges hin. Das Ganze der Burg war schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts dem gänzlichen Verfalle nahe, und ein Schriftsteller dieser Zeit erzählt mit Bedauern, daß dieses berühmte preußische Stammschloß bald zu einem Schutthaufen ge­ worden sein werde. Seitdem aber hat sich die hohe Regentenfamilie, welche dieser Burg entsprossen ist, des Hauses ihrer Väter angenommen, nachdem Friedrich Wilhelm IV., damals Kronprinz von Preußen, im Sommer 1823 einen Abend auf seinem ahnherrlichen Schlosse verweilt hatte. Die Wohnun­ gen sind erneuert und wieder in wohnlichen Stand gesetzt, und dem Ganzen ist ein hoher, steinerner Thurm hinzugefügt worden, der die sonst wenig sich in die Höhe thürmenden Ruinen und die noch erhaltene Gebäulichkeit hebt und eine unermeßliche, überraschende Aussicht über Berge, Thäler und Flächen er­ öffnet. Westen, Norden und Nordost liegen ganz offen da; der Süden zeigt uns die Alpenkette mit einem Kranze der schönsten Wälder, deren Berge sich in amphitheatralischem Halbrunde vor dem gern auf ihnen ausruhenden Auge lagern. —chwad.

9. Der Hohenstaufen. In der Mitte des schwäbischen Landes, fast gleich weit vom Rhein, Lech und dem Bodensee entfernt, erhebt sich der hohe Staufen, ein kegelförmiger Berg, auf dessen Gipfel einst das Stammhaus der schwäbischen Herzoge und Kaiser gestanden. Weithin« ist des Berges Haupt sichtbar, und du magst kom­ men, von welcher Richtung du willst, so beut es dir seinen kahlen Scheuet ent­ gegen. Es beherrscht eben so die Gegend und die niedren Berge, wie die mäch­ tige Regentenfamilie, die einst hier hausete, die niedren Geschlechter und die Landschaft umher beherrscht hat. Der baumlose Gipfel des Berges gewährt eine herrliche Aussicht. Gegen Süden übersieht man Pie schwäbische Alp mit ihren begrünten Höhen oder zackigen Felsen; hinter ihr ragen in weiter, bläu­ licher Ferne, wie die Wolken am Horizont, die Schneeberge Tyrols und Hel­ vetiens hervor. Gegen Westen erblickt man die schönen Gegenden, die der Neckar durchströmt, das reiche würtembergische Unterland, das schwarzwalder Gebirge und, dem Auge nur bei dem hellsten Himmel sichtbar, die Berge Loth­ ringens. In einem schönen Halbkreise gelagert, von Nordwest bis Nordost, von der Mündung des Neckars bis zum Ausflusse des Lechs, begrenzen die schwarzen limburgrschen und fränkischen Waldungen den Horizont und verhin­ dern die weitere Aussicht. Dies fint die äußersten Linien des Kreises, von dem dieser Berg der Mittelpunkt ist. Aber innerhalb dieses Kreises, welch eine bunte Landschaft, welch schönes Gemälde! Wie abwechselnd Thal und Berg, Wälder, Fluren und Flüsse! Welche Menge von Höfen, Dörfern und Städten, die allenthalben, bald mehr, bald minder versteckt, mit ihren Thür-' men und schimmernden Dächern und Zinnen einen ungemein heitren Anblick gewähren! Gaur nahe, dem Anscheine nach nur einen Steinwurf weit, liegt am nördlichen Fuße des Berges die Stadt Gmünd, ehemals ein Eigenthum des hohenstaufischen Hauses,' die aber nach Konradins unglücklichem. Tode

die Reichsfreiheit sich erwarb. Eben so nahe, nur auf des Berges südlicher Seite, breitet sich in einem fruchtbaren Thäte das schöne, würtembergische Städtchen Göppingen aus, das gleichfalls zu dem Besitzthume der hohenstanfischen Familie gehörte. Das frohe Gefühl, in das den Beschauer die leben­ dige Gegenwart versetzt, wird getrübt bei deni Anblicke so vieler, in Trüm­ mern liegenden, nahen Bergschlösser, die sich rings über die niedrigen Oerter erheben und wie Vasallen um den sie alle überragenden hohen Staufen herum-

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stehen. Rechberg, Staufeneck, Helfenstein, Namsberg, Scharfeneck, Berneck, Drachenstein waren ehemals die Sitze blühender Geschlechter, deren Andenken sogar zum Theil nun verweht ist. Noch mehr drängt sich der Gedanke an die Vergänglichkeit aller menschlichen Große auf, wenn du seine nächsten Um­ gebungen betrachtest; denn von dem Stammhause der Hohenstaufen ist bis auf ein kleines Stück Mauer auch die letzte Spur verschwunden, und mit Gras und Disteln ist der Schult überwachsen. Einsame Ziegen weiden an den steilen Wänden des Berges, und halbnackte Hirtenknaben tummeln sich auf der luftigen Hohe, wo einst der mächtige Friedrich seine Jugend verlebte. Im Bauernkriege 1525 wurde von dem Schlosse verbrannt, was verbrennbar war. Die sieben Fuß dicke Ringmauer desselben, zwei feste Thürme, der Buben- und Maunsthurm genannt, die Thore und der Brunnen blieben stehen und standen noch 1588. Seit jener Zeit wurden die Steine von den benachbarten Bauern geholt, die Thürme niedergerissen, der Brunnen verschüttet. Sie wühlten nach Schätzen und fanden Menschenknochen, die sie verschleuderten. Die Natur selbst scheint hier oben zu trauern über den Abgang der großen Familie, die hier ihren Wohnsitz hatte. Menschenleer ist die Gegend, verlassen sieht sich der Wanderer, und nur das Geläute der Heerden oder einer nahen Kirchenglocke dringt hin und wieder zu seinem Ohre. Am südlichen Abhange des Berges liegt das Dorf Hohenstaufen. In der alten Kirche desselben, die schon stand, als die Staufen Könige der Deutschen waren, ist eine kleine, niedrige Thür gegen den Berg zu; über derselben be­ findet sich ein uraltes Wandgemälde, welches den Kaiser Friedrich Barbarossa in eiserner Rüstung vorstellt; unter dem Bilde find einige deutsche Reime, welche sagen, daß Friedrich oft durch diese Thüre in die Kirche gegangen sei. Tiefer unter dem Dorfe auf der Ebene ist ein dichter, großer Wald, m wel­ chem ein Paar alte, ganz mit Moos überzogene Eichen stehen; von ihnen geht die Sage unter den Landleuten, daß sie aus den glanzvollen Zeiten des hohenstaufischen Geschlechtes die einzigen noch lebenden Ueberreste seien. Wenn diese Sage auch nicht wahr ist, so thut es doch dem Gefühle wohl, sich in die Zeiten zu versetzen, da diese Bäume jung waren, sich jene längst entschwunde­ nen Menschengestalten zu denken, wie sie in diesem Forste dem Eber auflauer­ ten und den schnellen Hirsch mit ihren Speeren fällten; es thut dem Gefühle wohl, nach einem so oft wiederholten Wechsel von Geschlechtern, Zeiten und Reichen eine Creatur, einen Eichbaum anzuschauen, der alle diese Wechsel über­ lebt hat, der dem stolzen Menschen die Kürze der ihm zuaemessenen Zeit vor­ rückt und ihm zu sagen scheint: „Dein Leben währet 70 Jahre, und wenn es hoch kommt, 80 Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; ich hingegen trotze der Zeit, und meine Blätter grünen für und für." Ehrhavdr.

10. Das Lissaboner Erdbeben. Eines der schrecklichsten Ereignisse neuerer Zeit ist das Erdbeben, welches am 1. November 1755 die Hauptstadt Portugals plötzlich und ungeahnet in den Abgrund des Verderbens stürzte. Um die Größe und den Umfang des Unglücks, das die Bewohner Lissabons traf, zu ermessen, ist es nöthig, einige Blicke auf die Stadt selbst zu werfen, ehe jener Schreckenstag einbrach. Jedermann weiß, daß Lissabon nebst London, Amsterdam und Hamburg einer der vorzüglichsten Handelsplätze in Europa ist. Der Verkehr war einige Tage vor dem Ausbruche des Erdbebens noch weit lebhafter als jetzt. Die Stadt lag am nördlichen Ufer des Tajo auf sieben Hügeln und gewährte vom Flusse her einen herrlichen Anblick. Die Gebäude wandten sich mit dem Tajo

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und erhoben sich von ihm allmählich den Hügel hinan. Befand man sich in der Stadt, so hatte man einen der schönsten Flüsse in der Welt vor sich; denn von einem Ufer zum andern war es eine gute halbe deutsche Meile, und dieser Wasserspiegel trug den Reichthum von Schissen der meisten seefahrenden. Völker. Ueber diesen dichten Wald von Masten hinaus lag eine romantische Landschaft, reich von der Natur begabt und mit wohlhabenden Städten und Dörfern besetzt. Das damalige Lissabon war beinahe anderthalb deutsche Mei­ len lang. Es hatte eine Mauer mit siebenundsiebzig altfränkischen Thürmen, die zwar keinen Feind abhallen konnten, aber der Stadt ein ehrwürdiges An­ sehen gaben. Nach dem Flusse zu hatte die Mauer sechsundzwanzig und auf der Landseite siebzehn Thore. Die Stadt hatte eine Burg, ein starkes, altes Gebäude, das auf einem der höchsten Berge stand und sich theils durch seine Größe, theils durch den arabischen Geschmack auszeichnete, in welchem es ge­ baut war. Der Adel hatte treffliche Häuser aus Quadersteinen mit schönen Gärten, die der Stadt zu großer Zierde gereichten; indeß machten die gemei­ nen Häuser nur schlechte Figur. Innerhalb der Stadt zählte man vierzig Kir­ chen außer der Kathedrale, die auf einem der höchsten Hügel stand und daher in der Ferne prachtvoll aussah, ein altgothisches Gebäude, inwendig höchst kostbar ausgeschmückt. Die Stadt hatte nicht weniger als fünf und zwanzig Klöster für Mönche, achtzehn für Nonnen und etwa hundert und dreißig für Laien, welche Kapellen und Priester hielten. Für die Armen waren etliche große Hospitäler errichtet. Der königliche Palast gewährte vom Flusse her einen prächtigen Anblick; erhalte eine sehr vortheilhafte Lage, da man aus den Fenstern große Flotten vor Anker und alle Schiffe sehen konnte, die in den großen Hafen einliefen oder aus demselben segelten. Dieser Palast bildete eine Seite von einem Viereck, das Zollhaus, die Fleischbänke, der Kornmarkt die andern Seilen. Auf diesem Platze hielt man die Stiergefechte; auch verbrannte man hier die Unglücklichen, welche der Inquisition geopfert wurden, die auf dem Platze Roscio ihre Sitzungen hielt. Die Straßen waren ausnehmend' eng und etliche sehr steil. Der vortreffliche Hafen konnte 10000 Schiffe fassen und war so tief, daß die größten Schiffe in 18 Klaftern Wasser gerade vor dem Palaste ganz sicher, mit ihren Ankern vertäuet, liegen konnten. Den Eingang schützten zwei Forts, St. Julian, welches aufs Ufer gebaut ist, und Torre, das auf einem Bollwerke, vom Wasser umringt, steht. Allein die größte Ver­ theidigung des Hafens war und ist noch die Barre oder die Sandbank, welche sicy quer vor . demselben ausstreckt und allen Schiffen höchst gefährlich wird, die keinen erfahrenen Lootsen haben. Das war Lissabon bis auf den 1. November 1755: frühe noch eine der schönsten, reichsten und bevölkertsten Städte und Abends ein Schutthaufen, eine dampfende Brandstätte, ein unabsehbares Leichenfeld! An diesem unseligen Mor­ gen war der Himmel heiler und lachend, wie er es fast immer in den glücklichen Kreisen des europäischen Südens ist. Kein Lüftchen regte sich, aber sieben und fünfzig Minuten auf zehn Uhr hörte man es in den Straßen rollen, gleich als ob Karossen hinabrollten; zugleich bebte die Erde mit gewaltig wogender Bewegung. Es war gerade der Festtag Allerheiligen, und die Einwohner hat­ ten sich zahlreich in den Kirchen versammelt, als das Unglück losbrach. Die kurze Zeit von zehn Minuten war hinreichend, die schönsten Paläste, die herr­ lichsten Kirchen und Privatgebäude in bejammernswürdige Trümmer zu ver­ wandeln, unter denen Tausende ihren Tod fanden. Gleich bei der ersten Er­ schütterung stürzte die Casa santa, das Haus der Inquisition, ein. Dem königlichen Palast ging es nicht besser; er ward mit allen Kostbarkeiten, die er enthielt, von der Erde verschlungen, ein Verlust, den man allein auf vier Millionen Thaler berechnete. Zum Glück befand sich die königliche Familie

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zu Belem, einem reichen Kloster an der Mündung des Tajo westlich von Lis­ sabon. Das prächtige Jesuitenkollegium begrub > unter seinen Trümmern alle darin befindlichen Mitglieder der Gesellschaft. Größeres Unglück und ein nicht zu berechnender Verlust brach in der Nähe des Zollhauses aus, wo ein großer Kai war. Auf ihm hatten die köstlichen Flotten von Brasilien, Ostindien und Afrika Ballen und Kisten und Säcke voll seltener Erzeugnisse für den Gebrauch der nördlichen Welt aufgethürmt. Hier lagen Millionen in Waaren, und um diese Güter schwärmten von Tagesanbruch bis in die Nacht an sechshundert Rheder, Schiffer, Diener, Beamte, Matrosen aus allen Ländern. Die Erde bebt, und binnen einer Minute versinkt dieser Kai, ohne daß nur eine Seele entkommt; Wasser tritt an die Stelle, und jede Spur des großen Platzes ist verschwunden. Der Schrecken, das Jammern und Wehklagen, das von allen Seiten er­ tönte, geht über alle Beschreibung. Die Leute liefen in die Straßen und streck­ ten ihre Arme- gen Himmel, um Gnade flehend. Viele suchten einen der offe­ nen Plätze oder die Landstraße zu erreichen, und rannten, zum Theil halb nackt, über die Trümmer hinweg. Greise, Frauen, Kinder, Kranke, die noch in ihren Betten lagen, wurden erstickt, ohne daß man ihnen Hülfe leisten konnte, oder wurden zerschmettert, verschüttet und so zu dem schmählichsten, schaudervollsten Tode, dem Tode des Hungers, verdammt. Pferde und Rinder wurden unhalt­ bar, zerrissen die Stränge und suchten vergeblich mit ihren Reitern der Zerstö­ rung zu entfliehen, die unvermeidlich schien. Ganze Gruppen, die sich auf der Flucht befanden, wurden vom Hagel der Ziegelsteine und Werkstücke erreicht oder von dem Falle erschütterter Gebäude zermalmt. Eine Haufe lief nach der Terra de Passa, dem Platze am königlichen Palaste, um von hier auf die Schiffe zu eilen; aber sie stürzten schnell zurück, weil der Tajo sich plötzlich zu einer Höhe von zwanzig bis dreißig Fuß erhob. Es gehört unter die gräß­ lichen Wunder dieses Tages, daß dieser Fluß blitzähnlich so anschwoll und dann eben so geschwind zurücktrat. Schiffe, die in sechs Klaftern Tiefe gelegen hat­ ten, wurden auf den nackten Boden gesetzt. Diese über allen Ausdruck grau­ senvolle Fluth und Ebbe kehrte an diesem Tage vielmal zurück. Etliche Böte wurden gleich verschlungen; aus der königlichen Werfte schwemmte diese Sindfluth alles Zimmerholz nebst Masten, Fässern und den sämmtlichen ungeheu­ ren Schiffsvorräthen hinweg. An der vorher erwähnten Barre am Eingänge des Hafens sah man die See stoßweise sich brechen wie im Sturme, ein An­ blick, der auch den beherzten Seefahrer bange machte. Das Schloß Regio gerieth in große Gefahr durch dieses Anschwellen des Flusses und feuerte Noth­ signale ab. In der Stadt stiegen ungeheure Staubsäulen neben den fallenden Häusern auf. Die Ueberlieferung sagt, daß die Sonne einige Augenblicke da­ von verdunkelt, und daß es so schwarz wie in der finstern Nacht geworden sei: ein neues Schrecken unter so vielen grausen Scenen. Sie berichtet ferner, was man hier leicht hinzudenkt, daß beständiges Angstgeschrei überall erschollen sei, und daß jede Brust den Jammer des Todes gefühlt habe, dessen tausendfäl­ tige Gestalten man vor sich sah. Auf die Scenen der Zerstörung, welche die unglücklichen Einwohner umgaben, folgte eine fürchterliche Pause. Die Staub­ wolken verschwanden, Gerettete wünschten sich Glück, indem andere den Verlust ihrer Verwandten betrauerten; Kinder, Gatten, Liebende rangen die Hände; Eltern knieten bei ihren entseelten Kindern nieder. Viele waren der Vernich­ tung wie durch ein Wunder entgangen, krochen aus den Trümmern hervor und fanden sich bei den Lebenden ein. Etliche hielten sich in einer fürchterli­ chen Höhe an den Sparren und Balken zertrümmerter Häuser und flehten um Hülfen Verstümmelt, blutend und sterbend füllte eine Menge Unglücklicher die Luft mit Wehklagen, Jammergeschrei und Gebeten.

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Nach wenigen Minuten folgte ein zweiter Erdstoß. Die wenigen Häuser, welche noch standen, wankten gräßlich hin und her, wie der Mast eines Schif­ fes im Sturme. Diejenigen, welche sich ihrer Rettung gefreut hatten, schrieen nun wieder zum Himmel um Gnade und suchten so schnell als möglich über die Trümmer zu kommen. Als sie an die Kirchen gelangten, fanden sie neuen Anlaß, Gott für ihre wunderbare Erhaltung zu danken; denn sie sahen hier mit Schaudern, daß die Schaaren von Menschen, die dorthin geflüchtet waren, unter den herabgestürzten Thürmen, Dächern und Werkstücken dieser großen Gebäude größtentheils ihr Grab gefunden hatten, deicht lange, so fühlte man einen dritten gewaltigen Stoß. Die Fliehenden konnten sich nicht auf den Beinen halten, sie mußten sich niederlegen oder niederl'nieen. Schrecken, Ver­ wirrung, Angstgeschrei, Flehen um Hülfe und Rettung vermehrten abermals das Grausenvolle dieser Scene und die Größe des Jammers. Das Trauer­ spiel war noch lange nicht zu Ende, denn auch das Feuer sollte den Ruin und den Aufruhr in der Natur vergrößern. Schon nach einigen Stunden wurden alle Zugänge vom Feuer gehemmt, welches in mehreren von einander entfern­ ten ^heilen der Stadt ausbrach, und mit angehender Nacht standen alle Trüm­ mer von Lissabon in Flammen. Da niemand da war zu löschen, so breitete sich die Wuth des Feuers aus, so weit es Nahrung fand, vollendete die Ver­ nichtung und machte die übrigen Einwohner vollends zu Bettlern; denn das Entsetzen ergriff alle Personen so sehr, daß niemand etwas zu retten suchte. Der Wind wehte stark und trieb das Feuer von einer Straße in die andere. Acht Tage wüthete die Flamme und zwar in den vorzüglichsten und engsten Theilen der Stadt. Die Leute mußten halb entblößt auf die benachbarten Felder fliehen. Waaren, Hausrath, Kleider, alles verbrannte; das Verhängniß hatte alle gleich gemacht. Hofleute, Volk, Nonnen, Mönche, alle mußten sich ohne Unterschied bequemen, auf freiem Felde das Ungemach der Witterung zu leiden und nicht nur Kälte, sondern auch Hunger auszustehen. Auf diese Weise war eine große, blühende Stadt in wenig Stunden in einen Schutthaufen verwandelt. Unzählige reiche und wohlhabende Familien waren in Armuth und Elend gestürzt, Kinder ihrer Eltern, Eltern ihrer Kin­ der beraubt, die innigsten Verhältnisse zerrissen, die süßesten Hoffnungen ver­ nichtet, die reizendsten Freyden in Jammer und Klage verwandelt. Anfangs glaubte man, das Feuer sei aus der Erde gekommen; aber auf genaueres Nachfragen bestätigte sich das nicht. Es war theils ans den Feuern der Häu­ ser, theils von den großen brennenden Kerzen in den Kirchen entstanden, theils auch vielleicht von Mordbrennern angelegt worden. Sechzehn Tage, nachdem es angefangen hatte, war der Schutt noch so heiß, daß er die Körbe, worin man ihn trug, entzündete. Die königliche Familie mußte die Nacht unter freiem Himmel auf dem Felde in Kutschen zubringen. Der spanische Gesandte wurde von dem Sturze seines Hauseö erschlagen,'als er eben ans dem Thor­ wege wollte. Diejenigen, welche ihr baares'Geld in eisernen Kasten gehabt, bekamen.es unversehrt wieder; das übrige gerettete Geld war ganz schwarz, und bei jeder Zahlung, die man unmittelbar nach dem Erdbeben machte, wurde gewöhnlich bestimmt, ob sie in blankem oder schwarzem Gelde geleistet werden sollte. Die völlige Zerstörung der Stadt durch das Feuer wurde lediglich den sehr engen Straßen beigelegt. Gleichzeitige Nachrichten können nickt Worte genug finden, um den fürchterlichen Anblick der Trümmer nach dem Feuer zu schildern. Beim Hinaufsehen erblickte man furchtbare Pyramiden ausgebrann­ ter Häuserfronten, die sich bald hierhin, bald dorthin neigten. An unzähligen Orten wurde man durch todte Körper entsetzt, deren sechs bis sieben über ein­ ander lagen, und die halb im Schutt vergraben, halb verbrannt waren. Von allen öffentlichen Gebäuden war nach dem Erdbeben nur noch die Münze und

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die Schatzkammer übrig. Die Erdstöße dauerten einige Zeit häufig fort/ob sie gleich verhältnißmäßig von keiner Bedeutung waren. Ein anhaltender Re­ gen verfolgte die Unglücklichen auch auf die Anhöhen, wohin sie sich vor der Wuth des Erdbebens, der Flammen und der Fluchen geflüchtet Hatten. Näffe, Erkältung, Krankheit und Hunger brachten hier aller angewandten Sorgfalt ungeachtet unzähligen Menschen den Tod, die ein elendes Leben noch bis dahin gegen die Wuth des Erdbebens geborgen halten. Die Zahl der Umgekomme­ nen belief sich auf dreißig- bis vierzigtausend; der Verlust an Eigenthum war unermeßlich und wurde auf fünf hundert und siebzig Millionen Thaler berech­ net. Da die Raubsucht sich das Eigenthum der Überlebenden zuzueignen trach­ tete, so wurden einige Regimenter in die Stadt geschickt, um die Sicherheit wieder herzustellen, und an einem Tage wurden sechs und dreißig Straßenräu­ ber gehenkt. Gegen dreitausend Menschen arbeiteten täglich daran, den Schult wegzuräumen. Das verwüstete Lissabon stieg allmählich prächtiger als ehedem wieder empor. ^irschfeld.

11. Die Pest in Marseille. ES war am ersten Juni des Jahres 1720, als der Bicekönig von Sar­ dinien, der Graf Saint Remis, im Schlaf von einem überaus beängstigenden Traume gequält wurde. Es kam ihm nämlich vor, als ob die Pest in seiy Reich eingeschleppt worden wäre und unter der Bevölkerung furchtbare Verhee­ rungen anricktete. Unmittelbar nach seinem Erwachen trat einer seiner Adjutan­ ten in sein Schlafzimmer und brachte ihm die Nachricht, daß ein fremdes Han­ delsschiff vor dem Hafen angelangt sei und um die Erlaubniß bitte, in denselben einlaufen zu dürfen. Ohne sich einen Augenblick zu bedenken, wies der Vice­ könig das Gesuch mit strengen Worten ab; nach einer halben Stunde aber er­ schien der Adjutant noch einmal und fragte, ob die Mannschaft des fremden Fahrzeugs sich, wenigstens im Lazareth auSschiffen dürfe. Der Vicekönig, in der gewaltigen Aufregung, in die ihn sein beängstigender Traum versetzt hatte, befahl mit Heftigkeit, dem Kapitän deS fremden Schiffes anzukündigen, daß er sich auf der Stelle von der Küste entfernen solle, indem man sonst fein Schiff mit Kanonen beschießen würde. Als dieser Vorfall in Cagliari bekannt wurde, konnten sich die Bewohner der Stadt nicht genug über das ungewöhnlich harte Verfahren des Bicekönigs wundern. Einige meinten, er habe in einer unbe­ greiflichen Anwandlung von finsterer, tyrannischer Laune so wunderlich gehan­ delt; andere aber glaubten, es könne mit seinem Verstände nicht ganz richtig sein und spotteten laut über seine Narrheit. Wie groß aber war das Erstaunen der Leute, als sie nach einigen Wochen erfuhren, daß jenes Schiff, dem der Vicekönig das Einlaufen in den Hafen so hartnäckig verweigert hatte, kein an­ deres gewesen war, als daS des Kapitän Chataud, welches bald nachher im Hafen von Marseille erschienen war und die Pest, die schon lange an seinem Bord wüthete, in diese unglückliche Stadt gebracht hatte! Und so war es in der That. Das lebenslustige Volk von Marseille be­ fand sich noch in der festlichen Aufregung, in welche es durch den Besuch deS Herzogs von Modena und seiner jungen Gemahlin, einer französischen Prin­ zessin, versetzt worden war, als zwischen den mit Blumen- und Laubgewinden geschmückten und mit Musikchören und fröhlichen Zuschauern bedeckten Schiffen das Fahrzeug des Kapitäns Chataud hindurchsteuerte, welches für einen großen Theil jener freudetrunkenen Schaaren und für viele Tausende ihrer Mitvürger den Keim des nahen Todes mit sich brachte. Sobald das Schiff an dem Lan­ dungsplätze vor Anker gegangen war, übergab der Kapitän den Hafenbeamten das Zeugniß, welches er bei seiner Abfahrt aus einem syrischen Hafen von dem

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dortigen Consulat erhalten hatte, und in welchem bezeugt war, daß in ganz Syrien weder von der Pest noch von einer anderen ansteckenden Krankheit irgend eine Spur zu bemerken sei. Dessen ungeachtet erkrankten plötzlich mehrere von den Quarantänedienern, welche die Waarenballen geöffnet hatten, um sie dem Zutritt der Luft und dem Dampf ihrer Räucherungen zugänglich zu machen, und mehrere derselben starben schon nach wenigen Stunden unter sehr bedenk­ lichen Anzeichen. Obgleich die Aerzte in ihrer Krankheit keine eigentliche Pest, sondern nur ein bösartiges Fieber erkennen wollten, so fühlten sich doch die Behörden bewogen, das Schiff und alle in demselben verladenen Waaren der strengsten Quarantäne zu unterwerfen. Die Ladung wurde nach einer kleinen, unbewohnten Felseninsel gebracht, welche etwa eine Stunde von dem Hasen ent­ fernt war, und diejenigen Gegenstände, welche den Krankheitsstosf vorzugsweise aufzunehmen und zu verbreiten pflegen, daselbst verbrannt; die Mannschaft des Schiffes aber wurde, obgleich es gerade damals keinen Kranken unter ihr gab, erst nach zwanzig Tagen aus der Quarantäne entlassen. DaS allgemeine Elend, das bald nachher über Marseille und die ganze umliegende Landschaft kam, hat die Aufmerksamkeit der Berichterstatter so auSschließend beschäftig, daß sie es vergessen haben, uns von dem weiteren Schick­ sal jener Seefahrer Nachricht zu geben. Nur so viel wissen wir, daß sie nach Verlauf jener zwanzig Tage aus der Quarantäne entlassen wurden und sich in die verschiedenen Gegenden der Provence zerstreuten. Von ihren Waaren kamen viele, obgleich auf ihnen der schwerste Verdacht der vergiftenden Eigen­ schaft haftete, auf den berühmten Markt, der, wie gewöhnlich, in der heißesten Zeit des Jahres, nämlich in der zweiten Hälfte des Juli, zu Beaucaire abge­ halten wurde. Die zahllosen Käufer, welche dort aus allen Gegenden des süd­ lichen Frankreichs zusammenströmten, wußten damals noch nicht, welches furcht­ bare Elend sie zugleich mit diesen Waaren in ihre Häuser brachten. In Marseille selbst dachte man übrigens schon anders über die Krankheit, deren Heftigkeit mit jedem Tage zunahm. Es war nicht das erste, sondern, so viel man wußte, das achtzehnte Mal, daß die Pest ihren Weg aus dem Orient hierher gefunden hatte, und obgleich nur noch wenig lebten, welche die­ sen TodeSengel aus Erfahrung kannten, so wußten es doch viele aus dem Munde ihrer Eltern, daß die Pest siebzig Jahre vorher auf das furchtbarste in der Stadt gehaust hatte. Als nun im Monat Juli die Kunde zu den Ohren der Schöffen kam, daß in einem sehr bevölkerten Stadttheile eine bedenkliche, schnell tödtliche Krankheit ausgebrochen sei, wurden augenblicklich alle Häuser und Per­ sonen, welche von der Seuche ergriffen waren, vom öffentlichen Verkehr abge­ sperrt. Obgleich man, um keine unnöthige und durch ihre Wirkung gefährliche Furcht zu erregen, diese Maßregel in möglichster Stille und meistens bei Nacht in Ausführung brachte, so kam dennoch das grausenhafte Geheimniß, daß die Pest in der Stadt sei, durch die Unvorsichtigkeit der Aerzte nur zu bald zur öffentlichen Kunde. Vergeblich war das Bemühen der Verständigeren, bei dem Volke die Ansicht zu begründen, daß die Pest nicht ansteckend sei, während die Behörden ihre Maßregeln so nahmen, als ob sie von der entgegengesetzten Mei­ nung wären. Die Furcht gewann die Oberhand, und bald flohen alle, welche eS vermochten, aus der Stadt, nicht nur diejenigen, denen ihr Reichthum eine unabhängige Stellung gewährte, sondern auch der größte Theil der Beamten, der Handelsleute, der Handwerker, ja selbst der Beamten und Diener in den Hospitälern und Krankenhäusern. Dadurch, daß die Regierung eine Grenzlinie um daS Stadtgebiet zog und das Ueberschreiten derselben bei Todesstrafe ver­ bot, wurde zwar diesem Unwesen, durch das die Stadt gerade ihrer unentbehr­ lichsten Bewohner beraubt wurde, Einhalt gethan; dagegen konnte man es nicht verhüten, daß die Noth im Innern der Stadt mit jedem Tage wuchs. Zu

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der Seuche gesellte sich, jetzt der Mangel, denn die Zufuhr von außen war so unzureichend, daß es in den meisten Haushaltungen an dem nöthigen Brot, Fleisch und Holz fehlte. Die vier Schöffen und der Amtshauptmann waren, ihrer Pflicht getreu, in der geängstigten Stadt zurückgeblieben. Was konnten sie aber auch bei dem besten Willen thun, um dem allgemeinen Elend in kräftiger Weise zu begegnen? In der Stadlkasse fanden sich vielleicht in Folge des Aufwands, den man bei den letzten Festlichkeiten gemacht hatte, nur zwölfhundert Livres vorräthig, und alle Quellen der Einkünfte waren versiegt, da die meisten Steuerbeamten die Flucht ergriffen hatten. Drückender aber noch als der Mangel an Geld war der an hülfreichen Armen, denn gerade diejenigen Bürger, welche den Schöffen bei der Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung behülslich sein sollten, halten zum größten Theil die Stadt verlassen. Statt dieser ruhigen Bürger war da­ gegen derjenige Theil der Bevölkerung zurückgeblieben, welcher aus Armuth, Un­ wissenheit und Rohheit überall der natürliche Feind der gesellschaftlichen Ord­ nung und des Gesetzes ist, nämlich die zahllosen Schaaren der Bettler, der müjzigen Landstreicher, der arbeitsscheuen und brotlosen Menschen und endlich der Verbrecher. Diese Volksmasse versank in dem Grade, als die Noth sich vermehrte, in einen Zustand sittlicher Verwilderung und empörender Verachtung aller göttlichen und menschlichen Gesetze, welcher alle Besseren mit Schauder erfüllte. Andere wieder gaben sich einer Verzweiflung hin, welche in ihren Fol­ gen fast ebenso traurig war, als die Verwilderung der rohen Menge. Diesen inneren Feinden, welche fast furchtbarer waren, als die Seuche selbst, stellte sich jetzt der Heldenmuth einiger wenigen edlen Männer entgegen, denen es gelang, die schönsten Siege des festen Gottvertrauens zu erkämpfen. Vor allen anderen waren es die beiden Schöffen Estelle und Moustier, welche durch ihr Beispiel bewiesen, was Muth und Besonnenheit auch der augenscheinlichsten Todesgefahr gegenüber vermag. Tag und Nacht waren diese Männer beschäf­ tigt, den Unglücklichen Trost und Hülfe zu bringen. Unter Leichnamen und Sterbenden und mitten in den pestilenzialischen Ausdünstungen der Spitäler und Todtengrüfte sah man sie ohne Furcht vor Ansteckung den Weg ihrer schweren Pflicht gehen. Wohin sie kamen, brachten sie Ordnung in die rathlose und ver­ zweifelnde Menge und sorgten ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit in auf­ opfernder Nächstenliebe nur für das Wohl ihrer Mitbürger. Sei diesem Werk der Liebe stand den beiden Schössen ein Manu von gleichem Heldenmut!) und Gottvertrauen zur Seite, der Chevalier Roze, der durch seine Einsicht und Er­ fahrung in ganz vorzüglichem Maße zu solcher Hülföleistung geeignet war. Durch eine augenfällige Fügung der Vorsehung war er der bedrängten Stadt zur Lin­ derung ihres Elends gesendet worden, denn er traf fast in demselben Augenblick im Hafen von Marseille ein, in welchem das unheilvolle Schiff des Kapitän Ehataud im Lazareth seine Papiere abgab. Er hatte in jüngeren Jahren als Kaufmann in Spanien gelebt, hatte dann der französischen Regierung in meh­ reren Kriegen wichtige Dienste geleistet und war deshalb vom König in den Rit­ terstand erhoben und später auch zum Consul in Modon ernannt worden, wo er Gelegenheit gefunden hatte, die Pest aus eigener Anschauung kennen zu ler­ nen und jene übertriebene Furcht abzulegen, welche der Europäer im Vergleich mit dem Orientalen vor dieser Seuche hegt. Endlich erblicken wir noch mitten

in dem allgemeinen Elend einen vierten Mann, der sich besonders als ein Trö­ ster der Sterbenden und Kranken, als ein Bote des Friedens und ein Erwecker des gläubigen Muthes thätig erwies, den edlen Bischof Belzunce, einen Mann von hoher, ritterlicher Gestalt, dessen AeußereS schon den treuen Diener des göttlichen Worts verrieth. Än dem einfachen Gewände eines Büßenden sah man ihn vom Morgen bis zum Abend an den Betten der Sterbenden und

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Kranken thätig, namentlich da, wo die Schauder der Todtengrüste am weitesten sich aufthaten, in den Lazarethen und in jenen Hütten der Armuth, in denen nicht selten der Weg über die unbegraben herumliegenden Leichname zu dem Lager eines noch Lebenden führte. Da seine Kraft nicht ausreichte, um überall den Trost zu spenden, nach dem die zahllosen Kranken und Sterbenden verlang­ ten, und da ein großer Theil der Geistlichen aus der Stadt entflohen war, so weihte er andere an ihrer Stelle zu dem jetzt so nöthigen Dienst der Kirche und der erbarmenden Bruderliebe. Nicht im Gebiet der Religion allein, auch in jenem der Wissenschaft gab sich damals eine große Verschiedenheit des Benehmens gegen die Gefahren der Seuche kund. Von den Aerzten der Stadt war zwar eine ziemliche Zahl zu­ rückgeblieben; statt aber, wie die beiden Schöffen und Roze und Belzunce, den gesunkenen Muth ihrer Mitbürger aufzurichten und 311 stärken, trugen sie we­ sentlich dazu bei, ihn zu vernichten und die allgemeine Furcht zu vermehren. Gleich gespenstischen Wesen der Nacht sah man sie in Gewändern von schwar­ zem Wachstaffet, mit hohen hölzernen Unterlagen an ihren Schuhen, mit ver­ decktem Munde und verhüllter Nase, nicht wie rettende und tröstende Freunde, sondern wie Boten des Todes bei den Kranken erscheinen, die sie nicht einmal zu berühren wagten. Es darf uns nicht verwundern, daß die Mittel, welche sie verordneten, fast immer, nur verderblich wirkten, und daß Tausende der Bettler und der Aermsten unter dem Volke durch die Hülfe der Natur, welche ihre Pestbeulen zur Reife brachte und öffnete, genasen, während die, welche das Unglück hatten, in die Hände jener Aerzte zu fallen, mit wenigen Ausnahmen starben. Neben dem Gebrauch der inneren Mittel hatte einer dieser elenden Aerzte die Anwendung eines äußeren empfohlen, das sich bald ebenso verderblich er­ wies, wie die den Kranken gereichte Arznei. Um nämlich, wie man meinte, die Lust zu reinigen, wurden in der Gluthitze der Sommertage theils rings um die Stadt her, theils auch auf den Plätzen und Gassen und selbst in den Höfen der Häuser unzählige Feuer angezündet, deren Rauch, mit Staub und Asche vermischt, das Licht der Sonne verdunkelte und sich wie ein dichter, er­ stickender Nebel auf die unglückliche Stadt lagerte. Sechs Wochen nach dem Ausbruch der Seuche, als die Noth den höchsten Gipfel erreicht hatte, erschien endlich eine Schaar einsichtsvoller und muthiger Männer in der schwer heimgesuchten Stadt. Sie kamen im Auftrage des Ministeriums aus der berühmten Schule der Aerzte zu Montpellier. Nicht in Whchstaffet gehüllt und verlarvt, sondern mit freiem, offenen Angesicht, der Furcht ihrer Kunstgenossen spottend, besuchten und behandelten sie die Kranken; mit heitrer Miene und ermunterndem Zuspruch setzten sie sich zu dem Kranken auf das Bett, knüpften eine Unterhaltung mit ihm an, untersuchten gemächlich mit Blick und Hand seinen Körper, verbanden seine Beulen nnd Wunden und suchten durch die einfachsten Mittel der Natur zu Hülfe zu kommen. Ihrem Beispiel folgend, kamen Aerzte und Wundärzte aus den verschiedensten Gegen­ den Frankreichs herbei, so daß es bald keinem der zahllosen Kranken an ärzt­ licher Hülfe fehlte. Auch die Frauen blieben bei dieser heilsamen und aufopfernden Geschäf­ tigkeit nicht müßig. Mit einem deutschen Arzte war seine Gattin, ein junges, blühendes Weib, nach Marseille gekommen, deren Name und Vaterland unbe­ kannt geblieben ist, und aus welcher deshalb der Volksglaube um so leichter ein hülfreiches Wesen aus einer andern Welt machen konnte. Diese schöne, kräftig gestaltete Frau ging ohne Furcht in die am meisten verpesteten Räume der Hospitäler und blieb, während sie täglich zahllosen Kranken die Wunden und Pestbeulen verband, ein Bild der frischesten Gesundheit. Auch von allen

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den entschlossenen und kühnen Aerzten, welche aus Montpellier und anderen Gegenden der Provence gekommen waren, wurde nur ein einziger von der Krankheit ergriffen, und auch dieser wahrscheinlich nur in Folge seiner Toll­ kühnheit, indem er sich, um seine Furchtlosigkeit zu zeigen, in das Bett eines so eben an der Pest Verstorbenen gelegt hatte. Eben so wurde von den vier Helden, deren Namen und Thäten wir oben envähnten, keiner von der Seuche ergriffen. Sie alle überlebten die Zeit der Plage und starben erst, nachdem sie noch viele Jahre mit dem schönen Bewußtsein treulich erfüllter Pflicht ge­ lebt halten. Eine nähere Beschreibung der furchtbaren Pest von Marseille, so wie des Jammers, den sie weit umher verbreitete, gehört nicht an diesen Ort. Nicht nur in den Hospitälern und Wohnhäusern, sondern auch auf allen Plätzen und Gassen sah man Leichname und Sterbende. In Marseille allein starben vierzigtausend Menschen und in dem umliegenden Stadtgebiet mehr als zehn­ tausend. Toulon zählte, obgleich man daselbst den Schiffen mit Kranken, welche auf Verordnung der Regierrtng aus Marseille in die Krankenhäuser dieser Nach­ barstadt gebracht werden sollten, mit Kanonen das Anlanden verwehrt hatte, mehr als fünfzehntausend Todte, Aix gegen siebentausend und die kleineren Städte, Marktflecken und Dörfer der Provence etwa zehntausend. Der größte Theil der Todten bestand aus Kindern, Frauen und jugendlich kkäftigen Män­ nern, während hochbetagte und lebensmüde Greise meist von der Seuche ver­ schont wurden. Nicht weniger auffallend war es, daß aus der ärmsten und äußerlich elendesten Klasse des Volks viel weniger Menschen von der Krankheit befallen wurden, als aus den bemittelten Ständen. Wenn man bedenkt, daß in der Stadt Marseille und ihrem Gebiet etwa fünfzigtausend Menschen in einer Zeit von kaum drei Monaten an der Pest starben, und daß eben so viele Menschen von der Seuche befallen wurden, ohne ihr zu erliegen, so kann man sich eine Vorstellung von dem jammervollen Bilde machen, welches die Stadt in den Monaten Juli, August und September des Jahres 1720 darbot. Alle Räume, welche sowohl in den Krankenhäusern als auch außerhalb derselben der öffentlichen Wohlthätigkeit zu Gebote standen, wa­ ren mit Kranken, Sterbenden und Leichnamen angefüllt; hülflose, halb verhun­ gerte Kinder liefen auf den Straßen umher und flehten die Vorübergehenden um Brot und Obdach an, und nicht selten wurden ganze Familien, wenn in ihrer Mitte die Krankheit zum Ausbruch kam, von unbarmherzigen Hausbe­ sitzern verstoßen und lagen nun mit ihren wenigen Habseligkeiten auf irgend einem Platze, bis die Obrigkeit für ihr Unterkommen sorgte. Da w-r nie­ mand, der, ohne mit Gewalt dazu gezwungen zu sein, die Todten begraben wollte ; wohin das Auge sah, erblickte es Spuren des Todes und der Verwe­ sung; selbst das Wasser der Brunnen und Cisternen schmeckte nach Fäulniß, und auch die Luft, die man einathmete, war von den Ausdünstungen der Kran­ ken und der Leichname vergiftet. Zu diesem Greuel der durch die Krankheit verursachten Verwüstung kamen aber noch die Schrecknisse, welche jene Räuberund Mörderbanden über die zitternden Bewohner brachten, indem sie in die Häuser einbrachen, die wehrlosen, ihrer natürlichen Beschützer beraubten Be­ wohner ausplünderten und mißhandelten und nicht selten sogar Kranke und Sterbende erschlugen, um sie dann zu berauben. Schubert.

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Gruß an den Rhein.

O Rhein, wie klingt dein Name hold Taufwasser deutschen Volkes du! Gleich einer Glocke, hell von Gold; Wie hat Natur hier ausgestreut, O fließe fort in stolzer Ruh, Was nur des Menscher, Herz erfreut!

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Die gelben Aehrenfelder kräuseln, Durchwehet leicht von Windessäuseln; Der grüne Forst zieht um den Rand Ein breites, dunkelnächt'ges Band. Wo Heister sich der Sonne Licht An dem Gestein der Felswand bricht, Da kocht die Reb' am Herd der Gluth Ihr duftend Gold, ihr feurig Blut. Es rasselt das Eisen zu dieser Stund' In nahen Schachtes tiefem Grund; Es horsten die deutschen Adler hier, Die Edelfalken im Luftrevier; Es springen die Hirsche vom Niederwald Und schwimmen durch die Fluchen kalt! Und in die lichten Wolken hin

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Seltsame Luftgestalten ziehn: Hin ziehen die Fürsten mit Kronen werth, Hin ziehen die Ritter mit Schild und Schwert, Die Jungfrau'n mit ihrem goldnen Haar, Bischof' im wallenden Talar; Es tauchen die Nixen aus kühlem Bad Zum Tanz auf blumigem Gestad. Es singen die Sänger zur Harfe laut, Was sie im Nebel der Lüfte geschaut! Sie singen fort bis diese Stund', Noch ist geschlossen nicht ihr Mund; Sie werden singen vom stolzen Rhein, So lang er fließt in das Meer hinein! Zedlitz.

13. Das Leben der Geisbuben auf den Alpen. Der im Gebirge umherstreifende Wanderer trifft häufig Ziegengruppen in einsamen Alpengegenden bald frei weidend, bald unter Öbhut eines wetterbrau­ nen, barfüßigen Jungen. Die Ziegen sind selten scheu, gewöhnlich ganz zu­ traulich und munter. In manchen Schweizerbergen folgen sie dem Fremden fiundenweit, um eine Prise Salz oder ein Stück Brot zu erbetteln. Gewöhnlich ist ein halbes Dutzend der Ziegen einer Ochsen- oder Pferdeheerde beigegeben, und ihre Milch ist fast die eimige Nahrung der Hüter; oft finden sich auch einige Ziegen im Gefolge einer Kuhheerde, oder sie werden auch selbst zu Heerden vereinigt und zur Alp getrieben. In diesem Falle theilt man sie im Ap­ penzeller Lande in Haufen von je 12 Stück ab; ärmere Bauern, die keinen ganzen Haufen besitzen, stoßen ihre Ziegen zusammen und hallen gemeinschaftlich einen Geisbuben, der magere Kost und noch geringere Löhnung erhält. Mit großer Kühnheit schweifen die Thiere in den steilsten Gebirgsbänken umher, um vereinzelte Grasbüschel oder zarte, leckere Ständchen zu rupfen. Dabei geschieht es Nicht selten, daß sich die Ziege an eine Stelle versteigt, wo sie sich weder vor - noch rückwärts mehr getraut. So bleibt sie denn oft zwei bis drei Tage ohne Nahrung zwischen Tod und Leben, bis der Geisbub sie entdeckt und zu lösen sucht. Dies thut er mit wunderbarer Verwegenheit ; manchmal bindet er sie an ein Seil, um sie die Felswand heraufzuziehen. Es ist in her That merkwürdig, daß der Mensch sich da zu klettern getraut, wo selbst die leicht­ füßige Ziege den Muth verloren hat. Freilich sind die Geisbuben, die den ganzen Sommer über zwischen den Felsen leben, außerordentlich gewandt im verwegensten Klettern und kennen die Gefahr so wenig, daß sie sich zuweilen erbieten, die jähsten Felsenköpfe und Gebirgsseiten durch beliebig zu bezeich­ nende Narben und Falten zu erklimmen, wo weder Hand noch Fuß im steilen Absturz haften zu können scheint. Selten fallen sich die Ziegen tobt, es sei denn, daß sie sich im Hörnerkampfe über den Felsenrand hinausstoßen oder von einem fallenden Steine, einer Lawine oder Geierschwinge ergriffen werden. Die wegen ihrer Steilheit und Abgelegenheit für das große Vieh unzu­ gänglichen Weideplätze werden bis zu einer Höhe von 7000 Fuß gewöhnlich durch Ziegercheerden abgeweidet. Hier trifft der Wanderer, nachdem er halbe Tage lang in den endlosen Trümmer- und Eislabyrinthen umhergestiegen ist, ohne eine Spur von Menschen oder Vieh zu bemerken, plötzlich und zu seinem höchsten Erstaunen eine elende Stein- und Mooshütte, einen verwilderten Bu­ ben, den Sonne, Wind und Schmutz in die Wette gebräunt haben, und eine DieUtz und Heinrichs, deutsche- Lesebuch.

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kleine, höchst muntere Ziegenheerde, die sich malerisch auf den einzelnen Blöcken, an den Grasbändern der Felsen und weit in den Flühen hinan vertheilt hat und den fremden Besucher mit neugierigen und muthwillig frohen Blicken be­ trachtet. Gewöhnlich bringt eine solche Heerde drei bis fünf Monate in den ödesten und wildesten Gebirgslagen zu, ohne irgend einer anderen Pflege zu genießen, als daß ihnen der Junge von Zeit zu Zeit ein wenig Salz auf . einen Felsen streut, um sie beisammen zu halten. Diese Hirtenbuben führen wohl das armseligste Leben, das mitten unter den Wohnsitzen gebildeter Menschen gefunden wird. Im Frühlinge ziehen sie mit ihrer bestimmten Zahl von Thieren ins Gebirge ohne Strümpfe und Schuhe, in der ärmlichsten Bekleidung, mit einem langen Stecken, einem Salztäschchen, oft mit einem Wetterhute und etwas magerem Käse und Brot versehen. Das ist ihre einzige Speise während des ganzen Sommers. Von warmer Nahrung ist keine Rede. Ein anderer Junge aus dem Thäte bringt, ihnen aUt vierzehn Tage, oft auch nur alle Monate neues Brot und neuen Käse. Diese Nah­ rungsmittel werden in der Zwischenzeit beinahe ungenießbar. Dazu plagt den armen Tropf die Langeweile, gegen die er jedoch zuweilen in irgend einer nütz­ lichen Beschäftigung ein Schutzmittel sucht. Bei schlechtem Wetter kauert er Wochen lang ohne Feuer, ohne Wort, vor Kälte und Hunger zitternd, in sei­ nem feuchten Loche, ans dem er nur hervorkriecht, um seine Thiere zu über­ blicken, die es, obgleich auch sie schutzlos den Unbilden der Witterung preisge­ geben sind, doch verhältnißmäßig weit besser haben, als ihr Hirte. Gegen den Herbst hin rückt die Gesellschaft gegen die milderen Kuhalpen hinunter, und wenn Frost und Schnee auch, hier mächtig werden, treibt der Bube zu Thal, um einen unglaublich elenden Lohn in Empfang zu nehmen. Es klingt fast fabelhaft, wenn versichert wird, daß manche dieser Geisbuben ein solches Som­ merleben so lieb gewonnen haben, daß sie es nicht leicht mit einem anderen, menschlicheren vertauschen würden. «rschudi.

14. Die Gemsenjagd. Die Gemse bewohnt die hohen Alpengebirge der Schweiz, Italiens und Deutschlands. Sie ist an Gestalt und Größe der Ziege ähnlich; doch hat sie keinen Bart, und etwas höhere Beine. Ihre Hörner stehen gerade in die Höhe und endigen in schwarzen, nach dem Rücken zu gekrümmten Haken. Diese Hör­ ner können zu einer gefährlichen Waffe werden; denn wenn die Gemse verwun­ det ist, vertheidigt sie. sich so tapfer, daß sie schon manchen Jäger tödtlich ver­ letzt hat. Sonst sind die Gemsen scheue, harmlose Thierchen. Im Sommer leben sie auf den höchsten Alpen, welche an die Region des ewigen Schnees grenzen. Da sie einer beständigen Verfolgung ausgesetzt sind, so suchen sie auch hier noch die unzugänglichsten Örte auf, wo sie vor Menschen und Raubthieren

sicher zu sein glauben. Nur Morgens und Abends wagen sie sich etwas tiefer hinab, um zu grasen; am Tage aber begeben sie sich in wilde und schattige Thäler, und die Nächte bringen sie unter ausgehöhlten Felsen und Felsentrüm­ mern zu. Im Oktober, wenn die Pflanzenwelt der Alpen abstirbt, gehen sie tiefer, halten sich jedoch immer noch so hoch als möglich. Erst im Winter stei­ gen sie in die Wälder hinab und wählen sich hier die am dichtesten bewachsenen Stellen aus. Immer leben sie in Familien oder Rudeln beisammen, die zehn, zwanzig, selbst dreißig und vierzig Stück stark sind. Die Gemsen sind ein Sinnbild der Wachsamkeit. Ihre äußerst feinen Sinne zeigen ihnen den Feind schon aus weiter Ferne; sie sehen sich beständig um, wittern nach allen Seiten, und die^ erste, welche einen Feind wahrnimmt, stößt einen durchdringend scharfen, pfeifenden Ton durch die Nasenlöcher. Das

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ist das Zeichen zur allgemeinen Flucht; sie laufen jedoch nicht, sondern machen ungeheure Sätze, oft achtzehn bis zwanzig Fuß lang. Da ihre Schalen oder Klauen unten ausgehöhlt sind und scharfe Ränder haben, so springen sie mit Sicherheit über die steilsten Klippen. Nur ihre flugähnliche Schnelligkeit und ihre beständige Wachsamkeit reitet sie vom gänzlichen Untergang. Besonders übersteigt ihre Fertigkeit, über fast senkrechte Felsenwände hinauf und hinabzu­ klettern, allen Glauben. Wo nur ein Stein oder irgend ein Vorsprung eine Hand breit vorsteht, da können sie ihre Füße hinsetzen; wo man kaum Platz für einen Sperling sieht, da fußen sie mit Sicherheit. Immer geht den Ru­ deln eine der größten Gemsen voran, welche die übrigen leitet. Wird diese weg­ geschossen, so ist es, als ob die Seele der ganzen Gesellschaft fehlte. Die an­ dern zerstreuen sich, wissen nicht, wohin sie fliehen sollen, laufen verwirrt umher und fallen dem Jäger in den Schuß. Die Gemse zeigt für ihr Junges eine außerordentliche Liebe und Sorgfalt. Sie lehrt es über Felsen und Abhänge setzen, macht ihm den Sprung so lange vor, bis es denselben versucht, sucht es auf alle Weise dazu aufzumuntern und meckert dabei wie eine Ziege. ' Wird die Mutter geschossen, so bleibt das Junge, wenn es noch zart und klein ist, ruhig stehen und läßt sich vom Jäger fangen; ist es aber schon größer, so entflieht es und wird dann von anderen Müttern an Kindesstatt angenommen. Jung eingefangene Gemsen lassen sich leicht zäh­ men; sie folgen dann ihrem Herrn wie der treuste Hund, kommen auf seinen Ruf herbei und springen liebkosend an ihm hinauf. Zwar sind sie nicht so munter und lebhaft wie die wilden; doch hat man immer noch vielfältige Ge­ legenheit, ihre. Gewandtheit und Schnelligkeit zu bewundern. So kletterte eine zahme Gemse einst eine fünfzehn Fuß hohe Mauer hinauf und sprang auf der andern Seite' einem Mädchen, das mehrere Ellen entfernt im Grase saß, quf den Rücken, ohne es im geringsten zu verletzen. Der kleinste Vorsprung einer Mauer genügt auch der zahmen Gemse, um darauf zu fußen und in etlichen Ansätzen die Höhe wie im Fluge zu erreichen. Wenig Thiere haben so viel Feinde wie die Gemse. 'Schneelawinen ver­ graben oft ganze Heerden, und Luchse, Wölfe und Bären stellen ihnen ohne Unterlaß nach. Zwar entrinnt ihnen das leichtfüßige Thier in der Regel; oft aber wird es aus einem Hinterhalt überfallen und zerrissen. Noch gefährlicher ist der große Alpengeier und der Adler. Beide stürzen mit einem Schlage ihrer gewaltigen Flügel die Gemse in einen Abgrund, wo ihnen das unglückliche Thier, wenn es todtgefallen oder verstümmelt ist, ohne Rettung zur Beute wird. Doch der allergefährlichste Feind der Gemsen ist der Mensch, der sie mit wahrer Toll­ kühnheit verfolgt und keine Gefahr scheut, sie zu erlegen. Nichts in der Welt kann den Gemsenjäger von seiner Leidenschaft abhalten; sie wird ihm vielmehr um so reizender, je größer die Gefahren sind, mit denen er zu kämpfen hat. Steht ihm auch das schreckliche Beispiel vor Augen, daß Vater und Großvater in Abgründe gestürzt und spurlos verschwunden sind, und weiß er selbst, daß ihm ein ähnliches Schicksal bevorsteht, so vermag er doch nicht, ein ruhiges Le­ ben dem gefahrvollen Umherstreifen vorzuziehen. Ein berühmter Gemsenjäger aus dem Kanton Wallis, ein Zimmermann, erlegte aus bloßer Jagdlust gegen neunhundert Gemsen, büßte aber doch endlich seine Leidenschaft mit dem Tode, indem er in einen Abgrund stürzte. Gleich ihm treiben viele die gefahrvolle Jagd blos zum Pergnügen; andere dagegen machen aus ihr ein armseliges Ge­ werbe. Wir werden sehen, mit welchen Schwierigkeiten und Gefahren das Schie­ ßen einer Äemse verbunden ist, und doch werden für ein ausgewachsenes Thier nicht mehr als vier bis sechs Thaler bezahlt. Das Fleisch ist nur schmackhaft, wenn die Gemse nicht zu alt ist; besonders werthvoll ist die Haut, aus der die vortrefflichsten Handschuhe und Beinkleider gemacht werden, da das Gemsenleder

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die weiche Feinheit des Sammets mit einer außerordentlichen Festigkeit verbin­ det. Durch die beständige Verfolgung hat sich die Zahl der Gemsen in den Alpen sehr vermindert. Während man sonst nicht selten auf Heerden von vierzig bis fünfzig Thieren traf, sind sie jetzt kaum noch halb so zahlreich zu finden. Der Gemsenjä^er muß Muth, Geduld und Kaltblütigkeit besitzen und einen schwindelfreien Kops, scharfe Augen, eine gute Brust und sichere Füße haben. Er muß mit Sicherheit über die steilsten Klippen neben den schrecklichsten Ab­ gründen hingehen können und dabei vom Schwindel nichts wissen. Er muß gewohnt sein, stundenlang über Eisfelder und Gletscher zu gehen und über Eis­ klüfte zu springen; er muß dem Sturm und Ungewitter, der Kälte und dem Hunger Trotz bieten; er muß ohne Brustbeschwerden die reine, dünne Luft der höchsten Berge einathmen und ohne Beklemmung Berg auf und Berg ab steigen können. Allein alles dies hilft ihm nichts, wenn er kein scharfes Auge hat und mit der Büchse nicht gut umzugehen weiß, denn selten kommt er an einem Tage mehr als einmal zum Schuß, und fehlt er, so waren alle Anstrengüngen und Gefahren des Tages vergebens. Seine Rüstung besteht in einem leichten Kleide, stark benagelten Schuhen, an die er Fußeisen schnallen kann, einem Alpen­ stock, einer guten Büchse und einem Fernrohr. In der Jagdtasche hat er Brot, Käse und ein Fläschchen mit Wein oder Branntwein. Sobald die Sonne die Gletscher röthet, durchspäht der Jäger mit scharfem Auge oder mit seinem Fernrohr die höheren Gebirgsregiönen. Hat er eine oder mehrere Gemsen erblickt, so sucht er sich ihnen zu nähern, indem er, oft mit großen Umwegen, gegen den Wind wandert. Dann stellt er sich hinter einen Felser: und wartet mit großer Geduld, bis die Gemse sich von ihrem Weide­ plätze zurückzieht. Sobald sie sich ihm so weit genähert hat, daß er die Hör­ ner unterscheiden kann, schießt er. Geht die Gemse mit vorrückendem Tage höher hinauf, so sucht er ihr unvermerkt vorzukommen und ihr den Weg ab­ zuschneiden; doch muß er die Gegend genau kennen., wenn er nicht in große Gefahr gerathen will. Am schlimmsten ist das Verfolgen für den Jäger, wenn die Gemse auf steile Felsenmassen flüchtet. Da versteigt er sich oft so, daß er weder vor- noch rückwärts kann und froh sein muß, wenn er nach stundenlan­ gem Bemühen sich rettet. Dann muß er sich öfter Hände und Füße aufschnei­ den, um durch das klebende, gerinnende Blut sich besser anhalten zu können. Hat er endlich eine oder gar zwei Gemsen erlegt, so fängt die Last und Noth erst an, denn er muß nun mit der schweren Bürde wegsame Gegenden aufsuchen. Zuerst weidet er das Thier aus, bindet die vier Füße zusammen ünd hängt sie quer über die Stirn, so daß der Körper des Thieres über dem Rücken des Jägers hängt. So beladen, steigt er, auf den Alpenstock sich lehnend, behutsam hinunter. Oft vereinigen sich zwei bis drei Jäger, um einer ganzen Heerde beizu­ kommen. Sie nähern siel) zuerst behutsam solchen Stellen, von denen sie, ohne bemerkt zu werden, eine weite Aussicht haben. Einer schleicht dann auf allen Vieren hinter den vordersten Stein und späht durch sein Fernrohr nach allen Seiten. Seine Gefährten verwenden kein Auge von ihm, denn sobald er Wildpret bemerkt, giebt er nach hinten mit ausgestreckter Hand die wohlbekannten Zeichen, wo und wie viel Gemsen er wahrgenommen hat. Darauf kriecht er behutsam zu den lauschenden Gefährten zurück und berathschlagt mit ihnen, wie das Wild am sichersten anzugreifen sei. Vor allem wird der Wind beobachtet; dann sucht man das Rudel abzuschleichen, ohne daß ihm eine Witterung des nahenden Feindes zukomme. Der beste Schütze kriecht nun von einem Felsen zum andern, um den Thieren auf Schußweite nahe zu kommen. Das erfordert viel Geduld, Mühe, Beharrlichkeit und List. Bald liegt der Jäger halbe Stun-

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den lang wie todt auf dem Bauche, weil er gesehen hat, daß die wachsamen Thiere und namentlich die Fuhrgeis (Anführerin) aufmerksam geworden sind und nicht mehr weiden; bald kriecht er auf Händen und Füßen, daö Hemd über die Kleider gezogen, um mit der Schneefarbe zu täuschen, auf dem glatten Eise hin. Jetzt zieht er seine Schuhe aus, läßt alles zurück und schleicht ein paar hundert Schritte weiter; jetzt bleibt er in der gezwungensten Stellung mehrere Minuten unbeweglich, weil die Gemsen von neuem Unrath gemerkt haben. End­ lich ist er nach stundenlanger Anstrengung hinter eine Felsenecke gekommen, die dem Trupp nahe genug ist. Behutsam reckt er den Kopf hervor'; aber er darf

ihn nicht zurückziehen, wenn die Thiere nach ihm Hinblicken, sondern er beharrt stockstill, weil bei der geringsten Bewegung das verhängnißvolle Pfeifen ertönen und die ganze Heerde entfliehen würde. Doch selbst in ihrer arglosen Unbe­ fangenheit schreiten die Gemsen oftmals weiter, und alle Schleichkünste müssen von vorn angefangen werden. Sobald der Jäger erkennt, daß er sich dem Ru­ del nicht weiter nähern kann, ohne es zu verjagen, Jo wählt er bedächtig das größte und fetteste oder in zweifelhafter Entfernung auch nur das nächste der Thiere aus. Er schießt, und fast nie verfehlt er sein Ziel. Das getroffene Wild stürzt zu Boden, und der aufgeschreckte Trupp flieht mit unbeschreiblicher Schnelligkeit über Felsen und Abgründe davon. Die Gemse hat jedoch ein so zähes Leben, daß sie nur dann stürzt, wenn Brust oder Kopf getroffen ist. Oesters fällt sie auch in einen Abgrund, und dann ist der Lohn so vieler An­ strengungen dahin. Während einer der Jäger die Gemsen beschleicht, halten sich seine Gefähr­ ten auf einer andern Seite hinter Felsen versteckt, um eins der fliehenden Thiere zu erlegen. Hierbei geschieht es zuweilen, daß die geängstigten Thiere mit vor­ gesenkten Hörnern auf den Jäger eindringen, um Ihn in den Abgrund hinab­

zustoßen. Dann wirft dieser sich platt auf den Bauch, und läßt das ganze Ru­ del über sich wegsetzen. Oft aber zieht das erschreckte Thier den Todessprung vop und stürzt sich über einen Felsen hinab in den Abgrund. Ist Hoffnung da, des Wildes noch, mehr zu erlegen, so wird das geschossene unter irgend ei­ nen Felsen gethan, und die Jagd auf die beschriebene Art fortgesetzt. Oft aber müssen die Jäger auch mehrere Tage mit Lebensgefahr umherklettern, ohne eine Gemse zu schießen, und dann kehren sie mit zerrissenen Kleidern, halb verhun­ gert und vielleicht verstümmelt nach Hause zurück. Fällt einer in eine Eisspalte oder in einen nicht zü tiefen Abgrund, so Zerschneiden die andern ihre Röcke und Hemden und machen Stricke daraus, uni ihren verunglückten Gefährten zu retten. Außerdem bereiten eisige Winde, Schneegestöber, Lawinen und undurch­ dringlicher Nebel den Gemsenjägern Gefahren, denen sie selten auf die Dauer entgehen. Und doch ist bei diesen Menschen die Leidenschaft so stark, daß der auf der Jagd gestürzte Jäger, kaum geheilt, wieder in die Gebirge eilt, um sich neue Wunden oder den Tod zu holen. Bon den vielen Beispielen wunderbarer Errettungen aus großen Gefahren, welche die Jäger sich erzählen, mögen folgende hier ihren Platz finden. Ein Gemsenjäger geleitete einst zwei Reisende über einen großen Gletscher. Plötz­ lich blieb er mit Thränen in den Augen stehen und zeigte ihnen eine mit Schnee und Eis bedeckte tiefe Spalte, wie sich deren in den Eisfeldern unzählige finden. Die Reisenden hörten in der Tiefe das Wafier rauschen und sahen mit Schau­ dern in den Abgrund hinab. „Ihr denkt wohl, liebe Herren," begann' nach langem Schweigen der Jäger, ,,daß derjenige ohne Rettung verloren ist, der in diesen fürchterlichen Schlund stürzt? Nun, ich bin darin gewesen, und doch hat mich Gottes mächtiger Arm herausgezogen.. Hört, wie das zuging. Ich jagte mit einem Gefährten den Gemsen nach. Das ganze Eisfeld war mit frischem Schnee überdeckt. Wir spürten eine Gemse; als wir aber die Spur

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zu hitzig verfolgten, sank der lockere Schnee auf einmal unter meinen Füßen ein. Schon war ich tief in den Eisschlund gesunken, als ich, noch meiner Sinne mächtig, die Arme und die Schenkel so weit als möglich ausbreitete und mich dadurch an den beiden Eiswänden festhielt, so daß ich noch über dem Wasser schwebte. Mein Gefährte hatte mich kaum aus dem Gesicht verloren, als er mir angstvoll Juries, und da er hörte, daß ich noch lebte, versprach er mir, das Mögliche zu meiner Rettung zu thun. Mit der Schnelligkeit einer Gemse lief er fast eine Meile weit zur nächsten Hütte, während ich zwischen Furcht und Hoffnung, auf meine Arme und Schenkel gestützt, über dem Wasser schwebte. Ich sank aber mit der Zeit immer tiefer; schon kam der Strom mir bis an die Kniee; ich war vor Kälte fast erstarrt und erwartete nichts als den Tod. Nach Verlauf einer Stunde kam mein treuer Gefährte in Begleitung eines Man­ nes athemlos herbei. Er hatte in der nächsten Hütte einen Strick gesucht, und da er keinen gefunden, zwei Bettdecken in Riemen geschnitten, diese zusammen­ geknüpft und so ein Seil verfertigt. Dieses wurde mir nun heruntergelassen, und ich band es mir mit vieler Mühe um-den Leib. Nun zogen mich beide Männer so weit aus der Spalte herauf, daß sie mich beinahe mit den Händen erreichen konnten. Aber plötzlich zerriß der Strick, und ich, mit einem Theile desselben um den Leib, glitt unaufhaltbar wieder hinunter, ebenso tief wie vor­ her. Jetzt war'die Noth noch viel größer, nicht nur darum, weil der Strick kürzer geworden war, sondern auch, weil ich bei diesem zweiten Fall einen Arm gebrochen hatte und also um so weniger Kraft behielt, selbst etwas zu meiner Rettung beizutragen." „Dennoch entfiel uns der Muth nicht. Sie schnitten die Riemen noch einmal von einander, um den Strick wieder zu verlängern. Dann warfen sie ihn mir zum zweiten Mal hinunter, und noch einmal gelang es mir, ihn um meinen Leib zu knüpfen. Und mit diesem noch schwächeren Strick waren meine Freunde endlich so glücklich, mich aus dem offenen Grabe heraus an das helle Tageslicht zu ziehen. Wäre ich nicht ein elender Mensch, liebe Herren, wenn ich jemals vor dieser Stelle vorbeiginge, ohne Gott für seine'gnädige Hülfe in­ brünstig zu danken?" So erzählte der wackere Jäger den gerührten Reisenden. Die Gemsenjäger sind vorzugsweise der Gefahr, von Lawinen verschüttet zu werden, ausgesetzt. Wenn Thauwetter eintritt und zugleich ein heftiger Wind sich erhebt, reißen sich an allen Orten von den Firsten der Berge die lockeren Schneelasten los, ballen sich im Hinabrollen zu einer festen Masse, wäl­ zen sich krachend in die Abhänge des Gebirgs, im Sturz zu Bergen anwach­ send, und treiben die Luft so heftig vor sich her, daß schon von dem Sturm­ wind, noch ehe sie ankommen, ganze Wälder zusammenbrechen. Wo sie aber donnernd iq die Thäler niederstürzen, da werden Häuser, Scheunen und Ställe mit allem, was darin athmet, erdrückt und zerschmettert. Und doch wird man­ cher aus solcher unvermeidlichen Gefahr wie durch ein Wunder gerettet. Zwei Brüder kletterten in einiger Entfernung von einander einen Berg.abhang hinauf, um Gemsen aufzusuchen. Plötzlich wurde der eine von dem schrecklichen Sturmwind, der vor der Lawine herzugehen pflegt, ergriffen und wie ein Bogel über den Abgrund hinweg durch die Luft gefühtt. Und als er eben in . Gefahr war, in die entsetzliche Tiefe hinabzustürzen, da streifte die La­ wine an ihm vorbei und warf ihn seitwärts an den Bergabhang zurück. Hier umklammerte er in der Betäubung einen Baum und hielt sich an ihm fest, bis alles vorüber war. So kam er glücklich mit dem Leben davon, vergaß die Schmerzen, welche der unsanfte Fall ihm verursachte, und kletterte, so gut er konnte, den Berg wieder hinauf. Der andere hatte sich während deS Sturmes an einem Felsstück festgehalten und war gleichfalls gerettet worden, denn die Lawine war neben ihm vorübergegangen, ohne ihm Schaden zuzufügen, obgleich

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ein großer Theil des Waldes wie mit einem Besen weggefegt war. Als er zur Besinnung kam, konnte er an dem Tode seines Bruders nicht zweifeln, denn gerade in der Richtung, wo dieser gestanden hatte, war die Lawine vorüberge­ rollt. Voll Betrübniß machte er sich auf, um nach Hause zurückzukehren und den ©einigen die Trauerbotschaft zu überbringen. Aber er war noch keine Stunde bergab gestiegen, so erblickte er mit dem freudigsten Erstaunen seinen Bruder. Mit dankerfülltem Herzen kehrten sie zu ihren Angehörigen zurück. Weniger gefährlich als die Schlaglawinen, wo der Schnee zu festen, unge­ heuren Klumpen sich zusammenballt, sind die Staublawinen, weil sie aus trocknem, lockeren Schnee bestehen, der durch das Uebergewicht seiner Massen, durch den Sturmwind oder sonst eine Erschütterung von den steilen Felswänden bergab stürzt. Indessen ist auch das nicht ohne Gefahr, aus der jedoch Kraft und Gei­ stesgegenwart retten können. Einst kletterten zwei Gemsenjäger eine steile Fels­ wand hinauf, jeder seinen eigenen Weg verfolgend, doch so, daß sie einander beständig im Gesicht behielten. Plötzlich hört der eine den Ruf seines Gefähr­ ten: „Fliehe! rette dich!" In demselben Augenblick ergriff ihn auch schon eine Lawine von oben herab und fuhr mit ihm abwärts in die schwindelnde Tiefe. Bon den Schneemassen eingehüllt und überschüttet, war er in demselben Augen­ blick verschwunden. Der andere stand ein Weilchen und sah bestürzt hinunter. Aber zu helfen, zu retten war hier nicht. Darum setzte er betrübt seinen Weg fort mit dem Vorsatz, seinen unglücklichen Freund zur Beerdigung hervorzusu­ chen, wenn der Schnee im Thale geschmolzen sein würde. Es kam aber anders, als er dachte. Denn während die Lawine tiefer un­ ten an einem Felsen in Trümmer zerstäubte, wurde der Verschüttete wieder frei. Einige Augenblicke darauf fiel er in eine gewaltige Schneemasse hinein und wurde von nachrieselndem Schnee überschüttet. Er war nicht eben hart gefal­ len, und da er auch seine Besonnenheit nicht verlor, so gelang es ihm nach großer Anstrengung, sich aus dem lockern Schnee hervorzuarbeiten. Alsdann schüttelte er den Schnee von seinen Kleidern und eilte nach Hause. Am andern Tage zog er wieder auf sein gefahrvolles Handwerk aus. Er war noch nicht weit gegangen, als er seinem heimkehrenden Gefährten begegnete, der nicht we­ nig erstaunt w^r, den todtgeglaubten Freund frisch und munter vor sich zu sehen. Dieliy.

15. Der Bär. In einem großen Theile der schweizerischen Hochgebirge ist heutiges Tages der Landbär noch ein ständiges, wenn auch ziemlich seltenes Raubthier. Ge­ wöhnlich nehmen die Naturforscher nur eine Art von Landbären an, die im ganzen Norden der alten Welt in den größeren Wäldern, im Süden aber in den Waldungen des Hochgebirges gefunden wird. In der Schweiz dagegen unterscheidet man drei verschiedene Arten: den großen schwarzen, den großen grauen und den kleinen braunen Bergbären. Auch in Tyrol sind die Bären noch keine ganz seltene Erscheinung geworden. Jährlich werden ihrer ein Dutzend Httb mehr erlegt; im Umfange der östreichischen Monarchie rechnet man eine jährliche Bärenbeute von zweihundert Stück, während Sibirien jährlich fünf­ tausend Bärenfelle nach China verhandelt. Die Zottelbären sind eigentlich ziemlich gutmüthige Thiere, namentlich die schwarzen, die sich mehr von Pflanzenstoffen als von Fleisch nähren. Den Winter über schlafen sie mehr als im Sommer und liegen in ihren Höhlen, oft in einfachen Steinklüften, oft in Nestern, die aus Reisig und Moos ge­ baut und von außen ganz zugestopft sind. Bei hoher Kälte schlafen sie dann vielleicht etliche Tage lang ununterbrochen fort, ohne zu erstarren; indessen

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muß sie bald der Hunger wecken, der sich endlich dock einstellen wird, wenn auch die Bären in den herberen Wintermonaten weniger fressen als sonst. Sie kommen dann hervor und fressen mit großem Behagen junges, fettes Gras, junges Wiyterkorn, Gemüse, Wurzeln, Vogelbeeren, Staudenfrüchte, sonst auch besonders Erdbeeren und Honig. Um zu Birnen und Trauben zu gelangen, gehen die Bären im Herbste oft viele Stunden weit in die Thäler hinunter und kehren immer vor Tagesanbruch wieder zu ihrem Aufenthaltsorte zurück. Ueberhaupt sagt ihnen die Pflanzennahrung ganz wohl zu. Man hat schon Eis- und Landbären ganz mit Hafer ernährt. Oft ,zerstören sie die großen Ameisenhaufen und fressen die Thierchen um ihrer Säure willen, welche sie aber nach Fleisch begierig macht: Ungereizt und vom Hunger nicht gequält, greift der große schwarze Bär weder Menschen noch Vieh an, eher der braune, der manche Ziegenheerde versprengt und absichtlich in die Abgründe jagt, in denen er dann das todtgefallene Vieh verzehrt. Man versichert mit Bestimmt­ heit, der schwarze Landbär sei so friedlich, daß er einst einem erdbeersuchenden Mädchen traulich die Beeren aus dem Korbe geholt habe, ohne das Kind zu verletzen, daß er sich überhaupt von einem schreienden Kinde in die Ftuchl schlagen lasse. Er macht Wanderungen von acht bis zehn Stunden und wei­ ter, kehrt aber gern in sein Revier zurück. Will er rasch laufen, was aber bergab ziemlich schlecht ausfällt, so geschieht es auf allen Vieren; trägt er et­ was seiner Höhle zu, so marschiert er aufrecht; ruht er, so sitzt er auf dem Hintertheile wie die Hunde. 'Gefährlich ist er nur, wenn er entweder aus dem Schlafe gestört oder schwer verwundet oder recht hungrig ist, oder wenn er die Jungen bedroht sieht. Dann schreitet er hochaufgerichtet auf seinen Feind zu, schlägt die Arme um denselben und sucht ihn zu erdrücken; oft hilft er mit gelindem Beißen nach. Nicht selten geschieht es, daß der angegriffene Bär dem Jäger Spieß oder Flinte aus der Hand schlägt, ihn umarmt und mit ihm bergab kollert, wobei indessen Meister Petz meist den Kürzeren zieht. Ja­ gen die Bären Vieh, so lauern sie ihm in der Regel auf dem Anstand bei der Tränke auf; Kühe werden höchst selten angegriffen, jedenfalls nie von vorn. Der Bär springt ihnen auf den Rücken, hätt sich an ihren Hörnern und beißt sie in den Nacken, bis sie verblutend Zusammenstürzen. Die Ziegen, denen er nicht nachkommt, werden über die Felsen hinuntergelrieben oder Nachts aus dem Stalle geholt. Wittern diese ihn aber bei Zeiten, so flüchten sie auf die Hüttendächer und wecken durch ihr Geräusch oft die Sennen. Greist er einmal eine weidende Rinderheerde an, so geschieht es unvermerkt im Nebel. Er zer­ reißt das Rind und frißt zuerst die Nieren und das Euter; den Rest vergräbt oder verträgt er. Wird er aber von dem übrigen Vieh bemerkt, so sammelt es sich sogleich schnaubend und brüllend um ihn und beobachtet ihn unverrückt. Dann greift der Bär nicht mehr an. Auf Pferde geht er selten los, und wenn es geschieht, geräth es ihm oft übel. Dä die Bären sehr gut klettern, besteigen sie gewöhnlich einen hohen Baum, ehe sie auf die Jagd gehen, um das Revier zu untersuchen und eine Beizte ausfindig zu machen/ wobei ihnen ihr feiner Geruch und ihr scharfes Gehör zu Hülfe kommt. Angegriffene Weibchen sollen vor dem Kampfe ihre Jungen auf die Bäume flüchten. So schoß ein Jäger eine Bärin, hörte dann ein Geräusch auf der nächsten Tanne und sah dort zwei junge Bären, die er beide glücklich erlegte. Wären die Bären nicht so gefräßig und richteten sie nicht oft, namentlich unter den Schafheerden, große Verwüstunaen an, so wäre es fast schade, daß man sie so erpicht jagt. Kein anderes Raubthier ist so drollig, von so gemüthlicher Laune, so liebenswürdig wie der gute MeisterPetz. Er hat eilt' offenes, gerades Wesen, ohne Tücke und Falsch. Seine List und Erfindungsgabe ist ziemlich schwach. Er ist von großer Körperstärke und

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vertraut auf sie. Man weiß, daß er durch das Stalldach hinaus eine Kuh zu ziehen und über einen liefen Bach ein Pferv zu schleppen vermag. Was der Fucds nut Klugheit, der Adler mit 'Schnelligkeit zu erreichen sucht, erstrebt er mit gerader, offener Gewalt. An Plumpheit rem Wolfe ähnlich, ist er doch von ganz anderer Art, nicht so gierig, reißend, häßlich und widerwärtig. Er lauert nicht lange, sucht den Jäger nicht zu umgehen und von hinten zu über­ fallen, verläßt sich nicht in erster Vinte auf ein "furchtbares Gebiß, mit beni er alles zerreißt, sondern sucht die Beute erst mit seinen mächtigen Armen zu er­ würgen und beißt nur nöthigenfalls, ohne daß er am Zerfleischen eine blutgie­ rige Mordlust bewiese, wie er ja überhaupt, als von sanfterer Art, eben so gern Pflanzenstoffe, namentlich süße Kastanien, Milch, Trauben, Mais und Honig frißt. Seine ganze Erscheinung mit dem langen, feinen, zottigen Haar, mit der stumpfen Schnauze, den kleinen, braunen, gutmüthigen Augen, dem kurzen Schwänze, den breiten Sohlen, dem behaglichen Gange hat etwas Edle­ res, Zutraulicheres, Menschenfreundlicheres, als die des mißfarbigen Wolfes. Er rührt keine Menschenleiche an, frißt nicht seinesgleichen, streift nicht des NachtS in den Dörfern umher, um ein Kind zu erhaschen, sondern bleibt in Wald, Berg, Alp als seinem eigentlichen Jagdreviere. Der Wolf macht oft, besonders im Herbste und Winter, Streifzüge von. achtzig bis hundert Stun­ den, der Bär dagegen geht selten zwanzig bis dreißig Stunden weit von seiner Höhle. Doch macht man sich öfter vom Bären sowohl in Beziehung auf seine Langsamkeit als auf seine Gutmütigkeit unrichtige Vorstellungen. Denn er läuft auf ebenem Boden so rasch, daß er einen Menschen leicht zu ereilen ver­ mag, und klettert sehr behende auf die Bäume. Nur im Februar, wo sich seine Sohlen häuten, läuft er nicht gut; auch bergab geht's langsam. Alte schwere Bären klettern auch sehr langsam und vorsichtig von den Bäumen her­ unter. Ist das Thier in Gefahr, so verändert sich seine Gutmüthigkeil bis zur reißendsten Wuth. Ein kluger Jäger wird es nie wagen, einen jungen Bären zu schießen, wenn dessen Mutter in der Nähe ist: sie würde ihn mit rasendem Geheule verfolgen und zerfleischen; eben so gefährlich ist der ver­ wundete Bär. Nur sehr selten flieht er, gewöhnlich wendet er sich um und geht aufrecht auf den Verfolger los, und wäre derselbe noch so gut bewaffnet. Er fordert ihn gleichsam zum Zweikampfe heraus, umspannt ihn, wenn er nicht vrrher einen Dolchstoß ins Herz erhält, mit seinen mächtigen Pranken und rinzt männlich mit ihm, bis einer von beiden fällt. Zu Bern werden seit Jahrhunderten in einer mit Quadern auSgelegten Grube im Stadtgraben aus den Zinsen eines alten Vermächtnisses mehrere Bären rls lebendiges Sinnbild der Macht Berns gepflegt. Dort hat man beobachtrt, daß die Bärinnen ein, zwei oder drei Junge werfen. Die nied­ lichen, blinden und unbeholfenen Thierchen sind nicht größer als eine Ratte, von fahlgelber Farbe, um den Hals weiß, haben durchaus noch nicht das Aus­ sehen deS Bären, wenn auch eine verhältnißmäßig starke Stimme. Nach vier Wochen öffnen sich ihre Augen; sie haben dann schon zolllange Wolle und sind doppelt so groß wie bei ihrer Geburt. Die Aeuglein liegen'tief, die Schnauze

ist ganz spitz. Nach vier Monaten und die Bärchen schon von der Größe ei­ nes Pudels, dabei ungemein possierlich, geschickt im Klettern, immer mit ein­ ander stielend und balzend, aber sehr furchtsam. .Ihre gelbliche Farbe verliert sich inmer mehr ins Braune und Schwarze. In Bern hatte man 47 Jahre lang eiren Bären; sonst weiß man über die Lebensdauer des Thieres nichts ganz Gmaues. De Tatzen sind bekanntlich ein Leckerbissen; das übrige Fleisch wird von den Bergbewohnern einige Zeit in frisches Wasser gelegt, um ihm den süßlichen Geschmcck zu nehmen, worauf es ähnlich wie zartes Schweinefleisch schmeckt.

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Die Haut ist 4 bis 5 Thaler werth. In mehreren Gegenden wird noch ein bedeutendes Schußgeld für die Erlegung dieses Raubthieres gegeben; doch wird es noch lange dauern, ehe es in den steilen und einsamen rhätischen Alpen aus­ gerottet ist, und ehe jene Feuer, die der Reisende noch so häufig auf den Ber­ gen des Engadins sieht, und welche von Hirten, die einen Wolf oder Bären spüren, während der Nacht unterhalten werden, ganz und auf immer erlöschen. TfcbuOi.' 16. Der braune Bär. Einem armen Bauern auS dem Dorfe Fouly, Namens Wilhelm, stahl ein Bär alle Nächte seine Birnen; denn diesen Bestien ist alles recht. Gleich­ wohl wandte er sich vorzugsweise zu einem Baum voll Zuckerbirnen. Wem sollte es wohl einfallen, daß so ein Thier ordentlich Geschmack hat wie ein Mensch, und daß es in einem Baumgarten just die saftigsten und süßesten Birnen auszusuchen weiß? Nun zog aber'unglücklicher Weise der Bauer in Fouly auch die Zuckerbirnen allen andern Früchten vor. Erst glaubte er, eS wären Kinder, die solchen Schaden in seinem Garten anrichteten; also nahm er seine Flinte, lud sie mit grobem Küchensalz und stellte sich auf den Anstand. Gegen elf Uhr erscholl ein Gebrüll im Gebirge. Halt, sagte er, da ist ein Bär in der Nähe. Zehn Minuten darauf ließ sich ein zweites Gebrüll hö­ ren und zwar so gewaltig und so nahe, daß Wilhelm glaubte, er würde nicht mehr die Zeit haben, sein Haus zu erreichen und sich platt auf die Erde warf, da er nur noch die eine Hoffnung hatte, daß der Bär seiner Birnen und nicht seinetwegen käme. Wirklich erschien auch das Thier an der Gartenecke, in ge­ rader Linie auf den fraglichen Birnbaum losgehend, strich auf zehn Schritt bei Wilhelm vorbei, stieg leichtfüßig auf den Baum, dessen Aeste unter der Last seines Körpers knackten, und fing an, eine solche Mahlzeit zu halten, daß es einleuchtend war, zwei dergleichen Besuche würden einen brüten unnöthig machen. Als er gesättigt war, stieg der Bär langsam herunter, als ob es ihm leid ge­ than hätte, etwas übrig zu lassen, ging nahe bei unserm Jäger vorbei, dem sein mit Salz geladenes Gewehr bei der Gelegenheit nicht von besonderem Nutzen sein konnte, und zog sich ruhig ins Gebirge zurück. Das alles hatte ungefähr eine Stunde gedauert, während welcher dem Manne die Zeit länger vorgekommen war als dem Bären. Gleichwohl war der Mann ein herzhafter Bursche, und leise hatte er ni sich gesagt, da er den Bären davongehen sah: „Gut, geh' du nur. Aber so soll dir das nicht hingehen; wir werden uns schon Wiedersehen." Am andern Morgen fand einer seiner Nachbarn, der ihn besuchte, ihn beschäftigt, die starken Zinken einer Mistgabel in Stücke zu sägen. „Was machst du denn da?" sprach er zu ihm. „Ich vertreibe mir die Zeit," sagte Wilhelm. Der Nachbar nahm die Eisenstücke, drehte sie wie ein Mann, der sich darauf versteht, in der Hand hin und her, und nachdem er einen Augen­ blick nachgedacht, sagte er: „Höre, Wilhelm, wenn du offen sein willst, so mußt du eingestehen, daß die Eisenschnipsel da bestimmt sind, ein ganz anderes Fell zu durchbohren als das einer Gemse." „Es kann sein," meinte Wilhelm. „Du weißt, daß ich eine gute Haut bin," fing Franz wieder an (daS war des Nachbars Name) „also wenn du willst, so theilen wir den Bären. Zwei Mann leisten mehr als einer." „Es kommt darauf an," sagte Wilhelm, und dabei fuhr er fort, seine dritte Eisenstange zu zersägen, „Hör' an," fuhr Franz fort, „ich will dir daS Fell allein lassen, und wir wollen nur die Prämie und das Fleisch theilen." „Ich habe lieber alles," sagte Wilhelm. „Aber du kannst mich nicht hindern, des Bären Spur in den Bergen zu suchen und mich, wenn ich sie finde, in seinem Wege auf den Anstand zu stellen." „Das

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steht dir frei." Und Wilhelm, der mit dem Zersägen seiner drei Zacken fer­ tig war, fing pfeifend an, eine Pulverladung abzumessen, doppelt so groß, als man gewöhnlich in einen Karabiner thut. „Es scheint, daß du dein Muni­ tionsgewehr nehmen wirst," sprach Franz. „Kann sein, und drei Eisenstücke sind sicherer als eine Bleikugel." „Das verdirbt aber das Fell." „Allein es tödtet sicherer." „Und wann gedenkst du deine Jagd zu halten?" „Das will ich dir morgen sagen." „Zum letzten Male, du willst nicht?" „Nein." „Ich sage es dir vorher, daß ich die Spur zu suchen gehe." „Viel Vergnü­ gen." „Wir theilen; sprich!" „Jeder für sich." „Leb' wohl, Wilhelm." '„Viel Glück, Nachbar."

Und der Nachbar sah, als er fortging, Wilhelm seine doppelte Pulverla­ dung in seine Munitionsflinte thun, seine drei Eisenstücke hineinladen und das Gewehr in die Ecke seiner Hütte stellen. Des Abends, da er wieder vor dem Hause vorbeiging, bemerkte er auf der Bank, die vor der Thüre stand, Wil­ helm, der dort saß unv ruhig seine Pfeife rauchte. Er ging von neuem zu ihm. „Höre," sagte er, „ich bin nicht habsüchtig. Ich habe unseres Thieres Spur gefunden; also brauche ich dich nicht mehr. Gleichwohl komme ich, dir nochmals vorzuschlagen, daß wir die Sache zusammen abthun." „Jeder für sich," sprach Wilhelm. Um halb elf Uhr sah ihn seine Frau die Flinte nehmen, einen grauen Leinwandsack unterm Arme zusammenrollen und ausgehen. Sie wagte nicht, ihn zu fragen, wohin er ginge, denn Wilhelm war nicht der Mann danach, einer Frau Rede zu stehen. Franz seinerseits hatte wirklich des Bären Spur entdeckt. Er hatte sie bis dahin verfolgt, wo sie sich in Wilhelms Baumgarten verlor, und da er nicht das Recht hatte, sich auf seines Nachbars Grund und Boden auf den Anstand zu stellen, so begab er sich in den Tannenwald, der mitten zwischen dem Berge und Wilhelms Garten ist. Da die Nacht ziemlich hell war, so sah er diesen zu seiner Hinterthür hinausgchen. Wilhelm ging bis zum Fuß eines grauen Felsstückes, das vom Gebirge bis in die Mitte seines Gartens herabgerolli war, und das höchstens zwanzig Schritt von dem Birnbaum ab­ lag, blieb dort stehen, sah um sich her, ov niemand lauschte, wickelte seinen Sack auseinander, kroch hinein, indem er nur Kopf und Arme aus der Oeffnung hervorsehen ließ, und sich an den Fels lehnend, verlor, er sich bald durch die Farbe seines Sackes und die Unbeweglichkeit seiner Lage so in dem Steine, daß der Nachbar, der doch wußte, daß er dort war, ihn bald selbst nicht mehr unterscheiden konnte. So ging in Erwartung des Bären eine Viertelstunde hin. Endlich kündigte ihn ein langes Gebrüll an. Fünf Minuten darauf wurde Franz ihn gewahr. Indeß, sei es aus List, sei es, daß er den zweiten Jäger gewittert, er verfolgte nicht seinen gewöhnlichen Weg. Im Gegentheil hatte er einen Bogen beschrieben, und anstatt von Wilhelms linker Seite herzukom­ men, wie er am Vorabende gethan, ging er diesmal auf seiner rechten Seite vorbei außer dem Bereiche von Franzens Flinte, aber höchstens zehn Schritt von Wilhelms Gewehrmündnng entfernt. Wilhelm rührte sich nicht. Man hätte meinen sollen, er sähe nicht ein­ mal das wilde Thier, dem. er aufzupassen gekommen war. Der Bär, der mit dem Winde kam, schien seinerseits die Gegenwart eines Feindes nicht zu ahnen und setzte eilends seinen Weg nach dem Birnbaum fort. Allein in dem Au­ genblick, wo er, sich auf die Hinterfüße stellend, mit den Bordertatzen den Stamm umfassen wollte, und so seine Brust bloß gab, welche seine breiten Schultern nicht mehr schützten, schimmerte plötzlich ein flüchtiger Lichtstreif ge­ gen den Felsen, und das ganze Thal hallte von dem Flintenschuß mit doppel­ ter Ladung und dem Geheul wieder, welches das tödtlich verwundete Thier

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ausstieß. Es war vielleicht im ganzen Dorfe nicht ein Mensch, der nicht Wilhelms Schuß und des Bären Geheul gehört hätte. Der Bär entfloh, wieder zehn Schritt bei Wilhelm vorbeilaufend, ohne diesen zu bemerken, der Kopf und Arme wieder in den Sack gesteckt hatte und 'sich hinter dem Steine verbarg. Der Nachbar sah diesem Auftritt zu, auf seine Kniee ünd seine linke Hand gestützt, sein Gewehr in die rechte Hand drückend, blaß und den Athem anhaltend. Gleichwohl war's ein tüchtiger Jägersmann. Der Bär kam jetzt gerade auf ihn los. Er bekreuzte sich, empfahl seine Seele Gott und sah nach, ob sein Karabiner gut geladen wäre. Der Bär war nur noch fünfzig Schritte von ihm entfernt, vor Schmerz heulend und still haltend, um sich auf der Erde zu wälzen und sich an der Stelle seiner Wunde in die Seite zu beißen; dann setzte er seinen Lauf fort. Er kam immer näher. Jetzt war er nur dreißig Schritte weit. Noch zwei Sekunden, und er stieß an den Lauf von des Nachbars Karabiner an, als er plötzlich wieder stehen blieb, schnau­ bend die Luft einzog, die von der Seite des Dorfes herkam, ein fürchterliches Gebrüll ausstieß und in den Garten zurücklief. „Nimm dich in Acht, Wil­ helm .'.Nimm dich in Acht!" rief Franz, indem er dem Bären nachsetzte, alles vergessend, um nur an seinen Freund zu denken; denn er sah wohl, daß, wenn Wilhelm nicht die Zeit gehabt hatte, seine Flinte wieder zu laden, er verloren war^: der Bär hatte ihn gewittert. Noch hatte er nicht zehn Schritt gethan, als er.einen Schrei hörte. Das war aber der Schrei eines Menschen, ein Schrei des Schreckens und des Todes zu gleicher Zeit, ein Schrei, in dem der, welcher ihn ausstieß, alle Kräfte seiner Brust, alle seine Gebete zu Gott, alle seine Bitten um Hülfe bei den Menschen zusammengefaßt hatte. Franz lief nicht, er flog; der Abhang beschleunigte seinen Lauf. Je näher er kam, desto deutlicher erkannte er auch das ungeheure Thier, das sich im Schatten bewegte, Wilhelms Körper zertretend und in Stücke reißend. Franz war nur noch vier Schritt weit von beiden, aber der Bär war so gierig über seine Beute her, daß er ihn nicht zu bemerken schien. Franz wagte nicht zu schießen, aus Furcht Wilhelm zu tödten, falls er noch nicht todt wäre; auch zitterte er so, daß er seines Schusses nicht mehr sicher war. Er hob einen Stein auf

und warf ihn'nach, dem Bären. Dieser wandte, sich wüthend nach seinem neuen Feinde; sie waren so nahe bei einander, daß der Bär sich auf den Hin­ tertatzen aufrichtete, um ihn zu erdrücken. Franz fühlte, wie das Thier mit der Brust, den Lauf seines Karabiners verstopfte. Mechanisch drückte er den Finger auf den Hahn, und der Schuß ging los. Der Bär fiel rücklings über, die Kugel war ihm durch die Brust gegangen und hatte das Rückgrat zerschmet­ tert. Franz ließ ihn sich heulend auf seinen Vordertatzen fortschleppen und eilte

zu Wilhelm. Da war aber kein Mensch mehr, da war nicht einmal mehr ein Leichnam. Da war nur noch zerquetschtes Gebein und Fleisch. Der Kopf war fast ganz verschlungen^ Als Franz jetzt an der Bewegung der Lichter, die hinter den Fenstern der nahen Häuser hin und her wankten, bemerkte, daß mehrere Dorfbewohner erwacht wären, rief er laut um Hülfe, die Stelle bezeichnend, wo er war. Ei­ nige Bauern liefen mit Waffen herbei, denn sie hatten das Geschrei und die Schüsse gehört. Bald war das ganze Dorf in Wilhelms Baumgarten ver­ sammelt. Seine Frau kam mit den Uebrigen herbei. Es war ein fürchter­ licher Auftritt. Alle, die dabei waren, weinten wie die Kinder. Man sam­ melte im ganzen Rhonethale eine Collecte für sie, die 700 Franken einbrachte. Franz überließ, ihr seine Prämie und ließ zu ihrem Besten Haut und Fleisch des Bären verkaufen. Kurz, jedermann bemühte sich, ihr beizgstehen und ihr Hülfe zu bringen.

Nach Tinnae.

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17. Die Räuber im Bakony-Wald. Wir waren am Morgen aus Preßburg weggefahren und hatten nach einer Stunde die große Straße erreicht, die von Wien nach Pesth führt. Die weite fruchtbare Ebene hatte auf den ersten Augenblick etwas Freundliches, aber bald wurde der Anblick einförmig und ermüdend; man sah alle halbe Meilen weit' einen Baum, noch seltener einen Weiler oder ein Dorf. Nur an der Donau zogen sich die Uferwälder dicht unb dunkel hin und schlossen die Aussicht. Bald bot sich uns auf dem Felde nahe der Straße ein nationeller An­ blick dar. Ein großes Ackerfeld wurde umgepflügt; in der Mitte stand der Haiduck, der herrschaftliche Aufseher der Bauern;, ein runder Hut mit großer, flacher Krempe bedeckte sein Haupt, ein hellblauer Dollman, mit bunten Schnü­ ren über die Achsel gehängt, ein enges, hellblaues Beinkleid uno kleine Stieseln bildeten seinen Anzug; in der Hand hatte er den langen weißen Stab, das Zeichen seiner Amiswürde. Um ihn her arbeitete alles. Man würde sich aber täuschen, wenn man glaubte, daß der Haiduck eine Art Sklavenaufseher sei. Keinesweges; ein gewisser Stolz ist das Erbtheil des ungarischen Bauern so gut wie des Edelmannes. Auf dem Felde zogen vielleicht zwanzig Pflüge hin­ ter einander, vor jedem ein Paar der schönen, weißen, großgehörnten Öchsen, hinter dem Pfluge ein Treiber mit großkrempigem Hut, in weißer Jacke, wei­ ten Leinwandhosen und schweren Stiefeln mit Sporen. Mit hochgeschwunge­ ner Peitscherauchend und singend, schlendert der schnurrbärtige Pflüger hm. Die große Zahl der Pflüge macht ihm und den Thieren die Arbeit leicht; Anstrengung ist überhaupt nicht die Sache des Ungarn. Sein Vieh zu regie­ ren und dieses alles thun zu lassen, was es irgend vermag, das ist altherge­ brachte Sitte. So verliert er auch lieber einen guten Theil der Körner, in­ dem er die Garben durch Ochsen austreten läßt, als daß er selbst sich mit dem Ausdreschen bemüht. In der guten Behandlung der Untergebenen folgt der Haiduck dem Beispiel seines Herrn. Man darf ihn sich nicht mit geschwun­ genem Stabe, heftige Worte-und Schläge austheilend, denken. Mit Würde auf seinen Stab gelehnt, steht er in der Mitte und ruft nur hin und wieder­ ein Wort; seine Stellung ist fest und ernst, der leicht übergeworfene Dollman und die kleine Tabackspfeife geben ihm dabei einen graziösen Anstrich. Nicht minder stolz und würdevoll geht der Pflüger einher, indem er zu seinem treff­ lichen Gespann bald in liebkosenden, bald in heftigen Worten redet. Jedes Thier hat und kennt seinen Namen, und der stolze Anstand erstreckt sich bei­ nahe auf die schönen, hellglänzenden Thiere. Im schönsten Wetter, unter einem köstlich blauen Himmel fuhren wir weiter. Nur streckenweis verdient die große Straße von Preßburg nach^Ofen den Namen einer Chaussee. Die-Bauern müssen die Straße unterhalten, von ihrem Eifer hängt also die Beschaffenheit des Weges ab. Nirgends giebt es Chausseehäuser; ein Schlagbaum wäre der ungarischen Freiheit allzusehr zuwi­ der. Keine Allee faßt den schmalen, weißen Strich ein, der die unabsehbaren grünen Flächen durchschneidet. Nur Bettler liegen an der Straße in unend­ licher Zahl, singend und flehend — im reichsten Lande der Erde, wo jeder Fußbreit die Mühe'des Anbaus dreißigfach vergilt! Ungarn, ist das Land der Tabackraucher. Der Bettler, der sich uns ge­ beugt naht, raucht dabei weiter, und rauchend fährt uns der Fuhrmann auf der Straße.- Nur Essen und Schlafen bewegt den Ungar, das kurze Pfeifchen, das er mit großer Geduld wohl zehnmal in einer Stunde füllt, aus der Hand zu legen. Wie besessen jagt der Fuhrmann, so lange die Pfeife brennt; ist sie zu Ende, so bleibt er im Schritt, bis man ihm wieder die Mittel giebt, wei­ ter zu rauchen. Selbst Feuer muß man ihm geben, aber alles das wird durch

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die Schnelligkeit belohnt, mit der man dahinfliegt. Ich sah bald, daß man nur mittelst der Tabacksspenden weiter kommt; überdies hatte die in den verschie­ densten Tönen wiederkehrende Bitte um Taback, das Zaghafte im Anfang und endlich die herrische Art zu begehren, als die Bitte immer wieder erfüllt wurde, etwas gar Possierliches und gewährte mir große Unterhaltung. Jeden Augen­ blick des Nichtjagens benutzte unser Fuhrmann, unl etwas an den Leinen und dem Riemzeug zu bändeln und zu knüpfen; nur die polnischen Bauern über­ treffen die ungarischen noch an solcher Trödelwirthschaft. Sowohl in dem Wirthshause, wo wir zu Mittag aßen, als in dem, wo wir Nachtquartier machten, verlebte ich angenehme Stunden. Ueberall waren Zigeuner, die mit Hackbrett, Geige, Flöte und Baß eine Musik machten, deren Harmonie und Takt mir völlig neu waren. Die Füße der Zuhörer hoben sich, die Augen wurden glänzender, die Finger schlugen den Takt, bald nahm alles am Tanze Theil. Mick fesselten besonders die Erzählungen der Reisenden; der eine kam aus der Türkei, der andere aus Italien, und von allen diesen Gegenden war die Rede wie bei uns von den nächsten Orten. Bald drehte sich alles Gespräch um die bald beginnende Weinlese, und da sie vortrefflich auszufallen'versprach, so waren alle Gemüther fröhlich gestimmt. Es ist eine Freude, mit dem Ungar zu verkehren; hat man ihn freundlich angeredet, so öffnet sich sein Herz bald, und er thut, was er nur ersinnen kann, um dem Reisenden gefällig zu sein. Zuletzt wurden Räubergeschichten erzählt, die für mich um so interessanter waren, da wir uns dem verrufenen und gefürchteten Bakony-Wald näherten. Als wir am folgenden Morgen wieder auf der Straße waren, nahm un­ ser Fuhrmann das niedere Verdeck von Matten ab, um, wie er sagte, einem Ueberfall begegnen zu können. Mich freute diese Maßregel des schönen Wet­ ters wegen, das mir eine köstliche Fahrt an den Bergen hin versprach. Bald sahen wrr im Osten die bläulichen Weingebirge von Neßmühl aufsteigen; rechts im Südosten stiegen die Berge zu dem berüchtigten Bakony-Wald auf. Die ganze Gegend hatte einen milden Charakter, und der große Strom machte sie reizend. Bald kamen wir in einen Kreis aufgeworfener und wieder verfallener Erdhügel, die Ueberreste eines türkischen Lagers. Auf dem bedeutendsten Hü­ gel steht eine Stange, die immer wieder erneuert wird. Dort soll das Zelt des Pascha gestanden haben. Der Hügel war rings umwühlt; denn noch im­ mer ermüdet die Phantasie des Volkes nicht, sein Inneres voll Schätze zu wähnen und stets aufs neue danach zu graben. Bald fesselte ein neuer Ge­ genstand unsere Aufmerksamkeit. Wir kamen in die Maisfelder, welche den ganzen Abhang vom Bakony-Wald bis zur Donau bedecken, so weit das Auge reicht. Die Bestimmung des türkischen Weizens in diesen Gegenden ist recht prosaisch: mit den reifen Körnern füttert man die Schweine, Stengel und Blätter dienen zur Streu für daß Hausvieh. Da eben die Zeit der Mais­ ernte war, so weideten große Heerden von Truthühnern in den hohen Stop­ peln und suchten die ausgefallenen Körner aus, von denen sie überaus fett werden. Die ganze Straße war wie am vorigen Tage außerordentlich belebt. .Bauerfuhren mit raschen Pferden jagten vorüber, andere zogen langsam des Weges, mit großen, weißen Ochsen bespannt. Wir sahen Gespanne von sechs bis acht Ochsen vor einem Bauerwagen. Auch die ungarischen Magnaten ha­ ben die Liebhaberei, sich bei ihren gegenseitigen Besuchen von Ochsen ziehen zu lasten. Man richtet die Thiere zum schärfsten Trabe ab und wetteifert, die raschesten vor seinem Wagen zu haben. Zwischen den Bauerfuhren zogen wan­ dernde Juden an uns vorüber; weiterhin begegneten wir einem großen Wagen voll feister Ordensgeistlichen in schwarzer Tracht mit großkrempigen Hüten, unter denen freundliche Gesichter hervornickten. Ihnen folgte ein Trupp Zi-

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geuner; die Männer sahen ernst und wild vor sich hin, die Weiber keiften, die Mädchen tanzten, sangen und bettelten.' Je weiter wir kamen, desto mehr nahm die Zahl der Bettler zu. Nun rollte ein herrschaftlicher Reisewagen vorüber, zu dessen beiden Seiten Flinten herausragten. Mehr noch die Sitte als die Nothwendigkeit verlangt hier, daß man auf Reisen bewaffnet ist, und überdies haben die Jagdfreunde auf der Landstraße zu manchem schönen Schuß Gele­ genheit. Zwar tritt nur selten ein Reh aus den Auen der Donau an die Straße, aber die Trappe zieht mit ruhigem Flügelschlag dicht über den Rei­ senden hin; auch Wachteln kommen nahe heran, und ein immer vorhandenes Ziel bietet wenigstens die Schackelster in ihrem schwarz und weißen Gewände. Jedermann schießt- wann es ihm beliebt; das Jagdgesetz wird nicht streng ge­ handhabt. Außer an der Straße sahen wir wenig Dörfer, nur hier und da ein Vor­ werk. Die Hälfte des Landes lag wüst und diente dem Vieh zur Weide; wo aber an den Boden eine Hand gelegt war, da gedieh alles üppig und schön in dem gesegneten Erdreich. So wenig der ungarische Bauer auch arbeitet, denn Singen, Rauchen, Trinken und Tanzen ist seine Lust, so bringt ihm doch das Land so reichlichen Ertrag, daß die Getreideschober um sein Haus oft die Vorräthe nicht fassen können; das Korn läßt er von Pferden und Ochsen austre­ ten, und der Wind muß die Spreu sondern. Bei Komorn führt die Straße dicht am Strome hin. Hier theilen sich die Wege nach Ofen; die Chaussee geht längs der Donau weiter, die nähere Straße führt rechts durch den Bakony. Da man die letztere ihrer Unsicherheit wegen nur ungern wählt, so blieben wir auf der großen Straße und saniert bald zu einem einsam liegenden Wirthshause, wie man deren in den ungarischen Ebenen so viele antrifft, und in welchen, wie mein Begleiter sich ausdrückte, die Räuber nisten wie die Wanzen im Bett. Am Tage vorher war in der Nähe dieses Wirthshauses ein Ueberfall geschehen; doch waren die Räuber durch die Reisenden vertrieben worden. Mein Begleiter, ein abgedankter, dicker Wachtmeister, war so in das Räuberthema gekommen, daß er nun von nichts anderem mehr erzählte. Ich hatte so viel von den Räubern des Bakony-Waldes gehört, daß es mir erwünscht war, Genaueres über diesen merkwürdigen Men­ schenschlag zu erfahren, der in allen Stücken so sehr von den- Ungarn abwich, wie ich sie kennen gelernt hatte. Der Wachtmeister befriedigte meine Neugierde. „Hier auf der großen Straße," sagte er, „haben wir nicht viel zu fürch­ ten; aber wenn man durch den Bakony muß, da steht's schlimm. Ich habe seit einigen Jahren einen kleinen Handel, der mich auf alle Märkte dieser Ge­ gend führt. Ein alter Soldat, dacht' ich, muß doch auch einmal die Räuber in Augenschein nehmen. Da fand ich unterwegs einen alten Kameraden, der mich aufforderte, mit ihm in den Wald zu gehen; er wolle mir die Räuber zeigen." Wer sind denn diese Räuber eigentlich? fragte ich den Wachtmeister; sind es Landleute, Hirten? „Gott bewahre!" entgegnete er. ,,'Sehen euer Gnaden, man nennt sie die Kanaß. Es sind die Schweinhüter im Walde; die leben dort Jahr aus Jahr ein bei den Schweinen. Der Bakony-Wald hat so viel Eicheln, daß man nur so in der Mast watet. Da lasten sie die Thiere fett werden, dann verkaufen sie sie. Also wir gingen zusammen hin. Auf einem freien Fleck im Walde fanden wir sie. Als sie uns gewahr wurden, sprangen sie auf und fragten: Wer ist denn der? Was will denn der hier? Sie lassen keinen Frem­ den zu sich, denn sie fürchten sich vor der Obrigkeit. Mein Kamerad antwor­ tete, daß er mich kenne, und daß ich mir gern die Kanaß beschauen wolle. Nun waren sie zufrieden, schlachteten ein paar Spanferkel, steckten sie an hölzerne

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Spieße und brieten sie. Wein hatten sie vollauf. So mußten wir mit ihnen essen und trinken, und sie gaben's gern. Als wir gegessen hatten, fragte ich nach ihrer Unterhaltung. Sie zogen unter ihren Mänteln große Messer her­ vor, die ganz blank und scharf geschliffen waren, und warfen, damit in einen Baum auf zwanzig, dreißig Schritt, je nachdem jeder geschickt war, und immer txafen sie aufs Haar. Damit werfen sie aber auch nach den Leuten, die sie berauben wollen. Wir bedankten uns endlich für die Bewirthung und gingen heim. Nicht lange darauf war Markt in einem Flecken jenseits des Waldes, und mein Schwager bat mich, mit ihm zu fahren. Ei, sagte ick), da müssen wir ja gerade durch den Bakony!' Narr, antwortete er, wir haben gute Pferde, sie sollen uns nicht kriegen. Ich fuhr also mit ihm. Als wir einige Stunden gefahren waren, kamen wir an einen steilen Berg. Ich stieg ab, ging eine Strecke zu Fuß, und ohne daß ich's merkte, führte mich der Fußweg von der Straße ab in den Wald hinein. Plötzlich raschelt's hinter mir, und ich sehe einen Kanaß, der mir nachkommt. Ich rufe ihm zu, er solle vorangehen, er aber bleibt stehen und bittet um Taback. Halt, denke ich, nun ist's gute Zeit; dann will er Brot und zuletzt Geld haben. Ich antwortete also, ich hätte kei­ nen Taback. Ob ich nicht Brot hätte, fragt er weiter. Nein. Nun, so sollt' ich ihm Geld geben. Da zieh' ich mein Pistol heraus und sage: Jetzt geh', oder ich schieße! Der Kerl springt zurück, greift nach seinem Mester, zieht's heraus und will werfen. Ich drücke los, treffe ihn so, daß er zusammenstürzt, und springe durch das Gebüsch nach der Landstraße hin und auf den Wagen hinauf. Nun zugefahren! Da denk' ich mein Lebtag dran." Und was wurde mit dem Kanaß? fragte ich. „Mit welchem denn?" Den ihr geschossen habt. „Ach, den werden die andern schon zugedeckt haben; sie lasten keinen liegen." In der That stehen diese Kanaß in ganz Ungarn in Verruf, und man nimmt von vorn herein an, daß jeder von ihnen ein Dieb und Räuber ist. Ihre Zahl ist sehr bedeutend, und ihr Geschäft bringt es mit sich, daß sie nur in den bergigen und waldigen Theilen des Landes hausen. Da müssen sie noth­ wendig verwildern. Sie kennen alle Wege und Schliche in ihren Bergen, und da sie die einzigen Bewohner derselben sind und fest zusammenhalten, so ist ihnen auch durch die Obrigkeit schwer beizukommen. Dagegen sind die ebenen Gegenden des Landes jetzt ziemlich sicher, und Ueberfälle, wie der oben erwähnte, gehören zu den Seltenheiten. Wir hatten während jener Erzählung das Gebirge erreicht. Es steigt kahl am Ufer der Donau auf, und nur an wenigen Stellen ist Weinbau; drüben aber jenseit des Stromes liegen dichtgedrängte Gebirge, die unten mit Reben und höher hinauf mit Wald bedeckt sind. Mit zunehmender Dunkelheit nahm der immer gefährlicher werdende Weg unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. ' Er windet sich zwischen der hohen Felsenwand und der tief unten strömenden Donau hin; kein Geländer, keine vorliegenden Steine, keine Bäume, um vor dem Hinabstürzen zu sichern, dabei immer scharfe Biegungen, und das unsinnige Jagen unsers Fuhmanns gegen Neudorf hinab — ich mußte mich zu­ sammennehmen, um keine Besorguiß blicken zu lassen. Endlich traten die Lich­ ter des Dorfes hinter der Felsecke hervor, und die großen, hell leuchtenden Häuser spiegelten sich in der Donau, die sich hier wie ein Landsee ausbreitet. Mit den Worten: „Gottlob, daß wir da sind!" stieg der dicke Wachtmeister vom Wagen. Alle Fenster des Wirthshauses waren mit Eisenstäben vergittert, große Hunde von jenem gefährlichen Schlage, den man auch in andern Ländern unter dem Namen der ungarischen Wolfshunde kennt, streiften wachend um die Höfe, alle Thüren wurden zwei- und dreifach verschlossen; doch das alles ist mehr noch Gebrauch aus älterer Zeit, als Nothwendigkeit, denn feit lange hat

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man kein Beispiel, daß in einem Dorfe an dieser vielbesuchten Straße ein Ueberfall geschehen wäre. Mit grauendem Tage brachen wir auf, um bei guter Zeit in Ofen zu sein. Der Morgen war überaus schön. Bald verließ die Straße das Ufer der Donau und stieg steil aufwärts, zwischen kahlen, zackigen Felshäuptern hin, bis auf den Kamm des Gebirges. Kaum aber hatten wir ihn überschrit­ ten, so sahen wir in ein neues VaitD, in den üppigsten Reichthum der Natur hinein. Die herrlichste Landschaft breitete sich vor uns aus: unten am Strom sanft aufsteigende Maisfelder, darüber Weinberge mit den prächtigsten Stöcken in langen, dichten, wohlgepflanzten Reihen, noch höher grüne Matten, mit Wald bekränzt, aus dem hier mib da der nackte Fels hervortritt. Pfeilschnell flogen wir die Berge hinunter bis zur letzten Station vor Ofen; dann ging eS zwischen Maisfeldern in der Ebene fort. Alle Stöcke hingen voll langer, schwerer, dunkelrother Trauben, die in voller Reife waren, und in einzelnen Bergen hatte die Lese schon begonnen. Bei der ersten Biegung der Straße zeigte sich uns die Stadt Ofen, umgeben von einer köstlichen Natur. Rechts senken sich die steilen Abfälle der Weinberge zn ihr hinab, links sieht man sanftere, schon bewaldete Berghänge, dazwischen die weite, grüne Ebene, von dem herrlichen Strome durchflossen — ein paradiesischer Anblick!

Pird).

18. Sibirien. Sibirien dehnt sich in einer Länge von achthundert deutschen Meilen vom Ural bis zum Meere von Kamtschatka und in einer Breite von vierhundert deut­ schen Meilen von den Grenzen Chinas bis zum nördlichen Eismeere aus. Die­ ses große Land, welches Europa um den vierten Theil seines Flächen-Inhalts übertrifft, war bfs zur Eroberung durch die Russen am Ende des sechzehnten Jahrhunderts der gebildeten Welt völlig unbekannt. Seitdem haben muthige Männer die dürren Steppen, die steilen Gebirge und die Schnee- und Eisfel­ der desselben nach allen Richtungen durchforscht, und zugleich sind die russischen Ansiedler bis an die äußersten Grenzen vorgedrungen, so daß wir jetzt schon eine ziemlich genaue Kenntniß des Landes besitzen. Indessen sind über die trost­ lose Beschaffenheit desselben noch immer die übertriebensten Ansichten verbreitet. Allerdings ist der nördliche Theil eine unwirthbare, fast das ganze Jahr hin-^ durch mit Schnee und Eis bedeckte Einöde; dagegen ist der mittlere und südliche Theil nach allen Richtungen von schiffbaren Strömen durchflossen und zum größ­ ten Theil mit schön bewaldeten Bergen, fruchtbaren Thälern und lachenden Wie­ sen bedeckt. Aber auch die rauheren Gegenden sind nicht ohne eine gewisse wilde Schönheit, und wenn in ihnen die Erzeugnisse der Pflanzenwelt zur Ernährung der spärlichen Bevölkerung nicht hinreichen, so habende dagegen Ueberfluß an jagdbaren Thieren, die zum Theil das kostbarste Pelzwerk der Erde liefern. Die Ureinwohner Sibiriens gehören sämmtlich zum mongolischen Stamme und beschäftigen sich größtentheilö mit der Viehzucht, der Jagd und dem Fisch­ fang. Der erste Volksstamm, zu dem man gelangt, wenn man auS dem euro­ päischen Rußland über den südlichen Ural nach Sibirien geht, sind die Basch­ kiren, ein träges und unlenksames Volk, welches den Winter in hölzernen, am Saume der Wälder erbauten Hütten zubringt, im Sommer aber mit seinen Pferden, Rindern uno Schafen von einem Weideplatz zum andern zieht. Die Männer sitzen den ganzen Tag zu Pferde; ihre einzige Arbeit besteht in dem Zusammentreiben der Stuten, wenn diese gemolken werden sollen; alle übrigen Arbeiten überlassen sie den Frauen. Obgleich die Weidegründe, in denen sie sich aufhalten, GraS im Ueberfluß hervorbringen, so sind sie doch zu träge, um es zu sammeln und aufzubewahren, und ihre Heerden müssen sich daher im

Dtelitz und Heinrichs, deutsche- Lesebuch.

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Winter ihr spärliches Futter unter dem Schnee hervorsuchen. Die gewöhnliche Nahrung der Baschkiren besteht aus Fleisch und einer Art wilder Birnen, aus denen sie Kuchen backen, ihr Getränk aus gegohrener Pferdemilch. Bei der Jagd bedienen sie sich abgerichteter Falken, von denen die kleineren Hasen und Hühner fangen, während die größeren selbst Füchse und Wölfe angreifen. Ihre wich­ tigste Waffe ist der sechs Fuß lange, sehr wenig gekrümmte Bogen, mit dem sie ihre Pfeile achtzig bis hundert Schritte weit schleudern. Nordöstlich von den Baschkiren wohnen die Ostiaken, welche theils vom Fischfang, theils von der Jagd leben. Die endlosen Wälder ihres Gebiets sind reich an Mardern, Füchsen Wölfen, Bären, Rennthieren und Elenthieren. Die Marder und Füchse schießen sie, um das Fell derselben nicht zu verletzen, mit Pfeilen, an deren Spitzen sich bleierne Kugeln befinden; Hermeline, Eich­ hörnchen und andere kleinere Thiere fangen sie in Schlingen und Fallen; Rennthiere und Elenthiere erschießen sie mit Pfeilen oder fangen sie auch mit gro­ ßen Netzen; die Bären endlich tobten sie mit langen Stöcken, an deren Spitzen Messerklingen befestigt sind. Die Ostiaken sind ein gutmüthiges und ehrliches Völkchen; sie stehen aber noch auf einer so tiefen Stufe der Bildung, daß sie mit ihren Hunden aus einer Schüssel effen und das Fleisch in der Stegei halb­ roh verzehren. Die Samojeden, welche den Küstenstrich des nördlichen Eismeers bis zum Jenisei hin bewohnen, sind noch geschicktere Jäger als die Ostiaken. Ihr Land ist reich an den kostbarsten Pelzthieren, den Zobeln und schwarzen Füchsen, de­ ren Fell, so klein es ist, oft mit sechs- bis achthundert Rubeln bezahlt wird. Bisweilen dringen die Samojeden auf dem Eise bis Nova Zembla vor, einer großen, im Eismeere gelegenen Insel, die nicht mehr bewohnbar ist, und jagen daselbst Robben, Eisbären und Füchse. Der östliche Theil von Sibirien wird von Tungusen, Jakuten und Tschuktschen bewohnt. Unter diesen zeichnen sich die Tschuktschen durch Größe und Kraft des Körpers, Tapferkeit und Freiheitsliebe aus. Der ansässige Theil derselben, welcher am Meeresufer wohnt, ist gutmüthig und friedfertig und ernährt sich von Seehunden und Walrossen, welche mit eisernen Lanzen getödtet werden; die das Binnenland bewohnenden Rennthiertschuktschen dagegen, welche mit ihren Rennthierheerden ein nomadisirendes Leben führen, sind wild unb kriegerisch und plündern ohne Scheu auch die russischen Beamten aus, welche es wagen, ohne starke Bedeckung durch ihr Land zu reisen. Der östlichste Theil Sibiriens, die Halbinsel Kamtschatka, ist besonders reich an schwarzen Bären. Diese Thiere sind bei aller ihrer Kraft unb Größe doch so sanft, daß sie nie den Menschen angreifen, und daß selbst die Frauen, welche in den Wäldern Kräuter und Wurzeln suchen, sich vor ihnen nicht fürchten. Da alle Theile der schwarzen Bären, Fell, Fleisch, Eingeweide und Knochen, für die Kamtschadalen von Nutzen sind, so wird ihnen mit dem größten Eifer nachgestellt; aber obgleich jährlich viele Tausende derselben getödtet werden, so ist ihre Anzahl doch noch unglaublich groß. Das wichtigste Hausthier für alle Völker Sibiriens ist der Hund, indem er ihnen nicht allein auf der Jagd von großem Nutzen ist, sondern ihnen auch als Zugvieh dient. Unter allen sibirischen Hunden sind die der Kamtschadalen die besten, denn während sie alle übrigen an Schnelligkeit übertreffen, sind sie zugleich so kräftig, daß vier derselben, welche gewöhnlich das Gespann eines Schlittens ausmachen, drei Männer mit ihrem Gepäck mit der größten Leichtig­ keit fortziehen und dabei in einem Tage bei schlechtem Wege fünf bis sechs, bei gutem Wege aber zehn bis zwölf deutsche Meilen zurücklegen. Will man Hunde zum Ziehen abrichten, so wählt man solche Thiere aus, welche hohe Beine, lange Ohren, eine spitze Schnauze und einen kräftigen Kör-

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per haben. Wenn die Thiere drei Wochen all sind, wirst man sie in eine fin­ stere Grube, in der sie so lange eingeschlossen bleiben, bis sie zum Ziehen eines Schlittens stark genug sind. Man spannt sie nun mit andern bereits abgerich­ teten Hunden an einen Schlitten, den sie, durch das Tageslicht und die sie um­ gebenden unbekannten Gegenstände erschreckt, mit der größten Schnelligkeit fort­ ziehen. Nach einem kurzen Versuche bringt man sie in ihr dunkles Gefängniß zurück und wiederholt diese Uebung so lange bis sie sich an gleichmäßige Be­ wegungen gewöhnt und der Stimme ihres Führers folgen gelernt haben. Anfangs gelingt es nur durch List und Ueberraschung, sie anznspannen, und während man ihnen das Joch auflegt, strecken sie die Köpfe empor und erheben ein jämmerliches Geheul. Sobald die Reise fortgeht, tritt eine plötz­ liche Stille ein; aber nun lassen sie ihrer Bosheit freien Lauf und suchen durch wilde Sprünge die Geduld ibres Führers zu ermüden und selbst sein Leben in Gefahr zu bringen, indem sie an gefährlichen Stellen ihren Lauf verdoppeln und den Schlitten in Schluchten und Abgründe hinabstttrzen. Sind sie jedoch erst an das Ziehen gewöhnt, so legen sie alle ihre Wildheit ab und ziehen den Schlitten, indem sie geduldig der Stimme ihres Führers folgen, über die un­ zugänglichsten Berge und an liefen Abgründen sicher hin. Auch gewähren sie noch den besonderen Vortheil, daß sie sehr zuverlässige Führer sind, da sie auch in der größten Finsterniß und beim heftigsten Schneegestöber den Ort ihrer Be­ stimmung auffinden und sich fast nie verirren. Wenn eine weite Strecke zu durch­ wandern ist, und die Reisenden, wie dies oft geschieht, die Nacht obdachlos mit­ ten in einem Schneefelde zubringen müssen, so dienen'ihnen die Hunde als ein Schutzmittel gegen die Kälte, indem sie sich im Kreise um sie herumlegen und sie durch ihre natürliche Wärme vor dem Erfrieren schützen. Sibirien ist so schwach bevölkert, daß im Durchschnitt nur acht Menschen auf einer Quadratmeile leben, während in manchen Gegenden Europas die Quadratmeile sechs- bis achttausend Bewohner zählt. Am "ödesten sind die öst­ lichen Theile Sibiriens, und in Kamtschatka und der Provinz Ochotsk ist die Einwohnerzahl so gering, daß kaum ein Mensch auf die Quadratmeile kommt. Die russische Bevölkerung Sibiriens besteht zur größeren Hälfte aus solchen, die zur Strafe dorthin verwiesen sind, indem die russische Regierung seit etwa hundert Jahren alle zum Tode oder zu längerer Gefängnißstrafe verurtheilten Verbrecher zur Ansiedelung oder zur Zwangsarbeit, namentlich in den Berg­ werken, dorthin zu schicken pflegt. Man theilt die Verwiesenen in drei Klaffen. Die erste besteht aus schweren Verbrechern, welche zur Zwangsarbeit in Berg­ werken oder Fabriken verurtheilt sind; die zweite aus Ansiedlern, welche von der Regierung ein Stück Land und Ackergeräth erhallen und in einem Dorfe unter der Aufsicht eines alten Soldaten leben; die dritte endlich aus Staatsgefangenen, welchen ein bestimmter Ort zum Aufenthalt angewiesen wird, wo sie keinem weiteren Zwang unterworfen sind, und wo sie sich, wenn sie wohlhabend sind, Bequemlichkeiten und Vergnügungen mannichfacher Art verschaffen können. Die Zahl der nach Sibirien Verwiesenen läßt sich nicht mit Sicherheit angeben; doch nimmt matt an, daß jährlich im Durchschnitt mehr als zehntausend Menschen dorthin geschickt werden, voll denen etwa der dritte Theil wieder nach Europa zurückkehrt. In welcher Abgeschiedenheit von der gebildeten Welt die meisten dieser Unglücklichen leben, beweisen die französischen Gefangenen, die im Jahre 1812 nach Sibirien geschickt wurden, und von denen mehrere nach fast dreißig­ jähriger Gefangenschaft freigelassen wurden. Als diese alten Krieger mit ihren langen Bärten, die unter der Last des Unglücks ergraut waren, an den Gren­ zen Deutschlands erschienen, setzten sie alle, die mit ihnen sprachen, durch ihre Unkenntniß der bekanntesten Ereigniffe in Erstaunen. Einige fragten nach Na­ poleon und weinten, als sie seinen Tod erfuhren, und allen waren auch die wich20*

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tigsten Begebenheiten der letzten Jahre, die jedem Kinde bekannt sind, ein Ge­ heimnis. 2(Ut Dielitz' Zonenbildern.

19. Erster Anblick von Ostindien. Unter allen größeren Seereisen ist die nach Ostindien die unangenehmste, da sie den durch das ewige Einerlei von Himmel und Wasser ermüdeten Rei­ senden nur äußerst wenige Ruheplätze darbietet. Ich hatte die Ueberfahrt auf einer englischen Fregatte gemacht und beeilte mich, als wir nach einer dreimonat­ lichen Fahrt auf der Rhede von Kedgeree vor Anker gingen, mir einen Platz auf dem Lootsen-Schooner zu erbitten, der den Kapitän mit seinen Depeschen nach Kalkutta bringen sollte. Am Tage nach unserer Ankunft begaben wir uns an Bord des Schooners und fuhren in einen Arm des prächtigen und reißenden Ganges hinein. Der Lootsen-Kapitän, der von Kindheit an zu dieser gefährlichen Küstenfahrt erzogen war, hatte ein höfliches und dienstfertiges Wesen, und da weder unser Kapitän noch irgend ein Andrer von-unserer Gesellschaft je in Ostindien gewesen war, so bemühte er sich, uns auf alle Merkwürdigkeiten des Landes aufmerksam zu machen. Nachdem er uns mehrere gefährliche Stellen im Strom gezeigt hatte, wies er auf eine Sandbank und sagte dann: „Sehen Sie, meine Herren, auf dieser Bank. wäre mein Schiff vor einem Jahre fast zu Grunde gegangen, weil eine junge Dame den Einfall hatte, das Steuer regieren zu wollen. Sie hatte das Rad ergriffen, ohne daß der Steuermann sie daran zu verhindern vermochte, und als ick sie auf die Folgen ihres unbesonnenen Benehmens aufmerksam machte, erwiderte sie lachend, daß sie eben so gut steuern könne als ich. Unterdeß hat­ ten wir uns der Sandbank mit entsetzlicher Schnelligkeit genähert; ich war also genöthigt, das Rad so gewaltig herumzuschwenken, daß ich dem jungen Mäd­ chen, ehe sie Zeit zum Loslassen hatte, beide Hände verrenkte. Alle Passagiere waren so erzürnt, daß fast eine Meuterei entstand, denn die junge Dame war in Ohnmacht gesunken; als ich den Herren jedoch zeigte, daß das, was sie meine Unmenschlichkeil nannten, ihnen allen das Leben gerettet hatte, beruhigten sie sich wieder. Und in der That war das Schiff kaum einen Fuß von der Bank entfernt und wäre von der heftigen Fluth im Augenblick des Anstoßens unfehl­ bar umgestürzt worden; dann aber würden die Alligators uns alle in wenigen Minuten verspeist haben. Das ist jedoch nicht nöthig, denn Sie sehen, es giebt Leichname genug, die den Strom auf- und abtreiben." „Woher kommen alle diese Leichen?" fragte einer von der Gesellschaft. „Das Gewässer, auf dem wir fahren," antwortete der Kapitän, „ist ein Arm des heiligen Stroms, des Gan­ ges, und die Eingebornen glauben, daß sie auf ihm ganz sicher in den Himmel kommen. Darum werden die Leute hier nicht beerdigt, sondern, sobald sie ge­ storben sind, in den Strom geworfen. Nicht selten werden auch Kranke von ihren Verwandten an das Ufer gebracht, und wenn ihr Zustand sich nicht bes­ sert, ins Wasser gestürzt, ehe sie noch todt sind. Ja, man versichert, daß oft reiche Leute von ihren habsüchtigen Verwandten auf diese Weise bei Seite ge­ schafft werden. Bei der unglaublichen Anzahl von Leichen, die alljährlich in den Ganges geworfen werden,^sind die Alligators eine wahre Wohlthat für das Land, denn sie reinigen den (Strom und dadurch auch die Luft von den schäd­ lichen Ausdünstungen. Was diese Thiere im Wasser thun, das leisten am Lande die zahllosen Geier und Schackals; denn nicht selten bleiben, wenn die Ebbe

einttitt, todte Körper am Ufer zurück und werden dann von diesen Raubthieren verzehrt. Ohne Geier und Schackals, ohne Haifische und Alligators könnten wir hier nicht leben; das sind unsre Gassenkehrer. Sehen Sie wohl dort den schwimmenden Leichnam, auf dem ein Rabe sitzt? Das schwarze Ding dicht da-

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bei, das aus dem Wasser hervorragt, ist der Kopf eines Alligators, der auf den Neger Jagd macht." Alle sahen nach der bezeichneten Richtung hin. Der Alligator, der einem schwarzen Holzstamme glich, hatte nach wenigen Augen­ blicken den Leichnam erreicht; der obere Theil seines Rachens erhob sich aus dem Flusse, und das Thier verschwand mit seiner Beute in dem schlammigen Wasser. „Jene Landsitze dort," fuhr der Kapitän in seiner Erzählung fort, „gehö­ ren zu einer Insel, die wegen ihrer Tiger und noch mehr wegen ihrer Kinder­ opfer berühmt ist. Haben Sie davon schon erzählen hören?" „Allerdings," sagten Einige aus der Gesellschaft; „aber wenn Sie jemals Augenzeuge eines solchen Opfers gewesen sind, so werden wir Ihnen für eine Schilderung sehr dankbar sein." „Meine Herren, ich habe ein einziges Mal einem Kinderopfer zugeschaut, möchte es aber um keinen Preis in der Welt noch einmal thun. Ueberdies hat auch die Regierung dem Greuel Einhalt gethan. Sie wissen, daß die Hindus gegenwärtiges oder zukünftiges Unglück dadurch abzuwenden glauben, wenn sie ein Kind geloben, um die Gottheit zu versöhnen. An einem gewissen Tage pflegten sie sich, mit Blumen geschmückt, in Begleitung ihrer Priester und zahlloser Musikanten, in Kähnen bei dieser Insel zu versammeln. Wer ihren fröhlichen Aufzug sah, mußte glauben, daß sie sich zu irgend einem heiteren Fest und nicht zu einem so blutigen und grausamen Auftritt begaben. Die Alligators und die Haie mußten übrigens mit der Zeit und dem Orte ge­ nau bekannt sein, denn an dem Tage versammelten sie sich immer in zahlloser Menge an der Stelle, wo das Opfer stattfand. Es überläuft mich noch immer ein Schauder, wenn ich daran denke. Das Geschrei der Menge, der ermuthigende Zuruf der Priester, der betäubende Lärmen der Musik, das Hineinschleu­ dern der armen Kleinen in das Wasser, die Kämpfe der gefräßigen Geschöpfe, welche vor den unnatürlichen Eltern die Kinder verschlangen, während die See weit hin von Blut geröthet und mit Blumen bestreut war — welch ein An­ blick! Mich schaudert bei der Erinnerung daran. Ein Umstand war aber noch entsetzlicher, als alles Uebrige. Eine der Frauen, die ihr Kind gelobt hatte, war von Muttergefühlen beseelt, die auch der blindeste Aberglaube nicht immer zu unterdrücken vermag. Sie hatte die Erfüllung ihres Gelübdes von einem Jahr auf das andre verschoben, bis das Mädchen das dreizehnte Jahr erreicht hatte. Nun aber kam Unglück über die Familie, und die Priester versicherten, daß die Gottheit beleidigt wäre und nur dadurch versöhnt werden könnte, wenn die Tochter geopfert würde. Es ist mir, als sähe ich das liebliche Mädchen noch jetzt vor mir. Die verblendeten Eltern nahmen ihr den goldnen Schmuck und Has Obergewand, während sie vergeblich auf ihren Knieen um ihr Leben flehete. Das Boot, in welchen! sie sich befand, war dem Lande näher als die anderen und in seichtem Wasser. Als man sie über Bord stieß, kam sie auf­ recht auf die Füße zu stehen, entrann wie durch ein Wunder, ehe ein Hai oder Alligator sie fassen konnte, und erreichte das Ufer. Ich glaubte, sie wäre gerettet; aber nein, die unnatürlichen Eltern stiegen aus dem Kahn ans Land und stießen sie, während sie um Erbarmen flehte, mit langen Stangen in das Wasser zurück. Ein großer Alligator schwamm auf sie zu, und sie stürzte, sinn­ los vor Schrecken, in die Strömung, als er eben im Begriff war, sie zu ver­ schlingen. Ich glaube daher auch nicht, daß das arme Geschöpf von-dem Augen­ blick an noch viel gelitten hat, obgleich ihre vorhergehende Todesangst entsetzlich gewesen sein muß. Dieser eine Vorfall ergriff mich lebhafter als das Opfer der vielen anderen Kinder, die dem Götzen in den Rachen geworfen wurden." Die schauderhafte Erzählung hatte die ganze Gesellschaft lebhaft ergriffen, und es verging eine geraume Zeit, ehe die Unterhaltung wieder in Gang kam. Die zahllosen Alligators, die wir im Flusse erblickten, brachten endlich das Ge-

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sprach wieder auf diese von den Eingebornen als heilig betrachteten Thiere. „So viele Menschen," erzählte der Kapitän, „auch alljährlich durch diese ge­ fräßigen Ungeheuer ihren Tod finden, so lassen sich die Hindus doch dadurch nicht abhalten, in dem heiligen Flusse zu baden. Ja, selbst wenn täglich einer von der Gesellschaft verschwindet, so kehren die Uebrigen doch am nächsten Mor­ gen zum Flusse zurück. Ich glaube, daß sie alle solche Unglücksfälle, während sie eine heilige Pflicht erfüllen, als Bestimmungen der Gottheit und als einen sicheren Paß in den Himmel betrachten. Erst vor einem Jahre haben einige Schurken diesen Glauben ihrer Landsleute zu ihrem Vortheile benutzt. Einige Meilen von hier ist eine Stelle, an der die Eingebornen Jahrhunderte lang ohne alle Gefahr gebadet hatten. Da verschwand plötzlich eine der badenden Frauen unter dem Wasser, und seitdem wiederholte sich dieses Unglück an jedem Tage. Man schob anfangs alles auf einen Alligator; endlich jedoch entdeckte man, daß jene Spitzbuben sich in dem Rohr am andern Ufer des Flusses, der dort gerade sehr tief, aber nicht eben breit ist, mit einem Seil, an welchem ein Haken befestigt war, versteckt hatten. Einige von der Bande mischten sich unter die Badenden, tauchten unter und befestigten das Seil an die Beine einer Frau, die dann von den Spießgesellen am andern Ufer unter das Wasser gezogen wurde. Sie wundern sich vielleicht, weßhalb die Schurken sich so viel Mühe gaben; aber die vornehmen und reichen Frauen dieses Landes tragen außer an­ dern Schmucksachen von großem Werth schwere goldene Ringe an den Armen und Beinen, die sie auch im Bade nicht ablegen. Der vermeinte Alligator raubte daher immer nur reiche Frauen und Mädchen, und dieser Umstand führte endlich die Entdeckung herbei." Unterdeß war die Ebbe eingetreten. Wir gingen daher einem großen Dorfe gegenüber vor Anker und fuhren mit einem Boot ans Land. Hier verkündete uns das Zusammenströmen der Einwohner und das Geräusch einer lärmenden Musik, daß etwas Ungewöhnliches vorginge. Auf unsere Erkundigung erfuhren wir, daß sich der Rajah des Dorfes vor einigen Tagen nach einem entfernten Tempel begeben hätte, um ein Gelübde zu erfüllen, und daß er zur bestimmten Zeit nicht zurückgekehrt wäre. Die Einwohner trafen jetzt die Vorbereitungen zu einem Tanz, um die Gottheit zu versöhnen; denn sie fürchteten, daß ihren Rajah irgend ein Unglück betroffen hätte. Bald hatten wir den Vorplatz einer Pagode erreicht, wo die Feierlichkeit vor sich gehen sollte. Der Tanz wurde von ungefähr fünfzehn Männern ausgeführt, welche vollkommen nackt waren, und deren langes, schwarzes Haar bis auf die Mitte des Leibes herunterhing. Sie machten mit großer Schnelligkeit die mannichfaltigsten Sprünge, indem sie alle Glieder verdrehten und Arme und Füße gleich Wahnsinnigen umherwarfen. Zuweilen schlossen sie einen Kreis und schüttelten dabei die Köpfe, so daß ihre langen Haare sich in der Mitte begegneten; dann aber sprangen sie wieder aus einander und verdrehten dabei die Köpfe mit einer Geschwindigkeit, daß unsere Augen fast geblendet wurden. Eine lärmende Musik begleitete alle ihre Bewe­ gungen, und ein alter Brahmin mit weißem Bart, der an der Thür der Pagode saß, schlug mit einem Bambusrohr den Takt. Nach einiger Zeit gab er das Zeichen zum Jnnehalten; die Tänzer banden, in Schweiß gebadet, ihre triefen­ den Haare über der Stirn zusammen und machten einer andern Schaar Raum, welche dieselben Bewegungen wiederholte." „Ist das Religion?" fragte einer von unserer Gesellschaft, indem er sich mit Ekel abwendete. „So viel ist ge­ wiß," antwortete ein Anderer, „daß diese Leute es mit ihrer Art der Gottes­ verehrung aufrichtig meinen; sonst würden sie sich nicht so viel Mühe geben." „Es ist auch," sagte der Lootsen-Kapitän, „noch keinesweges das Unsinnigste vpn dem, was ihre Religion ihnen anbesiehlt. Ich war hier vor einigen Jah­ ren Zeuge eines Auftritts, der fast eben so schrecklich war als das Kinderopfer,

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von dem ich Ihnen erzählt habe. Sie wissen, daß früher die Wittwen der Brahminen sich nicht selten mit dem Leichnam ihrer Männer verbrennen ließen. Oft war es aufrichtige Treue und Ergebenheit gegen ihren Gatten, der sie hierzu veranlaßte; nicht selten aber war auch die Aussicht auf eine traurige, freuden­ lose Zukunft, die ihnen bevorstand, der Grund zu ihrem freiwilligen Tode. Denn eine Wittwe wird in diesem Lande allgemein verachtet; sie darf kein Ge­ schmeide und keine Hellen'Kleider tragen; sie muß alle Dienste der niedrigsten Magd verrichten und auf dem bloßen Erdboden schlafen. Dagegen verhießen die Brahminen jeder sich opfernden Wittwe die schönsten Freuden des Paradie­ ses und führten durch dieses Versprechen so viele Frauen auf den Scheiterhaufen, daß in Calcutta allein in jedem Jahre gegen dreihundert Wittwen den Feuer­ tod zu sterben pflegten. Unter Sang und Klang wurde das unglückliche Opfer mit dem prächtigsten Schmuck bekleidet und mit" Blumen bekränzt; dann schritt

sie in Begleitung aller ihrer Verwandten und Freundinnen einigemal um den Scheiterhaufen herum, vertheilte ihr Geschmeide unter die Umstehenden und be­ stieg mit freudigem Blick den Holzstoß, der zuvor, um ihren Tod zu beschleu­ nigen, mit geschmolzener Butter begossen war. Die Wittwe, deren Verbrennung ich zufällig mit ansah, war eine junge, schöne Frau. Neben ihr trug man ein Kind von einigen Monaten, auf das sie bisweilen einen ängstlichen, unruhigen Blick warf. Anfangs verriethen ihre Züge eine erhabene Seelenruhe; während man aber den Holzstoß errichtete, zeigte sich in ihrem Benehmen eine auffallende Veränderung. Je mehr sie aus ihrer künstlichen Betäubung erwachte, desto mehr verrieth sich ihre wachsende Angst. Plötzlich begann das Kind zu schreien, und nun riß sich die unglückliche Frau aus den Armen ihrer Freundinnen los, drückte das kleine Wesen mit leidenschaftlicher Heftigkeit an ihr Herz und flehte alle Umstehenden um Rettung an. Die Brahminen sahen wohl, daß sie nicht länger zaudern durften, wenn der Muth der Wittwe nicht gänzlich schwinden sollte. Sie ließen daher ihr Kind und alle ihre Verwandten entfernen und führ­ ten die Unglückliche auf den-Scheiterhaufen; sie aber sträubte sich heftig, und die Todesangst gab ihr solche Kraft, daß es den Priestern nur mit Mühe ge­ lang, sie auf den Holzstoß zu bringen. In demselben Augenblick wurde, um ihr Schreien zu übertäuben, mit allen Pauken und Trommeln ein entsetzlicher Lärmen erhoben; die Unglückliche mußte sich niedersetzen und den Kopf ihres Mannes auf ihren Schooß legen; die Flammen loderten von allen Seiten em­ por und entzogen das arme Weib für immer unsern Blicken. Noch einmal ver­ suchte sie in ihrer Todesqual vom Scheiterhaufen hinabzuspringen, aber man hielt sie vermittelst langer Stangen fest. Ihre Leiden waren von kurzer Dauer, denn schon nach wenigen Minuten hatte die Heftigkeit des Feuers ihren Körper zugleich mit dem Leichnam ihres Galten verzehrt. Auch diese unmenschlichen Schauspiele sind jetzt von der englischen Regierung aufs strengste untersagt; doch sollen im Innern des Landes noch immer Beispiele von freiwilliger Verbren­ nung vorkommen." Während dieser Erzählung hatten wir unser Boot bestiegen und fuhren zu dem Schooner zurück, um noch vor dem Eintritt der Fluth die Anker zu lichten, und indem wir den Strom weiter hinaus fuhren, war der Kapitän eifrig be­ müht, uns durch Mittheilungen aller Art zu unterhalten. Unter anderem er­ zählte er uns von den empörenden Bußübungen, welche die Hindus sich in re­ ligiöser Schwärmerei aufzulegen pflegen. Am weitesten gehen in ihrem frommen Wahn gewisse Bettelmönche, welche das Gelübde thun, sich nie zu waschen und zu kämmen, welche nie ihr Haar oder ihre Nägel verschneiden, welche Jahr aus, Jahr ein unter freiem Himmel auf bloßer Erde schlafen und in den entlegen­ sten Wäldern von Wurzeln leben. Indem sie so ohne Arbeit und ohne eine nützliche Thätigkeit ein thierähnliches Leben führen, glauben sie sich die ewigen

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Freudctt des Paradieses zu erwerben. Unausgesetzt nehmen sie die schrecklichsten Kasteiungen mit ihrem Leibe vor; sie bedecken sich mit Wunden aller Art, lassen sich auf Kohlen rosten, wälzen sich tagelang im Koth herum, stehen Monate hin­ durch auf einem Fuße oder schlagen die Arme so lange über dem Kopf zusam­ men, bis es ihnen unmöglich ist, sie wieder herunterzubringen. Einige halten ihre Hände Jahre lang an einander gedrückt, bis die Nägel durch das Fleisch hindurchgewachsen sind; andere lassen sich mit Ketten an Bäumen aufhängen und, in der Luft schwebend, sich von den Vorübergehenden ernähren; noch andere legen sich in ein Grab, das gerade den Umfang ihres Körpers und nur eine kleine Oeffnung hat, damit fromme Menschen ihnen die nothdürftigste Nahrung zustecken können. Als wir am zweiten Tage unserer Fahrt gelandet waren und am Ufer des Flusses ein Zelt aufschlugen, hatten wir Gelegenheit, einen solchen Büßer zu sehen. Ein dicker, eiserner Spieß, dessen Enden man mit einem schweren, eisernen Ringe zusammengeschmiedet hatte, war durch seine Wangen getrieben. Wir luden ihn ein, in unser Zelt zu treten. Dies that er; aber setzen wollte er sich nicht, da er ein Gelübde gethan hatte, fünfzehn Jahre stehend zuzubrin­ gen. Indem er sich, um auszuruhen, gegen eine Zeltstange lehnte, erzählte er uns, daß er nun schon volle dreizehn Jahre seinem Gelübde treu geblieben wäre. Anfangs war er genöthigt gewesen, sich durch Seile an einen Baum binden zu lassen, wenn der Schlaf ihn überwältigte; auch waren seine Füße heftig ange­ schwollen und halten ihm große Schmerzen verursacht. Allmählich aber hatte er sich an das beständige Stehen gewöhnt, so daß er jetzt gegen einen Baum gelehnt eben so ruhig schlief, wie andere in ihrem Bette. Bei dieser Bußübung hatte er es jedoch nicht bewenden lassen. Er zeigte uns seine zusammengedrückte linke Hand, auf deren Gebrauch er nun schon feit zwölf Jahren hatte verzich­ ten müssen, indem die Nägel durch das Fleisch und zwischen den Knochen durch­ gewachsen waren; außerdem aber hatte er, wie er versicherte, ein ganzes Jahr lang an dem Aste eines Baumes aufgehängt gelebt. Diese Kasteiung schilderte er als die härteste, die er je erduldet hätte. Wir gaben dery Helden ein klei­ nes Almosen, und er verließ uns, äußerst glücklich durch unsere Freigebigkeit. Am folgenden Tage erreichten wir Calcutta, und die Stadt der Paläste lag in all' ihrem Glanze vor uns ausgebreitet. Zuerst segelten wir bei der Festung vorüber, deren mächtige Werke senkrecht aus dem fluchenden Strome emporstiegen; weiterhin breiteten sich die Schiffswerft und ein unübersehbarer Mastenwald aus; dann trat die Esplanade mit ihren prächtigen Palästen und Baumgängen hervor; endlich wurde die ungeheure Häusermasse selbst sichtbar, aus der sich unzählige Thürme, Kuppeln, Minarets und Pagodenspitzen erhe­ ben, während der Hintergrund mit üppig grünenden Pflanzungen und weißen, zierlichen Landhäusern bedeckt ist. Ausland.

20. Die Tigerjagd in Ostindien. Das größte Vergnügen der Engländer in Ostindien ist die Tigerjagd. So groß aber der Nutzen ist, den die Jagd dieses blutdürstigsten und grau­ samsten aller Raubthiere den Bewohnern des Landes verschafft, eben so groß sind auch die mit demselben verbundenen Gefahren. Wir wollen einige der merkwürdigsten Jagdabenteuer mittheilen, wie sie in glaubwürdigen Berichten erzählt sind. Der Tiger hält sich gewöhnlich in der Nähe großer Flüsse auf, wo ihm die Bambuswälder, welche die Ufer bekleiden, zum Versteck dienen. Hier be­ lauscht und beschleicht er seine Beute ganz nach Katzenart und würgt sie, wenn er sich ihrer im Sprunge bemächtigt hat, an einem sichern Orte. Auch große

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Thiere trägt er mit Leichtigkeit im Maule davon; ja man hat gesehen, daß er Pferde und Büffel im schnellsten Laufe fortschleppte. So holte beim Marsch eines englischen Reitertrupps ein Tiger einen Reiter vom Pferde herab und eilte so schnell mit ihm davon, daß man ihn nicht erreichen konnte. Ein an­ derer Tiger sprang auf einen Elephanten, packte den im Sattelsessel'sitzenden Engländer, warf ihn über seinen Rücken und entfloh. Alle Gewehre waren zwar auf das Thier gerichtet, aber aus Furcht, daß man den Unglücklichen treffen möchte, überließ man ihn seinem traurigen Schicksal. Einige Minuten war dieser durch den Sturz von dem Elephanten seiner Besinnung beraubt; endlich aber erwachte er, von den Dorngebüschen an den Händen und im Ge­ sicht zerfleischt, auf dem Rücken des fiirchterlichen Thieres, erkannte seine schreck­ liche Lage, zog mit vieler Anstrengung eine seiner Pistolen aus dem Gürtel und feuerte sie auf den Kopf des Ungeheuers ab. Er schoß jedoch fehl; das Thier biß noch tiefer ein und beschleunigte seine Sprünge. Nachdem er aber­ mals auf einige Augenblicke seine Besinnung verloren hatte, wendete er seine letzte Kraft zu einem zweiten Versuche an, sich aus dem verderblichen Nachen zu befreien. Er ergriff die zweite Pistole und schoß mit besserem Erfolge dem Thiere durch das Schulterblatt ins Herz. Seine Freunde fanden ihn be­ sinnungslos neben dem getödteten Tiger. Eine unausgesetzte Pflege brachte ihn aber ins Leben zurück, und er bezahlte nur mit einem lahmen Beine die seltene Erfahrung, sich aus dem Rachen des fürchterlichsten aller Raubthiere gerettet zu haben. Aehnlich ging es einem jungen Offizier, der gleichfalls durch einen Tiger vom Elephanten herabgerissen und fortgeschleppt wurde. Er hatte die Geistes­ gegenwart, mit der einen Hand das wilde Thier bei den Ohren zu fassen, während er mit der andern eine Pistole aus der Tasche zog und sie gegen den Bauch des Tigers abschoß. Dennoch schleppte das wüthende Thier seine Beute noch gegen tausend Schritte fort, bis es, durch den Blutverlust erschöpft, dieselbe fallen ließ. Jetzt erst kamen Teilnehmer der Jagd ihrem Freunde zu Hülfe und erlegten den Tiger vollends. Der Offizier, obgleich entsetzlich zerfleischt und von den Aerzten aufgegeben, ward doch wieder'hergestellt und zur Belohnung seiner Unerschrockenheit zum Kapitän befördert. Die Wunden, die der Tiger schlägt, sollen oft eine viertel Elle tief gehen und sind in der Regel tödtlich, auch wenn das Opfer aus seinen Klauen geret­ tet wird. Daher kommt der Glaube der Hindus, daß die Wunden von Tiger­ klauen giftig sind. Wenn den Tiger der Hunger plagt, scheucht ihn auch das Feuer nicht zurück, das die übrigen Raubthiere zu schrecken pflegt. Das be­ weist das unglückliche Schicksal eines Engländers, der sich mit mehreren Freun­ den im Schatten eines Gebüsches um ein Feuer gelagert hatte. Plötzlich hörte man das donnerähnliche Gebrüll eines Tigers, der in demselben Augenblick den Unglücklichen packte und fortriß. Alle schossen,nach dem Thiere, zu dem sich die Tigerin gesellte, und erlegten es glücklich; der Engländer schleppte sich, in seinem Blute gebadet, zum Feuer zurück; man bestieg eiligst einen Kahn und stieß vom Lande ab. In dem Augenblick erschien die Tigerin in voller Wuth, um einen neuen Angriff zu wagen. Sie blieb am Ufer stehen, so lange sie das Fahrzeug sehen konnte. Nach vier und zwanzig Stunden starb der Un­ glückliche, aller ärztlichen Hülfe ungeachtet. Ist der Tiger satt gefressen, wozu er etwa ein Schaf oder den sechsten Theil eines Ochsen nöthig hat, so wird er feig; er flieht dann den Menschen und sucht einen abgelegenen Ort auf, um in Ruhe zu verdauen. Ein Reisen­ der erzählt, daß er einst beim Verfolgen eines Hasen in einen Busch getreten sei und dort zu seinem großen Schrecken einen Tiger getroffen habe. Das Thier erwachte in demselben Augenblicke vom Schlafe und sah ihn mit grim-

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mißen Augen an; dann aber erhob es sich, entfernte sich langsam und ging ruhigen Schrittes an mehreren Bedienten vorbei, welche gerade damit beschäf­ tigt waren, die Pferde zu bepacken. Im Busche fand man einen halb aufge­ zehrten Ochsen. Auf einer andern Jagd wurde auf einen Tiger geschossen, den man im Gebüsch für einen Eber gehalten hatte. Er kehrte um, ohne je­ manden zu beschädigen; auch hier fand man die Ueberreste eines Schafs. Geistesgegenwart oder ein glücklicher Zufall rettet manchmal den Menschen vor dem Tiger. Namentlich soll entschlossenes Ansehen ihn, wie den Löwen, in die Flucht treiben, da er, gleich den meisten Thieren, den Blick des Men­ schen fürchtet. So rettete sich ein Offizier, der ohne Waffen von einem Tiger überrascht wurde, blos dadurch, daß er das Thier mehrere Stunden lang muthig ansah und es endlich zur Flucht brachte. Auch sonderbare, unerwartete Zufälle erschrecken oft den Tiger, und jagen ihn in die Flucht. Es ist erwie­ sen, daß ein Engländer einst bei einer großen Jagd vom Elephanten herab gerade auf den Tiger siel, der, nicht weniger erschrocken als der Engländer, in größter Eil das Hasenpanier ergriff. Eben so verbürgt ist die folgende Be­ gebenheit: Als im Mai des Jahres 1833 in Folge heftiger Stürme eine große Überschwemmung entstand, geriethen die Besitzungen eines Herren Campbell in Bengalen in große Gefahr, und von dreitausend Menschen, die auf densel­ ben lebten, kamen nur siebenhundert mit dem Leben davon. Diese hatten sich nämlich auf das Dack und den Balkon seines Hauses gerettet. Schon war das Haus gedrückt voll und kaum noch Platz für einen einzigen Menschen: da erschien ein ungeheurer Tiger mit niederhängendem Schweife und drängte sich mit allen Zeichen übermäßiger Furcht mit Gewalt unter die Menschenmenge. Als er in das Zimmer gekommen war, in welchem Herr Campbell sich befand, verkroch er sich in einen Winkel und streckte sich gleich einem Hunde nieder. Herr Campbell ergriff sogleich feine Flinte, lud sie ganz gemächlich und schoß das furchtsame Thier todt. Wie zahlreich die Tiger noch immer in Ostindien sind, kann man aus einem amtlichen Bericht eines kleinen Bezirks ersehen, nach welchem in einem Jahre nicht weniger als 84 Personen ihr Leben durch Tiger verloren haben. Daher kommt es auch noch vor, daß ganze Dörfer, welche nahe an den Bam­ buswäldern stehen, von den Tigern so heimgesucht werden, daß sie endlich von den Bewohnern verlassen werden. Wo ein Mensch durch einen Tiger getödtet worden ist, wird eine Stange mit einem farbigen Tuche als Warnungszeichen errichtet und dabei eine Hütte gebaut. Die Reisenden versammeln sich hier zum Gebet; wird aber an derselben Stelle noch einer von einem Tiger getödtet, so halten sie ihn für einen Sünder und seinen Tod für ein Gottesgericht. Vor fünfzig Jahren war in manchen Gegenden Ostindiens noch die Tiger­ probe Sitte. Wenn nämlich zwei Menschen eines Verbrechens gleich verdäch­ tig waren, so warf man beide einem Tiger vor; derjenige, den er sich zum Verspeisen auswählte, galt dann für schuldig. Oft richtet ein einziges dieser Raubthiere entsetzliche Verwüstungen an. So hatte sich in einem Engpässe eine Tigerin mit zwei Jungen gelagert und würgte täglich mehrere Menschen. Da sie auch gegen zwölf Postboten zerriß, so hörte mehrere Wochen lang jede Verbindung zwischen den beiden zunächst gelegenen Städten auf. Die Straße war an dieser Stelle nur für Fußgänger zu passtren; daher wagte es niemand, das Ungeheuer anzugreifen, obgleich ein bedeutender Preis dafür ausgesetzt war. Ein Engländer reifte damals in sei­ nem Palankin, von acht Leuten getragen, auf dieser Straße. Als die Träger die Tigerin von fern sahen, wollten sie natürlich nicht weiter; der Engländer jedoch," der kein Wort von ihrer Sprache verstand, bestand darauf, weiter zu reisen, und so ließen sie ihn endlich sammt dem Palankin im Stiche und lie-

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fett davon. Der Reisende wäre verloren gewesen, wenn nicht gerade ein Offi­ zier mit vierzig Soldaten erschienen wäre. Diese suchten sich der Tigerin zu nähern; sie zog sich jedoch ins Gebüsch zurück und hielt sich hier einige Tage verborgen. Sie setzte darauf ihre Räubereien fort, wurde aber endlich auf, einem großen Treibjagen erlegt, nachdem sie gegen fünfzig Menschen umge­ bracht hatte. Zur Tigerjagd bedient man sich in der Ziegel der Elephanten. Pferde find wegen ihrer Furcht dazu ganz untauglich; der Elephant dagegen ist dem Ti­ ger an Kraft überlegen und besiegt ihn auch in der Regel, wenn man zwischen beiden einen Zweikampf veranstaltet. Er sucht dann seinen Gegner mit dem Rüssel in die Hohe zu schleudern; ist aber der Tiger so glücklich, ihn am Rüs­ sel zu packen, so ist der Elephant verloren. Ueberdies empfehlen sich diese Thiere auch durch ihre große Gelehrigkeit zur Jagd auf Raubthiere. Die in­ dischen Fürsten stellen mit ihnen oft große Treibjagden an, zu denen außerdem noch viele Tausend Mann Infanterie und Eavallerie aufgeboten werden. Es wird dann ein großer, mit Gras und Bambusrohr bewachsener Platz umstellt, und auf Bäumen und hohen Gestellen Schießhäuser errichtet. Das Gestrüpp wird nun in Brand gesteckt, und die Tiger mit Trommeln und Schießgeweh­ ren aufgescheucht. Sie stürzen sich in der Regel auf die Elephanten und wer­ den mit Flintenkugeln und Lanzenstoßen empfangen, während man von den Schießhäusern aus die übrigen zu erlegen sucht. Zwar werden auf diesen kostspieligen Treibjagden oft zwanzig bis dreißig Tiger geschossen; doch hat der Muth einzelner Europäer mehr als sie zur Ausrottung dieser Geißel aller ostindischen Länder beigetragen. So hat ein einzelner Deutscher eine ziemlich große Insel von allen Raübthieren gereinigt. Man sagt, daß er in einem

Tage fünf Tiger mit seinem nie versagenden Gewehre erschossen hat. Ein anderer Privatmann hat, wie ein glaubwürdiger Reisender versichert, eigenhän­ dig 360 Tiger erlegt. Weiß man den Ort, wo daö Thier den Rest einer Mahlzeit verborgen hat, so wird in aller Eile ein Schießhaus dabei errichtet und aus diesem auf den Tiaer gefeuert, wenn er zu seinem Raube zurückkehrt. Auch sucht man durch Gruben sich von diesen lästigen Gästen zu befreien. Im nördlichen Ost­ indien ist die Sitte, daß man Blätter, die mit Bogelleim bestrichen sind, an die Stellen streut, die der Tiger aufzusuchen pflegt. Wenn er dann auf die Blätter tritt und sie nicht los werden kann, bewegt er sich immer heftiger und bedeckt sich dabei noch mehr mit Blättern; zuletzt wird er wüthend, fängt an, sich zu wälzen, verklebt sich dabei Nase, Augen und Ohren und erhebt ein fürchterliches Gebrüll. Die Eingebornen eilen herbei und erschießen oder er­ stechen ihn mit leichter Mühe. Wir wollen noch einige Beispiele von wunderbarer Rettung aus Tigerklauen anführen. Ein Kapitän, der in Bombay stand, jagte eines Tages mit zwei Freunden und stieß unvermuthet auf einen Tiger. Das Thier ruhte am jenseitigen Ufer eines kleinen, aber tiefen Stromes. Der Schrecken der Jäger wurde durch den Anblick eines gräßlich verstümmelten menschlichen Leichnams vermehrt, welcher dem Tiger zur Seite lag. Plötzlich erhob sich das Ungethüm und stierte den Ankommenden ins Gesicht, als wollte es sich eine Mahl­ zeit für den nächsten Tag aussuchen. Sogleich feuerten alle, und das verwun­ dete Thier fiel wie todt zur Erde. Der Kapitän zweifelte nicht, daß die Schüsse tödtlich gewesen; er lud seine Flinte, da keine Kugel mehr vorräthig war, mit gehacktem Blei und lief, so schnell er konnte, nach einer Furt, die etwa vierzig Schritt entfernt war. Hier watete er durch den Strom und wollte eben die Aeste eines Baumes erfassen, um an dem steilen Ufer bequemer aufsteigen zu können, als der Tiger auf ihn los kam. Er hatte nur eben Zeit genug, seine

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Flinte noch einmal abznschießen; dann warf er sich platt auf den Boden. Ob­ schon daS Thier drei Kugeln und eine Ladung gehacktes Blei im Leibe hatte, so zerrte es den Unglücklichen doch einige Minuten lang wie zum Spiele am Boden hin und her. Endlich setzte es eine seiner ungeheuren Tatzen auf den

Mund seines Opfers. Der Kapitän ertrug den Druck eine Zeit lang mit großet Standhaftigkeit; als er aber endlich daran verzweifelte, daß der Tiger seine Tatze freiwillig zurückziehen würde, faßte er eine Klaue des Feindes mit den Zähnen und biß hinein, so stark er kennte. Diese kühne List hatte zwar den gewünschten Erfolg; während aber der Tiger seine Tatze an sich zog, riß er einen Theil der Wange des Offiziers ab und zerbrach ihm das Nasenbein. Dann kauerte die Bestie, vielleicht etwas ermüdet, zur Seite nieder und stierte ihre Beute mit unverwandten Blicken an. Der Kapitän, obgleich blutend und heftige Schmerzen leidend, blieb noch eine ganze Weile liegen, ohne ein Glied zu rühren, bis er in geringer Entfernung seine Kameraden erblickte. Jetzt raffte er seine ganze Kraft zusammen und schrie laut um Hülfe. Als die fei­ gen Freunde das Thier erblickten, entflohen sie in größter Eil; der Tiger aber fuhr auf, um den Kapitän bei der Kehle zu packen. Dieser parirte instinkt­ mäßig den tödtlichen Biß, indem er seinen gebogenen Arm dem Feinde in den offenen Rachen steckte. Der Arm war in demselben Augenblick zerfleischt, und doch wußte der Unglückliche auch diesen neuen Schmerz dermaßen zu überwäl­ tigen, daß er nicht einmal einen Klagelaut von sich gab. Jetzt ging der Tiger nm ihn herum und beschnüffelte ihn, als wollte er sich überzeugen, ob er noch athmete; dann entfernte er sich etwa zehn Schritte weit, kehrte aber mehrmals wieder, um seiner Sache vollkommen gewiß zu sein. So oft der Tiger nahe war, mußte der Kapitän den Athem zurückhalten. Endlich nach einer guten Stunde offenbarten sich die Wirkungen der Kugeln mehr und mehr: der Tiger wankte, bekam Zuckungen und fiel todt zu Boden. Der Kapitän blieb noch ungefähr eine Stunde ruhig liegen; dann erhob er sich und versuchte sich fort­ zuschleppen, obgleich ihm seine Wunden jede Bewegung fast unmöglich machten. Zum Glück traf er bald auf einige Bauern, die ihn nach ihren Zelten brachten und aufs beste verpflegten. Er mußte fünf Monate lang unter großen Schmer­ zen das Bett hüten und genas erst, nachdem man lange an seiner Wiederher­ stellung gezweifelt hatte. Ein anderer brittischer Offizier wurde einst von einem Tiger ergriffen und fortgeschleppt. Zum Glück hatte er noch seine Jagdflinte umgehangen, deren Läufe zwischen den Zähnen des Tigers sich einklemmten und ihn daran hinder­ ten, seine Kinnladen zu schließen. Aus Verdruß darüber ließ der Tiger endlich seine Beute fallen und lief allein weiter. Der Offizier kam mit einer geringen Verletzung davon und bewahrt die Flinte als seine Retterin. An dem einen Laufe sieht man die Spur des eingedrückten Tigerzahns. Ein fast unglaubliches Beispiel von Geistesgegenwart gab vor etwa drei­ ßig Jahren ein Oberst in Bengalen, ein Mann, der bei einer Größe von mehr als sechs Fuß ungeheure Körperkräfte besaß. Als er sich eines Tages auf der Jagd.von seiner Gesellschaft getrennt hatte, bemerkte er plötzlich einen Tiger, der sich eben anschickte, auf ihn loszuspringen. Sogleich warf er seine Flinte fort, da er vergeffen hatte, sie wieder zu laden, empfing den Tiger mit ausgebreiteten Armen und drückte ihn im buchstäblichen Sinne des Wortes todt. Nur eine Tatze der Bestie war frei geblieben, und mit dieser hatte sie dem Obersten das Fleisch von der Wange gerissen. Der Tiger war noch jung, aber doch stark genug, um einen unbewaffneten Menschen bezwingen zu können. Ein junger Offizier hatte einst auf dem Marsche durch eine wilde Gegend Halt gemacht, -um zu frühstücken. Da erschienen Abgeordnete aus einem der nächsten Dörfer und meldeten, daß ein großer Tiger bei hellem Tage erschie-

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nen sei und bereits mehrere Menschen get'ödtet und gefährlich verwundet habe. Einige der besten Schützen hatten vergeblich nach dem Thiere geschossen, woraus man denn schließen wollte, daß die Kugeln oder das Thier behext gewesen. Der Offizier bewaffnete sich sogleich mit zwei Doppelflinten und eilte an den bezeichneten Ort. Bei seiner Ankunft im Dorfe fand er die ganze Gemeinde, in einem Zustande großer Aufregung; jctcrniaim sah den Tiger oder wollte ihn sehen, und alle Augenblicke gab es einen falschen Lärm. Die Menschen, die auf Bäume oder Dächer gestiegen waren, deuteten nach den verschiedensten Richtungen, während andere von allen Seiten schreiend herbeiliefen und behaupte­ ten, der Tiger verfolge sie. Endlich gelang es dem Offizier, den Ort zu er­ mitteln, an welchem der Tiger sich befand. Er entdeckte ihn in der Mitte einer kleinen Baumgruppe, welche zu dem Garten einer Bauernhütte gehörte. Da die Hütten der Eingeborenen von allen Seiten der Luft und denl Tages­ licht zugänglich sind, so konnte der Offizier mit leichter Mühe seine Flinte durch daS Flechtwerk der Wände stecken, und es gelang ihm, der Bestie eine Kugel in den Hals zu schießen. Vor Zorn und Schmerz laut aufbrüllend, sprang der Tiger auf die Hütte los; da er aber seinen Feind nicht sah, so kehrte er um und eilte einem Wäldchen zu, während die Bauern wie ein zer­ sprengtes Heer nach allen Seiten ausrissen. Jetzt war cs nöthig, einen erhöh­ ten Standpunkt zu gewinnen, denn das hohe Gras und Gestrüpp verbargen den Tiger. Während der Jäger zu diesen: Zwecke auf einen Bgun: kletterte, kam der Tiger, der seinen Feind erblickt hatte, aus dem Gebüsche hervor. Zum Glück hatte unser Offizier noch Zeit genug, seine Flinte anzulegen und zu feu­ ern; der Schuß streckte das furchtbare Thier zu Boden, aber es erhob sich wie­ der und drehte sich wie rasend im Kreise herum. Jetzt traf den Tiger ein Schuß aus dem zweiten Laufe, doch immer noch nicht tödtlich. Die Wuth des Thieres stieg immer mehr; allein es war eine blinde Wuth, die sich erst an Bäumen austobte und sich dann gegen die Zuschauer kehrte. Letztere stan­ den sehr weit entfernt und nahmen, sowie der Tiger ihnen sein Antlitz zukehrte, augenblicklich Reißaus. Der Offizier konnte von Glück sagen, daß das wüthende Thier ihn unbeachtet ließ, denn mit seinen zwei ungeladenen Flinten wäre er in einer bösen Lage gewesen. Obgleich der Tiger zwei Kugeln im Halse und eine im Kopfe hatte, so schien er doch noch bei voller Kraft zu sein; endlich aber lief er in einen Kuhstall, wohin ihm der Offizier mit frisch geladenen Büchsen folgte. Während letzterer in die Bambuswand des Stalls ein Loch zu bohren versuchte, stürzte der Tiger mit fürchterlicher Wuth gegen die Wand und zwang seinen Feind zu rascher Flucht. ES gelang dem Ungeheuer, Kopf und Vordertatzen durch die Verzäunung zu zwängen, worauf ihm der Offizier auS einer Entfernung von acht Schritten eine Kugel durch daS Ohr schoß. Jetzt riß der Tiger die Hütte ein, sprang unter entsetzlichem Gebrüll heraus, rannte in einen benachbarten Garten und streckte sich im Gebüsch hin. Der unermüdliche Jäger verfolgte ihn auch dorthin und stellte sich zum Schuß hin­ ter einen Baum. Als der Tiger ihn bemerkte, fuhr er sogleich wieder empor, sah ihm knurrend ins Gesicht, stürzte aber, von einer Kugel in den Rachen getroffen, todt zu Boden. AlS die Bauern den Tiger erlegt sahen, kamen sie mit Knütteln herbei und schlugen weidlich auf ihn los. Es war dies der größte Tiger, den man in jenem Dorfe je gesehen hatte; von den fünf Wunden, die er empfangen, konnte jede für tödtlich gelten. Diclih.

21. Der Königstiger. Bon allen Raubthieren ist der Tiger das fürchterlichste. Er ist sechs bis sieben Fuß lang, drei bis vier Fuß hoch, und die größte Länge des Schwanzes

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beträgt drei Fuß. Der Leib ist länger als bei dem Löwen, die Brust ist we­ niger stark und der ganze Körper schmaler. Die Grundfarbe des TigerS ist ein schönes Braungelb, das nach dem Bauche hin Heller wird und endlich in ein reines Weiß übergeht. Rein weiß sind auch die Innenseiten der Füße, ein Fleck über jedem Auge, die Innenseiten der Ohren, die Wangen und die Lippen. Ueber diese Grundfarbe laufen von der dunklen Rückenlinie unregel­ mäßige, schwarze Querstreifen herab, welche schon an der Nasenwurzel begin­ nen und endlich am Schwänze Ringel bilden; der gelblichweiße Schwanz hat fünfzehn schwarze Ringe. Die Pupille des Auges ist rund, die Iris grünlich­ öder bräunlichgelb; die Ohren sind abgerundet. Seinen Aufenthalt nimmt der Tiger im Dickicht der Wälder, im Gebüsch, im Schilfe, im hohen Grase, oft ganz in der Nähe menschlicher Wohnungen; hier liegt er vorzüglich kurz vor­ dem Aufgang oder nach dem Untergang der Sonne auf der Lauer. Die Ti­ gerin bekommt je zwei bis drei Junge, die man zähmen kann. Kaiser Heliogabal ließ zahme Tiger vor seinen Wagen spannen, um den Bacchus besser vorstellen zu können. Ein Richter begab sich, wie glaubwürdige Reisende ver­ sichern, noch vor wenig Jahren täglich nach dem Gerichtspalast in einem von zwei Tigern gezogenen Wagen; diese Thiere waren so gezähmt, daß man sie wie ein Paar Droschkenpferde leiten konnte. AuS dem 13. Jahrhundert wird von einem Tatarenfürsten berichtet, der zahme Tiger gebrauchte, um wilde Schweine, Esel, Bären und Hirsche zu fangen. Sie wurden in Käfigen auf Karren geführt, und es war wunderbar, mit welcher Wuth und Schnelligkeit sie das Wild ergriffen. Bei großen Festen lag dem Fürsten ein zahmer Tiger zu den Füßen. In Menagerien vertragen sich diese Thiere oft auch sehr gut mit Hunden, wie zahlreiche Fälle beweisen. Das Vaterland des Tigers um­ faßt das südliche Asien vom Indus an und viele Gegenden Mittelasiens vom Kaukasus bis zum großen Ocean. Ist der Tiger auch nicht blutgieriger, nicht mordlustiger, als alle anderen Katzenarten, ja, zeigt er auch dieselbe Art zu spielen und zu schmeicheln, wie diese: so wird er doch durch seine Größe weit furchtbarer, um so mehr, da er nicht, wie der Löwe, nur die Ränder der Wüsten, sondern vielmehr zahlreich bewöhnte Gegenden besucht. Seine Kraft ist ungeheuer, sein Gebrüll fürchter­ lich, und sein finstrer Blick flößt Entsetzen ein. In weiten Sprüngen stürzt er auf Menschen und Thiere los, reißt sie nieder und sättigt sich zuerst mit dem Blute der Erwürgten. Die Wunden, die er dabei mit den großen schar­ fen Klauen seinem Opfer schlägt, sind zuweilen gegen fünf Zoll tief und so gefährlich, daß auch ein den Tatzen dieses Thiers entrissener Mensch nur sel­ ten vom Tode errettet, noch seltener aber gänzlich geheilt werden kann. Die Muskelkraft ist so groß, daß er selbst ein Pferd mit einem einzigen Schlage niederzustrecken und sortzuschleppen und mit einem Menschen im Rachen leicht davonzulaufen vermag; er wagt daher, seiner Stärke sich bewußt, Büffel, Pferde, junge Elephanten anzugreifen und selbst mit ausgewachsenen Elephan­ ten zu kämpfen, obgleich er letztere nie angreift. Ein ausgewachsener Elephant schleudert den Tiger, der ihm etwa auf den Kopf gesprungen ist, unter seine Füße, kniet auf ihn und zerquetscht ihn, oder er giebt ihm einen Stoß mit dem Fuße, der ihm die Rippen zerbricht und ihn vielleicht zwanzig Schritte weit fortschleudert. Antilopen, Affen und andere kleinere Thiere verschmäht der Ti­ ger aber auch nicht, ebenso wenig den Menschen, indem er oft aus ganzen Schaaren seinen Mann herausholt. So riß einst beim Marsche eines eng­ lischen Reitertrupps ein Tiger einen Reiter aus den Reihen vom Pferde herab und lief mit ihm so schnell davon, daß man ihn nicht einholen konnte. Im gesättigten Zustande ist er träge und feig, und leicht ist er dann in Schrecken zu setzen und von seinem Angriffe abzuhalten. So suchte einst ein Schütz

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nach einem Hasen und bog dabei zufällig einen Busch auf die Seite; da sah er zu seinem Entsetzen einen eben erwachenden Tiger, der ihn mit grimmjLen Blicken ansah. Der Mann sprang zurück; der Tiger erhob sich langsam und entfernte sich, wie es schien, unwillig. Im Busche fand man einen halbver­ zehrten Ochsen. Auch Unerwartetes verjagt ihn. Einst saß eine Gesellschaft Engländer im Schatten eines Gebüsches, als sich ein Tiger zeigte, der durch das Gehölz herbeigeschlichen und schon zum Sprunge bereit war; eine Dame öffnete rasch ihren Sonnenschirm und fuhr ihm damit nach dem Gesicht, und der Tiger wich zurück. Bei einer Tigerjagd stürzte ein Engländer von einem Elephanten herab und fiel auf den Tiger; dieser, darüber erschrocken, entfloh. Auch dm festen, unverwandten Blick des Menschen vermag der Tiger ebenso wenig zu ertragen, wie ein anderes Raubthier. Ein englischer Offizier in In­ dien begab sich in ein nicht weit vom Lager entferntes Geröhricht und stieß plötzlich auf einen Tiger. Beide blieben wie eingewurzelt stehen. Der Offi­ zier hatte keine Waffe, mit der er den Kampf hätte wagen können; er hatte aber gehört, daß sich selbst dieses Thier zurückziehe, wenn man ihm fest in die Augen blicke. Er that dies. 9iad) kurzer Zeit wurde der Tiger unruhig, machte eine Seitenbewegung und suchte, ihn von hinten zu erschleichen. Der Offizier aber machte fortwährend Front gegen seinen Gegner, der sich stets vor seinem Blick zu scheuen schien, zuwecken ins Dickicht sprang, dann aber wieder von einer andern Seite erschien. Dies dauerte fast eine Stunde, bis endlich der Tiger das Feld räumte, und der Offizier glücklich entkam. Auch vor der Maus soll der Tiger eine große Furcht haben. Ein Berichterstatter erzählt darüber folgendes. Wir hacken Gelegenheit, die Eigenthümlichkeiten des Tigers recht bequem an einem schönen Thiere zu beobachten. Es war in einen Käfig gesperrt, der mitten im Hofe frei stand und so geräumig wie ein Ammer von gewöhnlicher Größe war, so daß es darin Sätze und Sprünge nach Gefallen machen konnte. Es verzehrte täglich ein Schaf, rnanches'Stück Fleisch ungerechnet, welches ihm gelegentlich zugeworfen wurde. Unsere jungen Leute belustigten sich bisweilen damit, den Tiger zu necken; daml stürzte er sich gegen das Gitter seines Käfigs mit einem Gebrüll, daß die Pferde in den nahe gelegenen Ställen vor Schreck zitterten und kläglich wieherten. Die Necke­ reien, durch die man ihn reizte, waren verschiedener Art: bald stach man ihn mit einem zugespitzten Stocke, bald tautalisirte man ihn, indem man ihm ein Stück Fleisch vorhielt, das man wieder zurückzog, ehe er eö soffen konnte; aber unter allem das Unangenehmste war ihm, wenn'man eine Maus in seinen Kä­ fig laufen ließ. Nie kann eine verzärtelte Dame beim Anblick einer Spinne mehr erschrecken, als dieses herrliche Thier bei dem Anblick des Heinen Nage­ tieres. Am meisten belustigte es, wenn man die Maus mit dem Schwänze an das Ende eines Stockes band und sie so ihm ganz nahe vor die Nase hielt. Sowie er sie bemerkte, war er mit einem Satze auf der entgegengesetzten Seite; wenn man die Maus auf ihn zutrieb, so kroch er in einen Winkel und drückte sich fest gegen die Gitterstäbe an; er zitterte, schrie und schien von so großer Angst gefoltert zu werden, daß er endlich unser Mitleid erregte, und wir unser Splel aufgaben. Manchmal jedoch wollten wir ihn zwingen, an die Stelle zu gehen, wo die MauS sich befand, die nicht ahnte, welchen Schrecken sie erregte, und ganz unbesorgt umherlief, um Krümchen zu benagen; es kostete stets große Mühe, ihn in Bewegung zu setzen, und kaum gelang es uns durch einen in seiner Nähe angezündeten Schwärmer; aber dann machte er, statt geradeaus zu gehen oder auch einen Umweg um den Gegenstand seiner Furcht zu nehmen, einen so hohen Sprung, daß er mit dem Rücken fast die Decke seines Käfigs berührte. Mannichfaltig ist die Art, sich dieser grimmigen Räuber zu bemächtigen:

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man stellt Selbstschüsse mit vergifteten Pfeilen auf oder errichtet in der Nähe von dem Orte, wohin der Tiger den Rest seiner Beute getragen hat, ein Schießzelt, um aus demselben ihn, wenn er bei einbrechender Nacht zurückkehrt, mit einem Kugelregen zu empfangen. Am seltsamsten ist aber wohl die Weise, wie man sich in den nördlichen Provinzen Ostindiens desselben bemächtigt. Nach­ dem die Spur eines Tigers gefunden ist, gesellen sich nämlich die Bewohner zusammen, pflücken Blätter und bestreichen dieselben mit einer Art Vogelleim; sodann streut man sie auf dem Wege, den das Thier betreten muß, so auf den Boden, daß die klebrige Seite oben liegt. Sobald der Tiger auf eius dieser Blätter tritt, so beginnt er seine Bemühungen, es wieder zu entfernen; er bewegt sich immer heftiger erst mit den Füßen, dann mit dem ganzen Kör­ per und bedeckt sich dadurch immer mehr mit Blättern, bis er sich wüthend niederwirft und fürchterlich brüllend sich wälzt, wobei er sich nur immer noch mehr einhüttt und Augen, Ohren und Nase sich verklebt; in diesem Zustande wird er alsdann von den herbeieilenden Menschen leicht erschossen. Die mei­ sten Tiger aber werden von einzelnen kühnen Schützen und auf großen Treib­ jagden erlegt. Zu solchen Tigerjagden werden von den indianischen Fürsten oft viele Tausende von Menschen, theils zu Fuße, theils zu Pferde, theils auf Elephanten, beordert. In einem bestimmten Bezirke werden große, hohe Garne aufgestellt, zwischen welchen in gewissen Entfernungen auf Bäumen oder Pfäh­ len Schießthürmchen angebracht sind; da hinein begeben sich die besten Schützen, um von hieraus auf Tiger und andere Raubthiere schießen zu können. Dann wird ringsum gegen die Garne hin das dürre Gras und Gebüsch angezündet und zugleich sämmtliche Mannschaft um den Ort aufgestellt, welche, in dichten Gliedern vorwärts schreitend, unter dem fürchterlichsten Lärm, schreiend, trommelnd und schießend, das Wild gegen die Garne hintreibt. Nachrichten und Geschichten von Tigern und Tigerjagden sind in zahlloser Menge vorhanden. In Griechenland hat man erst nach Alexanders des Gro­ ßen Aode einen Tiger zu sehen bekommen; in Rom hat Pompejus den ersten

zahmen in einem Käfige gezeigt. Am schlimmsten haust er gegenwärtig noch in Vorderindien; dort raubt er nicht nur an säst allen waldreichen Stromnnd Meeresufern in Menge, sondern ist auch, wo die Gegend nicht sehr stark bevölkert ist, noch Herr über den Menschen. Die Einwohner daselbst sind nämlich weder kräftig noch muthig, und das hat wohl den Tiger so frech ge­ macht; auch fehlt es ihnen an manchen Orten noch an Feuerwaffen. Die Dornenhecken, welche alle Dorfbewohner dort um ihre Wohnungen zur Schutz­ wehr pflanzen, reichen nicht immer hin, die hungrigen Bestien zurückzuweisen und sich Nachts in ihren Dörfern, besonders aber im Freien zu schützen; dazu haben sie weiter nichts als brennende Fackeln, die der Tiger wie alles Feuer

allerdings scheuet; daneben flehen die arg bedrängten Menschen ihre Götter um Hülfe an oder bitten den Tiger selbst um Mitleid, indem sie ihn Onkel nennen. Wie wenig aber das alles schützt, mag man daraus ersehen, daß die Tiger einst binnen zwei Jahren aus einer einzigen Ortschaft achtzig Einwohner aus der Milte der Hütten weggeschleppt und verzehrt hatten, und viele Ortschaften ganz von Menschen verlassen und Lager der Tiger geworden waren. Beson­ ders schlimm ergeht es denjenigen Völkerschaften, welche allein vom Ertrage der Wälder leben und beim Einsammeln den grimmigen Tigern gar nicht ent­ gehen können; am übelsten sind aber die Hirten daran, die sehr häufig sammt ihren Heerden vernichtet werden. Die Posten in Indien sind meistentheils durch Fußgänger bedient, und diese Briefträger würden ohne ihr Geleit von Lanzen­ trägern und lärmschlagenden Trommlern, zu denen an den gefährlichsten Stellen noch einige Fackelträger kommen, nie sicher sein, und dennoch werden sie oft weggeschleppt. Selbst bei nächtlichen Truppenmärschen sind dort die Gefahren

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ganz eigener Art : so wurden von einem Corps einst in einer Nacht drei Schild­ wachen von Tigern gefressen, und unzählige Nachzüglet werden stets deren Beute. Hunger spornt sie an, selbst mitten in Reiterhaufen einzufallen. Als einst ein Cavallerietrupp bei Fackelschein ritt, sprang ein Tiger herzu und streckte eins der Pferde mit einem Schlage zu Boden. Auf dem Marsche eines Linienregi­ ments stürzte ein solches Thier auf ein Kameel und brach ihm gleichfalls mit einem Schlage den Schenkel, und dem Bedienten eines Reiterofsiciers riß ein Tiger unterwegs das halbe Gesicht weg. Wer deshalb in Indien ein solches Unthier erlegt, erhält eine Belohnung von etwa fünf Thalern. Ein Herr, Namens Johnson, reiste in Gesellschaft eines Freundes für ei­ nige Tage auf die Jagd; die Diener waren mit vier Ochsen voran und wohl bewaffnet. Plötzlich hörten die beiden Herren ein furchtbares Gebrüll, dem ein gellendes Angstgeschrei folgte. Sie spornten ihre Pferde und erreichten die Die­ ner in dem Augenblick, als ein Tiger über eine nahe Anhöhe rannte, einen treuen Diener Johnsons in seinem Rachen fortschleppend. Das Thier war plötzlich hervorgestürzt, hatte den Diener beim Schenkel ergriffen und war mit ihm, den Kopf auf der Erde hinschleifend, davon gesprungen, und dies alles war so schnell geschehn, daß kein Widerstand möglich gewesen. Johnson sprengte mit geladener Flinte zu Pferde den Spuren des Tigers nach; diese bestanden aus dem Blute und den Haaren des armen Dieners und führten über eine eng­ lische Meile weit. Plötzlich sah er etwas unter einem großen Busche liegen, sprengte hin, fand aber nicht den Tiger, sondern die Ueberreste des halb aufaezehrten Dieners. Wie unglaublich groß die Zahl der Tiger noch immer in Ostindien ist, erhellt aus Johnsons Angabe, daß ein einziger Privatmann, ein Richter, allmählich nicht weniger als dreihundertundsechzig erlegt hatte. AuS dem Jahr 1792 erzählt ein Reisender folgendes Unglück. „Wir stie­ gen auf einer Insel ans Ufer, um Wildpret zu schießen, wovon wir zahllose Heerden, so wie auch Tiger sahen. Wir setzten unsre Jagd bis drei Uhr fort, worauf wir uns an der Seite eines Gebüsches niederließen, um auszuruhen. Hier vernahmen wir ein Brüllen, das dem Donner glich, und ein ungeheurer Tiger fiel sogleich über unsern unglücklichen Freund hex, packte ihn und lief mit ihm in das Gebüsch zurück, und als er ihn durch die dicksten Gebüsche und zwischen den Bäumen hintrug, gab alles, was ihm in den Weg kam, seiner außerordentlichen Stärke nach. Eine Tigerin gesellte sich zu ihm und folgte ihm nach. Wir alle waren vor Schrecken ganz außer uns. Ich schoß auf den Tiger. Er schien beunruhigt zu werden. Meine Gefährten schoflen ebenfalls, und bald darauf kam unser unglücklicher Freund wieder bei uns an und war ganz in Blut gebadet. Alle ärztliche Hülfe war vergeblich: nach vierundzwanzig Stunden gab er den Geist auf. Wir machten gerade ein gro­ ßes Feuer an, als jenes Unglück geschah; die Anzahl der Eingeborenen, die sich bei uns befanden, betrug zehn Personen, und dennoch hatte sich der Tiger nicht abhalten lassen. Kaum waren wir mit unsrem Fahrzeuge von dem Un­ glücksufer abgefahren, so kam auch die Tigerin wieder zum Vorschein und war ganz toll vor Wuth. Sie blieb auf dem Strande stehen, so lange sie uns sehen konnte." In einem, CircuS war mit vielen anderen wilden Thieren auch ein Tiger­ paar zur Schau aufgestellt. Eines Mittags ginA der Wärter, wie gewöhnlich, rum Esten, in der Meinung, daß seine vierfüßigen Schauspieler wohlbehalten iit ihren Käfigen wären. Es war aber nicht so. Der Käfig, welcher den Ti?er und die Tigerin enthielt, war in baufälligem Zustande, so daß das wilde Zaar losbrach. Während ihr Wärter schmause, dachten Herr und Frau Ti­ ger, komme ihnen Aleichfalls eine Mahlzeit zu. Demgemäß und da sie stet waren, warfen sie chre Augen in dem Gebäude umher, wie ein Schmarotzer

Dielitz und Heinrichs, deutsche- Lesebuch.

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in einer Garküche, und ersahen sich ein hübsches Lama zu ihrem MittagSschmause. Bei Annäherung des Tigerpaars wurde daS Lama scheu und grunzte laut aus. Das half nicht: der eine von der Tigerfamilie sprang ihm an die Gurgel, warf es nieder und zapfte im Augenblick die Halsader an. Die bei­ den Thiere schlürften nun mit großer Behaglichkeit und in herzlicher Eintracht das Blut des armen Lamas, das von diesen beiden katzenartigen Trunkenbol­ den bald ausgesogen war. Zu gleicher Zeit hatte der Wärter auch sein Mit­ tagsmahl beendigt, sein Gläschen getrunken und rauchte seine Cigarre, als er wieder hereintrat und fand, was hier vorging. Anfangs war er erschrocken, aber sein Muth verließ ihn nicht. Er wagte sich in den Kreis mit einer Schlinge, die er den beiden Bestien über den Kopf werfen wollte, während sie den letzten Tropfen Bluts noch aus dem Lama sogen. Die Tigerin, welche ihre Mahlzeit eher beendigte als ihr Gemahl, drehte sich herum, als der Wärter gerade im Begriff war, sie zu fangen, und machte Anstalt, auf ihn loszuspringen, wie die Katze, wenn sie eine Maus erblickt. Der Wärter fühlte das Gefährliche seiner Lage; aber mit großer Geistesgegenwart zog er sich hinter seinen Elephanten zurück, der von der andern Seite des Schauplatzes dem Austritt mit Gleichmuth zuschaute. Die Tigerin gab ihren Vorsatz nicht auf: sie machte einen Satz nach dem Wärter, als er vor dem Elephanten vorüber ging; aber gerade in diesem Augenblick stieß das kluge Thier, welches, wie es schien, die Gefahr seines Ltzärters bemerkte, seinen Rüssel mit der Schnelligkeit eines Pfeiles aus und schleuderte die Tigerin nach dem anvern Ende der Bühne. Ein wunder­ licher Tumult erhob sich plötzlich im Saale. Alle Paviane und Meerkatzen rasselten die Stangen hinan, und allen jagten die zornfunkelnden Augen der erbosten Tigerin Schrecken ein, den Elephanten, welcher seinen Rüffel nach seiner Heldenthat zierlich wieder einzog, und den Löwen ausgenommen, der in seinem Käfig wie ein Hund auf den Hinterpfoten saß und mit großer Würde und Gemüthsruhe drein schaute. Der Wärter kam nun hinter dem Elephan1er hervor, und indem er sich seinem Rüffel näherte, murmelte er einige Worte, welche das gescheidte Thier richtig verstand. Der Elephant entfaltete seinen Rüssel, der Wärter setzte sich darauf und wurde im Augenblick auf den Rücken seines Retters gehoben. Unter der Zeit hatte sich die Tigerin von der Schlappe, die sie erhalten hatte, wieder erholt und machte aufs neue Anstalt, nach dem Wärter zu springen, der auf dem Rücken des Elephanten saß. Der Elephant gewahrte es und nahm dagegen seine Maßregeln. AufS neue machte die Ti­ gerin einen Satz nach dem Manne, und von neuem legte sich der Elephant mit seinem Rüffel ins Mittel und schleuderte die Tigerin zum zweitenmal bis ans fernste Ende des Circus. Dieser Schlag verwundete die Tigerin in der Seite, und da sie fand, daß ein Versuch, des Wärters Pulsader anzuzapfen, vergeblich war, so kroch sie mit dem, was sie davon getragenem den Käfig. Wahrend dies vor sich ging, hatte der Tiger angefangen, sich nmzuschauen, um zu sehen, was für Kurzweil er sich nun machen könne. Indem er den Kopf von dem Lama aufrichtete, war das erste, das ihm in die Augen siel, der Löwe, der mit Stolz und Gleichmuth in seinem Käfig saß. Der Tiger sprang mit großer Wuth auf den Käfig zu, indem er eine Klaue durch zwei Stangen durchklemmte; in demselben Augenblicke aber machte der Löwe einen Griff nach des Tigers Bordertatze, packte sie fest mit seinen Zähnen, zog das ganze Bein in den Käfig hinein und hielt ihn, bis der Wärter die Gelegenheit ersah, sich öon dem Rücken des Elephanten Herabschwang, mit seiner Schlinge auf den Tiger zulief und ihn in einem Augenblick festband. Nachdem dies geschehen war, ließ der Löwe seinen Fang großmüthig los, und der Wächter schleppte den Tiger nach seinem Käfig. So wurde durch eine seltsame Verket­ tung von Umständen, in welchen der Verstand und der Rüffel des Elephanten

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nicht weniger, als die Zähne und die Gemüthsart des Löwen eine wesentliche Rolle spielten, der Wärter aus den Klauen des Tigers und der Tigerin erlöst.

Nach 11 en) und Reichenbach.

22. Der Kampf der Riesenschlange mit dem Tiger. An einem Morgen sahn wir nach den Palmen wieder; Da war's, als hing' ein Ast vom höchsten Gipfel nieder, Ein Ast, der wunderbar sich auf- und niederzog, In Schlangenwindungen sich hin- und wiederbog. Als den Verschlingungen wir zugesehen lange, Erkannten wir, es sei die Königsriesenschlange. An Dicke wie ein Mann und sechzig Fuß an Länge, So schätzten wir, daß sie von eben niederhänge. In Lüsten war der Schweif, verhüllt von Palmenlaub, Der Rachen erdennah, weit aufgethan zum Raub, Weit aufgethan zum Raub ohnmächt'ger kleiner Thiere, Die ihr Verhängniß trieb zu diesem Jagdreviere. Sie schien, am Zorngebrüll des Tigers war's zu hören, Zu schmälern seine Jagd und sein Gehea zu stören. Da trat er, wie zum Kampf gerüstet, selbst hervor, Und jene ringelte sich in sich selbst empor. Doch als grad' unter ihr er hob den stolzen Nacken, Schoß sie ihr Haupt herab, von hinten ihn zu packen. Er krampfte sich zurück, als sie mit einem Biß Ein ungeheures Stück vom bunten Fell ihm riß. Daran hielt sie ihn fest, ließ dann von oben nieder Stets mehr und mehr von sich und schnürt' ihm alle Glieder. In ihrem Rachen ward des seinigen Geheul Erstickt, und athemlos preßt' ihn der Riesenknäul. Zu schwach doch, daß ihr Druck allein den Feind zermalme, Zog sie zur Hülfe bei den Schaft der Kokospalme. Sie zog zum Schaft hinan den Tiger, und ein Krach War hörbar, als sie ihm die eh'rnen Rippen brach. Am Boden lag er nun, sie aber kampfeSmatt Zog sich, um auSzuruhn, hinauf ins Palmenblatt. Einwürgend hatte sie den Tag vollauf zu thun; Darüber Nacht es ward, und wir sie ließen ruhn. Am dritten Morgen war herbeigeströmt die Schaar Bon Weib und Greis und Kind; vorbei ist die Gefahr. Da lag die Siegerin, die starre, schlaffe, matte, Die an dem Siegesmahl sich übernommen hatte. Sie mochte sich getraun, den Tiger ohne Graun Zu tobten, aber nicht, den Todten zu verdaun.

Rückert.

23. Die Schlangen. Die Schlangen, welche sich von den übrigen Amphibien durch ihren fuß­ losen, mit Schuppen bedeckten Körper unterscheiden, sind unter allen Amphibien mit Recht für den Menschen die ekelhaftesten und auch die gefährlichsten. Au­ ßerdem daß es unter ihnen welche giebt, die große Thiere, z. B. Stiere, wie viel mehr Menschen verschlingen können, sind auch viele von ihnen so giftig, daß ihr Biß nach wenigen Minuten tödtet. Dieses Gift ist in eigenen Drüsenbläschen oben und hinter den hohlen, gebogenen, wie Katzenkrallen verschieb-

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baren und zurückziehbaren Gifizähnen enthalten. Die Schlangen, besonders die giftigen, haben meist einen häßlichen, zum Theil etwas moschuSartigen Ge­ ruch. Manche, besonders die ungiftigen, haben sehr bunte, mannichfaltige Farben. Die Klapperschlange, die sich durch häutige, dürre, gliederweise in einan­ der gefügte Klapperstücke am Schwänze unterscheidet, ist eine der abscheulichsten und furchtbarsten unter allen Schlangen, und es ist gut, daß sie so weit von uns, in Amerika und Afrika, lebt. Sie wird zuweilen sechs Fuß lang und achtzehn Zoll im Umfang gefunden. Ihre tückischen Augen funkeln wie glü­ hende Kohlen, die schwarze, gespaltene Zunge bewegt sich immer hin und her. Sonst ist die Farbe des Thieres traurig und häßlich grau. Jedes Jahr setzt sich am Schwänze ein neues Klapperstück an. Alte Colonisten in Amerika er­ innern sich, daß sie sonst welche mit einundvierzig Klapperstücken gesehen ha­ ben; jetzt findet man sie nur noch mit zwölf. Zum Glück verräth sich die Nähe dieses furchtbaren Thieres, dessen Biß einen Menschen in wenig Minu­ ten tobtet, theils durch den abscheulichen Geruch, den eine solche Schlange von sich giebt, noch mehr aber durch das Klappern des Schwanzes bei jeder Bewe­ gung. Ist es aber nasses Wetter, dann klappert sie nicht und ist so am ge­ fährlichsten. Zuweilen werden wohl Menschen, die von Klapperschlangen gebisien waren, durch die Anwendung der besten Mittel wieder geheilt; aber sie behalten dann für immer an den gebissenen Theilen Schmerzen, die von Zeit zu Zeit heftig wiederkomrüen; auch bleibt eine Schwäche zurück. Die Klap­ perschlangen vermehren sich sehr stark, und die Kolonisten, die zwar manche, besonders wenn sie im Winter schaarenweise in ihren Löchern erstarrt liegen, umbringen, würden nickt im Stande sein, sich ihrer großen Anzahl zu erweh­ ren, wenn nicht wahrscheinlich diese Thiere selbst unter einander oft uneins wären, sich bissen und dadurch gegenseitig vergifteten und tödteten, und wenn nicht die Sumpfvögel und andere Thiere, sogar das zahme Schwein, viele ver­ tilgen hülfen. Nach älteren und neueren Nachrichten soll diese Schlange wirk­ lich eine gleichsam bezaubernde oder betäubende Eigenschaft gegen kleine Thiere, von denen sie lebt, ausüben, wodurch diese immer näher zu ihr hingezogen und so leicht von ihr verschlungen werden. Die Riesenschlange ist schon viel buntfarbiger, auch nicht giftig, wie die Klapperschlange; aber ich möchte doch keine in meinem Hause haben und noch weniger eine anbeten, wie manche abgöttische Völker thun, vie gerade nur das sklavisch ehren, was sie fürchten müssen, nicht, wie wir, den Gott, der uns liebt, und den wir wieder lieben. Sie wird in den heißen Ländern, in denen ihre Heimath ist, manchmal gegen dreißig Fuß lang und so dick, daß Reisende, die durch Grasgegenden kamen, wo eine solche Schlange in der kühlen Zeit der Regenmonate erstarrt lag, sie für einen Baumstamm hielten, aber freilich erschrocken genug davon flohen, wenn sie bemerkten, daß sich der vermeintliche Baumstamm zu bewegen arrfing. Denn diese gefräßige Schlange frißt nicht blos Menschen, sondern auch große Thiere und würgt sie in ihren weiten Ra­ chen hinunter. Wenn sich aber eine solche Schlange recht satt gefreßen hat, dann liegt sie einige Zeit ganz still und kann sich, wie gelähmt, gar nicht be­ wegen. Dann suchen die Neger oder Indianer sie auf und schlagen sie tobt, ziehen ihr das bunte Fell ab und genießen das Fleisch, das so fett sein und so schmecken soll, wie Schweinefleisch. Uebrigens lassen sich auch zu andern Zeiten die Neger und Indianer mit der Riesenschlange in siegreiche Kämpfe ein. Die Natter hat am Rücken kleine, am Bauche größere und breite Schup­ pen, die bis zum Aster ungeteilt, hinter dem After aber immer in zwei ge­ theilt sind. Bon dieser Thiergattung leben besonders in den schönen Palmen­ ländern, wo es so tausendfältige bunte Blumen, herrliche Früchte und kostbare

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Edelsteine giebt, >so viele furchtbar giftige Arten, deren Biß in wenig Minu­ ten tödtet, daß einem schon dies allein jene schönen Länder gar sehr verbittern kann. Denn oft, wenn man seine Hand nach einer prächtigen Blume oder Frucht ausstreckt oder sich auf einen smaragdgrünen Rasen niedersetzen will, schießt eine giftiae Schlange heraus und nimmt alle Freuden sammt dem Le­ ben selber weg. Ja nicht einmal in seinem eigenen Hause ist man davor sicher, und jene Schlangen verbergen sich selbst in den Schlafkammern, fahren plötzlich, wenn man eine Thür öffnet, auf einen herein und verstecken sich selbst unter den Bettstellen. Darum will ich denn doch lieber in meinem Lande bleiben, wo es zwar keine Palmen- und Bananeufrüchte, aber doch auch nicht so viele gif­ tige Schlangen, Skorpionen und Tiger giebt, und es ist doch gut, daß jedes Land seine Freuden, aber auch jedes in demselben Verhältniß seine Plage hat, und daß, wo viel Lust, auch viel Last ist. Freilich ist auch die Furcht vor giftigen Schlangen zu überwinden, und in den Ländern, wo es die vielen gif­ tigen Arten giebt, gewöhnen sich die Menschen am Ende so sehr daran, daß ein Missionär, der auf den Nicobarinseln wohnte, mit seinen dicken Lederstie­ feln, einem Stocke mit einem Stachel und einem großen Filzhut bewaffnet, ordentlich auf den Fang der giftigen Schlangen, die er für Naturalienliebhaber in Europa sammelte, wie auf eine Lustjagd ausging. Er reizte die Schlange mit dem Stocke zum Zorn; wenn diese dann auf den Stock losfprang, hielt er seinen großen Filzhut wie einen Schild hin, die Schlange biß wüthend hin­ ein, und nun riß er ihr die krummen Gistzähne, die ganz locker in den Kinn­ laden stehen und sich in den Filz verwickelt hatten, heraus und brachte das Thier um. Schubert.

24. Die Sahara. Das ganze nördliche Afrika ist mit Ausnahme der Küstenländer von einer Sandwüste bedeckt, welche sich fast siebenhundert Meilen in die Länge und zwei­ hundert Meilen in die Breite erstreckt. Die Sahara heißt bei den Arabern das Meer ohne Wasser, denn sie gleicht einem Sandocean, der, wie das Meer, seine Wellen und seine Stürme hat. Auch Znseln fehlen ihr nicht, denn hier und da wird die Wüste von Oasen unterbrochen, angebauten, wasserreichen Land­ strecken, in denen Quellen und Bäche die Vegetation unterhalten, und welche der Reisende mit eben der Freudigkeit begrüßt, mit der ein vorn Sturm verfolgter Schiffer das rettende Eiland auffindet. Das Kameel ist das Schiff der Wüste, denn dieses Thier allein macht es dem Menschen möglich, die unermeßliche Sa­ hara zu durchreisen. Wie der Pirat den weiten Ocean, so durchstreifen räube­ rische Beduinen die Wüste, um die unglücklichen Reisenden zu überfallen und auszuplündern. Daher vereinigen sich diese in der Regel zu großen Gesellschaf­ ten oder Karawanen, welche oft auö vielen tausend Kameelen bestehen und ihre Führer, ihre Abtheilungen und ihre durch das Alter geheiligten Gesetze haben. So gilt überall der Grundsatz, daß eine Karawane, die mehrere Tage bei einem Brunnen geruht hat, der später kommenden den Lagerplatz räumen muß. Oft kommt aber in solchem Falle das Recht deS Stärkeren zur Anwendung, und dann giebt es blutige Kämpfe. Versiegt gar ein Brunnen, der Jahrhunderte lang geflossen, so geräth die nächste Karawane in unbeschreibliche Noth. Da werden dann die Kameele geschlachtet, damit ihr Blut und der Wasiervorrath, den sie im Magen haben, das Leben der Menschen friste. Oft verschmachten ganze Karawanen, und täglich geben Menschen- und Thierskelette dem Wande­ rer Gelegenheit, an den Tod zu denken. Eine andere Gefahr droht dem Reisenden in den Sandstürmen. Ein Eng­ länder, der vor einigen Jahren durch die Wüste reiste, wurde von einem solchen

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Sturm überfallen und entging nur mit Mühe einem qualvollen Tode. „Der feine Sand, der den Boden bedeckte," erzählt er, „erhob sich plötzlich in solchen Masten, daß die ganze Atmosphäre damit angefüllt war, und wir kaum einige Ellen weit sehen konnten. Die Sonne war ganz verfinstert, und uns überfiel ein so peinliches Gefühl, als würden wir erstickt oder erdrückt. Kameele und Pferde wollten sich nicht von der Stelle bewegen, und uns selbst quälte ein so brennender Durst, daß wir kein Glied rühren konnten. Mit unsäglicher An­ strengung erreichten wir endlich eine Reihe unregelmäßiger Hügel, die uns we­ nigstens so weit schützten, daß wir etwas aufathmen konnten. In der Nacht aber erhob sich wieder ein solcher Sturm, daß unser Zelt umgerissen und wir ganz mit Sand bedeckt wurden." Wenn eine Karawane in Bewegung ist, so kann sie sich um diejenigen, welche sich verspäten oder zu schwach sind, um ihr zu folgen, durchaus nicht be­ kümmern. Man stelle sich nun das Loos eines Unglücklichen vor, der vor Durst oder Ermüdung sich nicht mehr bewegen kann, dessen Glieder in Fieberhitze bren­ nen! Er hofft, daß ein Augenblick Ruhe seine Kräfte wieder herstellen wird; er sieht seine Gefährten theilnahmlos vorüberziehen: endlich ermannt er sich, um dem Zuge zu folgen; aber seine schmerzenden Glieder sinken zusammen! Die Karawane ist vorüber gezogen; er sieht nur noch von ferne eine wandelnde Li­ nie; jetzt ist sie nur noch ein Punkt, und endlich ist auch dieser verschwunden. Seine irrenden Blicke suchen umher, und sehen nichts als die endlose Oede; er legt sich nieder, um zu sterben, und nach einigen Tagen ist von seinem Leich­ nam, den die Gluth des Bodens schnell vertrocknet, nichts mehr übrig, als aus­ gebleichte Gebeine. Aber nicht blos den verirrten, einsamen Wanderer trifft dieses Loos; -ft kommen ganze Karawanen in der Wüste um, und ungeheure Knochenhaufen zei­ gen dann späteren Reisenden die Stelle, wo die Unglücklichen verschmachteten. Denn wenn sich der Gluthwind erhebt, so ist die Wüste ein bewegtes Meer und gefährlicher als der tobende Ocean. In wenig Stunden ist ein Berg aufgethürmt, wo vorher eine Ebene war; doch nicht lange, so wird der Berg wie­ der durch die Luft zerstreut. Nicht selten folgt auf den glühend heißen Tag eine kalte Nacht, die dem schutzlosen Reisenden eben so große Qualen bereitet, wie die Hitze des Mittags. Auch bittere Täuschungen erfährt man in der Wüste, denn durch eine eigenthüm­ liche Luftspiegelung glaubt man oft ganz in der Nähe einen See oder einen Fluß zu sehen; der sich dann immer weiter entfernt und endlich ganz verschwindet. Auch erscheinen Mittags durch die Dünste alle Gegenstände vergrößert. So sieht der müde Reisende in der Ferne einen Baum, m besten Schatten er auSzuruhen und wenigstens auf kurze Zeit der brennenden Sonnengluth zu entgehen hofft; sobald er aber näher kommt, erkennt er seine Täuschung, denn was ihm ein Baum zu sein schien, ist ein kleiner Strauch, der sich kaum über den Boden erhebt. Dieliy.

25. Wiistenreise. Der Morgen bricht über die Wüste heran. Die Karawane schreitet in lan­ gem Zuge dahin und fördert ihre Schritte nach dem einförmigen Tone der Pfeife. Die Kameele sind mit Ballen beladen und mit Tüchern bedeckt. Auf ihnen sitzen die Mauren in bunten Turbanen und Mänteln, mit Dolch und Säbel bewaff­ net. Den Kameelen zur Seite gehen die schwarzen Sklaven. Boran reitet ein brauner, hagerer Araber, der gebietende Herr des Zuges. Das bunte Gewim­ mel ist in eine Wolke von Staub gehüllt. Die Sonne steigt nun empor, und die Karawane wendet sich ihr entgegen zum Gebet. Die Gluth der Sonne

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vermehrt sich; die wunden Sohlen schmerzen, die Glieder ermatten, ein brennen­ der Durst peinigt alle. Kein Strom, kein Grün, kein Strauch weit und breit. Auf heißen, schattenlosen Pfaden schreitet die Karawane vorwärts. Da läßt end­ lich, mitten in der Wüste verborgen, ein Quell seine leise Stimme vernehmen. Das Kameel hat ihn aus der Ferne schon gewittert und schreitet rascher voran, ihm nach lustig der ganze Zug. Plötzlich stehen die Thiere still und bäumen sich vor Lust. Ein Strahl der Freude glänzt auf allen Gesichtern. Man ist an der Stelle. Der ganze Zug wird in einen Kreis gestellt; die Quelle erquickt Menschen und Thiere. Man schlägt die Zelte auf und lagert sich für die Nacht, Ein paar trockene Dornbüsche und gesammelter Kameeldünger geben Holz und Kohlen zum Feuer. Das Wasser aus den frisch gefüllten Schläuchen schmeckt vortrefflich. Einige Araber backen Brot, indem sie den Teig aus Bohnenmehl in einer hölzernen Schüssel kneten und die dünnen, runden Scheiben in heiß ge­ machtem Sande gar werden lassen. Noch heiß verschlingen sie die Hungrigen und trinken Kameelmilch dazu. Ein brennendes Roth breitet sich plötzlich über den Himmel und die Sandfläche aus; die Sonne ist untergegangen. Die kurze Dämmerung verschwindet schnell, und der Mond wirft sein bläuliches Licht über die einsame Landschaft. Es ist Nacht unter dem Zelte. Die Pferde wiehern, die Kameele schreien, die Feuer rauchen, das Licht der Lampe schimmert durch das gestreifte Zeug des Zeltes. Gedanken an ein ruhiges Leben, an die Heimath, die Familie steigen in der Seele auf, während man müde das glühende Haupt auf den Sattel niederlegt, der statt des Kopfkissens dient. Um die roth­ flackernden Feuer lagern sich draußen die braunen Araber in ihren weißen Män­ teln. Die Einen schlafen, die Anderen erzählen sich Märchen oder selbsterlebte Abenteuer von überfallenen Karawanen oder geplünderten Reisenden. Es wird dem Fremden ganz unheimlich unter diesen Räubern, die indeß, wenn sie ihren Lohn für das Geleit erhalten haben, die zuverlässigsten Menschen sind. Mor­ gens, während die Pferde aufgezäumt werden, reißen zwei oder drei Araber die' Pflöcke des ZelteS auS; sie rütteln an dem Pflocke, welcher als Pfeiler dient; er fällt, und das weit ausgebreitete Tuch, welches eine ganze Familie von Rei­ senden bedeckt hat, gleitet und fällt selbst zur Erde herab als ein kleiner Ballen Zeug, den ein Kameeltreiber unter den Arm nimmt und an den Sattel seines Thieres hängt. Es bleibt auf dem leeren Platze, auf welchem man so eben noch wie auf einem Wohnorte sich eingerichtet hatte, nichts übrig als ein klei­ nes verlassenes Feuer, das noch raucht und bald in der Sonne erlischt. Sind alsdann die ledernen Schläuche frisch gefüllt, die Zelte abgebrochen und die La­ dungen den Kameelen aufgeschnallt, so ertönt die Pfeife wieder in lustigen Wei­ sen, und die Reise geht weiter. Wochen schwinden vorüber. Eine Einöde ver­ liert sich in die andere. Heiße Tage folgen auf kalte Nächte. Den Tag über geht der Müde im Schatten des Kameels, es wendet sich gegen ihn und leckt ihm die Hand; in der Nacht erwärmt es ihn. Die Schläuche werden leer, die Tage heißer. Die Schritte der Reisenden erlahmen. Da wird das treue Ka­ meel der Retter seines Herrn. Mit seinem Blute erkauft es das Leben des GebieterS. Das Oeffnen einer Ader am Halse giebt dem Thiere den Tod. Das herauSquillende Blut wird flüssig getrunken oder, durch Kochen verdickt, gegessen. Das krystallhelle Wasser im Magen deS geschlachteten Kameels labt die Durstenden, welche nun Kraft genug haben, das grüne Gestade des Sand­ meers zu erreichen und ans Ziel ihrer Reise zu gelangen. Lauckhard.

26. Gelungene List. Während des letzten Krieges segelte ein mit Seide und Baumwolle reich beladenes Schiss von Smyrna nach Marseille. Unweit der französischen Küste

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hatte es aber das Unglück, einem englischen Kaper zu begegnen, dem eS nicht entkommen konnte. Ohne die Geistesgegenwart des Kapitäns war eS verloren. Als dieser sah, daß die Flucht unmöglich war, ließ er die ganze Mannschaft in den Schiffsraum hinabsteigen und niemand auf dem Verdecke, als einen verschmitzten Ragusaner, dem er seine Rolle schnell einprägte. Der Engländer näherte sich und feuerte eine Kanone ab, worauf der Ra­ gusaner ein weißes Tuch als Nothzeichen wehen ließ. Jetzt kam der Kaper

noch näher und befahl ihm durch das Sprachrohr, die Flagge zu streichen. „Ach Gott, mein Herr!" antwortete der schlaue Matrose, „dazu habe ich die Kraft nicht mehr. Kommt, nehmt das Schiff; ich bin nur ein armer-Reisen­ der und ganz allein auf dem Verdecke. Wir kommen von Smyrna; der Ka­ pitän und die halbe Mannschaft sind unterwegs gestorben. Unten im Raum liegen noch sechs Pest-Kranke; Gott weiß, ob sie noch leben. Ich selbst be­ finde mich schon gar nicht wohl und bitte euch um Gotteswillen, mich iu ret­ ten!" „Geh zum Teufel!" schrie der Kaperkapitän; „ich möchte deinem Schiffe nicht zu nahe kommen, und wenn es mit den Schätzen Perus beladen wäre." „Aber ich bin ja nicht euer Feind," erwiderte der Ragusaner, „die Franzosen sind alle todt oder liegen in den letzten Zügen. Laßt mich um aller Heiligen willen nicht hülflos!" Da setzte der Kaper ein Boot aus, ließ ihm an einer langen Stange ei­ nige Flaschen Weinessig reichen und entfernte sich dann so schnell als möglich. Am andern Tage lief das französische Schiff, auf dessen Verdeck nun wie­ der Leben war, glücklich in Marseille ein. Aus Dieliy' Skiyenbuch.

27. Eine Fahrt auf dem Missisippi. Nach einer günstigen, obwohl etwas langsamen Fahrt erreichten wir am Weihnachtstage die Mündung des Missisippi. Der Anblick dieses gewaltigen Stromes, der seine trüben Wafsermassen in das tiefe Blau des Golfs von Mexico ausströmt, bewies uns, ehe wir noch irgend einen Gegenstand an sei­ nen Ufern unterscheiden konnten, daß wir uns dem Lande näherten. Daher schauten wir mit Vergnügen auf die trüben Gewässer, die uns jetzt aufnah­ men; denn so ungern wir uns von den klaren, blauen Wellen trennten, deren wechselnde Gestatten uns mannichfache Unterhaltungen gewährt hatten, so wa­ ren wir doch durch eine siebenwöchentliche Seereise zu sehr ermüdet, als daß wir nicht jedes Zeichen von der Annäherung des Landes freudig begrüßt hät­ ten. Nie habe ich eine so grauenvolle Scene gesehen als diese Einfahrt in den Missisippi. Nur ein einziger Gegenstand, der Mastbäum eines Schiffes, wel­ ches hier vor langer Zett gescheitert ist, ragt aus der wogenden Wafsermasse hervor, ein ernster Zeuge der Vernichtung, welche hier den unkundigen Schiffer bedroht. Nach und nach erblickten wir Schilfgrnppen von ungeheurer Hohe, und zahlreiche Flüge Pelikane standen auf den langen, schlammigen Inseln, welche sich nur einige Fuß über die Oberfläche des Wassers erhoben. Schon waren wir den Strom mehrere Meilen hinaufgefahren und hatten noch nichts gesehen als schlammige Ufer, ungeheure Schilfmassen und hie und da ein altes Krokodil, das sich im Sumpfe seines Daseins freute. Jeden Au­ genblick wurde unsere Fahrt durch die ungeheuren Holzmassen unterbrochen, welche Jahr au&, Jahr ein den Strom hinabfließen und immer ihren Weg zu einer der Mündungen finden. Es sind dies Bäume von ungeheurer Länge, welche durch die heftigen Orkane mit allen ihren Zweigen, oft auch mit den vollstän­ digen Wurzeln m den Strom gestürzt werden. Nicht selten verwickeln sich meh­ rere derselben und sammeln zwischen ihren Aesten eine Menge umhertreibenden Gestrüpps, das der ganzen Masse das Ansehn einer schwimmenden, mit Wald

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bedeckten Insel giebt. So trübe das Bild war, das sich vor uns ausbreitete, so erquickten uns doch die Hellen Farben des tropischen Pflanzenwuchses. Die Ufer blieben zwar fortwährend flach; indessen erhielt die Scene durch die Land­ sitze der Pflanzer, durch die Zuckerplantagen und die Negerhütten bisweilen ein freundlicheres Ansehn. Auch war uns die Form und die ungewöhnliche Höhe der Bäume und Pflanzen so neu, und wir hatten so lange den Anblick des Lan­ des entbehrt, daß wir jetzt selbst diese sumpfigen Ufer schön fanden. Am zwei­ ten Tage erreichten wir Neu-Orleans. Wir konnten hier nur wenige Stunden verweilen, da uns dringende Geschäfte nach St. Louis riefen. Unter den un­ zähligen Dampfschiffen, welche in diesem Lande der Seen und Flüsse die Stelle der Eilwagen vertreten, wählten wir eins der größsten und schönsten, „das Bel­ vedere" genannt. Es übertraf alle europäischen Dampfschiffe, die ich kennen gelernt hatte, an Größe und Eleganz; namentlich war das Hauptzimmer, wel­ ches durch eine doppelte Reihe von Fenstern erhellt wurde, auf das geschmack­ vollste eingerichtet, und ebenso war die Damen-Kajüte auf das schönste verziert und mit allen Bequemlichkeiten versehen. Während unserer Fahrt war das Wet­ ter so schön, daß wir uns am Tage beständig auf der Gallerie aushielten, welche rund um die Kajüten läuft. Noch viele Meilen über Neu-Orleans hinaus blei­ ben die Ufer ununterbrochen flach; überall aber wuchert die zierliche, kleine Palme, die dunkle Steineiche, die strahlende Orange, in deren Anschauen wir nicht er­ müdeten. Dann und wann, wenn das Boot anhielt, um Holz einzunehmen, benutzten wir die Gelegenheit, auf einige Minuten ans Land zu gehen, und bisweilen hatten wir selbst Zeit, die naheliegenden Zucker- und Baumwollen­ pflanzungen zu besuchen. An einem oder zwei Punkten wird die ermüdende Waldlinie durch grünende Hügel angenehm unterbrochen; der Strom aber bleibt immer derselbe, eine ungeheure, zuweilen zwei bis drei Meilen breite Grube, in der sich flüssiger Schlamm sechs Meilen in der Stunde hinwälzt, mit zahl­ losen schwimmenden Bäumen und Holzklötzen. Hätten wir nicht hin und wie­ der einige Haufen von hölzernen Häusern gesehen, die man Städte nennt, und denen man gewöhnlich einen pomphaften griechischen oder römischen Namen giebt, wir hätten glauben können, die ersten menschlichen Wesen zu sein, die in dieses Gebiet der Bären und Alligators einzudringen wagten. Hier und da tauchte auch die einsame Hütte eines Holzhauers auf, der trotz der gewissen Aussicht auf einen frühen Tod sich in dieser ungesunden Gegend angesiedelt hatte, um die Dampfschiffe mit Holz zu versorgen. Diese traurigen Wohnungen stehen im Winter fast alle unter Wasser; nur die besseren ruhen aus Pfählen und sichern dadurch ihren armseligen, hohlwangigen Bewohnern einen stets trocknen Zufluchtsort. Zu den mancherlei Leiden dieser unglücklichen Menschen gesellt sich noch, wie ich hörte, die Furcht vor den Angriffen der an manchen Stellen des Flus­ ses sehr zahlreichen Krokodile. Man erzählte uns von einem Holzhauer, wel­ cher sich dicht am Ufer einen Platz ausgesucht hatte, um sich daselbst eine Hütte zu bauen. Eine solche war auch bald aufgerichtet, denn Liebe zum Branntwein versammelt schnell die armselige Nachbarschaft um den neuen Ankömmling, um ihm Bäume fällen und die Stämme aufrichten zu helfen, bis die Wohnung fertig ist. So war es auch hier. Die Frau und fünf kleine Kinder sahen sich bald im Besitz ihrer neuen Heimath und schliefen ruhig nach einer langen, er­ müdenden Reise. Da ward der Vater gegen Morgen durch einen dumpfen Schrei aufgeweckt, und indem er sich aufrichtete, erblickte er mit Entsetzen die Ueberreste von dreien seiner Kinder auf dem Boden umhergestreut, während ein ungeheures Krokodil mit mehreren Jungen beschäftigt war, auch die Reste des schauderhaften Mahles zu verschlingen. Vergebens sah er sich nach einer Waffe um, und überzeugt, daß er ohne eine solche njchts ausrichten könne, er-

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hob er sich vorsichtig von seinem Lager und krvch durch ein Fenster hinaus inS Freie, in der Hoffnung, daß sein Weib und seine zwei übrigen Kinder, die er schlafend verließ, bis zu seiner Zurückkunft von den Ungeheuern unentdeckt blei­ ben würden. Er eilte zu seinem nächsten Nachbar, flehte um Hülfe, und in weniger als einer halben Stunde kehrte er mit zwei Begleitern wohl bewaff­ net zurück; aber zu spät! Weib und Kinder lagen zerrissen auf ihrem blutigen Bette. Die gesättigten Thiere wurden mit leichter Mühe getödtet, und als der unglückliche Mann mit seinen Gefährten den Ort näher untersuchte, fan­ den sie, daß die Hütte dicht neben einer Höhle erbaut war, in welcher das Un­ geheuer seine verhaßte Brut aufgezogen hatte. Unter manchen andern Spuren der Verwüstung, welche diese Gegend dem Auge darbietet, hatten wir fast regelmäßig nach Sonnenuntergang das düstere Schauspiel eines Waldbrandes, und oft wogte in schwerem Gewölle der aufsteigende Dampf über unsere Häupter dahin. Als wir zwölf Tage hindurch die ununterbrochen fortlaufende Waldlinie bewundert und die verschiedenen Massen von Holz, die an uns vorüberzogen, unterscheiden gelernt hatten, sahen wir mit Sehnsucht dem Tage entgegen, der uns an unsern Bestimmungsort bringen würde. Doch sollte unsere Geduld noch eine harte Prüfung erfahren; denn an einem Morgen wurden wir plötz­ lich durch einen heftigen Stoß erschreckt und erfuhren dann, daß wir auf einer Sandbank festsäßen. Alle Versuche unserer Maschine, das Schiff loszumachen, waren vergeblich, und zu zwei Mittags- und zwei Abendmahlzeiten mußten wir uns niedersetzen, ehe wir einen Schritt weiter kamen. Mehrere Dampf­ schiffe zogen unterdessen an uns vorüber, aber auch sie waren nicht stark genug, um uns flott zu machen. Endlich näherte sich ein Dampfboot gleich einem Un-' geheuer, warf eiserne Haken auS, und in drei Minuten war eS geschehen; die Bäume glitten wieder sanft an uns vorüber, und ein allgemeiner Zuruf ver­ kündete die Freude sämmtlicher Passagiere. Am folgenden Tage landeten wir in St. LouiS. Während unserer Fayrt und unseres Aufenthalts in St. Louis hörten wir von mehreren Unglücksfällen, die sich kurz zuvor auf amerikanischen Dampfschiffen zugetragen halten. In der That kann man sich in Europa kei­ nen Begriff von der Sorglosigkeit machen, mit der man in Nord-Amerika auf Eisenbahnen, auf Dampfschiffen und in andern Verhältnissen, wo es sich um das Leben von Hunderten von Menschen handelt, zu verfahren pflegt. So er­ zählte uns der Kapitän unseres Schiffes folgenden Unglücksfall, der sich vor kurzem auf dem Missisippi zugetragen hatte. Am Sonntage, den 6. Mai 1837, sollte der „Ben Sherwood" von NeuOrleans abgehen. Die Passagiere, die sich an Bord befanden, trafen mancher­ lei Vorkehrungen zu einer Reise, die von einiger Dauer sein sollte, ohne die geringste Besorgniß in sich aufkommen zu lassen. Da die Schiffahrt erst seit kurzer Zeit wieder eröffnet war, und die meisten Dampfböte ihre Fahrten noch nicht begonnen hatten, so fand sich eine bedeutende Anzahl von Paffagieren am Bord deS Ben-Sherwood ein, was sonst schwerlich der Fall gewesen sein würde, da derselbe mit Baumwolle überladen und von schwerfälliger Bauart war. Der Himmel war heiter und wolkenlos, und Hunderte von Zuschauern standen am Ufer, um ihren Freunden Lebewohl zu sagen oder ihnen Aufträge mitzugeben. Um zehn Uhr setzte sich der Ben-Sherwood in Bewegung, anfangs mit der Langsamkeit und Würde des Schwans, dann aber durchschnitt er rasch die trü­ ben Wellen des Missisippi, indem er dichte Rauchwolken zum Himmel aufsen­ dete. Am Dienstag Abend kam ein anderes Dampfboot dem Ben-Sherwood zuvor, weil dieser einige Zeit beim Fort Adams angehalten hatte. Als meh­ rere Paffagiere ihr Bedauern darüber aussprachen, daß jenes früher in der Stadt Natchez ankommen würde, erklärte der Kapitän, dies könne er nicht zu-

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geben, und er werde dasselbe um jeden Preis einzuholen suchen. Sobald die Geschäfte beendigt waren, wegen welcher der Ben-Sherwood bei Fort Adams angehalten hatte, erging an die Schiffsmannschaft der Befehl, das Feuer stär­ ker zu schüren und die größtmögliche Kraft anzuwenden. Zur Befeuerung des Eifers wurde den Arbeitern ein Faß Branntwein preisgegeben und ihnen gestattet zu trinken, so viel sie wollten, woran sie es denn natürlich auch nicht fehlen ließen. So brach die Nacht herein; der Kapitän zog sich in seine Ka­ jüte zurück, und nur ein Offizier blieb auf dem Verdeck, um Wache nt halten. Während das Boot die Entfernung von Fort Adams bis zur Mündung des Homochilta zurücklegte, entzündete sich das Holz, welches vor den Kesseln aufgeschichtet war, und der Brand wurde nur unvollständig gelöscht. Als das Boot rasch längs dem Ufer dahinflog, rief ein Neger herüber, daß das Holz sich entzündet habe. ,, Schere dich zum Teufel!" war die Antwort. „O, Massa!" entgegnete der Neger, „wenn Sie sich nicht vorsehen, werden Sie früher als ich zum Teufel kommen." Indeß fuhr das Schiff immer weiter, indem es dichte Rauchsäulen zum Himmel aufschickte und bei jedem Räder­ schlage in seinen Grundfesten erbebte; denn die Bewegung war äußerst schnell. Es mochte ein Uhr Nachts sein, als ein Passagier, der auf dem Verdeck stand, plötzlich aus dem Holzstoße eine Feuersäule hervorbrechen sah. Es wäre da­ mals ein Leichtes gewesen, das Feuer zu löschen; aber "was vermochte der gute Wille weniger Besonnenen? In einigen Augenblicken nahm das Feuer mit furchtbarer Schnelligkeit überhand, und als der Kapitän auf das Verdeck stürzte, stand es schon in Flammen. In kurzer Zeit verbreitete sich die Nachricht von der drohenden Gefahr. Vergeblich suchte der Steuermann das Ufer zu gewin­ nen, denn da die Stricke des Steuers verbrannt waren, so wurde das Schiff vom Strome fortgetragen, bis es auf einer Sandbank sitzen blieb. Im ersten Schreck hatten sich einige Personen in einen Kahn geflüchtet, welcher hinten angehängt war. Vergeblich bemühte sich ein Passagier, der weniger selbstsüch­ tig oder muthiger war, sie zu bereden, daß sie die Böte den Frauen und Kin­ dern überlassen möchten. Statt aller Antwort ergriff einer sein Messer und durchschnitt die Stricke, an denen die Jolle befestigt war; nach wenigen Augen­ blicken schlugen indeß die Wellen über dem Boote zusammen, und keiner von denen, die sich darauf befanden, wurde gerettet. Hierauf wurde das zweite Boot hinuntergelassen, aber es füllte sich augenblicklich mit Wasser. Als diese letzte Hoffnung geschwunden war, entstand eine unbeschreibliche Verwirrung. Die einen, und diese bildeten die Mehrzahl, stürzten sich in das Wasser, um dem Feuertode zu entgehen; andere liefen in furchtbarer Aufregung hin und her. Von Zeit zu Zeit verkündete ein dumpfes Geräusch, daß der Fluß wie­ der ein Opfer ausgenommen habe. Das herzzerreißende Geschrei der Frauen und Kinder, die erstickende Hitze, welche immer weiter um sich griff, das Knar­ ren der Räder, welche nicht gehemmt worden waren, und das schmerzliche Ge­ heul der Pferde, welche von den Flammen ergriffen wurden, waren entsetzlich. Ein Passagier schwamm dem Ufer zu, mit einer Mutter und einem Kinde be­ laden. Zweimal sank jene, zweimal brachte er sie wieder in die Höhe; aber seine Kräfte schwanden, und er erlag unter dieser doppelten Last. Die Mutter bemerkte es. „Retten Sie mein Kind!" rief sie ihm zu, und, ihn loslassend, sank sie unter. Ihre Aufopferung begeisterte ihn zu neuen Anstrengungen, und mit Aufbietung aller seiner Kräfte gelangte er mit dem Kinde ans Ufer. Kurz vorher hatte sich das Dampfboot von der Sandbank losgemacht und schwamm, einer feurigen Kugel ähnlich, den Strom hinab. Die Unglücklichen, welche dasielbe noch nicht verlaffen halten, stürzten sich nun ins Wasser und verschwan­ den alsobald. Noch kurze Zeit, und das Geschrei der Ertrinkenden hatte auf­ gehört; es folgte eine noch schrecklichere Stille.

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Der glücklich Gerettete saß am Ufer, in düstere Betrachtungen versunken, als ein anderes Dampfboot sich der Unglücksstätte näherte und ihn wie einige andere Unglückliche aufnahm. Ein drittes Dampfboot, welches kurz nachher vorüberfuhr, rettete ebenfalls mehrere Menschen. Noch ein viertes Dampfboot steuerte auf das in Flammen stehende Schiff zu, und man glaubte, daß es dem­ selben zu Hülfe kommen wolle; nachdem es aber mit den anderen einige Worte ausgetauscht, ertheilte der Kapitän den Befehl, die Fahrt fortzusetzen, und die Wellen, welche unter dem Räderschlage aufrauschten, verschlangen mehr als ei­ nen Unglücklichen, der vielleicht noch hätte gerettet werden können. Plötzlich flammte ein heller Schein auf, es folgte eine furchtbare Explosion, und nun trat die tiefste Stille und völlige Dunkelheit ein. Das Betragen des Kapitäns, der bei dem brennenden Schiffe, ohne Hülfe zu leisten, vorüberfuhr, liefert einen neuen Beweis, wie wenig Werth man in Nordamerika auf das menschliche Leben legt. Diese Fühllosigkeit findet man in allen Klassen der Gesellschaft. Wie weit dieselbe geht, beweist folgender Zug. Auf einem Dampfboote entzündete sich das Holz, welches vor dem Dampfkessel aufgeschichtet war. Einer der Arbeiter schlief unterdessen ganz unbesorgt in seiner Hängematte. „Stehe auf," rief ihm einer seiner Kameraden zu, „das Holz hat Feuer gefaßt." „Ich wußte es, ehe ich mich schlafen legte," antwor­ tete dieser, ohne sich von der Stelle zu vühren. ?lU6 Dieliy' Stt);enbuch.

28. Die Holzfäller in den Wäldern von Florida. Die Halbinsel Florida ist zum größten Theil mit Fichtenwäldern bedeckt. Der Boden ist flach und sandig, in der Regenzeit weit und breit überschwemmt, im Sommer aber von der Sonnengluth versengt, obwohl man auch Sümpfe genug antrifft, in welchen die zahlreichen Viehheerden, die wild umherlaufen, ihren Durst löschen. Hier und da trifft der Reisende eine mit Eichen und an­ derem Laubholz bewachsene Stelle; je näher er ihr kommt, desto frischer und erquickender wird die Luft, die er einathmet; der Gesang unzähliger Vögel er­ freut sein Ohr; das Gras wächst üppiger, die Blumen haben lebendigere Far­ ben; ein balsamischer Duft verbreitet sich rings umher. Mit Entzücken hört der ermattete Wanderer das Murmeln eines klaren Quells, während Reben und Jasmin über seinem Hanpte von Baum zu Baum sich hinziehen. Kaum hat er in dem zauberischen Schalten eines solchen Haines seine Mittags­ mahlzeit bereitet, so bemerkt er Gruppen leicht gekleideter Männer, von denen jeder eine Axt auf seinen Schultern trägt. Sie treten heran, begrüßen einan­ der und machen sich sogleich an die Arbeit. Es sind Holzfäller, welche die ho­ hen Eichenstämme umhauen und an den nächsten Fluß schaffen, auf dem man sie dann weiter fährt, um sie zum Schiffsbau zu verwenden. Vor einigen Jahren, erzählt ein Reisender,aus Nord-Amerika, hatte ich Gelegenheit, die Holzfäller bei ihrer Arbeit zu beobachten. Ich mußte im Auf­ trage der Regierung Florida durchreisen, um mich von der Menge der noch vorhandenen Eichen zu überzeugen, die auf eine bedenkliche Weise abnimmt. Als ich mich eines Abends am Ufer eines Flusses niedergesetzt hatte und wegen des in Strömen herabfallenden Regens um ein Nachtlager sehr bekümmert war, trat ein Mann an mich heran und lud mich ein, in seine Hütte zu kommen, die, wie er bemerkte, nicht weit ablag. Mit Freuden folgte ich ihm. In sei­ ner kleinen Wohnung fand ich seine Frau, seine Kinder und mehrere Männer, die gleich meinem Wirthe Holzfäller waren. Das Abendessen war auf einem großen Tische aufgetragen, und man lud mich sogleich zu Gaste. Während der Mahlzeit erzählten mir die Männer von dem Lande und seinen Erzeugnissen; dann legten wir uns auf Bärenfellen schlafen und ruhten sanft bis zum Morgen.

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Ich äußerte den Wunsch, die kühnen Holzfäller bei ihrer Arbeit zu sehen, und verließ mit ihnen das Haus. Wir wanderten etwa eine Meile durch einen Fichtenwald, mit Aexteu und Flinten bewaffnet. Als wir an Ort und Stelle waren, fanden wir einen andern Trupp, der unser harrte. Das gemeinsame Frühstück war schon bereitet und bestand aus Rindfleisch, Fischen, Kartoffeln, einigen anderen Gemüsen und Kaffee. Alle diese wackern Leute hatten einen Appetit, der hem Mahle Ehre machte, und dabei unterhielten sie sich durch hei­ tere Gespräche. Unterdeß stieg die Sonne über die Bäume empor, und nun ging es frisch an die Arbeit. Mein Wirth war der Anführer und Aufseher; er bediente sich seiner Axt nur, um die Bäume zu untersuchen. Die andern, alles gesunde, rührige und handfeste Leute, hieben mit ihren geschärften Aexten auf zwei gewaltige Eichen und fällten sie nach langer, angestrengter Arbeit. Auf dem Rückwege erzählte mir mein gefälliger Wirth, daß diese Arbeiten nur wenige Monate des Jahres währen. Mit dem Anfang des Sommers verlasien die Holzfäller das einsame Land und kehren in ihre Heimath zurück; so­ bald der Winter herannaht, kommen sie wieder nach Florida. Doch bleiben manche, die ihre Familien mitgebracht und sich größere Häuser erbaut haben, mehrere Jahre hintereinander im Lande, obgleich sie hier mit verschiedenen Krank­ heiten und mit Mühseligkeiten aller Art zu kämpfen haben. Mein Wirth ge­ hörte ju den letzteren, und ebenso ein anderer Mann, der uns begleitete, und der mich einlud, die nächste Nacht in seiner Hütte zuzubringen. Beim Abend­ essen erzählte er mir folgende Begebenheit, die er vier Äahre vorher erlebt hatte. Der Holzfäller hatte eines Tages seine am Ufer erbaute Hütte verlassen, um sich mit der Axt auf der Schulter auf die Arbeit zu begeben. Es war Winter, und in dieser Jahreszeit bedecken oft so dichte Nebel das Land, daß man kaum dreißig Schritte weit sehen kann. Ueberdies haben die Wälder ein sehr einförmiges Ansehen, da ein Baum genau wie der andere auösieht; der ganze Boden aber ist mit so hohem Grase bedeckt, daß ein Many von gewöhn­ licher Höhe nicht darüber wegzusehen vermag. Die wenigen Fußpfade, welche die Holzfäller sich gebahnt haben, sind schwer zu erkennen, und oft kreuzen sich mehrere solcher Pfade. Da ist denn auch der, welcher mit der Gegend ganz vertraut ist, oft in Gefahr, in die Irre zu gehen. So ging es auch unserm Holzhauer. Er war schon mehrere Stunden gegangen, ohne an sein Ziel zu kommen, und vermuthete also, daß er über den Ort seiner Bestimmung hinaus sein müsse. Zu seinem großen Schrecken sah er bald darauf, als der Nebel verschwand, daß die Sonne bereits in die Mittagshöhe getreten, und daß die ganze Gegend umher ihm völlig fremd war. Jung, kraftvoll und wohlgemuth, wie unser Holzfäller war, bildete er sich ein, er sei nur etwas zu rasch und zu weit gegangen. Er kehrte also der Sonne den Rücken und schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Unterdeß verstrich die Zeit, und die Sonne sank lmmer tiefer; aber wohin er kam, blieben ihm alle Gegenstände völlig fremd. Hundertjährige Bäume kreuzten ihre mächtigen Aeste über seinem Haupte; das hohe Gras wurde immer dichter, jede Spur eines Pfades verschwand; kein lebendes Wesen war zu erblicken; alles war in Todtenstille versunken. Er irrte durch diese erstorbene Natur, wie eine abge­ schiedene, einsame Seele, welche die Grenze des Schattenreichs überschritten hat und keinem Wesen ihrer Art begegnet. In der That kann man sich nichts Schrecklicheres denken als die Lage eines Menschen, der sich in einem amerikanischen Urwalde verirrt hat. Anfangs glaubt man alle Gegenstände zu erkennen, die man erblickt, und während man nach anderen Gegenständen umherschaut, um sich wieder zurechtzusinden, aeräth man immer mehr in die Irre. Dieses Schicksal hatte auch unser Holzfäller.

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Die Sonne ging mit jenem r'öthlichen Glanz unter, der für den folgenden Tag große Hitze verheißt; ihre Strahlen erloschen allmählich, und bald war nur noch eine große feurige Scheibe am Horizont zu sehen. Jetzt erfüllten Tausende von Insekten mit ihrem Gesumme die Luft, die Frösche krochen quakend aus dem schlammigen Wasser, wo sie den Tag über sich versteckt gehalten, das Eichhorn kam aus seinem Loche hervor, und die heisere Stimme des Reihers verkündete seine Rückkehr. Bald ertönte auch der traurige Ruf der Eule, und der Abendwind säuselte durch die Bäume, von denen kalter Thau herabtröpfelte. Ach, es war kein Mond am Himmel, der sein mildes Licht über die schauer­ liche Scene ausgegossen hätte! Der Verirrte entschloß sich endlich, seine er­ matteten Glieder nicht weiter zu schleppen, und nahm auf dem feuchten Boden sein Nachtquartier. Er betete inbrünstig zu Gott, flehte für seine Familie um eine ruhigere Nacht, als diejenige war, die er jetzt zubringen sollte, und erwar­ tete mit fieberhafter innerer Bewegung das Licht des Morgens. Wie schrecklich lang mag ihm diese eisige Nacht in einer so schauerlichen Öede geworden sein!

Als der Morgen anbrach, fiel der in jenem Lande gewöhnliche Nebel. Der arme Mann erhob sich von dem harten, feuchten Lager und machte sich mit kummervollem Herzen wieder auf den Weg in der schwachen Hoffnung, irgend einen bekannten Gegenstand entdecken. Keine Spur von Fußweg leitete ihn; dennoch berechnete er, ate die Sonne über den Horizont emporstieg, wie viele Stunden des Tages er vor sich hatte, und eilte, so rasch er konnte, durch die Baumgruppen vorwärts; aber alle seine Hoffnungen waren eitel. Der ganze Tag verging in fruchtlosen Anstrengungen, den Weg nach seiner Wohnung zu finden, und als die Nacht wieder hereinbrach, hatten Müdigkeit, Hunger und Unruhe den Unglücklichen fast zur Verzweiflung gebracht. Er schlug sich vor die Brust und raufte seine Haare, und nur die frommen Lehren, die seine El­ tern ihm frühzeitig eingeflößt, konnten ibn abhalten, seinem Dasein freiwillig ein Ende zu machen. Von Hungerqualen gefoltert, warf er sich auf die Erde und nährte sich von den Wurzeln, die rings umher wuchsen. Diese zweite Nacht war noch schrecklicher und angstvoller, als die erste. „Ich kannte meinen Zu­ stand," sagte er mir, „und war überzeugt, daß ich in dieser Gegend umkommen müßte, wenn Gott mir nicht durch ein Wunder zu Hülfe käme. Mehr als zwölf Meilen hatte ich zurückgelegt, ohne einem Bache zu begegnen, der meinen Durst löschen oder auch nur meine verdorrten Lippen erfrischen konnte. Ich wußte, daß ich ohne ein Paar Tropfen Wasser unfehlbar sterben müßte. Meine Axt war meine einzige Waffe; vergebens sprangen Rehböcke und anderes Wild wenige Schritte weit an mir vorüber; ich konnte keines dieser Thiere erlegen, um meinen Hunger zu stillen! Lieber Herr, Gott behüte euch, jemals einer sol­ chen Prüfung ausgesetzt zu sein!" Vor lauter Entbehrungen und Leiden hatte der Unglückliche fast alle Erin­ nerung an das, was ihm begegnet war, verloren. „Einmal," sagte er, „er­ barmte sich Gott meiner und schickte mir eine Schildkröte in den Weg. Ich betrachtete sie mit Staunen und Entzücken. Obschon ich recht gut wußte, daß sie mich, wenn ich ihr langsam folgte, zu einem lebendigen Wasser führen würde, so erlaubten mir doch mein Hunger und Durst keinen Augenblick des Verzuges. Ich hieb das Thier mit einem Schlage meiner Axt entzwei und verzehrte es dann mit wüthender Gier. Nach wenigen Augenblicken war nichts als die nackte Schale übrig. O Herr, wie dankte ich Gott für dieses Labsal! Ich fühlte mich wie neugeboren. Am Fuße einer Fichte sitzend, blickte ich zum Himmel auf; ich gedachte meines armen Weibes und meiner Kinder; ich wiederholte meine brünstigen Danksagungen, und mein Vertrauen wurde wieder so lebendig in mir, daß ich fest überzeugt war, ich würde den verlorenen Weg und mein HauS wiederfinden."

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Der Verirrte blieb die ganze Nacht über am Fuße des Baumes, unter welchem er seine Mahlzeit gehalten hatte. Von einem tüchtigen Schlaf erquickt, trat er die beschwerliche Wanderung wieder an. Die Sonne zeigte sich in ihrer S Pracht; der Holzfäller folgte, wie an den vorhergehenden Tagen, der ng des Schattens; aber auch dieses Mal konnte sein Auge nur fremde Gegenstände erspähen. Schon war er der Verzweiflung wieder nahe, als er plötzlich eine im Grase kauernde Ratte bemerkte. Mit stürmischer Eile schwang er seine Axt und traf das Thier so gut, daß es augenblicklich verendete. Dann verzehrte er es hastig mit Haut und Haaren, und nun ging es wieder rüstiger vorwärts in dem endlosen Labyrinthe. Tage folgten auf Tage, Wochen auf Wochen. Der unglückliche Holzfäller nährte sich bald von Wurzeln, bald von Fröschen und Schlangen. Alles, was ihm auf der grauenvollen Wanderung in den Weg kam, fand er von köstlichem Geschmack; allmählich aber wurde er so abgezehrt und elend, daß es ihn große Anstrengung kostete, sich vorwärts zu schleppen. Vierzig Tage waren neid) sei­ ner Rechnung verflossen, als er endlich an das Ufer des Flusses kam. Seine Kleider sielen ihm zerfetzt vom Leibe; seine Axt war verrostet; das Haar hing ihm besudelt und verworren ins Gesicht; der ganze Körper glich einem mit Per­ gament überzogenen Skelett. Er hatte sich auf dem Sand am Ufer ausgestreckt, um zu sterben, als er plötzlich in seinen Fieberträumen die Ruderschläge eines Fahrzeuges zu hören glaubte. Er lauschte; aber dieser trostreiche Laut erstarb in der Ferne. War es nur ein Traum gewesen, die letzte Täuschung seiner Hoffnung? Der Unglückliche versank wieder in halbe Bewußtlosigkeit, als ein neues Plätschern von Rudern, dieses Mal kein Gaukelspiel seiner Phantasie, ihn erweckte. Er horchte mit solcher Spannung, daß der Flug einer Mücke ihm nicht entgangen wäre, und mit Entzücken vernahm er, wie menschliche Stim­ men in den Takt der Ruder sich mischten. Das Herz des armen Verirrten hüpfte vor Freude; es gelang ihm, sich aufzurichten. Gottes Auge sah den Unglücklichen, als er an dem breiten, im Sonnenstrahl flimmernden Strome kniete, und bald sollten ihn auch Menschenaugen sehen. Das Fahrzeug kam, nachdem es ein bewaldetes Vorgebirge umsteuert hatte, wirklich zum Vorschein und ruderte rüstig vorwärts. Der Verirrte stieß, als er es erblickte, einen schwa­ chen Schrei aus, einen Schrei freudigen Schreckens. Die Ruderer hielten an und schauten sich um. Ein. anderer Schrei dringt zu ihren Ohren, und jetzt erblicken sie den Rufenden. Das Fahrzeug steuert aufs Ufer zu; das Herz des Verirrten klopft lauter; sein Auge wird trübe; der Kopf schwindelt ihm; seine keuchende Brust schwillt hoch an. Das Fahrzeug landet, der Verirrte ist wie­ dergefunden! Dies ist keine Erdichtung; ich habe die Thatsache erzählt, wie der wackere Holzfäller sie mir mit Thränen der Rührung berichtet hat. In der Hütte des nämlichen Holzfällers habe ich sie, vier Jahre nach dem traurigen Ereigniß, selbst niedergeschrieben. Sein Weib und seine Kinder waren zugegen, und ich werde nie die Thränen vergessen, die ihren Augen entquollen, als sie diese rüh­ rende Geschichte, vielleicht schon zum zwanzigsten Male, mit anhörten. Ich be­ merke nur noch, daß der Wald, in welchen der schwer geprüfte Mann sich be­ gab, kaum zwei Meilen, der Fluß aber, an dessen Ufer man ihn fand, etwa zehn Meilen von seiner Wohnung entfernt ist. Er muß also, wie es unter sol­ chen Umständen zu geschehen pflegt, beständig im Kreise umhergelaufen sein. Nur die ungewöhnliche Stärke seiner Constitution und der erbarmende Beistand Gottes haben es ihm möglich gemacht, eine solche Probe zu bestehen. Magdin für ausländische Literatur.

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29. Ein Waldbrand in Nord-Amerika. Mit welchem Vergnügen, so erzählt derselbe Reisende, dem wir die vor­ stehende Mittheilung verdanken, mit welchem Vergnügen trat ich immer in eine einsame Waldhütte, wenn ich den Tag über den liefen Schnee mühselig durch­ wandert hatte und von dem schneidenden Hauch des Nordwindes fast erstarrt war! In welche Hütte ich auch trat, immer wurde ich mit patriarchalischer Gastfreiheit empfangen. Wenn das einfache, aber reichliche Mahl eingenommen war, plauderte ich mit meinem Wirth, und immer erhielt ich freundliche Beleh­ rung. Zum Schluß langte die Mutter die Bibel vom Simse, und der Vater las ein Kapitel mit lauter Stimme vor. Dann wurde ein einfaches, aber herz­ liches Gebet gesprochen und allen Lieben in der Nähe und Ferne eine glückliche Nacht gewünscht. Ich streckte meine müden Glieder auf einer Büffelhaut aus, und der Pelz eines ungeheuren Bären diente mir als Decke. Besonders gedenke ich noch eines Tages, den ich in der Provinz Maine in einer ähnlichen Hütte rubrachte. Ich war Abends eingekehrt und rüstete mich nach einer ruhigen Nacht zum Weitergehen; da fiel der Regen in solchen Strömen herab, daß ich der Bitte meines Wirthes, noch einen Tag bei ihm zu bleiben, gern Folge leistete. Nachdem wir das Frühstück eingenommen hatten, ging es an die Ar­ beiten deS Tages. Die Spinnräder der Frau und der Töchter schnurrten, die Knaben nahmen ihre- Lehrbücher zur Hand, mein Wirth aber setzte sich zu mir und erzählte mir von dem glücklichen Leben, das er mit den Seinigen führte. „Packe dich weg von hier, Hinz!" rief die Wirthin; „du hast mir schon gestern Abend den Regen von heute prophezeit, und jetzt fürchte ich, das Spiel deiner Pfote bedeutet noch Schlimmeres." Der Kater gehorchte; er sprang auf ein Bett und kugelte sich zusammen. Ich fragte meinen Wirth, was seine Frau mit den letzten Worten gemeint hatte, und er antwortete: „Meine Frau hat von Zeit zu Zeit gar besondere Ideen, denn sie glaubt, daß Thiere weissagen können. Was sie aber jetzt zum Kater gesagt, bezieht sich auf den Brand der Wälder, die uns umgeben. Obschon dies Ereigniß mehrere Jahre alt ist, so zittert sie doch noch bei der Erinnerung, als wäre es erst gestern passirt." Ich hatte schon von dem Brande erzählen hören, auf den mein Wirth anspielte, und war jetzt neugierig, etwas Näheres über denselben zu erfahren. Mein Wirth war gern bereit, meinen Wunsch zu erfüllen, und begann folgender­ maßen:. „Es ist nun zwanzig Jahre her, daß fast alle Lerchenbäume unserer Gegend von grünen, fast acht Zoll langen Raupen zerfreffen wurden. Dieses Schicksal traf dann auch einen Theil des übrigen Nadelholzes, so daß in weni­ gen Jahren sämmtliche Fichten und Tannen abgestorben niedersielen und die Erde mit ihren verschlungenen Zweigen bedeckten. So lag denn weit und breit das Nadelholz, das wegen seiner harzigen Natur ohnehin leicht entzündlich ist, auf ganzen Schichten von dürrem Laub und vertrockneten Pflanzen. Plötzlich gerieth das Holz in Brand. Einige gaben daS Unglück den Indianern Schuld, die sich entweder an uns Bleichgesichtern, wie sie uns nennen, rächen oder sich das Jagen leichter machen wollten. Andere aber, und zu diesen gehöre auch ich, erklären die Sache anders. Das Feuer konnte wohl schon dadurch entste­ hen, daß ein berdorbener Baumstamm gegen den andern fiel; denn es bedurfte ja nur der Reibung dieser harzigen Körper, um eine Flamme zu erzeugen. Die dürren Blätter am Boden waren leicht entzündet, dann kamen die Zweige und kleinen Beste an die Reihe, und so verbreitete sich die Feuersbrunst mit einer Wuth, der keine menschliche Macht Einhalt thun konnte. Nach wenigen Stun­ den brannte der Wald schon in einer Ausdehnung von vielen Meilen. Von einem Sturmwinde begünstigt, nahte das zerstörende Element bisweilen den Hütten der Waldbewohner mit so reißender Schnelligkeit, daß Hunderte vpn

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Familien urplötzlich fliehen und ihre ganze Habe zurücklassen mußten; ja, einige der erschrockenen Flüchtlinge wurden noch von den Flammen eingeholt und muß­ ten elend verbrennen." Mein Wirth redete noch, als ein Windstoß durch den Kamin eindrang und die Stube auf einen Augenblick stark erhellte. Die Frauen eilten zitternd nach der Thür, weil sie sich schon einbildeten, der Wald habe Feuer gefangen; aber sie erholten sich bald von ihrem Schrecken, weil der gewaltsamen Luftströmung keine zweite felgte. ,,Die armen Weiber!" sagte ter Wirth. ,,Was ich eben erzählt, hat ihre Befürchtungen wieder geweckt; sie gedenken des TageS, als die große Feuersbrunst uns alle aus unserem Hause trieb." Er hatte meine Neu­ gier so gereizt, daß ich ihn bat, mir die näheren Umstände dieser unheilvollen Begebenheit zu erzählen. „Wenn ihr," so sprach er mit einem Blick auf Frau und Töchter, „mir versprechen wollt, ruhig sitzen zu bleiben, auch wenn wieder solch ein Windstoß den Kamin herunterkame, so will ich weiter erzählen." Dann fuhr er fort: „Wir waren eine 9iad)t in unserer Hütte, die etwa eine halbe Stunde von hier entfernt stand, eingeschlafen, als das Wiehern unserer Pferde und das Brüllen unseres Biehes im Walde uns wenige Stunden vor Tages­ anbruch weckte. Ich nahm meine Flinte und ging vor die Thür, um zu erfah­ ren, welches Raubthier den Lärm verursachte. Meine Pferde sprangen wiehernd hin und her, und die Ochsen und Kühe rannten brüllend nach allen Richtungen. Indem ich um das Haus herumging, hörte ich deutlich daS Knistern der bren­ nenden Sträucher und sah, wie die Flamme sich uns entgegenwälzte. Ich eilte schnell wieder hinein und hieß meine Frau sich selbst und unser Kind ankleiden, auch unsere geringe Baarschaft zu sich stecken, derweil ich die zwei letzten Pferde anhalten und satteln wollte. Alles dies war bald geschehen, denn wir fühlten, daß die Augenblicke kostbar waren. Schnell saßen wir auf und ent­ fernten uns von den Flammen. Meine Frau, eine vortreffliche Reiterin, folgte idicht hinter mir; ich aber hatte unsere älteste Tochter, damals noch ein ganz !kleineS Kind, in dem einen Arm. Auf der Flucht sahen wir unS öfter um und bemerkten, daß das entsetzliche Feuer auf unsern Fersen war; eS hatte das Haus Ischon erreicht. Zum Glück war ein Waldhorn an meinem Iagdrock befestigt. Ich stieß mit aller Kraft meiner Lungen in dasselbe, um unser Vieh und unsere Hunde zusammen zu rufen. DaS Bieh folgte und auch wirklich eine Zeit lang nach, aber eS war noch keine Stunde verflossen, als sämmtliche Ochsen und Kühe plötzlich wie rasend ins Gehölz rannten; ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört. Selbst meine sonst jo gelehrigen Hunde wurden diesmal für meine Stimme taub und stürzten sich auf die Heerden von Damhirschen, welche vor uns her flohen, um dem Feuertode zu entrinnen. Von Zeit zu Zeit hör­ ten wir die Hörner unserer Nachbarn und schlossen daraus, daß sie in gleicher Gefahr waren. Dabei kam die Flamme uns immer näher, so schnell unsere Pferde auch liefen. Fest entschlossen, für unsere Rettung alles zu thun, ge­ dachte ich eines großen, etwa eine Meile entfernten Sees, dessen Gewässer den Gang der Flamme aufhalten konnten. Ich bat meine Frau, ihr Pferd mit der Peitsche recht anzutreiben, und so sprengten wir mit verhängtem Zügel daoon. Bisweilen mußten wir, wenn allzubedeutende Hindernisse im Wege lagen, dem Lauf unserer Rosse Einhalt thun; denn von Zeit zu Zeit häuften sich die gefallenen Bäume und die verdorrten Sträucher vor uns, als hätte man sie lbsichtlich hingeworfen, um dem fürchterlichen Feuerstrom, der uns verfolgte, wppelte Nahrung zu geben." „Schon fühlten wir die Gluth; ein heftiger Wind wehte über unsern Häupern, und der über von ganzen Himmel zitternde Flammenschein verdunkelte die belle des Tages. Ich verspürte große Mattigkeit und sah mit Schrecken die bläffe auf den Lippen meiner Frau, während das Gesicht unsrer kleinen TochDlelih und Hemrichs, deutsches Lesebuch. 22

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ter wegen seiner unnatürlichen Rothe unsere Bangigkeit noch vermehrte. Zwei Meilen waren auf raschen Pferden bald zurückgelegt; als wir aber zum See gelangten, fühlten wir uns kraftlos und mit Schweiß bedeckt. Der heiße Rauch war kaum noch zu ertragen, und bisweilen rollten Flammenwirbel über uns, die uns mit Entsetzen erfüllten. Am Ufer suchten wir eine vor dem Winde geschützte Stelle, ließen unsere Pferde laufen, wohin ihr Instinkt sie treiben mochte, tauchten im Röhricht unter und hielten uns bis an den Hals im Was­ ser. Immer mehr schwand unsere Hoffnung, von der Flamme verschont zu bleiben; doch das Wasser wirkte erfrischend und beruhigend, so daß wir wieder neuen Muth faßten. Die Feuersbrunst griff unterdeß immer weiter um sich und verzehrte alles, was in ihren Bereich kam. Selbst der Himmel hatte einen fürchterlichen Anblick; er zeigte unsern Blicken nichts als eine unermeßliche, rothe Wölbung, an welcher schwarze Rauchwolken hin und her fuhren. Unsere Kör­ per labten sich an der Frische des Sees, aber unsere Köpfe waren wie glühend, und das Kind fing an, jämmerlich zu weinen, daß uns die Brust zerspringen wollte."

„Der schreckliche Tag verging und wir fühlten bittern Hunger. Wild und Raubthiere schwammen in großer Menge an uns vorüber, und andere verweil­ ten in unserer Nähe, ohne sich um unsere Nachbarschaft zu kümmern. Ich hatte eine Flinte bei mir, und es gelang mir trotz meiner Schwäche, ein Sta­ chelschwein zu schießen, dessen Fleisch wir dann zn genießen versuchten. Ich weiß Ihnen nicht zu sagen, wie die Nacht vorüber ging. Die Feuersbrunst bedeckte das Land weithin mit ihren rauchenden Trümmern, und viele Bäume brannten eine Zeit lang aufrecht stehend wie Feuersäulen, oder sie fielen, ein­ ander kreuzend, nieder. Plötzlich umgab uns ein schwarzer, den Athem beengen­ der Rauch, und gleich darauf siel ein Regen von Asche auf uns herab. Ich wiederhole es: ich kann diese Nacht nicht beschreiben; sie hat nur eine schreckende Erinnerung in meinem Gedächtniß zurückgelassen."

Hier hielt mein Wirth inne und that einen tiefen Athemzug, als hätte die Erzählung ihn sehr angegriffen. Seine Frau brachte uns eine Kanne Milch zur Erfrischung; dann gab mir der wackere Mann das Ende seiner Erzählung. „Gegen Morgen," sagte er, „war die Hitze zwar noch nicht vermindert, aber der Rauch hatte sich wenigstens verdünnt, und frische Luft drang stoßweise bis zu uns. Als der Tag erschien, war die ganze Natur still, der Rauch verschwand immer mehr und fiel uns nur noch durch seinen abscheulichen Geruch beschwer­ lich. Die. Frische des Wassers wurde jetzt unangenehm, denn wir zitterten wie Fieberkranke. Endlich verließen wir den See und näherten uns einem brennen­ den Fichtenstamm, um uns wieder zu erwärmen. Was sollte aus uns werden? Dieser Gedanke war nach unserer Rettung der erste. Mein Weib drückte das Kind an ihren Busen und weinte bitterlich. Auch vom Hunger wurden wir noch gequält, allein wir konnten ihn jetzt leichter stillen. Mehrere in den See geflohene Damhirsche ließen ihre Köpfe sehen; ich schoß einen derselben, und wir brieten sogleich ein Viertel davon, nach dessen Genuß wir uns sehr gestärkt fühlten." „Das Land brannte immer noch an verschiedenen Orten, und es war ein gefährliches Wagniß, zwischen den halb verkohlten Bäumen zu gehen. Indeß erlosch der Feuerschein immer mehr in der Ferne, so daß wir uns, nachdem wir ein paar Stunden geruht hatten, auf den Marsch machen konnten. Zwei Tage und zwei Nächte irrten wir über Erde und Felsen umher, immer den Stellen ausweichend, wo die Feuersbrunst noch am Boden glühte, bis wir die vom Feuer verschont gebliebenen Laubwälder erreichten. Hier fanden wir bald eine Hütte, wo man uns freundlich aufnahm. Seit jener Zeit habe ich wacker

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gearbeitet, mein werther Herr, und wie Sie sehen, hat der Himmel mein Werk gesegnet/' Magazin für ausländische Literatur.

30. Bärenjagden. Der alte Rawlin, einer der eifrigsten Jäger in Arkansas, war mit meh­ reren seiner Freunde ausgezogen, um Hirsche zu jagen. Als die Männer den Wald erreicht und sich in zwei Abtheilungen getheilt hatten, schritten sie mit der größten Vorsicht weiter, indem sie dann und wann lauschten, ob kein Ge­ räusch zu vernehmen wäre. Plötzlich blieb Friedrich stehen, erhob seine Büchse und winkte Rawlin, zur Seite zu schauen. Fünf starke Hirsche mit stattlichen Geweihen weideten kaum achtrig Schritte entfernt friedlich neben einander und hatten keine Ahnung von der Nähe ihrer Feinde. Friedrich legte die Büchse an und wollte eben den stärksten von ihnen aufs Korn nehmen, als Rawlin ihm ärgerlich zuwinkte, einzuhallen. „Was fällt euch ein, Mann?" rief er mit leiser Stimme; „Büchse herunter! Ich glaube gar, ihr wollt nach einem er­ bärmlichen Hirsch schießen und uns die ganze Jagd verderben. Hört ihr das Rauschen und Rascheln dort in der Schilfschlucht? Wenn da kein Bär steckt, so giebt es keinen mehr in ganz Arkansas. Aufgepaßt jetzt! Laßt doch die ver­ dammten Hirsche!" rief er ärgerlich, als jener noch einen sehnsüchtigen Blick hinüber warf; „haltet die Augen auf den Boden und zertretet kein Holz wie­ der, wie vorhin! Habt auch mit Acht auf die Hunde, daß uns keiner vor der Zeit losbricht, denn jetzt giebt's Arbeit, dafür steh' ich euch!" Während sich die beiden Jäger mit äußerster Vorsicht und sehr langsam vorwärts bewegten, wurde das Rascheln, das Rawlins scharfes Gehör weit früher als Friedrich entdeckt hatte, immer stärker. Sie stiegen jetzt einen klei­ nen, mit Eichen bedeckten Abhang hinauf, der gewissermaßen das hohe Ufer des Flusses bildete und jedenfalls früher das Bette desselben von dem dahinter liegenden niedrigen Lande getrennt hatte. Der Baumwuchs der Hügel und des Sumpfes vereinigte sich an dieser Stelle, so daß, was nicht häufig der Fall ist, Kiefern friedlich neben Cypressen und Sumpfeichen gediehen; gleich dahin­ ter aber lag ein dichtes Gebüsch von jungem Schilf, Sassafrassträuchern und dornigen Schlingpflanzen, in welchem jetzt die Männer, vorsichtig heranschlei­ chend, einige dunkle Körper sich umherbewegen sahen. „Sind denn hier in der Gegend wildgewordene Schweine?" flüsterte Friedrich seinem Begleiter zu, indem er aufmerksam hinüberschaute. „Ruhig, ums Himmels willen!" entgegnete Rawlin mit kaum hörbarer Stimme; „drei Bären, bei allem, was lebt! Him­ mel, wären wir jetzt alle beisammen!" „Da kommt Dehart herangeschlichen," sagte Friedrich, der den jungen Mann auf dem Bauche herankriechen sah. „Gut, jetzt müssen alle drei unser sein!" betheuerte Nawlin. „Ihr, Friedrich, bleibt hier und nehmt das größere von den beiden Jungen aufs Korn; Dehart mag sich um jene Spitze herumschleichen und das andere nehmen, und ich will hier links in dem Grunde hinkriechen und die Alte befördern. Gebt aber nicht eher Feuer, bis ich geschossen habe; wir könnten sonst eins der Kleinen bekom­ men und uns die Alte entwischen lassen." Durch Zeichen, die Dehart schnell begriff, machte er diesen mit der Nähe und der Anzahl des Wildes bekannt und forderte ihn auf, es von der rechten Seite zu beschleichen. „Soll ich nicht lieber hinkriechen und ihm unsern Plan mittheilen?" fragte Friedrich. „Das ist nicht nöthig," sagte Rawlin. „Da er jetzt weiß, daß mehr als ein Bär hier ist, so muß er auch verstehen, was wir vorhaben, und Dehart hat schon manchen geschossen." Damit schlich er in Begleitung der Hunde durch das dichte Unterholz, während Dehart wieder rechts in den Büschen verschwand, und Friedrich auf der kleinen Anhöhe,' das Ganze überschauend, allein zurückblieb.

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Es war eine alte Bärin mit zwei etwa sechs Monat alten Jungen, und alle drei schienen emsig bemüht, einen halb verfaulten Baumstamm umzuwäl­ zen, um die darunter steckenden Würmer und Käfer zu bekommend Eigenthüm­ lich war die Art, mit der sie dabei zu Werke gingen. Die Alte stemmte sich aufgerichtet mit dem Rücken gegen den Stamm, faßte ihn danp mit beiden Vordertatzen und versuchte ihn auf diese Art umzudrehen; die Kleinen mußten dabei helfen, und Friedrich konnte, da er kaum dreihundert Schritte von den Thieren entfernt war, deutlich erkennen, wie die Alte eins der Jungen, daS sich ruhig neben den Stamm setzte, mit der Bordertatze zerrte und zur Arbeit anhielt. Endlich gab der Klotz ihren vereinten Bemühungen nach, und die Bärin war nun emsig beschäftigt, das sich findende Gewürm herauszukratzen; die Jungen aber, wahrscheinlich schon gesättigt, spielten umher und näherten sich mehr und mehr der Seile, auf welcher Dehart herbeigekrochen kam. Fried­ rich hielt es jetzt für Zeit, dem Kampfplatz ein wenig näher zu rücken, und war gerade bemüht, eine starke Eiche zwischen sich und die Alte zu bringen, um hinter dieser unbemerkt ein paar hundert Schritte herankriechen zu können, als eins der Jungen sich auf die Hintertatzen richtete und scharf ins Gebüsch schaute, einen Augenblick in dieser Stellung verharrte, dann an einer Cypreffe etwa sechs oder acht Fuß hinaufkletterte, um das niedere Gesträuch übersehen zu können, und den Kopf ganz schlau nach der Seite hinwandte, auf welcher sich Dehart befand. Da krachte deffen Büchse; laut aufschreiend ließ der junge Bär den Stamm los und stürzte in die dornigen Büsche zurück. Wie ein Blitz fuhr indessen das andere an einem schwachen Baum in die Höhe; schnau­ bend aber mit zurückgeleaten Ohren und weit geöffnetem Rachen stürmte die Alte zur Rettung ihres düngen herbei. Dehart mochte sie wohl kommen hö­ ren und die Gefahr, in der er schwebte, erkennen, denn mit wilden Sätzen floh er durch Dorn und Bl,sch dem höheren Lande zu, während die Bärin, noch ehe sie den Platz erreichte, auf dem das klagende und winselnde Thier lag, dem Geräusch und Krachen der Büchse folgte, und vor allen Dingen ihr Junges zu rächen und den Feind zu bestrafen bemüht war. Durch dre neue Gefahr fast betäubt (denn er hörte jetzt die gereizte Bestie in Wuth aufbrüllend dicht hinter sich), ließ Dehart die Büchse fallen, lief, Friedrich erblickend, der mit gespanntem Hahn auf den höchsten Punkt der Anhöhe gesprungen war, um wo möglich zum Schuß zu kommen, gerade auf diesen zu und rief, an ihm vorbeistürzend: „Schießt, schießt! um Gotteswillen schießt!" Auch Friedrich war durch die schnelle Entwickelung der Scene nicht wenig überrascht. Er blieb stehen und hob die Büchse, würde aber wahrscheinlich dem wüthenden Thiere, das sich ihm jetzt entgegenwarf, zum Opfer gefallen sein, denn unmög­ lich konnte er unter solchen Umständen seine Kugel mit Sicherheit absenden, wären nicht in dem Augenblicke Rawlins drei Hunde auf dem Kampfplatz er­ schienen. Diese warfen sich kaum fünfzehn Schritte von dem jungen Jäger mit grimmiger Wuth der Bestie entgegen, die mit emporgesträubten Haaren und fletschenden Zähnen den ersten zu Boden schlug und wenig länger als eine halbe Minute durch die Irenen Hunde aufgehalten wurde. Diese Zeit war aber von dem Schützen nicht unbenutzt vorüvergelassen worden, denn gerade in demselben Augenblicke, als die zur äußersten Wuth gebrachte Bärin die beiden anderen Hunde von sich wegschleuderte, zerschmetterte ihr seine Kugel daS Brust­ bein und durchwühlte ihre Eingeweide. Bon wüthendem Schmerz gepeinigt, warf sich die Bestie auf den Rücken und stöhnte wie ein verwundeter Mensch. Friedrich hatte kaum Zeit, sein breites Jagdmesser aus der Scheide zu reißen, als sie noch einmal mit fürch­ terlicher Krastanstrengung die beiden Hunde von sich schleuderte und wild um­ herblickend auf die Füße sprang, um den Feind zu erspähen und zu vernichten.

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Der Jäger stand bleichen Angesichts, aber fest mit dem Messer in der krampf­ haft geschlossenen Faust den gewissen Angriff erwartend. Da, als gerade der Bärin rollendes Auge dem seinigen begegnete, als ihre Blicke Feuer 311 sprü­ hen schienen, krachte plötzlich ganz in der Nähe ein zweiter Schuß, und mit zerschmettertem Hirne brach das wüthende Thier zusammen. In demselben Augenblick trat Thomson lachend hinter einem Baume, der ihn verborgen hatte, hervor und rief: „Blitz und Hagel! Ihr sitzt wohl hier zwischen lauter Bä­ ren? Das knallt ja in einem fort!" „Hört, Thomson," sagte Friedrich, „ich glaube, ihr seid diesmal gerade zur rechten Zeit gekommen, denn wenn ich die Bestie auch mit dem Messer umgebracht hätte, möchte meine Haut dennoch übel dabei weggekommen sein. Wie bösartig sieht doch ein solches Thier ans, wenn es zum Aeußersten getrieben wird!" „Nicht wahr?" schmunzelte Thomson, wenn man die Ohren nicht mehr sieht und glaubt, daß das ganze Gesicht aus weiter nichts als Zähnen und Zahnfleisch besteht, über dem ein paar glühende Kugeln sitzen? Hört, Friedrich, ihr hättet dabei sein sollen, wie wir im vorigen Jahre die alte Bärin dreimal angeschossen hatten, und diese nun schnaubend und bla­ send auf mich loskam!" „Aber, bester Thomson, wir sind hier noch gar nicht fertig," unterbrach ihn Friedrich; „das andere Junge muß noch auf irgend ei­ nem Baume sitzen." „Der Teufel auch!" rief Thomson; „ja, das geht vor. Wo ist aber Dehart und Rawlin? Ich hörte doch Deharts Büchse zuerst." „Gott weiß, wo der jetzt steckt," lachte Friedrich; „wenn er so fortgelaufen ist, wie er hier vorbeikam, so muß er jetzt schon eine gehörige Strecke zurttckgelegt haben. Doch da kommt Rawlin und wahrhaftig Dehart auch!" Die beiden Männer näherten sich in der That; Rawlin aber rief, ohne ein Wort zu ver­ lieren, die Hunde mit sich fort und rannte dem Platze zu, wo er das andere Junge vermuthete. Dieses hatte den anfangs erstiegenen Baum verlassen und Fersengeld gegeben; die Hunde kamen aber glücklicher Weise auf die noch warme Fährte und folgten kläffend und winselnd, während Rawlin ihnen nacheilte. Friedrich wollte folgen; doch hielt ihn Thomson zurück und sagte: „Laßt das! Wenn das Thierchen nicht älter ist als das, welches ich da unten habe liegen sehen, so wird Rawlin schon allein mit ihm fertig werden. Ueberdies müssen Deharts Hunde sich der Hetze angeschlossen haben." „Sie haben das Thier schon auf einem Baume!" rief Dehart; „ich kenne die Gewohnheit meines alten Jagdhundes; er setzt sich dann nieder* und bellt jede halbe Minute einmal recht tief auf." „Wo ist denn eure Büchse, Dehart?" fragte jetzt Thomson ver­ wundert. „Geht ihr bloß zu eurem Vergnügen hier im Walde herum?" „Sie muß hier in der Nähe liegen," entgegnete Dehart verdrießlich; „eine Schlingpflanze riß sie mir, gerade wie ich hierher zu Friedrich wollte, aus der Hand." „Ihr müßt in verdammt großer Eile gewesen sein," meinte Thomson, „wenn ihr euch nicht einmal Zeit nahmt, euer Gewehr wieder aufzuheben." Friedrich biß sich auf die Lippen und sah Dehart an. „Nun," meinte dieser halb lachend, halb ärgerlich, „es ist weiter keine große Schande, Fersengeld zu Heben, wenn man eine leere Büchse in der Hand und kein langes Fangmesser im Gürtel hat und eine wüthende Bärin einem aufden Leib rückt. Aber nicht wahr, Friedrich, ich reiße nicht schlecht aus?" „DaS kann ich bezeugen!" rief dieser; „das Gras wuchs euch nicht unter den Füßen. Ihr lieft wie ein alter Truthahn mit angeschossenem Flügel." „Ja," sagte Dehart, „wenn man von einer solchen Bestie gehetzt wird, läuft man noch ein­ mal so leicht und wird auch gar nicht mübe." In dem Augenblick siel ein Schuß, und gleich darauf hörte man den schwe­ ren Fall eines Körpers. „Aha!" rief Thomson, „Rawlin hat Idoch jetzt auch seine Büchse losge­ schossen. Alles beim Lichte besehen, haben wir, obschon wir keinen Hirsch mit-

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bringen, doch keine üble Jagd gemacht, und an unserm Lager wird's heut fet­ tige Finger geben." „Das möcht' ich bezweifeln," sagte Friedrich, „denn die alte Bärin sieht mager genug aus. Die Jungen sind vielleicht bester. Was wollen wir aber jetzt anfangen, die Nacht hier bleiben oder unsere Pferde su­ chen?" „Laßt uns nur erst Rawlins Ankunft abwarten," sagte Thomson; „wir können indessen den jungen Baren hierher holen und die Alte abstreifen, deren Fleisch doch nicht zu gebrauchen sein wird." „Die Keulen nehmen wir mit," meinte Dehart. „Die Bestie hatte so große Lust, mich zu verzehren, daß ich auf jeden Fall wissen will, wie ihr Fleisch schmeckt. Jetzt muß ich aber erst meine Büchse suchen, die wohl nicht weit von hier liegen kann. Die Fährte, die der Bär und ich gemacht haben, wird auch kenntlich genug sein." Die Jäger folgten indessen Thomsons Rath, trugen das Junge herbei und streiften die Alte ab, während Rawlin mit dem zweiten Jungen auf der Schulter in Begleitung der Hunde rurückkehrte. — Wayborne, ein Pächter in Missouri, ging eines TageS in den Wald, um seine Pferde zu holen, die dort weideten. Er hatte, wie gewöhnlich, seine Büchse auf der Schulter; doch war ihm die Munition ausgegangen, so daß er nur noch den einen Schuß hatte, der sich in dem Laufe befand. Als er kurz vor Sonnenuntergang nach Hause zurückkehrte, sah er einen großen Bären quer­ über den Weg laufen. Er feuerte auf ihn; der Bär fiel, erholte sich aber bald wieder und lief einer tiefen Schlucht zu, die sich in der Nähe befand. Way­ borne folgte .der Blutspur, so lange er sehen konnte; er mußte aber bald die Verfolgung aufgeben und ging in der Hoffnung, das Thier am andern Mor­ gen todt zu finden, nach Hause. Am folgenden Morgen bewaffnete er sich mit einer Heugabel und einem Beile und machte sich mit seinem elfjährigen Sohne auf den Weg, um den Bären aufzusuchen. Die Schlucht, in der sich der Bär verborgen hatte, war gegen neunzig Fuß tief und von einem Bach durchflossen, der unter dichtem Gebüsch hinfloß. Nach vielem Suchen sah endlich Wayborne den Bären am anderen Ufer des Baches an einem Felsen sitzen; er stieg daher in die Schlucht hinab, ging durch den Bach und näherte sich, indem er an der anderen Fels­ wand hinaufging, dem verwundeten Thiere, das ihn, ohne sich zu rühren, er­ wartete. Als er ihm bis auf drei Schritte nahe gekommen war, suchte er ihn mit der Heugabel zu durchbohren; doch in demselben Augenblick fand er sich von den Tatzen des Ungeheuers fest umklammert. Beide rollten einen Abhang von dreißig Fuß in den Bach hinab, während der Bär den linken Arm und die Brust des Mannes zerfleischte und ihm fast die Gurgel zuschnürte. Way­ borne drängte jetzt seinen rechten Arm, so tief er konnte, in den Rachen deö wüthenden Thieres und suchte eS so zu erdrosseln. Da er unterdeß weiter in den Bach hineingerollt war, so gelang eS ihm, den Kopf des Bären immer wieder unter das Wasser zu drücken. Jetzt sah auch der Knabe, bem die Ge­ büsche bisher den Anblick des Kampfes verdeckt hatten, in welcher Gefahr sein Vater schwebte; er sprang hinzu und schlug dem Bären mit dem Beil den Hirnschädel ein. Wayborne, obgleich ein überaus kräftiger Mann, war durch den Blutverlust so ermattet, daß er sich kaum fortschleppen konnte. Vier Wochen mußte er das Bett hüten, und auch dann dauerte es lange Zeit, ehe die Schul­ ter und der Arni, die der Bär bis auf die Knochen zerfleischt hatte, wieder voll­ ständig geheilt waren. Dessenungeachtet blieb Wayborne ein leidenschaftlicher Jäger, der noch man­ ches gefährliche Abenteuer bestand. Als er einst in den Wald gegangen war, um einen Hirsch zu schießen, erblickte er zwei junge Bären, die sich, sobald sie seiner ansichtig wurden, auf eine Fichte flüchteten. Da er vermuthete, daß die alte Bärin auf Raub ausgegangen sei, und der Baum gut zu ersteigen war,

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so beschloß er ohne Zögern, die günstige Zeit zu benutzen, um die beiden jungen Thiere zu fangen. Er hatte so eben die Fichte mit einiger Mühe erklettert, als die alte Bärin angetrabt kam, auf den Baum zueilte und sich anschickte, ihn zu ersteigen. Sobald sie den ungebetenen Gast oben bei ihren Jungen sah, stutzte sie einen Augenblick und schien sich zu überlegen, was sie thun solle. Wayborne fand seine Lage durchaus nicht behaglich; allein er war ein beherzter Mann, und sein Entschluß war bald gefaßt. Er stieg auf den untersten Ast hinab, wo er seinen Hirschfänger besser brauchen konnte, denn sein geladenes Gewehr hatte er leider unten am Saume stehen lassen, um leichter klettern zu können. Die Bärin stieg jetzt in aller Eile zu ihm empor. Als sie mit der Tatze nach ihm langen wollte, hieb er ihr dieselbe mit einem kräftigen Hiebe ab. Die Bärin glitt am Stamm etwas hinunter, kam aber bald in entsetz­ licher Wuth zurück und versuchte, den Jäger mit den Zähnen zu fassen. Wäh­ rend sie den Nachen mit gräßlichem Zähnefletschen aufsperrte, stieß ihr Way­ borne kaltblütig den Hirschfänger hinein; da fiel sie vom Stamme hinunter und blieb am Fuße desselben mehrere Minuten bewußtlos liegen. Zum Schrecken des Jägers erholte sie sich aber bald wieder und schickte sich an, von neuem hinaufzuklettern. Glücklicherweise vermochte sie dieses nicht; doch blieb sie auf­ gerichtet am Stamme stehen. In dieser Stellung verharrte sie mehrere Stun­ den; dann legte sie sich am Baume nieder. Der Abend war unterdeß herangekommen, aber das Thier unten wich und wankte nicht. Der auf dem Aste reitende Bärenfänger verwünschte fernen Ein­ fall ; denn seine Lage mitten zwischen den Thieren war nichts weniger als be­ haglich! Zwar war er für den Augenblick ziemlich sicher, da er von den Jun­ gen nicht viel zu fürchten hatte und die Alte außer Stande zu sein schien, ihn anzugreifeu; aber die Aussicht, die Nacht in so unbequemer Stellung auf dem Baume zubringen zu müssen, war um so unangenehmer, als sich Hunger und Durst einstellten und der Himmel anfing, sich dicht zu umwölken. Bald wurde es so finster, daß Wayborne unten an der Erde nichts mehr unterscheiden konnte; aber einzelne brummende Töne, die er vernahm, verkündeten ihm, daß seine grim­ mige Schildwache noch immer auf ihrem Posten war. Mit jeder Minute wurde feine Lage unerträglicher, da nun auch die kleinen Bestien ausingen, munter zu werden; seine donnernde Stimme und der Hirschfänger, brachten sie jedoch bald wieder zur Ruhe. Der Wind erhob sich nun, es fielen einzelne Tropfen, daS Wetter leuchtete und in der Ferne rollte der Donner. Mit großer Anfmerksamkeit lauschte der Jäger nach unten in der Hoffnung, von seinem Feinde keinen Laut mehr zu vernehmen; aber beim Schein eines Blitzes entdeckte er, daß die Bärin noch immer da war und unverwandt nach ihm hinaufsah. So verging die Nacht unter Seufzen und Stöhnen des armen Jägers, der sich auf seinem unbequemen Sitze drehete und wendete, und dessen einziger Zeitvertreib in der langen Gewitternacht darin bestand, die jungen Bären im Zaume zu halten, denen das Nachtquartier auch nicht zu gefallen schien. Endlich däm­ merte eS im Osten und Wayborne faßte den Entschluß, lieber mit der furcht­ baren Schildwache den Kampf auf Leben und Tod zu wagen, als länger sitzen zu bleiben. Während er sich die Sache noch überlegte, hörte er in der Ferne menschliche Stimmen; aber sie zogen in ziemlicher Entfernung von ihm hin, und als er hinabblickte, saß die Bärin noch immer da und schaute mit grimmi­ gen Blicken nach oben. Nach einiger Zeit horte der Unglückliche seinen Namen rufen; feine Nachbarn, welche sein langes Ausbleiben beunruhigt hatte, waren auSaezogen, um ihn zu suchen. Die Bärin richtete sich alsbald mit aufgesperrtem Rachen gegen die Ankommenden auf, wurde aber sofort glücklich niedergeschos­ sen. Der befreite Jäger stieg nun herunter, vergaß aber nicht, die beiden jungm BSrm mit sich zu nehmen. n«ch s-rstäck-r.

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Der graue Bär.

Die amerikanische Natur scheint von dem Schöpfer nach einem großartige­ ren Maßstab gebildet zu sein, als die übrigen Erdtheile. Die mehr als sechs­ hundert Meilen langen und oft mehrere Meilen breiten Ströme, die dem Meere ähnlichen Seen, die ungeheuren Bäume, das baumhohe Gras in den Prairien, die gewaltigen Häfen, wie der von San Francisco, wo die vereinigten Flotten der ganzen West zu gleicher Zeit vor Anker liegen könnten, alles dies erregt durch seine riesenhafte Größe die Bewunderung des Europäers. Nicht minder großartig ist die thierische Welt in vielen ihrer Bildungen. So strotzen zu manchen Zeiten die Flüsse Nordamerikas bis in die kleinsten Bäche hinein von ungeheuren Salmen; die Gewässer vermögen die Menge derselben nicht mehr zu fassen und werfen sie endlich aus ihrem Schooße an das Ufer hinaus, wo umherstreifende Indianer das kostbare Mahl, welches ihnen die Vorsehung sen­ det, mit den fleischfressenden Thieren der Steppe theilen. Zu anderen Zeilen durchziehen Heerden von Büffeln, so zahlreich wie die Salme in den Flüssen, die Prairien und fliehen vor den Indianern, von denen sie verfolgt werden. Und mit welchem reißenden Thiere könnte man wohl in der ganzen Welt den grauen Bären vergleichen! Es giebt keins, das sich ihm an die Seite stellen läßt, denn er ist fast so groß wie der Büffel, und seine Krallen sind so lang und scharf wie die Hauer des Ebers. An Schnelligkeit und Ausdauer wetteifert er mit dem Pferde, an Wildheit mit dem bengalischen Tiger. Seine Kraft ist so groß, daß er einen ganzen Büffel in scharfem Trabe fortträgt, und die Ku­ geln der Jäger prallen von ihm ab, wie der Hagel von einem Ziegeldache; ja, die Zähigkeit seines Lebens ist so groß, daß er oft noch mehrere Meilen weit läuft, nachdem er Schüsse in die Lunge, den Kopf und selbst in das Herz erhalten hat. Die Erlegung eines so schrecklichen Kolosses ist daher derjenige Sieg, auf welchen der rothe Krieger der Prairien am meisten stolz ist. @m Glück ist es, daß die grauen Bären nicht gar häufig sind, sondern nur verein­ zelt in den Schluchten und Abhängen des Felsengebirges und den angrenzenden Prairien erscheinen. Dennoch ist einer jener muthigen Jäger, welche allein in der endlosen Wilrniß umherstreifen, an einem und demselben Tage mit zweien dieser furchtbaren Thiere zusammengetroffen und beide Male der Gefahr glück­ lich entgangen. Dieses Abenteuer erzählt er selbst folgendermaßen: Bor einigen Jahren hatte ich mich, als ich vom Felsengebirge nach dem rothen Flusse zurückkehrte, in eine öde Gegend verittt, in der rch mehrere Tage lang umherstreifte, ohne auch nur die Spur eines Wildes zu sehen. Meine Borräthe waren längst aufgezehrt, und der entsetzlichste Hunger heinigte mich, als ich endlich das Ufer des FlusseS erreichte, wo ich Wild im Ueberfluß anzu­ treffen hoffte. In der That zeigten sich auch hier und dort Büffel, Hirsche, Rehe und wilde Pferde; aber alle meine Anstrengungen, eins dieser Thiere zu erlegen, waren vergeblich. Nachdem ich mich zwei Tage lang nutzlos abgemüht hatte, setzte ich mich, an meiner Rettung verzweifelnd, nicht weit vom Ufer deS Flusses in das hohe Gras. Mein Pferd war glücklicher als icb, denn während ich vergeblich nach einigen wilden Früchten oder Wurzeln suchte, um meinen wüthenden Hunger zu stillen, weidete eS ruhig das GraS ab, welches hier be­ sonders frisch und saftig war. Plötzlich erblickte ich in einer Entfernung von zwei Büchsenschüssen ein Thier, welches mir seiner Größe nach ein Büffel zu sein schein. Die Dunkelheit fing schon an, sich über die Erde auszubreiten, und ich dqnkte dem Himmel für den glücklichen Zufall, der mir noch spät am Abend einS der bis jetzt vergeblich verfolgten Thiere zuführte, als ein schreckliches Brum­ men mich enttäuschte. Ich sprang auf, und nun sah ich zu meinem Schrecken, daß sich der Büffel in einen Bären von kolossaler Größe verwandelte. Durch

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eine Veränderung, wie sie im Leben öfter vorkommt, wurde nun der Jäger plötzlich zum Wilde. Von der Kraft und der Unverwundbarkeit des schrecklichen Beherrschers der Steppe hatte ich schon gehört; jetzt sollte ich auch Gelegenheit bekommen, die Schnelligkeit dieses anscheinend so schwerfälligen Thieres kennen zu lernen. Ich hatte mein Pferd mit einem langen, starken Riemen an einen Baun! gebunden und sah, wie es sich bäumte und sich loszureißen suchte. Ich lief daher, so schnell ich es bei meiner Schwäche vermochte, nach ihm hin und schoß, ehe ich mich in den Sattel schwang, meine Büchse auf den Bären ab, der unterdessen schon ganz nahe herangekommen war. Die Kugel, welche an dem zottigen Pelze abprallte, brachte keinss andere Wirkung auf das Ungethüm hervor, als ein Sporenstoß in die Flanke eines Pferdes, denn sie vermehrte nur seine Wuth und seine Schnelligkeit. Ich hatte gerade noch Zeit, mich auf mein Pferd zu schwingen und den Riemen, mit welchem es angebunden war, zu durchschneiden, und dann wurde der Jäger von dem wilden Thiere gejagt. Der Bär war durch diesen Triumph seiner Eigenliebe keineswegs befrie­ digt, sondern folgte mir in seinem anscheinend schwerfälligen, in Wirklichkeit aber sehr behenden Trabe mit solcher Schnelligkeit, daß er immer dicht hinter mir war. Bisweilen gewann ich zwar durch einen beschleunigten Galopp mei­ nes Pferdes einen solchen Vorsprung, daß ich die Bestie aus dem Gesicht ver­ lor; so oft aber die Ermüdung meines Pferdes mich nöthigte, langsamer zu retten, so zeigte sich auch der Bär wieder, welcher den gleichmäßigen Trab, den er einmal angefangen hatte, ohne Unterbrechung fortsetzte. Dem Tage war die Nacht gefolgt, und eine Zeit lang war mein erbitterter Verfolger in der Dun­ kelheit verschwunden, als auf dem weißen, kalkigen Boden der Ebene noch ein­ mal ein ungeheurer schwarzer Körper erschien, dessen gleichmäßiger Gang und beffen rauhe Stimme nicht zu verkennen war. Es war dies das letzte Mal gewesen, daß ich meinen Feind aus dem Gesicht verlor, denn von nun an be­ fand er sich immer dicht hinter mir, gleich einem Stern, welchen man stets an der nämlichen Stelle des Himmels bemerkt, wie groß auch die Schnelligkeit ist, welche man anwendet, um an ihm vorbeizukommen, oder gleich dem Schalten, der dem fliehenden Körper folgt. Dabei wurde der Raum, welcher uns trennte, immer kleiner, denn der Bär hatte seine Schnelligkeit nicht vermindert, während die meines Pferdes mit jeder Minute abnahm. Schon bedeckte dichter Schaum seine Flanken, sein Athem drängte sich mühsam aus den durch die Furcht er­ weiterten Nüstern, und seine Schritte wurden immer schwächer und unsicherer. Zwei Stunden vergingen so, zwei Stunden, in denen jede Minute eine Stunde zu sein schien. Schon mischte sich das spöttische Schnüffeln des Bären in das ängstliche Schnaufen des Pferdes, bis endlich das edle Thier, von der übermäßigen Anstrengung und vom Schrecken erschöpft, nicht mehr weiter konnte und zusammenbrach. Ich hatte diesen Fall vorausgesehen und sprang noch im rechten Augenblick aus dem Sattel, so daß ich, als das Pferd stürzte, neben ihm auf meinen Füßen stand. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß ich nur zwei Schritte von einem Ahorn-Baume entfernt war. Diesen erkletterte ich mehr aus Instinkt, als aus Ueberlegung in der größten Eile, und meine Fer­ sen befanden sich bereits in einiger Entfernnng vom Boden, als der Bär, wel­ cher offenbar den Menschen dem Thiere vorzog, sich auf seine Hinterfüße setzte und mit seinen furchtbaren Fangzähnen, welche eben so lang und hart wie meine Sporen waren, die letzteren berührte. Als ich mit heiler Haut diesem Angriff entgangen war, gedachte ich plötzlich der Gewandtheit des Bären, die Gipfel der Bäume zu erklettern, um dort nach Honigscheiben zu suchen, und richtete mich daher auf der Gabel eines Hauptzweiges so ein, daß ich bei einem zwei­ ten Angriff nicht ganz wehrlos war. Wenn ich freilich die Gewohnheiten des grauen Bären gekannt hätte, so würde ich keine Veranlassung gehabt haben,

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mich sehr zu ängstigen. Der graue Bär, welcher wegen der wunderbaren Länge seiner scharfen Krallen der letzte Ueberrest jener gigantischen Höhlenbewohner der Urwelt zu sein scheint, kann nämlich nicht, wie die übrigen Arten seines Geschlechts, auf die Bäume klettern. So begnügte sich denn auch mein Feind damit, zuerst auf den Reiter und dann auf das sterbende Pferd zu blicken, und da er meiner für den Augenblick nicht habhaft werden konnte, so begann er, daS Pferd an den Fuß des Baumes zu ziehen und hier zu verzehren. Bei diesem Geschäft entwickelte er dieselbe Thätigkeit und Schnelligkeit, wie früher bei der Verfolgung; es hinderte ihn aber nicht, von Zeil zu Zeit zu mir hinaufzublicken und mir zu verstehen zu geben, daß er das Pferd nur als eine Abschlagszah­ lung betrachte. Während eines Theils der Nacht hörte ich das entsetzliche Kra­ chen der Knochen meines unglücklichen Pferdes. Dann sah ich, wie eine schwarze, ungeheure Masse sich am Fuße des Baumes niederlegte, und zugleich fühlte ich, daß meine Augenlider vom Schlafe schwer wurden. So oft ich die Augen öffnete, sah ich dasselbe Schauspiel, und endlich band ich mich, da ich die Mü­ digkeit nicht mehr zu bewältigen vermochte, mit meinem Gürtel an den Baum, steckte das Faustgelenk in die Quaste des Degens, und schlief trotz dem Hunger und der Nähe des schrecklichen Feindes ein. Ich erwachte, als es noch nicht Tag war, und schaute zur Erde nieder. Da lag noch immer eine schwarze Masse, aber ich konnte nicht unterscheiden, was eS war. Als endlich der Morgen graute, sah ich mit freudiger Ueberraschung, daß der Bär mit dem Pferde nebst Sattel und Zaum verschwunden war. Die schwarze Maffe, die mich geschreckt hatte, war das geronnene Blut meines Pferdes, mit dem der Boden bedeckt war. Ein schrecklicher Tag folgte dieser furchtbaren Nacht. Hunger und Durst und grausenhafte Erscheinungen von Bären, die mir hinter allen Gebüschen zu liegen schienen, ließen mir keinen Augenblick Ruhe, und dabei war ich bereits dermaßen erschöpft, daß ich mich kaum noch fortzuschleppen vermochte. Bei Sonnenuntergang sah ich hinter ei­ nem Gebüsch eine Rauchsäule aufsteigen. Obgleich sich mit der größten Wahr­ scheinlichkeit annehmen ließ, daß der Rauch auö einem indianischen Lager auf­ stieg, so zauderte ich doch keinen Augenblick, auf dasselbe loszugehen, denn das Schlimmste, was ich dort zu erwarten hatte, war immer noch besser als der Hungertod, dem ich erliegen mußte, wenn mir nicht bald Hülfe kam. Als ich in das Gebüsch trat, erblickte ich sechs Indianer, welche um ein Feuer herum saßen, aber ohne eine Spur von irgend einer Mahlzeit. Betrübt wollte ich mich leise wieder davonschleichen; aber die Falkenaugen der Wilden hatten mich bereits bemerkt, und einer derselben, welcher nach seinem Schmuck ein Häuptling zu sein schien, forderte mich mit gebieterischen Geberden auf, zu ihm heranzukommen. Ich sah jetzt, daß es Comanchen waren, trat furchtlos an ihr Feuer und legte mich neben demselben nieder. Da ihre Nation für den Augenblick mit den Weißen verbündet war, so nahmen sie mich friedlich auf, fragten in spanischer Sprache nach dem Zweck meiner Reise und versicherten, als ich beit Büffelsee nannte, daß dies auch das Ziel ihrer Wanderung sei. Darauf reichten sie mir eine Pfeife mit Taback, der mit Sumachblättern ver­ mischt war, und streckten sich wieder behaglich im Grase aus. Während ich, um meinen leeren Magen zu täuschen, den Rauch in mächtigen Wolken fortblieö, kam eS mir von Zeit zu Zeit vor, als ob ein Duft von gebratenem Fleisch die Atmosphäre um mich her balsamisch durchdrang. Es währte auch nicht lange, so erhob sich einer von den Indianern, entfernte sich einige Schritte von der Gruppe und kniete an einer Stelle des Bodens nieder, die erst kürzlich aufgegraben zu sein schien. In der größten Spannung folgte ich allen seinen Bewegungen und sah nun, wie er die Erde mit seinem Messer aufgrub. Jetzt war es keine Einbildung mehr: ein balsamischer Dust, lieblich und durchdrin-

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gend zugleich, kam aus dem halbgeöffneten Boden hervor! In dem Augenblick, als der Indianer eine schwarze, halb verbrannte Masse aus der Erde hervorzog und die verkohlte Hülle abnahm, stieß ich das Geheul eines hungrigen Thieres aus und wurde dann fast ohnmächtig vor Freude bei dem Anblick eines ganzen Berges von Fleisch, welches so duftig und saftig vor mir lag, wie das rosen­ farbige Fleisch der Wassermelone. Der wilde Küchenmeister legte es in seiner schwärzlichen Schale auf die Erde nieder, und nun rückten die anderen Männer, welche auch lange Zeit nichts gegessen zu haben schienen, mit ihren Messern heran. Der Büsfelrückeu, den der Indianer aus dem unterirdischen Ofen heraus­ genommen, hatte durch seine Hautumhüllung und dann durch die Erde selbst seinen ganzen Wohlgeschmack behalten und gewährte eine Mahlzeit, wie sie sich kein König besser wünschen kann. Die ganze Gesellschaft ließ es sich auch vor­ trefflich schmecken und verschlang eine Masse von Fleisch, welche in Europa we­ nigstens vierzig hungrige Menschen gesättigt haben würde. Als die Mahlzeit beendet war, legten wir uns im Grase nieder und schliefen ruhig bis zum An­ bruch des Tages. Dann machten wir uns auf den Weg, und kamen gegen Mittag an einen Fluß, an dessen Ufer wir ein aus Büffelhäuten verfertigtes Kanoe fanden, zu dessen Bewachung ein Comanche und ein canadischer Jäger zurückgeblieben waren. Hier schifften wir uns ein; in dem Augenblick aber, als wir abstoßen wollten, sagte der Häuptling zu mir: „Wir nähern uns jetzt dem Jagdgebiet unserer Todfeinde, der Apachen. Bielleicht sind sie schon auf unserer Spur, oder sie haben sich an dem Flusse in den Hinterhalt gelegt. Je­ denfalls ist es rathsam, einige Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Ich werde hinter diesen Hügeln in einiger Entfernung von einander mehrere Feuer anzünden las­ sen. Wenn die Apachen diese Feuer sehen, ohne unterscheiden zu können, ob Krieger um dieselben gelagert sind, werden sie einige Zeit damit verlieren, um ein Mittel ausfindig zu machen, wie sie sich ihnen ohne Gefahr nähern können, und unterdessen werden wir einen bedeutenden Vorsprung gewinnen." Dieser Plan wurde ohne Verzug ausgefiihrt. Die Feuer wurden hinter Gesträuchen und kleinen Hügeln, welche nur den Rauch und den Widerschein erblicken ließen, die Flamme selbst aber verbargen, angezündet; dann wurde das Kanoe wieder ins Wasser gelassen, und die Reise angetreten, indem immer zwei Comanchen abwechselnd ruderten. Ich benutzte diese Zeit, um mich auf dem Boden des KanoeS auszustrecken und einige Allgenblicke zu schlafen, und der Ca­ nadier folgte meinem Beispiel. Aber so müde ich auch war, so kam doch-kein Schlaf in meine Augen; vielmehr hielt mich die Ahnung einer unbekannten Ge­ fahr beständig wach. Schon längst waren die zur Täuschung des Feindes an­ gezündeten Feuer in der Ferne verschwunden. Während der Canadier in tiefem Schlafe lag, und zwei von den Indianern schweigend ruderten, saß der Häupt­ ling am Ende des Fahrzeugs und durchspähte nach allen Seiten die Einöde, welche wir. durchschifften. Einige Stunden lang war kein anderer Laut zu ver­ nehmen, als das Rauschen des KanoeS, wenn es das Schilf am Ufer des Flus­ ses streifte, und das Eintauchen der Ruder in das Wasser. Plötzlich aber bewies mir die Haltung und die Miene des Häuptlings, daß er etwas Außergewöhn­ liches wahrnähme. In der That ließ sich vor uns eine Art dumpfen Brum­ mens vernehmen, welches mitten aus dem Flusse zu kommen schien. Der Häupt­ ling gab den beiden Ruderern einen Wink aufzuhören, und beugte sich über den Körper des Canadiers, der, als er fühlte, daß man seine Schultern berührte, die Augen öffnete und um sich blickte. Er sah, wie die beiden Indianer ihre Ruder regungslos in der Hand hielten, und vermuthete mit Recht die Nähe einer noch verborgenen Gefahr. Der Fluß, welcher da, wo er eingeschlafen war, durch eine Ebene floß, war hier, wo er aufwachte, zwischen zwei ziemlich hohen Ufern eingeengt. Auch

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war es unterdessen bereits finster geworden, und verwundert über diesen Wech­ sel, warf der Canadier forschende Blicke nach allen Seiten. Da er nichts Ver­ dächtiges sah, fragte er: „Was giebt's, und warum habt ihr mich geweckt?" Ein längeres Brummen, ähnlich dem Brausen eines Blasebalgs, überhob den Indianer der Antwort und ließ auch mir keinen Zweifel, daß ein grauer Bär in der Nähe wäre. So sollte ich denn abermals mit dem furchtbaren Feinde Zusammentreffen, dem ich zwei Tage zuvor nur mit Mühe entronnen war! „Ach!" sagte der Canadier, „ich brauche nicht weiter zu fragen. Doch was ist am Ende daran gelegen? Laßt uns vorüberfahren; ich denke, die Bestie wird unS in Ruhe lasten." „Wir können ohne ihre Erlaubniß nicht vorbeikommen," antwortete der Häuptling. „Hinter dieser Krümmung ist der Fluß sehr schmal, und das Thier hält eine kleine Insel in der Mitte der Strömung besetzt. WaS ich einmal gesehen habe, vergesse ich nicht wieder, und so kenne ich auch die ge­ ringste Krümmung dieses Flusses." Unterdessen war das Boot, sich im Kreise drehend, von der Strömung weiter getrieben worden, und da es dringend nothwendig war, einen Entschluß zu fasten, bevor man sich in den gefährlichen Engpaß hineinwagte, so befahl der Häuptling den Ruderern, eine Strecke stroman zu fahren. Während dies geschah, sagte ich zu ihm: „Wir dürfen hier von unseren Büchsen keinen Ge­ brauch machen, sonst könnten wir versuchen, im Vörbeifahren dem Feinde eine Kugel in den Kopf zu schießen, wenn er es wagen sollte, uns anzugreifen. Aber wie die Sachen stehen, könnte ein einziger Schuß die Apachen herbeirufen. Ich bin also der Meinung, Comanche, daß wir ohne weitere Umstände alle Eitelkeit bei Seite setzen, ans Land steigen und das Kanoe auf die Schulter nehmen, um mit diesem teufelsmäßigen Thiere keinen Streit zu beginnen. Wei­ terhin können wir den Fluß wieder benutzen." „Die Comanchen haben scharfe Streitäxte und kräftige Arme," erwiderte der Häuptling, „und die beiden wei­ ßen Jäger haben ihre langen Mester und ihre Feuerwaffen. Auch hat man mir erzählt, daß die Büchse des Canadiers niemals ihr Ziel verfehlt." „DaS ist richtig," sagte der Canadier; „wenn ich auf festem Boden stehe, ist mein Schuß ziemlich sicher; aber in diesem schwankenden Nachen bin ich meiner Sache nicht ganz gewiß. Wenn ihr also bestimmt wißt, daß wir dicht bei dem Thiere vorbei müssen, so rathe ich selbst dazu, dem Kampfe aus dem Wege zu gehen; denn die Bestie scheint hungrig zu sein. Auch wißt ihr ja, daß es selten ge­ lingt, einen grauen Bären auf einen Schuß zu todten." Der Häuptling willigte ein, unserem Vorschläge zu folgen, und ließ den Kahn an das Ufer treiben; bevor aber die Gesellschaft ausstieg, hielt er es für nöthig, die Umgegend zu durchforschen. Er stieg daher das steile Ufer, welches den Fluß einengte, empor, und kroch dann vorsichtig durch das hohe Gras, welches die angrenzende Ebene bedeckte. Unterdessen horchten wir aufmerksam auf jedes Geräusch, welches aus der Gegend, in der wir den Bären vermuthe­ ten, herübertönte. Es war klar, daß er schon die Annäherung von Menschen witterte, denn mit dem gewaltigen Schnauben seiner Nase vermischte sich von Zeit zu Zeit das Knirschen seiner furchtbaren Zähne und Krallen, welche an dem Felsen der Insel scharrten. Plötzlich kam der Häuptling in großer Eile zurück. „Fort, fort!" sagte er mit leiser Stimme, sobald er daS Kanoe erreicht hatte. „Dort sind berittene Indianer, welche die Prairien durchstreifen. Ich habe sie zwar nicht erkannt, aber ich zweifle nicht, daß es Apachenhunde sind. Sie scheinen von der Seite zu kommen, wo wir unsere Feuer angezündet haben. Vorwärts! Wir müssen jetzt ohne Zögern zu den Streitäxten und den Messern greifen und dem Bären die Stirn bieten. Was sich auch ereignen mag, hier können wir nicht eine Minute länger bleiben. Die Reiter können jeden Augen­ blick hier fein."

Das Kanoe wurde abermals mitten in den Strom getrieben und näherte sich gleich darauf der Insel, auf der sich noch immer d.as schreckliche Brummen hören lieg. Unter anderen Umständen würden sich die Indianer durch das Zu­ sammentreffen mit einem grauen Bären auch trotz der Stärke und Wildheit deS Thieres, welches sich ihnen entgegenstellte, nur wenig beunruhigt haben, denn sie waren von Jugend auf daran gewöhnt, die Gefahren der Wildniß zu be­ kämpfen. Diesmal aber wurde ihre Lage durch die Nähe der Apachen bei einem an sich selbst schon so gefährlichen Kampfe sehr bedenklich. Sie wußten, daß in dem Fall, wenn das Thier uns nicht ruhig vorbeifahren ließ, unsere Büch­ sen von keinem Nutzen waren, und daß der graue Bär wegen seines dicken Pel­ zes gegen Schläge mit dem Tomahawk und selbst gegen Messerstiche ziemlich unempfindlich ist; auch mußte sein Brüllen, wenn er verwundet war, die Apa­ chen herbeiziehen, und endlich lief das Kanoe Gefahr, bei der geringsten Berüh­ rung von seinen scharfen Krallen zerrissen zu werden oder umzuschlagen. So kam es denn, daß alle in der größten Spannung dem Augenblick entgegensahen, der uns in die Nähe des schrecklichen Feindes brachte. Die Comanchen standen mit erhobenen Streitäxten am Vordertheil des Bootes, bereit, den Koloß mit fünffachem Schlage zu treffen, und der Canadier und ich hatten uns, die Mes­ ser in der Hand, hinter ihnen aufgestellt. Die kleine Barke glitt, von zwei kräftigen Ruderern fortgetrieben , schnell und doch geräuschlos dahin, und daS dumpfe Brummen drang noch immer aus dem Bette des Flusses zu uns her­ über, als ob irgend ein Seeungeheuer auf der Untiefe gescheitert wäre. Bald erschien die Insel auf der düstereu Oberfläche deS Stromes, und auf dem sandigen und felsigen Eiland wurde eine ungeheure schwarze Masse sichtbar. Das Kanoe näherte sich jetzt der Insel. Beim Anblick der Männer, welche in demselben saßen, ließ der Bär ein schreckliches Brummen hören, scharrte yüt einer seiner Tatzen den Boden, rollte eine Lawime von Sand in den Fluß und richtete sich langsam auf seinen Hinterfüßen in die Höhe, als ob er sich zum Sprunge anschickte. Jetzt hatte das Kanoe den verhängnißvollen Engpaß erreicht. Die uner­ schrockenen Indianer stießen mit fester Hand ihre Ruder in daS Wasser, um daS Fahrzeug schnell vorwärts zu bringen und es dabei so weit als möglich von dem Thiere entfernt zn halten, welches aufrecht da stand und mit dem Be­ ginn des Angriffs zu zögern schien. Jetzt flog die Barke in einer Entfernung von kaum drei Schritten bei dem wilden Beherrscher der kleinen Insel vorüber, und noch immer schien dieser unentschlossen, ob er sich auf das Kanoe stürzen solle. Schon gab ich mich der Hoffnung hin, die gefährliche Stelle glücklich zurückgelegt zu haben, als einer von den Comanchen, bevor wir seine Absicht merkten, seine Streitaxt weglegte unb in den Leib des Bären einen Pfeil schoß, welcher tief in feine Eingeweide drang. Der Canadier konnte einen Ausruf des Zornes nicht unterdrücken; das verwundete Thier aber stürzte mit wüthen­ dem Gebrüll, während es zugleich seine ungeheuren Kinnladen mit schrecklichem Getöse zusammenschlug wie ein FelSblock, der von einem steilen Ufer herabrollt, ins Wasser. Glücklicherweise waren die beiden Ruderer nicht weniger rasch ge­ wesen, als der Schütze, und zwei kräftige Ruderschläge ließen das Fahrzeug so schnell dahinfliegen, daß der Bär das Boot nicht mehr erreichte, sondern mit seinen furchtbaren Tatzen nur die Oberfläche des Stromes traf. Die fünf Indianer sprangen zwischen den beiden Ruderern hindurch nach dem Hintertheil deS Fahrzeugs, und in dem Augenblick, als daS wüthende Thier, heulend und schäumend vor Wuth, mit keuchendem Athem und flammenden Au­ gen nur noch einen halben Fuß von dem Kanoe entfernt war, welches in dem durch seine furchtbaren Anstrengungen hervorgebrachten Strudel auf- und nie­ dertanzte, erklangen ihre Streitäxte auf dem Schädel des Kolosses wie Hammer- -

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schlage auf dem Amboß. In diesem Augenblick erleuchtete ein Blitz die von Blut geröthete Oberfläche des Stromes und den keuchenden Bären, und daS Geheul deS wüthenden Thieres vermischte sich mit dem Knall einer Büchse, der in unseren Ohren wie die Posaune des jüngsten Gerichts erklang. Unmittelbar darauf ertönte vom Ufer her ein Geheul, auf welches die Comanchen trotz der doppelten Gefahr, die sie bedrohte, mit ihrem Schlachtgeschrei antworteten. Doch war noch keiner der Feinde zu sehen; dagegen schien die Wuth deS Bären durch die Abschläge, welche seinen Schädel getroffen hatten, noch vermehrt worden zu sein. „Muth, ihr Männer, Muth!" rief der Canadier, der mit den Coman­ chen die beunruhigenden Fortschritte des schwimmenden Thieres beobachtete, wel­ ches jeden Augenblick eine Tatze aufhob, um das gebrechliche Fahrzeug in den Grund zu bohren. „Bei Gott, wir sind ihm wieder glücklich entkommen! 9tun noch einige tüchtige Ruderschläge, damit wir in ruhiges Wasser kommen, wo wir ihn mit unseren Büchsen begrüßen können!" In der That war jetzt kein Grund mehr da, von unseren Feuerwaffen keinen Gebrauch zu machen. Die Apachen wußten, daß wir da waren, und wir mußten uns unter allen Umstän­ den den Feind im Flusse vom Halse schaffen, um den Angriff der Feinde in der Ebene aushatten zu können. „Seid ihr fertig?" fragte mich der Canadier, indenl er seine Büchse an­ legte. „Ihr zielt auf den Rachen des Thieres! Feuer!" Zwei Schüsse tönten zugleich von den Ufern des Flusses zurück; aber das Kanoe schwankte noch im­ mer so heftig auf dem wirbelnden Wasser des Flusses, daß die Kugeln den Bä­ ren nicht an der bezeichneten Stelle trafen. Das Ungeheuer schüttelte nur sei­ nen ungeheuren Kopf, von dem jedoch ein blutiger Thau herabtröpfelte. Einige Augenblicke noch währte dieser nächtliche Kampf zwischen dem rasenden Bären und den Männern im Kanoe, welche beständig seinen Angriffen auszuweichen wußten und bei dem Geheul ihres Verfolgers das tiefste Stillschweigen beobach­ teten. Wir hatten unterdeß unsere Büchsen wieder geladen und gaben zum zweiten Male Feuer; der von dem schäumenden Wasser geschüttelte Nachen schwankte aber so heftig, daß unsere Kugeln wiederum feine bedeutende Wirkung hatten. Inzwischen wurde der Raum zwischen unserem Nachen und seinem Ver­ folger mit jedem Augenblicke größer, und es schien, als ob Müdigkeit oder Entmuthiaung den furchtbaren Schwimmer beschlich. Die Ruderer verdoppelten nun ihre Anstrengungen, und die Entfernung vergrößerte sich immer mehr. Das Kanoe befand sich jetzt zwischen zwei niedrigen Ufern, welche trotz der Dunkelheit einen flüchtigen Blick auf die Ebene zu werfen gestalteten. Schwarze Schatten von Pferden und Reitern bewegten sich hier in dem hohen Grase. Indessen hatten wir keine Zeit, diesen Gegenstand weiter ins Auge zu fassen, denn eine andere, viel nähere Gefahr drohte unsere bedenkliche Lage noch miß­ licher zu machen. Der Bär hatte, wie wir glaubten, aus Mattigkeit in seinen Anstrengungen nachgelassen; in der That aber war es nur seine Absicht gewe­ sen, einen anderen AngriffSplan ins Werk zu setzen. „Fahrt schräg ans Land," befahl der Häuptling, als er sah, daß der Bär sich bei einer Krümmung des Flusses dem Ufer näherte. „Das Thier will uns den Weg abschneiben und uns von vorn angreifen." DaS Kanoe flog nun ebenfalls in schräger Linie dem Ufer zu, und in dem Augenblick, als der Bär ans Land stieg, sprang auch der Canadier, seine Büchse in der Hand, ans Ufer. „Bleibt dort!" rief der muthige Jäger; „ich denke mit der Bestie allein fertig zu werden." Und bei diesen Worten ließ er sich, während sich ihm der Bär in dem seiner Gattung eigenthümlichen Trabe nä­ herte, auf ein Knie nieder. Selbst den Indianern erregte diese Ruhe Bewun­ derung, denn das Leben des muthigen Mannes hing von einer falschen Bewe­ gung, von einem zu späten Losgehen seiner Büchse und von anderen Umständen

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ab, die auch der beste Schütze nicht in seiner Gewalt hat. Jetzt legte er den Kolben der Büchse an seine Schulter, drückte seine Wange an den Lauf und wartete unbeweglich auf die Annäherung seines Feindes. Brüllend kam die Be­ stie immer näher, und schon konnten wir zwischen den blutigen Lippen die schreck­ lichen weißen Zähne und unter dem dicken Pelze das flammende Auge erkennen. Die Büchse des Canadiers folgte langsam allen seinen Bewegungen, und als die Mündung des Laufes fast die Haarbüschel seines Kopfes berührte, ging der Schuß los. Der Koloß brach zusammen, aber von der Bewegung seines Lau­ fes fortgerissen, hätte er den Jäger unter seiner Leiche erdrückt, wenn dieser nicht, als er kaum den Drücker berührt hatte, mit staunenswerther Gewandt­ heit bei Seite gesprungen wäre. Der Sieger warf einen stolzen Blick auf sei­ nen in dem blutigen Sande liegenden Feind, schnitt mit der Fertigkeit eines geübten Jägers die ungeheure Tatze des Bären beim ersten Gelenk ab, und nahm seinen Platz im Kanoe wieder ein. „Ihr seid ein tapferer Mann," sagte der Häuptling und drückte dem Ca­ nadier die Hand. „Ich kenne viele wackere Jäger, rothe und weiße; aber es ist keiner unter ihnen, der das wagen würde, was ihr jetzt ausgeführt habt." „Die Sache mußte ein Ende nehmen," erwiderte ruhig der Canadier, „und es war auch wirklich die höchste Zeit, daß wir die Bestie los wurden, denn jetzt rückt der andere Feind heran." In der That sprengten in diesem Augenblick die Apachen am Ufer des Flusses hin und schienen uns, wie vor ihnen der graue Bär, den Weg abschnei­ den zu wollen. Aber plötzlich wurden sie stutzig; sie hielten ihre Pferde an, sprachen einige Augenblicke lebhaft mit einander, kehrten dann um und waren nach wenigen Minuten verschwunden. Verwundert blickten wir einander an, denn keiner von uns konnte sich das sonderbare Benehmen des Feindes erklären. Bald aber erfuhren wir den Grund seines eiligen Rückzugs, denn von dem an­ dern Ufer her ertönte der Jubelruf menschlicher Stimmen, welche uns freudig begrüßten. Es war eine zahlreiche Abtheilung berittener Comanchen, welche uns schon früher bemerkt hatten und nun, da sie auf der anderen Seite die Apachen herankommen sahen, zu unserer Hülfe herbeieilten. Nach tferry.

32. Die Tigerhöhle. Ich kam vor einigen Jahren nach Peru, um im Auftrage einer Compagnie, die sich in London gebildet hatte, die dortigen Minen zu besuchen. Ehe ich nach Europa zurückkehrte, wollte ich die ungeheure Reise längs den Ufern deS atlan­ tischen und stillen Meeres nicht ganz unbenutzt für meine Wißbegierde vorüber­ gehen lassen, und beschloß daher, mit meinen zwei Gefährten, Wharton und Lincoln, den höchsten und merkwürdigsten Berg von Amerika, den Chimborafso, zu ersteigen. Eines Tages hatten wir in dem letzten indianischen Dorfe über­ nachtet, und unser Weg schlängelte sich nun um den weiten Fuß dieses Riesen der Berge. Ich bemerkte, daß der Glanz des ewigen Schnees, welcher den Gipfel bedeckte, nach und nach unter einem dichten Nebel verschwand. Die In­ dianer, die uns als Führer dienten, warfen bestürzte Blicke auf diese Dünste und versicherten kopfschüttelnd, daß ein heftiges Gewitter über uns ausbrechen werde. Ihre Besorgniß ging rasch in Erfüllung: schnell entfaltete sich der Ne­ bel, und indem er sich über den ganzen Berg ansbreitete, umgab uns bald eine tiefe Finsterniß; die Luft war drückend schwül und doch so feucht, daß der Stahl an unsern Uhren sich mit Rest überzog und das Uhrwerk stille stand. Das Wasser, neben dem wir gingen, ergoß sich mit verdoppelter Gewalt, und wie durch Zauberei stürzten plötzlich von dem Felsen zu unserer Linken unzäh­ lige Ströme, welche Baumstämme und Gesträuch mit sich fortrissen und selbst

eine ungeheure Schlange erfaßt hatten, die umsonst ihre Kräfte anzustrengen schien, um der Gewalt der Wasser zu entgehen. Der Donner rollte, und der ganze Widerhall des Berges antwortete ihm auf einmal; blendende Blitze zerrifsen die Wolken über und neben uns; es war, als ob wir in einem Flam­ menmeer standen. Wir flüchteten unter einen großen Baum, wahrend einer unserer Führer ein sicheres Obdach für uns suchte. Er kam bald mit der Nach­ richt zurück, daß er eine geräumige Höhle entdeckt habe, wo wir gegen die Hef­ tigkeit der Elemente Schutz finden würden. Sogleich schlugen wir den Weg dahin ein und erreichten dieselbe, aber nicht ohne viel Mühe und Gefahr. Der Sturm wüthete mit einem so entsetzlichen Getöse, daß sich keiner dem andern verständlich machen konnte. Ich hatte mich an den Eingang der Höhle gestellt und beobachtete durch die lange und schmale Leffnung die Scene außer­ halb. Die höchsten Gebern sah ich niederstttrzen oder wie ein Rohr sich beu­ gen; Affen und Papageien, durch die abgeriffenen Aeste getödtet, bedeckten den Boden; die Bäche waren zu Strömen geworden und durchschnitten in allen Richtungen den Berg. Als endlich die Heftigkeit des Sturmes etwas nachge­ lassen, gingen unsere Führer hinaus, um zu sehen, ob es möglich sei, unsern Weg fortzusetzen. Die Grotte, in der wir und befanden, war so dunkel, daß man, wenige Schritte vom Eingänge entfernt, nicht einen Schritt weit sehen konnte. Während wir uns über die Verlegenheit unserer Lage besprachen, wurde unsere Aufmerksamkeit durch Geschrei und wunderliche Klagelaute gefesselt, die auS der Tiefe der Grotte zu uns drangen. Wharton und ich horchten mit einem Gefühl von Entsetzen jenen Tönen; aber Lincoln, unser unbedachter, jun­ ger Freund, warf sich auf den Bauch und kroch mit einem Jäger, NameuS Frank, die Höhle entlang, um den Grund dieses Lärms zu entdecken. Nach einigen Augenblicken stießen sie einen Ruf der Verwunderung aus und kehrten bald zurück, indem jeder von ihnen ein wunderbar geflecktes Thier von der Größe einer kleinen Katze, deffen Kinnladen mit fürchterlichen Schneidezähnen bewaffnet waren, im Arme trug. Die Augen spielten ins Graue; die Thiere hatten lange Krallen an den Pfoten, und eine blutrothe Zunge hing aus ih­ rem Rachen. Kaum hatte Wharton sie betrachtet, als er auSrief: „Gerechter Himmel!Ur sind in der Höhle eines ..." Aber er wurde plötzlich durch die Stimmen unserer Führer unterbrochen, die mit dem Schrei „ein Tiger! ein Tiger!" hinauSstürzten und sogleich mit unglaublicher Geschwindigkeit eine hohe Geber, die neben der Höhle stand, erkletterten und sich in ihren Zweigen ver­ bargen. Der prftc Eindruck des Entsetzens und der Ueberraschung hatte mich bei­ nahe erstarrt, und fast bewußtlos griff ich nach meinem Gewehr. Wharton war schnell gefaßt und rief, wir möchten ihm behülflich sein, die enge Mündung der Höhle mit einem großen Stein zu schließen, der glücklicherweise ganz nahe lag. DaS Bewußtsein der immer näher kommenden Gefahr verstärkte unsere Kräfte; denn wir hörten schon deutlich das Brüllen des Thieres und waren verloren, wenn es den Eingang der Höhle erreichte, ehe wir dieselbe geschloffen hatten. Noch war unsere Arbeit nicht vollendet, als wir den Tiger draußen in großen Sprüngen ankommen sahen; dieser fürchterliche Anblick verdoppelte unsere Anstrengungen, und gerade im entscheidenden Augenblick lag der Stein vor der Höhle und schützte und vor den Angriffen des wüthenden Thieres. Es blieb jedoch eine kleine Lücke zwischen dem Stein und der Höhe der Oeffnung, durch welche wir sahen, wie eS uns mit blitzenden Augen betrachtete. Sein Brüllen hallte in den Tiefen der Höhle wieder, und seine Jungen ant­ worteten darauf mit dumpfem Klaggeschrei. Unser furchtbarer Feind hatte an­ fangs versucht, den Stein mit seinen mächtigen Krallen aufzuheben linb dann mit dem Kopf wegzuschieben; die Nutzlosigkeit dieser Bemühungen vermehrte

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seine Wuth. Er stieß einen durchdringenden Schrei auS, und seine Flammen­ augen schienen Licht in die Dunkelheit zu werfen. Einen Augenblick war ich fast geneigt, ihn zu bedauern; war es doch das Gefühl der Baterliebe, das seinen Zorn reizte. „Es ist Zeit, auf ihn zu schießen," sagte Wharton mit der ihm eigenen Kaltblütigkeit; „die Kugel wird durch sein Gehirn gehen, und so haben wir noch Hoffnung, von ihm befreit zu werden." Frank nahm seine Doppelflinte und Lincoln seine Pistolen; beide richteten den Lauf einige Zoll vom Tiger entfernt und drückten zugleich ab. Allein die Gewehre versagten; daS Pulver auf beiden Pfannen war naß geworden, und während Frank und Lincoln dasselbe ausschütteten, bemühte sich Wharton mit mir, unsere Pulver­ hörner zu suchen. Es war so dunkel, daß wir auf dem Boden kriechen und umhertappen mußten. Als ich in die Nähe der jungen Tiger kam, hörte ich ein Geräusch, dem Reiben eines Stücks Metall ähnlich, und entdeckte bald, daß die Thiere mit unsern Pulverhörnern spielten. Zum Unglück hatten sie die Pfropfen mit ihren Krallen abgedreht; das Pulver war auf den nassen Boden ausgeschüttet und konnte uns nicht mehr dienen. Diese Entdeckung versetzte unS ui die größte Bestürzung. Alles schien verloren. Wharton stellte sich an den Stein, der uns schützte, und heftete seinen kühnen Blick auf die blitzenden Augen unseres Feindes. Der junge Lincoln stieß in seiner Verzweiflung tau­ send Flüche aus, und Frank, welcher die meiste Kaltblütigkeit besaß, nahm einen Strick, den er in der Tasche trug, und ging, ohne ein Wort zn sagen, in die Tiefe der Höhle. Bald vernahmen wir einen erstickten Schrei, und der Tiger, welcher ihn gehört haben mußte, stutzte darüber in vermehrter Unruhe. Er ging und kam vor die Oeffnung der Höhle und sah wüthend aus; plötzlich blieb er stehen, wendete seinen Kopf gegen den Wald und erhob ein betäubendes Brüllen. Unsere beiden indianischen Führer benutzten diesen Augenblick, um von der Höhe des Baumes, der sie verbarg, mit Pfeilen auf ibn zu schießen, die ihn zwar trafen, aber an seiner dicken Haut abprallten. Nur einer blieb endlich im Auge stecken; wüthend darüber sprang der Tiger an den Baum, und indem er mit seinen Tatzen den Stamm umfaßte und sich an demselben in die Höhe richtete, schien er die Ceder ausreißen zu wollen. Erst nachdem es ihm geglückt war, den Pfeil los zu werden, wurde er ruhiger und stellte sich wieder an den Eingang der Grotte. Frank erschien endlich, in jeder Hand einen der jungen Tiger an dem Stricke haltmd, mit dem er sie erwürgt hatte. Ehe ich seine Absicht erfahren konnte, hatte er beide dem Tiger durch die Oeffnung zugeworfen. Als dieser seine Jungen erblickte, untersuchte er sie aufmerksam und schweigend, drehte sie behutsam von allen Seiten um, überzeugte sich endlich von ihrem Tode und stieß einen so fürchterlichen Schrei der Verzweiflung aus, daß wir genöthigt warm, uns die Ohren zuzuhalten. Ich warf meinem Jäger diese nutzlose Grausamkeit vor, sah aber aus seiner trotzigen Antwort, daß er alle Hoffnung zur Rettung aufgegeben hatte und daher die Verhältnisse des Dieners zum Herrn für aufgelöst hielt. Was mich betraf, so hegte ich noch immer die Zu­ versicht, daß eine unerwartete Hülfe uns aus dieser entsetzlichen Lage befreien würde. Der Donner hatte aufgehört, und ein kühler, erfrischender «Lind war auf den Sturm gefolgt. Der Gesang der Vögel ertönte wieder in dem Walde, und im Strahl der wiederkehrenden Sonne glänzten die Regmtropfen auf den Blättern wie tausend Diamanten. Ich sah durch die Oeffnung unserer Höhle daS Erwachen der Natur, und der Kontrast dieser friedlichen Scene mit unserer Lage machte dieselbe noch fürchterlicher. Der Tiger hatte sich unterdeß zu feinen Jungen gelegt. Es war ein großes, herrliches Thier, dessm Glieder, in ihrer ganzen Länge ausgestreckt, die Kraft ihrer Muskeln zeigten; aus seinen, mit furchtbaren Zähnen bewaffneten Kinnbacken floß der Schaum in großen Flocken. Dielitz und Heinrich-, deutsche- Lesebuch.

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Plötzlich ließ sich in der Ferne ein langes Brüllen hören, worauf der Tiger mit einem klagenden Aechzen antwortete; ein Schrei der Indianer verkündete uns eine neue Gefahr. Unsere Besorgnis bestätigte sich nach Verlauf von we­ nigen Minuten, denn wir sahen einen Tiger, kleiner als den ersten, in großen Sprüngen sich uns nähern. Es war die Tigerin! Ihr Brüllen, nachdem sie die Leichname ihrer Jungen betrachtet, übertraf alles, was wir noch gehört hat­ ten. Doch endlich horte ihr Geheul auf und ward zu einem dumpfen Gemur­ mel; darauf rückte sie ihre schnaubenden Nasenlöcher dicht an die Oeffnung, um diejenigen zu entdecken, welche ihre Jungen vernichtet hatten. Als ihre Blicke auf uns fielen, stürzte sie mit einer so ungeheuren Kraft auf den Stein, daß es ihr vielleicht gelungen wäre, ihn fortzuschieben, wenn wir nicht unsere ver­ einten Anstrengungen ihrem Vorhaben entgegengesetzt hätten. Nach mehreren vergeblichen Versuchen näherte sie sich wieder dem Tiger und schien sich wäh­ rend einiger Augenblicke mit ihm zu berathen; darauf entfernten beide sich schnell und entschwanden unsern Blicken. Ihr Gebrüll wurde immer schwächer, und bald hörten wir es nicht mehr. Jetzt erschienen unsere beiden indianischen Führer am Eingang der Höhle und drangen auf schnelle Flucht, alö das einzige Mittel zur Rettung, da die Thiere wahrscheinlich auf der andern Seite des Berges noch einen Eingang zur Höhle kannten. Wir schoben eiligst den Stein, der uns bisher geschützt hatte, hinweg und stiegen aus der Gruft, in der wir lebendig begraben zu sein be­ fürchtet hatten. Von neuem hörten wir jetzt das Gebrüll der Tiger; eilig folg­ ten wir unsern Führern und schlugen einen Seitenpfad ein, der aber durch die Menge Wurzeln und Beste, mit welchen der Sturm den Weg bedeckt hatte, unsere Flucht langsam und beschwerlich machte. Besonders schleppte sich Wharton mühsam fort, und wir mußten oft stille stehen, um ihn nicht aus dem Ge­ sicht zu verlieren. Auf diese Weise waren wir eine Viertelstunde gegangen, als ein Schrei eines unsrer Führer uns verkündete, daß die Tiger auf unserer Spur seien. Wir befanden uns gerade vor einer Brücke von Schilfrohr, die über einen Strom geworfen war, und welche gewöhnlich nur Indianer mit ih­ rem leichten Gang betreten können. Zwischen spitzigen Felsen eingeschlossen, ergoß sich in der Tiefe der Strom mit tobender Gewalt. Lincoln, Frank und ich schritten ohne Unfall über die Brücke, aber Wharton war noch auf deren Mitte, alö die Tiger aus dem nahen Walde hervordrangen und, da sie uns erblickten, ein gräßliches Geheul anstimmtcn. Wir erkletterten die vor uns ste­ henden Felsen, und Wharton, der endlich ohne Unfall auf die andere Seite des Stromes gelangt war, zog sein Jagdmesser hervor und schnitt die Bänder ab, welche die Brücke an dem einem Ufer befestigten, in der Hoffnung, hierdurch unsern Feinden ein unübersteigliches Hinderniß entgegen zu setzen. Aber kaum hatte er seine Arbeit vollendet, als die Tigerin gegen den Strom rannte und versuchte, mit einem Sprunge hinüberzusetzen. Die Kraft des Thieres war der Entfernung nicht gewachsen; es sank, und ehe es den Grund deö Stromes er­ reicht hatte, war es an den spitzigen Felsen in tausend Stücke zerrissen. Sein Gefährte, dadurch nicht entmuthigt, machte denselben Versuch, und ein kräftiger Sprung trug ihn über die Kluft. Allein nur mit seinen Bordertatzen erreichte er das jenseitige Ufer, und, über dem Abgrund hängend, bemühte er sich um­ sonst, festen Fuß zu fassen. Wharton, der ihm ganz nahe war, ging muthig auf ihn zu und stieß ihm sein Jagdmesser in die Brust. Wüthend sammelte das Ungeheuer seine Kräfte, klammerte sich mit den Hinterpfoten an den Felsen und ergriff Wharton am Schenkel; aber dieser behielt seine aanze Kühnheit, umfaßte mit seiner Linken einen Baunlstamm und drückte mit Kraft das Mes­ ser tiefer in die Brust des Tigers. Dies alles war das Werk eines Augenblicks. Die Indianer, Lincoln,

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Frank und ich stürzten zu seiner Hülse herbei. Lincoln hatte die Flinte von Wharton, »weihe neben ihm lag, ergriffen und versetzte dem Tiger einen so mächtigen SchUg auf den Kopf, daß das betäubte Thier seine Beute loSließ und in dem Abgrund stürzte. Aber der unglückliche junge Mann hatte die Wucht scineeS Schlages nicht berechnet, seine Füße glitten aus, und da seine Hände nirgundt einen Anhaltpunkt fanden, stürzte er in den Strom, auf dessen Oberfläche mir ihn einen Augenblick sahen, worauf er für immer verschwand. Ein Schrei der Verzweiflung kam aus aller Mund. Als ich auS meiner Be­ täubung ervvayte, lag Wharton ohnmächtig am Abhange der Kluft. Seine Wunde, auS welcher das Blut strömte, war tief. Der Abend brach herein, und wir mußten urS entschließen, die Nacht hier zuzubrinaen. Di« Indianer machtai ein.Ferner in, um die Raubthicre abzuhalten. Äch aß einige Früchte und brachte die Macht schlaflos neben Wharton zu, deffen tiefe Athemzüge mich mit Entsetzen erifülltcn. Am andern Morgen trugen wir ihn in daS Dorf zurück; aber et erlangte unserer Sorgfalt und Pflege ungeachtet die Besinnung nicht wieder. Am dritten Tage erschütterte ein heftiges Zittern seine Glieder; er richtete sich in die Höhe und sprach einige verworrene Worte; darauf sank er nieder und mar nicht mehr. Dieses war der Ausgang meiner traurigen Reise auf den Chimborasso. AlS ich Wharton die letzte Pflicht erwiesen hatte, beeilte ich mich, eine Gegend zu »erfassen, die so schmerzliche Erimrerungen in mir zurückrief, und benutzte die erste Gelegenheit zur Rückkehr nach Europa. Ausland.

33. Otahiti. Ein Morgen war's, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel Otahiti in einer Entfernung von zwei Meilen vor »ns sahen. Der Ostwind, unser bisheriger Begleiter, hatte sich gelegt; ein vom Lande wehendes Lüftchen führte uns die erfrischendsten und herrlichsten Wohlgerüche entgegen und kräuselte die Fläche der See. Waldgekrönte Berge erhoben ihre stolzen Gipfel in mancherlei majestätischen Gestalten und glühten bereits im eisten Mprgenstrahl der Sonne. Unterhalb derselben erblickte daS Auge Reihen von niedrigern, sanft abhängenden Hügeln, die, den Berge» gleich, mit Waldung bedeckt und mit anmuthigem Grün und herbstlichem Braun schattirt warm. Bor ihnen lag die Ebene, von Brotfrucht-Bäumen und unzählba­ ren Palmen beschattet, deren königliche Wipfel weit über jene emporragten. Roch erschien alles im tiefsten Schlaf; kaum tagte der Morgen, und stille Schatten schwebten noch auf der Landschaft dahin. Allmählich aber konnte man NNter dm Bäumen eine Menge von Häusern und KanotS unterscheiden, die a»f d«n sandigen Strand heraufgezvgen waren. Eine halbe Meile vom Ufer lief eine Reihe niedriger Klippen parallel mit dem Lande hin, und über diese brach sich die See in schäumender Brandung; hinter ihnen aber war das Was­ ser spiegckglatt und versprach den sichersten Ankerplatz. Nunmehr flng die Sonne an, die Ebene zu beleuchten. Die Einwohner erwachten, und die Gegend be­ gann sich zu beleben. Kaim bemerkte man die großen Schiffe an der Küste, so eilten einige Znsulaner unverzüglich nach dem Strande herab, stießen ihre Kanots ins Wasser und vubirten auf uns zu. Es dauerte nicht lange, so waren sie durch die Oeffnung brö Riffs, und eins kam uns so nahe, daß wir es anrufen konnten. Zwei fqt ganz nackte Leute, mit einer Art von Turban auf dem Kopfe und mit einer Schärpe um die Hüften, saßen darin. Sie schwenkten ein großes, ?rünes Blatt in der Luft und kamen mit einem ost wiederholten laute» Tayo! eran, enem Ausruf, den wir ohne Mühe und ohne Wörterbuch als einen Freund-

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schaftsgruß auÄegen konnten. Die Wilden ruderten dicht unter das Hintertheil deS Schiffes, und wir ließen ihnen sogleich ein Geschenk von Glaskorallen, Nä­ geln und Medaillen hinab. Sie hingegen wiederum reichten uns einen grünen Pisangschoß zu, der bei ihnen ein Sinnbild des Friedens ist, und baten, solchen dergestalt am Schiff zu befestigen, daß er einem jeden in die Augen fiele. Dem­ zufolge ward er an dem Tauwerk des Hauptmastes festgemacht, worauf unsere Freunde sogleich nach dem Lande zurückkehrten. Es währte nicht lange, so sah man das Ufer mit einer Menge Menschen bedeckt, die nach uns hinguckten, indeffen andere/voll Zutrauens auf das geschlossene Friedensbündniß, ihre Kanots ins Waffer stießen und sie mit ihren Landesprodukten beluden. In weniger als einer Stunde umgaben uns Hunderte von dergleichen Fahrzeugen, in deren jedem sich ein, zwei, drei und zuweilen vier Mann befanden. Ihr Vertrauen zu uns ging so weit, daß sie sämmtlich unbewaffnet kamen. Von allen Seilen erscholl das willkommene Tayo, und wir erwiderten es mit wahrhaftem und herzlichem Vergnügen über eine so günstige Veränderung unserer Umstände. Sie brachten uns Kokusnüffe und Pisangs im Ueberfluß nebst Brotfrucht und andern Gewächsen, welche sie sehr eifrig gegen Glaskorallen und kleine Nägel vertauschten. Stücke Zeug, Fischangeln, steinerne Aexte und allerhand Arten von Werkzeugen wurden gleichfalls zum Verkauf ausgeboten und leicht angebracht. Die Menge von Kanots, welche zwischen uns und der Küste ab- und zugingen, stellte ein schönes Schauspiel, gewissermaßen eine neue Art von Messe auf dem Wasser dar. Ich fing sogleich an, durch die Kajütenfenster um Naturalien zu handeln, und in einer halben Stunde hatte ich schon zwei bis drei Arten un­ bekannter Vögel und eine große Anzahl neuer Fische beisammen. Die Farben der letzter» waren, so lange sie lebten, von ausnehmender Schönheit, daher ich gleich diesen Morgen anwandte, sie zu zeichnen und die Hellen Farben anzule­ gen, ehe sie mit dem Leben verschwanden. Die Leute, welche uns umgaben, halten ebenso viel Sanftes in ihren Zügen als Gefälliges in ihrem Betragen. Sie waren ungefähr von unserer Größe, blaßmahagonibraun, hatten schöne, schwarze Augen und Haare und trugen ein Stück Zeug von ihrer eigenen Arbeit mitten um den Leib, ein anderes aber irr mancherlei malerischen Farben wie einen Turban um den Kopf gewickelt. Die Kleidung der Frauen bestand in einem Stück Zeug, welches in der Mitte ein Loch hatte, um den Kopf durchzulassen, und hinten und vorne bis auf die Kniee herabhing. Hierüber trugen sie ein anderes Stück Zeug, das so fein wie Neffeltuch und auf mannichfaltige, jedoch zierliche Weise etwas unterhalb der Brust als eine Tunica um den Lew geschlagen war, so daß ein Theil davon, zuweilen mit vieler Grarie, über die Schulter hing. War diese Tracht gleich nicht vollkommen so schön, als die an den griechischen Statuen bewunderten Draperien, so übertraf sie doch unsere Erwartung gar sehr und dünkte uns der menschlichen Bildung ungleich vortheilhafter als jede andere, die wir biS jetzt Ssehen. Beide Geschlechter waren durch die von andern Reisenden bereits beriebenen sonderbaren schwarzen Flecken geziert oder vielmehr entstellt, die auS dem Punktiren der Haut und durch nachheriges Einreiben einer schwarzen Farbe in die Stiche entstehen. ES dauerte nicht lange, so kamen verschiedene dieser guten Leute an Bord. Das ungewöhnlich sanfte Wesen, welches ein Hauptzug ihres Nationalcharakters ist, leuchtete sogleich aus allen ihren Geberden und Handlungen hervor und gab einem jeden, der das menschliche Herz studirte, zu Betrachtungen Anlaß. Die äußern Merkmale, durch welche sie iyre Zuneigung zu erkennen geben wollten, waren von verschiedener Art. Einige ergriffen unsere Hände, andere lehnten sich auf unsere Schultern, noch andere umarmten uns. Zu gleicher Zeit be­ wunderten sie die weiße Farbe unserer Haut und schoben uns zuweilen die Klei-

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der von der Brust, als ob sie sich erst überzeugen wollten, daß wir ebenso be­ schaffen wären wie sie. Da sie merkten, daß wir Lust hätten, ihre Sprache zu lernen, weil wir uns nach den Benennungen der gewöhnlichsten Gegenstände erkundigten oder sie aus den Wörterbüchern voriger Reisenden hersagten, so ga­ ben sie sich viele Mühe, uns zu unterrichten, und freuten sich, wenn wir die rechte Aussprache eines Wortes treffen konnten. Was mich anlangt, so schien mir keine Sprache leichter als diese. Alle harten und zischenden Consonanten sind daraus verbannt, und fast jedes Wort endigt sich mit einem Selbstlauter. Was dazu erfordert ward, war bloß ein scharfes Ohr, um die mannichfaltigen Modificationen der Selbstlauter zu unterscheiden, welche natürlicherweise in einer Sprache vorkommen müssen, die auf so wenig Mitlauter beschränkt ist, und die, wenn man sie einmal recht gefaßt hat, die Unterredung sehr angenehm und wohlklingend machen. Unter andern Eigenschaften der Sprache bemerkten wir sogleich, daß das O und E, womit sich die meisten Nennwörter und Namen in Herren Cooks erster Reise anfangen, nichts als Artikel sind, welche in vielen morgenländischen Sprachen vor deren Nennwörtern herzugehen pflegen. Forster.

34. Das Meer und seine Schrecken. Der „Adler," ein amerikanischer Kutter, steuerte vor einigen Jahren von Philadelphia nach Barbados und erfreute sich mehrere Tage lang einer schnellen und glücklichen Fahrt, während der Westwind frisch in seine Segel blies. Nach und nach aber wurde die Schnelligkeit vermindert, die Segel wurden schlaff, und bald überließ eine völlige Winvstille den „Adler" der Gewalt einer Sttömung, die ihn mit reißender Schnelligkeit gegen die Klippen trug. An Ankerwerfen zu denken, war unmöglich; die gewaltigen Felsen, die sich senkrecht aus dem Grunde des Meeres erhoben, boten nichts dar als scharfe Zacken, das Schiff zu zerschellen, und einen Abgrund, es zu verschlingen. Indessen trug die Strö­ mung den Kutter immer vorwärts; die Wachen sahen von der Höhe der Ma­ sten die Sandbank unter der Fluth hell daliegen. Alle Segel waren aufge­ spannt; deffenungeachtet näherte man sich der Bank mit unwiderstehlicher Gewalt. Plötzlich erlitt der Kutter einen heftigen Stoß; er fuhr noch einige Augenblicke, stieß aber dann zum zweiten und endlich zum dritten Male auf. Das Vorder­ theil des Schiffes war durch die Felsen in die Höhe gehoben, während daS Hin­ tertheil noch im Wasser schwankte. Bei den beiden ersten Stößen des Kutters auf die Sandbank hörte man schon ein banges Flüstern der Mannschaft, aber beim dritten erscholl ein Schrei, ein einziger Schrei, herzzerreißend und unge­ heuer, und übertönte das Getöse der Wogen, die mit Gewalt über den Bord des Schiffes gingen. Der Unglücksfall, der das Schiff getroffen hatte, schien indessen nicht so groß zu sein, als man befürchtete. Man bemerkte nämlich nichts von einem Leck; der Kutter hatte nirgends Wasser; das Vordertheil war zwar auf die Spitze des Felsens gestoßen, und die äußere Fläche daran zerschellt, aber seine vortreffliche Ueberkleidung hatte den ersten Stößen widerstanden. Den­ noch war das Schiff seinem Untergange nahe, denn der Wind, der sich seit kur­ zem erhoben hatte, blies mit ungeheurer Gewalt, das Meer ging hoch, und der „Adler" schien, bei seiner Lage auf dem Felsen, jeden Augenblick der Gewalt der Elemente weichen zu müssen. Gegen neun Uhr Abends nahm die Heftig­ keit des Windes zu; das Meer ging immer höher; Wafferstürze überdeckten die Seiten des Schiffs und schienen es unabwendbar in den Fluthen begraben zu müssen. Plötzlich ertönte ein Angstgeschrei, der Bord sank bis auf den Spiegel deS McereS, und ungeachtet aller Manöver der Mannschaft war das Schiff entmastct und mit Wasser bedeckt. Der Lieutenant Smith stieg gerade auf das

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Berdeck, und in dem Augenblick, wo er den Fuß auf die letzte Stufe der Treppe setzte, ging der Kutter unter. Er sollte nicht mehr flott werden. Die Mannschaft, die aus virr und zwanzig Mann bestand, befand sich glücklicherweise auf dem Verdeck mit Ausnahme zweier Matrosen, die in dem Kutter ertranken. Ein Augenblick, und die ganze Mannschaft lag in den Wel­ len. Das Hülfegeschrei, unterbrochen vdn den herzzerreißenden Stimmen der Matrosen, welche ertranken, und die Ausbrüche der Wuth und der Verzweiflung der Uebrigen schienen einen Augenblick die Heftigkeit des Sturmes zu beschwich­ tigen; denn sobald der Kutter versunken war, legte sich der Wind, das Meer wurde ruhig, und der Schimmer des Mondes beleuchtete die blassen Gesichter unserer mit dem Ocean ringenden Schiffer. Mittlerweile kam die Schaluppe auf der Oberfläche des Wassers zürn Vor­ schein und schien zur Rettung der Mannschaft bestimmt. Mit einem Mesier zerschnitt man den einzigen morschen Strick, den letzten Halt, der die Existenz der Matrosen an den Kulter band, und nun war jede Verbindung zwischen ih­ nen und ihrem Schiff aufgehoben. Alle Matrosen schwammen sogleich auf die Schaluppe los und warfen sich, alle Klugheit vergessend, mit Heftigkeit auf das kleine Fahrzeug. Nicht mehr die gehorsame, wackere, verständige Mannschaft des „Adler," sondern eine rasende, nichtsnutzige Bande stürzte auf die zerbrech­ liche Maschine. Natürlich geschah, was man leicht voraussehen konnte: die Schaluppe, durch die Erschütterung aus dem Gleichgewicht gebracht, schlug um, und alles durch einander siel ins Meer. Bald halten die Matrosen die Scha­ luppe wiedergewonnen und hielten sich, so gut es ging, einige am Vorder-, andere am Hintertheil, daran fest, so daß sie mit den Armen und dem Kopfe außerhalb des Wassers blieben. Der Lieutenant Smith, ein Mann von Muth und Kopf und von großem Einfluß auf die Gemüther der Matrosen, setzte jetzt der Mannschaft auseinander, daß es keinem möglich sei, sich zu reiten, wenn matt noch länger in dieser Lage beharrte. Er zeigte ihnen die Nothwendigkeit, die Schaluppe wieder aufzurichten und zwei Mann hineinsteigen zu lassen, um das Waffer, womit sie angefüllt war, auszuschöpfen, während die Uebrigen, am Bord sich anklammernd, so lange im Meere blieben, bis die Schaluppe zwei Mann mehr einzunehmen vermöchte. So konnten, nach Maßgabe der Erleichterung der Schaluppe, die Matrosen nach und nach einsteigen und durch dies Rettungs­ manöver alle der schrecklichen Gefahr, die sie bedrohte, entrinnen. In der änßersten Gefahr gehorcht matt gern der Stimme der Vernunft. Das Geheiß des Lieutenants erging an Menschen, die auf dem Punkt waren, sich nicht länger hal­ ten zu können; es wurde ihm also unverzüglich Folge geleistet' und jeder machte sich ans Werk, so daß die Schaluppe alsbald wieder umgedreht war. Zwei Matrosen sprangen sogleich hinein, und vermittelst zweier Hüte begannen sie das Wasser, mit dem das Boot angefüllt war, anszuschöpfen. Bald stiegen zwei andere Matrosen in die Schaluppe, und alle konnten jetzt hoffen, der Reihe nach sich zu retten; denn jeder that pünktlich seine Schuldigkeit, den Weisungen des Lieutenants blind gehorchend, der sie durch Wort und Beispiel anfeuerte. Schon befanden sich sechs Mann in dem kleinen Fahrzeuge, als Plötzlich ein Matrose mit Entsetzen schrie, er erblicke die Flossen eines Haifisches. Der Schrecken, welcher die Unglücklichen ergriff, die mitten in der Fluth umher wog­ ten, läßt sich nicht beschreiben. Von diesem Moment an wurde die Stimme des Lieutenants nicht mehr gehört. Die Matrosen, die sich am Bord der Scha­ luppe festhielten, eilten, sich dieser neuen Gefahr zu entziehen, schwangen sich mit einer unwillkürlichen Bewegung, alle auf einmal, in die Schaluppe und warfen sie von neuem um. Gleichwohl ließ sich der gefürchtete Feind nicht se­ hen, und der Lieutenant trieb die Matrosen noch einmal an, für ihr gemeinsa­ mes Heil das einzige Mittel, das in ihrer Gewalt stand, anzuwenden. Er

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wußte wohl, daß es ihm nicht gelingen würde, den Schrecken der Matrosen durch die Versicherung, daß sich in diesen Breiten nie Haifische zeigten, zu be­ schwichtigen. Er befahl daher den Matrosen, die sich wieder an die Schaluppe angeklammert hatten, mit den Füßen im Wasser umherzustoßen und es, so viel sie im Stande wären, in Bewegung zu setzen, um dadurch die Ungeheuer, die ihnen so viel Schrecken verursachten, fern zu halten. Das vom Lieutenant an­ gegebene Manöver wurde nach und nach ausgeführt, und noch einmal wurde die Hoffnung in den Herzen der Schiffbrüchigen lebendig. Die Schaluppe ent­ hielt nicht mehr viel Wasser, und vier Mann waren bereits eingestiegen; noch ein wenig Geduld, noch einige Anstrengung, Ordnung, Ruhe, Gehorsam, und die ganze Mannschaft war gerettet. In diesem Augenblick, gerade als die Ma­ trosen, die sich im Wasser befanden, immer schwebend am Bord, ihre Kamera­ den in der Schaluppe antrieben, unermüdlich fortzufahren in ihrer Arbeit, das Fahrzeug trocken zu machen, entstand, dicht bei ihnen, ein großes Geräusch, und sie erblickten fünfzehn Haifische, die auf die Schaluppe loskamen. Bei diesem Anblick stieg der Schrecken aufs äußerste. Jeder verließ seinen Posten, um sich auf daS zerbrechliche Fahrzeug zu retten; es schlug um, und die zweiund zwan­ zig Matrosen waren dem schrecklichsten Tode geweiht. Anfangs schienen die Haifische wenig geneigt, ihre Beute zu ergreifen, denn sie schwammen, auf den Wellen spielend, mitten unter den Matrosen umher und schossen an ihnen vor­ bei, ohne ihnen ein Leid zuzufügen. Doch währte dies nicht lange. Plötzlich verkündigte ein Angstgeschrei, den einer der Schiffbrüchigen ausstieß, einen ent­ setzlichen Schmerz und hallte tief wider im Herzen eines jeden. Ein Hai hatte einen Matrosen beim Fuße gefaßt und ihm denselben völlig vom Leibe weggebissen. Sobald die Ungeheuer Blut gekostet hatten, begann der fürchterliche Angriff; herzzerreißendes Geschrei ertönte von allen Seilen, und bald waren die Wellen um die Schaluppe herum von Blut gefärbt. Der Lieutenant fuhr selbst in diesem Moment, wo ihn der schaudervollste Tod bedrohte, ununterbrochen fort, mit kaltem Blut und größter Bestimmtheit seine Befehle zu ertheilen, und ^ur Ehre der unglücklichen Mannschaft fei es ge­ sagt, er wurde noch gehört. Die Schaluppe wurde glücklich umaewendet, zwei Mann stiegen unverzüglich hinein, und einige Matrosen, die sich wie früher an den Bord anklammerten, hielten das Boot im Gleichgewicht. Lieutenant Smith selbst hielt sich am Vordertheil fest und bemühte sich , von da aus den Muth seiner Kameraden aufrecht zu erhalten. Aber die Haifische verfolgten die Schaluppe, und es war sehr unwahrscheinlich, daß sie eine so reiche Beute soll­ ten führen lassen. Herr Smith ermuthigte unaufhörlich die Matrosen in ihrer Anstrengung, die Schaluppe zu leeren, und vergaß dabei einen Augenblick, das Wasser mit den Füßen zu erregen. Da faßte ein Hai seine beiden Beine und verschlang sie mit seinem weiten Nachen. Ein gräßlicher Schrei, den zu ver­ halten er sich vergebens anstrengte, entfuhr dem Unglücklichen. Der würdige Lieutenant hatte bei den Matrosen immer in der höchsten Achtung gestanden, und clle kannten seine Tapferkeit und seinen Edelmuth. Sobald sie chn daher in die Wellen versinken sahen, ergriffen zwei Mann ihren sterbenden Führer und loben ihn auf den Bord der Schaluppe. Der brave Offizier, obgleich den fürchterlichsten Schmerzen zum Raube, schien doch sein eigenes Weh zu verges­ sen md wollte es noch nicht aufgeben, die Trümmer seiner Mannschaft dem Tode zu entreißen, ffliit schwacher Stimme ertheilte er den Matrosen seinen Rath, beklagte ihre entsetzliche Lage und sagte zuletzt: „Wenn einer von euch diese chreckliche Nacht überlebt und zurückkommt nach Philadelphia, so sage er unseren Admiral, daß ich mit der Aufsuchung der Seeräuber beschäftigt war, als dieses «.Unglück über uns hereinbrach; er sage ihm, daß ich stets meine Pflicht gethan und daß ich . . . ." Hier verursachten die Anstrengungen einiger Ma-

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trosen, in die Schaluppe zu gelangen, eine heftige Erschütterung; die beiden, welche den Lieutenant in ihren Armen hielten, ließen ihn aus Furcht, ins Meer zu fallen, einen Moment los, um das Geländer zu gewinnen; der Unglückliche rollte in die Wellen und verschwand augenblicklich. Seine letzten Worte ver­ loren sich unter dem Geschrei seiner Gefährten, und er kam nicht wieder zum Vorschein. Mit ihrem Führer verschwand die letzte Hoffnung der Schiffbrüchigen. Welch schreckliches Schauspiel! Diese Menschen, bleich, von Wasser triefend, mit verwildertem Haar und langen Bärten, in zerrissenen Kleidern, wogten hier durch einander mitten in den Fluchen, nicht wissend, wie sie sich der Gefräßig­ keit der Ungeheuer entziehen sollten. Mehrere halten schon das Leben eingebüßt; diejenigen, welche noch bis dahin den Verfolgungen der Haifische entgangen wa­ ren, strengten sich noch einmal an und suchten eine Zuflucht in der Schaluppe

— aber das elende Ding schlug von neuem um. Erschöpft und abgemattet und unaufhörlich von den Haien verfolgt, gaben sie jetzt alle Hoffnung auf, sich zu retten, und ertranken unter entsetzlichen Flüchen oder wurden von den Haien verschlungen mit Ausnahme zweier Matrosen, denen es gelang, auf den Kiel der Schaluppe zu steigen. Der „Adler" war ungefähr um acht Uhr ver­ sunken, und gegen zehn Uhr war die ganze Mannschaft eine Beute der Haie geworden oder im Meer umgekommen. Nur jene zwei Matrosen waren übr g geblieben. Noch wurden diese beiden Unglücklichen von der Hoffnung auf Ret­ tung aufrecht erhalten; sie nahmen der eine am Vorder-, der andere am Hinter­ theil Platz, und obgleich sie von Müdigkeit abgespannt und ganz mit Wunden bedeckt waren, welche die Schärfe des Meersalzes noch brennmder machte, so glaubten sie sich dennoch in einer Art von Sicherheit. Sie fingen an, das Waffer aus ihrem Fahrzeug auszuschöpfen, und hatten es bald so weit erleich­ tert, daß sie nicht mehr zu fürchten brauchten, es noch einmal umschlagen zu sehen. Hierauf versuchten sie, einige Augenblicke der Ruhe zu genießen. Der fürchterlichen Scenen ungeachtet, von denen sie Zeuge gewesen waren, und an­ gesichts der schrecklichen Gefahren, die sie noch immer umdrohten, versanken sie in einen tiefen Schlaf, und es war schon heller Tag, als sie zu ihrer entsetzens­ vollen Lage wieder erwachten. Die Unglücklichen, die dem Tode durch ein Wunder entgangen waren, wur­ den nun durch verzehrenden Hunger und Durst gequält; denn seit sechsund­ dreißig Stunden hatten sie keine Nahrung zu sich genommen. Der Hanger wühlte in ihren Eingeweiden, der Durst brannte in ihrem Halse, und sie hat­ ten am Bord der Schaluppe weder Wein noch Zwieback noch sonst ein arderes Nahrungsmittel: kein Strahl von Hoffnung blieb ihnen mehr übrig. Beide lagen in todesähnlicher Erstarrung, mit bleicher Stirn und die Verzweiflung im Auge und hefteten die entsetzten und schmerzvollen Blicke auf die Wogen, velche die Schaluppe schaukelten. Sie waren mit dem Schrecken vertraut; dock war es der Tod in seiner qualvollsten Gestalt, der vor ihnen stand. Durst, Hun­ ger, Verzweiflung, Hitze zehrten an ihnen, während sie unter einem heileren, blauen Himmel in der reinsten Luft von einer sanften Strömung fortgetneben wurden. Es schien ihnen, daß sie weit vom Lande entfernt sein müßten, denn der Wind, der sich erhoben hatte, mußte sie weit von der Stelle entfernt laben, wo der Schiffbruch geschehen war. So waren sie also auch der letzten Hofnung beraubt, die Schaluppe an die Küsten Amerikas getrieben zu sehen. Plötzlich erhob der Matrose, der sich auf dem Vordertheil des Fahrzeugs befand und der, die Augen auf den Horizont gerichtet, mit Aufmerksamkeit an seiner un­ sicheren und nebligen Linie hing, ein lautes Geschrei. Dann aber rief er mit einem Ausdruck der Freude, der sich nicht beschreiben läßt: „Ein Sega! ein Segel!" Die erloschenen Augen seines sterbenden Gefährten belebten sich bü die-

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fern zauberischen Wort; er strengte sich an, sich aufzurichten, und wandte seine schwachen Blicke nach dem Flecke hin, den ihm sein Freund bezeichnete. Ein heilender Balsam schien auf ihre Wunden zu fließen, ihre Schmerzen zu lindern, ihren Hunger zu stillen. Ein Segel! Dieses Wort wurde wiederholt, gesungen, geschrieen mit einer Freude, einem Taumel, die unaussprechlich waren; denn nach und nach sah man mit größerer Deutlichkeit das Segelwerk einer Fregatte in den Strahlen der Sonne glänzen. Als jede Ungewißheit verschwunden war, stürzten die beiden Matrosen, vom lebhaftesten Dankgefühl durchdrungen, auf ihre Kniee; ihre Augen füllten sich mit Thränen, sie falteten ihre zitternden Hände und dankten Gott für die unerwartete Hülfe, die er ihnen schickte. Die Fregatte kam gerade auf die Schaluppe los, und unsere Matrosen machten alle Arten von Zeichen, überzeugt, daß man sie erblickt hätte, und daß die Fregatte zu ihrer Rettung herbeikäme. Aber sie täuschten sich: die Fregatte lavirte nur, und als sie ihren Schlag beendet hatte, wendete sie sich zu einem neuen und setzte so ihren Weg aufs genaueste mit dem Winde fort. Als die Unglücklichen sahen, wie sich das Schiff entfernte, verdoppelten sie ihre Zeichen, warfen ihre Jacken in die Luft und schrieen aus allen Kräften; aber alles war umsonst. Niemand hatte sie gesehen, und die Fregatte entfernte sich, indem sie nach und nach von der Höhe verschwand, immer kleiner wurde und schon in Dunst sich verschleierte. Da folgte ein Zustand der äußersten Niedergeschlagen­ heit auf die Ausbrüche des Entzückens, welche die Hoffnung in den beiden Un­ glücklichen erregt hatte. Noch konnte man das Segelwerk des Schiffes erblicken, aber in einem Augenblick mußte es ganz verschwinden. Der eine Matrose sank alsbald in die äußerste Verzweiflung zurück; aber sein Gefährte, wie beseelt von einer plötzlichen Eingebung, rief aus: „Entweder ich versuch' es, oder wir sind verloren!" „Was willst du versuchen?" fragte ihn sein Kamerad, indem er ihn erstaunt anblickte. „Obgleich es," versetzte der erste, „nach dem, waS wir in der verwicheuen Nacht erlebt haben, sehr schwer, tvenn nicht unmöglich ist, so muß es doch gewagt werden; denn in einigen Minuten ist daS Schiff uns auS dem Gesicht, und dann bleibt uns nichts übrig als der Tod. Ja, ich versuche eS, das Schiff durch Schwimmen zu erreichen, und wenn ich so glück­ lich bin, daß mir's gelingt, so rette ich dich; wenn aber meine Kräfte mich ver­ lassen —'' Sein Gefährte wollte sich seinem Vorhaben widersetzen; er erin­ nerte ihn daran, daß das Schiff schon zu weit entfernt wäre, und daß ja ein anderes sich vielleicht noch sehen ließe. Aber der brave Matrose war schon ins Meer gesprungen, und da er mit ungemeiner Fertigkeit schwamm, so schien es, daß er endlich das Schiff erreichen würde, wenn er nicht einem Hai begegnete. Plötzlich erblickte er eins dieser Ungeheuer, das auf ihn los kam; ohne aver den Muth zu verlieren, erregte er mit großem Getöse die Wellen um sich herum und tauchte dann unter. Der Hai ist das gefräßigste, zugleich aber auch das feigste aller Meerungeheuer; er erschrickt vor dem geringsten Geräusch und fällt nur über seine Beute her, wenn sie sich in der vollkommensten Ruhe befindet. Dieser Gefahr also entging unser Matrose; aber er war noch eine sehr große Strecke vom Schiff entfernt, und der Wind, der stärker geworden war, vermehrte die Schnelligkeit der Fregatte. Endlich nach außerordentlichen Anstrengungen Jlaubte er sich dem Schiffe nahe genug, nm zu hoffen, daß seine Stimme geört werden könnte; so schrie er denn mehrmals laut auf, aber vergebens. Nie­ mand war in diesem Augenblick auf dem Verdeck, und der Steuermann dachte nur an den Lauf des Schiffes und vernahm das Geschrei nicht. Das Schiff entfernte sich immer weiter, und es war nun auch kein einziger Strahl von Hoffnung mehr in der Seele des Matrosen, da er fühlte, daß seine Kräfte auf dem Punkt waren, ihn zu verlaffen. Nach der Schaluppe, die er verlassen hatte, zurückzuschwimmen, war ein Ding der Unmöglichkeit; denn sie war gegenwärtig

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schon zu weit entfernt, und übrigens wär and) sein Gefährte in einer eben so schrecklichen Lage, wie er selbst. / So sah der Unglückliche seinen Tod vor Augen und schickte sich schon an, sein letztes Gebet zu sprechen, um vor Gott zu erscheinen, als er, seinen Blick noch einmal nach dem Schiff erhebend, einen Menschen auf dem Hinterkastell gewahrte. Sogleich erhob er seine Hände mit Gewalt und schrie und bewegte sich auf alle nur mögliche Weise, um die Aufmerksamkeit jenes Menschen auf sich zu ziehen. Wie groß war seine Freude und sein Entzücken, als er sah, daß man seiner gewahr geworden! Denn er bemerkte, wie man ein Fernglas auf ihn hinrichtete, und wie einen Augenblick später zwei Mann in eine Scha­ luppe sprangen, und in vollem Rudern auf ihn los kamen. Bald war er aus seiner schrecklichen Lage befreit, und die Schaluppe eilte sodann zu seinem Ge­ fährten, der unterdeß, wie man wohl denken kann, der fürchterlichsten Angst zum Raube gewesen war. So wurden diese beiden Matrosen gerettet, die ein­ zigen UeKerbleibsel von der Mannschaft des „Adler." Magdin für ausländische Literatur.

35. Der Rindcrhirt. Einst mußte ich während der Regenzeit die Nacht in einer kleinen Herberge Neu-Hollands zubringen, welche am Abhang einer Hügelreihe lag und in die­ ser Nacht mehreren Ochsenknechten vor dem strömenden Regen Zuflucht ge­ währte. Da ich einen langen und ermüdenden Ritt über schlimmen Boden gemacht hatte, so zog ich mich nach dem Abendessen in die fernste Ecke des einzigen Gemachs, das die Hütte enthielt, zurück und wickelte mich in meine Decke. Mit halbgeschloffenen Augen dampfte ich schweigend meine Pfeife und horchte nur mit halbem Ohre auf das wirre Geplauder der Buschknechte. Zum Glück für meine Ruhe war des Wirthes Rumvorrath schon seit einiger Zeit erschöpft, und da nach mir weiter kein Reisender gekommen war, so hatte auch das Braten und Rösten aufgehört. Aber deshalb wurde es im Zimmer noch keineswegs ruhig, denn die Knechte, ohne Ausnahme frühere Sträflinge, blieben am Feuer sitzen und erzählten einander ihre Heldenthaten. Zuerst drehte sich die Unterhaltung um die gewöhnlichen Gegenstände, nämlich um die in der alten Welt verübten Bubenstücke und um die Gefahren des Buschlebens, bis endlich ein Stoff an die Reihe kam, der alle anderen verdrängte: es waren die Heldenthaten eines durch seinen Muth und seine Körperkraft in der ganzen Ko­ lonie berühmten Rinderhirten, Namens Dick. „Ja, ja," sagte einer, „ich kenne Dick und kann euch versichern, daß er es mit uns allen aufnimmt, wie wir hier sitzen. Hat er doch einmal gegen hundert bewaffnete Schwarze in die Flucht geschlagen." Müde, wie ich war, schlummerte ich endlich ein, hörte aber noch bisweilen, wenn irgend eine neue Heldenthat erzählt wurde, die Worte auSrufen: „Bravo, Dick!" „DaS ist seine Art'!" „Hurrah, Dick!" Mehrere Monate lang konnte ich den Gedanken an Dick nicht los wer­ den; in der mit der Errichtung einer neuen Ansiedelung verbundenen Unruhe vergaß ich ihn aber endlich doch und hörte dann auch nicht wieder von ihnr sprechen. Etwa ein Jahr später trat ich eine dreitägige Reise an, um mehrere Wid­ der zu kaufen. Der Weg führte mich durch eine mir völlig neue Gegend. Am Abend des zweiten traf ich einen Mann mit zerbrochener Muskete, der den rech­ ten Arm in einer Binde trug. Er sah tückisch und boshaft aus und wandte, so lange ich mit ihm sprach, die Augen nicht von meinem doppelläufigen Pistol. Er bat um etwaö Thee und Zucker; da ich diese Waaren nicht entbehren konnte, so warf ich ihm ein Stück Taback zu. Auf meine Fragen in Betreff seines Ar-

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mes erzählte er mir, das; ihn TagS zuvor ein Stier angegriffen, ihn in einen Sumpf gestoßen, ihm den Arm zerbrochen und zugleich den Verlust seines Thee- und ZuckerbentclS veranlaßt habe. Die Stiere in Australien greifen in der Regel den Menschen nicht an; vor einigen Jahren aber war ein Theil des von der australischen Compagnie auö den Hochlanden eingeführten schwarzen Rindviehs in die Berge geflohen und dort ganz verwildert. Aus dieser Heerde kamen damals ab und zn einzelne Stiere in die Niederungen hinab und mach­ ten, indem sie wüthend umherschweiften, die ganze Gegend unsicher. Als ich hinwegritt, war cd mir ganz lieb, daß meines guten Freundes Arm und Ge­ wehr unbrauchbar war; denn er sah nicht auö wie einer, dem man mitten im dichten Gebüsch gern begegnet. So ritt ich denn in munterem Trabe davon, indem ich von Zeit zu Zeit umherspähte, ob etwa noch mehr solcher Wanderer in der Nähe wären. Nach einiger Zeit erfuhr ich den Namen des Mannes mit dem zerbrochenen Arm, und ein Jahr später überzeugte ich mich, daß ich ihn ganz richtig beurtheilt hatte, denn da wurde er wegen Straßenraubs zu lebenslänglicher Strafarbeit verurtheilt. Mit Sonnenuntergang erreichte ich die Hütte, in der ich zu schlafen ge­ dachte; ich fand sie aber verlaffen und so voll Ungeziefer, daß ich eS vorzog, im Freien zn übernachten. 3d) fesselte daher meinem Grauschimmel die Füße, ließ ityrt auf dem besten Grasfleck, den ich finden konnte, weiden und wickelte und) in meinen Mantel. AlS ich am nächsten Morgen nach meinem Pferde sehen wollte, war es nirgend zu finden. Offenbar hatte sich das arme Thier, von Durst geplagt, seiner Fesseln entledigt und std) dann aufgemacht, um einen Fluß oder See aufzusnchen. Ich nahm nun den Sattel auf den Kopf und folgte der Spur stundenlang; aber obglcid) id) so lange ging, bis meine Füße voller Blasen waren, so gelang es mir doch nicht, dem Thiere näher zu kommen. Auf dem steinigen Boden hatte ich die Spur verloren und war schon im Begriff, das Suchen aufzugeben, als ich endlick) in eine sumpfige Ebene kani, ht der ich frische Hufabdrucke bemerkte. Einige hundert Schritte weiter wälzte sick) der Graue ganz behaglid) in den: Schlamm eines fast ausgetrockne­ ten Teichs. Ick) legte den Sattel nieder und rief das Thier bei seinem Na­ men; da hörte ich plötzlich in dem Busd)werk hinter mir ein lautes Brüllen und Krachen, und einen Augenblick später stürzte ein schwarzer Hochlandsstier in wildem Lauf gerade auf mich zu. Id) hatte eben noch Zeit, mich seitwärts platt auf die Erde zu werfen, als er an mir vorüberschoß. Rasch kroch ich dann Nach einer kleinen Baumgruppe hin, in deren Mitte sich ein großer Stamm erhob. Als der Stier sah, daß er sein Ziel verfehlt hatte, wendete er schnell um und ließ seine Wuth zuerst an meinem Sattel aus, indem er ihn mehrmals in die Luft warf, bis er zwischen die Büsche fiel. Dann sah er fick) nad) ei­ nem neuen Opfer um, und als er mich ausgewittert hatte, begann er, schar­ rend und brüllend, die Banmgruppe zu umkreisen, in deren Mitte ich mich befand. Seine rothen Augen und seine langen, spitzen Hörner gaben ihm das Anschn eines Teufels. Ich war ganz ohne Waffen, da id) mein Messer Tags zuvor zerbrochen hatte; meine Pistolen steckten in der Satteltasche, und überdies war ich auf den Tod ermüdet. So blieb mir denn nichts weiter übrig, als, zwischen den Bäumen hin- und hersprinaend, der Bestie auszuweichen, bis sie deS Spiels überdrüssig sein würde. Ein Unglück war es, daß ich meine treuen Hunde zn Hause gelassen hatte, denn sie würden mid) mit leichter Mühe von ihr befreit haben. Der Stier schien überaus wild und kampflustig zu sein, denn er stürzte immer aufs neue heran, indem er zuweilen mit solcher Kraft gegen den großen Baum anlief, daß er auf die Knie niedersiel. Oft bog er die jungen Bäume, hinter denen id) stand, dermaßen vor, daß seine Hörner

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mich fast erreichten. Zu meinem Unglück hatte der große Baum keine Zweige, die ich hätte fassen können, um hinaufzuklettern. Wie lange dieses fürchterliche Spiel dauerte, weiß ich nicht; mir schienen es Stunden. Nachdem die erste Aufregung vorüber' war, überkam mich wieder das Gefühl der Erschöpfung, und nur der Trieb der Selbsterhaltung konnte mich auf den Beinen halten. Manchmal verließ mich der Stier auf einige Sekunden, indem er brüllend hinwegtrabte; aber immer kam er, ehe ich eine bessere Stellung gewinnen konnte, wieder in vollem Laufe zurück. Die Zunge klebte mir am Gaumen, meine Augen wurden trübe, und die Kniee zitterten mir dermaßen, daß ich mich kaum aufrecht erhalten konnte. Ich fühlte, daß ich verloren war, und dachte schon daran, mich in mein unabwendbares Schicksal zu ergeben; der Stier aber schien zu wissen, daß ich erschöpft war, und seine Angriffe wurden immer wilder und heftiger. Aber gerade, als ich im Begriff war, unter dem großen Baum fräst* loS niederzusinken und von dem wüthenden Thiere den Todesstoß zu empfangen, hörte ich in den Felsen zu meiner Rechten Pferdegetrappel und einen Ruf, der mir wie die Stimme eines Engels klang. Dann ertönte Hundegebell und der laute Knall einer Peitsche; der Stier aber hielt seine teuflischen Augen fest auf mich geheftet und wich nicht von der Stelle. In vollem Laufe sprengte jetzt ein Reiter heran, und seine Peitsche traf das Fell des Stiers mit solcher Gewalt, daß das Blut in einem langen Strei­ fen herausspritzte. Der Stier kehrte sich wüthend um und griff nun den Rei­ ter an: .dieser aber schwenkte sein Pferd, so daß es dem Stoße auöwich, und dann fiel die Peitsche wieder wie ein langes, biegsames Messer auf den Rücken des rasenden Stiers. Dieser ließ sich freilich mit einer Peitsche nicht in die Flucht treiben, sondern griff immer von neuem an; er hatte jedoch seinen Meister gefunden. Rechts und links, wie es nöthig war, wendete sich das Roß und drehte sich bald auf den Hinter-, bald auf den Vorderbeinen, bis endlich der Reiter vom Pferde sprang und sich, mit einem langen Meffer zwischen den Zähnen, dem Stier entgegenstellte. Als die Bestie den Kopf zum Stoße senkte, schien er sie bei den Hörnern zu packen; ein kurzer Kampf erfolgte, von dem ich nicht viel sehen konnte, weil eine dichte Staubwolke die Kämpfenden ver­ hüllte, der aber ein Geräusch verursachte, als ob zwei starke Männer mit ein­ ander rangen. Einen Augenblick später lag der Stier auf dem Rücken; ein Blutstrom floß aus seiner Kehle, und seine Glieder zuckten in Todesschauern. Der Fremde, mit Schmutz und Staub bedeckt, kam jetzt auf urich zu und sagte so ruhig, als wenn er ein Kalb tm Schlachthause get'ödtet hätte: „Der ist todt, junger Mann; der thut keinem mehr etwas zu Leide." Ich that zwei oder drei Schritte nach dem todten Thiere hin ; da schwanden meine Sinne, unb ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder zur Besinnung kam, stand mein Pferd, gesattelt und gezäumt, an einen Baum gebunden. Mein Retter war beschäftigt, dem Stier das Fell abzuziehen. Als ich ihn fragend anschaute, sagte er: „Ich möchte ein Paar Stiefeln von dem alten Teufel haben, ehe die Geier sein Fell durchfrefsen." Wir ritten nun aus der Niederung einen sanften Abhang hinauf. Ich war nicht zum Plaudern aufgelegt und sagte nur: „Ihr habt mir daS Leben gerettet." Ich mochte ihm gen: in irgend einer Weise meine Dankbarkeit be­ thätigen; ich zog daher eine silberne Uhr aus der Tasche und gab sie ihm in die Hand. Er aber stieß sie barsch zurück und sagte: „Nein, Herr, ich nehme weder Geld noch Geldeswerth für eine solche That, obgleich ich späterhin wohl einmal eine Bitte an Sie haben könnte. Uebrigens sind Sie mir keinen Dank schuldig. Ich hatte dem schwarzen Satan einen Denkzettel zugedacht, weil er mir unlängst ein Füllen getödtet hatte. Als ich Sie erkannte, freute ich mich, daß ich zu rechter Zeit gekommen war, denn meine Freunde haben mir gesagt,

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daß Sie ein wackrer Mann sind." „Sie scheinen mich zu kennen," antwor­ tete ich. „Darf ich fragen, wer Sie sind? Ich erinnere mich nicht, Sie je gesehen zu haben." „Ei," erwiderte er, „sie nennen mich hier zu Lande Dick." Die Scene in der Herberge am Wege trat jetzt wieder lebhaft vor meine Seele. Bevor ich jedoch etwas sagen konnte, brachte uns eine scharfe Wendung des Weges an eine Schäferhütte, aus der die Hunde bellend hervorstürzten. Wir riefen und klatschten mit den Peitschen, und der Bewohner der Hütte kam uns mit einem brennenden Stück Holz in der Hand entgegen. „Gott segne und schütze mich! Dick, bist vu endlich da? Ich dachte schon, du kämst gar nicht wieder!" rief der Schäfer, ein kleiner Mann, der, auf seinen Krückstock gestützt, rasch vorwärts hinkte. „He, Frau, Dick ist da!" Diese Worte wurden mit einem lauten, gellenden Ton ausgerufen. Die Frau kam in höchster Eile heraus; voller Freude umarmte sie Dick, der eben vom Pferde gestiegen war, und lachte und weinte durcheinander, während ihr Gatte die Hand des Heerdenknechts schüttelte und' in herzlichem Tone sagte: „Gott, Dick, was freu' ich mich, dich zu sehen!" Dazu machten die bellenden Hunde und die blökenden Lämmer einen betäubenden Lärm. Ich führte unter­ dessen die beiden Pferde nach der andern Seite der Hütte, wo mir ein Schäfer für die ausgehungerten Thiere ein Grasgehege anwies. Ich fragte ihn, was die Scene zwischen seinem Genossen und dem großen Heerdenknechte bedeute; er aber antwortete: ,,Was das bedeutet, Fremder? Nun, das ist Dick, und mein Genoffe ist der kleine Iemmy, den Dick gerettet hat, als die Schwarzen die ganze übrige Gesellschaft, wohl ein Dutzend Menschen, todtschlugen." Als ich zurückkam, dampfte das Abendessen auf dem Tische, und wir hielten eine ordentliche Buschmahlzeit. Der Heerdenknecht erzählte dann mein Abenteuer, und als sie ihre Neuigkeiten ausgetauscht hatten, wurde es mir nicht schwer, de.n Hüttenbewohner auf den Punkt zu bringen, wo ich ihn haben wollte. Die Schwierigkeit war nur, Mann und Frau abzuhalten, daß sie nicht zugleich er­ zählten. Endlich brachte ich die folgende Erzählung aus dem Schäfer heraus. „Dick war," sagte er, „als ich ihn kennen lernte, zweiter Heerdenknecht bei Herrn Ronalds, und ich war dort Schäfer. Ich fühlte mich in meiner Stellung ganz glücklich, und meine Frau besorgte mir das Hauswesen. Dick und ich würden bald gute Freunde. Während der großen Dürre vor fünf Jahren beschloß Herr Ronalds, eine Anzahl Bieh nach dem Norden zu schicken, wo genug Wasser und Gras vorhanden sein sollte, und dort eine Station zu errichten. Dick wurde zum Heerdenknecht ausgewählt, und ein junger Herr, ein Verwandter des Herrn Ronalds, ging als Aufseher mit, ein alberner, ein­ gebildeter junger Mann, der das Buschleben nicht kannte und sich nicht beleh­ ren lassen wollte. Außerdenl gingen noch ein Schmied, Namens Jack, zwei Ochsentreiber und acht Holzspalter mit. Auch ich bekam die Erlaubniß mitzu­ gehen, und ich nahm sie mit Freuden an, weil ich gern das Land kennen ler­ nen wollte. Ich sollte die Vorräthe beaufsichtigen und die Feldarbeit verrich­ ten. Wir hatten zwei Karren bei uns und waren gut bewaffnet. Etwa vierzehn Tage waren wir unterwegs, ehe wir das neue Land erreichten, und dann zogen wir noch fünf Tage landeinwärts. Manchmal blieben wir vierundzwanzig Stun­ den ohne Wasser, und oft mußten wir die Karren zwei- oder drermal an einem Tage abladen, wenn uns ein Fluß in den Weg kam. Den fünften Tag fan­ den wir schönes Land; das Gras ging den Pferden bis an den Hals; das Flußbett bestand aus einer Reihe von Löchern, welche mit hellem Wasser anaefüöt waren, und die Känguruhs hüpften umher, wie Kaninchen in einem Gehege. Wir hatten schon seit einigen Tagen verschiedene Anzeichen der Schwar­ ten bemerkt, aber sie selbst nicht zu Gesicht bekommen, wenn wir auch beim Einbruch der Nacht ihren wilden Ruf deutlich vernehmen konnten. Darum

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hielten wir ordentliche Wacht, indem wir stets vier Schildwachen ausstellten, und jeder schlief mit dem Gewehr ini Arm." „Da Dick dem Vieh folgen mußte, so rieth ich ihm, an seiner Büchse den Lauf absägen zu lassen, damit er sie bequemer zu Pferde gebrauchen könne. Er nahm memen Rach an, und Jack führte ihn aus, so daß Dick das Ge­ wehr, wenn es ihm an einer Schnur um den Hals hing, auch zu Pferde be­ quem abfeuern konnte. Das war ein Glück, wie sich nachher auswies." „Endlich wählte der Aufseher einen Platz für die Station aus. Er hatte vortreffliches Wasser und GraS und, wie der Aufseher sagte, auch eine schöne Aussicht; aber waö die Sicherheit betraf, so lag er zu nahe an einem Dickicht, in welchem sich die Wilden in den Hinterhalt legen kennten. Die alten Busch­ knechte meinten daher, ein vom Wasser umgebener Fleck wäre besser, und daran hatten sie, wie ich mich bald überzeugen konnte, nicht Unrecht. Wir gingen nun an die Arbeit und hatten bald die nöthige Anzahl Bäume gefällt. Jack stellte seine Schmiede auf und den Schleifstein, um die Aexte scharf zu halten, und ich blieb bei ihm. Dick trieb das Vieh hinaus, und der Aussetzer saß auf einem Klotz und schaute zu. Am zweiten Tage kam ein Haufen Schwarzer an das gegenüberliegende Ufer des Flusses herunter. Sie sahen sehr wild aus, aber einige unserer Leute gingen ihnen mit grünen Zweigen entgegen und schlos­ sen Frieden mit ihnen. Unser Brot und Zucker schmeckte ihnen, und bald leistete ein Theil von ihnen uns allerlei Dienste, denn sie fischten für uns, brachten uns wilden Honig und Känguruhs und erhielten dafür allerlei Nahrungsmittel. So wurden wir allmählich sorgloser; nur Dick traute ihnen nicht und hörte nicht auf, uns zu warnen; aber der Aufseher schalt ihn einen Raufbold, der an nichts als an Hader und Kampf dächte." „Eines Tages waren wir alle bei der Arbeit, indem wir Deckbretter für die Hütte zuhieben und sie einsetzten. Die Schwarzen halfen uns, wie ge­ wöhnlich; ich drehte den Wetzstein für Jack, und Dick war fortgeritteu, um Thee zu holen. Die Gewehre waren alle in einer Ecke aufgestellt. Da hörte ich ein Geheul und darauf ein Geschrei und sah nun, daß wir von bewaffneten Schwarzen umringt waren. Ihr Häuptling hielt eine breite Axt in der Hand, und im nächsten Augenblick hatte er dem Aufseher den Kopf abgehauen. Zwei Minuten später lagen alle meine Kameraden am Boden. Drei oder vier von den Wilden liefen auf uns loö und warfen ihre Spieße nach uns. Ich wehrte diese zwar ab, aber einer fuhr doch tief in meine Hüfte, mit» ein Stück von ihm steckt noch darin. Jack hatte eine Axt in der Hand und schlug die ersten beiden, welche herankamen, nieder; aber im Nu war er mit mehr als zwanzig Wunden bedeckt. Jetzt wollten sie auch mich abfertigen, und ein junger Bursche traf mit dem Tomahawk, den ich ihm noch Tags zuvor scharf gemacht hatte, meinen Kopf, so daß ich zu Boden stürzte. Die anderen Schwarzen hatten unterdessen angefangen, unsere Vorräthe zu plündern, und schrieen vor Ver­ gnügen, als sie die vielen für sie so seltenen Waaren erblickten. Dies hatte zur Folge, daß auch diejenigen, welche mich angegriffen hatten, fortliefen, um gleichfalls an der Plünderung theilzunehmen. In diesem Augenblick kam Dick aus dem Gebüsch hervor. Er sah, was vorging, aber obgleich mehr als hun­ dert schwarze Teufel da waren, alle bewaffnet, bemalt und laut heulend, so zögerte er doch keinen Augenblick, sondern ritt mitten durch das Lager, schoß .unter den dichten Haufen, tödtete ihrer zwei und schlug einem dritten mit dem Kolben seines Gewehrs den Schädel ein. Dann ergriff er ein Beil, welches in einem Pfahl steckte, und sah sich nach Freunden um, denen er Beistand leisten konnte. Wohin er sich wandte, überall erblickte er nur Todte; die einen waren von Speeren durchbohrt, die anderen mit Bexten niedergehauen. Jetzt wandte er sich nach unü hin und rief unsere Namen. Ich war so schwach,

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daß ich nicht antworten konnte, aber ich richtete mich einen Augenblick auf. Da kam er heran, bog sich herunter, packte mich beim Wammö und zog mich vor sich auf das Pferd. Jetzt kam auch Jack, der unter den Wetzstein ge­ krochen war, zum Vorschein und rief mit kläglicher Stimme: ,,Ach, Dick, ver­ laß mich nicht!" Sogleich eilten mehrere Wilde herbei, denn sie sahen ein, daß ihre Arbeit erst halb gethan war. Als Dick sich gegen sie wandte, wichen sic zurück und schleuderten ihre Speere nach ihm; doch es gelang ihnen nicht, ihn zu verwunden. Dick ritt nun nach dem nächsten Hügel hin, legte mich hier­ unter einen Busch und sprengte in den Haufen der Feinde zurück, die Axt in der einen, das kurze Gewehr in der andern Hand. Rechts und links schlug er die Schurken nieder, als ob er Gras mähte, bis er endlich zu Jack gelangte und ihn hinter sich aufs Pferd hob. Während er hiermit beschäftigt war, schlug und biß das Pferd nach beiden Seiten hin, so daß keiner der Feinde heranzu­ kommen wagte. Nun kehrte Dick zu mir zurück, hob auch mich zu sich empor, und fort ging's wohl eine Meile weit in scharfem Trabe; dann stieg Dick ab und ging zu Fuß, während wir beide neben ihm herritten." ,,Als die Schwarzen die Karren geplündert hatten, machten sie sich auf, um uns zu verfolgen; doch Dick verlor keinen Augenblick den Muth." ,,Doch, Kamerad, einmal doch!" unterbrach hier Dick den Erzähler. „Ich werde es nie vergessen. Als ich meine letzte Kugel laden wollte, fand ich, daß sie zu groß war." „Heiliger Gott!" rief ich aus; „was thatet ihr da?" „Nun," antwortete Dick, „ich nahm sie in den Mund und kaute sie so lange, bis sie klein genug war, um in den Lauf zu pasien. Dann lud ich sie in die Büchse, legte an, ließ die Feinde aus zwanzig Schritte herankommen und schoß ihren Anführer weg, den schlimmsten Schuft von allen." Dick war nun einmal warm geworden und setzte daher die Erzählung fort: „Wir durften nicht Halt machen; wir mußten den Abend und Pie ganze Nacht vorwärts, und da die beiden Verwundeten fortwährend nach Wasser schrieen, so füllte ich, so oft es anging, meinen Hut aus einem Bach oder einem Tüm­ pel und gab ihnen zu trinken. So legten wir wohl fünfzehn Meilen zurück, .ohne mehr als dann und wann auf einige Minuten Halt zu machen. Zuletzt waren die beiden armen Menschen so matt, daß ich sie auf dem Sattel fest­ binden mußte. Auch daö Pferd war nahe daran zusammenzubrechen, und dann hätten wir alle wegen Wassermangels umkonnnen müssen; da trafen wir glücklicher Weise eine Schaar Reisender. Jack hatte achtzehn Wunden; aber er ist, den Verlust von zwei Fingern ausgenommen, wieder so gesund, wie vorher. Der arme Jemmy dort taugt zu nichts weiter mehr als zum Hütten­ aufseher. Ich hatte ein Paar unbedeutende Schrammen bekommen, und mein Pferd hatte in den! Kampfe ein Ohr verloren. Nachher ging ich mit einigen Soldaten zu den Schwarzen zurück und brachte meine Rechnung mit ihnen in Ordnung." Nach Dickeiw.

36. Muth der Matrosen. Kaum hat die Schisfsglocke geläutet oder viermal angeschlagen, so ertönt des Bootsmanns Pfeife durch den Malrosenraum, und seine heisere Stimme ruft die Wache herauf, daß sie ihre Kameraden ablöse. Beim zweiten Ruf muß alles auf den Beinen sein und auf dem Verdeck, auf dem Vorderkastell und am Steuerruder ein jeder seinen angewiesenen Posten einnehmen. Der Ungestüm zweier Elemente, die fast in unaufhörlicher Bewegung sind, dringt mit vereinten Kräften auf sie ein. Um sich warm zu erhalten, laufen sie be­ ständig auf und ab, bis irgend ein Vorfall sie zur Arbeit ruft. Aendert der Wind seine Richtung, so werden die Segel nur anders gestellt; steigt aber seine

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Heftigkeit, so müssen sie theils eingerefft, theils völlig eingezogen werden. Der Anblick dieser gefährlichen Verrichtung ist schauderhaft, wenigstens für jeden, der es nicht gewohnt ist, Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen zu sehn. So­ bald die untersten Zipfel des Segels vom Verdeck aus gelöst und aufgezogen worden, brausen die Winde darein und schlagen es an Stange und Mast, daß das ganze Schiff davon erbebt. Mit bewunderungswürdiger Behendigkeit und nicht geringem Muthe klettern die Matrosen sogleich bis zur zweiten oder drit­ ten Verlängerung des Mastes hinan. Dort hängen in starken Tauen die Se­ gelstangen oder Raaen quer über dem Schiff; an ihren beiden Enden und in der Mitte befestigt, hängt ein schlotterndes Seil, welches den Füßen des ver­ wegenen Seemanns zum Ruhepunkt dient. Auf diesem Seil gehen sechs bis acht Matrosen hurtig und mit sichrem Tritt zu beiden Seilen bis an die äu­ ßersten Enden der Raa hinaus trotz des Windes, der das flatternde Segel ge­ waltsam hin und her schleudert und das Seil unter ihren Füßen erschüttert, trotz der schwankenden Bewegung des Schiffes, welche in jener Höhe ohne Ver­ gleich stärker gefühlt wird als auf dem Verdecke. Ich habe zu gleicher Zeit das Ende der großen Raa sich in eine thürmende Welle tauchen sehen. Der Matrose am Ende einer Segelstange, die gegen fünfzig Fuß hoch am Maste hängt, wird folglich mit jeder Welle alsdann durch einen Bogen von fünfzig bis sechzig Fuß geschaukelt. Jetzt scheint er ins Meer hinab geschleudert zu werden, jetzt wieder die Sterne zu berühren. Doch ohne sich diese gewaltsamen Bewegungen anfechten zu lasien, biegt er sich über die Segelstange, entreißt dem Winde das Segel, rollt es zusammen, bindet es fest und vollendet diese gefahrvolle Arbeit mit seinen Gehülfen in wenigen Minuten. Seine einzige Sorge bei diesem wie bei jedem andern Geschäfte ist dahin gerichtet, daß eS ihm keiner an Geschicklichkeit und Muth zuvorthun möge; denn dieser rühm­ liche Wetteifer liegt tief in seiner Seele und ist die Folge eines gewissen ge­ meinschaftlichen Gefühls, welches diesem Stande eigen ist. Ihm muß es übri­ gens gleich gellen, ob die Sonne ihm dazu leuchtet, oder ob er sich in der tiefsten Finsterniß der Nacht blos auf das Tasten seiner harten Hände verlas­ sen darf. Selbst wenn der Sturm ein Segel zerrissen hat und mit den Stücken alles zerpeischt, scheut kein Matrose die Gefahr, von einem solchen Schlage ge­ troffen zu werden, und rettet, was zu retten ist. Wenn in der Nähe Land vermuthet wird, sitzt er mehrere Stunden lang unbeweglich am höchsten Gipfel der Marsstange und blickt aus dieser einsamen, schwindlich machenden Höhe wachsam umher. Er lächelt, wenn unerfahrene Landleute oder junge Anfänger jeden heftigen Wind einen Sturm nennen, und ist ungern freigebig mit diesem Namen, so lange das Schiff noch mehr als die untern großen Segel führt. In offener See hat selbst em Sturm nichts Schreckliches für ihn; was kann ihm schaden, sobald alle Segel eingezogen sind und das Schiff, mit dem Schna­ bel gegen den Wind beigelegt, mit festgebundenem Ruder dem Drange der Wel­ len folgt, oder wenn man es, sicher, daß kein Land in der Nähe sei, mit we­ nigen Segeln schnell vor dem Sturm hinfliegen läßt, vorausgesetzt, daß daS Schiff dauerhaft gebaut sei? Nur alsdann wird der Sturm in der That furcht­ bar, wenn er das Schiff auf eine Küste führt, wo kein Hafen dem Seefahrer Sicherheit verspricht und die einzige Hoffnung, dem Schiffbruch zu entgehen, auf der Stärke der Segel beruht. Diese Gefahr trifft ihn indeß nur selten; Anstrengungen und Unannehmlichkeiten hingegen sind sein tägliches Loos. Der Posten am Steuerruder ist einer der beschwerlichsten; keiner hält es länger als eine Stunde dabei aus, und wenn die See in hohen Wogen geht und der Wind heftig stürmt, müssen zwei Personen zugleich das Rad regieren, welches sonst für die Kräfte des einzelnen Mannes leicht zu mächtig wird und ihn zuweilen so mit sich fortreißt, daß er in Lebensgefahr ist. Wenn daS

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Schiff nahe am Winde gehet und die See etwas ungestüm ist, so schlagen die Wellen oft herein und zwar hauptsächlich da, wo die Wache sich aufhält, die, zuletzt bis auf die Haut durchnäßt, sich lachend über ihr Unglück tröstet. Diese Gleichmüthigkeit, die den Sinn für Freude nicht ausschließt, ist ein Hauptzug im Charakter des Seemannes. Die schnellen Veränderungen des Windes und der Witterung, die man zur See so oft erfährt, tragen viel dazu bei, den Matrosen gegen alles Unge­ mach zu Härten. In Sturm und Regen lebt er der frohen Hoffnung, daß bald wieder Sonnenschein und guter Wind kommen werde. Allein auch wenn die Zeit der Prüfung kommt, wo diese Hoffnung fehlschlägt, ist das Beispiel des Befehlshabers und der Offiziere hinreichend, den Muth des getäuschten See­ mannes aufrecht zu erhalten. Forster.

37. Abenteuer eines Matrosen. Nachdem ich meine erste Seereise an Bord eines Kauffahrers glücklich voll­ endet hatte, nahm ich auf einem nordamerikanischen Kriegsschiff Dienste und wurde wegen der Kenntnisse im Seewesen, die ich bereits besaß, der Hinterwache beigesellt. Der Dienst am Steuer gab mir Gelegenheit, mancherlei zu lernen, waS mir bisher unbekannt geblieben war; außerdem aber brachte er mich in eine angenehme Gesellschaft, da sich unter meinen Kameraden mehrere befanden, die sich durch Herzensgüte und eine in ihren Verhältnissen ungewöhnliche Geistes­ bildung auszeichneten. Unter diesen muß ich zuerst Andreas Thompson nennen, einen treuherzigen Seemann, der gern von allen Ländern erzählte, die er in sei­ nem vielbewegten Leben kennen gelernt hatte, und der bald mein vertrautester Freund wurde. Nächst ihm waren Patrick O'Connor, ein muntrer Irläyder, den auch in den schlimmsten Lagen seine heilere Laune nicht verließ, und Tho­ mas Stokes, ein junger Engländer von guter Erziehung, meine liebsten Ge­ fährten. Unser Schiff war sehr früh im Jahre unter Segel gegangen, und da wir aus einem mir unbekannten Grunde einen nordöstlichen Kurs nahmen, so hat­ ten wir viel von der Kälte zu leiden. „Ja, Peter," sagte Andreas zu mir, als wir von fern die Küste von Labrador erblickten, „in dem Lande, das du da siehst, herrscht im Winter solche Kälte, daß auch in geheizten Zimmern die Wände mit Eis bedeckt sind und den Leuten, die sich auf längere Zeit ins Freie hin­ auswagen, die Augenlider zusammenfrieren." Unser Gespräch wurde durch den Befehl des Kapitäns unterbrochen, schnell alle Segel zu bergen. Es hatte sich nämlich ganz plötzlich ein Sturm erho­ ben, der mit jeder Minute heftiger wurde und beim Eintritt der Dunkelheit die schäumenden Wellen so gewaltig peitschte, wie ich es noch nicht gesehen hatte. Während noch alle Hände damit beschäftigt waren, die Segel einzuresien, er­ scholl plötzlich vom großen Marssegel der furchtbare Ruf: „Ein Mann über Bord!" „Wenn ich ein Boot aussetze, um ihn zu retten, so werde ich noch einige andere Leute verlieren," sagte der Kapitän, indem er auf die wilde See hinauSblickte. „Wir wagen mit Freuden unser Leben, um ihn zu reiten," riefen einige von der Mannschaft; „es ist Patrick O'Connor." „Das Steuer herum!" rief der Kapitän. „Setzt ein Boot aus! Doch halt! Kann einer von euch ihn sehen oder hören?" Das Schiff wurde gedreht, und die Mannschaft schaute in die Finsterniß hinaus und lauschte, ob irgend eine menschliche Stimme zu ver­ nehmen wäre; doch auch die schärfsten Augen waren nicht im Stande, in einer finstern Nacht einen so kleinen Gegenstand, wie den Kopf eines Menschen, in den ungestümen Wogen zu erkennen, und eben so wenig war ein anderer Laut zu hören, als das Brausen des Windes und der Wellen.

Dielttz und Heinrich-, deutsche- Lesebuch.

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„Sieht ihn jemand?" fragte nochmals der Kapitän. Auf dem ganzen Schiffe herrschte tiefes Schweigen, aber obgleich wir nach allen Seiten in die Nacht hinausstierten, so war doch nichts zu sehen. Schon waren fünf Minu­ ten vergangen; das Schiff mußte den Unglücklichen weit hinter sich zurückge­ lassen haben, und er mußte bereits von den tobenden Wellen verschlungen wor­ den sein. Zum letzten Mal fragte der Kapitän: „Sieht ihn jemand?" Ein verhängnißvolles Schweigen war die Antwort. „Dann ist es nutzlos, länger zu verweilen. Das große Marssegel abbrassen!" Kaum hatte der Kapitän mit lauter Stimme diesen Befehl ertheilt, als ein Mann von dem großen Mars auf das Verdeck herabrief: „Ich höre eine Stimme, Kapitän!" Ich hatte sie gleichfalls vernommen; eö war kein Angst­ schrei eines mit dem Tode Ringenden, sondern ein kräftiger Zuruf, in dem ich deutlich Patricks männliche Stimme erkannte. „Die Marssegel brassen!" rief der Kapitän. „Das Steuer herum! Ein Boot aussetzen! Freiwillige herbei!" Sogleich sprangen mehrere Matrosen in das Boot, und ich war einer unter den ersten. Das Boot schwankte heftig auf und nieder, so daß wir in nicht geringer Gefahr waren, von den Wogen verschlungen zu werden. Ohne uns jedoch zu besinnen, setzten wir die Ruder in Bewegung und durchschnitten die schäumenden Wellen in der Richtung, aus welcher wir die Stimme vernom­ men hatten. Nach einigen Minuten glaubten wir, daß wir die Stelle, wo Pa­ trick sich befände, erreicht haben müßten. „Brav, Kameraden," sagte eine Stimme ganz in unserer Nähe; „laßt die Ruder ruhen und helft mir." Es war Patricks Stimme. Er schwamm auf dem Rücken einer Welle dicht an uns heran; doch machte es einige Schwierigkeit, ihn an Bord zu ziehen, da an seinem Leibe nicht ein Fetzen von einem Kleidungsstück zu finden war, an welchem wir ihn hätten fassen können. „Ich danke euch, Kameraden," rief er, sobald er in das Boot gestiegen war. „Aber leiht mir wohl einer von euch seine Jacke? Es ist sehr kalt außerhalb des Wassers, und ich habe meine sämmtlichen Kleidungsstücke, wie ihr seht, dem Neptun zurückgelassen für den Fall, daß er einen neuen Anzug brauchen sollte." Ein Seemann scherzt auch in der größten Gefahr; ich glaube jedoch, daß Patrick dessenungeachtet von in­ nigem Dank gegen den Allmächtigen, der ihn so wunderbar gerettet hatte, er­ füllt war. Wir bedeckten ihn mit unseren Jacken, um ihn gegen die Kälte zu schützen, und ruderten so schnell als möglich nach dem Schisse zurück. Hier

hatten wir große Mühe wieder an Bord zu kommen, und es erforderte die größte Vorsicht, um das Boot an der Seite des Schiffes vor dem Untergang zu bewahren. Endlich erreichten wir jedoch daS Verdeck, und das Boot wurde eingezogen. Der Kapitän ließ Patrick sogleich in seine Hängematte gehen, und der Arzt verordnete ihm, nachdem er seinen Puls gefühlt, ein großes Glas Grog. Diese Arznei stellte ihn schnell wieder her, und schon nach einer halben Stunde konnte ich mich gemüthlich mit ihm unterhalten. „Siehst du, Peter," sagte er, als ich ihm meine Freude über seine Rettung ausgesprochen hatte, „man muß niemals verzweifeln, wenn die Dinge auch noch so schlimm auösehen. Als ich ins Wasser stürzte, war ich entschlossen, meine ganze Kraft zu meiner Rettung aufzubieten. Ich überzeugte mich jedoch bald, daß ich mit allen meinen Klei­ dern nicht lange würde schwimmen können; ich beeilte mich daher, sie-abzuwerfen und auch meine Schuhe auszuziehen. Es fiel mir etwas schwer, mich mei­ ner Jacke zu entledigen, aber eö gelang mir endlich, indem ich das Wasser mit meinen Füßen trat. Du siehst hieraus, Peter, wie nöthig es ist, daß ein See­ mann immer nur weite Kleider trägt, die sich im Fall der Noth leicht abwer­ fen lassen; zugleich aber wird dich meine Geschichte von der Nothwendigkeit überzeugen, daß jeder Mensch ordentlich schwimmen lernt. Als ich meine Klei-

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der abgeworfen hatte, überlegte ich mir in aller Ruhe, wie ich mich zu verhal­ ten hätte. Ich wußte, daß es nutzlos sein würde, mich anzustrengen, um das Schiff zu erreichen; ich legte mich daher, meine Arme über die Brust kreuzend, auf den Rücken und lag still wie eine sich sonnende Schildkröte. Du weißt, daß Schreien und Rufen int Wasser fast eben so sehr ermüdet, wie das Arbei­ ten mit den Armen und Beinen; ich schonte daher meine Stimme, bis ich sie brauchen würde. Auch konnte mir mein Rufen nichts helfen, da anzunehmen war, daß an Bord viel Lärm und Verwirrung herrschen würde. Dabei fühlte ich jedoch sehr wohl, daß ich mich in einer verzweifelten Lage befand, denn ich kannte die Gefahren, mit bencit das Aussetzen eines Bootes verbunden war; aber ich hatte auch die Ueberzeugung, daß meine Gefährten mich nicht im Stiche lassen würden, ohne einen Versuch zu meiner Rettung zu machen. Da lag ich denn, von den Wogen hin - und hergeworfen und immer nach dem Schiffe hin­ schauend, auf dem Wasser; ich hörte die wiederholten Fragen des Kapitäns, ob mich jemand sähe; endlich vernahm ich den Befehl, das große Marssegel abzubraffen. „Jetzt oder nie!" dachte ich, schwang mich so hoch als möglich auS dem Wasser empor und rief mit der ganzen Kraft meiner Stimme. Mit welchem Entzücken mich das Boot erfüllte, das darauf ins Meer gelassen wurde, brauche ich dir nicht zu sagen. Und nun, Peter, merke dir noch die Regel: Bewahre immer deine Geistesgegenwart und verzweifle nicht, so lange noch Leben in dir ist." Einige Tage nach Patricks wnnderbarer Errettung trat so ungünstiges Wetter ein, daß es unS zwei Tage lang nicht möglich war, unsern Kurs zu verfolgen. Nebel und heftige Regengüsse wechselten mit dichtem Schneegestöber, und in der Nacht war der ganze Himmel mit schwarzen Wolkenmassen bedeckt, so daß wir in völliger Finsterniß dahinsegelten. Im Vordertheile des Schiffes waren daher Wächter aufgestellt, weil möglicherweise andere Schiffe unsern Kurs durchschneiden und wir mit ihnen Zusammenstößen konnten. Da eS em­ pfindlich kalt geworden war, so hatten wir die wärmsten Kleider angelegt, über Welche wir zu verfügen hatten. Wenn nun sagen wollte, daß die Nacht sehr finster war, so würde dies noch keinen Begriff von der undurchdringlichen Dunkelheit geben, in welcher wir uns befanden. Man sah kaum seine eigene Hand, wenn man den Arm ausstreckte, und vor dem Schiffe etwas zu erspä­ hen, schien durchaus unmöglich zu sein. Plötzlich rief einer der Wächter mit lauter Stimme: „Ein Schiff vor uns! Es kommt unter allen Segeln gerade auf uns zu." „Das Steuer herum!" rief in demselben Augenblick eine an­ dere Stimme im Bordertheil, aus deren Ten man erkennen konnte, daß schnel­ les Handeln nothwendig war; unterdessen aber hatte auch der Lieutenant den Gegenstand gesehen, den er für ein Schiff hielt, und rief: „Abhalten! Unter den Wind, ganz unter den Wind!" Der Befehl des Offiziers wurde befolgt; das Steuerruder wurde gedreht, und das Schiff flog mit verdoppelter Schnel­ ligkeit durch die Wellen. Auch Andreas, der dicht neben mir stand, hatte in die vor uns befindliche Dunkelheit hinausgespäht. „Das ist kein Segel," sagte er, „sondern ein Eis­ berg! Ich sehe deutlich sein Leuchten! Wir hätten ihn umsegeln können, aber jetzt sind wir aufgefahren, und der Himmel sei unseren Seelen gnädig!" Wäh­ rend er noch sprach, vernahm man ein furchtbares Krachen; der Rumpf des Schiffes erbebte in allen seinen Theilen, und die ganze Mannschaft wurde mit Heftigkeit auf das Verdeck geschleudert. Von allen Seiten erhob sich ein ver­ zweifeltes Geschrei; überall herrschte Schrecken und Verwirrung, und zu dem Geschrei der Leute gesellte sich das furchtbare Toben des Windes, das Brausen der über das Schiff schlagenden Wogen und das Krachen, mit dem das Schiff gegen den Eisberg stieß. Viele von ter Mannschaft sprangen in ihrer Angst

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über Bord und wurden augenblicklich von den Wellen verschlungen. DaS laute Krachen im Vordertheile verrieth mir, daß der starke Bug des Schiffes zer­ schmettert war; auch erhob sich bereits von allen Seiten der furchtbare Ruf, daß das Schiff sinke, daß alles verloren sei. Der Offizier der Seesoldaten hatte beim ersten Lärm seine Leute versammelt und sie auf die Weisung des Kapitäns nach dem Hinterdeck geführt, um, wenn es nöthig wäre, den Befeh­ len der Offiziere mit Gewalt Gehorsam zu verschaffen. Kaum hatte sich das Geschrei erhoben, daß alles verloren sei, als viele nach dem Vordertheile stürz­ ten, um sich von hier auf den Eisberg zu retten. „Es darf niemand das Schiff verlassen!" rief der Kapitän durch das Sprachrohr. „Die Soldaten schießen auf jeden, der es versucht, das Schiff zu verlassen!" Andreas, Patrick und Thomas standen neben mir, als dieser Befehl verkündet wurde. „Meine Jungen," rief Andreas, nachdem er auf­ merksam um sich geblickt hatte, „das Schiff wird nur noch wenige Minuten über Wasier sein; folgt mir daher, wenn euch euer Leben lieb ist!" Ohne zu zaudern, sprangen wir auf das Vorderkastell, liefen am Bugspriet hin und ließen uns unter demselben einer nach dem anderen auf eine Stelle des Eis­ berges hinab, welche von den Wogen nickt berührt wurde. Das Eis war so rauh, daß wir ohne Schwierigkeit emporklettern und uns dem Bereiche des Wassers entziehen konnten. Mehrere unserer Gefährten versuchten es, unse­ rem Beispiele zu folgen, und die Seesoldaten, die selbst in diesem furchtbaren Augenblicke den ihnen ertheilten Befehlen Folge leisteten, begannen zu feuern. Ber dem Blitzen ihrer Musketen wurde das entsetzliche Schauspiel auf einen Augenblick beleuchtet, und es wird mir ewig unvergeßlich bleiben. Vor unS lag das Schiff, dessen Vordertheil hoch emporragte, während schwarze, schaum­ bedeckte Wellen das Hintertheil überspülten, auf dem sich ein Haufe mensch­ licher Wesen in Angst und Verzweiflung zusammendrängte; hinter und aber erhob sich der schimmernde Eisberg, der bei jedem Schuß in rothen Flammen erglühte. In dem Maße, als das Hintertheil des Schiffes versank, vermehrte sich das Angstgeschrei der Unglücklichen; die Soldaten aber feuerten auch jetzt noch ihre Gewehre ab und gaben so, ohne es zu wissen, eine Salve über ihrem eigenen Grabe. Langsam glitt das stolze Schiff von dem Eisfelsen, auf welchem eS gescheitert war, hinab in die unergründliche Tiefe des Meeres, und bald halten die gierigen Wogen alles verschlungen. Wir konnten keinem unserer Schiffsgefährten hülfreiche Hand leisten; die Maste folgten, von dem sinkenden Rumpfe hinabgezogen, und als wir im nächsten Augenblick nach der Stelle hinüberschauten, wo eben noch unser Schiff gelegen hatte, sahen wir nichts als leere, schwarze Finsterniß. „Bist du es, . Peter?" rief jetzt eine Stimme, in der ich die meines Freun­ des Andreas erkannte; „ich freue mich, daß du gerettet bist, Junge. Wer ist außerdem hier?" „Ich bin's, Dank dem Himmel und deinem guten Rathe," sprach Patrick. „Und auch ich; aber ich glaube, ich werde mich nicht lange mehr halten können," stöhnte der arme Thomas, der sich heim Hinabspringen verletzt hatte. Wir faßten ihn beim Rockkragen und zogen ihn von den rauhen Eisspitzen, an welche er sich anklammerte, zu der breiten Fläche empor, auf welcher wir saßen; dann rückten wir so dicht als möglich zusammen, um uns warm zu erhalten und riefen in die Finsterniß hinaus: „Schiffskameraden, halloh! Ist jemand von euch hier?" Wir lauschten und wiederholten unsern Ruf; doch die einzige Antwort war das Rauschen der Wellen am Fuße deS Eisberges. Wir waren jetzt überzeugt, daß von der ganzen Mannschaft des schönen Schiffes, welches tief unter uns begraben lag, wir vier die einzigen Geretteten waren. Unser Leben war gerettet; aber wir befanden uns in einer Lage, die uns

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das schnelle Ende unserer Gefährten fast beneidenswerth erscheinen ließ. Denn was hatten wir anderes zu erwarten als den Hungertod in seiner schrecklichsten Gestalt? Auch hatten wir von den Eisbergen genug gelesen und gehört,. um zu wissen, daß sie immer nach südlichen Breitengraden getrieben werden, wo ihre untere Hälfte in dem warmen Meereswasser schnell zerschmilzt, so daß sie in der Regel mehrmals umstürzen und endlich mit furchtbarem Getöse in sich zusammenfallen. „Wenn wir lange auf dieser Eismasse verweilen müssen, so werden wir erfrieren," sagte Thomas, dem vor Angst und Kälte die Zähne klapperten, da seine Kleider durchnäßt waren. „Vertraue auf Gott, mein Freund," antwor­ tete Andreas mit ernstem Tone. „Er hat uns bis hierher wunderbar behütet; er wird uns auch künftig nicht verlassen." „Welche Aussichten auf Rettung giebt es wohl für uns?" fragte ich nach einer längeren Pause. „Es können," erwiderte Andreas, „Bruchstücke unseres Schiffes an den Eisberg getrieben werden, aus denen wir ein Floß bauen, das uns glücklich nach Neufoundland oder Labrador bringt; oder der Eisberg kann ans Land getrieben werden; oder es kann uns auch irgend ein Schiff bemerken und uns an Bord nehmen." Unter solchen Gesprächen brachten wir die Nacht hin, wohl die schrecklichste, die wir alle je erlebt hatten. Als endlich der Morgen dämmerte, erglühte der aanze östliche Himmel in Orangegelb, während der westliche Theil im reinsten Blau erglänzte. Noch wunderbarer erschien der ungeheure Eisberg, auf welchem wir uns befanden. Sein Gipfel war mit den glühenden Farben des östlichen Himmels geschmückt, während seine tiefer liegenden Säulen und Wölbungen aus dem reinsten Alabaster gebildet zu sein schienen; die Höhlen und Grotten an seinem Fuße aber hatten die Farbe des parischen Marmors, und ihre Ein­ gänge waren mit prächtig funkelnden Eiszacken verziert. "Wir waren indesien nicht in der Stimmung, dieses schöne Schauspiel mit der Aufmerksamkeit zu betrachten, welche es verdiente, denn die Sorge um un­ ser Leben nahm uns völlig in Anspruch. Wir waren auf der tiefsten und am wenigsten abschüssigen Seite des Eisberges gescheitert, wo eine so umfangreiche Fläche sich über das Waffer erhob, daß wir hinlänglichen Raum zum Herum­ wandern hatten; auch befand sich ganz in unserer Nähe ein kleiner Wasserfall, welcher von dem schmelzenden Eise gebildet wurde. „Es wird uns also nicht an frischem Wasser fehlen," sagte ich zu Andreas, indem ich auf die sprudelnde Quelle zeigte. „Ja wohl, Peter, und wenn ich nicht irre, so giebt es hier auch etwas zu essen," antwortete er und deutete auf einen dunklen Gegenstand, der auf einem nahen Eisblock lag. Als wir uns dem Thiere näherten, fanden wir, daß es ein todter Seehund war; er konnte jedoch erst vor kurzer Zeit ge­ storben sein, denn das Fleisch war völlig frisch. Sogleich machten wir uns daran, es in dünne Streifen zu schneiden, nahmen eine tüchtige Mahlzeit zu uns und trugen den Ueberrest an eine höher gelegene Stelle, um ihn hier an der Sonne zu trocknen. Alsdann versuchten wir den Gipfel unseres Eisberges zu erklimmen. Dies gelang uns zwar nicht; wir kamen aber zu einem ziem­ lich hohen Punkte, der uns eine weite Aussicht gewährte und uns mehrere Ge­ genstände wahrnehmen ließ, die offenbar von den Wellen auSgeworfen worden waren und uns großen Nutzen bringen konnten. Wir stiegen augenblicklich hinab und fanden einen Hühnerkorb mit den darin befindlichen Hühnern, zwei lange Spieße, ein Bootssegel, einige Spieren und Taustücke und einzelne Bruchstücke eines Bootes. Sobald wir diese Gegenstände in Sicherheit gebracht hatten, klet­ terten wir noch einmal den Berg hinauf, um oben ein Signal anzubringen. Diesmal gelang es uns, den Gipfel zu erreichen, denn wir konnten vermittelst der Spieße an den steilsten Stellen Stufen in das Eis hauen. Oben auf dem Gipfel verfertigten wir aus einem Theil des aufgefundenen Segels eine Fahne,

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die an einer Stange befestigt wurde. „So," sagte Andreas, als unsere Arbeit vollendet war, „von welcher Seite nun auch ein Schiff sich nähern mag, so wird man augenblicklich erkennen, daß menschliche Wesen aus diesem Eisberge sind." Vergnügt über das Gelingen unseres Werkes traten wir den Rückweg an, erlitten aber bei dieser Gelegenheit einen Verlust, der uns nicht wenig erschreckte. Wir verloren nämlich das einzige Feuerzeug, welches wir besaßen, indem es aus Patricks Tasche fiel und über die steile Wand des Eisberges von Klippe zu Klippe bis hinab ins Meer rollte. Sobald wir unten anlangten, machten wir uns an die Herstellung eines Flosses. Wir banden zuerst die Spieren zu einer Art Rahmen zusammen, zerschlugen dann den Hühnerstall und nagelten die Bretter oben auf, indem wir das Ganze mit Stricken noch mehr befestig­ ten. Durch einige Bretter, die wir bald darauf fanden, vergrößerten wir das Floß noch so weit, daß es uns, wie wir hofften, im Nothfalle tragen konnte. Auch fanden wir noch einen Eimer, einen eisernen Topf, in dem sich ein gro­ ßes Stück Fleisch befand, und einige andere Gegenstände, die und von Nutzen sein konnten. „Was sollen wir aber mit dem Fleisch anfangen?" fragte Thomas; „wir find ja nicht im Stande, ein Feuer anzuzünden, und der Fund wird uns daher nicht viel nützen." „Das ist noch nicht ausgemacht," antwortete Andreas; „ich habe durch ein Mittel, an welches gewiß wenig Leute denken, Feuer anzünden sehen." Mit diesen Worten kletterte er an dem Eisberge empor, schlug ein Stück Eis von einer der Spitzen ab, gab diesem durch sorgfältiges Behauen mit dem Spieße die Gestalt eines flachen, runden Kuchens, schlug dann die scharfen Kanten ab und begann mit seinem Mester die beiden Seiten zu glät­ ten. „Hier," sagte er, als er mit seiner Arbeit fertig war, „habt ihr ein schönes Brennglas." Wir schüttelten ungläubig den Kopf; Andreas aber sam­ melte einige trockne Späne und hatte bald ein Feuer angemacht, an dem wir unS aus dem im Topfe befindlichen Fleisch und einem Theil des Seehundes eine Suppe kochten, die uns wunderbar stärkte. Wir gingen übrigens sowohl mit dem Fleisch als mit dem Holz überaus sparsam um, da wir nicht wiflen konnten, wie lange wir mit unseren Vorräthen würden ausreichen müssen. So verstrich unser erster Tag auf dem Eisberge, ohne daß sich ein Segel am Ho­ rizonte zeigte. Von körperlicher Erschöpfung und Gemüthsbewegung überwältigt, aenossen wir in der Nacht trotz unserer eben so unbehaglichen wie gefahrvollen Lage ei­ nen festen Schlaf. Der folgende Tag verging wie der vorige, und auch in der dritten Nacht wurden wir, nachdem wir den Allmächtigen, der uns bisher so wunderbar geschützt, in einem gemeinsamen Gebet nm Rettung angefleht hat­ ten, durch eine mehrstündige Ruhe erquickt. Gegen Morgen weckte mich ein lautes Geräusch und eine heftige Bewegung des Eisberges. Ehe ich noch über­ legen konnte,, was wohl geschehen wäre, hörte ich Andreas mit lauter Stimme rufen: „Steht auf und hallet euch am Floße fest!" Er ergriff bei diesen Wor­ ten einen Spieß, um das Floß zu stützen, denn er war der Meinung, der Eis­ berg wolle sich überstürzen. Wir folgten seinem Beispiel und harrten dann in ängstlicher Spannung, überzeugt, daß unser letzter Augenblick gekommen sei. Allmählich legte sich indeß die Bewegung des Eisberges und hörte endlich ganz auf; doch blieb die Fläche, auf welcher wir unsern Lagerplatz hatten, mehr nach dem Wasser geneigt als vorher, so daß wir uns nur mittelst der Spieße vor dem Abgleiten bewahren konnten. „Was ist geschehen?" sagte ich, als ich nach dem ersten Schrecken wieder frei athmete. „Ich glaubte, es sei mit uns vorbei." „Das glaubte ich auch," antwortete Andreas; jetzt aber bin ich überzeugt, daß sich nur ein unter dem

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Wasser befindliches Stück von dem Eisberg abgelöst hat, und daß dieser sich noch eine Weile in seiner jetzigen Lage erhalten wird. Wie lange dies freilich dauern wird, kann nur Gott wissen." „So viel ich gehört habe," sagte Tho­ mas, „geht die Zerstörung eines Eisberges, wenn er einmal anfängt sich auf­ zulösen, immer sehr rasch vor sich. Ich schlage also vor, daß wir unser Floß ins Meer lassen und die Küste von Neufcundland zu erreichen suchen." „Ich bin nicht deiner Meinung," erwiderte Andreas. „So lange wir auf dem Eis­ berge bleibet, können wir Hessen, von einem Schiffe gesehen zu werden; befin­

den wir uns dagegen auf dem Floße, so können viele Schiffe nahe bei uns vor­ übersegeln, ohne uns zu bemerken. Auch kann sich unser Fahrzeug, wenn nur ein mäßiger Wind sich erhebt, unmöglich lange halten. Ich rathe euch daher, bis zum letzten Augenblick ausznharren und erst dann das Floß zu besteigen, wenn uns der Eisberg nicht mehr tragen will." In diesem Augenblick wurde unser Gespräch durch ein lautes Freudenge­ schrei unterbrochen, welches Patrick ausstieß, während er mit der Hand nach dem Meere hinzeigte. Wer beschreibt unser Entzücken, als wir im ersten Däm­ merlicht ein Schiff erblickten, welches mit schlaff herabhängenden Segeln vor uns lag! Es war, nach seiner Größe und Bauart zu schließen, ein Walfisch­ fahrer und mochte etwa eine halbe Meile von uns entfernt sein. „Werden sie uns bemerken?" so fragte einer den andern, während wir das Schiff mit ängst­ lichen Blicken beobachteten. „Werden sie sich, wenn der Wind sich erhebt, dem Eisberge nähern oder in entgegengesetzter Richtung davonsegeln?" Nur wer sich in einer ähnlichen Lage befunden hat, kann sich einen Begriff von unserer Un­ ruhe machen. Wir vermochten kaum zu athmen, und keiner wendete den Blick von dem Gegenstände, auf den alle unsere Gedanken gerichtet waren. Endlich brach Andreas das Schweigen und sagte: „Vor allen Dingen müssen wir jetzt den Gipfel unseres Berges erklettern und neben unserer Fahne noch unsere ro­ then Tücher ausbreiten; dann aber wollen wir uns dem Floße anvertrauen und sehen, ob wir das Schiss erreichen können." Da alle ihm beistimmten, so stieg ich mit Patrick auf den Gipfel des Berges und befestigte alle unsere Tücher an der dort befindlichen Stange. Unterdessen füllten Andreas und Tho­ mas den eisernen Topf mit Wasser, packten das noch vorhandene Fleisch zusam­ men und setzten das Floß in Bereitschaft. Zu unserer Freude schwamm es ziemlich gut am Eise hin; doch mußten wir es mit einiger Vorsicht betreten, damit es nicht umschlug. Wir fanden sogleich, daß Andreas guten Grund ge­ habt hatte, dem Fahrzeuge nicht allzusehr zu trauen, denn kaum hatten wir auf demselben Platz genommen, so wurde es ganz vom Wasser überschwemmt; es trug uns jedoch und ließ sich durch kleine Bretter, die wir als Ruder be­ nutzten, ohne Mühe fortbewegen. Unser Unternehmen war, wie wir wohl einsahen, ein Wagniß auf Leben und Tod, denn wenn eS uns nicht gelang, das Schiff zu erreichen, so war un­ ser Untergang gewiß. Wir ruderten daher mit Anstrengung aller unserer Kräfte und warfen nur von Zeit zu Zeit einen Blick hinter uns, um zu sehen, wie weit wir -uns von dem Eisberge entfernt halten. Mit gleicher Besorgniß schau­ ten wir nach dem Himmel; doch die Luft blieb ruhig, und das Meer war glatt wie ein Spiegel. Plötzlich begann das Wasser sich leicht zu kräuseln, und die Segel des Schiffes schwollen auf; aber ehe sie noch Kraft genug erlangt hatten, das Fahrzeug in Bewegung zu setzen, sanken sie wieder schlaff zusammen. Bald nachher zeigte sich ein neues Gekräusel der Wellen, und wir sahen mit unsäg­ licher Angst die Segel abermals aufschwellen und das Vordertheil des Schiffes sich von uns abwenden. Wir schrieen laut aus in unserer Verzweiflung; aber es war unmöglich, mit unserer Stimme das Schiff zu erreichen. Dann bemüh­ ten wir uns, das Floß durch stärkeres Rudern in schnellere Bewegung zu setzen;

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doch wie konnten wir hoffen, in unserem elenden Fahrzeug ein Schiff einzuholw, dessen Segel auch nur von dem leichtesten Winde gefüllt waren? Bald bauchte sich jedes Segel an Bord des Schiffes; wir waren nicht bemerkt wor­ den, und unsere letzte Hoffnung war verschwunden. „Was sollen wir jetzt an­ fangen?" seuftte Thomas, indem er in Verzweiflung die Hände rang. „Wir müssen wie Männer bis zum letzten Augenblick aushallen," antwortete Andreas mit der ihm eigenen Ruhe, „und uns im schlimmsten Falle bemühen, nach dem Eisberge zurückzukehren." In diesem Moment stieg die Sonne in aller ihrer Pracht aus ihrem Was­ serbette an dem unbewölkten Himmel empor. Ich blickte zurück, um mich zu überzeugen, wie weit wir uns von dem Eisberge entfernt halten, und wurde von dem herrlichen Anblick, der sich mir darbot, dermaßen überrascht, daß ich auf einige Minuten unsere verzweifelte Lage völlig vergaß. Der ganze Berg erglänzte nämlich in den herrlichsten Farben; einige seiner Theile waren weiß wie Alabaster, andere prangten in goldigem, rosenrothem und azurblauem Glanz, und alle waren durchsichtig wie Krystall. Ein lauter Ausruf meiner Gefährten veranlaßte mich indeß, meinen Kopf wieder umzudrehen. Die Segel des Schif­ fes fielen zusammen, indem sie sich gegen den Wind wendeten; gleich nachher sahen wir, wie ein Boot ins Meer gelassen wurde und uns entgegenkam. Wir schrieen vor Freude, und der arme Thomas wurde von dem gewaltigen Wech­ sel der Gefühle so ergriffen, daß er einer Ohnmacht nahe war und von dem Floße herabgefallen sein würde, wenn wir ihn nicht noch zu rechter Zeit gehal­ ten hätten. Jetzt war das Boot ganz in unserer Nähe, und wir schwangen mit einem neuen Freudengeschrei die Ruder in der Luft. „Halloh, was ist da?" rief eine Stimme aus dem Boote. „Beim Himmel, wir halten euch nicht gesehen!" So war eö in der That; die Leute hatten unser Nothzeichen auf dem Eisberge bemerkt, uns selbst aber nicht. Der Arzt des Schiffes hatte, von dem prachtvollen Schauspiel gefesselt, den Eisberg genau betrachtet und, als er durch das Fernrohr unsere Tücher erblickte, den Kapitän darauf aufmerk­ sam gemacht. Er befand sich in dem Boote und half uns einsteigen, indem er uns mit herzlichen Worten seine Freude darüber ansdrückte, daß er durch eine glückliche Fügung unser Retter geworden war. Als wir endlich an Bord und geborgen waren, verließ uns plötzlich die Kraft, die uns bisher aufrecht erhalten hatte, und wir sanken, von dem schnel­ len Wechsel der Gefühle überwältigt, auf den Boden des Bootes. Ich bin überzeugt, daß meine Freunde dem Himmel für unsere wunderbare Rettung eben so inbrünstig dankten wie ich. Bald darauf wurden wir an Bord des Schiffes gezogen, da wir zu schwach waren, um uns selbst emporzuarbeiten, und von dem Kapitän, den Offizieren und der ganzen Mannschaft mit der größten Freundlichkeit ausgenommen. Kaum hatten wir das Verdeck des Schif­ fes betreten, als sich ein starker Wind erhob, der uns schnell von dem Eisberge entfernte. Aber ehe wir noch die schwimmende Insel aus dem Gesicht verloren hatten, sahen wir ihre funkelnden Gipfel sich neigen, und im nächsten Augen­ blick versank der Berg mit einem Geräusch, das selbst in dieser weiten Entfer­ nung zu vernehmen war, in die Tiefe des Meeres, während der durch ihrm Sturz erzeugte Wellenschlag den Kiel unseres Schiffes hob. Auf diese wun­ derbare Weise wurde ich mit meinen Gefährten aus der gefährlichsten Lage er­ rettet, in welcher ich mich je in meinem Leben befunden habe. Nach 'Kingston.

Vm.

Dramatis ch" e S.

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VIII. Dramatisches. 1. Tobias Witt oder die Schule der Klugheit. Personen: Herr Tobias Witt, ein ältlicher Kaufmann. Herr Flau, ein junger angehender Kaufmann.

W. Herein! F. Gehorsamster Diener, Herr Witt! W. Ei, ergebenster Diener, Herr Flau! I, was bringt Er denn Gutes? F. Bringen, Herr Witt? Bringen kann ich leider nichts. Suchen möchte ich. Ich habe mehr als ein Anliegen, lieber Herr Witt; und an wen könnte ich mich besser wenden als an einen so guten und so klugen Mann? W. Ei, wär' ich denn wirklich so klug? F. Die ganze Welt sagt's, Herr Witt. Und weil ich es auch gern würde W. I nun, wenn Er das werden will, das ist leicht. Er muß nur flei­ ßig Acht geben, Herr Flau, wie es die Narren machen. F. WaS, wie es die Narren machen? W. Ja, ja, Herr Flau, und muß es dann anders machen, als die. F. Als zum Exempel? W. Als zum Exempel, Herr Flau: So lebte da hier in meiner Jugend ein alter Arithmetikus, ein altes, grämliches Männchen, Herr Veit mit Namen. Der ging immer herum und murmelte vor sich selbst; in seinem Leben sprach er' mit keinem Menschen; und einem ins Gesicht sehen, das that er noch weni­ ger; immer guckt' er ganz finster in sich hinein. Wie meint Er nun wohl, Herr Flau, daß die Leute den hießen? F. Wie? Einen tiefsinnigen Kopf. W. Ja, es hat sich wohl! Einen Narren! Hui, dacht' ich bei mir selbst, denn der Titel stand mir nicht an, wie der Herr Beit muß man's nicht machen. DaS ist nicht fein. In sich selbst hinein sehen, das taugt nicht. Sieh du den Leuten dreist ins Gesicht! Oder gar mit sich selbst sprechen? Pfui, sprich du lieber mit Andern! Nun, was dünkt ihn, Herr Flau? Hatt' ich da Recht? F. Ei, ja wohl! allerdings! W. Aber, ich weiß nicht; so ganz doch wohl nicht. Denn da lief noch ein Anderer herum, das war der Tanzmeister, Herr Flink; der guckte aller Welt ins Gesicht und plauderte mit allem, was nur ein Ohr hatte, immer die Reihe herum. Und den, Herr Flau, wie meint er wohl, daß die Leute den wieder hießen? F. Einen lustigen Kopf? W. Beinahe! Sie hießen ihn auch einen Narren. Hui, dacht' ich da wie­ der, daS ist doch drollig! Wie mußt du's denn machen, um klug zu heißen? Weder ganz, wie der Herr Veit, noch ganz, wie der Herr Flink. Erst siehst du den Leuten hübsch dreist ins Gesicht, wie der eine, und dann siehst du hübsch bedächtlich in dich hinein, wie der andere; erst sprichst du laut mit den Leuten, wie der Herr Flink, und dann insgeheim mit dir selbst, wie der Herr Beit. Sieht er, Herr Flau! So hab' ich's gemacht; und das ist das ganze Geheim­ niß. Nun aber, Herr Flau! Er hätte mehr als ein Anliegen, sagt er. WaS ist's denn nun weiter? F. Eine Anforderung an Ihre Güte, Herr Witt; ich brauche ein Sümm-

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VIII.

Dramatisches.

chen Geld zu einer kleinen Speculation. Ich denke, mir damit wenigstens ein Bißchen Luft zu schaffen. Einem Andern dürfte ich mit dem Klagetone gar nicht kommen; aber auf Sie, Herr Witt, hab' ich mein Vertrauen gesetzt. W. Nun, Er soll nicht unberathen fortgehen. Pber was klagt Er denn so? F. e Ach, der Himmel weiß, wie mir's geht! Es will gar nicht recht fort, nichts will gelingen, ich mag's anfangen, wie ich will. Zeiten, Menschen, alles trügt einen. W. Ei was! Er muß das Glück nur suchen, Herr Flau, Er muß darnach aus sein! F. Das bin ich ja lange; aber was hilft's? Immer kommt ein Streich über den andern. Künftig leg' ich die Hände lieber in reit Schooß und bleibe zu Hause. W. Ach, nicht doch, nicht doch, Herr Flau! Gehen muß Er immer dar­ nach ; aber sich nur hübsch in Acht nehmen, wie Er's Gesicht trägt. F. Was? wie ich's Gesicht trage? W. Ja, ja, Herr Flau, wie Er's Gesicht trägt. Ich will's Ihm erklären. Als da mein Nachbar zur Linken sein Haus baute, so lag einst die ganze Straße voll Balken und Steine und Sparren, und da kam unser Bürgermeister gegan­ gen, Herr Trick, damals noch ein blutjunger Rathsherr. Der rannte mit von sich geworf'nen Armen ins Gelag hinein und hielt den Nacken so steif, daß die Nase mit den Wolken so ziemlich gleich war. Plump! lag er da und brach das Bein und hinkt noch heutiges Tags davon. Was will ich nun damit sa­ gen, lieber Herr Flau? F. Ei, die alte Lehre: Du sollst die Nase nicht allzu hoch tragen. W. Ja, sieht Er! Aber auch nicht allzu niedrig. Denn nicht lange dar­ nach kam noch ein Anderer gegangen; das war der Stadtpeet, Herr Schall. Der mußte entweder Verse oder Haussorgen im Kopfe haben; denn er schlich ganz trübsinnig einher und guckte in den Erdboden, als wenn er hineinsinken wollte. Krach! riß ein Seil; der Balken fiel herunter und plötzlich vor ihm nieder. Vor Schrecken siel der arme Teufel in Ohnmacht, ward krank und mußte ganze Wochen lang aushalten. Merkt Er nun wohl, was ich meine, Herr Flau, wie man's Gesicht tragen muß? F. Sie meinen, so hübsch in der Mitte. W. Ja freilich, daß man weder zu keck in die Wolken, noch zu scheu in den Erdboden sieht. Wenn man so die Augen fein ruhig nach oben und unten und nach beiden Seiten umherkehrt, so kommt man in der Welt schon vorwärts, und mit dem Unglück hat's so leicht nichts zu sagen. Aber, Er wollte ja Geld von mir haben. F. Ja, Herr Witt, ich wollte darum bitten. Wie gesagt, nur zu einer kleinen Speculation. Viel wird dabei nicht herauskommen, das seh' ich vorher. Aber ich will doch die Gelegenheit mitnehmen, es soll der letzte Versuch sein. W. Und wie viel meint Er denn wohl, lieber Herr Flau, daß Er braucht? F. Ach, nicht viel! Eine Kleinigkeit! Ein hundert Thälerchen etwa. W. Wenn's nicht mehr ist, die will ich Ihm geben; recht gern! Und da­ mit Er sieht, daß ich Ihm gut bin, so will ich Ihm obendrein noch etwas anderes geben, das unter Brüdern seine tausend Reichsthaler werth ist. Er kann reich damit werden. F. Aber wie, lieber Herr Witt, obendrein? W. Es ist nichts. Es ist ein bloßes Histörchen. Ich hatte hier in mei­ ner Jugend einen Weinhändler zum Nachbar, ein gar drolliges Männchen, Herr Grell mit Namen; der hatte sich eine einzige Redensart angewöhnt, die bracht' ihn zum Thore hinaus. F. Ei, das wäre! die hieß?

VIII.

Dramatisches.

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W. Wenn man ihn manchmal fragte: „Wie steht'S, Herr Grell? Was ha­ ben Sie bei dem Handel gewonnen?" „Eine Kleinigkeit," sing er an; „ein fünf­ zig Thälerchen etwa. Was will das machen?" Oder, wenn man ihn anredete: „Nun, Herr Grell! Sie haben ja auch bei dem Bankerott verloren?" „Ach was!" sagte er wieder, „es ist nicht der Rede werth, eine Kleinigkeit von ein hunder­ ter fünfe." Er saß in schönen Umständen, der Mann; aber, wie gesagt, die einzige, verdammte Redensart heb ihn glatt aus dem Sattel. Er mußte zum Thore hinaus. Wie viel war eS doch, Herr Flau, das Er wollte? F. Ich? Ich bat um hundert Reichsthaler, lieber Herr Witt. W. Ja recht! Mein Gedächtniß verläßt mich. Aber ich hatte da noch einen andern Nachbar, das war der Kornhändler, Herr Tomm; der baute von einer andern Redensart das große Halls auf, mit Hintergebäude und Waaren­ lager. Was dünkt Ihn dazu? F. Ei, ums Himmels willen! die möcht' ich wissen. Die hieß? W. Wenn man ihn manchmal fragte: „Wie stehl's, Herr Tomm? Haben Sie bei dem Handel verdient?" „Ach, viel Geld!" fing er an, „viel Geld!" und da sah man, wie ihm das Herz im Leibe lachte, „ganze hundert Reichsthaler!" Oder wenn man ihn anredete: „Was ist Ihnen? Warum so mürrisch, Herr Tomm?" „Ach," sagte er wieder, „ich habe viel Geld verloren; viel Geld! gan­ zer fünfzig Reichsthaler!" Er hatte klein angefangen, der Mann; aber, wie ge­ sagt, das ganze, große Haus baute er auf, mit Hintergebäude und Waaren­ lager. Nun, Herr Flau, welche Redensart gefällt Ihm nun besser?

F. Ei, das versteht sich, die letztere! W. Aber so ganz war er mir doch nicht recht, der Herr Tomm. Denn er sagte auch „viel Geld!" wenn er den Armen oder der Obrigkeit gab, und da hätt' er nur immer sprechen mögen, wie der Herr Grell, mein anderer Nach­ bar. Ich, Herr Flau, der ich zwischen beiden Redensarten mitten inne wohnte, ich habe mir beide gemerkt, und da sprech' ich nun nach Zeit und Gelegenheit bald wie der Herr Grell und bald wie der Herr Tomm. F. Nein, bei meiner Seele! Ich halt's mit dem Herrn Tomm. Das Haus und das Waarenlager gefällt mir. W. Er wollte also? F. Viel Geld, viel Geld, lieber Herr Witt, ganzer hundert Reichsthaler! W. Sieht Er, Herr Flau? Es wird schon werden! Das war ganz recht. Wenn man von einem Freunde borgt, so muß man sprechen, wie der Herr Tomm; und wenn man einem Freunde aus der Noth hilft, so muß man spre­ chen, wie der Herr Grell. Nun, wart' Er! Da, lieber Herr Flau, sind die hundert Reichsthaler! Die Summe ist richtig; die Rolle ist aus der Bank. F. Dank, herzlichen Dank, lieber Herr Witt, für Ihre Hülfe und beson­ ders für die guten Regeln, die ich nicht vergessen werde. Jetzt will ich mich Ihnen empfehlen, und — W. Wart' Er, wir gehen mit einander. Ich habe da auch eben einen nothwendigen Gang.

2. Fischerknabe.

Fischer, Jäger und Hirt.

Es lächelt der See, er ladet zum Bade, Der Knabe schlief ein am grünen Gestade; Da hört er ein Klingen, wie Flöten so süß, Wie Stimmen der Engel im Paradies. Und wie er erwachet in seliger Lust, Da spülen die Wasser ihm um die Brust. Und es ruft ans den Tiefen: Lieb Knabe, bist mein! Ich locke den Schläfer, ich zieh ihn herein.

VIII. Dramatisches.

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Ihr Matten, lebt wohl! Ihr sonnigen Weiden! Der Senne muß scheiden, Der Sommer ist hin. Wir fahren zu Berg, wir kommen wieder, Wenn der Kukuk ruft, wenn erwachen die Lieder, Wenn mit Blumen die Erde sich kleidet neu, Wenn die Brünnlein fließen im lieblichen Mai. Ihr Matten, lebt wohl! Ihr sonnigen Weiden! Der Senne muß scheiden, Der Sommer ist hin.

Hirt.

Alpenjäger. Es donnern die Höhen, eS zittert der Steg, Nicht grauet dem Schützen auf schwindlichtem Weg; Er schreitet verwegen auf Feldern von Eis; Da pranget kein Frühling, da grünet kein Reis. Und, unter den Füßen ein neblichtes Meer, Erkennt er die Städte der Menschen nicht mehr; Durch den Riß nur der Wolken erblickt er die Welt, Tief unter den Waffern das grünende Feld.

Ruodi (der Fischer).. Mach hurtig, Jenni. Zieh' die Naue ein. Der graue Thalvogt kommt, dumpf brüllt der Firn, Der Mythenstein zieht seine Haube an, Und kalt her bläst es aus dem Wetterloch; Der Sturm, ich mein', wird da seyn, eh' wir's denken. Kuoni (der Hirt), 's kommt Regen, Fährmann. Meine Schafe fressen Mit Begierde GraS, und Wächter scharrt die Erde. Werni (der Jäger). Die Fische springen, und das Wasserhuhn Taucht unter. Ein Gewitter ist im Anzug. Kuoni (zum Buben). Lug', Seppi, ob das Vieh sich nicht verlaufen. Seppi. Die braune Liefet kenn' ich am Geläut. Kuoni. So fehlt uns keine mehr, die geht am weitsten. Ruodi. Ihr habt ein schön Geläute, Meister Hirt. Werni. Und schmuckes Vieh. Ist's euer eignes, Landsmann? Kuoni. Bin nit so reich; 's ist meines gnäd'gen Herrn, DeS AttinghäuserS, und mir zugezählt. Ruodi. Wie schön der Kuh daS Band zu Halse steht! Kuoni. DaS weiß sie auch, daß sie den Reihen führt, Und, nähm' ich ihr's, sie hörte auf zu fressen. Ruodi. Ihr seid nicht klug; ein unvernünft'ges Vieh — Werni. Ist bald gesagt. Das Thier hat auch Vernunft: Das wissen wir, die wir die Gemsen jagen; Die stellen klug, wo sie zur Weide gehn, 'ne Vorhut aus, die spitzt das Ohr und warnet Mit Heller Pfeife, wenn der Jäger naht. Ruodi (zum Hirten). Treibt ihr jetzt heim? Kuoni. Die Alp ist abgeweidet. Werni. Glücksel'gh Heimkehr, Senn! Kuoni. Die wünsch' ich euch; Bon eurer Fahrt kehrt sich's nicht immer wieder. Aus SchiUer's Wilhelm teil.

3. Der Bau der Feste.

Frohnvogt. Nicht lang gefeiert, frisch! Die Mauersteine Herbei! den Kalk, den Mörtel zugefahren, Wenn der Herr Landvogt kommt, daß er daö Werk Gewachsen sieht! — Das schlendert wie die Schnecken! (3u zwei Handlangern, welche tragen.)

Heißt das geladen? Gleich das Doppelte! Wie die Tagdiebe ihre Pflicht bestehlen! Erster Gesell. Das ist doch hart, daß wir die Steine selbst Zu unserm Twing und Kerker sollen fahren! Frohnvogt. Was murret ihr? Das ist ein schlechtes Volk, Zu nichts anstellig, als das Vieh zu melken Und faul herum zu schlendern auf den Bergen. Alter Mann. Ich kann nicht mehr. Frohnvogt. Frisch, Alter, an die Arbeit! Erster Gesell. Habt ihr denn gar kein Eingeweid, daß ihr Den Greis, der kaum sich selber schleppen kann, Zum harten Frohndienst treibt? Meister Steinmetz und Gesellen, 'S ist himmelschreiend! Frohnvogt. Sorgt ihr für euch; ich thu', was meines Amts. Zweiter Gesell. Frohnvogt, wie wird die Feste denn sich nennen, Die wir da bau'n? Frohnvogt. Zwing Uri sott sie heißen; Denn unter dieses Joch wird man euch beugen. Gesellen. Zwing Uri! Frohnvogt. Nun, was giebt's dabei zu lachen? . Zweiter Gesell. Mit diesem Häuslein wollt ihr Uri zwingen? Erster Gesell. Laß sehn, wie viel man solcher Maulwurfshaufen Muß über 'nander setzen, bis ein Berg Draus wird, wie der geringste nur in Uri! (Frohnvogt geht mich dem Hintergrund.)

Meister Steinmetz. Den Hammer werf' ich in den tiefsten See, Der mir gedient bei diesem Fluchgebäude! Stau ff ach er. O, hätt' ich nie gelebt, um daö zu schauen! Tell. Hier ist nicht gut sein. Laßt uns weiter aehn. Stauffacker. Bin ich zu Uri, in der Freiheit Land? Meister Steinmetz. O Herr, wenn ihr die Keller erst gesehn Unter den Thürmen! Ja, wer die bewohnt, Der wird den Hahn nicht fürder krähen hören. Stauffqcher. O Gott! Steinmetz. Seht diese Flanken, diese Strebepfeiler, Die stehn, wie für die Ewigkeit gebaut! Tell. Was Hände bauten, können Hände stürzen. (Nach den Bergen zeigend.)

Das Haus der Freiheit hat uns Gott gegründet. (Man hört eine Trommel, es fonunen Vcute, die einen Hut auf einer Stange tragen, ein Ausrufer folgt ihnen, Weiber und Kinder dringen tumultuarifch nach.)

Erster Gesell. Was will die Trommel? Gebet Acht! Meister Steinmetz. Was für Ein Fastnachtsaufzug, und was soll der Hut? Ausrufer. In des Kaisers Namen! Höret! Gesellen. Still doch! Höret! Ausrufer. Ihr sehet diesen Hut, Männer von Uri!

VIII.

382

Dramatisches.

Ausrichten wird man ihn auf hoher Säule, Mitten in Altors, an dem höchsten Ort. Und dieses ist des Landvogts Will' und Meinung: Dem Hut soll gleiche Ehre, wie ihm selbst, geschehn. Man soll ihn mit gebognem Knie und mit Entblößtem Haupt verehren. Daran will Der Könitz die Gehorsamen erkennen. Verfallen ist mit seinem Leib und Gut Dem Könige, wer das Gebot verachtet. (Das Volk lacht laut auf, die Trommel wird gerührt, sie gehen vorüber.)

Erster Gesell. Welch neues Unerhörtes hat der Bogt Sich ausgesonnen! Wir 'nen Hut verehren! Saat! Hat man je vernommen von dergleichen? Meister Steinmetz. Wir unsre Kniee beugen einem Hut? Treibt er sein Spiel mit ernsthaft würd'gen Leuten? Erster Gesell. Wär's noch die kaiserliche Kron'! So ist's Der Hut von Oesterreich; ich sah ihn hangen Ueber dem Thron, wo man die Lehen giebt! Meister Steinmetz. Der Hut von Oesterreich! Gebt Acht, es ist Ein Fallstrick, uns an Oestreich zu verrathen! Gesellen. Kein Ehrenmann wird sich der Schmach bequemen. Meister Steinmetz. Was giebt's? Erster Gesell. Der Schieferdecker ist vom Dach gestürzt. Bertha von Brun eck. Ist er zerschmettert? Rennet, rettet, helft! Wenn Hülfe möglich, rettet; hier ist Gold! Meister. Mit eurem Gold! Alles ist euch feil Um Gold: wenn ihr den Vater von den Kindern Gerissen und den Mann von seinem Weibe, Und Jammer habt gebracht über die Welt, Denkt ihr's mit Golde zu vergüten. Geht! Wir waren frohe Menschen, eh' ihr kamt; Mit euch ist die Verzweiflung eingezogen. Bertha (zu dem Frohnvogt, der zurückkommt). Lebt er? (Frohnvogt gibt ein Zeichen des Gegentheils.) O UNglÜcksel'ges Schloß, mit Flüchen Erbaut, und Flüche werden dich bewohnen! Aus ^chiUcr'ü Wilhelm Teil

4. Teil in feiner Familie. Walther.

Mit dem Pfeil, dem Bogen, Durch Gebirg und Thal Kommt der Schütz gezogen Früh alu Morgenstrahl. Wie im Reich der Lüfte König ist der Weih — Durch Gebirg und Klüfte Herrscht der Schütze frei.

Ihm Was Das Was

Der Strang ist mir entzwei.

gehört das Weite; sein Pfeil erreicht, ist seine Beute, da kreucht und fleugt.

Mach mir ihn, Vater.

VIII, Tell.

Ich nicht.

Dramatisches.

Ein rechter Schütze hilft sich selbst.

(.Rnciben entfernen sich.) Hedwig. Die Knaben fangen zeitig an zu schießen. Tell. Früh übt sich, was ein Meister werden will. Hedwig. Ach, wollte Gott, sie lernten's nie! Tell. Sie sollen alles lernen. Wer durchs Leben Sich frisch will schlagen, muß zu Schutz und Trutz Gerüstet seyn. Hedwig. Ach, es wird keiner seine Ruh Zu Hause finden. Tell. Mutter, ich kann's auch nicht. Zum Hirten hat Natur mich nicht gebildet; Rastlos muß ich ein flüchtig Ziel verfolgen. Dann erst genieß' ich meines Lebens recht, Wenn ich mir's jeden Tag aufs neu' erbeute. Hedwig. Und an die Angst der Hausfrau denkst du nicht, Die sich indessen, deiner wartend, härmt. Denn mich erfüllt's mit Grausen, was die Knechte Von euren Wagefahrten sich erzählen. Bei jedem Abschied zittert mir das Herz, Daß du mir nimmer werdest wiederkehren. Ich sehe dich im wilden Eisgebirg Verirrt, von einer Klippe zu der andern Den Fehlsprung thun, seh', wie die Gemse dich Rückspringend mit sich in den Abgrund reißt, Wie eine Windlawine dich verschüttet, Wie unter dir der trügerische Firn Einbricht, und dn hinabsinkst, ein lebendig Begrabner, in die schauerliche Gruft. Ach, den verwegnen Alpenjäger hascht Der Tod in hundert wechselnden'Gestalten! Das ist ein unglückseliges Gewerb', Das halsgefährlich führt am Abgrund hin! Tell. Wer frisch umherspäht mit gesunden Sinnen, Auf Gott vertraut und die gelenke Kraft, Der ringt sich leicht aus jeder Fahr und Roth; Den schreckt der Berg nicht, wer darauf geboren. Jetzt, mein' ich, hält das Thor auf Jahr und Tag. Die Axt im Haus erspart den Zimmermann. Hedwig. Wo gehst du hin? Tell. Nach Altorf zu dem Vater. Hedwig. Sinnst du auch nichts Gefährliches? Gesteh mir's! Tell. Wie kommst du darauf, Frau? Hedwig. Es spinnt sich etwas Gegen die Vögte; auf dem Rütli ward Getagt, ich weiß, und du bist auch im Bunde. Tell. Ich war nicht mit dabei; doch werd' ich mich Dem Lande nicht entziehen, wenn es ruft. Hedwig. Sie werden dich hinstellen, wo Gefahr ist; Das Schwerste wird dein Antheil sein, wie immer. Tell. Ein Jeder wird besteuert nach Vermögen. Hedwig. Den Unterwaldner hast du auch im Sturme Ueber den See geschafft. Ein Wunder war's,

383

384

VIII.

Dramatisches.

Daß ihr entkommen. Dachtest du denn gar nicht An Weib und Kind? Tell. Lieb Weib, ich dacht' an euch; Drum rettet' ich den Vater seinen Kindern. Hedwig. Zu schiffen in dem wüth'gen See! Das heißt Nicht Gott vertrauen! Das heißt Gott versuchen! Tell. Wer gar zu viel bedenkt, wird wenig leisten. Hedwig. Ja, du bist gut und hülfreich, dienest allen, Und, wenn du selbst in Noth kommst, hilft dir keiner. Tell. Verhüt' es Gott, daß ich nicht Hülfe brauche! Hedwig. Was willst du mit der Armbrust? Laß sie hier! Tell. Mir fehlt der Arm, wenn mir die Waffe fehlt. (Die Knaben kommen zurück.)

Vater, wo gehst du hin? Tell. Nach Altorf, Knabe, Zum Ehni. Willst du mit? Walther. Ja, freilich will ich. Hedwig. Der Landvogt ist jetzt dort. Bleib weg von Altorf Tell. Er geht, noch heute.' r ~ z " ihn " - fort * Hedwig. Drum laß erst sein. Gemahn' ihn nicht an dich, "du weißt, er grollt uns. Tell. Mir soll sein böser Wille nicht "viel schaden. Walther.

Ich thue recht und scheue keinen Feind. Hedwig. Die recht thun, eben die haßt er am meistem Tell. Weil er nicht an sie kommen kann. Mich wird Der Ritter wohl in Frieden lassen, mein' ich. Hedwig. So, weißt du das? Tell. Es ist nicht lange her, Da ging ich jagen durch die wilden Gründe Des Schächenthals auf menschenleerer Spur, Und da ich einsam einen Felsensteig Verfolgte, wo nicht auszuweichen war, Denn über mir hing schroff die Felswand her, Und unten rauschte fürchterlich der Schachen, Da kam der Landvogt gegen mich daher, Er ganz allein mit mir, der auch allein war, Blos Mensch zu Mensch, und neben uns der Abgrund. Und als der Herre mein ansichtig ward Und mich erkannte, den er kurz zuvor Um kleiner Ursach willen schwer gebüßt, Und sah mich mit dem stattlichen Gewehr Daher geschritten kommen, da verblaßt' er, Die Knie versagten ihm, ich sah es kommen, Daß er jetzt an die Felswand würde sinken. Da jammerte mich sein, ich trat zu ihm Bescheidentlich und sprach: Ich bin's, Herr Landvogt. Er aber konnte keinen armen Laut Aus seinem Munde geben. Mit der Hand nur Winkt' er mir schweigend, meines Wegs zu gehn; Da ging ich fort und sandt' ihm sein Gefolge. Hedwig. Er hat vor dir gezittert, wehe dir! Daß du ihn schwach gesehn, vergiebt er nie. Tell. Drum meid' ich ihn, und er wird mich nicht suchen.

Vni. Dramatisches.

386

Hedwig. Bleib heute nur dort weg! Geh lieber jagen! Teil. WaS fällt dir ein? Hedwig. Mich ängstigt's. Bleibe weg! Tell. Wie kannst du dich so ohne Ürsach quälen? Weil's keine Ursach hat, Tell, bleibe hier. hab's versprochen, liebes Weib, zu kommen. Mußt du, so geh; nur lasse mir den Knaben! Nein, Mütterchen. Ich gehe mit dem Vater. Wälty, verlassen willst du deine Mutter? Ich bring' dir auch was Hübsches mit vom Ehni. Mutter, ich bleibe bei dir! Hedwig. Ja, du bist Mein liebes Kind, du bleibst mir noch allein! Hedwig. Tell. Ich Hedwig. Walther. Hedwig. Walther. Wilhelm.

Aus Schillers Wilhelm teil.

5. Der Schuß nach dem Apfel. Frießhardt. Wir paffen auf umsonst. Es will sich niemand Heran begeben und dem Hut sein' Reverenz Erzeigen. 'S war doch sonst wie Jahrmarkt hier; Jetzt ist der ganze Anger wie verödet, Seitdem der Popanz auf der Stange hängt. Leuthold. Nur schlecht Gesindel läßt sich sehn und schwingt Uns zum Verdrieße die zerlumpten Mützen. WaS rechte Leute sind, die machen lieber Den langen Umweg um den halben Flecken, Eh' sie den Rücken beugten vor dem Hut. .Frießhardt. Sie müssen über diesen Platz, wenn sie Vom Rathhaus kommen um die Mittagsstunde. Da meint' ich schon, 'nen guten Fang zu thun, Denn keiner dachte dran, den Hut zu grüßen. Da sieht'S der Pfaff, der Rösselmann — kam just Bon einem Kranken her — und stellt sich hin Mit dem Hochwürdigen, grad' vor die Stange; Der Sigrist mußte mit dem Glöcklein schellen: Da fielen all' aufs Knie, ich selber mit, Und grüßten die Monstranz, doch nicht den Hut. Leuthold. Höre, Gesell, eS fängt mir an zu däuchten, Wir stehen hier am Pranger vor dem Hut; 'S ist doch ein Schimpf für einen ReiterSmann, Schildwach zu stehn vor einem leeren Hut, Und jeder rechte Kerl muß uns verachten. Die Reverenz zu machen einem Hut, ES ist doch, traun, ein närrischer Befehl! Frießhardt. Warum nicht einem leeren, hohlen Hut? Bückst du dich doch vor manchem hohlen Schädel. Leuthold. Und du bist auch so ein dienstfert'ger Schurke Und brächtest wackre Leute gern ins Unglück. Mag, wer da will, am Hut vorübergehn. Ich drück' die Auaen zu und seh' nicht hin. Mechthild. Da hängt der Landvogt! Habt Respect, ihr Buben! Elsbeth. Wollt's Gott, er ging' und ließ' uns seinen Hut; ES sollte drum nicht schlechter stehn ums Land! Frießhardt. Wollt ihr vom Platz! Verwünschtes Volk der Weiber!

Dielitz und Hrinnchs, deutsche- Lesebuch.

25

386

VIII.

Dramatisches.

Wer fragt nach euch! Schickt eure Männer her, Wenn sie der Muth sticht, dem Befehl zu trotzen.

(Weiber gehen.)

(Tel l mit der Armbrust tritt auf, den Knaben an der Hand führend, sie gehen an dem Hut

vorbei gegen die vordere Scene, ohne darauf ru achten.)

Walther. Vater, ist's wahr, daß auf dem Berge dort Die Bäume bluten, wenn man einen Streich Drauf führte mit der Axt? Tell. Wer sagt das, Knabe? Walther. Der Meister Hirt erzähltes. Die Bäume seien Gebannt, sagt er, und wer sie schädige, Dem wachse seine Hand heraus zum Grabe. Tell. Die Bäume sind gebannt, das ist die Wahrheit. Siehst du die Firnen dort, die weißen Hörner, Die hoch bis in den Himmel sich verlieren? Walther. Das sind die Gletscher, die des Nachts so donnern Und uns die Schlaglawinen niedersenden. Tell. So ist's, und die Lawinen hätten längst Den Flecken Altorf unter ihrer Last Verschüttet, wenn der Wald dort oben nicht Als eine Landwehr sich dagegen stellte. Walther. Giebt's Länder, Vater, wo nicht Berge sind? Tell. Wenn man hinunter steigt von unsern Höhen Und immer tiefer steigt den Strömen nach, Gelangt man in ein großes, ebnes Land, Wo die Waldwasser nicht mehr brausend schäumen, Die Flüsse ruhig und gemächlich ziehn; Da sieht man frei nach allen Himmelsräumen, Das Korn wächst dort in langen, schönen Auen, Und wie ein Garten ist das Land zu schauen. Walther. Ei, Vater, warum steigen wir denn nicht Geschwind hinab in dieses schöne Land, Statt daß wir hier uns ängstigen und Plagen? Tell. Das Land ist schön und gütig, wie der Himmel; Doch, die's bebauen, sie genießen nicht Den Segen, den sie pflanzen. Walther. Wohnen sie Nicht frei, wie du, auf ihrem eignen Erbe? Tell. Das Feld gehört dem Bischof und dem König. Walther. So dürfen sie doch frei in Wäldern jagen? Tell. Dem Herrn gehört das Wild und das Gefieder. Walther. Sie dürfen doch frei fischen in dem Strom? Tell. Der Strom, das Meer, das Salz gehört dem König. Walther. Wer ist der König denn, den alle fürchten? Tell. Es ist der eine, der sie schützt und nährt. Walther. Sie können sich nicht muthig selbst beschützen? Tell. Dort darf der Nachbar nicht dem Nachbar trauen. Walther. Vater, es wird mir eng im weiten Land; Da wohn' ich lieber unter den Lawinen. Tell. Ja, wohl ist's besser, Kind, die Gletscherberge Im Rücken haben, als die bösen Menschen. Walther. Ei, Vater, sieh den Hut dort auf der Stange. Tell. Was kümmert uns der Hut! Komm, laß uns gehen. Frießhardt. In des Kaisers Namen! Haltet an und steht!

Vm. Dramatische-.

387

Teil. WaS wollt ihr? Warum haltet ihr mich auf? Frießhardt. Ihr habt's Mandat verletzt; ihr müßt uns folgen. Leuthold. Ihr habt dein Hut nicht Reverenz bewiesen. Teil. Freund, laß mich gehen. Frießhardt. Fort, fort ins Gefängniß! Walther. Den Vater ins Gefängniß! Hülfe! Hülfe! erbei, ihr Männer, gute Leute, helft! eroolt! Gewalt! Sie führen ihn gefangen.

S

(Rössel mann, der Pfarrer, und Peter mann, der Sigrist, kommen herbei mit drei an­ dern Männern.)

Sigrist. Was giebt's? Rösselmann. Was legst du Hand an diesen Mann? Frießhardt. Er ist ein Feind des Kaisers, ein Verräther! Tell. Ein Verräther, ich! Rosselmann. Du irrst dich, Freund. Das ist Der Tell, ein Ehrenmann und guter Bürger. Walther. Großvater, hilf! Gewalt geschieht dem Vater. Frießhardt. Ins Gefängniß, fort! Walther Fürst (berbeieikiib). Ich leiste Bürgschaft, haltet! Um Gottes willen, Tell, was ist geschehen? (M el cht ha l und S ta u ffachc r kommen.)

Frießhardt. Des Landvogts oberherrliche Gewalt Verachtet er und will sie nicht erkennen. Stauffacher. Das hätt' der Tell gethan? Melchthal. Das lügst du, Bube! Leuthold. Er hat dem Hut nicht Reverenz bewiesen. Walther Fürst. Und darum soll er ins Gefängniß? Freund, Nimm meine Bürgschaft an und laß ihn ledig. Frießhardt. Bürg' du für dich und deinen eignen Leib! Wir thun, waS unsers Amtes. Fort mit ihm! Melchthal. Nein, das ist schreiende Gewalt! Ertragen wir's, Daß man ihn fortführt, frech, vor unsern Augen? Sigrist- Wir sind die Stärkern. Freunde, duldet's nicht! Wir haben einen Rücken an den Andern. Frießhardt. Wer widersetzt sich dem Befehl des Vogts? Noch drei Landleute (beibcicikut). Wir helfen euch. WaS giebt's? Schlagt sie zu Boden! Tell. Ich helfe mir schon selbst. Geht, gute Leute. Meint ihr, wenn ich die Kraft gebrauchen wollte, Ich würde mich vor ihren Spießen fürchten? Melchthal (zu Frießhardt). Wag's, ihn aus unsrer Mitte wegzuführen! Walther Fürst und Stauffacher. Gelaffen! ruhig! Frießhardt. Aufruhr und Empörung! (Man hört Jagdhörner.)

Da kommt der Landvogt! Frießhardt. Meuterei! Empörung! Stauffacher. Schrei, bis du berstest, Schurke! Rösselmann und Melchthal. Willst du schweigen? Frießhardt. Zu Hüls', zu Hüls' den Dienern des Gesetzes! Walther Fürst. Das ist der Vogt! Weh uns, was wird daS werden! Weiber.

Geßler zu Pferd, Nudolpb der Harras, Bertha und Nudenz, ein großes Gefolge von bewaffneten Knechten.

Rudolph der HarraS.

Platz, Platz dem Landvogt!

388

VIII.

Dramatisches.

Geßler. Treibt sie auseinander! Was läuft das Volk zusammen? Wer ruft Hülfe? Wer war's? Ich will es wissen. (Zu Frießhardt) Du, tritt vor! Wer bist du, und was hältst du diesen Mann? Frießhardt. Gestrenger Herr, ich bin dein Waffenknecht Und wohlbestellter Wächter bei dem Hut. Diesen Mann ergriff ich über frischer That, Wie er dem Hut den Ehrengruß versagte. Verhaften wollt' ich ihn, wie du befahlst, Und mit Gewalt will ihn das Volk entreißen. Geßler. Verachtest du so deinen Kaiser, Tell, Und mich, der hier an seiner Statt gebietet, Daß du die Ehr' versagst dem Hut, den ich Zur Prüfung des Gehorsams aufgehangen? Dein böses brachten hast du mir verrathen. Tell. Verzeiht mir, lieber Herr! Aus Unbedacht, Nicht aus Verachtung eurer ist's geschehn. Wär' ich besonnen, hieß ich nicht der Tell. Ich bitt' um Gnad', es soll nicht mehr begegnen. Geßler. Du bist ein Meister auf der Armbrust, Tell; Man sagt, du nehmst es auf mit jedem Schützen? Walther. Und das muß wahr seyn, Herr, 'nen Apfel schießt Der Vater dir vom Baum auf hundert Schritte. Geßler. Ist das dein Knabe, Tell? Tell. Ja, lieber Herr. Geßler. Hast du der Kinder mehr? Tell. Zwei Knaben, Herr. Geßler. Und welcher ist's, den du am meisten liebst? Tell. Herr, beide sind sie mir gleich liebe Kinder. Geßler. Nun, Tell! weil du den Apfel triffst vom Baume Auf hundert Schritt, so wirst du deine Kunst Vor mir bewähren müssen. Nimm die Armbrust — Du hast sie gleich zur Hand — und mach dich fertig, Einen Apfel von des Knaben Kopf zu schießen; Doch, will ich rathen, ziele gut, daß du Den Apfel treffest auf den ersten Schuß; Denn, fehlst du ihn, so ist dein Kopf verloren. Tell. Herr, welches Ungeheure sinnet ihr Mir an? Ich soll vom Haupte meines Kindes — Nein, nein doch, lieber Herr, das kommt euch nicht Zu Sinn. Berhüt's der gnäd'ge Gott! Das könnt ihr Im Ernst von einem Vater nicht begehren! Geßler. Du wirst den Apfel schießen von dem Kopf Des Knaben, ich begehr's und will's. Tell. Ich soll Mit meiner Armbrust auf das liebe Haupt Des eignen Kindes zielen? Eher sterb' ich! Geßler. Du schießest oder stirbst mit deinem Knaben. Tell. Ich soll der Mörder werden meines Kinds! Herr, ihr habt keine Kinder, wisset nicht, Was sich bewegt in eines Vaters Herzen. Geßler. Ei, Tell, du bist ja plötzlich so besonnen!

VH!. Dramatische-.

389

Man sagte mir, daß du ein Träumer seist Und dich entfernst von andrer Menschen Weise. Du liebst daS Seltsame; drum hab' ich jetzt Ein eigen Wagstück für dich ausgesucht. Ein Andrer wohl bedächte sich; du drückst Die Augen zu und greifst es herzhaft an. Man mache Raum! Er nehme seine Weite, Wie's Brauch ist; achtzig Schritte geb' ich ihm, Nicht weniger, noch mehr. Er rühmte sich, Auf ihrer hundert seinen Mann zu treffen. Jetzt, Schütze, triff, und fehle nicht das Ziel! Oeffnet die Gasse! Frisch, waS zauderst du? Dein Leben ist verwirkt, ich kann dich todten; Und, sieh, ich lege gnädig dein Geschick Zn deine eigne, kunstgeübte Hand. Der kann mcht klagen über harten Spruch, Den man zum Meister seines Schicksals macht. Du rühmst dich deines sichren Blicks. Wohlan! Hier gilt es, Schütze, deine Kunst zu zeigen; DaS Ziel ist würdig, und der Prers ist groß! DaS Schwarze treffen in der Scheibe, das Kann auch ein Andrer; der ist mir der Meister, Der seiner Kunst gewiß ist überall, Dem'S Herz nicht in die Hand tritt, noch inS Auge. Walther Fürst. Herr Landvogt, wir erkennen eure Hoheit; Doch lasset Gnad' für Recht ergehen, nehmt Die Hälfte meiner Habe, nehmt sie ganz! Nur dieses Gräßliche erlasset einem Vater! Waltber Teil. Großvater, knie nicht vor dem falschen Mann! Sagt, wo ich hinstehn soll. Ich fürcht mich nicht. Der Vater trifft den Bogel ja im Flug, Er wird nicht fehlen auf daS Herz des Kindes. Stausfacher. Herr Landvoat, rührt euch nicht des Kindes Unschuld? Rösselmann. O denket, daß ein Gott im Himmel ist, Dem ihr müßt Rede stehn für eure Thaten. Geßler (zeigt auf ten Knaben). Man bind' ihn an die Linde dort! Walther Teil. Mich binden! Nein, ich will nicht gebunden sein. Ich will Still hallen, wie ein Lamm, und auch nicht athmen. Wenn ihr mich bindet, nein, so kann ich's nicht, So werd' ich toben gegen meine Bande. Rudolph der HarraS. Die Augen nur laß dir verbinden, Knabe! Walther Teil. Warum die Augen! Denket ihr, ich fürchte Den Pfeil von Vaters Hand? Ich will ihn fest Erwarten und nicht zucken mit den Wimpern. Frisch, Vater, zeig's, daß du ein Schütze bist! Er glaub: dir'S nicht, er denkt uns zu verderben. Dem Wrth'rich zum Berdruffe schieß und triff! (($r geht an die Linde, man legt ihm den Apfel ans.) -

Melchthal (ju den SanUeutcn). Was? Soll der Frevel sich vor unsern Auge« Vollender? Wozu haben wir geschworen? Stausfacher. Es ist umsonst, wir haben keine Waffen; Ihr seht den Wald von Lanzen um uns her.

VIII.

390

Dramatisches.

Melchthal. O, hätten wir's mit frischer That vollendet! Verzeih's Gott denen, die zum Aufschub riethen! Geßler. An's Werk! Man führt die Waffen nicht vergebens. Gefährlich ist's, ein Mordgewehr zu tragen, Und auf den Schützen springt der Pfeil zurück. Dies stolze Recht, das fick der Bauer nimmt, Beleidiget den höchsten Herrn des Landes. Gewaffnet sei niemand, als wer gebietet. Freut's euch, den Pfeil ni führen und den Bogen, Wohl, so will ich das Ziel euch dazu geben. Tell (spannt Die Armbrust'und legt den Pfeil auf). Oeffnet die Gasse! Platz! Stauffacher. Was, Tell? Ihr wolltet — Nimmermehr! Ihr zittert, Die Hand erbebt euch, eure Kniee wanken. Tell (läßt die Armbrust sinken). Mir schwimmt es vor den Augen! Weiber. Gott im Himmel! Tell. Erlasset mir den Schuß. Hier ist mein Herz! Ruft eure Reisigen und stoßt mich nieder! Geßler. Ich will dein Leben nicht, ich will den Schuß. Du kannst ja alles, Tell! An nichts verzagst du; Das Steuerruder führst du wie den Bogen; Dich schreckt kein Sturm, wenn es zu retten gilt. Jetzt, Retter, hilf dir selbst; du rettest alle! (Tell steht in fürchterlichem Kampf, mit den Händen zuckend und die rollenden Augen bald auf den Landvogt, bald zum Himmel gerichtet Plötzlich greift er in feinen Köcher, nimmt einen zweiten Pfeil heraus und steckt ihn in feinen Koller. Der Landvogt be­ merkt alle diese Bewegungen.)

Vater, schieß zu! Ich fürcht' mich nicht. Tell. Es muß! Rüdenz. Herr Landvogt, weiter werdet ihr's nicht treiben, Ihr werdet nicht. Es wat nur eine Prüfung; Den Zweck habt ihr erreicht. Zu weit getrieben Verfehlt die Strenge ihres weisen Zwecks, Und, allzustraff gespannt, zerspringt der Bogen. Geßler. Ihr schweigt, bis man euch aufruft. Rudenz. Ich will reden! Ich darf's! Des Königs Ehre ist mir heilig; Doch solches Regiment muß Haß erwerben. Das ist des Königs Wille nicht, ich darf's Behaupten. Solche Grausamkeit verdient Mein Volk nicht; dazu habt ihr keine Vollmacht. Geßler. Ha, ihr erkühnt euch! Rudenz. Ich hab still geschwiegen Zu allen schweren Thaten, die ich sah; Mein sehend Auge hab' ich zugeschlossen, Mein überschwellend und empörtes Herz Hab' ich hinabgedrückt in meinen Busen. Doch länger schweigen wär' Verrath zugleich An meinem Vaterland und an dem Kaiser. Mein Volk verließ ich, meinen Blutsverwandten Entsagt' ich, alle Bande der Natur Zerriß ich, um an euch mich anzuschließen; Das Beste aller glaubt' ich zu befördern, Da ich des Kaisers Macht befestigte. Walther Tell.

(Erlegtan.)

VIII.

Dramatisches.

391

Die Binde fällt von meinen Augen. Schaudernd Seh' ich an einen Abgrund mich geführt. Mein freies Urtheil habt ihr irr' geleitet, Mein redlich Herz verführt. Ich war daran, Mein Volk in bester Meinung zu verderben. Geßler. Verwegner, diese Sprache deinem Herrn? Rudenz. Der Kaiser ist mein Herr, nicht ihr. Frei bin ich Wie ihr geboren, und ich messe mich Mit euch in jeder ritterlichen Tugend. Und ständet ihr nicht hier in Kaisers Namen, Den ich verehre, selbst, wo man ihn schändet, Den Handschuh würf' ich vor euch hin, ihr solltet Nach ritterlichem Brauch mir Antwort geben. Ja, winkt nur euren Reisigen. Ich stehe Nicht wehrlos da, wie die — (W das Volk zeigend.) Ich hab' ein Schwert, Und, wer mir naht — Stauffacher. Der Apfel ist gefallen! Rösselmann. Der Knabe lebt! Viele Stimmen. Der Apfel ist getroffen! Geßler. Er hat geschossen? Wie? Der Rasende! Bertha. Der Knabe lebt! Kommt zu euch, guter Vater! Walther Tell. Vater, hier ist der Apfel. Wußt ich's ja, Du würdest deinen Knaben nicht verletzen. Bertha. O güt'ger Himmel! Walther Fürst. Kinder! meine Kinder! Stauffacher. Gott sei gelobt! Leuthold. Das war ein Schuß! Davon Wird man noch reden in den spätsten Zeiten. Rudolph der Harras. Erzählen wird man von dem Schützen Tell, So lang die Berge stehn auf ihrem Grunde. Geßler. Bei Gott, der Apfel mitten durch geschossen! Es war ein Meisterschuß, ich muß ihn loben. Rössel mann. Der Schuß war gut; doch wehe dem, der ihn Dazu getrieben, daß er Gott versuchte. Stauffacher. Kommt zu euch, Tell, steht auf; ihr habt euch männlich Gelöst, und frei könnt ihr nach Hause gehen. Rösselmann. Kommt, kommt und bringt der Mutter ihren Sohn! Geßler. Tell, höre! Teil. Was befehlt ihr, Herr? Geßler. Du stecktest Noch einen zweiten Pfeil zu dir. Ja, ja, Ich sah es wohl. Was meintest du damit? Tell. Herr, das ist also bräuchlich bei den Schützen. Geßler. Nein, Tell, die Antwort lass' ich dir nicht gelten; Es wird was andres wohl bedeutet haben. Sag' mir die Wahrheit frisch und fröhlich, Tell; Was es auch sei, dein Leben sichr' ich dir. Wozu der zweite Pfeil? Tell. Wohlan, o Herr, Weil ihr mich meines Lebens habt gesichert, So will ich euch die Wahrheit gründlich sagen. Mit diesem Pfeil durchschoß ich euch,

VIII.

Dramatisches.

Wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte, Und eurer, wahrlich, hätt' ich nicht gefehlt. Geßler. Wohl, Tell! Des Lebens hab' ich dich gesichert; Ich gab mein Ritterwort, das will ich halten. Doch, weil ich btiiten bösen Sinn erkannt, Will ich dich führen lasten und verwahren, Wo weder Mond noch Sonne dich bescheint, Damit ich sicher sei vor deinen Pfeilen. Ergreift ihn, Knechte! Bindet ihn! (Tell wird gebunden.) Stauffacher. Wie, Herr! So tonntet ihr an einem Manne handeln, An dem sich Gottes Hand sichtbar verkündigt? Geßler. Laß sehn, ob sie ihn zweimal retten wird. Man bring' ihn auf mein Schiff! Ich folge nach Sogleich, uh selbst will ihn nach Küßnacht führen. Stauffacher. O nun ist alles, alles hin! Mit euch Sind wir gefestelt alle und gebunden! Landleute (umringen t>en teil). Mit euch geht unser letzter Trost dahin! Leuthold. Tell, es erbarmt mich. Doch ich muß gehorchen. Tell. Lebt wohl! Walther Tell. O Vater! Vater! lieber Vater! Tell. Dort droben ist dein Vater! Dm ruf' an! Stauffacher. Tell, sag' ich eurem Weibe nichts von euch? Tell. Der Knab' ist unverletzt; mir wird Gott helfen. Aus Schiller's Wilhelm Teil.

6. Kampfbegier. Götz (vor der Thür unter der Linde). Wo meine Knechte bleiben! Auf und ab muß ich aehen, sonst übermannt mich der Schlaf. Fünf Tag' und Nächte schon auf der Lauer. Es wird einem sauer gemacht das bischen Leben und Frei­ heit. Dafür, wenn ich dich habe, Weislingen, will ich mir's wohl sein lassen. Georg! Georg! Schickt ihr nur euren gefälligen Weislingen herum zu Bet­ tern und Gevattern, laßt mich anschwärzen! Nur immer zu! Ich bin wach. Du warst mir entwischt, Bischof! So mag denn dein lieber Weislingen die Zeche bezahlen. — Georg! Hört der Junge nicht? Georg! Georg! Der Bube (im Panzer eines Erwacyscimi). Gestrenger Herr! Götz. Wo steckst du! Hast du geschlafen? WaS zum Henker treibst du für Mummerei? Komm her! du siehst gut aus. Schäm' dich nicht, Junge. Du bist brav! Ja, wenn du ihn ausfülltest! Es ist Hansens Küraß? Georg. Er wollt' ein wenig schlafen und schnallt' ihn aus. Götz. Er ist bequemer, als sein Herr. Georg. Zürnt nicht! Ich nahm ihn leise weg und legt' ihn an und holte meines Vaters altes Schwert von der Wand, lief auf die Wiese und zog's aus. Götz. Und hiebst um dich herum! Da wird's den Hecken und Dornen gut gegangen sein. Schläft Hans? Georg. Auf euer Rufen sprang er auf und schrie mir, daß ihr riest. Ich wollt' den Harnisch ausschnallen, da hört' ich euch zwei-, dreimal. Götz. Geh! bring'ihm seinen Panzer wieder und sag' ihm, er soll be­ reit sein, soll nach den Pferden sehen. Georg. Die hab ich recht ausgefüttert und wieder aufl'ezäumt. Ihr könnt aufsttzen, wann ihr wollt.

Vni. Dramatisches.

393

Götz. Bring' mir einen Krug Wein, gieb Hansen auch ein GlaS, sag' ihm, er soll munter sein, es gilt. Ich hoffe jeden Augenblick, meine Kundschaf­ ter sollen zurückkommen. Georg. Ach gestrenger Herr! Götz. Was hast du? Georg. Darf ich nicht mit? Götz. Ein andermal, Georg, wann wir Kaufleute fangen und Fuhren wegnehmen. Georg. Ein andermal, daS habt ihr schon oft gesagt. O diesmal! dies­ mal! Ich will nur hinten drein laufen, nur auf der Seite lauern. Ich will euch die verschossenen Bolzen wiederholen. Götz. Das nächstemal, Georg. Du sollst erst ein WammS haben, eine Blechhaube und einen Spieß. Georg. Nehmt mich mit! Wär' ich letzt dabei gewesen, ihr hättet die Armbrust nicht verloren. Götz. Weißt du daS? Georg. Ihr warft sie dem Feind an den Kopf, und einer von den Fuß­ knechten hob sie auf; weg war sie! Gelt, ich weiß? Götz. Erzählen dir daS meine Knechte? Georg. Wohl! Dafür pfeif' ich ihnen auch, wann wir die Pferde strie­ geln, allerlei Weisen und lehre ihnen allerlei lustige Lieder. Götz. Du bist ein braver Junge. Georg. Nehmt mich mit, daß ich'S zeigen kann. Götz. DaS nächstemal, auf mein Wort. Unbewaffnet, wie du bist, sollst du nicht in den Streit. Die künftigen Zeiten brauchen auch Männer. Ich sage dir, Knabe, es wird eine Zeit werden: Fürsten werden ihre Schätze bieten um einen Mann, den sie jetzt hassen. Geh, Georg, gieb Hansen seinen Küraß wieder, rmd bring mir Wein. Aus Goethes Söy v. Verlichmgen.

7. Des Helden Sohn. Carl. Ich bitte dich, liebe Tante, erzähl' mir das noch einmal vom from­ men Kind; 'S ist gar zu schön. Maria. Erzähl' du mir's, kleiner Schelm, da will ich hören, ob du Acht giebst. Carl. Warte bis, ich will mich bedenken. Es war einmal — ja — eS war einmal ein Kind, und fein' Mutter war krank, da ging das Kind hin — Maria. Nicht doch. Da sagte die Mutter: Liebes Kind — Carl. Ich bin krank — Maria. Und kann nicht auSgehen — Carl. Und gab ihm Geld und sagte: Geh hin und hol dir ein Früh­ stück. Da kam ein armer Mann — Maria. Das Kind ging; da begegnet' ihm ein alter Mann, der war — nun, Carl! Carl. Der war alt — Maria. Freilich! der kaum mehr gehen konnte, und sagte: LiebeS Kind — Carl. Schenk mir was! ich hab' kein Brod gessen gestern und heut. Da gab ihm's Kind das Geld — Maria. DaS für ein Frühstück sein sollte. Carl. Da sagte der alte Mann — Maria. Da nahm der alte Mann das Kind — Carl. Bei der Hand und sagte — und ward ein schöner, glänzender Hei­ liger und sagte: liebes Kind —

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VIII. Dramatische-.

Maria. Für deine Wohlthätigkeit belohnt dich die Mutter Gottes durch mich: welchen Kranken du anrührst — Carl. Mit der Hand eS war die rechte, glaub' ich — Maria. Ja. Carl. Der wird gleich gesund. Maria. Da lief das Kind nach Haus und konnt' vor Freuden nichts reden. Carl. Und fiel seiner Mutter um den Hals und weinte für Freuden — Maria. Da rief die Mutter: Wie ist mir! und war — nun, Carl! Carl. Und war — und war — Maria. Du giebst schon nicht Acht! Und war gesund. Und das Kind curirte König und Kaiser und wurde so reich, daß es ein großes Kloster bauete. Elisabeth. Ich kann nicht begreifen, wo mein Herr bleibt. Schon fünf Tag' und Nächte, daß er weg ist, und er hoffte, so bald seinen Streich auSzuführen. Maria. Mich ängstigt's lang. Wenn ich so einen Mann haben sollte, der sich immer Gefahren aussetzte, ich stürbe im ersten Jahr. Elisabeth. Dafür dank' ich Gott, daß er mich härter zusammengesetzt hat. Carl. Aber muß denn der Baler ausreiten, wenn's so gefährlich ist? Maria. Es ist sein guter Wille so. Elisabeth. Wohl muß er, lieber Carl. Carl. Warum? Elisabeth. Weißt du noch, wie er das letztemal ausritt, da er dir Weck mitbrachte? Carl. Bringt er wieder mit? Elisabeth. Ich glaub' wohl. Siehst du, da war ein Schneider von Stuttgart, der war ein trefflicher Bogenschütz und hatte zu Köln auf'm Schie­ ßen das Beste gewonnen. Carl. War'S viel? Elisabeth. Hundert Thaler. Und darnach wollten sie's ihm nicht geben. Maria. Gelt, das ist garstig, Carl? Carl. Garstige Leut! Elisabeth. Da kam der Schneider zu deinem Vater und bat ihn, er möchte ihm zu seinem Gelde verhelfen. Und da ritt er aus und nahm den Köl­ nern ein Paar Kaufleute weg und plagte sie so lang, bis sie das Geld Heraus­ gaben. Wärst du nicht auch auSgerittcn? Carl. Nein! da muß man durch einen dicken, dicken Wald, sind Zigeu­ ner und Hexen drin. Elisabeth. Ist ein rechter Bursch, fürchtet sich vor Hexen. Maria. Du thust besser, Carl, leb' du einmal auf deinem Schloß als ein frommer, christlicher Ritter. Auf seinen eigenen Gütern findet man zum Wohlthun Gelegenheit genug. Die rechtschaffensten Ritter begehen mehr Unge­ rechtigkeit als Gerechtigkeit auf ihren Zügen. Carl. Der Vater! der Vater! Der Thürmer bläst's Liedel: Heisa, mach's Thor auf! * Elisabeth. Da kommt er mit Beute. Ein Reiter kommt.

Reiter. Wir haben gejagt! wir haben gefangen! Gott grüß' euch, edle Frauen. Elisabeth. Habt ihr den Weislingen? Reiter. Ihn und drei Reiter. Elisabeth. Wie ging'S zu, daß ihr so lang auSbleibt? Reiter. Wir lauerte» auf ihn zwischen Nürnberg und Bamberg; er wollte

VIII.

Dramatisches.

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nicht kommen, und wir wußten doch, er war auf dem Wege. Endlich kundschaf­ teten wir ihn aus, er war seitwärts gezogen und saß geruhig beim Grafen von Schwarzenberg. Elisabeth. Den möchten sie auch gern meinem Mann feind haben. Reiter. Ich sagt's gleich dem Herrn. Auf! und wir ritten in den Has­ lacher Wald. Und da war's curios: wie wir so in die Nacht reiten, hütet just ein Schäfer da, und fallen fünf Wölf' in die Heerd' und packten weidlich an. Da lachte unser Herr und sagte: Glück zu, liebe Gesellen! Glück überall und uns auch! Und es freuet' uns all das gute Zeichen. Indem so kommt der WeiSlingen hergeritten mit vier Knechten. Maria. Das Herz zittert mir im Leibe. Reiter. Ich und mein Kamerad, wie's der Herr befohlen hatte, nistelten uns an ihn, als wären wir zusammengewachsen, daß er sich nicht regen, noch rühren konnte, und der Herr und der Hans fielen über die Knechte her und nahmen sie in Pflicht. Einer ist entwischt. Elisabeth. Ich bin neugierig, ihn zu sehen. Kommen sie bald? Reiter. Sie reiten das Thal herauf; in einer Viertelstund' sind sie hier. Maria. Er wird niedergeschlagen sein. Reiter. Finster genug sieht er aus. Maria. Sein Anblick wird mir im Herzen weh thun. Elisabeth. Ah! Ich will gleich das Essen zurecht machen. Hungrig werdet ihr doch alle sein. Reiter. Rechtschaffen. Elisabeth. Nimm den Kellerfchlüssel und hol' vom besten Wein! Sie haben ihn verdient. (Ab.) Carl. Ich will mit, Tante. Maria. Komm, Bursch. (Ab.) Reiter, Der wird nicht sein Vater, sonst ging er mit in den Stall! 2lu0 Goethe s Goy v. VerUchmgen.

8.

Götz unter den Seinen.

Götz. So bringt uns die Gefahr zusammen. Laßt's euch schmecken, meine Freunde! Vergeßt das Trinken nicht! Die Flasche ist leer. Noch eine, liebe Frau. (Elisabeth zuckt die Achsel) Ist keine mehr da? Elisabeth. Noch eine; ick hab' sie für dich bei Seite gesetzt. Götz. Nicht doch, Liebe! Gieb sie heraus. Sie brauchen Stärkung, nicht ich; eS ist ja meine Sache. Elisabeth. Holt sie draußen im Schrank! Götz. ES ist die letzte. Und mir ist's, als ob wir nicht zu sparen Ursach hätten. Ich bin lange nicht so vergnügt gewesen. (Schenkt ein.) Cs lebe der Kaiser! Alle. Er lebe! Götz. Das soll unser vorletztes Wort sein, wenn wir sterben! Ich lieb' ihn; denn wir haben einerlei Schicksal. Und ich bin noch glücklicher als er. Er muß den Reichsständen die Mäuse fangen, inzwischen die Ratten seine Befitzthümer annagen. Ich weiß, er wünscht sich manchmal lieber tobt, als län­ ger die Seele eines so krüppligen Körpers zu sein. (Schenkt ein.) Es geht just noch einmal herum. Und wenn unser Blut anfängt, auf die Neige zu gehen, wie der Wein in dieser Flasche erst schwach, dann tropfenweise rinnt, was soll unser letztes Wort sein? Georg. Es lebe die Freiheit! Götz. Es lebe die Freiheit!

VIII. Dramatisches.

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Alle. Es lebe die Freiheit! Götz. Und wenn die uns überlebt, können wir ruhig sterben. Denn wir sehen im Geist unsre Enkel glücklich und die Kaiser unserer Enkel glücklich. Wenn die Diener der Fürsten so edel und frei dienen, wie ihr mir, wenn die Fürsten dem Kaiser dienen, wie ich ihm dienen möchte — Georg. Da müßt's viel anders werden. Götz. So viel nicht, als es scheinen möchte. Hab' ich nicht unter den Fürsten treffliche Menschen gekannt, und sollte das Geschlecht auSgestorben sein? Gute Menschen, die in sich und ihren Unterthanen glücklich waren; die einen edlen, freien Nachbar neben sich leiden konnten und ihn weder fürchteten noch beneideten; denen das Herz aufging, wenn sie viel ihres Gleichen bei sich zu Tisch sahen und nicht erst die Ritter zu Hofschranzen umzuschaffen brauchten, utn mit ihnen zu leben. Georg. Habt ihr solche Herren gekannt? Götz., Wohl^ Ich erinnere mich zeitlebens, wie der Landgraf von Hanau eine Jagd gab, und die Fürsten und Herren, die zugegen waren, unter freiem Himmel speisten, und das Landvolk all herbei lief, sie zu sehen. Das war keine Maskerade, die er sich selbst zu Ehren angestellt hatte. Aber die vollen, run­ den Köpfe der Bursche und Mädel, die rothen Backen alle und die wohlhäbigen Männer und stattlichen Greise, und alles fröhliche Gesichter, und wie sie Theil nahmen an der Herrlichkeit ihres Herrn, der auf Gottes Boden unter ihnen sich ergötzte! Georg. Das war ein Herr, vollkommen wie ihr. Götz. Sollten wir nicht hoffen, daß mehr solcher Fürsten auf einmal herrschen können? daß Verehrung des Kaisers, Fried und Freundschaft der Nachbarn und Lieb' der Unterthanen der kostbarste Familienschatz sein wird, der auf Enkel und Urenkel erbt? Jeder würde das Seinige erhalten und in sich selbst vermehren, statt daß sie jetzo nicht zuzunehmen glauben, wenn sie nicht andere verderben. Georg. Würden wir hernach auch reiten? Götz. Wollte Gott, es gäbe keine unruhigen Köpfe in ganz Deutschland! Wir würden noch immer zu thun genug finden. Wir wollten die Gebirge von Wölfen säubern, wollten unserm ruhig ackernden Nachbar einen Braten auS dem Wald holen und dafür die Suppe mit ihm essen. Wär' und das nicht genug, wir wollten uns mit unsern Brüdern, wie Cherubim mit flammenden Schwer­ tern, vor die Gränzen des Reichs gegen die Wölfe, die Türken, gegen die Füchse, die Franzosen, lagern und zugleich unsers theuern Kaisers sehr ausgesetzte Län­ der und die Ruhe des Reichs beschützen. Das wäre ein Leben, Georg, wenn man seine Haut für die allgemeine Glückseligkeit dran setzte! (Georg springt auf.) Wo willst du hin? Georg. Ach, ich vergaß, daß wir eingesperrt sind! Und der Kaiser hat uns eingesperrt! Und unsre Haut davon zu bringen, setzen wir unsre Haut dran. Götz. Sei gutes Muths! ?lue Göthe's Göy v. Verlichingen.

9. Götz vor dem Gerichte zu Heilbronn. Götz. Rath. Götz. Rath. Götz. Rath.

Gott grüß' euch, ihr Herren! Was wollt ihr mit mir? Zuerst, daß ihr bedenkt, wo ihr seid und vor wem. Bei meinem Eid, ich verkenn' euch nicht, meine Herren. Ihr thut eure Schuldigkeit. Von ganzem Herzen. -Setzt euch.

VIII. Dramatisches.

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Götz. Da unten hin? Ich kann stehn. Das Stühlchen riecht so nach armen Sündern, wie überhaupt die ganze Stube. Rath. So steht! Götz. Zur Sache, wenn's gefällig ist. Rath. Wir werden in der Ordnung verfahren. Götz. Bin's wohl zufrieden; wollt', es wär' von jeher geschehen. Rath. Ihr wißt, wie ihr auf Gnad und Unanad in unsre Hände kamt. Götz. Was gebt ihr mir, wenn ich's vergesse? Rath. Wenn ich euch Bescheidenheit geben könnte, würd' ich eure Sache gut machen. Götz. Gut machen! Wenn ihr das könntet! Dazu gehört freilich mehr al- zum Verderben. Schreiber. Soll ich das alles Protokolliren? Rath. Was zur Handlung gehört. Götz. Meinetwegen dürft ihr's drucken lassen. Rath. Ihr wart in der Gewalt des Kaisers, dessen väterliche Gnade an den Platz der majestätischen Gerechtigkeit trat, euch anstatt eines Kerkers Heil­ bronn, eine seiner geliebten Stävte, zum Aufenthalt anwies. Ihr verspracht mit einem Eid, euch, wie es einem Ritter geziemt, zu stellen, und das Weitere demüthig zu erwarten. Götz. Wohl, und ich bin hier und warte. Rath. Und wir sind hier, euch Ihro Kaiserlichen Majestät Gnade und Huld zu verkündigen. Sie verzeiht euch eure Uebertretungen, spricht euch von der Acht und aller wohlverdienten Strafe los, welches ihr mit unterthänigem Dank erkennen und dagegen die Urfehde abschwören werdet, welche euch hiermit vorgelesen werden soll. Götz. Ich bin Ihro Majestät treuer Knecht, wie immer. Noch ein Wort, eh' ihr weiter geht: Meine Leute, wo sind die? Was soll mit ihnen werden? Rath. Das geht euch nichts an. Götz. So wende der Kaiser sein Angesicht von euch, wenn ihr in Noth steckt! Sie waren meine Gesellen und sind's. Wo habt ihr sie hingebracht? Rath. Wir sind euch davon keine Rechnung schuldig. Götz. Ah! Ich dachte nicht, daß ihr nicht einmal zu dem verbunden seid, waS ihr versprecht, geschweige — Rath. Unsre Commission ist, euch die Urfehde vorzulegen. Unterwerft euch dem Kaiser, und ihr werdet einen Weg finden, um eurer Gesellen Leben und Freiheit zu flehen. Götz. Euren Zettel. Rath. Schreiber, leset. Schreiber. Ich Götz von Berlichingen bekenne öffentlich durch diesen Brief: daß, da ich mich neulich gegen Kaiser und Reich rebellischer Weise auf­ gelehnt — Götz. DaS ist nicht wahr. Ich bin kein Rebell, habe gegen Ihro Kaiser­ liche Majestät nichts verbrochen, und das Reich geht mich nichts an. Rath. Mäßigt euch und hört weiter. Götz. Ich will nichts weiter hören. Tret' einer auf und zeuge! Hab' ich wider den Kaiser, wider das Haus Oesterreich nur einen Schritt gethan? Hab' ich nicht von jeher durch alle Handlungen bewiesen, daß ich besser als einer fühle, was Deutschland seinen Regenten schuldig ist, und besonders was die Klei­ nen, die Ritter und Freien ihrem Kaiser schuldig sind? Ich müßte ein Schurke sein, wenn ich mich könnte bereden lassen, das zu unterschreiben. Rath. Und doch haben wir gemessene Ordre, euch in der Güte zu über­ reden oder im Entstehungsfall euch in den Thurm zu werfen.

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VIII.

Dramatisches.

Götz. In den Thurm? mich? Rath. Und daselbst könnt ihr euer Schicksal von der Gerechtigkeit erwar­ ten, wenn ihr es nicht aus den Händen der Gnade empfangen wollt. Götz. In den Thurm! Ihr mißbraucht die kaiserliche Gewalt. In den Thurm! Das ist sein Befehl nicht. Was! mir erst, die Verräther! eine Falle zu stellen und ihren Eid, ihr ritterlich Wort zum Speck drin aufzuhängen! Mir dann ritterlich Gefängniß Zusagen und die Zusage wieder brechen! Rath. Einem Räuber sind wir keine Treue schuldig. Götz. Trügst du nicht das Ebenbild des Kaisers, das ich in dem gesudeltsten Conterfei verehre, du solltest mir den Räuber fressen oder dran erwürgen! Ich bin in einer ehrlichen Fehd' begriffen. Du könntest Gott danken und dich vor der Welt groß machen, wenn du in deinem Leben eine so edle That gethan hättest, wie die ist, um welcher willen ich gefangen sitze. Nicht um des leidi­ gen Gewinn stes willen, nicht um Land und Leute unbewehrten Kleinen wegzu­ kapern, bin ich ausgezogen. Meinen Jungen zu befreien und mich meiner Haut zu wehren! Seht ihr was Unrechts dran? Kaiser und Reich hätten unsre Noth nicht in ihrem Kopfkissen gefühlt. Ich habe, Gott sei Dank! noch eine Hand und habe wohl gethan, sie zu brauchen. (Bürger treten herein, Stangen in der Hand, Wehren an der Seite.)

Götz. Was soll das? Rath. Ihr wollt nicht hören. Fangt ihn! Götz. Ist das die Meinung? Wer kein ungrischer Ochs ist, komm' mir nicht zu nah! Er soll von dieser meiner rechten eisernen Hand eine solche Ohr­ feige kriegen, die ihm Kopfweh, Zahnweh und alles Weh der Erden aus dem Grund curiren soll. Kommt! Kommt! Es wäre mir angenehm, den Tapfersten unter euch kennen zu lernen. Rath. Gebt euch! Götz. Mit dem Schwert in der Hand! Wißt ihr, daß es jetzt nur an mir läge, mich durch alle diese Hasenjäger durchzuschlagen und das weite Feld zu gewinnen? Aber ich will euch lehren, wie man Wort hält. Versprecht mir ritterlich Gefängniß, und ich gebe mein Schwert weg und bin, wie vorher, euer Gefangener. Rath. Mit dem Schwert in der Hand wollt ihr mit dem Kaiser rechten? Götz. Behüte Gott! Nur mit euch und eurer edlen Compagnie. Ihr könnt nach Hause gehn, gute Leute. Für die Versäumniß kriegt ihr nichts, und zu holen ist hier nichts als Beulen. Rath. Greist ihn. Giebt euch eure Liebe zu eurem Kaiser nicht mehr Muth? Götz. Nicht mehr, als ihnen der Kaiser Pflaster giebt, die Wunden zu heilen, die sich ihr Muth holen könnte. Gerichtsdiener (cintrctent). Eben ruft der Thürmer: Es zieht ein Trupp von mehr als zweihunderten nach der Stadt zu. Unversehens sind sie hinter der Weinhöhe hervorgedrungen und drohen unsern Mauern. Rathsherr. Weh uns! was ist das? Wache (cintrctcnt). Franz von Sickingen hält vor dem Schlag und läßt euch sagen: Er habe gehört, wie unwürdig man an seinem Schwager bund­ brüchig geworden sei, wie die Herren von Heilbronn allen Vorschub thäten. Er verlange Rechenschaft, sonst wolle er binnen einer Stunde die Stadt an vier Ecken anzünden und sie der Plünderung preisgeben. Götz. Braver Schwager! Rath. Tretet ab, Götz! — Was ist zu thun? Rathsherr. Habt Mitleiden mit uns und unserer Bürgerschaft! Sickin­ gen ist unbändig in seinem Zorn, er ist Mann, es zu halten.

Vni. Dramatisches.

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Rath. Sollen wir uns und dem Kaiser die Gerechtsame vergeben? Hauptmann. Wenn wir nur Leute hätten, sie zu behaupten. So aber könnten wir umkommen, und die Sache wäre nur desto schlimmer. Wir ge­ winnen im Nachgeben. Rathsherr. Wir wollen Götzen ansprechen, für uns ein gut Wort ein­ zulegen. Mir ift'6, als wenn ich die Stadt schon in Flammen sähe. Rath. Laßt Götzen herein. Götz. Was soll's? Rath. Du würdest wohl thun, deinen Schwager von seinem rebellischen Vorhaben abzumahnen. Anstatt dich vom Verderben zu retten, stürzt er dich tiefer hinein, indem er sich zn deinem Falle gesellt. Götz (sieht Elisabeth an ter Thur, heimlich zu ihr). Geh hin! Sag ihm: Er soll unverzüglich hereinbrechen, soll hieher kommen, nur der Stadt kein Leids thun. Wenn sich die Schurken hier widersetzen, soll er Gewalt brauchen. Es liegt mir nichts dran umzukommen, wenn sie nur alle mit erstochen werden. Aus Goethes Gött v. Verlichingen.

10. Das Armbrustschießen. Soest (Krämer). Nun schießt nur hin, daß es alle wird! Ihr nehmt mir's doch nicht! Drei Ringe schwarz, die habt ihr euer Tage nicht geschossen. Und so wär' ich fik dies Jahr Meister. Jetter (Schneider). Meister und König dazu. Wer mißgönnt's euch? Ähr sollt dafür auch die Zeche doppelt bezahlen; ihr sollt eure Geschicklichkeit bezah­ len, wie'S recht ist. Buyck (Soldat unter Egmont). Jetter, den Schuß Hand? ich euch ab, theile den Gewinnst, tractire die Herren; ich bin so schon lange hier und für viele Höflichkeit Schuldner. Fehl' ich, so ist's, als wenn ihr geschossen hättet. Soest. Ich sollte drein reden; denn eigentlich verlier' ich dabei. Doch, Buyck, nur immerhin. Buyck (schießt). Nun, Pritschmeister, Reverenz! — Eins! Zwei! Drei! Vier! Soest. Vier Ringe! Es fei! Alle. Vivat, Herr König, hoch! und abermal hoch! Buyck. Danke, ihr Herren. Wäre Meister zu viel! Danke für die Ehre. Jetter. Die habt ihr euch selbst zu danken. Ruysum (Invalide und taub). Daß ich euch sage! Soest. Wie ist's, Alter? Ruysum. Daß ich euch sage! Er schießt wie sein Herr, er schießt wie Egmont. Buyck. Gegen ihn bin ich nur ein armer Schlucker. Mit der Büchse trifft er erst, wie keiner in der Welt. Nicht etwa wenn er Glück oder gute Laune hat; nein! wie er anlegt, immer rein schwarz geschoffen. Gelernt habe ich von ihm. Das wäre auch ein Kerl, der bei ihm diente und nichts von ihm lernte. — Nicht zu vergessen, meine Herren! Ein König nährt seine Leute; und so, auf des Königs Rechnung, Wein her! Jetter. Es ist unter uns ausgemacht, daß jeder — Buyck. Ich bin fremd und König und achte eure Gesetze und Herkom­ men nicht. Jetter. Du bist ja ärger als der Spanier; der hat sie uns doch bis­ her kaffen müssen. Ruysum. Was? Soest, (laut.) Er will uns gastiren; er will nicht haben, daß wir Zu­ sammenlegen, und der König nur das Doppelte zahlt.

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VIII. Dramatische-.

Ruysum. Laßt ihn! doch ohne Präjudiz! Das ist auch seines Herrn Art, splendid zu sein und es laufen zu lassen, wo es gedeiht. Alle. Ihro Majestät Wohl! Hoch! Ietter. (zu Buyck). Versteht sich Eure Majestät. Buyck. Danke von Herzen, wenn's doch so sein soll. Soest. Wohl! Denn unserer spanischen Majestät Gesundheit trinkt nicht leicht ein Niederländer von Herzen. Ruysum. Wer? Soest (laut). Philipps des Zweiten, Königs in Spanien. Ruysum. Unser allergnädigster König und Herr! Gott geb' ihm langes Leben! Soest. Hattet ihr seinen Herrn Vater, Carl den Fünften, nicht lieber? Ruysum. Gott tröst' ihn! Das war ein Herr! Er hatte die Hand über den ganzen Erdboden und war euch alles in allem; und wenn er euch begegnete, so grüßt' er euch, wie ein Nachbar den andern; und wenn ihr erschrocken wart, wußt' er mit so guter Manier — Ja, versteht mich — Er ging aus, ritt aus, wie's ihm einkam, gar mit wenig Leuten. Haben wir doch alle geweint, wie er seinem Sohn das Regiment hier abtrat — sagt' ich, versteht mich — der ist schon anders, der ist majestätischer. Ietter. Er ließ sich nicht sehen, da er hier war, als in Prunk und kö­ niglichem Staate. Er spricht wenig, sagen die Leute. Soest. Er ist kein Herr für uns Niederländer. Unsre Fürsten müssen froh und frei sein, wie wir, leben und leben lassen. Wir wollen nicht verach­ tet, noch gedrückt sein, so gutherzige Narren wir auch sind. Ietter. Der König, denk' ich, wäre wohl ein gnädiger Herr, wenn er nur bessere Rathgeber hätte. Soest. Nein! nein! Er hat kein Gemüth für uns Niederländer, sein Herz ist dem Volke nicht geneigt, er liebt uns nicht; wie können wir ihn wie­ der lieben? Warum ist alle Welt dem Grafen Egmont so hold? Warum trü­ gen wir ihn alle auf den Händen? Weil man ihm ansieht, daß er uns wohl will; weil ihm die Fröhlichkeit, das freie Leben, die gute Meinung aus den Augen sieht; weil er nichts besitzt, das er dem Dürftigen nicht mittheilte, auch dem, der's nicht bedarf. Laßt den Grafen Egmont leben! Buyck, an euch ists, die erste Gesundheit zu bringen! Bringt eures Herrn Gesundheit aus. Buyck. Von ganzer Seele denn: Graf Egmont hoch! Ruysum. Ueberwinder bei St. Quentin. Buyck. Dem Helden von Gravelingen! Alle. Hoch! Ruysum. St. Quentin war meine letzte Schlacht. Ich konnte kaum mehr fort, kaum die schwere Büchse mehr schleppen. Hab' ich doch den Fran­ zosen noch eins auf den Pelz gebrennt, und da kriegt' ich zum Abschied noch einen Streifschuß ans rechte Bein. Buyck. Gravelingen! Freunde! da ging's frisch! Den Sieg haben wir allein. Brannten und sengten die wälschen Hunde nicht durch ganz Flandern? Aber ich mein', wir trafen sie! Ihre alten, handfesten Kerle hielten lange wider, und wir drängten und schossen und hieben, daß sie die Mäuler verzerrten und ihre Linien zuckten. Da ward Egmont das Pferd unter dem Leibe niederge­ schossen, und wir stritten lange hinüber, herüber, Mann für Mann, Pferd ßeaen Pferd, Haufe mit Haufe, auf dem breiten, flachen Sand an der See hm. Auf einmal kam's, wie vom Himmel herunter, von der Mündung des Flusses, bav, bau! immer mit Kanonen in die Franzosen drein. Es waren Engländer, die unter dem Admiral Malin von ungefähr von Dünkirchen her vorbeifuhren. Zwar viel halfen sie uns nicht; sie konnten nur mit den kleinsten Schiffen herbei,

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und das nicht nah genug; schoffen auch wohl unter unS — es that doch gut! ES brach die Wölfchen und hob unsern Muth. Da ging's rief! rack! herüber, hinüber! Alles todt geschlagen, alles inö Wasser gesprengt. Und die Kerle er­ soffen, wie sie das Wasser schmeckten ; und was wir Holländer waren, gerad' hintendrein. Uns, die wir beidlebig sind, ward erst wohl im Wasser wie den Fröschen; und immer die Feinde im Fluß zusammengehauen, weggeschossen wie die Enten. Was nun noch durchbrach, schlugen euch auf der Flucht die Bauer­ weiber mit Hacken und Mistgabeln todt. Mußte doch die wälsche Majestät gleich das Pfötchen reichen, und Friede machen. Und den Frieden seid ihr uns schuldig, dem großen Egmont schuldig. Alle. Hoch! dem großen Egmont hoch! und abermal hoch! und über­ mal hoch! Jetter. Hätte man uns den statt der Margarethe von Parma zum Re­ genten gesetzt! Soest. Nicht so! wahr bleibt wahr! Ich lasse mir Margarethen nicht schelten. Nun ist's an mir. Es lebe unsre gnäd'ge Frau! Alle. Sie lebe! Soest. Wahrlich, treffliche Weiber sind in dem Hause. Die Regen­ tin lebe! Jetter. Klug ist sie und mäßig in allem, was sie thut; hielte sie's nur nicht so steif und fest mit den Pfaffen. Sie ist doch auch mit schuld, daß wir die vierzehn neuen Bischofsmützen im Lande haben. Wozu die nur sollen? Nicht wahr, daß man Fremde in die guten Stellen einschieben kann, wo sonst Aebte aus den Kapiteln gewählt wurden? Und wir sollen glauben, es sei um der Religion willen. Ja es hat sich. An drei Bischöfen hatten wir genug: da ging's ehrlich und ordentlich zu. 9äm muß doch auch jeder thun, als ob er nöthig wäre, und da setzt's alle Augenblick Verdruß und Händel. Und je .mehr ihr daS Ding rüttelt und schüttelt, desto trüber wird's. Soest. Das war nun des Königs Wille; sie kann nichts davon, noch dazu thun. Jetter. Da sollen wir nun die neuen Psalmen nicht singen; sie sind wahrlich gar schön in Reime gesetzt, und haben recht erbauliche Weisen. Die sollen wir nicht singen; aber Schelmenlieder, so viel wir wollen. Und warum? Es seien Ketzereien drin, sagen sie, und Sachen, Gott weiß. Ich hab' ihrer doch auch gesungen; es ist jetzt was Weites, ich hab' nichts drin gesehen. Buhck. Ich wollte sie fragen! In unsrer Provinz singen wir, waS wir wollen. Das macht, daß Graf Egmont unser Statthalter ist; der fragt nach so etwas nicht. In Gent, Wern, durch ganz Flandern singt sie, wer Belieben hat. (laut.) Es ist ja wohl nichts unschuldiger, als ein geistlich Lied? Nicht wahr, Vater? Ruysum. Ei wohl! Es ist ja ein Gottesdienst, eine Erbauung. Jetter. Sie sagen aber, es sei nicht auf die rechte Art, nicht auf ihre Art; und gefährlich ist's doch immer, da läßt man's lieber fein. Die Jnquisilionsdiener schleichen herum und passen auf; mancher ehrliche Mann ist schon unglücklich geworden. Der Gewissenszwang fehlte noch! Da ich nicht thun darf, was ich möchte, können sie mich doch denken und singen lassen, was ich will. Soest. Die Inquisition kommt nicht auf. Wir sind nicht gemacht, wie die Spanier, unser Gewiffen tyrannisiren zu lassen. Und der Adel muß auch bei Zeiten suchen, ihr die Flügel zu beschneiden. Jetter. Es ist sehr fatal. Wenn's den lieben Leuten einfällt, in mein HauS zu stürmen, und ich sitz' an meiner Arbeit, und summe just einen fran­ zösischen Psalm, und denke nichts dabei , weder Gutes noch Böses, ich summe

Dielitz und Heinrichs, deutsches Lesebuch.

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VIII. Dramatisches.

ihn aber, weil er mir in der Kehle ist, gleich bin ich ein Ketzer und werde eingesteckt. Oder ich gehe über Land, und bleibe bei einem Haufen Volks ste­ hen, daS einem neuen Prediger zuhört, einem von denen, die aus Deutschland gekommen sind, auf der Stelle'heiß' ich ein Rebell und komme in Gefahr, meinen Kopf zu verlieren. Habt ihr je einen predigen hören? Soest. Wackre Leute. Neulich hört' ich einen auf dem Felde vor tau­ send und lausend Menschen sprechen. Das war ein ander Geköch, als wenn unsre auf der Kanzel herumtrommeln und die Leute mit lateinischen Brocken erwürgen. Der sprach von der Leber weg, sagte, wie sie uns bisher hätten bei der Nase herumgeführt, uns in der Dummheit erhallen, und wie wir mehr Erleuchtung haben könnten. Und das bewies er euch alles aus der Bibel. Jett er. Da mag doch auch was dran sein. Ich sagt's immer selbst und grübelte so über die Sache nach. Mir ist's lang' im Kopf herumge­ gangen. Buyck. Es läuft ihnen auch alles Volk nach. Soest. Das glaub' ich, wo man was Gutes hören kann und was Neues. Jett er. Und was ist's denn nun? Man sann ja einen jeden predigen lassen nach seiner Weise. Buyck. Frisch, ihr Herren! Ueber dem Schwätzen vergeßt ihr den Wein und Oranien. Jet 1er. Den nicht zu vergessen. Das ist ein rechter Wall. Wenn man nur an ihn denkt, meint man gleich, man könne sich hinter ihm verstecken, und der Teufel brächte einen nicht hervor. Hoch! Wilhelm von Oranien, hoch! Alle. Hoch! hoch! Soest. Nun, Alter, bring' auch deine Gesundheit. Ruysum. Alte Soldaten! Alle Soldaten! Es lebe der Krieg! Buyck. Bravo, Alter! Alle Soldaten! Es lebe der Krieg! Jet ter. Krieg! Krieg! Wißt ihr auch, was ihr ruft? Daß es euch leicht vom Munde geht, ist wohl natürlich; wie lumpig aber unser einem dabei zu Muthe ist, kann ich nicht sagen. Das ganze Jahr das Getrommel zu hören; und nichts zu hören, als wie da ein Haufen gezogen kommt und dort ein an­ derer, wie sie über einen Hügel kamen und bei einer Mühle hielten, wie viel da geblieben sind, wie viel dort, und wie sie sich drängen, und einer gewinnt, der andere verliert, ohne daß man sein Tage begreift, wer was gewinnt oder verliert. Wie eine Stadt eingenommen wird, die Bürger ernlordet werden, und wie's den armen Weibern, den unschuldigen Kindern ergeht. Das ist eine Noth und Angst, man denkt jeden Augenblick: „Da kommen sie! Es geht unS auch so." Soest. Drum muß auch ein Bürger immer in Waffen geübt sein. Jett er. Ja, es übt sich, wer Frau und Kinder hat. Und doch hör' ich noch lieber von Soldaten, als ich sie sehe. Buyck. Das sollt' ich übel nehmen. Setter. Auf euch ist's nicht gesagt, Landsmann. Wie wir die spanischen Besatzungen los waren, holten wir wieder Athem. e Buyck. Nun da ihr von uns nichts hören wollt, nun bringt auch eure Gesundheit aus, eine bürgerliche Gesundheit. Jetter. Dazu sind wir bereit! Sicherheit und Ruhe! Soest. Ordnung und Freiheit! Buyck. Brav! das sind auch wir zufrieden. Alle. Sicherheit und Ruhe! Ordnung und Freiheit! Aus Goethes tkginont.

VIII. Dramatisches.

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Egmont.

Zimmermeister. Sagf ich's nicht voraus? Noch vor acht Tagen auf der Zunft sagt' ich, es würde schwere Händel geben. Zetter. Jst's denn wahr, daß sie die Kirchen in Flandern geplündert haben? Zimmermeister. Ganz und gar zu Grunde gerichtet haben sie Kirchen und Kapellen. Nichts als die vier nackten Wände haben sie stehen lassen. Lauter Lumpengesindel! Und das macht unsre gute Sache schlimm. Wir hät­ ten eher in der Ordnung und standhaft unsre Gerechtsame der Regentin vor­ tragen und drauf hallen sollen. Reden wir jetzt, versammeln wir uns jetzt, so heißt es, wir gesellen uns zu den Aufwieglern. Zetter. Za, so denkt jeder zuerst: Was sollst du mit deiner Nase voran? Hängt doch der Hals gar nah damit zusammen. Zimmer meister. Mir ist's bange, wenn's einmal unter dem Pack zu lärmen anfängt, unter dem Volk, das nichts zu verlieren hat. Die brauchen das zum Vorwande, worauf wir uns auch berufen müssen, und bringen das Land in Unglück. Soest. Guten Tag, ihr Herren! Was giebt's Neues? Zst's wahr, daß die Bilderstürmer gerade hierher ihren Lauf nehmen? Zimm er meister. Hier sollen sie nichts anrühren. Soest. Es trat ein Soldat bei mir ein, Taback zu kaufen; den fragt' ich aus. Die Regentin, so eine wackre, kluge Frau sie bleibt, diesmal ist sie außer Fassung. Es muß sehr arg sein, daß sie sich so geradezu hinter ihre Wache versteckt. Die Burg ist scharf besetzt. Man meint sogar, sie wolle aus der Stadt flüchten. Zimmermeister. Hinaus soll sie nicht! Ihre Gegenwart beschützt unS, und wir wollen ihr mehr Sicherheit verschaffen, als ihre Stutzbärte. Und wenn sie uns unsre Rechte und Freiheiten aufrecht erhält, so wollen wir sie auf den Händen tragen. Seifensieder. Garstige Händel! Ueble Händel! Es wird unruhig und geht schief aus! Hütet euch, daß ihr stille bleibt, daß man euch nicht auch für Aufwiegler hält. Soest. Da kommen die sieben Weisen aus Griechenland. Seifensieder. Zch weiß, da sind viele, die es heimlich mit den Calvinisten halten, die auf die Bischöfe lästern, die den König nicht scheuen. Aber ein treuer Unterthan, ein aufrichtiger Katholike! Bansen. Gott grüß' euch, Herren! Was Neues? Zimmermeister. Gebt euch mit dem nicht ab; das ist ein schlech­ ter Kerl. Zetter. Ist es nicht der Schreiber beim Doctor Wiets? Zimmermeister. Er hat schon viele Herren gehabt. Erst war er Schreiber, und wie ihn ein Patron nach dem andern fortjagte, Schelmstreiche halber, pfuscht er jetzt Notaren und Advocaten ins Handwerk und ist ein Branntweiuzapf. Bansen. Zhr seid auch versammelt, steckt die Köpfe zusammen. Es ist immer redenswerth. Soest. Ich denk' auch. Bansen. Wenn jetzt einer oder der andre Herz hätte, und einer oder der andre den Kopf dazu, wir könnten die spanischen Ketten auf einmal sprengen. Soest. Herre! So müßt ihr nicht reden. Wir haben dem König ge­ schworen. Bansen. Und der König uns. Merkt das.

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VIII. Dramatisches.

Jetter. Das läßt sich hören! Sagt eure Meinung. Einige andere. Horch, der versteht's! Der hat Pfiffe. Vansen. Ich hatte einen alten Patron, der besaß Pergamente und Briefe von uralten Stiftungen, Contracten und Gerechtigkeiten; er hielt auf die rarsten ' Bücher. In einem stand unsre ganze Verfassung: wie uns Niederländer zuerst einzelne Fürsten regierten, alles nach hergebrachten Rechten, Privilegien und Gewohnheiten; wie unsre Vorfahren alle Ehrfurcht für ihren Fürsten gehabt, wenn er sie regiert, wie er sollte; und wie sie sich gleich vorsahen, wenn er über die Schnur hauen wollte. Die Staaten waren gleich hinterdrein; denn jede Provinz, so klein sie war, hatte ihre Staaten, ihre Landstände. Zimmermeister. Hattet euer Maul! Das weiß man lange! Ein jeder rechtschaffner Bürger ist, so viel er braucht, von der Verfassung unterrichtet. Jetter. Laßt ihn reden; man erfährt immer etwas mehr. Soest. Er hat ganz recht. Mehrere. Erzählt! erzählt! So was hört man nicht alle Tage. Vansen. So seid ihr Bürgersleute! Ihr lebt nur so in den Tag hin; und wie ihr euer Gewerb von euren Eltern überkommen habt, so laßt ihr auch das Regiment über euch schalten und walten, wie es kann und mag. Ihr fragt nicht nach dem Herkommen, nach der Historie, nach dem Recht eines Re­ genten; und über das Versäumniß haben euch die Spanier das Netz über die Ohren gezogen. Soest. Wer denkt daran? Wenn einer nur das tägliche Brot hat. Jetter. Verflucht! Warum tritt auch keiner in-Zeilen auf und sagt ei­ nem so etwas? Vansen. Ich sag' es euch jetzt. Der König in Spanien, der die Pro­ vinzen durch gut Glück zusammen besitzt, darf doch nicht drin schalten und wal­ ten anders als die kleinen Fürsten, die sie ehemals einzeln besaßen. Begreift ihr das? Jetter. Erklärtes uns. Vansen. Es ist so klar, wie die Sonne. Müßt ihr nicht nach euren Landrechten gerichtet werden? Woher käme das? Ein Bürger. Wahrlich! Vansen. Hat der Brüsseler nicht ein ander Recht als der Antwerper? der Antwerper als der Genter? Woher käme denn das? Andere Bürger. Bei Gott! Vansen. Aber wenn ihr's so fortlaufen laßt, wird man'ö euch bald an­ ders weisen. Pfui! Was Carl der Kühne, Friedrich der Krieger, Carl der Fünfte nicht konnten, das thut nun Philipp durch ein Weib. Soest. Ja, ja! Die alten Fürsten haben's auch schon probirt. Vansen. Freilich! Unsre Vorfahren paßten auf. Wie sie einem Herrn gram wurden, fingen sie ihm etwa seinen Sohn und Erben weg, hielten ihn bei sich und gaben ihn nur auf die besten Bedingungen heraus. Unsre Väter waren Leute! Die wußten, was ihnen nütz war! Dre wußten etwas zu fassen und festzusetzen! Rechte Männer! Dafür sind aber auch unsre Privilegien so deutlich, unsre Freiheiten so versichert. Seifensieder. Was sprecht ihr von Freiheiten? Das Volk. Von unsern Freiheiten, vou unsern Privilegien! Erzählt noch was von unsern Privilegien. Vansen. Wir Brabanter besonders, obgleich alle Provinzen ihre Vor­ theile haben, wir sind am herrlichsten versehen. Ich habe alles gelesen. S o e st. Sagt an. Jetter. Laßt hören. Ein Bürger. Ich bitt' euch.

VIII. Dramatisches.

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Bansen. Erstlich steht geschrieben: Der Herzog von Brabant soll unS ein guter und getreuer Herr sein. Soest. Gut! Steht das so? Jet ter. Getreu? Ist das wahr? Bansen. Wie ich euch sage. Er ist uns verpflichtet, wie wir ihm. Zweitens: Er soll keine Macht oder eignen Willen an uns beweisen, merken lassen oder gedenken zu gestalten, auf keinerlei Weise. Ietter. Schön! Schön! nicht beweisen. Soest. Nicht merken lassen. Ein anderer. Und nicht gedenken zu gestatten! Das ist der Hauptpunkt. Niemandem gestatten auf keinerlei Weise. Bansen. Mit ausdrücklichen Worten. Ietter. Schafft uns das Buch. Ein Bürger. Ja, wir müssen's haben. Andere. Das Buch! das Buch! Ein anderer. Wir wollen zu der Regentin gehen mit dem Buche. Ein anderer. Ihr sollt das Wort führen, Herr Doctor. Seifensieder. O die Tröpfe! Andere. Noch etwas aus dem Buche! Seifensieder. Ich schlage ihm die Zähne in den Hals, wenn er noch ein Wort sagt. Das Volk. Wir wollen sehen, wer ihm etwa- thut. Sagt uns was von den Privilegien! Haben wir noch mehr Privilegien? Bansen. Mancherlei und sehr gute, sehr heilsame. Da steht auch: Der Landesherr soll den geistlichen Stand nicht verbessern oder mehren ohne Berwilligung des Adels und der Stände! Merkt das! Auch den Staat des Landes nicht verändern. Soest. Ist daS so? Bansen. Ich will's euch geschrieben zeigen von zwei, drei hundert Jahrm her. Bürger. Und wir leiden die neuen Bischöfe? Der Adel muß uns schützen, wir fangen Händel qn! Andere. Und wir lassen uns von der Inquisition ins Bockshorn jagen? Bansen. DaS ist eure Schuld. DaS Volk. Wir haben noch Egmont! noch Oranien! Die sorgen für unser Bestes. Bansen. Eure Brüder in Flandern haben daS gute Werk angefangen. Seifensieder. Du Hund! (Er schlägt ihn.) Andere (widersetzen sich und rufen). Bist du auch ein Spanier? Ein anderer. Was? Den Ehrenmann? Ein anderer. Den Gelahrten? (Sie fallen dm Seifensieder an.) Zimmermeister. Ums Himmels willen, ruht! Bürger, was soll da.S? (Buben pfeifen, werfen mit Steinen, hetzen Hunde an, Bürger stehen und gaffen, Volk läuft zu, andere gehen gelassen auf und ab, andere treiben allerlei Schalkspossen, schreien und jubiliren.)

Andere. Freiheit und Privilegien! Privilegien und Freiheit! . Egmont (auftretend). Ruhig! Ruhig, Leute! Was giebt's? Brirtgt sie auseinander. Zimmermeister. Gnädiger Herr, ihr kommt wie ein Engel des Him­ mels. Stille! Seht ihr nichts? Graf Egmont! Dem Grafen Egmont Re­ verenz! Egmont. Auch hier? Was fangt ihr an? Bürger gegen Bürger! Hält sogar die Nähe unsrer königlichen Regentin diesen Unsinn nicht zurück? Geht

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vni. Dramatisches.

auseinander, geht an euer Gewerbe. Es ist ein übleS Zeichen, wenn ihr an Werktagen feiert. Was war's? Zrmmermeister. Sie schlagen sich um ihre Privilegien. Egmont. Die sie noch muthwillig zertrümmern werden! Und wer seid ihr? Ihr scheint mir rechtliche Leute. Zimmermeister. Das ist unser Bestreben. Egmont. Eures Zeichens? Zimmermeister. Zimmermann und Zunftmeister. Egmont. Und ihr? Soest. Krämer. Egmont. Ihr? Ietter. Schneider. Egmont. Ich erinnere mich, ihr habt mit an den Livreen für meine Leute gearbeitet. Euer Name ist Setter. Ietter. Gnade, daß ihr euch dessen erinnert. Egmont. Ich vergesse niemanden leicht, den ich einmal gesehen und gesprochen habe. Was an euch ist, Ruhe zu erhalten, Leute, das thut; ihr seid übel genug angeschrieben. Reizt den König nicht mehr; er hat zuletzt doch die Gewalt in Händen. Ein ordentlicher Bürger, der sich ehrlich und fleißig nährt, hat überall so viel Freiheit, als er braucht. Zimmermeister. Ach wohl! Das ist eben unsre Noth! Die Tagdiebe, die Söffer, die Faullenzer, die scharren aus Hunger nach Privilegien und lü­ gen den Neugierigen und Leichtgläubigen was vor, und um eine Kanne Bier bezahlt zu kriegen, fangen sie Händel an, die viel tausend Menschen unglücklich machen. Das ist ihnen eben recht. Wir halten unsre Häuser mib Kasten zu gut verwahrt; da möchten sie gern uns mit Feuerbränden davon treiben. Egmont. Allen Beistand sollt ihr finden; eS sind Maßregeln genom­ men, dem Uebel kräftig zu begegnen. Steht fest gegen die fremde Lehre und glaubt nicht, durch Aufruhr befestige man Privilegien. Bleibt zu Hause; lei­ det nicht, daß sie sich auf den Straßen rotten. Vernünftige Leute können viel thun. Zimmermeister. Danken Euer Excellenz, danken für die güte Mei­ nung! Alles, was an uns liegt! (Egmont ab.) Ein gnädiger Herr! Der echte Niederländer! Gar so nichts Spanisches. Ietter. Hätten wir ihn nur zum Regenten! Man folgt ihm gerne. Soest. Das läßt der König wohl fein. Den Platz besetzt er immer mit den Seinigen. Ietter. Hast du das Kleid gesehen? Das war nach der neuesten Art, nach spanischem Schnitt. Zimmermeister. Ein schöner Herr! Ietter. Sein Hals wär' ein rechtes Fressen für einen Scharfrichter. Soest. Bist du toll? Was kommt dir ein! Ietter. Dumm genug, daß einem so etwas einfällt. Es ist mir nun so. Wenn ich einen schönen, langen Hals sehe, muß ich gleich wider Willen denken: Der ist gut köpfen. Die verfluchten Executionen! Man kriegt sie nicht aus dem Sinne. Wenn die Bursche schwimmen, und ich seh' einen nackten Buckel, gleich fallen sie mir zu Dutzenden ein, die ich habe mit Ruthen strei­ chen sehen. Begegnet mir ein rechter Wanst, mein' ich, den seh' ich schon am Pfahl braten. Des Nachts im Traume zwickt mich's an allen Gliedern; man wird eben keine Stunde froh. Jede Lustbarkeit, jeden Spaß hab' ich bald vergesien; die fürchterlichen Gestalten sind mir wie vor die Stirne gebrannt. 2lue Goethe s Egmont.

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