Deutsches Lesebuch für die unteren Klassen höherer Lehranstalten [5. Aufl. Reprint 2020] 9783112386521, 9783112386514


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German Pages 517 [528] Year 1883

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Deutsches Lesebuch für die unteren Klassen höherer Lehranstalten [5. Aufl. Reprint 2020]
 9783112386521, 9783112386514

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Deutsches Lesebuch für

die unteren Klassen höherer Lehranstalten.

Bon

Dielitz und Heinrichs.

Fünfte Auflage, besorgt von

Dr. I. E. Heinrichs, Professor.

Berlin. Druck und Verlag von G. Reimer.

1883.

Vorrede zur

ersten Auslage.

L)as vorliegende deutsche Lesebuch ist für die unteren Klassen (Sexta, Quinta und Quarta) höherer Lehranstalten bestimmt und findet seine Er­ gänzung in einem „Handbuch der deutschen Litteratur," welches noch in diesem Jahre in demselben Verlage erscheinen und außer einem Grundriß der deutschen Poetik, Rhetorik und Litteraturgeschichte ein für die oberen Klassen berechnetes und nach den Gattungen der Litteratur geordnetes Lesebuch enthalten wird.") Was den Inhalt dieses ersten Teils betrifft, so haben wir mit Aus­ schließung alles Matten und Weichlichen nur solche Lesestücke ausgenom­ men, welche bei einer klaren, kernigen und die sprachliche Bildung der Schüler fördernden Darstellung durch ihren Inhalt dem Kinde ein leb­ haftes Interesse abzugewinnen, den Kreis seiner Anschauungen und Kennt­ nisse zu erweitern und sein Gemüt für das Große, Edle und Schöne zu erwärmen vermögen. Da ferner die Erfahrung lehrt, daß dem kindlichen Alter das lyrische und allegorische Element nicht zusagt, so enthält das Buch nur wenig Lieder, Fabeln und Parabeln, dagegen eine hinreichende Anzahl von Gedichten mit sachlichem Inhalt, wie sie vorzugsweise zum Auswendiglernen und zur Deklamation sich eignen. Sollte die Zahl der aufgenommenen Erzählungen zu klein erscheinen, so wolle man erwägen, daß alle Erzählungen mit historischem Hintergründe dem sechsten und siebenten Abschnitte zugewiesen worden sind. Mit besonderer Vorliebe haben wir kürzere Lesestücke historischen Inhalts in das Buch ausgenom­ men, weil wir den Schülern eine hinreichende Anzahl solcher Stücke geben wollten, die sich zur mündlichen Reproduktion (einer noch immer sehr ver­ nachlässigten und doch nicht genug zu empfehlenden Übung) eignen. Die größte Schwierigkeit hat die Auswahl der zur Natur-, Länder- und Völker­ kunde gehörenden Stücke dargeboten, da die Zahl der für ein Schullesebuch brauchbaren geographischen und naturhistorischen Darstellungen überaus gering ist. Es ist eine Thatsache, daß die bloße Beschreibung für die Jugend wenig Anziehendes hat, daß dagegen alle Schilderungen, die sich an spannende Ereignisse und interessante Persönlichkeiten anlehnen, von der Jugend gern gelesen und leicht behalten werden. Diese Rücksicht hat uns bestimmt, in den betreffenden Abschnitt eine größere Anzahl von Bruchstücken aus den Jugendschriften des mitunterzeichneten Dielitz aus­ zunehmen, weil diese sämtlich in der angegebenen Weise bearbeitet sind. So möge denn das Buch, an dem wir mit Lust und Liebe gearbeitet haben, recht vielen Schülern zur Anregung und Belehrung gereichen. Berlin, den 30. August 1862. *) Handbuch der deutschen Litteratur für die oberen Klaffen höherer Lehranstalten. 3. Aust. Berlin, 1879.

IV

Vorrede.

Aus der

Vorrede zur

zweiten

Auflage.

L^ie in der ersten Auflage enthaltenen Kirchenlieder sind, wie dies auch in dem von uns herausgegebenen „Handbuch der Litteratur für die oberen Klassen höherer Lehranstalten" geschehen ist, fortgelassen worden, weil sie in dem Gesangbuche enthalten sind, das sich in den Händen der Schüler befindet. Berlin, den 5. März 1866. Dielitz. Heinrichs.

Aus der

Vorrede zur

dritten

Auflage.

L/ie Bewunderung der Heldenthaten, welche von den preußischen Truppen 1864 und 1866 und von dem deutschen Heere in dem Kriege der Jahre 1870 und 1871 vollbracht worden sind, hat die Hinzufügung mehrerer neuer Lesestücke veranlaßt. — Dem Lesestücke „Tobias Witt" (VIII. Nr. 1) ist der Original-Text in der Anmerkung hinzugefügt worden, damit die sehr lehrreiche Besprechung desselben durch die bisherige Ände­ rung nicht ferner erschwert werde. Berlin, den 20. Juni 1871. Heinrichs.

Vorrede zur

vierten Auflage.

Alnf den Wunsch mehrerer der Herren Amtsgenossen ist der Lesestoff vorzugsweise für die Schüler der untersten Klassen durch Hinzufügung von einigen kleineren und leicht faßlichen Gedichten und Erzählungen vermehrt worden. Auch in dieser Auslage sind in gebührender Berück­ sichtigung des mir schon früher von mehreren Herren Kollegen ausge­ sprochenen Wunsches für einige der neu aufgenommenen Lesestücke la­ teinische Lettern verwandt worden. Berlin, den 24. März 1878. Heinrichs.

IV

Vorrede.

Aus der

Vorrede zur

zweiten

Auflage.

L^ie in der ersten Auflage enthaltenen Kirchenlieder sind, wie dies auch in dem von uns herausgegebenen „Handbuch der Litteratur für die oberen Klassen höherer Lehranstalten" geschehen ist, fortgelassen worden, weil sie in dem Gesangbuche enthalten sind, das sich in den Händen der Schüler befindet. Berlin, den 5. März 1866. Dielitz. Heinrichs.

Aus der

Vorrede zur

dritten

Auflage.

L/ie Bewunderung der Heldenthaten, welche von den preußischen Truppen 1864 und 1866 und von dem deutschen Heere in dem Kriege der Jahre 1870 und 1871 vollbracht worden sind, hat die Hinzufügung mehrerer neuer Lesestücke veranlaßt. — Dem Lesestücke „Tobias Witt" (VIII. Nr. 1) ist der Original-Text in der Anmerkung hinzugefügt worden, damit die sehr lehrreiche Besprechung desselben durch die bisherige Ände­ rung nicht ferner erschwert werde. Berlin, den 20. Juni 1871. Heinrichs.

Vorrede zur

vierten Auflage.

Alnf den Wunsch mehrerer der Herren Amtsgenossen ist der Lesestoff vorzugsweise für die Schüler der untersten Klassen durch Hinzufügung von einigen kleineren und leicht faßlichen Gedichten und Erzählungen vermehrt worden. Auch in dieser Auslage sind in gebührender Berück­ sichtigung des mir schon früher von mehreren Herren Kollegen ausge­ sprochenen Wunsches für einige der neu aufgenommenen Lesestücke la­ teinische Lettern verwandt worden. Berlin, den 24. März 1878. Heinrichs.

IV

Vorrede.

Aus der

Vorrede zur

zweiten

Auflage.

L^ie in der ersten Auflage enthaltenen Kirchenlieder sind, wie dies auch in dem von uns herausgegebenen „Handbuch der Litteratur für die oberen Klassen höherer Lehranstalten" geschehen ist, fortgelassen worden, weil sie in dem Gesangbuche enthalten sind, das sich in den Händen der Schüler befindet. Berlin, den 5. März 1866. Dielitz. Heinrichs.

Aus der

Vorrede zur

dritten

Auflage.

L/ie Bewunderung der Heldenthaten, welche von den preußischen Truppen 1864 und 1866 und von dem deutschen Heere in dem Kriege der Jahre 1870 und 1871 vollbracht worden sind, hat die Hinzufügung mehrerer neuer Lesestücke veranlaßt. — Dem Lesestücke „Tobias Witt" (VIII. Nr. 1) ist der Original-Text in der Anmerkung hinzugefügt worden, damit die sehr lehrreiche Besprechung desselben durch die bisherige Ände­ rung nicht ferner erschwert werde. Berlin, den 20. Juni 1871. Heinrichs.

Vorrede zur

vierten Auflage.

Alnf den Wunsch mehrerer der Herren Amtsgenossen ist der Lesestoff vorzugsweise für die Schüler der untersten Klassen durch Hinzufügung von einigen kleineren und leicht faßlichen Gedichten und Erzählungen vermehrt worden. Auch in dieser Auslage sind in gebührender Berück­ sichtigung des mir schon früher von mehreren Herren Kollegen ausge­ sprochenen Wunsches für einige der neu aufgenommenen Lesestücke la­ teinische Lettern verwandt worden. Berlin, den 24. März 1878. Heinrichs.

Vorrede zur fünften Auflage. Noch ehe der Vorrat der vierten Auflage des vorliegenden Lese­ buchs erschöpft und die Frist abgelaufen ist, welche von dem Königlichen Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalaugelegeuheiten für den Umdruck der Schulbücher festgesetzt worden, hat sich der Herr Ver­ leger durch die Rücksicht auf die Schwierigkeiten, welche beim Gebrauche des Lesebuchs für die Schüler aus dem Vorhandensein der früheren Schreib­ weise notwendig erwachsen, veranlaßt gefunden, eine neue Auflage des Lesebuchs zu veranstalten. In dieser ist die neuere Orthographie nach den Bestimmungen des Königlichen Ministeriums überall genau durchge­ führt worden. Bei dieser Durchführung hat mir, wie ich gern und dankbar au dieser Stelle hervorzuheben mich gedrungen fühle, das sorg­ fältig und geschickt gearbeitete „Kleine deutsche Wörterbuch für die deutsche Rechtschreibung (zum Handgebrauch bearbeitet von Dr. Gustav Gemß. Berlin, 1880)" vortreffliche Dienste geleistet. Air dem Inhalte des Lesebuches, das sich vielfacher Benutzung erfreut und zu seinen bisherigen Freunden im Laufe der Jahre sich viele neue erworben hat, obwohl' die Zahl der in der letzten Zeit erschienenen Lese­ bücher eine beträchtliche geworden, ist keine Änderung vorgenommen, außer daß einige neue Lesestücke hinzugefügt worden sind. Das Buch ist nicht in drei Kurse für Sexta, Quinta' und Quarta zerlegt worden, wie in mehreren anderen Lesebüchern beliebt worden, sondern hat auch in dieser Beziehung seine bisherige Gestalt bewahrt, weil der gewissenhafte und einsichtige Lehrer, der den Standpunkt seiner Klaffe genau kennt, die Auswahl für feine Klaffe besser und leichter selbst treffen wird, und weil nach einer Zerlegung in drei Teile die Beschaffung derselben für die Eltern der Schüler einen größeren Kostenaufwand herbeiführen würde. Der Inhalt des Lesebuchs ist endlich so reichhaltig, daß er für den mehr­ jährigen Kursus mehr als genügt. Auch von einer Hinzufügung von erklärenden Anmerkungen und litterarischen Notizen ist Abstand genom­ men worden, weil nicht vorausgesetzt werden kann, daß ein Lehrer, dem der deutsche Unterricht übertragen ist, das nicht selbst erklären sollte, was der Erklärung bedürftig erscheint, und weil litterarische Notizen, welche die Quellen der Lesestücke und die Lebeusumstände ihrer Verfasser be­ treffen, für die Klassen nicht zu verwenden fein dürften, für welche das Lesebuch bestimmt ist. Die Gedichte, welche dem Gedächtnis einzuprägen fein dürften, sind in dem Texte nicht besonders bezeichnet worden, da jede Schule ihren eigenen Kanon der auswendig zu lernenden Gedichte nach Beratung der Fachlehrer aufzustellen pflegt. Ich begnüge mich, an dieser Stelle den Kanon anzugeben, der für das hiesige Königstädtische Realgymnasium auf Grund wiederholter und eingehender Beratungen der Lehrer des Deutschen festgestellt worden ist:

VI

Vorrede.

1. Vorschulklasse: 1. Wo wohnt der liebe Gott? Hey. 2. Heidenrös­ lein. Goethe. 3. Der Hirsch. Gleim. 4. Blauveilchen. Förster. 5. Der weiße Hirsch. Uhland. 6. Der reichste Fürst. Kerner. 7. Andreas Hofer. Mosen. 8. Mit dem Pfeil und Bogen. Schiller. Sexta. 1. Der betrogene Teufel. Rückert. 2. Einkehr. Uhland. 3. Die Wachtel und ihre Kinder. Langbein. 4. Die wandelnde Glocke. Goethe. 5. Der gute Kamerad. Uhland. Quinta. 1. Der Schenk von Limburg. Uhland. 2. Schwäbische Kunde. Uhland. 3. Harras, der kühne Springer. Körner. 4. Heinrich der Vogelsteller.. Mähler. Quarta. 1. Der blinde König. Uhland. 2. Kolumbus. L. Brach­ mann. 3. Die Bürgschaft. Schiller. 4. Das Mahl zu Heidelberg. Schwab. Dabei ist bestimmt worden, daß in jeder dieser Klassen die Ge­ dichte zu wiederholen sind, welche in der vorhergehenden Klasse gelernt worden. Von Herzen wünsche ich, daß es diesem Lesebuche auch ferner ge­ lingen möge, recht vielen Schülern Anregung und Belehrung zu ge­ währen. Berlin, den 24. August 1883. Heinrichs.

Inhalt (Die Gedichte sind mit einem *, die neu aufgenommenen Stücke mit einem f vor den Nummern bezeichnet.)

I. Liede r. Seite 19. Frühlingseinzug.* Wilh. Müller. . 8 1. (S)ott grüße dich!* Sturm............... 1 20. Frühlingsglaube.* Uhland. ... 9 2. Stilles Gotteslob.* Diepenbrock. . 1 21. Frühlingüfeier.* Uhland........................ 9 3. Andacht.* Tieck.................................. 1 22. Winterlied.* Krummacher................ 9 4 Gottes Güte.* Gleim............................. 1 23. Weihnachtsfest.* Reinick. . • . . 10 5 Auf Gott allein'.* Sturm..................... 2 24. Zum neuen Jahr.* Monte. ... 10 6. Du bist's allein.* Strauß..................... 2 25. Zum neuen Jahr* W. Wackernagel. 10 7. Wo wohnt der liebe Gott?* Hey. . 3 26. Ostern.* AusKlumppsKinderliedern. 11 8. Gott weiss.* Hey................................. 3 27. Mond und Sterne.* Arndt. ... 11 9. Geduld * Spitta......................................4 28. Zum Walde.* Fröhlich........................12 9a. Kindesdank.* Overbeck................... 4 29. Waldvögelein.* Deinhardstein. . . 12 9b. Gesundheit und ein gut Gewissen.* 30. Heidenröslein.* Goethe........................ 12 v. Halem................................................ 5) 31. Des Knaben Berglied.* Uhland. . 13 10. Morgenlied.* Hoffmann von Fallers­ 32 Einkehr.* Uhland..................................13 leben.......................................................... 5 11. Am Morgen.* Hölty.............................. 5 ' 33. Das Singen.* Langbein..................... 13 12. Morgenli'ed* Schiller............................ 5 : 34. Deutscher Rat.* Neinick...................... 14 35. DeS Deutschen Vaterland.* Arndt. 14 13. Sonntagsfrühe.* Neinick....................... 6 36. Das Lied der Deutschen.* Hoffmann 13a. Die untergehende Sonne? Krumvon Fallersleben................................... 15 macher..................................................... 6 37. Mein Vaterland.* Hoffmann vonFal14. Abendgebet.* Luise Hensel. .... 6 lersleben..................................................15 15. Abendgebet.* Arndt................................ 7 16. Frühlingslied.* Overbeck........................7 38. Der gute Kamerad.* Uhland. . . 15 17. Frühlingsduett? Goethe........................7 39. Schwabenkrieg.* Hoffmann von Fal­ 18. Frühlingslied.* Will). Mütter. . . 8 lersleben.................................................. 16

II. Fabeln, Parabeln, Märchen. 1. Der Wolf und der Mensch. Grimm. 16 2. Der Hirsch.* Gleim.............................. 17 2a. Der Löwe und die drei Stiere. Nach Aesop..................................... 17 2b. Die drei Hochzeitsgäste. Bechstein. 17 . 3. Der jungeKrebs und die Seemuschel.* Gellert..................................................... 18 4. Der Bauer und sein Sohn.* Gellert. 19 5. Die Eichel und der Kürbiß.* Gleim. 20 6. Die beiden Bauern.* Pfeffel.. . . 21 7. Der Reisende.* Gellert........................ 21 8. DieWachtelundihreKinder.* Lang­ bein......................................................... 22 8a. Die Finger.* Enslin........................23 9. Blauveilchen.* Förster........................ 23 10. Die Raupe und der Schmetterling.* Herder......................................................24 11. Das Wort im Herzen. Krummacher. 25

12. König David.* Haug.......................... 25 13. Das Samenkorn. Krummacher. 26 13a. Das Rotkehlchen. Krummacher. . 26 14. Der Gotteskasten. Krummacher.. . 27 15. Die Pfirsiche. Krummacher. ... 27 16. Die Stellvertreter. Krummacher. . 28 17. Das Weizenkorn. Krummacher.. . 29 17a. Das Totenhemdchen. Grimm. . . 29 18. DieRiesen und dieZwerge.* Rückert. 30 19. Der betrogene Teufel.* Rückert. . . 30 20. Die Heinzelmännchen.* Kopisch. . 31 21. Die wandelnde Glocke.* Goethe. . 32 21a. Die Roßtrappe. Grimm................... 32 22. Dornröschen Grimm......................... 34 23. Der Arme und der Reiche. Grimm. 36 24. Frau Holle. Grimm......................... 38 25. Daumesdick. Grimm...........................40 f26. Die sieben Raben. Grimm. ... 43

III. R ätse 1. 1. Winde.* Rückert.................................. 45 I 2. Weide.* Rückert................................... 45 |

3. Hanswurst.* Arndt.............................. 45 4. Bett.* Bürger.......................................45

VIII

Inhalt.

Seite 5. Donner, Dornen, Norden.* ... 45 6. Kost.*.................................................... 45 7. Born.*....................................................46 8. Mauer.*................................................46 9. Mond und Sterne.* Schiller. . . 46 10. Der Regenbogen.* Schiller. ... 46 11. Der Blitz.* Schiller.............................. 46

IV.

12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.

Seite Die Rätsel der Elfen.* Rückert. . 46 Das H.* Geibel.................................... 47 Ostern.*................................................48 Trauben, rauben.* John..................... 48 Schutzengel * Zedlitz............................ 48 Die Augen * Castelli............................ 48 Der Hahn.* Besseldt............................ 49

Sprüche.

1—67. Sprüche......................................... 49 I 69. Nützliche Lehren. Hebel.......................... 51 68. Drei Paare und einer.* Rückert. . 51 |

V. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.

Erzählungen.

Der Spiegel des Gewissens. Jacobs. 54 Der Solenbofer Knabe. Stöber. . 56 Die Gottesmauer.* Rückert. ... 60 Der Star von Segringen. Hebel. 62 Der Läufer von Glarus.* Stöber. 63 Stavoren.* Böttger.............................. 63 Mutterliebe. Starke..............................65 Der Barbierjunge von Segringen. Hebel................................................ . 66 Der blinde König.* Uhland. ... 67 Kindesdank und Undank. Hebel. . 68 Der Schenk von Limburg.* Uhland. 69 Siegfrieds Schwert.* Uhland. . . 70 Die Rache.* Uhland............................. 71 Der Wilde* Seume............................ 71 Der Hirtenknabe. Liebeskind. ... 73 Das Vivat der Königin. Hebel. . 75 Untreue schlägt den eigenen Herrn. Hebel........................................................ 76 DasLied vom bravenMann.* Bürger. 77 Der Kaiser und der Abt.* Bürger. 79 Harras, derkühneSpringer.* Körner. 83

21. Die wiedergefundene Tochter. Jacobs............................ • ... 84 22. Der junge Wanderer. Starke. . . 87 23. Der kluge Richter. Hebel..................88 24. Türkische Gerechtigkeit. Hebel. . . 89 25. Der westfälische Hofschulze. Immer­ mann.................................................... 89 26. Klugheit zu rechter Zeit. O. Schulz. 94 27. Der gutersonnene Scherz. O Schulz. 94 28. Wunderbare Lebensrettung. Jacobs. 94 .

VI.

29. Der Geiger in der Wolfsgrube. Schubert................................................. 97 30. Unglück der Stadt Leyden. Hebel. 98 31. Die Bürgschaft.* Schiller. ... 99 32. Der Sänger.* Goethe. ..... 101 33. Erlkönig.* Goethe.............................. 101 34. Der weiße Hirsch.* Uhland. . . . 102 35. DasPaarPantoffeln Palmblätter. 102 36. Der Glockenguß zu Breslau.* Wilh. Müller....................................................105 37. Alles zum Guten. Stöber. . . . 106

38. Thörichtes Murren. Grimm. . 107 39. Wie schön leuchtet der Morgenstern.* Sturm................................................... 109 40. Das Erkennen.* Dogl........................ 111 41. Der Schiffbruch.* Herder. .... 111 42. Kannitverstan. Hebel......................... 112 43. Das Glöcklein des Glücks.* Seidl. 113 44. Der Trompeter an der Katzbach.* Mosen.................................................... 115 45. Der Kauf. Aus Dielitz' Skizzenbuch. 115 46. Das große Los.* Langbein. ... 117 47. Don des Kaisers Bart.* Geibel. 119 48. BestrafteUngenügsamkeit * Rückert. 120 49. Die Histörchen.* Kopisch................... 120

50. Der Pascha von Damaskus. Nach Rosa.................................. 124 51. Der Magnet. Franz.................... 131 52. Das verlorene Kamel Palmblätter. 133 53. Edle Rache. Jacobs........................... 133 |54. Die Fuggerei. Pocci........................ 136 |55. Der Bahnwärter Martin. ... 137

Ge schichte.

1. Cyrus. Dielitz..................................... 145 2. Krösus und Solon.Duncker. . . 147 3. Herkules. Dielitz................................. 150 4. Theseus- Nach Schwab..................... 154 f4a. Ödipus.* Nach Brohm. . . . 156 5 Der Argonautenzug. Dielitz. . . 158 6. Der trojanische Krieg......................162 a. Der Raub der Helena. Dielitz. . 162 b. Achilles und Agamemnon. Dielitz. 163

c. Paris und Menelaus. Dielitz. . 165 d. Zweikampf des Hektor und Ajax. Becker.................................................. 166 e. Hektors Ende. Nach Schwab. . 168 f. Die Zerstörung Trojas. Dielitz. 169 7.Odysseus von Ithaka........................... 172 a. Odysseus bei den Cyklopen. Dielitz. 172 b. Odysseus bei den Phäaken. Becker. 175 c. Odysseus u. Telemach. Nach Becker. 177

Inhalt.

IX Seite

d. Der Tod der Freier. Dielitz. . . 179 8. Die Perserkriege.............................. 181 a Der Aufstand der ionischen Grie­ chen. Dielitz......................................181 b. DieSchlachtbeiMaratbon. Dielitz. 183 c. DerKampfbeiThermopylä. Dielitz. 184 d. Der Sieg bei Salamis. Becker. 185 e Die Schlacht bei Platää. Dielitz. ist; 9. Roms Gründung. Nach Livius.. 188 10. Eiserne Kriegszucht des L. Papirius Cursor. Peter..................................... 191 11. Fabricius. Becker............................... 192 12. Kannibale Zug über die Alpen.

Dielitz............................................. 194 13. Die Schlachten am Ticinus und am trafimenischen See. Dielitz. . . 196 14. Fabius Cunctator. Dielitz . . . 197 15. Die 'Schlacht bei Cannä. Dielitz. 198 16. DieZerstörung Karthagos. Dielitz. 199 17. Die Cimbern und Teutonen. Dielitz 201 18. Cäsars Tod. Nach Lanz. . . . 203 19. Hermann, der Befreier Deutsch­ lands. Lüttringhaus......................... 205 20. Der heilige Martin * Falk. . . . 206 21. Der heilige Ambrosius.* Apel. . 207 22. Die Hunnen. Luden......................... 208 23. Das Grab des Busento.* Platen. 209 24. Die Schlacht bei Zülpich.* Simrock. 209 25. Pipin der Kurze * Streckfuß. . . 210 26. Beiisar. Houwald............................ 211 27. Alboin vor Pavia * Kopisch. . . 213 28. Aus dem Leben Karls des Großen. Rückert.................................................. 213 29- König Karls Meerfabrt.* Uhland. 215 30. Roland Schildträger.* Uhland. . 216 31. Heinrich der Vogelsteller.* Vogl. . 219 32. Heinrich der Vogelsteller.* Mühler. 219 33. Heinrich der Vogelsteller schlägt die Ungarn. Luden..............................220 34. Otto mit dem Bart. Grimm. . . 221 35. Kaiser Otto I * Mühler.................... 223 36. Habsburgs Mauern.* Simrock. . 224 37. Taillefer.* Uhland. ... - . . 225 38. Albrecht der Bär. O. Schulz. . . 226 39. Die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer. Dielitz.............229 40. Landgraf Ludwig der Eiserne. Nach Grimm........................................... 233 41. Friedrich Barbarossa. Raumer. 234 42. Schwäbische Kunde.* Uhland. . . 235 43. Der dritte Kreuzzug. Dielitz. . . 236 44. Barbarossa.* Rückert................... 240 45. Friedrich II. Nach Vehse. . . . 241 46. Landgraf Ludwig und der Löwe.* Pechstein........................................ 243 47. Der Graf von Habsburg * Schiller 243 48. Rudolfs Ritt zum Kaisergrabe.* Kerner............................................ 245

49. Kaiser Albrechts Hund.* Collin. . 246 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62.

63. 64. 65.

66. 67. 68. 69. 70.

71. 72. 73. 71.

75. 76. 77. 78.

79. 80. 81. 82. 83. 84. 85. 86. 87.

88. 89. 90.

Wilhelm Tell. Bäßler.. .... . .248 Seifried Schweppermann.*Ölckers. 250 Der reichste Fürst.* Kerner.. . . 250 Timur, der Mongole. Becker. . . 251 Die Belagerung von Ottenstein.* Vincke................................................252 Die Belagerung von Marienburg. Nach Heinel......................................... 253 Das Mahl zu Heidelberg.* Schwab. 255 Kolumbus.* Luise Brachmann. . 257 Martin Lutber. Dielitz..................... 258 LutherundFrundsberg.*Hagenbach. 265 Herzog Alba in Rudolstadt. Schiller. 265 Einer oder der andere. Hebel. . 267 Die Zerstörung Magdeburgs. Becker................................................. 267 Die Schlacht bei Lützen. Nach Henning................................................ 269 Die Sieger * Vogl............................271 Die Schlacht bei Fehrbellin. Nach Becker.....................................................272 Fehrbellin.* Minding....................... 273 FeldmarschallDerfflinger.*Lehmann 274 Friedrichs des Großen Jugend. Dielitz................................................... 275 DieSchlacht bei Roßbach. Lüttring­ haus.......................................................277 Aus dem Leben Friedrichs des Gro­ ßen. O. Schulz................................... 278 Die konfiszierten Batzen. Kugler 282 Der Choral von Leuthen.* Besser. . 285 Zorndorf.* Minding.......................... 286 Die Schlacht bei Kunersdorf. Lütt­ ringhaus............................................... 287 Die Schlacht bei Torgau. Nach Henning................................................287 Der alte Zielen.*Fontane. . . . 289 Zieten.* Sallet.................................... 289 Gerechtigkeitsliebe Josephs II. Grube....................................................290 Ein gutes Rezept. Hebel.................... 291 Der Star. Jacobs.............................292 Der Preuße in Lissabon.* Holtei. 293 Aus Napoleons Soldatenleben. Denkwürdigkeiten a. d. Geschichte. 294 Deutschland in seiner Erniedri­ gung. Lüttringhaus..................296 Andreas Hofer. Lüttringhaus. . . 298 Andreas Hofer.* Mosen........... 300 Ein deutscher Bauer. Eylert. . . 300 Luise, Königin von Preußen. Lütt­ ringhaus...................................... 301 Der Freiherr vonStein. NachEylert. 302 Napoleons Feldzug gegen Rußland. Lüttringbaus............................... 303 Das preußische Volk im Jahre 1813 Nach Arndt..................... • ... 305

Seite 91. Preußens Kronprinz (FriedrichWilhelm IV.) in der Lützener Schlacht.* Schenkendorf. . .............................. 306 92. Die Schlacht bei Groß-Beeien. Habn..................................................... 307 93. Die Schlacht an der Katzbach. Lütt­ ringbaus............................................... 308 94. Die Schlacht bei Dennewitz. Habn. 308 95. Die Völkerschlacht bei Leipzig. Tbomas................................................ 310 96. Gebbard Lebrecht von Blücher. Varnhagen von Ense........................ 313 97. Blücher in den Schlachten beiLigny und Delle-Alliance. Lüttringbans 315

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

1. Geschichte eines Wassertropfens. Grube............................................. 340 2. Die Zugvögel. Wilmsen............ 344 3. Der Walfisch fang. Aus Dielitz' amerik. Reisebildern..................... 348 4. Das Renntier. Oltrogge. . . . 355 5. Die Eiche Ebrbardt. ..... 356 6. Der Heringsfang an der norwegi­ schen Küste. Nach Mügge. . . . 357 7. Der Storch. Neuling........................360 8. Die Burg Hohenzollern. Schwab. 362 9. Der Hohenstaufen. Ehrhardt. . . 364 10. Das LissabonerErdbeben.Hirschfeld. 365 11. Die Pest in Marseille. Schubert. 369 12. Gruß an den Rheim* Zedlitz. . . 375 13. Das Leben der Geißbuben auf den Alpen. Tschudi................. 375 14. Die Gemsenjagd. Dielitz. . . . 377 15. Der Bär. Tschudi.................... 383 16. Der braune Bär. NachDumas. 385 fl6a. Eine Fahrt in den Dürrenberg bei Hallein. Grube................ 389 17. Die Räuber im Bakony-Wald. Pirch..................................................... 391 18. Sibirien. Aus Dielitz' Zonen­ bildern...................................................396

VIII. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Seite 98. Das Lied vom Feldmarschall.* Arndt,................................................317 99. Der Übergang der Preußen über den Alsensund. Fontane. . . . 318 100. Die Schlacht bei Koniggrätz. Fontane.............................................. 320 101. Die Schlacht bei Gravelotte.* Heinrichs.............................................322 flOla. Die Trompete von Gravelotte.* Freiligratb......................................... 325 102. Wilhelm I. bei Sedan. Nach Schneider............................................325 103. Das große königliche Hauptquartier. Schneider............................................331

19. Erster Anblick von Ostindien. Aus­ land....................................................... 399 20. DieTigerjagd in Ostindien. Dielitz. 404 21. Der Königstiger. Nach Lenz und Reichenbach. •.................................. 410 22. Der Kampf der Riesenschlange mit dem Tiger.* Rückert..........................415 23. Die Schlangen. Schubert. . . . 416 24. Die Sabara. Dielitz........................ 418 25 Wüstenreise. Lauckhard.................... 419 26. Gelungene List. Aus Dielitz' Skiz­ zenbuch.................................................. 421 27. Eine Fahrt auf dem Misst sivpi. Aus Dielitz' Skizzenbuch............................ 421 28. Die Holzfäller in den Wäldern von Florida. Magaz.f. ausl. Litteratur. 426 29. Ein Waldbrand in Nordamerika. Magaz. f. ausl Litteratur. . . . 430 30. Bärenjagden. Nach Gerstäcker. . 434 31. Der graue Bär. Nach Ferry. . . 440 32 Die Tigerhöhle. Ausland. . . . 449 33 Otaheite. Forster................................ 453 34. Das Meer und seine Schrecken. Magaz. f. ausl. Litteratur . . . 455 35. Der" Ninderhirt. Nach Dickens. . 461 36. Mut der Matrosen. Forster. . . 467

Dramatisches.

Tobias Witt oder die Schule der Klugheit. Engel.....................................................469 Fischer, Jäger und Hirt. Aus Schillers Wilhelm Tell. 1, 1.................................... 473 Der Bau der Feste. Aus Schillers Wilhelm Tell. I, 3..............................................474 Tell in seiner Familie. Aus Schillers Wilhelm Tell. III, 1.....................................476 Der Schuß nach dem Apfel. Aus Schillers Wilhelm Tell. III, 3......................... 479 Kampfbegier. Aus Goethes Götz von Berlichingen. 1................................................488 Des Helden Sohn. Aus Goethes Götz von Berlichingen. 1.................................... 489 Götz unter den Seinen. Aus Goethes Götz von Berlichingen. III.....................492 Götz vor dem Gerichte zu Heilbronn. Aus Goethes Gotz von Berlichingen. IV. 493 Das Armbrustschießen. Aus Goethes Egmont. 1.........................................................496 Egmont. Aus Goethes Egmont. II................................................................................ 500 Zrinys Tod. Aus Körners Zriny. V............................................................................ 505

i. Lieder 1.

Gott grüße dich!

Gott grüße dich! Kein andrer Gruß Gleicht dem an Innigkeit. Gott grüße dich! Kein andrer Gruß Paßt so zu aller Zeit.

Gott grüße dich! Wenn dieser Gruß So recht vom Herzen geht, Gilt bei dem lieben Gott der Gruß So viel wie ein Gebet. Sturm.

2.

Stilles Gotteslob.

„Ach, hätt' ich Engelzungen, Ich hätt' euch wohl gesungen Das süße, liebe Lied,

Wie meine ganze Seele Ihm singt und jauchzt und spielt. Ich muß mein Haupt ihm neigen,

Das mir so still und selig Im jungen Herzen glüht. Ich weiß gar keine Weisen,

Kann weinen nur und schweigen In Seligkeit und Schmerz." Ach, Kind, er weiß dein Lieben, Er sieht dir ja ins Herz.

Den Herren so zu preisen,

Diepenbrock.

Den Bater treu und mild,

3. Andacht. Wann das Abendrot die Haine Mit den Abschiedsflammen küßt; Wann im prächt'gen Morgenscheine Lerchenklang die Sonne grüßt: O dann werf' ich Jubellieder

Mit den Quellen geht mein Grüßen,

Und das taube Herz in mir Hat dem Gott erwachen müssen, Der uns schirmet für und für. Meereswogen laut erklingen,

In den Wäldern wohnt manch' Schall:

Ins Lobpreisen der Natur; Echo spricht die Töne wieder, Alles preist den Ew'gen nur.

Und wir sollten nicht besingen, Da die Freude überall? Tieck.

4.

Gottes Güte. Für wen tönt das Getümmel

Für wen schuf deine Güte, Herr, diese Welt so schön? Für wen ist Blum' und Blüte In Thälern und in Höhn? Für Da, Für Die

Der Herden auf der Au? Für wen wölbt sich der Himmel So heiter und so blau? Für wen sind Thal und Gründe, So lieblich anzusehn? Für wen wehn kühle Winde? Für wen ist alles schön?

wen ist hohe Wonne wo das Saatfeld wallt? wen bescheint die Sonne Wiesen und den Wald?

Dielitz ii. Heinrichs, deutsch. Lesebuch.

5. Aufl.

1

I.

2

Lieder. Nun sieh, o Gott, wir weihen Ein Herz voll Dankbarkeit Dir, der uns liebt, und freuen Uns deiner Gütigkeit! Du hauchtest nicht vergebens Ein fühlend Herz uns ein: Ein Vorhof jenes Lebens Soll uns die Erde sein!

Uns giebst du ein Vermögen, Die Schönheit einzusehn, Uns Menschen, deinen Segen Zu fühlen, zu verstehn. Uns sollte all' die Wonne Ein Ruf der Liebe sein, Mit jeder Morgensonne Dir unser Herz zu weihn

Äleirn.

3.

Auf Gott allein!

Wer auf die Welt Sein Herze stellt, Der schafft sich bittres Leid;

Geteiltes Herz Schafft Sorg' und Schmerz, Führt nicht dem Himmel zu.

Auf Gott allein, So soll es sein; Er ist der rechte Hort. Wer ihm vertraut,

Was sie verspricht, Das hält sie nicht; Ihr fehlt Beständigkeit. Und wer es stellt Auf Gott und Welt, Dem winket nie die Ruh';

Auf ihn nur baut, Ist selig hier und dort. Sturm.

6.

Du bist's allein!

Du bist's allein; Macht und Gewalt sind dein. Was kann sich deinem Wort entgegenstellen? Du winkst, und Erd' und Himmel, sie zerschellen; Du winkst, und alles kehrt zum neuen Sein. Du bist's allein! Du bist's allein, Der Nacht und Sonnenschein, Der Sommerglanz und Wintersturm bereitet, Aus seinem Herzen Gnadenströme leitet. Daß Segen triefen selbst die Wüstenein. Du bist's allein! Du bist's allein; Nichts ist so groß, noch klein.

Das nicht aus dir, aus seinem ew'gen Grunde, Sein Dasein tränke mit begier'gem Munde. Was lebt und webt und ist, sein wahres Sein — Du bist's allein! Du bist's allein,

Der unter Schmerz und Pein, In deinem Ernst mir deine Liebe zeigtest, Die Hand dem, der versinken wollte, reichtest,

I. Lieder.

3

Der mich, der alle hört, die zu ihm schrein.

Du bist's allein! Du bist's allein, Durch den ich alles mein, Mein das Vergang'ne, das Zukünft'ge nenne, Durch den ich mich, die Welt, dich selbst erkenne, Durch den ich rufen kann: „Herr, ich bin dein!" Du bist's allein! Du bist's allein; Drum sei die Ehre dein! Von allen Zungen soll dein Lob erschallen, In allen Herzen deine Liebe wallen, Dein Name unsre Kron' und Ehre sein. Du bist's allein!

Strauß.

7. Wo wohnt der liebe Gott? Wo wohnt der liebe Gott? Sieh dort den blauen Himmel an, Wie fest er steht so lange Zeit, Sich wölbt so hoch, sich streckt so weit, Daß ihn kein Mensch erfassen kann! Und sieh der Sterne goldnen Schein Gleich als viel tausend Fensterlein: Das ist des lieben Gottes Haus; Da wohnt er drin und schaut heraus

Wo wohnt der liebe Gott? Hörst du der Glocken hellen Klang? .

Und schaut mit Vateraugen nieder Auf dich und alle deine Brüder.

Hier vor sein Angesicht zu treten, Zu flehn, zu danken, anzubeten. Wo wohnt der liebe Gott? Die ganze Schöpfung ist sein Haus;

Wo wohnt der liebe Gott? Hinaus tritt in den dunklen Wald; Die Berge sieh zum Himmel gehn, Die Felsen, die wie Säulen stehn,

Der Bäume ragende Gestalt! Horch, wie es in den Wipfeln rauscht! Horch, wie's im stillen Thale lauscht! Dir schlägt das Herz, du merkst es bald, Der liebe Gott wohnt in dem Wald. Dein Auge zwar kann ihn nicht sehen; Doch fühlst du seines Odems Wehen.

Zur Wie Wie Wie Wie Das

Kirche rufen sie dich hin; ernst, wie freundlich ist's darin, lieb und traut und doch wie bang'! singen sie mit frommer Lust, beten sie aus tiefer Brust! macht, der Herr Gott wohnet da;

Drum kommen sie von fern und nah,

Doch wenn es ihm so wohlgefällt, So wählet in der weiten Welt Er sich die engste Kammer aus.

Wie ist das Menschenherz so klein; Und doch auch da zieht Gott hinein. O halt das deine fromm und rein! So wählt er's auch zur Wohnung sein Und kommt mit seinen Himmelsfreuden

Und wird nie wieder von dir scheiden! _ Hey-

8. Gott weiss, Weifst du, wie viel Sterne stehen An dem blauen Himmelszelt? Weisst du, wie viel Wolken gehen Weithin über alle Welt?

Gott der Herr hat sie gezählet, Dass ihm auch nicht eine fehlet An der ganzen, grossen Zahl.

I. Lieder.

4

Weisst du, wie vielMücklein spielen In der hellen Sonnenglut? Wie viel Fischlein auch sich kühlen In der hellen Wasserflut? Gott der Herr rief sie mit Namen, Dass sie all’ ins Leben kamen, Dass sie nun so fröhlich sind.

S.

Weisst du, wie viel Kinder frühe Stehn aus ihren Bettlein auf, Dass sie ohne Sorg’ und Mühe Fröhlich sind im Tageslauf? Gott im Himmel hat an allen Seine Lust, sein Wohlgefallen, Kennt auch dich und hat dich lieb. Hey.

Geduld.

Den herbsten Seelenschmerz Und taucht in stille Demut

Er macht die finstre Stunde Allmählich wieder hell; Er heilet jede Wunde Gewiß, wenn auch nicht schnell. Er zürnt nicht deinen Thränen, Wenn er dich trösten will; Er tadelt nicht dein Sehnen, Nur macht er's fromm und still. Und wenn im Sturmestoben Du murrend fragst: Warum? So deutet er nach oben Mild lächelnd, aber stumm. Er hat für jede Frage Nicht Antwort gleich bereit; Sein Wahlspruch heißt: Ertrage! Die Ruhstatt ist nicht weit! So geht er dir zur Seite Und redet gar nicht viel Und denkt nur in die Weite

Das ungestüme Herz.

Ans schöne, große Ziel.

Es zieht ein stiller Engel Durch dieses Erdenland; Zum Trost für Erdenmängel Hat ihn der Herr gesandt. In seinem Blick ist Frieden Und milde, sanfte Huld. O folg" ihm stets hienieden, Dem Engel der Geduld! -Er führt dich immer treulich Durch alles Erdenleid

Und redet so erfreulich Von einer schönten Zeit; Denn willst du ganz verzagen, Hat er doch guten Mut; Er hilft das Kreuz dir tragen Und macht noch alles gut. Er macht zu linder Wehmut

Spilta.

9a, O Gott, mein Vater, dein Gebot

Sei mir ins Herz geschrieben: Den Eltern sollst du bis zum Tod Gehorchen und sie lieben. O dieser teuren, süßen Pflicht

Vergeffe meine Seele nicht! Nun, weil ich lebe, will ich sie Von ganzem Herzen lieben, Gern ihnen folgen und sie nie Erzürnen, nie betrüben. Durch Sittsamkeit sie zu erfreun, Das müsse meine Freude sein.

Kindesdank. Von meiner zarten Kindheit an Erzeigten sie mir Gutes; Mehr als ich je vergelten kann. Erzeigten sie mir Gutes; Und noch sind sie für mich, ihr Kind, So zärtlich und so treu gesinnt! So lang ich lebe, will ich sie Auch wieder zärtlich lieben, Gern ihnen folgen und sie nie Erzürnen, nie betrüben. Erwachsen einst, wie jetzt noch klein, Will ich ber Eltern Freude sein! Overbeck.

I. Lieder.

9b.

5

Gesundheit und ein gut Gewissen.

Viel hat die Welt, was wir nicht missen, Versagt es weislich das Geschick; Gesundheit und ein gut Gewissen, Sie einzig gründen unser Glück. Gesundheit und ein gut Gewissen Sind Freunde, bei uns eingekehrt; Sie würzen des Bedarfes Bissen, Sie geben unsrer Fülle Wert. Gesundheit und ein gut Gewissen Erleichtern uns des Lebens Müh'; Sie polstern abends uns das Kissen Und wecken uns zur Arbeit früh.

Was ist es, was in Hindernissen Gekränkten Sieg und Recht verschafft? Gesundheit und ein gut Gewissen, Sie rüsten uns mit Mut und Kraft. Und wär' uns jedes Gut entrissen, Getrost! uns machen wieder reich Gesundheit und ein gut Gewissen; Durch sie nur sind wir alle gleich. Laßt uns sie pflegen, wie wir müssen! Dann scheidet, winkt die Grabesruh, Gesundheit spät, ein gut Gewissen Drückt sanft des Müden Auge zu. v. Ha lern.

10. Morgenlied. Die Sterne sind verblichen Mit ihrem güldnen Schein: Bald ist die Nacht gewichen; Der Morgen dringt herein. Noch wallet tiefes Schweigen Im Thal und überall: Auf frisch betauten Zweigen Singt nur die Nachtigall.

Sie singet Preis und Ehre Dem hohen Herrn'der Welt, Der überm Land und Meere Die Hand des Segens hält. Er hat die Nacht vertrieben; Ihr Kindlein, fürchtet nichts!

Stets kommt zu seinen Lieben Der Vater alles Lichts. Hoffmann von Fallersleben.

11. Am Morgen. Die Nacht entfleucht, Die Sonne steigt Aus goldnem Wolkenmeere; Sie kommt voll Pracht

So wunderschön In Thal und Höhn Den guten Vater droben. Ihn lobt die Flur, Und die Natur Singt ihrem Schöpfer Lieder.

Und strahlt mit Macht Zu ihres Schöpfers Ehre. Schön blinkt der Tau Auf bunter Au; Der Vogel schwingt die Flügel; Die Lämmer ziehn Durch Wiesengrün; Schön duften Thal und Hügel. Die Schöpfung lacht, Der Wald erwacht, Und alle Vögel loben

Er ist so treu, Und immer neu Kommt seine Güte wieder. So silberhell, Wie sich ein Quell Durchs stille Thal ergießet, Hier immerdar So rein und klar Das Leben mir entfließet.

12. Morgenlied. Verschwunden ist die finstre Nacht; Die Lerche schlägt, der Tag erwacht,

Hölty.

Die Sonne kommt mit Prangen Am Himmel aufgegangen;

Lieder.

I.

6

Sie scheint in Königs Prunkgemach, Sie scheinet durch des Bettlers Dach,

Und was in Nacht verborgen war, Das macht sie kund und offenbar. Lob sei dem Herrn und Dank gebracht,

Der über diesem Haus gewacht,

Mit seinen heiligen Scharen

Uns gnädig wollt' bewahren. Wohl mancher schloß die Augen schwer Und öffnet sie dem Licht nicht mehr; Drum freue sich, wer neu belebt Den frischen Blick zur Sonn' erhebt. Schiller.

13.

Sonntagsfrühe.

Aus den Thälern hör' ich schallen Glockentöne, Festgesänge; Helle Sonnenblicke fallen Durch die dunklen Buchengänge; Himmel ist von Glanz umfloffen, Heil'ger Friede rings ergoffen. Durch die Felder still beglücket Ziehen Menscken allerwegen; Frohen Kindern gleich geschmücket,

Gehn dem Vater sie entgegen, Der auf goldner Saaten Wogen Segnend kommt durchs Land gezogen. Wie die Blumen festlich blühen! Wie so fromm die Bäume rauschen! Eine Lerche seh' ich ziehen; Ihren Liedern muß ich lauschen. Alle streben, Gott zu dienen, Und ich bete still mit ihnen. Neinick.

13a.

Die untergehende Sonne.

Wie geht so klar und munter Die liebe Sonne unter! Wie schaut sie uns so freundlich an Von ihrer hohen Himmelsbahn! Das ist so ihre Weise; Sie zeiget still und leise: Wer flink am Tage Gutes thut,

Dem ist am Abend wohl zu Mut. Sie läuft den Weg behende Vom Anfang bis zu Ende, Erhellt und wärmt die ganze Welt Aus ihrem hohen Himmelszelt.

Auf allen ihren Wegen Ist lauter Licht und Segen. Dann schließt sie freundlich ihre Bahn Und lächelt uns noch einmal an. Jetzt geht sie klar und munter Am Abendhimmel unter; Bald aus des Morgens Himmelsthor Steigt sie mit neuem Glanz empor. Drum wallt nun frohes Mutes Wie sie und thuet Gutes! Dann schließt ihr fröhlich euren Lauf Und steht frohlockend wieder auf. Krummacher.

14. Müde bin ich, geh' zur Ruh', Schließe beide Äuglein zu;

Vater, laß die Augen dein Über meinem Bette sein! Hab' ich Unrecht heut gethan, Sieh es, lieber Gott, nicht an! Deine Gnad' und Jesu Blut Macht ja allen Schaden gut.

Abendgebet. Alle, die mir sind verwandt, Gott, laß ruhn in deiner Hand! Alle Menschen, groß und klein. Sollen dir befohlen sein! Kranken Herzen sende Ruh, Nasse Augen schließe zu! Laß den Mond am Himmel stehn Und die stille Welt besehn! Luise Hensel.

I.

Lieder.

7

13. Abendgebet. Der muntre Tag ist wieder still, Und alles schlafen gehen will, Das Wild auf weichen Mooses Flaum, Der Vogel auf den grünen Baum, Der Mensch in seine stille Kammer, Sich auszuruhn von Müh' und Jammer. Doch tritt er aus der Hüttenthür Zuvor noch in die Nacht Herfür, Sich christlich erst bereiten muß Mit Liebesdank und Liebesgruß, Muß sehen, wie die Sterne blinken, Und noch den Odem Gottes trinken. Du, der von oben Wache hält, Du milder Vater aller Welt, Vernimm mein stammelndes Gebet, Das zu den Hellen Sternen geht: Woll'st mich von deinen Sonnenkreisen Im rechten Beten unterweisen! Ich war den Tag in deiner Hut; Behüt' auch heint mich, Vater gut, Durch deine milde Freundlichkeit ~ n,

16.

Vorm bösen Feind und seinem Neid; Denn was den Leib mir mag befallen, Das ist das kleinste Leid von allen. O sende von dem Strahlenschein Den liebsten Engel zu mir ein Als Friedensboten unters Dach, Als Wächter in mein Schlafgemach, Daß Herz und Sinne und Gedanken Sich fest um deinen Himmel ranken. Dann geht der Tag so lustig fort, Dann klingt die Nacht ein Liebeswort, Dann ist der Morgen Engelgruß, Daß alles Böse weichen muß Und wir hienieden schon auf Erden Wie fromme Kinder Gottes werden. Und fällt der letzte Abendschein Einst in das müde Aug' hinein, Sehnt meine Seele sich hinauf Zum ewig sel'gen Sonnenlauf: So werden alle Engel kommen, Mich heimzuholen zu den Frouuuen. r. L Arndt.

Fruhlmgslred.

Die Luft ist blau, das Thal ist grün, Die kleinen Maienglocken blühn Und Schlüsselblumen drunter. Der Wiesengrund Ist schon so bunt Und malt sich täglich bunter.

Drum komme, wem der Mai gefällt, Und freue sich der schönen Welt Und Gottes Vatergüte, Der diese Pracht Hervorgebracht, Den Baum in seiner Blüte! Overbeck.

17.

Frühlingsduett. Der Erste.

Wie schön, wie herrlich, nach Winters Oual Nun im Freien das Herz sich vergnügen! Der Zweite. Wie schön und fröhlich, durch Feld und Thal Sich von neuem im Sonnenschein wiegen! Der Erste. Man sieht nun mit Freuden die Wolken ziehn Und die Bäche in Ruhe fließen! Der Zweite. Die Bäume nun grünen, die Blumen blühn; Kann alles nun doppelt genießen!

I.

8

Lieder.

Der Erste. Sie kommen, die Tage des Lenzes, und fliehn. Der Zweite. Die Tage der Jugend, sie glänzen und blühn. Der Erste. Drum laßt uns — Der Zweite. Eh' sie entfließen — Beide. Den Lenz und die Jugend genießen. Goethe.

18.

Frühlingslied.

Wer schlägt so rasch an die Fenster mir Mit schwanken, grünen Zweigen? Der junge Morgenwind ist hier Und will sich lustig zeigen. „Heraus, heraus, du Menschensohn!" So ruft der kecke Geselle, „Es schwärmt von Frühlingswonnen schon Vor deiner Kammerschwelle. Hörst du die Käfer summen nicht? Hörst du das Glas nicht klirren, Wenn sie, betäubt von Duft und Licht, Hart an die Scheiben schwirren?

Die Sonnenstrahlen stehlen sich Behende durch Blätter und Ranken Und necken auf deinem Lager dich Mit blendendem Schweben und Schwan­ ken. Die Nachtigall ist heiser fast, So lang hat sie gesungen; Und weil du sie gehört nicht hast, Ist sie vom Baum gesprungen. Da schlug ich mit dem leeren Zweig

An deine Fensterscheiben. Heraus, heraus in des Frühlings Reich! Es wird nicht lange mehr bleiben." Wilh. Müller.

19.

Frühlingseinzug.

Die Fenster auf, die Herzen auf! Geschwinde! Geschwinde! Der alte Winter will hinaus, Er trippelt ängstlich durch das Haus, Er windet bang sich in der Brust

Und kramt zusammen seinen Wust. Geschwinde! Geschwinde! Die Fenster auf, die Herzen auf! Geschwinde! Geschwinde! Er spürt den Frühling vor dem Thor; Der will ihn zupfen bei dem Ohr, Ihn zausen an dem weißen Bart Nach solcher wilden Buben Art. Geschwinde! Geschwinde! Die Fenster auf, die Herzen auf! Geschwinde! Geschwinde!

Der Frühling Pocht und klopft ja schon;

Horcht, horcht, es ist sein lieber Ton! Er pocht und klopfet, was er kann, Mit kleinen Blumenknospen an. Geschwinde! Geschwinde! Die Fenster auf, die Herzen auf! Geschwinde! Geschwinde!

Und wenn ihr noch nicht öffnen wollt, Er hat viel Dienerschaft im Sold, Die ruft er sich zu Hülfe her Und pocht und klopfet immer mehr. Geschwinde! Geschwinde! Die Fenster auf, die Herzen auf!

Geschwinde! Geschwinde! Es kommt der Junker Morgenwind, Ein pausebackig rotes Kind,

Lieder

I. Und bläst, daß alles klingt und klirrt, Bis seinem Herrn geöffnet wird. Geschwinde! Geschwinde! Die Fenster auf, die Herzen auf! Geschwinde! Geschwinde! Es kommt der Ritter Sonnenschein; Der bricht mit goldnen Lanzen ein. Der sanfte Schmeichler Blütenhauch Schleicht durch die engsten Ritzen auch. Geschwinde! Geschwinde!

20.

9

Die Fenster auf, die Herzen auf! Geschwinde! Geschwinde! Zum Angriff schlägt die Nachtigall, Und horch, und horch, ein Wiederhall, Ein Wiederhall aus meiner Brust! Herein! Herein, du Frühlingslust!

Geschwinde! Geschwinde! Will). Müller.

Frühlingsglaube.

Die linden Lüfte sind erwacht;

Die Welt wird schöner mit jedem Tag;

Sie säuseln und wehen Tag und Nacht, Sie schaffen an allen Enden. O frischer Duft, o neuer Klang! Nun, armes Herze, sei nicht bang! Nun muß sich alles, alles wenden.

Man weiß nicht, was noch werden mag, Das Blühen will nicht enden; Es blüht das fernste, tiefste Thal. 9^iin, armes Herz, vergiß der Qual!

Nun muß sich alles, alles wenden. Uhland.

21.

Frühlingsfeier.

Süßer, golduer Frühlingstag! Inniges Entzücken!

Doch warum in dieser Zeit

An die Arbeit treten? Frühling ist ein hohes Fest: Laßt mich ruhn und beten!

Wenn mir je ein Lied gelang, Sollt' es heut nicht glücken?

Uhland.

22.

Winterlieb.

Wie ruhest du so stille

In deiner weißen Hülle, Du mütterliches Land! Wo sind des Frühlings Lieder,

Des Sommers bunt Gefieder Und dein beblümtes Festgewand? Du schlummerst nun entkleidet; Kein Lamm, noch Schäslein weidet Auf deinen Aun und Höhn. Der Vöglein Lied verstummet, Und keine Biene summet, Doch bist du auch im Schlummer schön. Die Zweig' und Astlein schimmern, Und lausend Lichter flimmern, Wohin das Auge blickt.

Wer hat dein Bett bereitet, Die Decke dir gespreitet Und dich so schön mit Reif geschmückt? Der gute Vater droben Hat dir dein Kleid gewoben; Er schläft und schlummert nicht. So schlummre denn in Frieden! Der Vater weckt die Müden Zu neuer Kraft und neuem Licht.

Bald in des Lenzes Wehen Wirst du verjüngt erstehen Zum Leben wunderbar. Sein Odem schwebt hernieder; Daun, Erde, stehst du wieder Mit einem Blumenkranz im Haar. Krummacher.

I. Lieder.

10

23. Weihnachtsfest. Der Winter ist gekommen

Und hat hinweggenommen Der Erde grünes Kleid;

Schnee liegt auf Blütenkeimen, Kein Blatt ist an den Bäumen, Erstarrt die Flüsse weit und breit. Da schallen Plötzlich Klänge

Und frohe Festgesänge Hell durch die Winternacht; In Hütten und Palästen Ist rings in grünen Ästen Ein bunter Frühling aufgewacht. Wie gern doch seh' ich glänzen Mit all' den reichen Kränzen

Den grünen Weihnachtsbaum; Dazu der Kindlein Mienen Bon Licht und Lust beschienen! Wohl schönre Freude giebt es kaum! Da denk' ich jener Stunde, Als in des Feldes Runde Die Hirten sind erwacht, Geweckt vom Glanzgefunkel, Das durch der Bäume Dunkel Ein Engel mit herabgebracht. Und wie sie da nach oben Die Blicke schüchtern hoben Und sahn den Engel stehn:

Da standen sie im Strahle, Wie wenn zum ersten Male Die Kindlein einen Christbaum sehn. Ist groß schon das Entzücken Der Kinder, die erblicken,

Was ihnen ward beschert: Wie haben erst die Kunde Dort aus des Engels Munde Die frommen Hirten angehört! Und rings ob allen Bäumen Sang in den Himmelsräumen Der frohen Engel Schar: „Gott in der Höh' soll werden Der Ruhm und Fried' auf Erden Und Wohlgefallen immerdar!" Drum Pflanzet grüne Äste Und schmücket sie aufs beste Mit frommer Liebe Hand, Daß sie ein Abbild werden Der Liebe, die zur Erden Solch großes Heil uns hat gesandt! Ja, laßt die Glocken klingen, Daß wie der Engel Singen

Sie rufen laut und klar: „Gott in der Höh' soll werden Der Ruhm und Fried' auf Erden Und Wohlgefallen immerdar!" Reinick.

24.

Zum neuen Jahr.

Wie heimlicher Weise Ein Engelein leise Mit rosigen Füßen Die Erde betritt:

In rhm ser's begonnen, Der Monde und Sonnen An blauen Gezelten Des Himmels bewegt.

So nahte der Morgen. O jauchzt ihm, ihr Frommen, Ein heilig Willkommen; Ein heilig Willkommen, Herz, jauchze du mit!

Du, Vater, du rate, Du lenke und wende! Herr, dir in die Hände Sei Anfang und Ende, Sei alles gelegt! Mörike.

25.

Zum neuen Jahr.

Ein Jahr geht hin, das andre kommt; Nur eines bleibt und stehet fest,

Und eines bleibt, das ewig frommt: Gott, der die seinen nie verläßt,

I.

11

Lieder.

Gott, der die seinen nie verläßt,

Neu in der Sieti', alt in der Treu',

Sie hebt und hält, sie hegt und Pflegt, Und doppelt fest ans Herz sie preßt, Wenn seine Vaterhand sie schlägt. Das Jahr wird alt,dasJahrwird neu, Gott aber ist stets neu und alt,

Laßt uns auch leben dergestalt!

Laßt uns auch leben dergestalt; So werden stets jahraus, jahrein Und grau und alt und todeskalt Wir Gottes und er unser sein. W. Wackernagel.

26. Ostern. Wenn die Osterglocken klingen

Durch das stille Thal Und im Dom sie Lieder singen Herrlich im Choral: Dann läuten auch unten im Wiesenthal Schneeglöckchen so silbern allzumal; Sie läuten die Blümchen wach Nach langem Wintertag. Wenn das Grab des Herrn erdröhnet Von des Ew'gen Ruf, Der die Welt mit dem versöhnet. Der sie einst erschuf: Dann brechen auch all die Gräberchen auf, Wo Fliegen und Käfer schlafen zuhauf; Der Ruf trifft auch ihr Ohr, Sie eilen zum Licht hervor.

Wenn ein Lichtmeer sich ergießet In die Felsengruft Und ein Quell sich hier erschließet,

Der zum Leben ruft: Dann brechen auch tausend Flämmchen

hervor Aus Ästen und Zweigen; den Wiesenflor Betaut der belebende Quell Und wecket die Gräserchen schnell. Wenn sie dann zum Grabe eilen

Und der Engel spricht: „Wollet ihr nicht länger weilen?

Christus stirbt ja nicht!" Dann eilet das Kind auch froh hinaus Ins große, herrliche Gotteshaus, Und der Ew'ge im Blütenflor Zieht es liebend zu sich empor. Aus Klumpps Kluderliedern.

27.

Mond und Sterne.

Und die Sonne, sie machte den weiten Ritt Um die Welt; Und die Sternlein sprachen: „Wir reisen mit Um die Welt." Und die Sonne, sie schalt sie: „Ihr bleibt zu Haus; Denn ich brenn' euch die goldenen Äugelein aus Bei dem feurigen Ritt um die Welt." Und die Sternlein gingen zum lieben Mond In der Nacht;

Und sie sprachen: „Du, der auf Wolken thront In der Nacht, Laß uns wandeln mit dir, denn dein milder Schein, Er verbrennt uns nimmer die Äugelein." Und er nahm sie, Gesellen der Nacht. Nun willkommen, Sternlein und lieber Mond, In der Nacht!

I

12

Lieder.

Ihr versteht, was still in dem Herzen wohnt In der Nacht. Kommt und zündet die himmlischen Lichter an, Daß ich lustig mitschwärmen und spielen kann In den freundlichen Spielen der Nacht. Arndt.

28.

Zum Walde.

Schön ist die Flur, Gott sei gedankt! Wenn segenschwer die Ähre schwankt; Mich aber lockt der kühle Wald, Der Hirsche schatt'ger Aufenthalt. Still ist es hier, fern lärmt die Welt; Die Morgensonne purpurn fällt Durch Blütenzweige warm und mild In seinen Schoß, der duftend schwillt. Da Kuckuck ruft, und Amsel schlägt; Die Wipfel flüstern windbewegt; Bom Eichenhorste schwingt der Weih Hinauf sich in die Lüfte frei.

Der stolze Hirsch, das sanfte Reh, Sie tummeln sich in Moos und Klee; Im Silberschmuck der Schlehdorn blüht, Und purpurhold Dornröschen glüht. O friedevolle Einsamkeit! Du machst das Herz so froh und weit, Und murmelnd singt der helle Bach Mir liebliche Gedanken wach. So weckt Natur mit süßem Mund Ein Echo sanft im Herzensgrund; Und was im Walde rauscht und weht, Strömt von der Lippe als Gebet. Fröhlich.

29. Waldvögelein. In dem goldnen Strahl Über Berg und Thal

Läßt du lustig dein Lied erklingen; Schwebest hin und her In dem blauen Meer, Dir zu kühlen die luftigen Schwingen. Wo die Wolke saust, Wo der Waldstrom braust, Kannst du auf-, kannst du niederschweben

So mit einem Mal Aus der Höh' ins Thal. O wie führst du ein herrliches Leben! Liebes Vögelein! Wär' der Himmel mein Und die himmlischen Wiesen und Auen,

Flög' ich auch wie du Froh der Sonne zu, Ihre goldenen Gärten zu schauen. Deinhardstein.

30. Heidenröslein. Sah ein Knab' ein Röslein stehn; Röslein auf der Heiden War so jung und morgenschön; Lief er schnell, es nah' zu sehn, Sah's mit vielen Freuden. Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden. Knabe sprach: „Ich breche dich,

Röslein auf der Heiden!" Röslein sprach: „Ich steche dich. Daß du ewig denkst an mich,

Und ich will's nicht leiden." Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden. Und der wilde Knabe brach Röslein auf der Heiden. Röslein wehrte sich und stach, Half ihm doch kein Weh und Ach,

Mußt' es eben leiden. Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden. Goethe.

I.

Siebe r.

13

Des Knaben Berglied.

81.

Ich bin vom Berg der Hirtenknab', Seh' auf die Schlösser all' herab.

Die Sonne strahlt am ersten hier.

Am längsten weilet sie bei mir.

So überschallt sie doch mein Lied. Ich bin der Knab' vom Berge!

Sind Blitz und Donner unter mir,

So steh' ich hoch im Blauen hier;

Ich bin der Knab' vom Berge!

Ich kenne sie und rufe zu:

Hier ist des Stromes Mutterhaus,

Ich trink' ihn frisch vom Stein heraus; Er braust vom Fels in wildem Lauf, Ich fang' ihn mit den Armen auf.

Ich bin der Knab' vom Berge!

Laßt meines Vaters Haus in Ruh!

Ich bin der Knab' vom Berge! Und wann die Sturmglock' einst erschallt,

Manch Feuer auf den Bergen wallt:

Dann steig' ich nieder, tret' ins Glied

Der Berg, der ist mein Eigentum;

Und schwing'mein Schwert und sing'mein

Da ziehn die Stürme rings herum.

Und heulen sie von Nord und Süd,

Lied:

Ich bin der Knab' vom Berge! Uh land.

32. Einkehr. Bei einem Wirte wundermild, Da war ich jüngst zu Gaste;

Sie sprangen frei und hielten Schmaus Und sangen auf das beste.

Ein goldner Apfel war sein Schild

An einem langen Aste.

Ich sand ein Bett zu süßer Ruh Auf weichen, grünen Matten;

Es war der gute Apfelbaum, Bei dem ich eingekehret;

Der Wirt, er deckte selbst mich zu Mit seinem kühlen Schatten.

Mit süßer Kost und frischem Schaum

Hat er mich wohl genähret.

Nun fragt' ich nach der Schuldigkeit;

Da schüttelt' er den Wipfel.

Es kamen in sein grünes Haus

Viel leicht beschwingte Gäste;

Gesegnet sei er allezeit Von der Wurzel bis zum Gipfel! Nhland.

33. Das Singen. Des Menschen Singemeister waren

Die Vögel schon im Paradies;

Des Waldes Fürst, der Aar, beschen­ ket

Der Waldgesang der lust'gen Scharen

Trotz Sonnenflug uns nicht mit Sang;

Klang unserm Ahnherrn wundersüß.

Und alles Raubgeflügel denket

Das muß dir, dacht er, auch gelingen.

Versuchend traf er manchen Ton; Und so vererbte sich das Singen

Vom Vater immer auf den Sohn.

Wir dürfen uns der Kunst nicht schämen,

Stockstill auf nichts als guten Fang.

Auch Menschen, die nach Schätzen trach­ ten, Sind stumm und grämlich, wenn man

singt;

Die uns ein freies Volk gelehrt,

Sie pflegen alles zu verachten,

Das weder Haß, noch Neid, noch Grämen

Was nicht wie Gold und Silber klingt.

In seiner ew'gen Freude stört.

Nur solchen heitren Seelen glücket

Doch wer zu seinen Lebensschätzen Den Frohsinn und die Freude macht,

Ein muntres Liedchen ohne Zwang;

Den wird gewiß ein Lied ergötzen.

Denn selbst nicht jeden Vogel schmücket

Hat er sein Tagewerk vollbracht.

Der Liedergabe Himmesklang.

Langbein.

I. Lieder.

14

34

Deutscher Rat.

Vor allem eins, mein Kind: Sei treu und wahr! Laß nie die Lüge deinen Mund entweihn!

Von altersher im deutschen Volke war Der höchste Ruhm, getreu und wahr zu sein. Du bist ein deutsches Kind, so denke dran! Noch bist du jung, noch ist es nicht so schwer; Aus einem Knaben aber wird ein Mann, Das Bäumchen biegt sich, doch der Baum nicht mehr.

Sprich ja und nein und dreh' und deutle nicht: Was du berichtest, sage kurz und schlicht! Was du gelobtest, sei dir höchste Pflicht! Dein Wort sei heilig, drum verschwend' es nicht! Leicht schleicht die Lüge sich ans Herz heran, Zuerst ein Zwerg, ein Riese hintennach; Doch dein Gewißen zeigt den Feind dir an, Und eine Stimme ruft in dir: „Sei wach!" Dann wach' und kämpf'; es ist ein Feind bereit; Die Lüg' in dir, sie drohet dir Gefahr. Kind! Deutsche kämpften tapfer allezeit. Du deutsches Kind, sei tapfer, treu und wahr! Reinick.

33.

Des Deutschen Vaterland.

Was ist des Deutschen Vaterland? Jst's Preußenland? Jst's Schwabenland? Jst's, wo am Rhein die Rebe blüht? Jst's, wo am Belt die Möwe zieht? O nein, nein, nein! Sein Vaterland muß größer sein.

Was ist des Deutschen Vaterland? Jst's Baherland? Jst's Steierland? Jst's, wo des Marsen Rind sich streckt? Jst's, wo der Märker Eisen reckt? O nein, nein, nein!

Sein Vaterland muß größer sein. Was ist des Deutschen Vaterland? Jst's Pommerland? Westfalenland? Jst's, wo der Sand der Dünen weht? Jst's, wo die Donau brausend geht? O nein, nein, nein!

Sein Vaterland muß größer sein.

Was ist des Deutschen Vaterland? So nenne mir das große Land! Jst's Land der Schweizer? Jst's Tyrol? Das Land und Volk gefiel mir wohl;

Doch nein, nein, nein! Sein Vaterland muß größer sein. Was ist des Deutschen Vaterland?

So nenne mir das große Land! Gewiß ist es das Österreich, An Ehren und an Siegen reich? O nein, nein, nein! Sein Vaterland muß größer sein. Was ist deS Deutschen Vaterland? So nenne mir das große Land! So weit die deutsche Zunge klingt Und Gott im Himmel Lieder singt:

Das soll es sein! Das, wackrer Deutscher, nenne dein!

I.

Lieder.

Das ist des Deutschen Vaterland, Wo Eide schwört der Druck der Hand, Wo Treue hell vom Auge blitzt Und Liebe warm im Herzen sitzt. Das soll es sein! Das, wackrer Deutscher, nenne dein! Das ist des Deutschen Vaterland, Wo Zorn vertilgt den welschen Tand, Wo jeder Franzmann heißet Feind

15

Und jeder Deutsche heißet Freund. Das soll es sein! Das ganze Deutschland soll es sein!

Das ganze Deutschland soll es sein! O Gott im Himmel, sieh darein Und Daß Das Das

gieb uns rechten deutschen Mut, wir uns lieben treu und gut! soll es sein! ganze Deutschland soll es sein! Arndt.

36. Das Lied der Deutschen. Deutschland, Deutschland über alles, Über alles in der Welt,

Wenn es stets zu Schutz und Trutze Brüderlich zusammenhält Von der Maas bis an die Memel, Von der Etsch bis an den Belt. Deutschland, Deutschland über alles, Über alles in der Welt! Deutsche Frauen, deutsche Treue, Deutscher Wein und deutscher Sang Sollen in der Welt behalten Ihren alten, schönen Klang,

Uns zu edler That begeistern Unser ganzes Leben lang. Deutsche Frauen, deutsche Treue, Deutscher Wein und deutscher Sang! Einigkeit und Recht und Freiheit Für das deutsche Vaterland! Danach laßt uns alle streben Brüderlich mit Herz und Hand! Einigkeit und Recht und Freiheit Sind des Glückes Unterpfand. Blüh' im Glanze dieses Glückes,

Blühe, deutsches Vaterland! Hoffmann von Fallersleben.

37.

Mein Vaterland.

Treue Liebe bis zum Grabe Schwör' ich dir mit Herz und Hand; Was ich bin, und was ich habe, Dank' ich dir, mein Vaterland. Nicht in Worten nur und Liedern

Ist mein Herz zum Dank bereit; Mit der That will ich's erwidern Dir in Not, in Kampf und Streit.

In der Freude, wie im Leide Ruf' ich's Freund und Feinden zu: Ewig sind vereint wir beide.

Und mein Trost, mein Glück bist du. Treue Liebe bis zum Grabe Schwör' ich dir mit Herz und Hand; Was ich bin, und was ich habe, Dank' ich dir, mein Vaterland. Hoffmann von Fallersleben,

38.

Der gute Kamerad.

Ich hatt' einen Kameraden;

Einen bessern find'st du nit. Die Trommel schlug zum Streite; Er ging an meiner Seite In gleichem Schritt und Tritt. Eine Kugel kam geflogen; Gilt's mir, oder gilt es dir? Ihn hat es weggerissen;

Er liegt mir vor den Füßen, Als wär's ein Stück von mir. Will mir die Hand noch reichen,

Derweil ich eben lad'. Kann dir die Hand nicht geben;

Bleib' du im ew'gen Leben, Mein guter Kamerad! Uhland.

II.

16

Fabeln, Parabeln, Märchen.

39.

Schwabenkrieg.

Die Trommel ruft zur Schlacht hinaus Mit Spießen, Degen, Flinten! Fürwahr das ist ein harter Strauß! Wir ziehn hinaus mit Mann und Maus, Und keiner bleib' dahinten.

Und als die wilde Schlacht begann, Ein Schlachten war's, kein Schlagen, Sprach einer: „Gebt mir meinen Mann; Was geht mich euer Kriegen au? Will mich mit ihm vertragen." Der Rat war überraschend neu Den Tapfern, wie den Feigen. Ein jeder sprach: „Bei meiner Treu'!

Ich bin kein Tiger, bin kein Leu, Ich will mich menschlich zeigen."

Und so auch dachte bald der Feind, Ließ seine Fahnen senken. „Wir wollen, brüderlich vereint, Weil noch die liebe Sonne scheint, Wohl an was Bessres denken." Da tranken sie auf den Vertrag

Und sangen Siegeslieder. Und als vorbei war das Gelag, Sprach jeder: „Ach, wann kommt der Tag? Wann schlagen wir uns wieder?" Hoffmann von Fallersleben.

II.

Fabeln, Parabeln, Märchen. 1.

Der Wolf und der Mensch.

Der Fuchs erzählte einmal dem Wolfe von der Stärke des Menschen. Kein Tier, sagte er, könne ihm widerstehen, und sie müßten List gebrauchen, um sich vor ihm zu retten. Da antwortete der Wolf: „Wenn ich nur einmal einen zu sehen bekäme; ich wollte doch wohl auf ihn losgehen!" „Dazu kann Rat wer­ den," sagte der Fuchs; „komm nur morgen früh zu mir, so will ich dir einen zeigen." Der Wolf stellte sich frühzeitig ein, und der Fuchs ging mit ihm an den Weg, wo der Jäger alle Tage herkam. Zuerst kam ein alter, abgedankter Sol­ dat. „Ist das ein Mensch?" fragte der Wolf. „Nein," antwortete der Fuchs, „das ist einer gewesen." Danach kam ein kleiner Knabe, der zur Schule wollte.

„Ist das ein Mensch?" „Nein, das will erst einer werden." Endlich kam der Jäger, die Doppelflinte auf dem Rücken und den Hirschfänger an der Seite. Da sprach der Fuchs zum Wolfe: „Siehst du, dort kommt ein Mensch; auf den mußt du losgehen; ich aber will mich fort in meine Höhle machen." Der. Wolf ging nun auf den Menschen los. Der Jäger, als er ihn erblickte, sprach: „Es ist schade, daß ich keine Kugel geladen habe"; doch legte er an und

schoß dem Wolf das Schrot ins Gesicht. Der Wolf verzog das Gesicht gewal­ tig; doch ließ er sich nicht schrecken und ging vorwärts. Da gab ihm der Jäger die zweite Ladung. Der Wolf verbiß den Schmerz und rückte dem Jäger doch zu^Leibe. Da zog dieser seinen Hirschfänger und gab ihm links und rechts tüch-tige Hiebe, daß er über und über blutend und heulend zum Fuchse zurücklief. „Nun, Bruder Wolf," sprach der Fuchs, „wie bist du mit dem Menschen fertig geworden?" „Ach," antwortete der Wolf, „so hab' ich mir die Stärke des

II.

16

Fabeln, Parabeln, Märchen.

39.

Schwabenkrieg.

Die Trommel ruft zur Schlacht hinaus Mit Spießen, Degen, Flinten! Fürwahr das ist ein harter Strauß! Wir ziehn hinaus mit Mann und Maus, Und keiner bleib' dahinten.

Und als die wilde Schlacht begann, Ein Schlachten war's, kein Schlagen, Sprach einer: „Gebt mir meinen Mann; Was geht mich euer Kriegen au? Will mich mit ihm vertragen." Der Rat war überraschend neu Den Tapfern, wie den Feigen. Ein jeder sprach: „Bei meiner Treu'!

Ich bin kein Tiger, bin kein Leu, Ich will mich menschlich zeigen."

Und so auch dachte bald der Feind, Ließ seine Fahnen senken. „Wir wollen, brüderlich vereint, Weil noch die liebe Sonne scheint, Wohl an was Bessres denken." Da tranken sie auf den Vertrag

Und sangen Siegeslieder. Und als vorbei war das Gelag, Sprach jeder: „Ach, wann kommt der Tag? Wann schlagen wir uns wieder?" Hoffmann von Fallersleben.

II.

Fabeln, Parabeln, Märchen. 1.

Der Wolf und der Mensch.

Der Fuchs erzählte einmal dem Wolfe von der Stärke des Menschen. Kein Tier, sagte er, könne ihm widerstehen, und sie müßten List gebrauchen, um sich vor ihm zu retten. Da antwortete der Wolf: „Wenn ich nur einmal einen zu sehen bekäme; ich wollte doch wohl auf ihn losgehen!" „Dazu kann Rat wer­ den," sagte der Fuchs; „komm nur morgen früh zu mir, so will ich dir einen zeigen." Der Wolf stellte sich frühzeitig ein, und der Fuchs ging mit ihm an den Weg, wo der Jäger alle Tage herkam. Zuerst kam ein alter, abgedankter Sol­ dat. „Ist das ein Mensch?" fragte der Wolf. „Nein," antwortete der Fuchs, „das ist einer gewesen." Danach kam ein kleiner Knabe, der zur Schule wollte.

„Ist das ein Mensch?" „Nein, das will erst einer werden." Endlich kam der Jäger, die Doppelflinte auf dem Rücken und den Hirschfänger an der Seite. Da sprach der Fuchs zum Wolfe: „Siehst du, dort kommt ein Mensch; auf den mußt du losgehen; ich aber will mich fort in meine Höhle machen." Der. Wolf ging nun auf den Menschen los. Der Jäger, als er ihn erblickte, sprach: „Es ist schade, daß ich keine Kugel geladen habe"; doch legte er an und

schoß dem Wolf das Schrot ins Gesicht. Der Wolf verzog das Gesicht gewal­ tig; doch ließ er sich nicht schrecken und ging vorwärts. Da gab ihm der Jäger die zweite Ladung. Der Wolf verbiß den Schmerz und rückte dem Jäger doch zu^Leibe. Da zog dieser seinen Hirschfänger und gab ihm links und rechts tüch-tige Hiebe, daß er über und über blutend und heulend zum Fuchse zurücklief. „Nun, Bruder Wolf," sprach der Fuchs, „wie bist du mit dem Menschen fertig geworden?" „Ach," antwortete der Wolf, „so hab' ich mir die Stärke des

II.

Fabeln, Parabeln, Märchen.

17

Menschen nicht vorgestellt. Erst nahm er einen Stock von der Schulter und blies hinein; da flog mir etwas ins Gesicht; das kitzelte mich ganz entsetzlich. Danach blies er noch einmal in den Stock; da flog mir's um die Nase wie Blitz und Hagelwetter; und wie ich ganz nahe war, da zog er eine blanke Rippe aus dem Leibe; damit hat er so auf mich losgeschlagen, daß ich beinahe tot liegen geblie­ ben wäre." „Siehst du," sprach der Fuchs, „was für ein Prahlhans du bist?" Grimm.

2.

Der Hirsch.

Ein Hirsch bewunderte sein prächtiges Geweih Am Spiegel einer klaren Quelle. „Wie prächtig! Auf derselben Stelle, Wo Königskronen stehn! Und wie so stolz, so frei! Auch ist mein ganzer Leib vollkommen, nur allein Die Beine nicht, die sollten stärker sein!" Und als er sie besieht mit ernstlichem Gesicht, Hört er int nahen Busch ein Jägerhorn erschallen, Sieht eine Jagd von dem Gebirge fallen, Erschrickt und flieht. Nun aber hilft ihnl nicht Das prächtige Geweih dem nahen Tod entfliehn, Nicht sein vollkommner Leib, die Beine retten ihn; Die reißen wie ein Pfeil die prächtige Gestalt Mit sich durchs weite Feld und fliegen in den Wald. Hier aber halten ihn im vogelschnellen Lauf An starken Zweigen oft die vierzehn Enden auf Er reißt sich los und flucht darauf, Lobt seine Beine nun und lernet noch im Fliehn Das Nützliche dem Schönen vorzuziehn. Gleim.

2a. Der Löwe und die drei Stiere. Drei Stiere, die auf derselben Weide gingen, hielten lange Freund­ schaft miteinander. Ein Löwe, den nach ihrem Fleisch gelüstete, lauerte ihnen Schritt für Schritt auf, ohne sich an sie zu wagen; denn er erkannte wohl, dass er sie nicht würde überwältigen können, so lange sie ihm mit vereinten Kräften Trotz böten. So trieben sie jede Gefahr durch Ein­ tracht von sich ab. Da nahm ihr Widersacher seine Zuflucht zur List. Er erweckte Misstrauen und Neid unter ihnen, und endlich gelang es ihm, sie gänzlich zu entzweien. Jetzt überfiel er einen nach dem andern und überwand sie mit Leichtigkeit. Nach äs°p2b.

Die drei Hochzeitsgäste.

Es waren einmal in einem Dorfe drei Hofhunde; die hielten gute Nachbar­ schaft miteinander. Nun sollte eine große Bauernhochzeit sein, zu der alt und jung geladen war, und wurde gekocht und gebraten und gebacken, daß der Ge­ ruch durchs ganze Dorf zog. Die drei Hunde waren auch beisammen und rochen Dielitz ii. Heinrichs, deutsch. Leseb.

5. Auft.

2

II.

18 den

Fabeln, Parabeln, Märchen.

feinen Dunst und ratschlagten, wie sie auch zur Hochzeit gehen wollten,

um zu sehen, ob nichts für sie abfallen würde. Um unnützes Aufsehen zu ver­ meiden, beschlossen sie, nicht alle drei auf einmal hinzulaufen, sondern einer nach dem andern. Der erste ging, machte sich in das Schlachthaus, erschnappte jählings ein großes Stück Fleisch und wollte damit seiner Wege gehen; allein er wurde er­ wischt und empfing eine furchtbare Tracht Prügel, nachdem ihm das Stück Fleisch

aus den Zähnen gerissen worden war. So kam er hungrig und übel geschlagen zurück zu seinen Nachbargesellen. Die hungerten schon nach guter Nachricht und fragten: „Nun, wie ist es dir ergangen?" Der Hund aber schämte sich, die Wahrheit zu gestehen, und sprach deshalb: „Ganz wohl; aber es geht dort scharf her, und muß einer hartes und weiches ertragen können." Als die Kameraden das hörten, meinten sie, es würde auf der Hochzeit über alle Maßen gegessen und getrunken, und es fielen viele gute Bröcklein ab, harte und weiche, Fleisch und Bein, und alsbald rannte der zweite Hund in vollen Sprüngen nach dem Hochzeitshaus gerade in die Küche und nahm, was er fand; aber ehe er noch den Rückweg fand, war er schon bemerkt, und ward ihm ein Topf voll siedendheißen Wassers über den Rücken gegossen; doch ob's ihn auch schrecklich brannte, er verbiß seinen Schmerz. Als er nun auf den Hof kam, fragten die beiden Kameraden sogleich: „Nun, wie hat es dir gefallen?" „Ganz wohl," antwortete der Hund, „aber es geht dort heiß her, und muß einer kaltes und warmes ertragen können." Da dachte der dritte Hund, die Hochzeitsgäste wären beim Schmause in voller Arbeit, und kalte und warme Speisen wechselten ab. Um nun wenigstens zum Nachtisch da zu sein, wenn der mürbe Kuchen aufgetragen wird, eilte er davon. Kaum aber war er im Hause, so erwischte ihn einer, klemmte ihn zwischen die Stubenthür und gerbte ihm das Fell windelweich, bis er endlich entsprang. „Nun, wie hat es dir gefallen?" fragten die Freunde, jeder mit etwas Spott im Herzen. „Ganz wohl," sprach der Übelzugerichtete, „es ging recht toll her und gab viel Mürbes, aber Haare lasten muß einer können." Noch lange dachten die drei Hunde daran, wie wohl ihnen die Hochzeits­ suppe, der Hochzeitsbraten und der Hochzeitskuchen geschmeckt hatte. Bechstein.

3.

Der junge Krebs und die Seemuschel.

Der Muschel, die am seichten Strande Ihr Haus bald voneinanderbog, Bald wieder fest zusammenzog, Sah einst mit Neid und Unverstände Ein junger Krebs aus seiner Höhle zu. „O Muschel, wie beglückt bist du! O daß wir Krebse nur so elend wohnen müssen! Bald stößt der Nachbar mich aus seiner Wohnung aus Und bald der Sturm. Du hast dein eigen steinern Haus, Kannst, wenn du willst, es öffnen und verschließen.

II.

Fabeln, Parabeln, Märchen.

19

Vergönne mir nur einen Augenblick (Ich weiß, du gönnst mir dieses Glück),

In deinem Schlosse Platz zu nehmen." „Ich," sprach sie, „sollte mich zwar schämen. In mein nicht aufgeputztes Haus (Denn in der That sieht's jetzt nicht reinlich aus)

Vornehme Herren einzunehmen; Doch dienet es zu Ihrer Ruh, Auf kurze Zeit zu mir sich zu verfügen, So dien' ich Ihnen mit Vergnügen; Wir haben Platz." Er kommt. Sie schließt ihr Schloß fest zu. „Mach auf," schreit er, „denn ich ersticke!" „Bald," spricht sie, „will ich dich befrein; Sieh erst der Mißgunst Thorheit ein Und lerne hier, mit deinem Glücke, Wenn dir's gefällt, zufrieden sein!" Gellert.

4.

Der Bauer und sein Sohn.

Ein guter, dummer Bauernknabe, Den Junker HanS einst mit auf Reisen nahm, Und der trotz seinem Herrn mit einer guten Gabe, Recht dreist zu lügen, wiederkam, Ging kurz nach der vollbrachten Reise Mit seinem Vater über Land. Fritz, der im Gehn recht Zeit zum Lügen fand, Log auf die unverschämtste Weise. Zu seinem Unglück kam ein großer Hund gerannt. „Ja, Vater," rief der unverschämte Knabe, „Ihr mögt mir's glauben oder nicht, So sag' ich's euch und jedem ins Gesicht, Daß ich einst einen Hund bei Haag gesehen habe Hart an dem Weg, wo man nach Frankreich fährt, Der, ja, ich bin nicht ehrenwert, Wenn er nicht größer war als euer größtes Pferd." „Das," sprach der Vater, „nimmt mich Wunder; Wiewohl ein jeder Ort läßt Wunderdinge sehn. Wir zum Exempel gehn jetztunder Und werden keine Stunde gehn, So wirst du eine Brücke sehn (Wir müssen selbst darüber gehn), Die hat dir manchen schon betrogen; Denn überhaupt soll's dort nicht gar zu richtig sein. Auf dieser Brücke liegt ein Stein,

II.

20

Fabeln, Parabeln, Märchen.

An den stößt man, wenn man denselben Tag gelogen,

Und fällt und bricht sogleich ein Bein." Der Bub' erschrak, sobald er dies vernommen. „Ach," sprach er, „lauft doch nicht so sehr. Doch wieder auf den Hund zu kommen: Wie groß sagt' ich, daß er gewesen wär'? Wie euer größtes Pferd? Dazu will viel gehören. Der Hund, jetzt fällt mir's ein, war erst ein halbes Jahr; Allein das wollt' ich wohl beschwören, Daß er so groß wie mancher Ochse war." Sie gingen noch ein gutes Stücke; Doch Fritzen schlug das Herz. Wie konnt' es anders sein? Denn niemand bricht doch gern ein Bein. Er sah nunmehr die richterische Brücke Und fühlte schon den Beinbruch halb. „Ja, Vater," fing er an, „der Hund, von dem ich red'te, War groß, und wenn ich ihn auch was vergrößert hätte, So war er doch viel größer als ein Kalb." Die Brücke kommt. Fritz! Fritz! wie wird dir's gehen? Der Vater geht voran; doch Fritz hält ihn geschwind. „Ach, Vater!" spricht er, „seid kein Kind Und glaubt, daß ich dergleichen Hund gesehen; Denn kurz und gut, eh' wir darüber gehen, Der Hund war nur so groß, wie alle Hunde sind." Gellert.

3.

Die Eichel und der Kürbiß.

Sohn! Mit Weisheit und Verstand Ordnete des Schöpfers Hand Alle Dinge. Sieh umher, Keines steht von ungefähr. Wo es steht. Das Firmament, Wo die große Sonne brennt, Und der kleinste Sonnenstaub, Deines Atems leichter Raub, Trat auf Gottes Allmachtswort Jegliches an seinen Ort. Alles ist in seiner Welt Gut und weise; dennoch hält Mancher Thor es nicht dafür Und kunstrichtet Gott in ihr. Solch ein Thor war jener Mann, Den ich dir nicht nennen kann, Der, als er an schwachen Ranken Einen Kürbiß hangen sah,

Den verwegenen Gedanken Hegete: Nein, solche Last Hätt' ich an so schwaches Reis Wahrlich doch nicht aufgehangen! Manchen Kürbiß, gelb und weiß, Reih' an Reih' in gleichem Raum, Hätt' ich wollen lassen prangen Hoch am starken Eichenbaum. Also denkend geht er fort, Kommt ermüdet an den Ort Einer Eiche, lagert sich Längelang in ihren Schatten Und schläft ein.

Die Winde hatten Manche Woche nicht geweht; Aber als er schläft, entsteht Schnell ein Sausen. Starke Weste Schütteln Blätter, Zweig' und Äste,

II.

21

Fabel«, Parabeln, Märchen.

Und vom hohen Gipfel fällt Dem Verbesserer der Welt Eine Eichel auf die Nase.

Da ich unbedachtsam wollte. Daß der Eichbaum eine Frucht Gleich dem Kürbiß tragen sollte! Traf ein Kürbiß mein Gesicht, Ja, dann lebt' ich sicher nicht. O wie dumm hab' ich gedacht! Gott hat alles wohl gemacht!"

Plötzlich rafft er aus dem Grase Sich erschrocken auf; die Nase Blutet, und der kluge Mann Hebt hierauf zu seufzen au: „O wie thöricht war ich nicht.

6.

GUeini.

Die beiden Bauern.

Zwei Bauern, Hein und Kilian, Die nachbarlich auf einen Jahrmarkt stiegen, Durchstrichen einen Wald. Hein ging voran. Jetzt sah er einen Sack mit Geld im Grase liegen; Er rafft ihn gierig auf und steckt ihn lächelnd ein.

„Das war ein schöner Fund, Herr Vetter Hein," Sprach Kilian, „der hilft uns auf die Beine!" „Uns, sagt Ihr? Wie versteht Ihr das? Das rechte Wort ist: Euch!" „Je nun, ich meine, Die Hälfte fei für mich." „Ei Spaß! Der Fisch ist mein, ich hab' ihn ja gefangen!" Rief Hein. Der Vetter ließ die Flügel hangen Und schlich so stumm, als wär' er selbst ein Fisch, Dem neuen Krösus nach: als schnell aus dem Gebüsch Ein paar verwegne Räuber sprangen. Hein klapperte vor Furcht. „Was fangen wir nun an? Wir sind verloren!" „Wir?" sprach Kilian. „Ihr irrt Euch, lieber Spießgeselle! Das rechte Wort ist: Ihr!" Husch flog er ins Gehölz. Hein konnte gar nicht von der Stelle; Die Räuber fielen ihm mit Säbeln auf den Pelz. Geld oder Blut! hieß es. In Todesangst versenket, Gab er den Schatz und obenein sein Kleid. Wer, wenn das Glück ihm lacht, an sich nur denket, Hat keinen Freund in Widerwärtigkeit.

7.

Pfeffer.

Der Reisende.

Ein Wandrer bat den Gott der Götter,

Der Wandrer setzt mit bittrer Klage,

Den Zeus, bei ungestümem Wetter Um stille Luft und Sonnenschein. Umsonst! Zeus läßt sich nicht bewegen; Der Himmel stürmt mit Wind und Regen; Denn stürmisch sollt' es heute sein.

Daß Zeus mit Fleiß die Menschen plage,

Die saure Reise mühsam fort. So oft ein neuer Sturmwind wütet Und schnell ihm stillzustehn gebietet, So oft ertönt ein Lästerwort.

II.

22

Fabeln, Parabeln. Märchen.

Ein naher Wald soll ihn beschirmen; Er eilt, dem Regen und den Stürmen In diesem Holze zu entgehn. Doch eh' der Wald ihn ausgenommen. So sieht er einen Räuber kommen Und bleibt vor Furcht im Regen stehn. Der Räuber greift nach seinem Bogen, Den schon die Nässe schlass gezogen; Er zielt und faßt den Pilger wohl.

Doch Wind und Regen sind zuwider; Der Pfeil fällt matt vor dem darnieder, Dem er das Herz durchbohren soll. „OThor!" läßt Zeus sich zornig hören, „Wird dich der nahe Pfeil nun lehren, Ob ich dem Sturm zu viel erlaubt? Hätt' ich dir Sonnenschein gegeben. So hätte dir der Pfeil das Leben, Das dir der Sturm erhielt, geraubt!" Wellcrt.

8.

Die Wachtel und ihre Kinder.

Hoch wallte das goldene Weizenfeld Und baute der Wachtel ein Wohngezelt. Sie flog einst früh in Geschäften aus Und kam erst am Abend wieder nach Haus. Da rief der Kindlein zitternde Schar: „Ach Mutter, wir schweben in großer Gefahr! Der Herr dieses Feldes, der furchtbare Mann, Ging heut mit dem Sohn hier vorbei und begann: Der Weizen ist reif, die Mahd muß geschehn, Geh, bitte die Nachbarn, ihn morgen zu mähn." „O!" sagte die Wachtel, „dann ist es noch Zeit; Nicht flugs sind die Nachbarn zu Diensten bereit." Drauf flog sie des folgenden Tages aus Und kam erst am Abend wieder nach Haus. Da rief der Kindlein zitternde Schar: „Ach Mutter, wir schweben in großer Gefahr! Der Herr dieses Feldes, der furchtbare Mann, Ging heut mit dem Sohn hier vorbei und begann: Uns ließen die treulosen Nachbarn im Stich; Geh rings nun zu unsern Verwandten und sprich: Wollt ihr meinen Vater recht wohlgemut sehn, So helfet ihm morgen sein Weizenfeld mähn!"

„O!" sagte die Wachtel, „dann ist es noch Zeit; Nicht flugs ist die Sippschaft zur Hülfe bereit." Drauf flog sie des folgenden Tages aus Und kam erst am Abend wieder nach Haus. Da rief der Kindlein zitternde Schar: „Ach Mutter, wir schweben in höchster Gefahr! Der Herr dieses Feldes, der furchtbare Mann, Ging heut mit dem Sohn hier vorbei und begann: Uns ließen auch unsre Verwandten im Stich; Ich rechne nun einzig auf dich und auf mich.

II.

23

fabeln, Parabeln, Märchen.

Wir wollen, wann morgen die Hähne krähn, Selbander uns rüsten, den Weizen zu mähn." „Ja!" sagte die Wachtel, „nun ist's an der Zeit; Macht schnell euch, ihr Kinder, zum Abzug bereit. Wer Nachbarn und Bettern die Arbeit vertraut, Dem wird nur ein Schloß in die Luft hin gebaut; Doch unter dem Streben oer eigenen Hand Erblüht ihm des Werkes vollendeter Stand." Die Wachtel entfloh mit den Kleinen geschwind, Und über die Stoppeln ging tagsdrauf der Wind.

8a»

Die Finger.

Die Finger stritten hin und her, Wer doch der wichtigste wohl wär'. „Still da! Der stärkste, der bin ich; Ihr seid nichts nütze ohne mich. Mehr als ihr vier schass' ich allein, Drum muß ich euer König sein." So schrie der Daumen. Schon geringer Erhob die Stimm' der Zeigefinger: „Die gröbsten und die feinsten Sachen Kann ich allein am besten machen; Der fleißigste und thätigste Bin ich und drum der wichtigste." Der Mittelfinger rief: „Lernt Sitte! Als Herr steh' ich in eurer Mitte; Ich bin der längste und der größte Und darum auch der allerbeste." Stolz sagte der Goldfinger: „Seht,

Langbein.

Ich höre, daß ihr nichts versteht. Mich schmücken Gold und Edelstein, Drum muß ich mehr als ihr doch sein." Der kleine Finger stilleschwieg Und mischte sich nicht in den Krieg. Da riefen ihm die andern zu: „Sprich doch, was nützest denn nur du?" Er sprach: „Geschaffen hat mich Gott, Doch nicht zu eurem Hohn und Spott. Er hat ja alles in der Welt Auf seinen rechten Platz gestellt; Wer thut und leistet, was er kann, Hat immer seine Pflicht gethan." Die andern fühlten tief das Wort Und sprachen alle dann sofort: „Hast wahr gesprochen, lieber Kleiner;

Du bist so gut wie unsereiner." Enslin.

9. Blauveilchen. Ein kleines Blauveilchen

Stand eben erst ein Weilchen Unten im Thal am Bach. Da dacht' es einmal nach Und sprach: „Daß ich hier unten blüh',

Lohnt sich kaum der Müh'; Muß mich überall bücken Und drücken, Bin so ins Niedre gestellt, Sehe gar nichts von der Welt. Drum wär' es ganz gescheit gethan, Ich stieg ein bißchen höher hinan."

Und wie gesagt, so gethan.

Aus dem Wiesenland Mit eigner Hand Zieht es ein Beinchen nach dem andern Hub begiebt sich aufs Wandern. „Drüben der Hügel wär' mir schon recht;

Wenn ich den erreichen möcht', Könnt' ich ein Stückchen weiter sehn; Dahin will ich gehn." Und so im behenden Lauf

Steigt das Veilchen den Hügel hinauf, Pflanzt sich dort oben ein Im schönsten Sonnenschein.

24

II.

Fabeln, Parabeln, Märchen.

Kaum aber hat es hier einenTag gestanden,

Da guckt' ich bis in den Himmel hinein,

Meint es: „Von allen Landen Sieht man hier oben kein großes Stück,

Hörte die Engelein musizieren, Säh'unsern Herrgott die Welt regieren!" Und aus dem Berge, wo es stand, Zieht es wieder mit eigner Hand

Man hat keinen freien Blick; Aber auf jenem Berge dort, Das wär' ein Ort, Wo ich wohl möchte stehn, Um die weite Welt zu sehn. Drum wär' es noch gescheiter gethan, Ich stieg ein bißchen höher hinan." Und wie gesagt, so gethan. Aus dem Hügel, wo es stand, Zieht es mit eigner Hand Ein Beinchen nach dem andern Und begiebt sich aufs Wandern. Doch den Berg hinauf Geht es nicht in so raschem Lauf; Es muß sich erholen, muß öfter ruhn. Endlich mit niedergetretenen Schuhn Auf beschwerlicher Bahn Kommt 's Veilchen oben an,

Pflanzt sich dort wieder ein Im Hellen Sonnenschein. „Ei," spricht es, „hier ist's schön! Aber alles kann man doch nicht sehn; So ein Berg Ist doch nur ein Zwerg. Auf der Alp da droben, Das wär' eher zu loben; Da möcht' ich wohl sein!

Ein Beinchen nach dem andern, Begiebt sich noch einmal aufs Wandern. Die Reise machte diesmal viel Beschwer; Kein Weg, kein Steg war ringsumher; Dem Veilchen flimmert's vor dem Blick, Esschwindelt, es kann nichtwieder zurück; Da setzt es die letzte Kraft noch dran; Zum Tode ermattet kommt's oben an. Ach! da war der Boden von Stein, Es kann mit den Füßen nicht hinein.

Der Wind, der bläst so hart, Das Veilchen vor Frost erstarrt; Es zappelt mit allen Würzlein, Bedeckt sie mit dem grünen Schürzlein, Friert sehr an Händen und Beinen; Da fängt's bitterlich an zu weinen. Die blauen Bäckchen werden weiß, Die Thränen gefrieren darauf zu Eis. „Ach, wär' ich geblieben im Thale dort!" Das war Blauveilchens letztes Wort; Drauf sank es um Und blieb stumm. Hast du im Thal ein sichres Haus, Dann wolle nie zu hoch hinaus! Förster.

10. Die Raupe und der Schmetterling. Freund, der Unterschied der Erdendinge Scheinet groß und ist so oft geringe; Alter und Gestalt und Raum und Zeit Sind ein Traumbild nur der Wirklichkeit.

Träg' und matt auf abgezehrten Sträu­

chen Sah ein Schmetterling die Raupe schlei­ chen Und erhob sich fröhlich, argwohnfrei, Daß er Raupe selbst gewesen sei. Traurig schlich die alternde zum Grabe. „Ach, daß ich umsonst gelebet habe!

Sterbe kinderlos und wie gering! Und da fliegt der schöne Schmetterling." Ängstlich spann sie sich in ihre Hülle,

Schlief, und als der Mutter Lebensfülle Sie erweckte, wähnte sie sich neu. Wußte nicht, was sie gewesen sei. Freund, ein Traumreich ist das Reich

der Erden. Was wir waren, was wir einst noch wer­ den, Niemand weiß es; glücklich sind wir blind; Laß uns eins nur wissen: was wir sind. Herder.

II.

25

Rubeln, Parabeln, Märchen.

11.

Das Wort im Herzen.

Als Abraham, der Erzvater, alt und wohlbetagt war und die Stunde kam, daß er sterben sollte, versammelte er seine Kinder und Kindeskinder um sich her

und segnete sie. Da fragten ihn Isaak, sein Sohn, und Rebekka, seine Schnur, und sprachen: „Mein Vater, du bist ein Pilger gewesen dein Leben lang und umher­ gezogen von Ehaldäa nach Haran und von Haran nach Kanaan und von Kanaan nach Mizraim und von Mizraim nach Kanaan als ein Fremdling in dem Lande der Verheißung und in mancherlei Anfechtung und Fährlichkeiten; sage uns, Va­

ter, was hat dich also gestärkt und geleitet in deiner Pilgerschaft?" Da antwortete Abraham und sprach: „Des Herrn Wort in meinem Herzen". „Und welches ist dieses Wort?" fragten die Kinder. Abraham sprach: „ Das Wort, das er zu mir redete in dem Hain zu Mamre: Ich bin der Allmächtige; wandle vor mir und sei fromm! Es war eine feste Burg in den Tagen der Not, ein Licht auf dunklem Wege und eine Waffe und

Wehr zur Zeit der Gefahr. Und nun wandelt es vor mir her auf der letzten Wanderschaft und zeiget mir aus der Ferne die Stadt, die wohlgegründete, deren

Baumeister und Schöpfer der Herr ist." Da sprachen seine Kinder: „Ich bin der Allmächtige! Ach, wer es so freudig zu fassen vermöchte ..." Abraham aber antwortete und sprach: „Nur, wer des Herrn Tag gesehen und seine Liebe erkannt hat . . Nachdem er diese Worte geredet, neigte er sein Haupt auf das Kissen und Krummacher.

verschied.

12.

König David.

Einst fragte König David Gott den Herrn: „Warum erschufst du Spinnen auch und Fliegen, Die niemals nützen? Ja, sie schaden nur." „Des Bessern will ich dich belehren!" scholl

Ihm aus den Wolken eine Stimme zu. Als David von dem Hügel Hachila Sich wagt" um Mitternacht ins Lager Sauls Und Speis' und Wasserbecher still ihm raubte, Konnt' er aus Abners Füßen, der bei Saul

Im Schlummer lag, den rechten Fuß nicht ziehen; Denn that er's mit Gewalt, so hätt' er Abnern Erweckt und sich in Todesnot gestürzt. Da wollte Gott, daß eine Fliege zart Den Abner stach und er den Fuß zurückzog Fortschlummernd. David floh und dankte Gott. Doch Saul verfolgt' ihn überall, sogar Bis in die Wüste. Sich zu retten, kroch Jetzt David in die fernste Höhle. Gott

Sandt' eine Spinne flugs, die ihr Gewebe Rings um der Höhle niedern Eingang wob.

„Hier ließen ihn die Spinnen nicht hinein!" Rief lachend Saul und ging fürbaß. O Glück! Doch in den Staub sank David hin: „Vergieb! Des Bessern ward ich schnell belehrt, Jehovah! Nie komm' ein Zweifel wieder in mein Herz! Auch Spinn' und Fliege nützen; ich erfuhr's. Was dir zu thun gefällt, ist gut und weise."

13.

Hau§.

Das Samenkorn.

Zwei Wanderer gingen in ein Dorf, und als sie in der Herberge aus­ ruhten , erscholl ein Geschrei: „Es brennt!“ Als nun der eine Wanderer aufsprang zu helfen, sagte der andere: „Wie sollten wir hier verzögern! Sind nicht Hände genug zu helfen? Was kümmert uns die Fremde?“ Aber jener hörte nicht auf solche Rede, sondern lief hinaus eilig zu dem brennenden Hause. Nun folgte ihm der andere und stellte sich von ferne. Vor dem Hause aber stand eine Mutter wie erstarrt und rief: „Meine Kinder! Meine Kinder!“ Als der Fremdling dieses hörte, sprang er in das brennende Haus zwischen die krachenden Balken, und das Volk rief: „Der ist verloren!“ Aber siehe, bald trat jener hervor und trug zwei Kinder auf den Ar­ men und brachte sie der Mutter. Da umarmte sie die Kinder und fiel dem Fremdling zu Füssen. Dieser aber hob sie auf und tröstete sie. Unter­ des stürzte das ganze Gebälk zusammen. Als nun der Fremdling und sein Begleiter wieder zur Herberge gin­ gen, sagte dieser: „Aber wer hiess dich solch kühnes Wagestück begin­ nen?“ Jener antwortete: „Er, der mich heisst das Samenkorn in die Erde legen, dass es verwese und neue Frucht bringe.“ „Aber,“ sagte der an­ dere, „wäre nun das Haus über dir zusammengestürzt ?“ Da antwortete jener lächelnd: „So wäre ich selbst das Samenkorn gewesen!" Krummacher.

13a. Das Rotkehlchen. Ein Rotkehlchen kam in der Strenge des Winters an das Fenster eines

frommen Landmannes, als ob es gern hinein möchte. Da öffnete der Landmann sein Fenster und nahm das zutrauliche Tierchen freundlich in seine Wohnung. Nun pickte es die Brosamen und Krümchen auf, die von seinem Tische fielen. Auch hielten die Kinder des Landmanns das Vöglein lieb und wert. Aber als nun der Frühling wieder ins Land kam und die Gebüsche sich belaubten, da öffnete der Landmann sein Fenster, und der kleine Gast entfloh in das nahe Wäldchen und baute sein Nest und sang sein fröhliches Lied. Und siehe! als der Winter wiederkehrte, da kam das Rotkehlchen abermals in die Wohnung des Landmanns und hatte sein Weibchen mitgebracht. Der Landmann aber und seine Kinder freuten sich sehr, als sie die beiden Tierchen sahen, wie sie mit den klaren Augen

II. zutraulich umherschauten.

Fabeln, Parabeln, Märchen.

Und die Kinder sagten:

27

„Die Bögelchen sehen uns

an, als ob sie etwas sagen wollten." Da antwortete der Vater: „Wenn sie reden könnten, so würden sie sagen: Freundliches Zutrauen erwecket Zutrauen, und Liebe erzeuget Gegenliebe!" Krummacher.

14.

Der Gotteskasten.

Es war einmal ein wohlhabender, angesehener Mann, der hieß Benedictus, das heißet Segenreich. Solchen Namen führte er mit Recht; denn Gott hatte ihn reichlich mit Gütern gesegnet, und alle Welt segnete ihn. Darum suchte er auch jeden zu erfreuen, den Fremdling, wie den Nachbar, besonders die Armen und Notleidenden. Er that es aber folgendermaßen. Wenn er einen frohen Tag gehabt hatte mit seinen Freunden, so ging er in sein Kämmerlein und dachte: „Es sind viele, die keines solchen Tageö sich erfreut haben, und was wäre es, so ich der Gäste noch einmal so viele geladen hätte!" Also legte er von seinem Gelde so viel, als ihm die Mahlzeit gekostet, in eine Lade; die nannte er den Gotteskasten. Desgleichen, wenn er vernahm, daß irgendwo eine Feuersbrunst gewütet, so gab er seinen Beitrag zur Unterstützung der Not­ leidenden reichlich. Darauf sah er sein Haus an und ging in sein Kämmerlein und sprach: „Alles steht bei mir fest und unversehrt," und legte dafür in den

Gotteskasten. Abermals wenn er von Hagelschlag, Wassersnöten und andern Unfällen hörte, legte er dafür in den Gotteskasten. Also auch, wenn ihm kost­ barer Wein und schönes Geräte geboten wurde, so kaufte er davon, jedoch mäßig, so daß sie sein Haus zierten und seine Freunde erfreuten, und ging alsdann in sein Kämmerlein und sprach: „Solches hast du dir kaufen und deinen Vorrat mehren können," und legte in den Gotteskasten; dazu spendete er gern von dem köstlichen Weine, wenn ein Kranker dessen bedurfte. Also that er sein Leben lang. Als er nun sterben sollte, da klagten und weinten die Armen, die Witwen und Waisen und sprachen: „Wer wird sich unser erbarmen, wenn Benedictus von uns scheidet?" Er sprach aber: „Ein guter Hausvater sorget, daß auch dann, wenn er nicht daheim ist, den Kindlein nichts gebreche. So nehmt den Gotteskasteu mit allem, was darinnen ist. Er gehört den Armen, den Witwen und Waisen; teilet da­

von aus und verwaltet es wohl und weislich." Darauf starb er, und es geschah, wie er gesagt hatte. Also bestehet der Gotteskasten seit hundert Jahren zum Troste der Bedürfti­ äiumm^er. gen, und des Mannes Andenken bleibt in Segen.

IS.

Die Pfirsiche.

Ein Landmann brachte aus der Stadt fünf Pfirsiche mit, die schönsten, die man sehen konnte. Seine Kinder aber sahen diese Frucht zum ersten Mal Des­ halb wunderten und freuten sie sich sehr über die schönen Äpfel mit den röt­

lichen Backen und dem zarten Flaum. Darauf verteilte sie der Vater unter seine vier Knaben, und eine erhielt die Mutter.

28

II.

Fabeln, Parabeln, Märchen.

Am Abend, als die Kinder in das Schlafkämmerlein gingen, fragte der Vater: „Nun, wie haben euch die schönen Äpfel geschmeckt?" „Herrlich, lieber Vater," sprach der Älteste. „Es ist eine schöne Frucht, so säuerlich und so sanft von Geschmack. Ich habe mir den Stein sorgsam bewahrt und will mir daraus einen Baum erziehen." „Brav!" sagte der Vater, „das heißt haushälterisch auch für die Zukunft gesorgt, wie es dem Landmann geziemt." „Ich habe die meinige sogleich aufgegessen," rief der Jüngste, „und den Stein fortgeworfen, und die Mutter hat mir die Hälfte von der ihrigen gegeben. O, das schmeckte so süß und zerschmilzt einem im Munde." „Nun," sagte der Vater, „du hast zwar nicht sehr klug, aber doch natürlich und nach kindlicher Weise gehandelt. Für die Klugheit ist auch noch Raum genug im Leben." Da begann der zweite Sohn: „Ich habe den Stein, den der kleine Bruder fortwarf, gesammelt und aufgeklopft. Es war ein Kern darin, der schmeckte so süß wie eine Nuß. Aber meine Pfirsich hab' ich verkauft und so viel Geld da­ für erhalten, daß ich, wenn ich nach der Stadt komme, zwölfe dafür kaufen kann." Der Vater schüttelte den Kopf und sagte: „Klug ist das wohl, aber — kind­ lich wenigstens und natürlich war es nicht. Bewahre dich der Himmel, daß du kein Kaufmann werdest!" „Und du, Edmund?" fragte der Vater. Unbefangen und offen antwortete Edmund: „Ich habe meine Pfirsich dem Sohn unsers Nachbars, dem kranken Georg, der das Fieber hat, gebracht. Er wollte sie nicht nehmen. Da hab' ich

sie ihm auf das Bett gelegt und bin hinweggegaugen." „Nun!" sagte der Vater, „wer hat denn wohl den besten Gebrauch von sei­

ner Pfirsich gemacht?" Da riefen sie alle drei: „Das hat Bruder Edmund gethan!" Edmund aber schwieg still. Und die Mutter umarmte ihn mit einer Thräne im Auge. Krummacher.

16. Die Stellvertreter.

Ein reicher Jüngling zu Rom hatte krank gelegen an einem schweren Übel;

endlich genas er und ward gesund.

Da ging er zum ersten Mal hinaus in den

Garten und war wie neugeboren und voll Freude und lobete Gott mit lauter Stimme. Und er wandte sein Antlitz gen Himmel und sprach: „O du Allgenugsamer; könnte ein Mensch dir etwas vergelten, wie gern wollte ich alle meine

Habe geben!" Solches hörte Hermas, genannt der Hirte, und sprach zu dem reichen Jüng­ ling: „Von oben kommt die gute Gabe; dahin vermagst du nichts zu senden. Komm, folge mir!" Der Jüngling folgte dem frommen Greise, und sie kamen in eine dunkle Hütte. Daselbst war eitel Jammer und Elend; denn der Vater war krank, und die Mutter weinete; die Kinder aber waren nackend und schrieen nach Brot. Da erschrak der Jüngling; Hermas aber sprach: „Siehe hier einen Altar für

dein Opfer! Siehe hier des Herrn Brüder und Stellvertreter!"

II.

29

gabeln, Parabeln, Märchen.

Da that der reiche Jüngling seine Hand über sie auf und gab ihnen reichlich und pflegte des Kranken. Und die erquickten Armen segneten ihn und nannten ihn einen Engel Gottes. Hermas aber lächelte und sprach: „So wende du innner dein dankbares Ant­ litz erst gen Himmel und dann zur Erde." Kiulninacher.

17. Das Weizenkorn. Seht einmal dies Körnlein an! Es ist ein Weizenkorn und ein bißchen Mehl, aber kein Leben darin, wie es scheint. Legt's ins Land und thut ein wenig Erde

darauf, so scheint's gar tot und begraben. Nun laßt aber des lieben Gottes Sonne darauf scheinen und seinen Tau darauf fallen: da wird's nicht lange säu­ men, sondern bald mit einem roten Häubchen und grünen Wämschen über sein Grab hinausäugeln; und wenn alles gnt geht, wird es mit der Zeit ein stattlicher Halm werden und oben daran eine krause Ähre mit dreißig, vierzig, fünfzig sol­ cher Körnlein. So hättet ihr schon, wenn's gemahlen wäre, einen Beitrag zu einem Milchbrötchen. Aber es geht nun alle Rechenkunst an diesem Exempel zu Grunde. Denn, gebt acht, jetzt sagt dies Körnlein: „Einmal eins ist eins!" und da hat's recht; und, gebt acht, wenn's so gegangen ist, wie gesagt, und es ist eine Ähre daraus worden, so spricht's: „Einmal eins ist dreißig, vierzig!" und da hat's abermals recht; aber mit der Rechenkunst ist's aus und vorbei. Im Himmel, Kinder, ist ein viel anderes Rechnen als auf Erden, und unser lieber Herr, da er auf Erden wandelte, hat auch ganz anders gezählt und gerech­ net als die anderen Menschen. Denkt ihr an die zwei Scherflein, die da machen einen Heller? Als die Witib sie hineinlegte, sagte er, sie habe mehr gegeben als alle, die vor ihr eingeleget. Wenn ihr's noch nicht begreifet, so werdet ihr es

mit der Zeit schon verstehen lernen. Alles hat seine Zeit. Aber seht euch doch noch einmal das Weizenkörnlein an. Sieht's nicht aus wie Gold? Wie, wenn's Gold wäre, und alle Weizen- und Roggenkörnlein wä­ ren Gold und trügen eitel goldene Ähren, wenn man sie säete! Ei, das wäre eine schöne Sache, wenn euch hungerte, und ihr hättet die harten Goldkörner zwi­ schen den Zähnen! Nein, ein Weizenkörnlein ist besser: es ist ein Leben darin und kann wachsen und gedeihen und viel Frucht bringen. Legt ihr dies Körnlein in ein gut Land, so bringt's, wie gesagt, eine Ähre mit vielen Körnlein; und neh­

met ihr diese und macht's wieder so, bekommt ihr mit der Zeit ein ganz Acker­ feld; und so könnte es fortgehen bis ans Ende der Welt, und hättet bald nicht Säcke genug, den Weizen zu lasseu. Schaut ihr nun, warum unser Herr sein Wort nicht mit Gold und Silber, sondern mit einem Weizenkorn vergleicht? „Das aber in ein gutes Land fiel, trug Frucht, etliches hundertfältig, etliches sechzigfältig, etliches dreißigfältig." Krum macher.

17a. Das Totenhemdchen. Es hatte eine Mutter ein Büblein von sieben Jahren. Das war so^schön und lieblich, daß es niemand ansehen konnte, ohne ihm gut zu sein, und sie hatte es auch lieber als alles auf der Welt. Nun geschah es, daß es plötzlich krank

n. Fabeln, Parabeln, Märchen.

30

ward und der liebe Gott es zu sich nahm. Darüber konnte sich die Mutter nicht trösten und weinte Tag und Nacht. Bald darauf aber, nachdem es begraben war, zeigte sich das Kind nachts an den Plätzen, wo es sonst im Leben geseffen und gespielt hatte. Weinte die Mutter, so weinte es auch, und wenn der Morgen kam, war es verschwunden. Als aber die Mutter garnicht aufhören wollte zu weinen, kam es in einer Nacht mit seinem weißen Totenhemdchen, in welchem es in den Sarg gelegt war, und mit dem Kränzchen auf dem Kopf, setzte sich zu ihren Füßen auf das Bett und sprach: „Ach Mutter, höre doch auf zu weinen! Sonst kann ich in meinem Sarge nicht einschlafen; denn mein Totenhemdchen wird nicht trocken von deinen Thrä­ nen, die alle darauf fallen. Da erschrak die Mutter, als sie das hörte, und weinte nicht mehr. Und in der andern Nacht kam das Kindchen wieder, hielt in der Hand ein Lichtchen und sagte: „Siehst du? Nun ist mein Hemdchen bald trocken, und ich habe Ruhe in meinem Grabe." Da befahl die Mutter dem lieben Gott ihr Leid und ertrug es still und geduldig. Das Kind aber kam nicht wieder, sondern schlief in seinem unterirdi­ schen Bettchen.

Grimm.

18.

Die Riesen und die Zwerge.

Es ging die Riesentochter, zu haben einen Spaß, Herab vom hohen Schlosse, wo Vater Riese saß. Da fand sie in dem Thale die Ochsen und den Pflug, Dahinter auch den Bauern; der schien ihr klein genug. Die Riesen und die Zwerge! Pflug, Ochsen und der Bauer, es war ihr nicht zu groß; Sie faßt's in ihre Schürze und trug's aufs Riesenschloß. Da fragte Vater Riese: „Was hast du, Kind, gemacht?" Sie sprach: „Ein schönes Spielzeug hab' ich mir hergebracht."

Die Riesen und die Zwerge! Der Vater sah's und sagte:

„Das ist nicht gut, mein Kind!

Thu' es zusammen wieder an seinen Ort geschwind! Wenn nicht das Volk der Zwerge schafft mit dem Pflug im Thal, So darben auf dem Berge die Riesen bei dem Mahl."

Rücken.

Die Riesen und die Zwerge!

19.

Der betrogene Teufel.

Die Araber hatten ihr Feld bestellt; Da kam der Teufel herbei in Eil'; Er sprach: „Mir gehört die halbe Welt, Ich will auch von eurer Ernte mein

Teil." Die Araber aber sind Füchse von Haus; Sie sprachen: „Die untere Hälfte seidein." Der Teufel will allezeit oben hinaus;

„Nein," sprach er, „es soll die obere sein!"

Da bauten sie Rüben in einem Strich. Und als es nun an die Teilung ging, Die Araber nahmen die Wurzeln für sich, Der Teufel die gelben Blätter empfing. Und als es wiederum ging ins Jahr, Da sprach der Teufel in hellem Zorn: „Nun will ich die untere Hälfte fürwahr!" Da bauten die Araber Weizen und Korn.

II.

Fabeln, Parabeln, Märchen.

Und als cs wieder zur Teilung kam, Die Araber nahmen den Ährenschnitt,

20.

Denn, war man faul, man legte sich Hin aus die Bank und pflegte sich; Da kamen bei Nacht, Ehe man's gedacht, Die Männlein und schwärmten Und klappten und lärmten Und rupften Und zupften Und hüpften und trabten Und putzten und schabten. Und eh' ein Faulpelz noch erwacht, War all' sein Tagewerk bereits gemacht. Die Zimmerleute streckten sich Hin auf die Spän' und reckten sich; Indessen kam die Geisterschar Und sah, was da zu zimmern war; Nahm Meißel und Beil Und die Säg' in Eil'. Sie sägten und stachen Und hieben und brachen, Berappten Und kappten, Visierten wie Falken Und setzten die Balken. Eh' sich's der Zimmermann versah, Klapp, stand das ganze Haus schon fertig da! Beim Bäckermeister war nicht Not, Die Heinzelmännchen backten Brot.

faulen Burschen legten sich, Heinzelmännchen regten sich ächzten daher den Säcken schwer! kneteten tüchtig wogen es richtig

Und hoben Und schoben Und fegten und backten

Der Teufel Die leeren Stoppeln nahm Und heizte der Hölle Ofen damit. Rückert.

Die Heinzelmännchen.

Wie war zu Köln es doch vordem Mit Heinzelmännchen so bequem!

Die Die Und Mit Und Und

31

Und klopften und hackten. Die Burschen schnarchten noch im Chor, Da rückte schon das Brot, das neue, vor. Beim Fleischer ging es just so zu; Gesell und Bursche lag in Ruh. Indessen kamen die Männlein her Und hackten das Schwein die Kreuz und

Quer; Das ging so geschwind Wie die Mühl' im Wind. Die klappten mit Beilen, Die schnitzten an Speilen, Die spülten, Die wühlten Und mengten und mischten Und stopften und wischten. That der Gesell die Augen auf, Wupp! hing die Wurst schon da im Aus­

verkauf ! Beim Schenken war es so: es trank Der Küfer, bis er niedersank; Am hohlen Fasse schlief er ein. Die Männlein sorgten um den Wein

Und Alle Und Mit Und Und Und Und Und War

schwefelten fein Fässer ein rollten und hoben Winden und Kloben schwenkten henkten gossen und panschten mengten und manschten. eh' der Küfer noch erwacht, schon der Wein geschönt und fein

gemacht. Einst hatt' ein Schneider große Pein; Der Staatsrock sollte fertig sein; Warf hin das Zeug und legte sich Hin auf das Ohr und Pflegte sich. Da schlüpften sie frisch Auf den Schneidertisch

32

II.

Fabeln, Parabeln, Märchen.

Und schnitten und rückten Und Und Und Und Und Und War

nähten und stickten faßten paßten strichen und guckten zupften und ruckten. eh' mein Schneiderlein erwacht, Bürgermeisters Rock bereits ge­

macht. Neugierig war des Schneiders Weib Und macht sich diesen Zeitvertreib: Streut Erbsen hin die ganze Nacht. Die Heinzelmännchen kommen sacht; Eins fährt nun aus, Schlägt hin im Haus; Sie gleiten von Stufen Und plumpen in Kufen, Sie fallen Mit Schallen, Sie lärmen und schreien

21.

Und vermaledeien! Sie springt hinunter auf den Schall Mit Licht: husch, husch, husch, husch, verschwinden all'!

O weh, nun sind sie alle fort, Und keines ist mehr hier am Ort! Man kann nicht mehr wie sonsten ruhn, Man muß nun alles selber thun! Ein jeder muß fein Selbst fleißig sein Und kratzen und schaben Und rennen und traben Und schniegeln Und bügeln Und klopfen und hacken Und kochen und backen. Ach, daß es noch wie damals wär'! Doch kommt die schöne Zeit nicht wieder­ her! Kopiscb.

Die wandelnde Glocke.

Es war ein Kind, das wollte nie Zur Kirche sich bequemen, Und Sonntags fand es stets ein Wie,

Den Weg ins Feld zu nehmen. Die Mutter sprach: „Die Glocke tönt,

Doch welch ein Schrecken hinterher! Die Glocke kommt gewackelt. Sie wackelt schnell, man glaubt es kaum; Das arme Kind im Schrecken,

Es läuft, es kommt als wie im Traum; Die Glocke wird es decken. Doch nimmt es richtig seinen Husch,

Und so ist dir's befohlen; Und hast du dich nicht hingewöhnt, Sie kommt und wird dich holen." Das.Kind, es denkt: Die Glocke hängt

Und mit gewandter Schnelle Eilt es durch Anger, Feld und Busch

Da droben auf dem Stuhle. Schon hat's den Weg ins Feld gelenkt,

Zur Kirche, zur Kapelle. Und jeden Sonn- und Feiertag

Als lief es aus der Schule. Die Glocke, Glocke tönt nicht mehr, Die Mutter hat gefackelt.

Gedenkt es an den Schaden, Läßt durch den ersten Glockenschlag,

Nicht in Person sich laden. Goethe.

21a. Die Roßtrappe. Vor tausend und mehr Jahren, ehe noch die Raubritter ihre Burgen er­ bauten, war das Land rings um den Harz von Riesen bewohnt, die Heiden und Zauberer waren und Raub, Mord und Gewaltthat übten. Sechzigjährige Eichen rissen sie samt den Wurzeln aus und fochten damit; was sich entgegenstellte, wurde mit Keulen niedergeschlagen. Einer dieser Riesen, Bodo, warb um die Tochter eines Königs in Böhmen, welche Emma hieß. Aus Furcht vor des Riesen Macht

II.

Fabeln, Parabeln, Märchen.

33

und Stärke sagte sie ihm der König zu. Weil sie aber schon einen andern Lieb­

haber halte, der aus dem Stamme der Menschen war, so widersetzte sie sich dem Bräu'.igam und dem Befehle ihres Vaters. Der aufgebrachte König wollte Ge­ walt gebrauchen und setzte die Hochzeit gleich auf den nächsten Tag fest. Mit weinenden Augen klagte sie das ihrem Geliebten, der zu schneller Flucht riet und sich ir. der finstern Nacht einstellte, die getroffene Verabredung ins Werk zu setzen. Es hielt aber schwer zu entfliehen; die Marställe des Königs waren verschlossen

und alle Stallmeister ihm treu und ergeben. Zwar stand des Niesen ungeheurer Rappe in einem für ihn besonders erbauten Stalle; wie sollte aber eine schwache

Frauenhand das mehr denn zehn Ellen hohe Untier leiten, und wie war ihm beizukommen, da es an einer gewaltig dicken Kette lag, die ihm statt einer Halfter diente und mit einem großen Schlosse verwahrt war, dessen Schlüssel der Niese bei sich trug? Der Geliebte aber half aus.: er stellte eine Leiter ans Pferd und hieß die Königstochter hinaufsteigen; dann that er einen mächtigen Schwerleshieb

auf die Kette, daß sie voneinauderspraug, und schwang sich selbst hinten auf. Von den Sporen getrieben, flog das Roß über Berge, Klippen und Wälder durch Thüringen in die Gebirge des Harzes. Die kluge Jungfrau hatte ihre Kleinodien mitgenommen, dazu ihres Vaters goldene Krone aufs Haupt gesetzt. Während sie nun forteilten, fiel's dem Riesen ein, in dieser Nacht auszureiten. Der Mond schien hell, und er stand auf, sein Roß zu satteln. Erstaunt sah er den Stall leer: es gab Lärm im ganzen Schlosse, und als man die Königstochter aufwecken

wollte, war sie auch verschwunden. Ohne sich lange zu besinnen, bestieg der Bräu­ tigam das erste beste Pferd und jagte über Stock und Block. Ein großer Spür­ hund witterte den Weg, den die Verliebten genommen hatten; nahe am Harzwalde kam der Riese hinter sie. Da hatte aber auch die Jungfrau den Verfolger er­ blickt, wandte den Rappen flugs und sprengte waldein, bis der Abgrund, in wel­ chem die Bode fließt, ihren Weg durchschnitt. Angstvoll blickte Emma in die Tiefe;

denn mehr als tausend Fuß ging senkrecht die Felsenmauer hinab. Der entge­ genstehende Fels schien noch entfernter und kaum Raum zu haben für einen Vor­ derfuß des Rosses. Der Rappe stutzt einen Augenblick; da stößt sie ihm mutig die ellenlangen Sporen in die Seite, und das Roß sprang über den Abgrund glücklich auf die spitze Klippe und schlug seinen Huf vier Fuß tief in das harte Gestein, daß die Funken stoben.

Das ist die Roßtrappe. Die Zeit hat die Ver­

Emma war

tiefung kleiner gemacht, aber kein Regen kann sie ganz verwischen.

gerettet, aber die centnerschwere Königskrone siel während des Sprunges von ihrem Haupte in die Tiefe. Bodo, in blinder Hitze nachsetzend, stürzte wegen seiner

Schwere in den Strudel und gab dem Flusse den Namen. Die Bode nämlich ergießt sich mit der Emme in die Saale. Im Kessel der Bode liegt die Krone

noch heutzutage, von einem großen Hunde mit glühenden Augen bewacht. Schwim­ mer, die der Gewinn geblendet, haben sie mit eigener Lebensgefahr aus der Tiefe zu holen gesucht, aber bei der Rückkehr ausgesagt, daß es vergebens sei; der große Hund sinke immer tiefer, sobald sie ihm nahe kämen, und die goldene Krone sei

nicht mehr zu erlangen. Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb.

Grimm. 5. Ausl.

3

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II.

Fabeln, Parabeln, Märchen.

22. Dornröschen. Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag: „Ach wenn wir doch ein Kind hätten!" und kriegten immer keins. Da trug es sich zu, als die Königin einmal im Bade saß, daß ein Frosch aus dem Wasser aus Land

kroch und zu ihr sprach: „Dein Wunsch wird erfüllt werden, und du wirst eine Tochter zur Welt bringen." Was der Frosch ausgesagt hatte, das geschah, und die Königin gebar ein Mädchen, das war so schön, daß der König vor Freude sich nicht zu lassen wußte und ein großes Fest ansteüte. Er ladete nicht bloß seine Verwandten, Freunde und Bekannten, sondern auch die weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kinde hold und gewogen würden. Es waren ihrer dreizehn in seinem Reiche; weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, von welchen sie essen

sollten, konnte er eine nicht einladen. Die geladen waren, kamen, und als das Fest vorbei war, beschenkten sie das Kind mit ihren Wundergaben, die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, die dritte mit Reichtum und so mit allem, was herrliches auf der Welt ist. Als elfe ihre Wünsche eben gethan hatten, kam die dreizehnte herein, die nicht geladen war und sich dafür rächen wollte. Sie rief: „Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahre an einer Spindel stechen und tot hinfallen." Da trat die zwölfte hervor, die noch einen Wunsch übrig hatte; zwar konnte sie den bösen Ausspruch nicht aufheben, aber sie konnte ihn doch mildern und sprach: „Es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundert­ jähriger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt."

Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück gerne bewahren wollte, ließ den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im ganzen Königreiche sollten ab­

geschafft werden. An dem Mädchen aber wurden die Gaben der weisen Frauen sämtlich erfüllt; denn es war schön, sittsam, freundlich und verständig, daß es jedermann, der es ansah, liebhaben mußte. Run geschah es, daß an dem Tage, wo es gerade fünfzehn Jahre alt ward, der König und die Königin nicht zu Haus waren und das Mädchen ganz allein im Schloß zurückblieb. Da ging es aller Orten herum, besah Stuben und Kammern, wie es Lust hatte, und kam endlich

auch an einen alten Turm. Es stieg eine enge Treppe hinauf und gelangte zu einer kleinen Thür. In dem Schloß steckte ein verrosteter Schlüssel, und als es

den umdrehte, sprang die Thür auf, und saß da in einem kleinen Stübchen eine alte Frau und spann emsig ihren Flachs. „Ei, du altes Mütterchen," sprach die Königstochter, „was machst du da?" „Ich spinne," sagte die Alte und nickte' mit

dem Kopf.

„Wie das Ding so lustig herumspringt!" sprach das Mädchen, nahm

die Spindel und wollte auch spinnen.

Kaum hatte sie die Spindel angerührt,

so ging der Zauberspruch in Erfüllung, und sie stach sich damit.

In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auch nieder in einen tiefen Schlaf. Und der König und die Königin, die eben zurückgekommen

waren, fingen an mit dem ganzen Hofstaat einzuschlafen. Da schliefen auch die Pferde im Stall ein, die Hunde im Hofe, die Tauben auf dem Dache, die Flie­ gen an der Wand, ja das Feuer, das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der den Küchen-

II.

Fabeln, Parabeln, Märchen.

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jungen, weil er etwas versehen hatte, in den Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief, und der Wind legte sich, und auf dem Baum vor dem Schloß regte

sich kein Blättchen mehr. Rings um das Schloß aber begann eine Dornhecke zu wachsen, die jedes Jahr höher ward und endlich das ganze Schloß umzog und darüber hinauswuchs, daß gar nichts mehr, selbst nicht die Fahnen auf den Dächern, zu sehen war. Es ging aber die Sage in dem Land von dem schönen, schlafenden Dornröschen, denn so wurde die Königstochter genannt, also daß von Zeit zu Zeit Königssöhne kamen und durch die Hecke in das Schloß dringen wollten. Es war ihnen aber nicht möglich; denn die Äste hielten sich, als hätten sie Hände, zusammen, und die Jünglinge blieben in den Dornen hängen und starben jämmerlich. Nach lan­ gen, langen Jahren kam wieder ein Königssohn durch das Land; dem erzählte ein alter Mann von der Dornhecke, es sollte ein Schloß dahinter stehen, in wel­ chem eine wunderschöne Königstochter, Dornröschen genannt, schliefe, und mit ihr schliefe der ganze Hofstaat. Er erzählte auch, daß er von seinem Großvater ge­ hört, wie viele Königssöhne schon versucht hätten, durch die Dornhecke zn dringen, aber darin hängengeblieben und eines traurigen Todes gestorben wären. Da sprach der Jüngling: „Das soll mich nicht abschrecken: ich will hindurch und das schöne Dornröschen sehen." Der Alte mochte ihm abraten, wie er wollte, er

hörte gar nicht darauf. Nun waren aber gerade an dem Tag, wo der Königssohn kam, die hundert Jahre verflossen. Und als er sich der Dornhecke näherte, waren es lauter große, schöne Blumen; die thaten sich von selbst auseinander, daß er unbeschädigt hin­ durchging; und hinter ihm thaten sie sich wieder als eine Hecke zusammen Er kam ins Schloß; da lagen im Hofe die Pferde und scheckigen Jagdhunde und schliefen; auf dem Dache saßen die Tauben und hatten die Köpfchen unter die

Flügel gesteckt. Und als er ins Haus kam, schliefen die Fliegen an der Wand, der Koch in der Küche hielt noch die Hand, als wollte er'den Jungenanpacken, und die Magd saß vordem schwarzen Huhn, das sollte gerupft werden.

Da ging

er weiter und sah im Saale den ganzen Hofstaat liegen und schlafen, und oben auf dem Throne lagen der König und die Königin. Da ging er noch weiter, und alles war so still, daß einer seinen Atem hören konnte, und endlich kam er zu

dem Turme und öffnete die Thür zu der kleinen Stube, in welcher Dornröschen schlief. Da lag es und war so schön, daß er die Augen nicht abwenden konnte, und er bückte sich und gab ihm einen Kuß. Wie er es mit dem Kuß berührt hatte, schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte und blickte ihn ganz freundlich an. Da gingen sie zusammen hinab, und der König erwachte und die Königin

und der ganze Hofstaat und sahen einander mit großen Augen an.

Und die

Pferde im Hofe standen auf und rüttelten sich; die Jagdhunde sprangen und we­ delten; die Tauben auf dem Dach zogen das Köpfchen unterm Flügel hervor, sa­ hen umher und flogen ins Feld; die Fliegen an den Wänden krochen weiter; das Feuer in der Küche erhob sich, flackerte und kochte das Essen; upd der Braten brutzelte fort, und der Koch gab dem Jungen eine Ohrfeige, daß er schrie; und die Magd rupfte das Huhn fertig.

Und da wurde die Hochzeit des Königssohnes 3 *

II.

36

fabeln, Parabeln, Märchen.

mit dem Dornröschen in aller Pracht gefeiert, und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende. Grimm.

23.

Der Arme und der Reiche.

Vor alten Zeiten, als die Engel noch auf Erden unter den Menschen wan­

delten, trug es sich zu, daß einer eines Abends müde war und ihn die Nacht überfiel, ehe er zu einer Herberge kommen konnte. Nun standen auf dem Wege vor ihm zwei Häuser einander gegenüber, das eine groß und schön, das andere klein und ärmlich anzusehen, und gehörte das große einem reichen, das kleine einem armen Manne. Da dachte der Engel: „Dem Reichen werde ich nicht be­ schwerlich fallen, bei ihm will ich anklopsen." Der Reiche, als er an seine Thür klopfen hörte, machte das Fenster auf und fragte den Fremdling, was er suche. Der Engel antwortete: „Ich bitte nur um ein Nachtlager." Der Reiche guckte den Wandersmann vom Haupt bis zu den Füßen au, und weil der Engel schlichte Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hätte, schüt­ telte er mit dem Kopf und sprach: „Ich kann euch nicht aufnehmen; meine Kam­ mern liegen voll Kräuter und Samen, und sollte ich einen jeden beherbergen, der an meine Thür klopft, so könnte ich selber den Bettelstab in die Hand neh­ men; sucht anderswo ein Unterkommen!" schlug damit sein Fenster zu und ließ den Engel stehen. Also kehrte ihm der Engel den Rücken, ging hinüber zu dem kleinen Haus und klopfte an. Kaum hatte er angeklopft, klinkte der Arme schon sein Thürchen auf und bat den Wandersmann einzutreten und bei ihm die Nacht über zu bleiben. weiterkommen."

„Es ist schon finster," sagte er, „und heute könnt ihr doch nicht Das gefiel dem Engel, und er trat zu ihm ein; die Frau des

Armen reichte ihm die Hand, hieß ihn willkommen und sagte, er möchte sich's be­ quem machen und vorlieb nehmen; sie hätten nicht viel, aber was es wäre, gäben sie von Herzen gerne. Dann setzte sie Kartoffeln ans Feuer, und derweil sie kochten, melkte sie ihre Aiege, damit sie ein bißchen Milch dazu hätten. Und als der Tisch gedeckt war, setzte sich der Engel zu ihnen und aß mit, und schmeckte

ihm die schlechte Kost gut; denn es waren vergnügte Gesichter dabei. Wie sie gegessen hatten und Schlafenszeit war, rief die Frau heimlich ihren Mann und

sprach: „Hör', lieber Mann, wir wollen uns heute Nacht eine Streu machen, damit der arme Wanderer sich in unser Bett legen und ausruhen kann; er ist den ganzen Tag über gegangen, da wird einer müde." „Von Herzen gern," ant­ wortete er, „ich will's ihm anbieten," ging zu dem Engel und bat ihn, wenn's ihm recht wäre, möchte er sich in ihr Bett legen und seine Glieder ordentlich

ausruhen. Der Engel wollte den beiden Alten ihr Lager nicht nehmen, aber sie ließen nicht ab, bis er es endlich that und sich in ihr Bett legte; sich selbst aber machten sie eine Streu auf der Erde. Am andern Morgen standen sie vor Tag schon auf und kochten dem Gast ein Frühstück, so gut sie es hatten. Als nun die Sonne durchs Fensterlein schien und der Engel aufgestanden war, aß er wie­

der mit ihnen und wollte dann seines Weges ziehen. Als er in der Thür stand, sprach er: „Weil ihr so mitleidig und fromm seid, so wünscht euch dreierlei; das will ich euch erfüllen." Da sagte der Arme: „Was soll ich mir sonst wünschen als die ewige Seligkeit, und daß wir zwei, so lang wir leben, gesund sind und

II.

Fabeln, Para beln, Märchen.

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unser notdürftiges tägliches Brot haben; fürs dritte weiß ich mir nichts zu wün­ schen." Der Engel sprach: „Willst du dir nicht ein neues Haus für das alte wünschen?" Da sagte der Mann, ja, wenn das ginge, wär's ihm wohl lieb. Nun erfüllte der Engel ihre Wünsche und verwandelte ihr altes Haus in ein schönes neues; und als das geschehen war, verließ er sie und zog weiter. Als es voller Tag war, der Reiche aufstand und sich ins Fenster legte, sah

er gegenüber ein schönes neues Haus da, wo sonst eine alte Hütte gestanden hatte. Da machte er Augen, rief seine Frau und sprach: „Frau, sieh einmal,

wie ist das zugegangen? Gestern Abend stand dort eine elende Hütte, und nun lst's ein schönes Haus; lauf doch einmal hinüber und höre, wie das gekommen ist." Die Frau ging hin und fragte den Armen aus; der erzählte ihr: „Gestern Abend kam ein Wandrer, der suchte Nachtherberge, und heute Morgen beim Ab­ schied hat er uns drei Wünsche gewährt: die ewige Seligkeit, Gesundheit in die­ sem Leben und das notdürftige tägliche Brot dazu und statt unsrer alten Hütte ein schönes, neues Haus." Als die Frau des Reichen das gehört hatte, lief sie fort und erzählte ihrem Manne, wie es gekommen war. Der Mann sprach: „Ich möchte mich zerreißen und zerschlagen; hätte ich das nur gewußt! Der Fremde ist auch bei mir gewesen; ich habe ihn aber abgewiesen." „Eil' dich," sprach die Frau, „und setze dich auf ein Pferd; der Mann ist noch nicht weit; du mußt ihn einholen und dir auch drei Wünsche gewähren lassen." Da setzte sich der Reiche auf und holte den Engel ein, redete fein und lieb­ lich zu ihm und sprach, er möcht's doch nicht übel nehmen, daß er ihn nicht gleich eingelassen; er hätte den Schlüssel zur Hausthür gesucht, derweil wäre er weg­ gegangen; wenn er des Weges znrückkäme, müßte er bei ihm einkehren. „Ja," sprach der Engel, „wenn ich einmal zurückkomme, will ich es thun." Da sagte der Reiche, ob er nicht auch drei Wünsche thun dürfte wie sein Nachbar. Ja,

sagte der Engel, das dürfe er wohl, es wäre aber nicht gut für ihn, und er sollte sich lieber nichts wünschen. Der Reiche aber meinte, er wolle sich schon etwas Gutes aussuchen, wenn es nur gewiß erfüllt würde. Sprach der Engel: „Reit' nur heim, und drei Wünsche, die du thust, die sollen erfüllt werden." Nun hatte der Reiche, was er wollte, ritt heimwärts und besann sich, was

er sich wünschen sollte.

Wie er so nachdachte und die Zügel fallen ließ, fing das

Pferd an zu springen, daß er immerfort in seinen Gedanken gestört wurde und sie gar nicht zusammenbringen konnte. Da ward er über das Pferd ärgerlich

und sprach in Ungeduld: „So wollt' ich, daß du den Hals zerbrächst!" und wie er das Wort ausgesprochen hatte, plump, fiel das Pferd auf die Erde und lag tot und regte sich nicht mehr; und war der erste Wunsch erfüllt.

Weil er aber-

geizig war, wollte er das Sattelzeug nicht im Stich lassen, schnitt's ab, hing's

auf den Rücken und mußte nun zu Fuß nach Haus gehen; doch tröstete er sich, daß ihm ja noch zwei Wünsche übrig wären. Wie er nun dahinging durch den Sand, und als zu Mittag die Sonne heiß brannte, ward's ihm so warm und verdrießlich zu Mut; der Sattel drückte ihn dabei auf den Rücken; auch war

ihm noch immer nicht eingefallen, was er sich wünschen sollte. „Wenn ich mir auch alle Reiche und alle Schätze der Welt wünsche," dachte er bei sich selbst, „so

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II.

Fabeln, Parabeln, Märchen.

habe ich hernach doch noch allerlei Wünsche, dieses und jenes, das weiß ich im voraus. Ich will aber meinen Wunsch so einrichten, daß mir gar nichts mehr übrig bleibt, wonach ich noch Verlangen hätte." Meinte er, diesmal hätte er et­ was, so schien's ihm hernach doch viel zu wenig und gering. Da kam ihm so in die Gedanken, was es doch seine Frau jetzt gut habe; die sitze daheim in einerkühlen Stube und lasse sich's wohl schmecken. Das ärgerte ihn ordentlich, und

ohne daß er’s wußte, sprach er so hin: „Ich wollte, sie säße daheim auf dem Sattel und könnte nicht herunter, statt daß ich ihn da mit mir auf dem Rücken schleppe." Und wie das letzte Wort aus seinem Munde kam, so war der Sattel von seinem Rücken verschwunden, und er merkte, daß sein zweiter Wunsch auch in Erfüllung gegangen war. Da ward ihm erst recht heiß, und er fing an zu laufen und wollte sich daheim ganz einsam hinsetzen und auf was Großes für den letzten Wunsch nachdenken. Wie er aber ankommt und seine Stubenthür aufmacht, sitzt da seine Frau mitten drin auf dem Sattel und kann nicht herun­ ter, jammert und schreit. Da sprach er: „Gieb dich zufrieden; ich will dir alle Reichtümer der Welt herbeiwünschen, nur bleib' da sitzen." Sie antwortete aber: „Was helfen mir alle Reichtümer der Welt, wenn ich auf dem Sattel sitze; du hast mich darauf gewünscht, du mußt mir auch wieder herunterhelfen." Er mochte wollen oder nicht, er mußte den dritten Wunsch thun, daß sie vom Sattel ledig wäre und heruntersteigen könnte; und der ward auch erfüllt. Also hatte er nichts davon als Ärger, Mühe und ein verlornes Pferd. Die Armen

aber lebten vergnügt, still und fromm bis an ihr seliges Ende.

Grimm.

24. Frau Holle. Eine Witwe hatte zwei Töchter; davon war die eine schön und fleis­ sig, die andere hässlich und faul. Sie hatte aber die hässliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere musste alle Arbeit thun und war recht der Aschenputtel im Hause. Sie musste sich täglich hinaus auf die grosse Strasse bei einem Brunnen setzen und so viel spinnen, dass ihr das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, dass die Spule einmal ganz blutig war; da bückte sie sich damit in den Brunnen und wollte sie abwaschen; sie sprang ihr aber aus der Hand und fiel hinab. Weinend lief sie zur Stiefmutter und erzählte ihr das Unglück; die schalt so heftig und war so unbarmherzig, dass sie sprach: „Hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol’ sie auch wieder herauf.“ Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück und wusste nicht, was sie anfangen sollte, und sprang in ihrer Angst in den Brunnen hinein. Als sie erwachte und wieder zu sich selber kam, war sie auf einer schönen Wiese; da schien die Sonne und waren viel tausend Blumen. Auf der Wiese ging sie fort und kam zu einem Backofen, der war voll Brot; das Brot aber rief: „Ach, zieh mich 'raus! Zieh mich 'raus, sonst verbrenn’ ich; ich bin schon längst ausgebacken!“ Da trat sie fleissig hinzu und holte alles heraus. Danach ging sie weiter und kam zu einem Baum, der hing voll Äpfel und rief ihr zu: „Ach, schüttle mich! Schüttle mich! Wir Äpfel sind alle mitein-

II.

Fabeln, Parabeln, Märchen.

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ander reif.“ Da schüttelte sie den Baum, dass die Äpfel fielen, als reg­ neten sie, so lange bis keiner mehr da war; danach ging sie wieder fort. Endlich kam sie zu einem kleinen Hause, daraus guckte eine alte Frau; weil sie aber so grosse Zähne hatte, ward ihr angst, und sie wollte fort­ laufen. Die alte Frau aber rief ihr nach: „Fürcht’ dich nicht, liebes Kind, bleib’ bei mir; wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich thun willst, so soll dir’s gut gehen; nur musst du achtgeben, dass du mein Bett gut machst und es fleissig aufschüttelst, dass die Federn fliegen; dann schneiet es auf der Welt; ich bin die Frau Holle.“ Weil die Alte so gut ihr zu­ sprach, willigte das Mädchen ein und begab sich in ihren Dienst. Sie be­ sorgte auch alles nach ihrer Zufriedenheit und schüttelte ihr das Bett im­ mer gewaltig auf; dafür hatte sie auch ein gutes Leben bei ihr, kein böses Wort und alle Tage Gesottenes und Gebratenes. Nun war sie eine Zeit lang bei der Frau Holle; da ward sie traurig in ihrem Herzen, und ob es hier gleich tausendmal besser war als zu Hause, so hatte sie doch ein Verlangen dahin; endlich sagte sie zu ihr: „Ich habe den Jammer nach Haus gekriegt, und wenn es mir hier auch noch so gut geht, so kann ich doch nicht- hier bleiben.“ Die Frau Holle sagte: „Du hast recht, und weil du mir so treu gedient hast, so will ich dich selbst wieder hinaufbringen.“ Sie nahm sie darauf bei der Hand und führte sie vor ein grosses Thor. Das ward aufgethan, und als das Mädchen darunter stand, fiel ein gewal­ tiger Goldregen, und alles Gold blieb an ihr hängen, so dass sie über und über davon bedeckt war. „Das sollst du haben, weil du so fleissig gewe­ sen bist,“ sprach die Frau Holle und gab ihr auch noch die Spule wieder, die ihr in den Brunnen gefallen war. Darauf ward das Thor verschlossen, und das Mädchen befand sich oben auf der Welt nicht weit von ihrer Mut­ ter Hause, und als sie in den Hof kam, sass der Hahn auf dem Brunnen und rief: „Kikeriki! Unsere goldene Jungfrau ist wieder hie!" Da ging sie hinein zu ihrer Mutter, und weil sie so mit Gold bedeckt ankam, ward sie gut ausgenommen. Als die Mutter hörte, wie sie zu dem Reichtum gekommen, wollte sie ihrer hässlichen und faulen Tochter dasselbe Glück verschaffen, und sie musste sich an den Brunnen setzen und spinnen; damit ihr die Spule blu­ tig ward, stach sie sich in die Finger und zerstiess sich die Hand an der Dornhecke. Danach warf sie sie in den Brunnen und sprang selber hin­ ein. Sie kam wie die andere auf die Wiese und ging auf demselben Pfad weiter. Als sie zu dem Backofen gelangte, schrie das Brot wieder: „Ach, zieh mich ’raus! Zieh mich Taus, sonst verbrenn’ ich; ich bin schon längst ausgebacken!" Die Faule antwortete: „Da hätt’ ich Lust, mich schmutzig zu machen!" und ging fort. Bald kam sie zu dem Apfelbaum, der rief: „Ach, schüttle mich! Wir Äpfel sind alle reif!" Sie antwortete aber: „Du kommst mir eben recht; es könnte mir einer auf den Kopf fal­ len!“ und ging damit weiter. Als sie vor der Frau Holle Haus kam, fürch­ tete sie sich nicht, weil sie von ihren grossen Zähnen schon gehört hatte,

II.

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Fabeln, Parabeln, Märchen.

und verdingte sich gleich zu ihr. Am ersten Tage that sie sich Gewalt an, war fleissig und folgte der Frau Holle, wenn sie ihr etwas sagte; denn sie gedachte an das viele Gold, das sie ihr schenken würde. Am zweiten Tage aber fing sie schon an zu faulenzen, am dritten noch mehr; da wollte sie des Morgens gar nicht aufstehen; sie machte auch der Frau Holle das Bett schlecht und schüttelte es nicht recht, dass die Federn aufflogen. Das ward die Frau Holle bald müde und sagte der Faulen den Dienst auf. Sie war es wohl zufrieden und meinte, nun werde der Goldregen kom­ men; die Frau Holle führte sie auch zu dem Thor; als sie aber darunter stand, ward statt des Goldes ein grosser Kessel voll Pech ausgeschüttet. „Das ist zur Belohnung deiner Dienste,“ sagte die Frau Holle und schloss das Thor zu. Da kam die Faule heim, ganz mit Pech bedeckt, und das hat ihr Lebtag nicht wieder abgehen wollen. Der Hahn aber auf dem Brunnen, als er sie sah, rief: „Kikeriki! unsere schmutzige Jungfrau ist wieder hie!“ Grimm.

28.

Daumesdick.

Es war ein armer Bauersmann, der saß das Feuer, und die Frau saß und spann. Da daß wir keine Kinder haben! Es ist so still bei ist's so laut und lustig." „Ja," antwortete die

abends beim Herd und schürte sprach er: „Wie ist's so traurig, uns, und in den andern Häusern Frau und seufzte, „wenn's nur

ein einziges wäre, und wenn's auch ganz klein wäre, nur Daumens groß, so wollt' ich schon zufrieden sein; wir hätten's doch von Herzen lieb." Nun geschah es, daß die Frau ein Kind gebar, das zwar an allen Gliedern vollkommen, aber nicht länger als ein Daumen war. Da sprachen sie: „Es ist, wie wir es ge­ wünscht haben, und es soll unser liebes Kind sein," und nannten es nach seiner

Gestalt Daumesdick.

Sie ließen's nicht an Nahrung fehlen, aber das Kind ward

nicht größer, sondern blieb, wie es in der ersten Stunde gewesen war; doch schaute

es verständig aus den Augen und zeigte sich bald als ein kluges und behendes Ding, dem alles glückte, was es anfing.

Der Bauer machte sich eines Tages fertig, in den Wald zu gehen und Holz zu fällen; da sprach er so vor sich hin: „Nun wollt' ich, daß einer da wäre, der mir den Wagen nachbrächte." „O Vater," rief Daumesdick, „den Wagen will

ich schon bringen, verlaßt euch drauf; er soll zur bestimmten Zeit im Walde sein."

Da lachte der Mann und sprach: „Wie sollte das zugehen? Du bist viel zu klein, um das Pferd mit dem Zügel zu leiten."

„Das thut nichts, Vater, wenn nur

die Mutter anspannen will; ich setze mich dem Pferd ins Ohr und rufe ihm zu, wie es gehen soll." „Nun," antwortete der Vater, „einmal wollen wir's versu­ chen." Als die Stunde kam, spannte die Mutter an und setzte Daumesdick ins Ohr des Pferdes, und dann rief der Kleine, wie das Pferd gehen sollte, „Jüh und joh! hott und har!" Da ging es ganz ordentlich als wie bei einem Meister, und der Wagen fuhr den rechten Weg nach dem Walde. Es trug sich zu, als er eben um die Ecke bog und der Kleine „har, har!" rief, daß zwei fremde

Männer daherkamen.

„Mein," sprach der eine, „was ist das? Da fährt ein

II.

Fabeln, Parabeln, Märchen.

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Wagen, und ein Fuhrmann ruft dem Pferde zu und ist doch nicht zu sehen." Das geht nicht mit rechten Dingen zu," sagte der andere, „wir wollen dem Karren folgen und sehen, wo er anhält." Der Wagen aber fuhr vollends in

den Wald hinein und richtig zu dem Platze, wo das Holz gehauen ward. Als Daumesdick seinen Vater erblickte, rief er ihm zu: „Siehst du, Vater, da bin ich mit dem Wagen, nun hol' mich herunter// Der Vater faßte das Pferd mit der

Linken und holte mit der Rechten sein Söhnlein aus dem Ohr, das sich ganz

lustig auf einen Strohhalm niedersetzte. Als die beiden fremden Männer den Daumesdick erblickten, wußten sie nicht, was sie vor Verwunderung sagen sollten. Da nahm der eine den andern beiseit und sprach: „Hör', der kleine Kerl könnte unser Glück machen, wenn wir ihn in einer großen Stadt für Geld sehen ließen; wir wollen ihn kaufen." Sie gingen zu dem Bauern und sprachen: „Verkauft uns den kleinen Mann, er soll's gut bei uns haben." „Nein," antwortete der Vater, „es ist mein Herzblatt und ist mir für alles Gold in der Welt nicht feil." Daumesdick aber, als er von dem Handel gehört, war an den Nockfalten seines Vaters hinaufgekrochen, stellte sich ihm auf die Schulter und wisperte ihm ins Ohr: „Vater, gieb mich nur hin, ich will schon wieder zurückkommen." Da gab ihn der Vater für ein schönes Stück Geld den beiden Männern hin. „Wo willst

du sitzen?" sprachen sie zu ihm. „Ach, setzt mich nur auf den Rand von eurem Hut, da kann ich auf und ab spazieren und die Gegend betrachten und falle doch nicht herunter." Sie thaten ihm den Willen, und als Daumesdick Abschied von seinem Vater genommen hatte, machten sie sich mit ihm fort. So gingen sie, bis es dämmerig ward; da sprach der Kleine: „Hebt mich einmal herunter, es ist nötig." Der Mann nahm den Hut ab und setzte den Kleinen auf einen Acker am Weg; da sprang und kroch er ein wenig zwischen den Schollen hin und her, dann schlüpfte er plötzlich in ein Mauseloch, das er sich ausgesucht hatte. „Gu­ ten Abend, ihr Herren, geht nur ohne mich heim," rief er ihnen zu und lachte sie aus. Sie liefen herbei und stachen mit Stöcken in das Mauseloch; aber das war vergebliche Mühe. Daumesdick kroch immer weiter zurück, und da es bald ganz dunkel ward, so mußten sie mit Ärger und mit leerem Beutel wieder heim­ wandern. Als Daumesdick merkte, daß sie fort waren, kroch er aus dem unterirdischen Gang wieder hervor.

„Es ist auf dem Acker in der Finsternis so gefährlich Ge­

hen," sprach er, „wie leicht bricht einer Hals und Bein!"

Zum Glück stieß er

an ein leeres Schneckenhaus. „Gottlob," sagte er, „da kann ich die Nacht sicher zubringen," und setzte sich hinein. Nicht lange, als er eben einschlafen wollte, so hörte er zwei Männer vorübergehen; davon sprach der eine: „Wie wir's nur an­

fangen, um dem reichen Pfarrer sein Geld und sein Silber zu nehmen?" „Das könnt' ich dir sagen," rief Daumesdick dazwischen. „Was war das?" sprach der eine Dieb erschrocken, „ich hörte jemand sprechen." Sie blieben stehen und horch­

ten; da sprach Daumesdick wieder: „Nehmt mich mit, so will ich euch helfen." „Wo bist du denn?" „Sucht nur auf der Erde, und merkt, wo die Stimme her­ kommt," antwortete er. Da fanden ihn endlich die Diebe und hoben ihn in die Höhe. „Du kleiner Wicht, was willst du uns helfen!" sprachen sie. „Seht,"

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II.

Fabeln, Parabeln, Märchen.

antwortete er, „ich krieche zwischen den Eisenstäben in die Kammer des Pfarrers und reiche euch heraus, was ihr haben wollt." „Wohlan", sagten sie, „wir wollen sehen, was du kannst." Als sie bei dem Pfarrhaus ankamen, kroch Daumesdick in die Kammer, schrie aber gleich aus Leibeskräften: „Wollt ihr alles haben, was hier ist?" Die Diebe erschraken und sagten: „So sprich doch leise, damit nie­

mand aufwacht." Aber Daumesdick that, als hätte er sie nicht verstanden, und schrie von neuem: „Was wollt ihr? Wollt ihr alles haben, was hier ist?" Das hörte die Köchin, die in der Stube daran schlief, richtete sich im Bette auf und horchte. Die Diebe aber waren vor Schrecken ein Stück Weges zurückgelaufen; endlich faßten sie wieder Mut und dachten: Der kleine Kerl will uns necken. Sie kamen zurück und flüsterten ihm zu: „Nun mach' Ernst und reich' uns etwas

heraus." Da schrie Daumesdick noch einmal, so laut er konnte: „Ich will euch ja alles geben, reicht nur die Hände herein." Das hörte die horchende Magd ganz deutlich, sprang aus dem Bett und stolperte zur Thür herein. Die Diebe liefen fort und rannten, als wäre der wilde Jäger hinter ihnen, die Magd aber, als sie nichts bemerken konnte, ging, ein Licht anzuzünden. Wie sie damit herbei­ kam, machte sich Daumesdick, ohne daß er gesehen wurde, hinaus in die Scheune; die Magd aber, nachdem sie alle Winkel durchgesucht nnd nichts gefunden hatte, legte sich endlich wieder zu Bett und glaubte, sie hätte mit offenen Augen und Ohren doch nur geträumt.

Daumesdick war in den Heuhälmchen herumgeklettert und hatte einen schönen Platz zum Schlafen gefunden; da wollte er sich ausruhen, bis es Tag wäre, und dann zu seinen Eltern wieder heimgehen. Aber er mußte andere Dinge erfahren! Ja, es giebt viel Trübsal und Not auf der Welt! Die Magd stieg, als der Tag

graute, schon aus dem Bett, um das Bieh zu füttern. Ihr erster Gang war in die Scheune, wo sie einen Arm voll Heu packte und gerade dasjenige, worin der arme Daumesdick lag und schlief. Er schlief aber so fest, daß er nichts gewahr­ ward und nicht eher aufwachte, als bis er in dem Maul der Kuh war, die ihn mit dem Heu aufgerafft hatte. „Ach Gott," rief er, „wie bin ich in die Walk­ mühle geraten?" merkte aber bald, wo er war. Da hieß es aufpassen, daß er

nicht zwischen die Zähne kam und zermalmt ward, und hernach mußte er doch mit in den Magen hinabrutschen. „In dem Stübchen sind die Fenster vergessen," sprach er, „und scheint keine Sonne hinein; ein Licht wird auch nicht gebracht." Überhaupt gefiel ihm das Quartier schlecht, und was das Schlimmste war, es kam immer mehr neues Heu zur Thüre herein, und der Platz ward immer enger. Da rief er endlich in der Angst, so laut er konnte: „Bringt mir kein frisch Futter mehr, bringt mir kein frisch Futter mehr!" Die Magd melkte gerade die Kuh, und als sie sprechen hörte, ohne jemand zu sehen, und es dieselbe Stimme

war, die sie auch in der Nacht gehört hatte, erschrak sie so, daß sie von ihrem Stühlchen herabglitschte und die Milch verschüttete. Sie lief in der größten Hast zu ihrem Herrn und rief: „Ach Gott, Herr Pfarrer, die Kuh hat geredet." „Du

bist verrückt," antwortete der Pfarrer, ging aber doch selbst in den Stall und wollte nachsehen, was es da gäbe. Kaum aber hatte er den Fuß hineingesetzt, so rief Daumesdick aufs neue: „Bringt mir kein frisch Futter mehr, bringt mir kein

11. Fabeln, Parabeln, Märchen.

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frisch Futter mehr!" Da erschrak der Pfarrer selbst, meinte, es wäre ein böser Geist in die Kuh gefahren, und hieß sie töten. Sie ward geschlachtet, der Magen aber, worin Daumesdick steckte, auf den Mist geworfen. Daumesdick hatte große Mühe, sich hindurchzuarbeiten, doch brachte er es so weit, daß er Platz bekam; aber als er eben sein Haupt herausstrecken wollte, kam ein neues Unglück. Ein hungriger Wolf lief heran und verschlang den ganzen Magen mit einem Schluck.

Daumesdick verlor den Mut nicht. „Vielleicht," dachte er, „läßt der Wolf mit sich reden," und rief ihm aus dem Wanste zu: „Lieber Wolf, ich weiß dir einen herrlichen Fraß." „Wo ist der zu holen?" sprach der Wolf. „In dem und dem Haus, da mußt du durch die Gosse hineinkriechen und wirst Kuchen, Speck und Wurst finden, so viel du essen willst," und beschrieb ihm genau seines Vaters Haus. Der Wolf ließ sich das nicht zweimal sagen', drängte sich in der Nacht zur Gosse hinein und fraß in der Vorratskammer nach Herzenslust. Als er sich gesättigt hatte, wollte er wieder fort; aber er war so dick geworden, daß er den­ selben Weg nicht wieder hinaus konnte. Darauf hatte Daumesdick gerechnet und fing nun an, in dem Leibe des Wolfs einen gewaltigen Lärm zu machen, tobte und schrie, was er konnte. „Willst du stille sein," sprach der Wolf, „du weckst

die Leute auf." „Ei was," antwortete der Kleine, „du hast dich satt gefressen, ich will mich auch lustig machen," und fing von neuem an, aus allen Kräften zu schreien. Davon erwachte endlich sein Vater und seine Mutter, liefen an die Kammer und schauten durch die Spalte hinein. Wie sie sahen, daß ein Wolf darin hauste, liefen sie davon, und der Mann holte die Axt und die Frau die Sense. „Bleib dahinten," sprach der Manu, als sie in die Kammer traten, „wenn ich ihm einen Schlag gegeben habe und er davon noch nicht tot ist, so mußt du auf ihn einhauen und ihm den Leib zerschneiden." Da hörte Daumes­ dick die Stimme seines Vaters und rief: „Lieber Vater, ich bin hier, ich stecke im Leibe des Wolfs." Sprach der Vater voller Freuden: „Gottlos, unser liebes Kind hat sich wiedergefunden," und hieß die Frau die Sense wegthun, damit Daumesdick nicht beschädigt würde. Danach holte er aus und schlug dem Wolf einen Schlag auf den Kopf, daß er tot niederstürzte; dann suchten sie Messer und Schere, schnitten ihm den Leib auf und zogen den Kleinen wieder hervor. „Ach," sprach der Vater, „was haben wir für Sorge um dich ausgestanden!" „Ja, Vater, ich bin viel in der Welt herumgekommen; gottlob, daß ich wiederfrische Luft schöpfe." „Wo bist du denn all gewesen?" „Ach, Vater, ich war in einem Mauseloch, in . einer Kuh Bauch und in eines Wolfes Wanst; nun bleib' ich bei euch." „Und wir verkaufen dich um alle Reichtümer der Welt nicht wie­

der," sprachen die Eltern, herzten und küßten ihren lieben Daumesdick. Sie gaben ihm zu essen und zu trinken und ließen ihm neue Kleider machen; denn die feinigen waren ihm auf der Reise verdorben. Gnmm.

26.

Die sieben Raben.

Ein Mann hatte sieben Söhne und immer noch kein Töchterchen, so sehr er

sich auch eins wünschte. Endlich bekam seine Frau ein Mädchen; aber ob es gleich schön war, so war's doch auch schmächtig und klein und sollte wegen seiner

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II.

Fabeln, Parabeln, Märchen.

Schwachheit die Nottaufe haben.

Da schickte der Bater einen der Knaben eilends

zur Quelle, Taufwasser zu holen, und die andern sechs liefen mit. Jeder wollte aber der erste beim Schöpfen sein, und darüber fiel ihnen der Krug in den Brunnen.

Da standen sie und wußten nicht, was sie thun sollten, und keiner getraute sich heim. Dem Bater ward unter der Weile angst, das Mädchen müßte ungetauft verscheiden, und wußte gar nicht, warum die Jungen so lange ausblieben. „Ge­ wiß/' sprach er, „haben sie's wieder über ein Spiel vergessen;" und als sie immer nicht kamen, fluchte er im Ärger: „Ich wollte, daß die Jungen alle zu Raben

würden." Kaum war das Wort ausgeredet, so hörte er ein Geschwirr über sei­ nem Haupte in der Luft, blickte auf und sah sieben kohlschwarze Raben auf- und davonfliegen. Die Eltern konnten die Verwünschung nicht mehr zurücknehmen, und so traurig sie über den Verlust ihrer sieben Söhne waren, trösteten sie sich doch einigermaßen durch ihr liebes Töchterchen, das bald zu Kräften kam und mit

jedem Tage schöner ward. Es wußte lange Zeit nicht einmal, daß es Ge­ schwister gehabt hatte, denn die Eltern hüteten sich ihrer zu erwähnen, bis es eines Tages von ungefähr die Leute von sich sprechen hörte, das Mädchen wäre wohl schön, aber doch eigentlich schuld an dem Unglück seiner sieben Brüder. Da ward es ganz betrübt, ging zu Vater und Mutter und fragte, ob es denn Brüder gehabt hätte, und wo sie hingeraten wären. Nun durften die Eltern das Geheimnis nicht länger verschweigen, sagten jedoch, es sei so des Himmels Verhängnis gewesen, und seine Geburt nur der unschuldige Anlaß. Allein das Mädchen machte sich täglich ein Gewissen daraus und glaubte, es müßte seine Geschwister wieder erlösen. Es hatte nicht Ruhe und Rast, bis es sich einmal aufmachte und in die weite Welt ging, seine Brüder irgendwo aufzuspüren und zu befreien, es möchte kosten, was es wollte. Es nahm nichts mit sich als ein Ringlein von «seinen Eltern zum Andenken, einen Laib Brot für den Hunger, ein Krüglein Wasser für den Durst und ein Stühlchen für die Müdigkeit. Nun ging es immer zu, weit, weit bis an der Welt Ende. Da kam es zur Sonne, aber die war zu heiß und fürchterlich und fraß die kleinen. Kinder. Eilig lief es weg und hin zu dem Mond, aber der war gar zu kalt und auch grausig und bös, und als er das Kind merkte, sprach er: „Ich rieche, rieche Menschen­

fleisch." Da machte es sich geschwind fort und kam zu den Sternen, die waren ihm freundlich und gut, und jeder saß auf seinem besondern Stühlchen. Der Morgenstern aber stand auf, gab ihm ein Hinkelbeinchen und sprach: „Wenn du das Beinchen nicht hast, kannst du den Glasberg nicht aufschließen, und in dem Glasberg, da sind deine Brüder." Das Mädchen nahm das Beinchen, wickelte es wohl in ein Tüchlein und ging wieder fort, so lange, bis es an den Glasberg kam, dessen Thor verschloffen war. Nun wollte es das Beinchen hervorholen, aber wie es das Tüchlein auf­

machte, so war es leer, und es hatte das Geschenk der guten Sterne verloren. Was sollte es nun anfangen? seine Brüder wollte es erretten und hatte keinen Schlüssel zum Glasberg. Das gute Schwesterchen nahm ein Messer, schnitt sich sein kleines Fingerchen ab, steckte es in das Thor und schloß glücklich auf. Als

III. Rätsel.

45

es hineingetreten war, kam ihm ein Zwerglein entgegen, das sprach: „Mein Kind,

was suchst du?" „Ich suche meine Brüder, die sieben Raben," antwortete es. Der Zwerg sprach: „Die Herren Raben sind nicht zu Haus, aber willst du hier

so lange warten, bis sie kommen, so tritt ein." Darauf brachte das Zwerglein die Speise der Raben getragen auf sieben Tellerlein und in sieben Becherlein, und von jedem Tellerlein aß das Schwesterchen ein Bröckchen, und aus jedem Becherlein trank es ein Schlückchen, in das letzte Becherlein aber ließ es das Ringlein fallen, das es mitgenommen hatte. Auf einmal hörte es in der Luft ein Geschwirr und ein Geweh, da sprach das Zwerglein: „Jetzt kommen die Herren Raben heimgeflogen." Da kamen sie,

wollten essen und trinken und suchten ihre Tellerlein und Becherlein. Da sprach einer nach dem andern: „Wer hat von meinem Teller gegessen? wer hat aus meinem Becher getrunken? das ist eines Menschen Mund gewesen." Und wie der siebente auf den Grund des Bechers kam, rollte ihm das Ringlein entgegen. Da sah er es an und erkannte, daß es ein Ring von Bater und Mutter war, und das trat Und

sprach: „Gott gebe, unser Schwesterlein wäre da, so wären wir erlöst." Wie Mädchen, das hinter der Thüre stand und lauschte, den Wunsch hörte, so es hervor, und da bekamen alle die Raben ihre menschliche Gestalt wieder. sie herzten und küßten einander und zogen fröhlich heim. yrim,1L

III. Rätsel. 1.

4.

Eine nennt im Garten sich, Wie am Himmel die vielen,

Nickt und neigt sich, wenn mit ihr Die Gleichgenannten spielen.

Verfertigt ist's vor langer Zeit, Doch mehrenteils gemacht erst heut. Höchst schätzbar ist es seinem Herrn,

Und dennoch hütet's niemand gern.

liefert.

Bürger.

6.

2

Drei Worte giebt ein R und E, Ein doppelt N, ein O und D: Das eine brüllt, das andere sticht,

Sie trägt ein bittres Laub,

Sie trägt viel süße Kräuter; Auf ihr geht, unter ihr Die Kuh mit vollem Euter.

Dem dritten fehlt's an Kälte nicht. R liefert.

6.

3. In einer Bauernschenke saß Die Erste, die die Zweite aß; Da kam das Ganze auch herein,

Und gleich fing alles an zu schrein. Arendt.

Mit K nährt's,

Mit M gährt's, Mit P fährt's. Mit R zerfrißt es Stahl und Wehr, Und ohne Kopf zieht's kalt einher.

III. Rätsel.

45

es hineingetreten war, kam ihm ein Zwerglein entgegen, das sprach: „Mein Kind,

was suchst du?" „Ich suche meine Brüder, die sieben Raben," antwortete es. Der Zwerg sprach: „Die Herren Raben sind nicht zu Haus, aber willst du hier

so lange warten, bis sie kommen, so tritt ein." Darauf brachte das Zwerglein die Speise der Raben getragen auf sieben Tellerlein und in sieben Becherlein, und von jedem Tellerlein aß das Schwesterchen ein Bröckchen, und aus jedem Becherlein trank es ein Schlückchen, in das letzte Becherlein aber ließ es das Ringlein fallen, das es mitgenommen hatte. Auf einmal hörte es in der Luft ein Geschwirr und ein Geweh, da sprach das Zwerglein: „Jetzt kommen die Herren Raben heimgeflogen." Da kamen sie,

wollten essen und trinken und suchten ihre Tellerlein und Becherlein. Da sprach einer nach dem andern: „Wer hat von meinem Teller gegessen? wer hat aus meinem Becher getrunken? das ist eines Menschen Mund gewesen." Und wie der siebente auf den Grund des Bechers kam, rollte ihm das Ringlein entgegen. Da sah er es an und erkannte, daß es ein Ring von Bater und Mutter war, und das trat Und

sprach: „Gott gebe, unser Schwesterlein wäre da, so wären wir erlöst." Wie Mädchen, das hinter der Thüre stand und lauschte, den Wunsch hörte, so es hervor, und da bekamen alle die Raben ihre menschliche Gestalt wieder. sie herzten und küßten einander und zogen fröhlich heim. yrim,1L

III. Rätsel. 1.

4.

Eine nennt im Garten sich, Wie am Himmel die vielen,

Nickt und neigt sich, wenn mit ihr Die Gleichgenannten spielen.

Verfertigt ist's vor langer Zeit, Doch mehrenteils gemacht erst heut. Höchst schätzbar ist es seinem Herrn,

Und dennoch hütet's niemand gern.

liefert.

Bürger.

6.

2

Drei Worte giebt ein R und E, Ein doppelt N, ein O und D: Das eine brüllt, das andere sticht,

Sie trägt ein bittres Laub,

Sie trägt viel süße Kräuter; Auf ihr geht, unter ihr Die Kuh mit vollem Euter.

Dem dritten fehlt's an Kälte nicht. R liefert.

6.

3. In einer Bauernschenke saß Die Erste, die die Zweite aß; Da kam das Ganze auch herein,

Und gleich fing alles an zu schrein. Arendt.

Mit K nährt's,

Mit M gährt's, Mit P fährt's. Mit R zerfrißt es Stahl und Wehr, Und ohne Kopf zieht's kalt einher.

III.

46

7.

Rätsel. Sie baut sich auf im Augenblicke, Und schwindelnd steigt sie in die Höh'. Der höchsten Schiffe höchste Masten

Ich labe mit einem B,

Ich schade mit einem D, Ich labe mit einem K, Ich schade mit einem H; Nie bleib' ich mit einem V zurück, Mit Z entstell' ich gar den Blick.

8. Mit M umschließt es manchen Garten, Mit D trotzt es der Zeiten Lauf, Mit B muß es des Feldes warten, Mit L stehn Jäger oft darauf.

Ziehn unter ihrem Bogen hin; Sie selber trug noch keine Lasten Und scheint, wenn du ihr nahst, zu

fliehn. Sie wird erst mit dem Strom und schwindet, So wie des Wassers Flut versiegt. So sprich, wo sich die Brücke findet,

Und wer sie künstlich hat gefügt. Schiller.

II.

9.

Aus einem unerschöpften Born; Ein Hirt ist ihnen zugegeben Mit schön gebognem Silberhorn. Er treibt sie aus zu goldnen Thoren,

Unter allen Schlangen ist eine Auf Erden nicht gezeugt, Mit der an Schnelle keine, An Wut sich keine vergleicht. Sie stürzt mit furchtbarer Stimme Auf ihren Raub sich los, Vertilgt in einem Grimme Den Reiter und sein Roß. Sie liebt die höchsten Spitzen: Nicht Schloß, nicht Riegel kann

Er überzählt sie jede Nacht Und hat der Lämmer keins verloren, So ost er auch den Weg vollbracht. Ein treuer Hund hilft sie ihm leiten,

Vor ihrem Anfall schützen; Der Harnisch lockt sie an. Sie bricht wie dünne Halmen Den stärksten Baum entzwei;

Ein muntrer Widder geht voran. Die Herde, kannst du sie mir deuten? Und auch den Hirten zeig' mir an!

Sie kann das Erz zermalmen, Wie dicht und fest es sei.

Auf einer großen Weide gehen Viel tausend Schafe silberweiß; Wie wir sie heute wandeln sehen, Sah sie der allerältste Greis. Sie altern nie und trinken Leben

Schiller.

10. Von Perlen baut sich eine Brücke

Und dieses Ungeheuer Hat zweimal nie gedroht; Es stirbt im eignen Feuer; Wie's tötet, ist es tot.

Hoch über einen grauen See;

12. Die Rätsel der Elfen. Die Elfen sitzen im Felsenschacht, Vertreiben mit Reden die lange Nacht; Sie legen sich lustige Rätsel vor, Die, wenn sie nicht Gold sind, doch klingen im Ohr; Und wie ein Windzug dazwischengeht, So sind samt den Elfen die Rätsel verweht. „Welch' Gold entstammt dem Erdschacht nicht?"

Schiller.

III.

47

Rätsel.

Ich hörte vom goldenen Sonnenlicht. „Wer borgt sein Silber von fremdem Gold?"

Der Mond, der ob unsern Häuptern rollt. „Wo quillt die Thrän' aus härtester Brust?" Der Quell im Fels ist mir wohl bewußt. „Wo strömt ein Strom, da kein Strombett ist?" Der Re gen ström, der in Lüften fließt. „Wo ist auf dem Fluß die breiteste Brück'?" Das Eis ist gebaut aus einem Stück. „Die Flut, die im stätesten Takt sich bewegt?" Das Blut, das im Herzen des Menschen schlägt. „Wo tritt der Schwache den Starken nieder?" Den Erdboden des Menschen Glieder. „Was ist stärker als der Erdengrund?" Das Eisen; denn es macht ihn wund. „Was ist noch stärker als Eisen und Stahl?"

Das Feuer schmelzt sie allzumal. „Was ist noch stärker denn Feuersglut?" Die feuerlöschende Wasserflut. „Was ist stärker noch denn Flut und Meer?" Der Wind; der treibt sie hin und her. „Und was ist stärker als Wind und Luft?"

Der Donner; sie zittert, wenn er ruft. „Wer ist noch mächtiger als der Tod?"

Wer da lachen kann, wenn er ihm droht. „Warum fließt das Wasser den Berg nicht hinauf?" Bergunter hat es leichteren Lauf. „Warum trägt Kürbße der Eichbaum nicht?" Daß sie dir nicht fallen aufs Angesicht. „Wozu hat der Gaul vier Füße empfahn?" Damit er mit vieren stolpern kann.

„Und Weil „Wer Wer

warum sind die Fische stumm?" sie sonst würden reden dumm. löset alle Rätsel auf?" immer was weiß, das sich reimet darauf.

„Und warum schweig' ich jetzo still?" Weil ich nichts weiter hören will.

Rückert.

13. Durch Höll' und durch Himmel erklingt's wie ein Hauch, Und im heimlichsten Pulsschlag vernimmst du es auch;

Es schwebt bei den Horen zuvorderst im Reihn,

Und was hoch ist und herrlich, das schließet es ein. Ob stumm auch, erscheint es in jeglicher That,

48

III.

Rätsel.

Und die Heerschlacht beginnt's, und es hilft bei der Mahd, Aus der Lohe, der wehenden, winkt es dir zu,

Und es schärft sich im Licht und erstirbt in der Ruh'. Dem Gedanken versagt sich's, nicht faßt's der Verstand; Doch in Blindheit ergreif's, du hast's in der Hand.

Sanft schwellt's dein Gefühl und vollendet dein Ich, Und zu Erz wird dein Herz, wenn es treulos entwich.

Reibet

14. Was sich Verwunderung zum Ausruf wählt, Ist mir als erste Silbe zugezählt. Die zweite siehst in unerreichten Weiten Du glänzen, schweben, ewig rollend gleiten. Was dir der Name meines Ganzen beut, Ist heiligster Erinnerung geweiht.

15. Genießet das, was uns entstammt, Ihr werdet schnell zur Lust entflammt; Ein Zeichen fort, und schnell verdammt Wird jene That, die uns entstammt.

John.

16. Das Erste soll im bürgerlichen Leben

Der Landesfürst durch die Gesetze geben. Zwei, drei umschließt nur Klarheit, Milde; Du sahst sie nie, du kennst sie nur im Bilde. Das Ganze möge freundlich dich umschweben, Mit Treue leiten durch das Erdenleben.

17. Es sind zwei kleine Fensterlein In einem großen Haus;

Da schaut die ganze Welt hinein, Die ganze Welt heraus.

Und freut der Herr im Hause sich, Und nimmt der Schmerz ihn ein: Dann zeigen öfters Perlen sich An beiden Fensterlein. Ist schönes Welter, gute Zeit,

Da sind sie hell und lieb; Wenn's aber fröstelt, stürmt und schneit, Dann werden sie gar trüb.

Zedlitz.

IV.

Spruch e.

49

Und geht des Hauses Herr zur Ruh, Nicht braucht er mehr ein Licht; Dann schlägt der Tod die Laden zu, Und ach! das Fenster bricht.

LasE.

18. Zum Hofe des Landmanns mußt du gehn, Wenn heiter und lustig du mich willst sehn. Auf Häusern und Kirchen, hoch oben auf Türmen, Da thron' ich zuweilen und trotze den Stürmen; Hier mach' ich gefesselt in Lüften die Runde

Und gebe willig dem Fragenden Kunde. Es rinnet durch mich der labende Wein, Wenn müde du trittst in die Schenke ein. Sonst lernte kein Kind in Deutschland lesen, Daß ich nicht wäre dabei gewesen.

IV.

Besseidt.

Sprüche. 10. Was du sinnest, was du thuest,

1. An Gottes Segen Ist alles gelegen.

2. Großer Reichtum nützet nicht, Wenn nicht Gott den Segen spricht.

3. Was Gott nicht hält, das geht zu Grund, Wenn's gleich auf eisern Mauern

Denk' an Gott, den Bater dein; Wenn du wachest, wenn du ruhest, Wirst du da bewachet sein.

11. Frisch und fröhlich zu seiner Zeit, Fromm und treu in Ewigkeit.

12. Reines Herz und froher Mut, Stehn zu allen Kleidern gut.

stund.

4. Wen Gott nicht hält,

13. Ein frohes Herz, gesundes Blut Ist besser als viel Geld und Gut.

Der wankt und fällt.

14. Thue wohl, siehe nicht, wem;

5. Der Mensch denkt,

Das ist Gott angenehm.

Gott lenkt.

6. Bedenke, daß, wo du auch bist,

15. Thäten wir nur, was wir sollten,

Doch Gott in deiner Nähe ist.

Thäte Gott auch, was wir wollten;

7. Alles Ding währt seine Zeit,

Weil wir nicht thun, was wir sol­

Gottes Lieb' in Ewigkeit.

len, Thut auch Gott nicht, was wir wol­

8. Fängst du dein Werk mit Beten an, Jst's um die Hälfte schon gethan.

9. Das Herze ist das allerbest'. Das sich allzeit auf Gott verläßt. Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb.

5. ?lufl.

len.

16. Je früher die Zucht, Desto besser die Frucht.

IV.

Spruch e.

49

Und geht des Hauses Herr zur Ruh, Nicht braucht er mehr ein Licht; Dann schlägt der Tod die Laden zu, Und ach! das Fenster bricht.

LasE.

18. Zum Hofe des Landmanns mußt du gehn, Wenn heiter und lustig du mich willst sehn. Auf Häusern und Kirchen, hoch oben auf Türmen, Da thron' ich zuweilen und trotze den Stürmen; Hier mach' ich gefesselt in Lüften die Runde

Und gebe willig dem Fragenden Kunde. Es rinnet durch mich der labende Wein, Wenn müde du trittst in die Schenke ein. Sonst lernte kein Kind in Deutschland lesen, Daß ich nicht wäre dabei gewesen.

IV.

Besseidt.

Sprüche. 10. Was du sinnest, was du thuest,

1. An Gottes Segen Ist alles gelegen.

2. Großer Reichtum nützet nicht, Wenn nicht Gott den Segen spricht.

3. Was Gott nicht hält, das geht zu Grund, Wenn's gleich auf eisern Mauern

Denk' an Gott, den Bater dein; Wenn du wachest, wenn du ruhest, Wirst du da bewachet sein.

11. Frisch und fröhlich zu seiner Zeit, Fromm und treu in Ewigkeit.

12. Reines Herz und froher Mut, Stehn zu allen Kleidern gut.

stund.

4. Wen Gott nicht hält,

13. Ein frohes Herz, gesundes Blut Ist besser als viel Geld und Gut.

Der wankt und fällt.

14. Thue wohl, siehe nicht, wem;

5. Der Mensch denkt,

Das ist Gott angenehm.

Gott lenkt.

6. Bedenke, daß, wo du auch bist,

15. Thäten wir nur, was wir sollten,

Doch Gott in deiner Nähe ist.

Thäte Gott auch, was wir wollten;

7. Alles Ding währt seine Zeit,

Weil wir nicht thun, was wir sol­

Gottes Lieb' in Ewigkeit.

len, Thut auch Gott nicht, was wir wol­

8. Fängst du dein Werk mit Beten an, Jst's um die Hälfte schon gethan.

9. Das Herze ist das allerbest'. Das sich allzeit auf Gott verläßt. Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb.

5. ?lufl.

len.

16. Je früher die Zucht, Desto besser die Frucht.

IV. Sprüche.

50

17. Eines Menschen Thun und Wesen, An der Stirne ift'6 zu lesen.

18. Das Fädchen, noch so fein gespon­ nen, Kommt einmal doch ans Licht; Das Krüglein geht so lang zum Bronnen, Bis es doch endlich bricht. Die beiden Sprüchlein, klug erson­ nen, Vergiß dein Lebtag nicht!

19. Es ist nichts so fein gesponnen, Es kommt endlich an die Sonnen.

20. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Und wenn er auch die Wahrheit spricht.

21. Ein junger Lügner ein alter Dieb; Drum, Kind, behalte die Wahrheit lieb.

22. Der Vogel singt zu aller Frist, Wie ihm der Schnabel gewachsen ist.

23. Der Horcher an der Wand Hört seine eigne Schänd'.

24. Müßiggang Ist aller Laster Anfang.

25. Mächtige Hand Und schönes Gewand Und leicht gewonnen Gut, Die machen Übermut.

26. Glück und Glas, Wie bald bricht das!

27. Wie gewonnen, So zerronnen.

28. Nichts behält, wer allzuviel Auf einmal ergreifen will.

29. Was einmal Unrecht gewesen ist. Das bleibt Unrecht zu aller Frist.

30. Reu' Des Herzens Arzenei.

31. Pfau, Schau Deine Beine!

32. Wer sich selbst liebt allzusehr, Den Haffen andere desto mehr.

33. Der Schein betrügt, Der Spiegel lügt.

34. Die Alten zum Rat, Die Jungen zur That.

35. Wer etwas kann, den hält man wert; Des Ungeschickten niemand begehrt.

36. Der Sommer giebt Korn, Der Herbst leert sein Horn, Der Winter verzehrt, Was die beiden beschert.

37. Frisch begonnen, Halb gewonnen.

38. Rede wenig, aber wahr; Vieles Reden bringt Gefahr.

39. Iß, was gar ist, Trink, was klar ist, Sprich, was wahr ist.

40. Redlich sei des Herzens Grund, Redlich spreche auch der Mund.

41. Auf Rach' Folgt Ach.

42. Verlaß dich nicht auf diese Welt, Sie ist Schaum, der zusammenfällt.

43. Besser allein Als in böser Gemein'.

44. Ein böser Geselle Führt den andern zur Hölle.

45. Leiden währt nicht immer, Ungeduld macht's schlimmer.

46. Mäßig wird alt, Zuviel stirbt bald.

47. Hast du Lust zum Süßen, Laß dich Bitt'res nicht verdrießen.

48. Wer säet, Der mähet.

49. Fleiß bringt Brot, Faulheit Not.

50. Aufschieb Ist ein Tagedieb.

51. Morgen, morgen, nur nicht heute, Sprechen immer träge Leute.

IV.

Spr ü ch e.

52. Wer imSommer nicht mag schneiden,

51

So bist du ein Geber, wie Gott

Muß im Winter Hunger leiden.

53. Ordnung lerne, liebe sie; Ordnung

54.

spart

dir

Weg'

ihn will.

61. Dankbarkeit ist eine schöne Tugend, und

Müh'. Wer den Heller nicht ehrt, Ist des Thalers nicht wert.

Zieret das Alter und die Jugend.

62. Wer auf dem Kopf hat einen Hut, Dem steht er noch einmal so gut, Wenn er ihn oft herunterthut.

55. Junges Blut,

63. Wer 's Alter nicht ehrt,

Spar' dein Gut;

Ist des Alters nicht wert.

Armut im Alter wehe thut.

64. Verspotte, liebes Kind, nie Schwach­

56. Wer in seinen Beutel lügt,

heit und Gebrechen; Es könnte solchen Spott ein gleiches

Niemand als sich selbst betrügt.

57. Böses läßt sich leicht verrichten, Aber nicht leicht wieder schlichten.

58. Gefundenes verhohlen Ist so gut wie gestohlen.

59. Was du nicht willst, daß dir geschicht, Das thu' auch einem andern nicht.

60. Gieb gern den Armen und freund­ lich und still,

Unglück rächen.

65. Alte soll man ehren, Jungen soll man wehren; Weise soll man fragen, Narren ertragen.

66. Scharfe Schwerter schneiden sehr, Scharfe Zungen noch viel mehr.

67. Bergleichen und vertragen Ist besser als zanken und klagen.

68. Drei Paare und einer. Du hast zwei Ohren und einen Mund. Willst du's beklagen?

Gar vieles sollst du hören und

Gar manches sollst du sehen und Manches verschweigen. Du hast zwei Hände und einen Mund.

Wenig drauf sagen. Du hast zwei Augen und einen Mund. Mach' dir's zu eigen!

Lern' es ermessen! Zween sind da zur Arbeit und Einer zum Essen. Rückert.

69.

Nützliche Lehren.

1. „Ein Narr fragt viel, worauf kein Weiser antwortet." Das muß zwei­ mal wahr sein. Fürs erste kann gar wohl der einfältigste Mensch eine Frage thun, worauf auch der weiseste keinen Bescheid zu geben weiß; denn fragen ist leichter als antworten, wie fordern oft leichter ist als geben, rufen leichter als kommen. Fürs andere könnte manchmal der Weise wohl eine Antwort geben, aber er will nicht, weil die Frage einfältig ist oder vorwitzig, oder weil sie zur

Unzeit kommt. Gar oft erkennt man ohne Mühe den einfältigen Menschen am Fragen und den verständigen am Schweigen. Bon dem Doktor Luther verlangte einst jemand zu wissen, was wohl Gott vor Erschaffung der Welt die lange, lange Ewigkeit hindurch gethan habe. Dem erwiderte der fromme und witzige Mann, in einem Birkenwalde habe der liebe Gott gesessen und zur Bestrafung

für solche Leute, die unnütze Fragen thun, Ruten geschnitten.

IV.

52

Sprüche.

2. „Rom ist nicht an einem Tage erbaut worden." Damit entschuldigen sich viele fahrlässige und träge Menschen, welche ihr Geschäft nicht treiben und vollenden mögen und schon müde sind, ehe sie recht anfangen. Mit Rom ist es aber eigentlich so zugegangen: es haben viele fleißige Hände viele Tage lang vom frühen Morgen bis zum späten Abend unverdrossen daran gearbeitet und nicht abgelassen, bis es fertig war und der Hahn auf dem Kirchturm stand. So ist Rom entstanden. Was du zu thun hast, mach' es auch so!

3. „Frisch gewagt ist halb gewonnen." Daraus folgt: Frisch gewagt ist auch halb verloren. Das kann nicht fehlen. Deswegen sagt man auch: Wagen gewinnt, Wagen verliert. Was muß also den Ausschlag geben? Prüfung, ob man die Kräfte habe zu dem, was man wagen will, Überlegung, wie es anzu­ fangen sei, Benutzung der günstigen Zeit und Umstände, und hintennach, wenn man ein mutiges A gesagt hat, ein besonnenes B und ein bescheidenes C. Aber so viel muß wahr bleiben: Wenn etwas Gewagtes soll unternommen werden und kann nicht anders sein, so ist ein frischer Mut zur Sache der Meister, und der muß dich durchreißen. Aber wenn du immer willst und fängst nie an, oder du hast schon angefangen, und es reut dich wieder, und willst, wie man sagt, auf dem trockenen Lande ertrinken: guter Freund, dann ist schlecht gewagt ganz ver­ loren !

4. „Es ist nicht alles Gold, was glänzt." Mancher, der nicht an dieses Sprichwort denkt, wird betrogen. Aber eine andere Erfahrung wird noch öfter vergessen: Manches glänzt nicht und ist doch Gold; und wer das nicht glaubt und nicht daran denkt, der ist noch schlimmer daran. In einem wohlbestellten Acker, in einem gut eingerichteten Gewerbe ist viel Gold verborgen, und eine fleißige Hand weiß es zu finden und ein ruhiges Herz dazu, und ein gutes Ge­ wissen glänzt auch nicht und ist noch mehr als goldeswert. Oft ist gerade da am wenigsten Gold, wo der Glanz und die Prahlerei am größten ist. Wer viel Lärm macht, hat wenig Mut. Wer viel von seinen Thalern redet, hat nicht viel. Einer prahlte, er habe ein ganzes Simri (Metze) Dukaten daheim. Als er sie zeigen sollte, wollte er lange nicht daran. Endlich brachte er ein kleines

rundes Schächtelein zum Vorschein, das man mit der Hand decken konnte. Doch half er sich mit einer guten Ausrede. Das Dukatenmaß, sagte er, sei kleiner als das Fruchtmaß.

5. Es sagt ein altes Sprichwort: „Selber essen macht fett." Ich will noch ein paar dazu setzen: Selber Achtung geben macht verständig, und selber arbeiten macht reich. Wer nicht mit eigenen Augen sieht, sondern sich auf andere verläßt, und wer nicht selber Hand anlegt, wo es nötig ist, sondern nur andere thun läßt, was er selber thun soll, der bringt's nicht weit, und mit dem Fett­ werden hat es bald ein Ende.

6. Ein anderes Sprichwort heißt so: „Wenn man den Teufel an die Wand malt, so kommt er." Das sagt mancher und versteht's nicht. Den bösen Geist kann man eigentlich nicht an die Wand malen, sonst wäre er kein Geist. Auch kann er nicht kommen, denn er ist mit Ketten der Finsternis in .die Hölle gebun­

den.

Was will denn das Sprichwort sagen?

Wenn man viel an das Böse

IV.

Sprüche.

53

denkt und sich dasselbe in Gedanken vorstellt oder lang davon spricht, so kommt zuletzt die Begierde zu dem Bösen in das Herz, und man thut's. Soll der böse Feind nicht kommen, so male man ihn nicht an die Wand.

Willst du das Böse

nicht thun, so denke nicht daran, wo du gehst und stehst, und sprich nicht davon,

als wenn es etwas Angenehmes und Lustiges wäre.

7 „Einmal ist keinmal." Dies ist das erlogenste und schlimmste unter­ allen Sprichwörtern, und wer es gemacht hat, der war ein schlechter Rechen­ meister oder ein boshafter. Einmal ist wenigstens einmal, und daran läßt sich nichts abmarkten. Wer einmal gestohlen hat, der kann sein Leben lang nimmer mit Wahrheit und frohem Herzen sagen: Gottlob, ich habe mich nie au fremdem Gut vergriffen! und wenn der Dieb erhascht und erhenkt wird, alsdann ist einmal nicht keinmal. Aber das ist noch nicht alles, sondern man kann meistens mit Wahrheit sagen: Einmal ist zehnmal und hundert- und tausendmal; denn wer das Böse einmal angefangen hat, der setzt es gemeiniglich auch fort. Wer A gesagt hat, der sagt auch gerne B, und alsdann tritt zuletzt ein anderes Sprich­ wort ein, daß der Krug so lange zum Brunnen geht, bis er bricht. 8. Nun kommen zwei Sprichwörter, und diese sind beide wahr, wenn sie schon einander widersprechen. Von zwei unbemittelten Brüdern hatte der eine keine Lust und keinen Mut, etwas zu erwerben, weil ihm das Geld nicht zu den Fenstern hineinregnete. Er sagte immer: „Wo nichts ist, da kommt nichts hin." Und so war es auch. Er blieb sein Leben lang der arme Bruder Wonichtsist,

weil es ihm nie der Mühe wert war, mit einem kleinen Ersparnis den Anfang zu machen, um nach und nach zu einem größern Vermögen zn kommen. So

dachte der jüngere Bruder nicht; der pflegte zu sagen: „Was nicht ist, das kann werden." Er hielt das Wenige, was ihm von cer Verlassenschaft der Eltern zu teil geworden war, zu Rat und vermehrte es nach und nach durch eigenes Er­ sparnis, indem er fleißig arbeitete und eingezogen lebte. Anfänglich ging es hart und langsam; aber sein Sprichwort: „Was nicht ist, kann werden" gab ihm immer Mut und Hoffnung. Mit der Zeit ging es besser. Er wurde durch un­

verdrossenen Fleiß und Gottes Segen noch ein reicher Mann und ernährt jetzt die Kinder des armen Bruders Wonichtsist, der selber nichts zu beißen und zu nagen hat.

9. „Ende gut, alles gut" ist nicht so zu verstehen: Wenn du ein Jahr lang in einem Hause zu bleiben hast, so führe dich 364 Tage bengelhaft auf, und am 31. Dezember werde manierlich; sondern es giebt Leute, die manierlich sein können bis ans Ende, und wenn's nimmer lange währt, so werden sie ungezogen trotzig sagen: Ich bin froh, daß es nimmer lange währt, und die andern denken's auch. Für diese ist das Sprichwort. Item, es giebt Dinge, ob sie gut oder böse sind, kann erst das Ende lehren. Z. B. du bist krank, möchtest gerne essen, was dir der Arzt verbietet, gern auf die Gasse gießen, was du trinken mußt, aber du

wirst gesund; oder du bist in der Lehre und meinst manchmal, der Lehrherr sei wunderlich, aber du wirst durch seine Wunderlichkeit ein geschickter Weißgerber oder Orgelbauer; oder du bist im Zuchthause, der Zuchtmeister könnte dir wohl

54

V.

Erzählun gen.

die Suppe fetter machen, aber du wirst durch Wasser und Brot nicht nur ge­ sättigt, sondern auch gebessert; dann lehrt das gute Ende, daß alles gut war.

10. „Gott grüßt manchen, der ihm nicht dankt." Z. B. wenn dich früh die Sonne zu einem neuen, kräftigen Leben weckt, so bietet er dir guten Morgen, wenn sich abends dein Auge zum erquicklichen Schlummer schließet, gute Nacht. Wenn du mit gesundem Appetit dich zur Mahlzeit setzest, sagt er: Wohl be­ komm's! Wenn du eine Gefahr noch zur rechten Zeit entdeckst, so sagt er: Nimm dich in Acht, junges Kind, und kehre lieber wieder um! Wenn du am schönen Maitage im Blütenduft und Lerchengesang spazieren gehst, und es ist dir wohl, sagt et: Sei willkommen in meinem Schloßgarten! Oder du denkst an nichts, und es wird dir auf einmal wunderlich im Herzen und naß in den Augen

und denkst: Ich will doch anders werden, als ich bin! sagt er: Merkst du, wer bei dir ist? Over du gehst an einem offenen Grabe vorbei, und es schauert dich, so denkt er just nicht daran, daß du lutherisch oder reformiert bist, und sagt: Gelobt sei Jesus Christ! Also grüßt Gott manchen, der ihm nicht antwortet und nicht dankt. 11. „Man muß mit den Wölfen heulen." Das heißt: Wenn man zu un­ vernünftigen Leuten kommt, muß man auch unvernünftig thun wie sie. Merke: Nein! Sondern erstlich: Du sollst dich nicht unter die Wölfe mischen, sondern ihnen aus dem Weg gehen. Zweitens: Wenn du ihnen nicht entweichen kannst, so sollst du sagen: Ich bin ein Mensch und kein Wolf; ich kann nicht so schön heulen wie ihr. Drittens: Wenn du meinst, es sei nimmer anders von ihnen loszu­ kommen, so will der Hausfreund erlauben, ein- oder zweimal mitzubeüen, aber du sollst nicht mit ihnen beißen und andrer Leute Schafe fressen; sonst kommt zuletzt der Jäger, und du wirst mit ihnen geschossen. Hebei.

V. Erzählungen. 1.

Der Spiegel des Gewissens.

Ein Jüngling war in einem einsamen Thale geboren und in dem Schoße

einer stillen Hütte unter den Augen eines ehrwürdigen Vaters aufgewachsen. Der Sohn war des Vaters Freude; des Vaters Wille war auch der Wille des Soh­ nes, und es war ein frohes, frommes und einträchtiges Leben bei ihnen. Als aber der Jüngling eines Abends allein vor der Hütte saß und die flammende Sonne niederging hinter dem blauen Gebirge, das in weiter Ferne nebelte, und das

glühende Abendrot heraufstieg und den Saum des Gebirges vergoldete: da er­ griff ihn eine große Sehnsucht, mit der Sonne zu ziehen. Sein Auge schloß sich die ganze Nacht nicht, und als der Morgen dämmerte, trat er zu seinem Vater

und sprach: „Segne mich, mein Vater, und laß mich ziehen in das Abendland, daß ich sehen möge, wo die Sonne zur Ruhe geht; denn ich habe keine Rast weder bei Tag, noch bei Nacht, so groß ist mein Sehnen, so treibt es mich in

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V.

Erzählun gen.

die Suppe fetter machen, aber du wirst durch Wasser und Brot nicht nur ge­ sättigt, sondern auch gebessert; dann lehrt das gute Ende, daß alles gut war.

10. „Gott grüßt manchen, der ihm nicht dankt." Z. B. wenn dich früh die Sonne zu einem neuen, kräftigen Leben weckt, so bietet er dir guten Morgen, wenn sich abends dein Auge zum erquicklichen Schlummer schließet, gute Nacht. Wenn du mit gesundem Appetit dich zur Mahlzeit setzest, sagt er: Wohl be­ komm's! Wenn du eine Gefahr noch zur rechten Zeit entdeckst, so sagt er: Nimm dich in Acht, junges Kind, und kehre lieber wieder um! Wenn du am schönen Maitage im Blütenduft und Lerchengesang spazieren gehst, und es ist dir wohl, sagt et: Sei willkommen in meinem Schloßgarten! Oder du denkst an nichts, und es wird dir auf einmal wunderlich im Herzen und naß in den Augen

und denkst: Ich will doch anders werden, als ich bin! sagt er: Merkst du, wer bei dir ist? Over du gehst an einem offenen Grabe vorbei, und es schauert dich, so denkt er just nicht daran, daß du lutherisch oder reformiert bist, und sagt: Gelobt sei Jesus Christ! Also grüßt Gott manchen, der ihm nicht antwortet und nicht dankt. 11. „Man muß mit den Wölfen heulen." Das heißt: Wenn man zu un­ vernünftigen Leuten kommt, muß man auch unvernünftig thun wie sie. Merke: Nein! Sondern erstlich: Du sollst dich nicht unter die Wölfe mischen, sondern ihnen aus dem Weg gehen. Zweitens: Wenn du ihnen nicht entweichen kannst, so sollst du sagen: Ich bin ein Mensch und kein Wolf; ich kann nicht so schön heulen wie ihr. Drittens: Wenn du meinst, es sei nimmer anders von ihnen loszu­ kommen, so will der Hausfreund erlauben, ein- oder zweimal mitzubeüen, aber du sollst nicht mit ihnen beißen und andrer Leute Schafe fressen; sonst kommt zuletzt der Jäger, und du wirst mit ihnen geschossen. Hebei.

V. Erzählungen. 1.

Der Spiegel des Gewissens.

Ein Jüngling war in einem einsamen Thale geboren und in dem Schoße

einer stillen Hütte unter den Augen eines ehrwürdigen Vaters aufgewachsen. Der Sohn war des Vaters Freude; des Vaters Wille war auch der Wille des Soh­ nes, und es war ein frohes, frommes und einträchtiges Leben bei ihnen. Als aber der Jüngling eines Abends allein vor der Hütte saß und die flammende Sonne niederging hinter dem blauen Gebirge, das in weiter Ferne nebelte, und das

glühende Abendrot heraufstieg und den Saum des Gebirges vergoldete: da er­ griff ihn eine große Sehnsucht, mit der Sonne zu ziehen. Sein Auge schloß sich die ganze Nacht nicht, und als der Morgen dämmerte, trat er zu seinem Vater

und sprach: „Segne mich, mein Vater, und laß mich ziehen in das Abendland, daß ich sehen möge, wo die Sonne zur Ruhe geht; denn ich habe keine Rast weder bei Tag, noch bei Nacht, so groß ist mein Sehnen, so treibt es mich in

V.

Erzähln Ilgen.

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das Weite hinaus." Der gütige Bater sprach: „Ziehe hin mit Gott; aber wo du auch sein magst, sei meiner eingedenk, der stillen Heimat und aller Lehren, die ich dir gegeben habe." Dann segnete er ihn, gab ihm einen Spiegel und sagte: „Wenn du in diesen Spiegel blickst, wirst du diese Hütte sehen und das Angesicht deines Vaters; dann wirst du meiner gedenken, und ich werde dir helfen,

wenn du der Hülse bedarfst." Der Jüngling ging und schritt fröhlich fort; bald lag die väterliche Hütte weit hinter ihm. Als die Sonne abwärts stieg, lagerte er sich auf einem Hügel und schaute nach dem Thale zurück, von dem er ausgezogen war; er dachte ge­ rührt an den bejahrten Vater, zog den Spiegel hervor und sah darin die freund­ liche Gestalt des ehrwürdigen Greises; dann schlief er ruhig ein. Die Sterne taueten milde Strahlen auf ihn herab, schöne Träume stiegen mit den Strahlen in des Jünglings Seele. Als der Morgen kam, sprang er froh und rüstig auf, grüßte noch einmal die Gegend seiner Heimat und zog dann weiter an seinem Wanderstab, immer weiter. Jeden Morgen wendete er-sich gegen Aufgang nach

dem Vaterhause und beschauete das Bild seines Vaters. Bald kam er nun in bewohnte Grenzen, in große Städte, sah der Menschen Thun und Treiben, wie sie mit einander arbeiteten und gegen einander, wie sie sich liebten und haßten, nach dem Glück und Genusse rannten, der eine auf diesem, der andere aus jenem Wege. Nachdem er eine Weile zugesehen hatte, ergriff ihn eine Begierde, glei­ ches zu thun; er mischte sich in ihr Getümmel, rannte mit der Menge und kam nie zum Ziel. Aber viele Tage vergingen jetzt, wo er nicht nach der Heimat sah und seines Vaters nicht eingedenk war; denn alle seine Sinne waren bei dem, was um ihn her geschah, bei der Lust, die er genoß, oder nach der er trachtete. Da begab es sich nun, daß er eines Tages mit schlimmen Gesellen zog, die ihn mißhandelten, schlugen bis auf den.Tod und ihn dann liegen ließen auf einem einsamen Felsen, wo niemand seine Stimme hörte und kein Wanderer vorüberzog, der sich seiner erbarmte. Jammernd lag er da in seiner großen Not, sah hin­ auf zu den Bergen und hinab in die Tiefen, aber es erschien keine Hülfe. Jetzt ging die Sonne unter, die feuchte Nacht stieg über seinem Haupte auf und rollte

breite Nebel über den Himmel aus; kein Stern leuchtete in der tiefen Finsternis. Auch schloß kein erquickender Schlaf die matten Augenlider des Jammernden, kein mitleidiger Traum stieg zu ihm herab, sondern das Grauen der Finsternis um­

lagerte ihn, nur Nachtvögel kreischten aus tiefen Schluchten und schreckten sein Ohr. Dann rollte der Donner im Gebirge; furchtbare Blitze zuckten aus weit klaffendem Gewölk herab und sengten die Zweige um ihn her; der Hagel stürzte hernieder und verheerte den Wald. Da der Morgen kommen sollte, lag noch dicke Nacht über der Erde. Wehklagend und stöhnend erhob sich jetzt der Arme von dem harten Lager seiner Schmerzen und arbeitete sich mühsam fort, um einen Ausweg zu suchen, wo er menschliche Hülfe fände; aber er irrte umsonst umher

durch grausenvolle Schluchten und ekles Moor. Der Regen strömte herab, die 'Blitze umkreisten ihn; auch glühten seine offenen Wunden; ein brennender Durst verzehrte ihn, den der Regen nicht löschte, welcher auf seine Zunge fiel. Ost warf er sich nieder zur Erde; aber die durchnäßte Erde war ihm keine Ruhestatt.

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V.

Erzählungen.

Auch der Hunger quälte ihn jetzt; da er umherfühlte nach Nahrung, faßte feine

Hand den Spiegel, und, was lange nicht geschehen war, er schaute hinein; aber ach! er sah nur seine eigene Jammergestalt, die Verwüstung umher, nicht die stille Heimat in dem friedlichen Thal, noch das tröstliche Bild des ehrwürdigen VaterS:

da fing er laut an zu weinen über sich selbst, warf sich sein Vergessen vor und sein sinnloses Treiben, aus dem alles sein jetziges Leiden entsprungen sei. Es überfiel ihn eine so glühende Scham, eine so bittere Reue, daß er sein jetziges Leiden fast ganz vergaß und nur dachte, wie er den Weg wiederfände zu dem liebenden Vater und in die geliebte Heimat. Er verlangte jetzt mehr nach der engen Hütte als früher nach der weiten, unermeßlichen Welt. Wie er nun so

ging und sann und sein ganzes Herz in Sehnsucht und Liebe zerfloß, da schlug der Himmel seinen Negenschleier zurück und lachte frisch und blau herein; die

Vögel sangen munter in den Zweigen, das Abendrot brannte durch die schauern­ den Birken, die Brust des Wandernden schwoll von Hoffnung und erquickendem Vertrauen. Ein Thal öffnete sich vor seinen überraschten Blicken; sieh, im milden Schimmer des Abendlichtes lag vor ihm die stille Heimat mit ihren Bäumen. Von den Strahlen umflossen, trat der gütige Vater unter dem Laubdach hervor und öffnete dem Kommenden die Arme. Der Sohn sank weinend zu des Vaters Füßen; dieser drückte ihn an die Brust; alle seine Wunden heilten, und seiner Schmerzen wurde nicht mehr gedacht.

Jacobs.

2. Der Solenhofer Knabe. An der Altmühl ungefähr eine Viertelstunde unterhalb Solenhofen ist eine Glashütte im Gange. Das Holz zu den Öfen kann leicht über die jähen Berg­ wände herabgelassen werden, und der reine, zuckerweiße Sand findet sich da und dort in Nestern einen oder wenige Schuh unter dem Rasen. Ehe man aber anfiug, diesen Sand in Glas zu verwandeln, bestreuten oder fegten schon die Hausfrauen in der Umgegend ihre Stubenböden, Tische, Bänke und hölzernen

Geschirre damit und kauften ihn von Weibern, die ihn bei Solenhofen gruben und in kleinen Säckchen zum Verkauf in die umliegenden Orte trugen.

In der ältesten Zeit befaßte sich eine Zeit lang nur ein einziges Weib mit diesem beschwerlichen Handel, bei welchem sie oft über fünfzig Pfund auf dem Rücken aus- und nur ein paar Heller in der Tasche dafür heimtrug. Sie war eine Witwe im mittleren Alter und hatte einen Knaben von zwölf Jahren, der

im Sommer die Ziegen des Orts hütete und im Winter mit seiner Mutter in

den unterirdischen Felsklüften Sandnester aufsuchte und ausbeutete, wenn man vor Schnee und Eis in den Boden kommen konnte. Einmal in einem besonders harten Winter wollte es den guten Leuten garnicht gelingen. Lange war der Boden bald so fest gefroren und bald so hoch mit Schnee bedeckt, daß sie gar­ nicht zu ihrer unterirdischen Nahrungsquelle gelangen konnten. Der kleine Vor­ rat von Sand, den sie sich im Herbste gegraben hatten, ging zu Ende und mit ihm das Brot, das sie sich für die erlösten Pfennige aus den benachbarten Orten

mitzunehmen pflegten. An den Sommerseiten der Berge, wo die Februarsonne die dünneren Schneeschichten weggeleckt hatte, fingen sie nun an zu schürfen, aber

V.

Erzählungen.

57

überall ohne Erfolg.

Ihre Werkzeuge zerbrachen, und sie hatten noch kein weißes

Sandkorn gefunden.

Dazu ging das Futter für die Ziegen auf die Neige, und

in der Hütte waren nun vier Geschöpfe, denen der Hunger aus den Augen sah. Das Einzige, was sie noch unter sich teilen konnten, war eine Kufe mit einge­ stampften Rüben und weißem Kohl, und auch diese stritten schon mit der Ver­

wesung, weil sie nur wenig gesalzen waren. Die Geißen erhielten ihren Anteil roh, wie er aus der Kufe kam; die Portionen für sich und ihren Knaben kochte die Witwe und salzte sie oft mit ihren bitteren Kummerthränen; denn es war

damals unter ihrem Dache wie in der Hütte der Witwe von Zarpath, als sie dem Propheten antwortete: „So wahr der Herr, dein Gott, lebet, ich habe nichts Ge­ backenes, nur eine Hand voll Mehl im Topf und ein wenig Öl im Kruge. Und siehe, ich habe Holz aufgelesen und gehe hinein und will mir und meinem Sohne zurichten, daß wir essen und sterben." Der KnaLre liebte seine Mutter und be­ wies seine Liebe am meisten dadurch, daß er nie über seinen Hunger klagte, son­

dern geduldig von einer Mahlzeit auf die andere wartete und überhaupt alles vermied und verbarg, was ihr das Herz noch schwerer machen konnte; aber fast die ganze andere Hälfte seines Herzens war den Ziegen zugewandt, und es wollte ihm brechen, wenn er sah, wie sie, von Hunger getrieben, an der Kufe hinauf­ sprangen und vergebens Hals und Zunge streckten, um die Neige darin zu errei­

chen. Hätten sie von seinen schönen Worten und Vertröstungen auf den nahen Frühling satt werden können, dann hätten sie reichliches Futter gehabt; aber so

wurden sie immer magerer, und der Knabe entschloß sich endlich, für sie zu thun, was er noch nicht einmal für seine Mutter gethan hatte. In Solenhofen war ein Benediktinerkloster. An die Pforte desselben pochte der Knabe mit dem schweren eisernen Klöpfel, der daran hing, und antwortete dem Bruder Pförtner, der nach seinem Begehren fragte, er müsse mit dem Abt selbst reden. Er wurde vor diesen ehrwürdigen Diener Gottes geführt, küßte ihm

die Hand und bat, er möchte ihm doch nur erlauben, das Heu aufzulesen, das die Klosterkühe unter den Barren und unter die Streu würfen; denn seine zwei Ziegen wären am Verhungern. Den Abt überraschte anfangs die Bitte, deren

Gewährung gar leicht mißbraucht oder wenigstens zu einer großen Versuchung werden konnte; aber bald überzeugte er sich, mit was für einer aufrichtigen und redlichen Seele er es zu thun hatte. Er fragte unter andern Dingen nach dem Wenigen, was nach den damaligen Anforderungen der Kirche ein Christ wissen sollte.

Der Knabe sagte seinen Glauben, sein Vaterunser nebst einigen anderen

kürzeren Gebeten gut her und beantwortete munter etliche Fragen aus den Evan­ gelien. Nun sprach der Abt: „Mein Söhnlein, du darfst alle Tage, wenn unsere Kühe zur Tränke getrieben werden, kommen und holen, was sie unter dem Barren liegen lassen; und wenn der Bruder Küchenmeister etwas übrig hat, so wird er es dir auch mitgeben für dich und deine Mutter." Dann segnete er den Knaben

und entließ ihn froh und getröstet. In der Hütte der Witwe hatte nun die Not ein Ende.

Bald kam auch

der warme und freundliche Frühling; die Witwe entdeckte wieder eine ergiebige Sandgrube, und ihr Benedikt trieb als gedungenes Ziegenhirtlein die Ziegen des

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V.

Erzählungen.

Dorfes auf die hohen, luftigen Berge. In die Kost ging er bei den einzelnen Besitzern der Ziegen der Reihe nach; sein Osterlamm aß er im Kloster, seinen Pfingstkuchen buk ihm die Wirtin, seinen Kirchweihschmaus hielt er in der neuen

Mühle, und seinen Namenstag feierte er wieder mit den Benediktinern. An Unter­ haltung fehlte es ihm auch auf den einsamen Höhen nicht; da lag der damals

noch unbenutzte Kalkschiefer so am Tage, daß es ihm leicht ward, Platten davon herauszuholen und aus ihnen mit einem ganz kleinen Hammer, den ihm noch sein verstorbener Vater gemacht hatte, regelmäßige Vierecke zu fertigen. Was man so unrichtiger und sündlicher Weise Zufall nennt, führte den Knaben zu einer wichtigen Erfindung. Benedikt legte einmal eine Schieferplatte, wie er sie aus dem Boden gebrochen hatte, auf seinen Schoß, zeichnete mit einer

Kohle von seinem Hirtenfeuer ein Viereck darauf und sprach dann bei sich: Wenn ich fünfzig solche viereckige Tafeln hätte, könnte ich meine ganze Hausflur damit belegen, wo jetzt die Hühner scharren, wenn es draußen regnet. Und während er dies, dachte, klopfte er mit seinem Hämmerlein auf dem einen schnurgeraden Kohlenstrich sanft auf und ab; denn er freute sich über den hellen Klang der Platte; aber auf einmal wurden die hellen Töne dumpf und immer dumpfer wie bei einer zersprungenen Glocke, und zuletzt sprang die Tafel gerade in der Richtung des Kohlenstrichs mitten entzwei. Ist es da so gegangen, dachte nun Benedikt, so kann es bei den übrigen drei Seiten ebenso gehen, und hämmerte auch auf dem zweiten Kohlenstrich eine Weile vorwärts und rückwärts. Sein Schluß war richtig. Nachdem er noch einige Minuten so fortgeklopft hatte, lag eine vollkommen viereckige Platte auf seinen Knieen. Eine zweite gelang nicht minder, und so fort. Früher schon hatte er manchmal zwei Schiefertrümmer an­ einandergerieben, um sie zu polieren, und gefunden, daß er damit am schnellsten zustande kam, wenn er von dem Sande, mit dem seine Mutter handelte, dazwischenthat und Wasser dazunahm. Diese frühere Erfindung wandle er nun auf seine Pflastersteine an und gewann so einige sehr schöne Platten. Indes trieb er dies alles als eine bloße Spielerei und sagte davon niemand

etwas, selbst seiner Mutter nicht.

Seine schönsten Tafeln verbarg er da und

dort unter einem Busch, wie etwa ein Hirtenknabe an der Donau schöne Kiesel,

die er in ihrem Bette findet, in einem hohlen Weidenstamm aufhebt.

Eines

Abends aber, als er eingetrieben hatte und seiner Mutter gegenüber an der Suppenschüssel saß, erzählte sie ihm, daß sie mit Sand in Eichstädt gewesen und dort dem Bischof so nahe gekommen sei, daß sie jedes seiner Worte verstanden habe. „Was sagte er denn?" fragte Benedikt. „Er stand," antwortete die Witwe, „mitten unter den Domherren in der neuen Kirche, die er hat bauen lassen, und beratschlagte mit ihnen, mit was für Steinen der Fußboden belegt werden dürfe.

Der eine riet dies und der andere das, bis der ehrwürdige Herr der Unter­ redung damit ein Ende machte, daß er sagte: „Nun, morgen um die elfte Stunde

haben wir die fremden Steinmetzen hierher bestellt und wollen die Proben be­ schauen, die sie von allerlei Sand- und Marmelsteinen bei sich haben; aber wir fürchten, ein solches Pflaster möchte für unsern bischöflichen Beutel zu teuer­ kommen. Wir werden uns wohl die Backsteine gefallen lassen müssen, die am

V. Erzähl» ngen

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wohlfeilsten sind." „So, so!" versetzte Benedikt, warf seinen Löffel von Horn in die Tischlade, wünschte seiner Mutter eine gute Nacht und ging unter das Dach

hinauf in seine Schlafstätte. Das Sandweib hatte übrigens den Fürstbischof ganz recht verstanden. Schon bald nach der zehnten Stunde des Morgens versammelten sich in der neuen Kirche zu Eichstädt, in der von der Hand des Maurermeisters nichts mehr fehlte als das Pflaster, etliche Steinmetzen, die der Bischof aus Throl, dem Fichtelgebirge und dem Rheingau auf seine Kosten berufen hatte. Die Steinproben trugen ihnen ihre Gesellen in kleinen hölzernen Kasten nach und stellten sie nebeneinander auf

eine aus und auch

lange Tafel. Darauf fanden sich nach und nach mehrere Grafen und Herren der Nachbarschaft ein, die schon reichlich zu dem Kirchenbau beigesteuert hatten, nun auch noch bei dem Pflaster ein übriges thun sollten. Endlich erschien der Fürstbischof mit der ganzen Geistlichkeit und seinen weltlichen Beamten

hinter sich, und als alle beisammen waren, schien es fast, als sollte eine Kirchen­ versammlung abgehallen werden, so viele waren ihrer. Der Bischof nahm nun die schön geschliffenen Proben aus den Kästlein eine nach der andern, und es war keine darunter, die ihm und seinem Gefolge nicht gefallen hätte. Auch waren zum Teil die kleinen Marmelsteine in den Schubladen so nebeneinander gelegt, daß man schon im kleinen sehen konnte, wie herrlich schön ein Steinpflaster davon im großen ausfallen würde; aber als die fremden Steinmetzen nacheinander

sagten, was der Quadratfuß an Ort und Stelle koste, und als der Baumeister an den Fingern herrechnete, wie viel Quadratfuß er brauche, und als der Rent­ meister die Gesamtsumme in Goldgulden aussprach, fuhr der Bischof mit der Hand hinter das Ohr, und sein Schatzmeister schüttelte mit dem Kopf, und die Grafen und Herren machten große Augen; ja, ein Mönchlein, das noch nie mehr als einige Heller im Opferstock seines Klosters beisammen gesehen hatte, schlug in dem ersten Schrecken ein Kreuz. Alle standen und sahen einander

schweigend an. In diesem Augenblick entstand unter dem Hauptportale der Kirche ein Ge­ räusch. Zwei Trabanten des Fürstbischofs wollten einen barfüßigen Bauernknaben nicht hereinlassen und hielten ihre Hellebarden vor; aber der Knabe duckte sich, schlüpfte darunter hinweg wie eine Henne unter der Gartenthüre und drängte sich dann ohne Umstände mitten durch die Versammlung, bis er vor dem Bischof stand, dem er den Saum seines Kleides küßte. Seine Mütze nahm er zwischen die Kniee, drei viereckige und zolldicke Schieferplatten, eine blaßgelbe, eine blau­

graue und eine marmorierte, nahm er aus der Schürze, mit welcher sie umwickelt waren, und legte sie auf die Tafel. Sie waren noch naß, denn er hatte sie erst in den Dombrunnen getaucht; desto mehr aber glänzten die geschliffenen Seiten

und zeigten, wie schön die Steine erst dann werden würden, wenn eine kunst­ geübte Hand darüberkäme. Seine Ware zu empfehlen, meinte der Knabe, sei

nicht nötig, sondern er schaute nur einem von den Umstehenden nach dem andern ins Gesicht und wischte mit der Schürze den Schweiß von der Stirne; als aber

der Bischof anfiug ihn zu fragen, antwortete er munter und sprach: „Ich gehöre dem Sandweib von Solenhofen, und die Steine habe ich auf dem Berge hin-

V.

60

Erzählungen.

ter dem Kloster gemacht; und wenn ihr noch mehrere braucht, so dürft ibr mir

nur eure Steinhauer mitgeben, so will ich ihnen zeigen, wie sie es anfangen müssen." Denn der Knabe war Benedikt, unser Ziegenhirtlein. Er hatte nach der Abendsuppe, bei der ihm seine Mutter von der neuen Kirche in Eichstädt erzählte, nicht mehr geschlafen, sondern ein Gedanke, der ihm unter dem Essen gekommen

war, hatte ihn durch die Hinterthür hinaus auf den Berg, wo seine Steine lagen, und von da mit ihnen in der mondhellen Nacht gen Eichstädt getrieben, wohin er den Weg von dem Sandhandel her genau kannte. Seine Mutter erschrak freilich, als sie ihn in aller Frühe wecken wollte und das Nest leer fand. Und sie konnte nicht einmal gehen, ihn zu suchen oder ihm nachzufragen; denn die Ziegen waren schon alle aus den Ställen gelassen und standen meckernd auf der Gasse oder naschten von den Blumenstöcken vor den Fenstern des Pfarrhauses. Übel oder wohl, sie mußte thun, als wäre ihr Benedikt krank. Sie nahm Geißel

und Stecken und trieb das Vieh selbst auf den Berg, wo sie den langen, langen Tag unter vergeblichem Warten und Sorgen zubrachte; aber als sie abends hinter der gehörnten Schar das Dorf hinunter ging, kamen einige Maultiere herauf ihr entgegen. Auf dem vordersten saß ihr Benedikt hinter einem Knechte des Fürstbischofs und zwar so munter, daß die Witfrau sogleich sah, es müsse ihm den Tag über nicht schlecht gegangen sein. Und so war es auch. Der Bischof hatte sich sogleich für die Pflastersteine des Sandbuben entschieden und die fremden Steinmetzen wieder in ihre Heimat entlassen, den Knaben aber mit sich in sein Haus genommen, gespeist und ihm versichert, daß er für ihn und seine Mutter sorgen wolle. Dann hatte er ihn mit dem Baumeister, der das Steinlager untersuchen sollte, nach Solenhofen zurückgehen lassen.

Der Bischof hielt Wort. Nachdem Benedikt bei einem Meister Steinmetz in Eichstädt in der Lehre gewesen war, ließ er sich in Solenhofen nieder und

hatte fortwährend so viele Bestellungen an Pflaster- und Quadersteinen, daß es ihm und seiner Mutter nie mehr an dem täglichen Brot fehlte. Stöber.

3.

Die Gottesmauer.

„O Mutter, wie stürmen die Flocken

Geh, schließe die Thür und die Laden;

vom Himmel, Es wird uns in Schnee noch begraben;

Gott wird vor dem Sturme der Nacht

Und mehr noch als Flocken im Dorf ein

Gewimmel Von Reitern, die reiten und traben. Hätten wir nur Brot im Haus, Macht' ich mir so viel nicht draus,

uns behüten Und auch vor den Feinden in Gnaden

Kind, ich bete, bete mit! Wenn uns Gott der Herr vertritt, So vermag uns der Feind nicht zu scha­

Im Quartier ein paar Reiter zu ha­

den." „O Mutter, was soll nun das Beten

ben." „Es nachtet, o Kind, und die Winde,

und Bitten? Es kann vor den Reitern nicht helfen.

sie wüten;

V.

Erzählungen.

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Horcht, Mutter, die Reiter, sie kommen

Mit Reue bitt' ab ihm und lege dich

geritten, O hört, wie die Hündelein beiseit.

schlafen; Er hat mein Vertrauen belohnet."

Gehl zur Küch' und rüstet Ihr, Wenn sie kommen ins Quartier, Euch, so gut es will gehn, zu behelfen."

„Ei, der Vetter Schultheiß hat Wohl, wie er schon manchmal that, Aus besonderer Gunst uns verschonet." Einscblummert der Knabe mit weniger

Die Mutter sitzet und geht nicht vom Orte, Der Keller ist leer und die Küche; Sie hält sich am letzten, am einzigen Horte, Sie betet beim Lämplein im Buche: „Eine Mauer um uns bau', Daß davor den Feinden grau'!" Sie erlabt sich am tröstlichen Spruche. „O Mutter, den Reitern zu Rosse zu

wehren, Wer wird da die Mauer uns bauen? Sich lassen die Reiter, wohin sie begehren, Vor Wällen und Mauern nicht grauen." „Kind, bedenk' als guter Christ: Gott kein Ding unmöglich ist, Wenn der Mensch nicht verliert das Ver­ trauen." EöbetetdieMutter,eslachetder Knabe,

Er horcht an verschlossener Pforte; Er höret die Reiter, sie reiten im Trabe; Es rennen die Bauern im Orte. Thüren krachen dort und hie.

„Jetzt gewiß, jetzt kommen sie. Auch an unsre der Mutter zum Torte."

Nichts kommt an die Thür als des Windes Gebrause, Ein Wehen und Weben und Wogen. Die Reiter, verteilet von Hause zu Hause,

Ruhe, Die Mutter mit vollem Vertrauen. Drauf ist er schon wiederum auf in der Frühe, Den Abzug der Reiter zu schauen. Wie er auf das Thürlein zieht, Sieht er, staunt und staunt und sieht, Daß derHimmel dochMauern kann bauen.

Das hat nicht der Vetter, der Schult­ heiß, gerichtet: Die Diener des Himmels, die Winde, Sie haben int stillen die Mauern ge­

schichtet Statt Steinen aus Flocken gelinde. Eine Mau'r ums Häuslein ganz Steht gebaut aus schnee'gem Glanz Zum Beweis dem ungläubigen Kinde.

Da muß es der Mutter nun sagen der Knabe; Er weckt sie vom Schlaf mit der Kunde. Da hört er die Reiter, sie ziehen im Trabe, Und möchte sie sehen zur Stunde; Doch zur Straf' es ihm geschieht, Daß er nicht die Reiter sieht;

Denn die Mauer, sie steht in der Runde. Da macht es die Mutter zur Strafe dem Knaben,

Vor diesem vorüberzogen.

Den Weg durch die Mauer zu brechen.

Stiller wird es dort und hier. „Alle, scheint's, sind im Quartier,

Da muß er nun schaufeln, da muß er nun graben; Und als er mit Hauen und Stechen Durch ist, sind die Reiter fort, Und die Nachbarn stehn am Ort,

Und wir sind um die Gäste betrogen." „Kind, möge dich Gott für den Frevel nicht strafen, Daß Glaube dein Herz nicht bewohnet.

Die sich über das Wunder besprechen. Rückert.

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V.

L.

Erzählungen.

Der Star von Segringen.

Selbst einem Star kann es nützlich sein, wenn er etwas gelernt hat; wie viel mehr einem Menschen! In einem respektablen Dorf, ich will sagen, in Seg­ ringen, es ist aber nicht dort geschehen, sondern hier zu Land, und derjenige, dem es begegnet ist, liest es vielleicht in diesem Augenblick, nicht der Star, aber der

Mensch. In Segringen der Barbier hatte einen Star, und der wohlbekannte Lehrjunge gab ihm Unterricht im Sprechen. Der Star lernte nicht nur alle Wörter, die ihm sein Sprachmeister aufgab, sondern er ahmte zuletzt auch selber nach, was er von seinem Herrn hörte, zum Exempel: ich bin der Barbier von Segringen. Sein Herr hatte sonst noch mancherlei Redensarten an sich, die er bei jeder Gelegenheit wiederholte, zum Exempel: so, la la, oder: par Compag­ nie (das heißt so viel als: in Gesellschaft mit andern), oder: wie Gott will, oder: du Tolpatsch! So titulierte er nämlich insgemein den Lehrjungen, wenn er das halbe Pflaster auf den Tisch strich anstatt aufs Tuch, oder wenn er das Scher­ messer am Rücken abzog anstatt die Schneide, oder wenn er ein Fläschchen zer­ brach. Alle diese Redensarten lernte nach und nach der Star auch. Da nun täglich viele Leute im Hause waren, weil der Barbier auch Branntwein ausschenkte, so gab es manchmal viel zu lachen, wenn die Gäste miteinander ein Gespräch

führten und der Star warf auch eins von seinen Wörtern drein, was sich dazu schickte, als wenn er den Verstand davon hätte; und manchmal, wenn ihm der Lehrjunge rief: Hansel, was machst du? antwortete er: Du Tolpatsch! Und alle Leute in der Nachbarschaft wußten von dem Hansel zu erzählen. Eines Tages aber, als ihm die beschnittenen Flügel wieder gewachsen waren und das Fenster war offen und das Wetter schön, da dachte der Star: Ich habe jetzt schon so viel gelernt, daß ich in der Welt kann fortkommen; und husch zum Fenster hin­ aus! Weg war er. Sein erster Flug ging ins Feld, wo er sich unter eine Ge­

sellschaft anderer Vögel mischte, und als sie aufflogen, flog er mit ihnen, denn er dachte: Sie wissen die Gelegenheit hier zu Land besser als ich; aber sie flogen unglücklicher Weise alle miteinander in ein Garn. Der Star sagte: „Wie Gott

will!" Als der Vogelsteller kommt und sieht, was er für einen großen Fang gethan hat, nimmt er einen Vogel nach dem andern behutsam»heraus, dreht ihm den Hals um und wirft ihn auf den Boden. Als er aber die mörderischen Finger wieder nach einem Gefangenen ausstreckte und denkt an nichts, schrie der Gefan­ gene: „Ich bin der Barbier von Segringen!" als wenn er wußte, was ihn retten

muß. Der Vogelsteller erschrak anfänglich, als wenn es hier nicht mit rechten Dingen zuginge; nachher aber, als er sich erholt hatte, konnte er kaum vor Lachen zu Atem kommen, und als er sagte: „Ei Hansel, hier hätte ich dich nicht gesucht; wie kommst du in meine Schlinge?" da antwortete der Hansel: „Par Compagnie!“

Also brachte der Vogelsteller den Star seinem Herrn wieder und bekam ein gutes Fanggeld. Der Barbier aber erwarb sich damit einen guten Zuspruch; denn jeder wollte den merkwürdigen Hansel sehen, und wer jetzt noch weit und breit in der

Gegend will zur Ader lassen, geht zum Barbier von Segringen. Merke:

So etwas passiert einem Stare selten; aber schon mancher junge

V.

63

Erzählungen.

Mensch, der auch lieber herumflankieren als daheimbleiben wollte, ist ebenfalls

par Compagnie in die Schlinge geraten und nimmer herausgekommen. Hebel.

3. Der Läufer von Glarus. Einst fochten die von Uri sich

Der Urner schon mit stolzen Tritten

Und die von Glarus bitterlich

Ins fremde Land herabgeschritten.

Um ihre Landesscheiden an; Da ward zuletzt der Spruch gethan: „Zur Tag- und Nachtgleich' allerfrühst, Sobald der Hahn den Morgen grüßt, Soll nach der beiden Länder Enden

Der Glarner hielt mit nichten an; Er sprang noch unverzagt bergan, Daß er noch Land dem guten Rechte Und seinem Bolk gewinnen möchte. Der Urner hüpft mit lautem Hohn.

Jedwedes einen Läufer senden; Und wo sich dann begegnen beide, Da sei fortan des Landes Scheide!" Und als der Morgen war gekommen Und kaum die höchsten Alpen glommen, Zu Uri wachte schon der Hahn Und sang den Morgen lustig an. Der Hunger hatt' ihn früh geweckt. Und wie er kaum die Flügel reckt, Bricht schon der Urner hurtig auf Und nimmt zur Scheide seinen Lauf. Indes zu Glarus schläft noch fest Der Hahn in seinem warmen Nest; Sie hatten trefflich ihn gefüttert,

„Hier ist die Scheide!" ruft er schon; Doch will er von den Alpenmatten Ein Stücklein ihm zurück erstatten, So weit es ihm noch möge glücken,

Drum schlief er satt und unerschüttert, Derweil im roten Morgenbrand Ihn bänglich die Gemeind' umstand. Doch endlich hub er an zu krähen

Und schlummerlrunken sich zu blähen, Und hurtig sprang der Glarner auf Und nahm zur Scheide seinen Lauf. Doch als er eilte kurze Strecke,

Kam droben um die Felsenecke

Ihn fortzutragen auf dem Rücken. Der schwingt ihn auf die Schultern drauf Und klettert frisch den Steg hinauf; Er atmet schwer, das Knie bricht ein, Erblassend stürzt er aufs Gestein. „Hier ist die Grenze!" ruft er schnelle — Sein Grabstein ist zur selben Stelle. Da ruhe nun von deinem Lauf Und atme fröhlich wieder auf! Du bist, so lang dein Fuß dich trug

Und bis zum letzten Atemzug Fürs gute Recht vorangedrungeu Und hast ihm treulich Land errungen

Und weiter seine Mark gesetzt. Glückselig, wer zu guter Letzt „Hier ist die Grenze!" rufen kann!

Am Steine, den der Mut gewann,

Den Ruhstein du gefunden hast; Da, braver Läufer, halte Rast! Stöber.

6. Stavoren. Im Südersee gen Westen lag mitten auf dem Meer Ein Eiland, grün und blühend wie keines rund umher. Drauf ragt die Stadt Stavoren, an Gold und Silber reich; Die größten aller Städte, sie kamen ihr nicht gleich. Einst lebte dort und schwelgte ein schmuckes Mägdelein, Wohl mochte keines reicher und keines schöner sein; Sie hatte Land und Schlösser und Leute, treu und gut, Da kam wohl in das Fräulein der arge Übermut.

64

V.

Erzählungen.

Mehr Schätze aufzuhäufen, das war ihr einzig Ziel,

Die Armen zu verspotten, ihr allerliebstes Spiel, Und höhnen, lästern, fluchen, das war der Jungfrau Brauch; Ach, leider thaten viele der Stadt ein Gleiches auch! Einst ging sie längs dem Strande zu ihrem Schiffer hin. „Fahr' aus nach fernem Lande und bringt nach meinem Sinn Mir eine reiche Ladung des Edelsten nach Haus!" Da sinnt und denkt der Schiffer: Was such' ich Edles aus? Zu Danzig auf dem Markte beim kühlen, goldnen Born, Da liegen zum Verkaufe viel Säcke Mais und Korn. Ja, diese Gottesgabe ist edel wohl und gut! Drum füllt mit Korn der Alte das Schiff mit frohem Mut,

Kehrt wieder nach Stavoren zu der Gebieterin. „Nein, sag' mir, alter Schiffer, was kam dir in den Sinn? In Afrika, so meint' ich, läufst du im Hafen ein Und handelst treu und bieder um Gold und Elfenbein!" „Mein Fräulein, meine Herrin, verzeiht dem Schiffersmann! Ich landete nicht ferne in Danzigs Hafen an; Zu Danzig auf dem Markte beim kühlen, goldnen Born, Da kauft' ich tausend Säcke mit Weizen und mit Korn." „Und brachtest du mir Weizen, so sag' ich dir zur Stund': Du schüttest mir die Ladung tief in des Meeres Grund!"

Der Mann erbleicht. „O ladet nicht auf euch Gottes Zorn, Ist doch des Herren Gabe das kleinste Samenkorn!" Und sie befahl zum zweiten; da nahten arme Leut' Und baten um Erbarmen und um Barmherzigkeit;

Sie weinten, und sie baten, sie flehten auf den Knien, Allein das harte Fräulein thät kalt vorüberziehn. Und sie gebot zum dritten; da trat der Schiffer vor

Und sprach und rang die Hände und hob sie hoch empor: „Du ladest Fluch und Sünde, Verzweiflung auf dein Haupt, Wirst künftig daran darben, was jetzt die Woge raubt." „So wahr ich nimmer wieder das goldne Ringlein seh', Das ich vor euren Augen hinwerfe in die See, So wahr wird fern mir bleiben wohl bis an meinen Tod, Was Ihr mir sagt von Elend, Verzweiflung, Fluch und Not!"

Das Ringlein sank hinunter, und auch der Weizen sank, Er wirbelt auf und nieder bei einer sand'gen Bank;

Doch als am andern Morgen das Fräulein kam zu Tisch, Fand sie zum höchsten Schrecken den Ring in einem Fisch. Das war das erste Zeichen; nun folgte Schlag auf Schlag;

Der Fluch des vor'gen Tages war Fluch dem neuen Tag: Es floh der Stolz, der Reichtum, und Elend kam und Not, Uud fluchend und verzweifelnd starb sie den Hungertod.

V.

Erzählungen.

65

Im Lenze ging der Weizen hoch auf wie Gras und Ried, Doch fruchtlos blieb er immer, wenn auch der Sommer schied. Die Leute in Stavoren, sie sahn das Wunder auch,

Doch lebten sie in Sünden nach ihrem alten Brauch.

Da kam die schwere Strafe wohl einstmal über Nacht: Da sank die Stadt Stavoren zum Teil in Meeresschacht. Und aber sank ein Stücke, und noch ein Stücke sank; So fand durch Schuld und Frevel die Stadt den Untergang. Und noch alljährlich stürzen dort kleine Hütten ein. Auch mag in diesen Hütten kein Fried' und Segen sein;

Drum stehn sie so verlassen, von außen still und tot, Doch innen wütet Elend, Verzweiflung, Fluch und Not. Und noch schießt aus dem Meere im Frühling Gras und Ried, Doch fruchtlos bleibt es immer, wenn auch der Sommer schied; Die Sandbank, wo es sprosset, die ist im ganzen Land Nach jener Schreckenssage genannt der Frauensand. Bonger.

7. Mutterliebe. In einer Ebene Italiens zwischen duftenden Limonenwäldern beglückte die gute Klementine in einem einsamen Häuschen einen Mann und drei Kinder mit unaussprechlicher Liebe.

Eines Tages hatte sie von der Dämmerung des Morgens an bis zum sin­ kenden Abende, indes ihr Gatte in Geschäften entfernt war, gearbeitet und, ohne nur einmal an sich zu denken, rastlos ihre Kräfte an der Beschickung des Hauses und der Besorgung ihrer Kleinen erschöpft.

Froh der vollendeten Arbeit, trat

sie in die Thüre der Hütte und schaute mütterlich sorgsam hinaus nach ihrem Knaben Antonio, der. in der Nähe mit der kleinen Schwester Franziska an einem Lorbeergesträuch im Schatten von Olivenbäumen spielte. Befriedigt eilte sie zurück in die reinliche Stube, besetzte den Tisch mit dürf­ tiger, doch wohlschmeckender Kost zum Abendessen, hing mit lächelndem Gesichte und verhaltenem Atem lange über der Wiege, in welcher ihr Säugling mit glü­

henden Wangen und hörbaren Atemzügen des Schlafes genoß, und ließ sich dann behutsam auf einen Schemel neben der Wiege an ihrem Rade nieder.

Die Stille umher, das sanfte Atmen des schlafenden Kindes, das leise Wehen eines schwülen Lüftchens, das im dichten Rebenlaube vor dem Fenster flüsterte, der Gesang einer Schwalbe unter dem Dach und vor allem die Ermüdung von langer Geschäftigkeit führte einen Schlummer herbei, der ihr unvermerkt die

Augenlider zu schlafen, dachte — Gott, wie den Wimpern!

schließen begann; aber schnell raffte sie sich auf. Ich darf nicht sie, Franziska braucht ein neues Kleidchen, rieb die schweren Augen oft und gern jagt eine Mutter für ihre Kinder den Schlaf von — und dann drehte sich ihr Rädchen so hurtig, so eifrig, als sollte

das Garn zu Franziskas Kleide heute noch gesponnen sein. Plötzlich schreckte ein jähes Angstgeschrei ihres Antonio sie auf.

Sie stürzte

vor die Hütte, sah mit Beben, wie er die zitternde Franziska herbeiführte, und Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Lesebuch.

5. Aust.

5

V.

66

Erzählungen.

hörte seinen Ruf: „Mutter, sieh, wie Franziskas Hand blutet! Eine Natter hat

sie gebissen." „Ach, Franziska! meine Franziska! Eine Natter! Gott, warum ließ ich sie hier spielen? Hülfe! Rettung!" Das war alles, was sie mit ver­ schlungenen Armen ächzte, das war es, was sie zu einem eben vorübereilenden Manne in gebrochenen Worten stammelte. „Junges Weib," sagte der Wanderer, „ich kann nicht weilen, mein Vater liegt in jenem Dorfe todeskrank; auch habe ich nur einen Rat: seht, wo ihr einen Hund bekommt, der ihr das Gift aus der Wunde saugt, aber geschwind! sonst weiß ich nichts." Mit diesen Worten ging der Mann vorüber, und Klementine taumelte, wie vom jähen Schwindel überfallen, und die Verzweiflung zuckte in ihrem blassen Gesichte; doch nach einem Augenblicke war ihr Antlitz heiter; sie erhob sich schnell, wie wenn man Rettung sieht. „Ein Hund das Natterngift aus ihrer Wunde saugen?" sagte sie „das wird ein Hund nicht thun; aber eine Mutter kann es, eine Mutter thut es!" Und hastig zog sie ihre Tochter an sich, als ob dieselbe an einem Abgrunde stände, drückte die Lippen auf die Wunde und sog und sog so innig und lange, als könnte sie Kraft und Leben aus der Wunde saugen. Indem sah Antonio den Vater sich nähern, stürzte ihm entgegen und erzählte, was geschehen war, und was die Mutter thue. Vor Entsetzen erbleichte der gute Mann und wankte und hielt sich an dem nächsten Baume. „Was machst du, Vater?" rief der Knabe und sprang auf ihn zu, als wollte er ihm helfen; aber noch ehe er ihn umfaßte, bebte er wieder zurück vor einer toten Schlange, er jetzt erst an des Vaters Stab gebunden erblickte, und stammelte: „Ach, Natter war es! Ja, so eine Natter hat unsre liebe Franziska gebissen!" „Nun gottlob, gottlob!" jauchzte der Vater; „das ist keine Natter, das eine unschädliche Schlange, die niemanden töten kann." Mit nassen Augen reichte er die Hütte, umfaßte die Tochter mit der Mutter, schloß sie lange seine Brust und rief mit trunkener Freude: „Böses, treffliches Weib, wie hast mich erschreckt!

die die ist er­ an du

Aber Gott sei Dank! die Schlange war nicht giftig; der Herr

sei gepriesen, wir bleiben noch zusammen! Deine Mutterliebe werde ich nie ver­ gessen, und keius von deinen Kindern wird sie vergessen, und diese Hand, deren

Wunde deine Lippen heilen wollten, mag einst grüne Kränze in dein graues Haarwinden." Hand in Hand traten nun die Gatten, von ihren Kindern begleitet, in die Stube, durch deren Fenster eben die sinkende Sonne den einladenden Tisch mit

dunklem Glanz rötete, und der Säugling in der Wiege sah sich mit hellen Augen ruhig um und lächelte den glücklichen Eltern entgegen. Starke.

8.

Der Barbierjunge von Segringen.

Man muß Gott nicht versuchen, aber auch die Menschen nicht.

Denn in

dem vorjährigen Spätjahre kam in dem Wirtshause zu Segringen ein Fremder von der Armee an, der einen starken Bart hatte und fast wunderlich aussah, also

daß ihm nicht zu trauen war. Der sagt zum Wirt, ehe er etwas zu essen oder zu trinken fordert: „Habt ihr keinen Barbier am Ort, der mich rasieren kann?"

V.

67

Erzähln ngen

Der Wirt sagt: „Ja!" und holt den Barbier.

Zu dem sagt der Fremde: „Ihr

sollt mir den Bart abnehmen; aber ich habe eine kitzlige Haut; wenn ihr mir nicht ins Gesicht schneidet, so bezahle ich euch vier Kronenthaler; wenn ihr mich

aber schneidet, so steche ich euch tot. Ihr wäret nicht der erste!" Wie der er­ schrockene Mann das hörte (denn der fremde Herr machte ein Gesicht, als wenn es nicht vexiert wäre, und das spitzige, kalte Eisen lag auf dem Tisch), so springt er fort und schickt den Gesellen.' Zu dem sagt der Herr das nämliche. Wie der Gesell das nämliche hört, springt er ebenfalls fort und schickt den Lehrjungen. Der Lehrjunge läßt sich blenden von dem Geld und denkt: Ich wag's; gerät es, und ich schneide ihn nicht, so kaun ich mir für vier Kronenthaler einen neuen Rock auf die Kirchenweihe kaufen und einen Schnepper; gerät's nicht, so weiß ich, was ich thue! und rasiert den Herrn. Der Herr bält ruhig still, weiß nicht, in welcher entsetzlichen Todesgefahr er ist, und der verwegene Lehrjunge spaziert ihm auch ganz kaltblütig mit dem Messer im Gesicht und um die Nase herum,

als wenn es nur um einen Sechser oder im Fall eines Schnittes um ein Stück­ lein Zunder oder Fließpapier darauf zu thun wäre und nicht um vier Kronen-

thaler und um ein Leben, und bringt ihm glücklich den Bart aus dem Gesicht ohne Schnitt und ohne Blut und dachte doch, als er fertig war: Gottlob! Als aber der Herr aufgestanden war und sich im Spiegel beschaut und ab­ getrocknet hatte, giebt er dem Jungen die vier Kronenthaler und sagt zu ihm: „Aber, junger Mensch, wer hat dir den Mut gegeben, mich zu rasieren, da doch dein Herr und dein Gesell sind fortgesprungcu? Denn wenn du mich geschnitten hättest, so hätte ich dich erstochen!" Der Lehrling aber bedankte sich lächelnd für das schöne Stück Geld und sagte: „Gnädiger Herr, ihr hättet mich nicht erstochen; sondern wenn ihr gezuckt hättet, und ich hätte euch ins Gesicht' geschnitten, so wäre ich euch zuvorgekommen, hätte euch augenblicklich die Gurgel abgehauen und wäre aus- und davongesprungen." Als aber der fremde Herr das hörte und an die Gefahr dachte, in der er gewesen war, ward er blaß vor Schrecken und Todesangst, schenkte dem Burschen noch einen Kronenthaler extra und hat seitdem

zu keinem Barbier mehr gesagt: „Ich steche dich tot, wenn du mich schneidest!" Hebel.

9.

Der blinde König.

Was steht der nord'schen Fechter Schar-

Hoch auf des Meeres Bord? Was will in seinem grauen Haar Der blinde König dort?

Er ruft, in bittrem Harme Auf seinen Stab gelehnt, Daß überm Meeresarme Das Eiland wiedertönt:

„Gieb, Räuber, aus dem Felsverließ Die Tochter mir zurück! Ihr Harfenspiel, ihr Lied, so süß,

War meines Alters Glück.

Bom Tanz auf grünem Strande Hast du sie weggeraubt; Dir ist es ewig Schande,

Mir beugt's das graue Haupt." Da tritt aus seiner Kluft hervor

Der Räuber, groß und wild. Er schwingt sein Hünenschwert empor Und schlägt an seinen Schild. „Du hast ja viele Wächter, Warum denn litten's die?

Dir dient so mancher Fechter, Und keiner kämpft um sie?"

5*

V.

68

Erzählungen.

Noch stehn die Fechter alle stumm, Tritt keiner aus den Reih'n; Der blinde König kehrt sich um. „Bin ich denn ganz allein?" Da faßt des Vaters Rechte Sein junger Sohn so warm. „Vergönn' mir's, daß ich fechte! Wohl fühl' ich Kraft im Arm." „O Sohn! der Feind ist riesenstark,

Ihm hielt noch keiner Stand, Und doch! in dir ist edles Mark,

Ich fühl's am Druck der Hand. Nimm hier die alte Klinge! Sie ist der Skalden Preis, Und fällst du, so verschlinge Die Flut mich armen Greis!" Und horch! es schäumet und es rauscht Der Nachen übers Meer. Der blinde König steht und lauscht, Und alles schweigt umher,

Bis drüben sich erhoben Der Schild- und Schwerterschall Und Kampfgeschrei und Toben

Und dumpfer Wiederhall.

Da ruft der Greis so freudig bang: „Sagt an, was ihr erschaut! Mein Schwert, ich kenn's am guten Klang, Es gab so scharfen Laut." „Der Räuber ist gefallen, Er hat den blut'gen Lohn,

Heil dir, du Held vor allen, Du starker Königssohn!" Und wieder wird es still umher, Der König steht und lauscht. „Was hör' ich kommen übers Meer? Es rudert, und es rauscht." „Sie kommen angefahren, Dein Sohn mit Schwert und Schild, In sonnenhellen Haaren Dein Töchterlein Gunild." „Willkommen!" ruft vom hohen Stein Der blinde Greis hinab; „Nun wird mein Alter wonnig sein Und ehrenvoll mein Grab. Du legst mir, Sohn, zur Seite

Das Schwert von gutem Klang; Gunilde, du Befreite, Singst mir den Grabgesang." llbhint1.

10.

Kindesdank und Undank.

Man findet gar oft, wenn man ein wenig aufmerksam ist, daß Menschen im Alter von ihren Kindern wieder ebenso behandelt werden, wie sie einst ihre alten und kraftlosen Eltern behandelt haben. Es geht auch begreiflich zu. Die

Kinder lernen's von den Eltern; sie sehen's und hören's nicht anders und folgen

dem Beispiel. So wird es auf dem natürlichsten und sichersten Wege wahr, was gesagt wird und geschrieben ist, daß der Eltern Segen und Fluch auf den Kindern ruhe und sie nicht verfehle. Man hat darüber unter anderen zwei Erzählungen, von denen die erste Nach­ ahmung und die zweite große Beherzigung verdient. Ein Fürst traf auf einem Spazierritt einen fleißigen und frohen Landmann an dem Ackergeschäft an und ließ sich mit ihm in ein Gespräch ein. Nach einigen Fragen erfuhr er, daß der Acker nicht sein Eigentum sei, sondern daß er als Tagelöhner täglich um fünfzehn Kreuzer arbeite. Der Fürst, der für sein schweres Regierungsgeschäft freilich mehr Geld brauchte und zu verzehren hatte, konnte es in der Geschwindigkeit nicht ausrechnen, wie es möglich sei, täglich mit fünfzehn

Kreuzern auszureichen und noch so frohen Mutes dabei zu sein, und verwunderte sich darüber; aber der brave Mann im Zwillichrocke erwiderte ihm: „Es wäre

mir übel gefehlt, wenn ich so viel brauchte!

Mir muß ein Dritteil davon ge-

V.

Erzählungen.

69

nügen; mit einem Dritteil zahle ich meine Schulden ab, und das übrige Dritteil lege ich auf Kapitalien an." Das war dem guten Fürsten ein neues Rätsel; aber der fröhliche Landmann fuhr fort und sagte: „Ich teile meinen Verdienst mit meinen alten Eltern, die nickt mehr arbeiten können, und mit meinen Kin­

dern, die es erst lernen müssen; jenen vergelte ich die Liebe, die sie mir in meiner Kindheit erwiesen haben, und von diesen hoffe ich, daß sie mich einst in meinem

müden Alter auch nicht verlassen werden." Der Fürst belohnte die Rechtschaffen­ heit des wackern Mannes, sorgte für seine Söhne, und der Segen, den ihm seine sterbenden Eltern gaben, wurde ihm im Alter von seinen dankbaren Kindern durch

Liebe und Unterstützung redlich entrichtet. Aber ein anderer ging mit seinem Vater, welcher durch Alter und Kränk­ lichkeit freilich wunderlich geworden war, so übel um, daß dieser wünschte, in ein Armenspital gebracht zu werden, das int nämlichen Orte war; dort hoffte er wenigstens, bei dürftiger Pflege von den Vorwürfen frei zu sein, die ihm daheim die letzten Tage seines Lebens verbitterten. Tas war dem undankbaren Sohne

ein willkommenes Wort. Ehe die Sonne hinter den Bergen hinabging, war dem armen Greis sein Wunsch erfüllt; aber er fand im Spital auch nicht alles, wie er es wünschte. Wenigstens ließ er seinen Sohn nach einiger Zeit bitten, ihm die letzte Wohlthat zu erweisen und ihm ein paar Leintücher zu schicken, damit er nicht alle Nacht auf bloßem Stroh schlafen müßte. Der Sohn suchte die zwei schlechtesten, die er hatte, heraus und befahl seinem zehnjährigen Kinde, sie dem alten Murrkopf ins Spital zu bringen; aber mit Verwunderung bemerkte er, daß der kleine Knabe vor der Thür eines dieser Tücher in einem Winke.l verbarg

und folglich dem Großvater nur eins davon brachte. „Warum hast du das ge­ than?" fragte er den Jungen bei seiner Zurückkunft. „Zur Aushülfe für die Zukunft," erwiderte dieser kalt und bösherzig, „wenn ich euch, o Bater, auch ein­ mal in das Spital schicken werde!"

11.

Hebel.

Der Schenk von Limburg.

Zu Limburg auf der Feste, Da wohnt ein edler Graf,

Gewaltig konnt' er schreiten

Den keiner seiner Gäste

Und war von hohem Wuchs. Wohl hatt' er Knecht' und Mannen

Jemals zu Hause traf. Er trieb sich allerwegen

Und hatt' ein tüchtig Roß, Ging doch zu Fuß von dannen

Gebirg und Wald entlang; Kein Sturm und auch kein Regen Verleidet' ihm den Gang. Er trug ein Wams von Leder Und einen Jägerhut

Und ließ daheim den Troß.

Mit mancher wilden Feder; Das steht den Jägern gut. Es hing ihm an der Seiten Ein Trinkgefäß von Buchs;

Es war sein ganz Geleite Ein Jagdspieß, stark und lang, Damit er über breite

Waldströme kühn sich schwang. Run hielt auf Hohenstaufen Der deutsche Kaiser Haus; Der zog mit hellen Haufen

Einstmals zu jagen aus.

V.

70

Erzählungen.

Er rannt' auf eine Hinde So heiß und hastig vor,

Daß ihn sein Jagdgesinde Im wilden Forst verlor. Bei einer kühlen Quelle, Da macht' er endlich Halt; Gezieret war die Stelle Mit Blumen mannigfalt. Hier dacht' er sich zu legen Zu einem Mittagschlaf: Da rauscht' es in den Hagen Und stand vor ihm der Graf. Da hub er an zu schelten: „Treff' ich den Nachbar hie? Zu Hause weilt er selten, Zu Hofe kommt er nie; Man muß im Walde streifen, Wenn man ihn sahen will; Man muß ihn tapfer greifen, Sonst hält er nirgend still." Als nun ohn' alle Fährde Der Graf sich niederließ

Und nebrn in die Erde Die Jägerstange stieß: Da griff mit beiden Händen Der Kaiser nach dem Schaft.

„Den Spieß muß ich mir pfänden,

Ich nehm' ihn mir zur Haft. Der Spieß ist mir verfangen, Des ich so lang begehrt! Du sollst dafür empfangen Hier dies mein bestes Pferd. Nicht schweifen im Gewälde Darf mir ein solcher Mann,

Der mir zu Hof und Felde Viel besser dienen kann." „Herr Kaiser, wollt vergeben! Ihr Laßt Und Ein

macht das Herz mir schwer. mir mein freies Leben laßt mir meinen Speer! Pferd hab' ich schon eigen,

Für eures sag' ich Dank! Zu Rosse will ich steigen,

Bin ich mal alt und krank." „Mit dir ist nicht zu streiten,

Du bist mir allzustolz! Doch führst du an der Seiten Ein Trinkgefäß von Holz; Nun macht die Jagd mich bürsten, Drum thu' mir das, Gesell! Und gieb mir eins zu bürsten

Aus diesem Wasserquell!" Der Graf hat sich erhoben; Er schwenkt den Becher klar, Er füllt ihn an bis oben, Hält ihn dem Kaiser dar; Der schlürft mit vollen Zügen

Den kühlen Trank hinein Und zeigt ein solch Vergnügen, Als wär'ö der beste Wein. Dann faßt der schlaue Zecher Den Grafen bei der Hand. „Du schwenktest mir den Becher Und fülltest ihn zum Rand, Du hieltest mir zum Munde Das labende Getränk: Du bist von dieser Stunde Des deutschen Reiches Schenk!" Uhland.

12. Siegfrieds Schwert. Jung Siegfried war ein stolzer Knab',

Ging von des Vaters Burg herab, Wollt' rasten nicht in Vaters Haus, Wollt' wandern in alle Welt hinaus. Begegnet' ihm manch Ritter wert Mit festem Schild und breitem Schwert.

Siegfried nur einen Stecken trug; Das war ihm bitter und leid genug.

Und als er ging im finstern Wald, Kam er zu einer Schmiede bald. Da sah er Eisen und Stahl genug; Ein lustig Feuer Flammen schlug. „O Meister, liebster Meister mein! Laß du mich deinen Gesellen sein! Und lehr' du mich mit Fleiß und Acht,

Wie man die guten Schwerter macht!"

V.

71

Erzählungen.

Siegfried den Hammer wohl schwingen

kunnt,

Er schlug den Amboß in den Grund. Er schlug, daß weit der Wald er­ klang Und alles Eisen in Stücke sprang. Und von der letzten Eiseustang'

„Nun hab' ich geschmiedet ein gutes

Schwert, Nun bin ich wie andre Ritter wert, schlag' ich wie ein andrer

Held Die Riesen und Drachen in Wald und Feld!" IlhUind.

Macht er ein Schwert so breit und lang.

13. Die Rache. Der Knecht hat erstochen teil edlen Herrn; T er Knecht wär' selber ein Ritter gern. Er hat ihn erstochen im dunklen Hain Und den Leib versenket im tiefen Rhein, Hat angeleget die Rüstung blank, Auf des Herren Roß sich geschwungen frank.

Und als er sprengen will über die Brück', Da stutzet das Roß und bäumt sich zurück. Und als er die güldnen Sporen ihm gab, Da schleudert's ihn wild in den Strom hinab. Mit Arm, mit Fuß er rudert und ringt; Der schwere Panzer ihn niederzwingt. Ilfihnb.

14. Der Wilde. Ein Kanadier, der noch Europens Übertünchte Höflichkeit nicht kannte

Und ein Herz, wie Gott eö ihm gegeben,

„Herr, ach laßt mich, bis der Sturm sich leget," Bat er mit der herzlichsten Gebärde

Bon Kultur noch frei, im Busen fühlte, Brachte, was er mit des Bogens Sehne, Fern in Ouebecks übereisten Wäldern Auf der Jagd erbeutet, zum Berkaufe. Als er ohne schlaue Rednerkünste, So wie man ihm bot, die Felsenvögel Um ein kleines hingegeben hatte, Eilt' er froh mit dem geringen Lohne Heim zu seinen tief versteckten Horden,

Den gesittet feinen Eigentümer, „Obdach hier in eurem Hause finden!" „Willst du, mißgestaltet Ungeheuer,"

In die Arme seiner braunen Gattin. Aber ferne noch von seiner Hütte Überfiel ihn unter freiem Himmel

Fort von dieser unwirtbaren Schwelle, Bis durch Sturm und Guß der späte Abend

Schnell der schrecklichste der Donner-

Ihn in seine friedliche Behausung Und zu seiner braunen Gattin brachte.

stürme. Aus dem langen, rabenschwarzen Haare Troff der Guß herab auf seinen Gürtel, Und das grobe Haartuch seines Kleides Klebte rund an seinem hagern Leibe. Schaurig zitternd unter kaltem Regen Eilete der gute, wackre Wilde

In ein Haus, das er von fern erblickte.

Schrie ergrimmt der Pflanzer ihm ent­ gegen, „Willst du, Diebsgesicht, mir aus dem Hause!"

Und ergriff den schweren Stock im Winkel. Traurig schritt der ehrliche Hurone

Naß und müde setzt' er bei dem Feuer Sich zu seinen nackten Kleinen nieder

Und erzählte von den bunten Städtern Und den Kriegern, die den Donner tragen, Und dem Regensturm, der ihn ereilte, Und derGrausamkeit des weißen Mannes. Schmeichelnd hingen sie an seinen Knieen,

V.

72

Erzählungen.

Schlossen schmeichelnd sich um seinen

Um den späten Fremdling zu bewirten.

Nacken, Trockneten die langen, schwarzen Haare

Mit dem Hunger eines Weidmanns speiste

Und durchsuchten seine Weidmannslasche, Bis sie die versprochnen Schätze fanden. Kurze Zeit darauf hatt' unser Pflanzer

Neben seinem Wirt der Europäer.

Auf der Jagd im Walde sich verirret. Über Stock und Stein durch Thal und

Der mit tiefem Schnitt den Schinken

Bäche Stieg er schwer auf manchen jähen Felsen, Um sich umzusehen nach dem Pfade, Der ihn tief in diese Wildnis brachte. Doch sein Spähn und Rusen war ver­ gebens; Nichts vernahm er als das hohle Echo Längs den hohen, schwarzen Felsenwän­ den. Ängstlich ging er bis zur zwölften Stunde,

Wo er an dem Fuß des nächsten Berges Noch ein kleines, schwaches Licht erblickte.

Furcht und Freude schlug in seinem Her­

zen, Und er faßte Mut und nahte leise. „Wer ist draußen?" brach mit Schreckens­

Festlich wie bei einem Klosterschmause Fest und ernsthaft schaute der Hurone Seinem Gaste spähend auf die Stirne,

trennte Und mit Wollust trank vomHonigtranke, Den in einer großen Muschelschale Er ihm freundlich zu dem Mahle reichte. Eine Bärenhaut auf weichem Moose War des Pflanzers gute Lagerstätte, Und er schlief bis in die hohe Sonne. Wie der wilden Zone wild'ster Krieger Schrecklich stand mit Köcher, Pfeil und Bogen Der Hurone jetzt vor seinem Gaste Und erweckt' ihn; und der Europäer Griff bestürzt nach seinem Jagdgewehre. Und der Wilde gab ihm eine Schale, Angefüllt mit frischem Morgentranke. Als er lächelnd seinen Gast gelabet, Bracht' er ihn durch manche lange Win­

tone Eine Stimme tief her aus der Höhle; Und ein Mann trat aus der kleinen Wohnung.

dung Über Stock und Stein, durch Thal und

„Freund, im Walde hab' ich mich ver­

Höflich dankte fein der Europäer.

irret,"

Bäche, Durch das Dickicht auf die rechte Straße. Finster blickend blieb der Wilde stehen,

Sprach der Europäer furchtsam schmei­

Sahe starr dem Pflanzer in die Augen,

chelnd; „Gönnet mir, die Nacht hier zuzubringen,

Sprach mit voller, fester, ernster Stimme:

Und zeigt nach der Stadt, ich werd' euch danken, Morgen früh mir die gewissen Wege."

„Kommt herein," versetzt der Unbekannte, „Wärmt euch; noch ist Feuer in der Hütte!" Und er führt ihn auf das Binsenlager,

Schreitet finster trotzig in den Winkel, Holt den Rest von seinem Abendmahle, Hummer, Lachs und frischen Bären­ schinken,

„Haben wir vielleicht uns schon gesehen?" Wie vom Blitz getroffen stand der Jäger Und erkannte nun in seinem Wirte Jenen Mann, den er vor wenig Wochen In dem Sturmwind aus dem Hause jagte,

Stammelte verwirrt Entschuldigungen. Ruhig lächelnd sagte der Hurone: ,,Seht, ihr fremden, klugen weißen Leute,

Seht, wir Wilden sind doch besfre Men­

schen!" Und er schlug sich seitwärts in die Büsche. Seume.

V.

13

Erzählungen.

73

Der Hirtenknabe.

Abbas der Große, König von Persien, hatte sich auf der Jagd verirrt.

Er

kam auf einen Berg, wo ein Hirtenknabe eine Herde Schafe weidete; der Knabe saß unter einem Baum und blies die Flöte. Die süße Melodie des Liedes und die Neugierde lockte den König näher hinzu; das offene Gesicht des Knaben gefiel

ihm; und er fragte ihn über allerlei Dinge, und die schnellen, treffenden Antworten dieses Kindes der Natur, das ohne Unterricht bei seiner Herde aufgewachsen war, setzten den König in Verwunderung. Er hatte noch seine Gedanken darüber, als sein Vezier dazukam. „Komm, Vezier," rief er ihm entgegen, „und sage mir, wie dir dieser Knabe gefällt." Der Vezier kam herbei; der König setzte seine Fragen fort, und der Knabe blieb ihm keine Antwort schuldig. Seine Unerschrokkenheit, sein gesundes Urteil und seine offene Freimütigkeit nahmen den König und den Vezier so sehr ein, daß jener beschloß, ihn mit sich zu nehmen und er­ ziehen zu lassen, damit man sähe, was aus dieser schönen Anlage der Natur unter

der Hand der Kunst werde. Wie eine Federblume, die der Gärtner aus ihrem dürren Boden hebt und in ein besseres Erdreich pflanzt, in kurzem ihren Kelch erweitert und glänzendere Farben annimmt, so bildete sich auch der Knabe unvermerkt zu einem Manne von großen Tugenden aus. Der König gewann ihn täglich lieber, er gab ihm den Namen Ali Beg und machte ihn zu seinem Großschatzmeister. Ali Beg besaß alle Tugenden, die sich vereinigen lassen, Unsträflichkeit in seinen Sitten, Treue und Klugheit in seinem Amt, Freigebigkeit und Großmut

gegen die Fremden, Gefälligkeit gegen alle, die ihn um etwas baten, und, ob er gleich der Liebling des Königs war, die bescheidenste Demut. Was ihn aber am meisten unter den persischen Hofleuten auszeichnete, war seine Uneigennützigkeit; denn nie ließ er sich seine Dienste bezahlen; seine guten Thaten hatten die reinste Quelle, das Verlangen, den Menschen nützlich zu werden. Und doch entging er bei allen diesen Tugenden den Verleumdungen der Höflinge nicht, die seine Er­ hebung mit heimlichem Neid ansahen. Sie legten ihm allerlei Fallen und such­ ten ihn bei dem Könige verdächtig zu machen; aber Schach Abbas war ein Fürst

von seltenen Eigenschaften; argwöhnischer Verdacht war für seine große Seele zu klein, und Ali Beg blieb in Ansehen und Ruhe, so lange sein großmütiger

Beschützer lebte. Zum Unglück starb dieser große König, und Schach Sefi, der ihm folgte, schien die Wehklage der Völker zu rechtfertigen, die es bedauerten, daß' gute Für­ sten wie andere Menschen sterben.

Er war das völlige Widerspiel seines Vor­

gängers, voll Mißtrauen, Grausamkeit und Geiz; Blutvergießen schien ihn zu erquicken wie den Durstigen ein Trunk Wasser. So einen Oberherrn hatten Alis Feinde erwartet, und ihr verborgener Neid wurde sogleich wieder sichtbar;

sie brachten täglich Verleumdungen gegen den Schatzmeister an, auf die der Kö­ nig anfangs nicht achtete, bis eine unerwartete Begebenheit diese Anklagen wahr zu machen schien.

74

V.

Erzählungen.

Der König nämlich verlangte einen kostbaren Säbel zu sehen, den Schach Abbas vom türkischen Kaiser zum Geschenk bekommen hatte, und dessen einige Hofleute erwähnten. Der Säbel war nicht zu finden, ob er gleich in dem nach­ gelassenen Verzeichnisse des großen Abbas eingetragen war, und so fiel Schach Sefis Verdacht auf den Schatzmeister, daß er ihn veruntreuet habe. Dies war, was seine Feinde wünschten; sie verdoppelten ihre Beschuldigungen und malten ihn als den ärgsten Betrüger. „Er hat viele Häuser zur Bewirtung der Frem­

den gebaut," sagten sie, „und andere öffentliche Gebäude mit großen Kosten auf­ führen lassen. Er kam als ein nackter Knabe an den Hof, und doch besitzt er jetzt unermeßliche Reichtümer; wo könnte er alle die Kostbarkeiten, womit sein Haus angefüllt ist, her haben, wenn er den königlichen Schatz nicht bestähle?" Ali Beg trat eben zum Könige hinein, als ihn seine Feinde so verklagten, und mit zornigen Blicken sprach der König: „Ali Beg, deine Untreue ist kund geworden; du hast dein Amt verloren, und ich befehle dir in vierzehn Tagen Rechnung ab­ zulegen." Ali Beg erschrak nicht, denn sein Gewissen wie gefährlich es sein würde, seinen Feinden vierzehn seine Unschuld beweise. „Herr," sprach er, „mein Ich bin bereit, die Schlüssel des königlichen Schatzes

war rein; aber er bedachte, Tage Zeit zu lassen, ehe er Leben ist in deiner Hand. und den Schmuck der Ehre,

den du mir gegeben hast, heute oder morgen vor deinem Throne niederzulegen, wenn du deinen Sklaven mit deiner Gegenwart begnadigen willst." Diese Bitte war dem Könige um so willkommener; er sagte sie ihm zu und besichtigte gleich des andern Tages die Schatzkammer. Alles war in der vollkom­ mensten Nichtigkeit, und Ali Beg überführte ihn, daß Schach Abbas den vermiß­

ten Säbel selbst herausgenommen und mit den Diamanten ein anderes Kleinod hatte schmücken lassen, ohne daß er es in seinem Verzeichnisse bemerkt. Der Kö­ nig konnte nichts dagegen einweuden; allein Mißtrauen ist ungerecht und findet sich beleidigt, wenn es sich auch in seinen falschen Mutmaßungen betrogen sieht. Er ersann einen Vorwand und begleitete den Schatzmeister in sein Haus, um die vielen Kostbarkeiten zu finden, von denen ihm seine Höflinge gesagt hatten; zu seiner großen Verwunderung aber war auch hier alles anders. Gemeine Tapeten

deckten die Wände; die Zimmer waren mit nicht mehr als notdürftigem Haus­ rat versehen, und Sefi mußte selbst gestehen, ein mittelmäßiger Bürger wohne

köstlicher als der Großschatzmeister seines Reiches. Er schämte sich dieser zweiten Täuschung und wollte sich entfernen, als ihm ein Höfling eine Thür am Ende der Galerie zeigte, die mit zwei starken, eisernen Riegeln verschlossen war. Der König ging näher und fragte den Ali Beg, was er unter so großen Schlössern und Riegeln verwahre. Ali Beg schien erschrocken, sein Gesicht errötete; er er­ holte sich aber wieder und sprach:

„Herr, in diesem Gemach bewahre ich das

Liebste, das ich auf der Welt habe, mein wahres Eigentum. Alles, was du in diesem Hause gesehen hast, gehört dem Könige, meinem Herrn; was dieses Zimmer

enthält, ist mein; aber es ist ein Geheimnis; ick bitte dich, verlange nicht, es zu sehen." Dies ängstliche Betragen schien dem argwöhnischen Sefi Gefühl der Schuld, und er befahl mit Heftigkeit, die Thür zu öffnen. Das Gemach that sich auf,

V.

Erzählungen.

75

und siehe da, vier weiße Wände, mit einem Hirtenstabe, einer Flöte, einem schlech­ ten Kleide und einer Hirtentasche geschmückt, das waren die Schätze, welche diese eisernen Schlösser und Riegel verwahrten. Alle Anwesenden erstaunten, und Schach Sefi schämte sich zum dritten Mal, als Ali Beg mit der größten Bescheidenheit also sprach: „Mächtiger König! Als mich der große Abbas auf einem Berge autraf, wo ich meine Herde hütete, wa­

ren diese Armseligkeiten all' mein Reichtum. Ich bewahrte seitdem denselben als mein einziges Eigentum, das Denkmal meiner glücklichen Kindheit, und der groß­ mütige Fürst war zu gütig, als daß er es mir hätte nehmen wollen. Ich hoffe, Herr, auch du wirst es mir nicht nehmen und mich mit ihm in jene friedlichen Thäler zurückkehren lassen, wo ich in meiner Dürftigkeit glücklicher als im Über­ fluß deines Hofes war." Ali schwieg, und alle Umstehenden waren bis zu Thränen erweicht.

Der

König zog sein Kleid aus und legte es ihm an als Lerchen seiner höchsten Gnade; der Neid und die Verleumdungen waren mit Sckam geschlagen, und sie konnten sich gegen diesen Edeln nie wieder erheben. Ali lebte lange und genoß die Be­ lohnung seiner Tugenden, Liebe und Verehrung, bei seinem Leben, und nach sei­ nem Tode waren Thränen die stillen Lobredner auf seinem Grabe. Alle Ein­ wohner der Stadt begleiteten seine Reiche, und noch im Munde der Nachwelt hieß er immer der edle, uneigennützige Ali. LiedEmd.

16.

Das Vivat der Königin.

Ein Engländer saß in einem Wirtshause schon über eine halbe Stunde still und stumm in einer Ecke und wartete auf einen Ehirurgus, hätte gern die Zähne

zusammengebisseu vor Ungeduld, aber einer davon war hohl und that ihm von Zeit zu Zeit entsetzlich weh, besonders aber diesmal. Kommt auf einmal ein Franzose, ein Perückenmacher oder so etwas, an den Tisch, wo der Engländer saß, und wollte seinen Kameraden einen Spaß zum besten geben; denn er glaubte,

der Engländer sei dumm oder noch scheu dort zu Land. Also fing er ein langes Gespräch mit ihm an, woraus der Engländer wenig antwortete, rühmte ihm, was Frankreich für ein reiches und großes Land sei, und daß einer schon ein gutes Pferd haben müsse, wenn er's in drei Vierteljahren durchreiten wolle, und wie der König so gerecht sei und die Königin so gut. „Aber auf das Wohl der Königin,"

sagte er, „trinkt ihr doch eius mit mir und noch mehr?" Als sie ausgetrunken hatten, zerriß der Franzose die Hemdkrause an seinem alten, abgewaschenen Hemde und sagte: „Es lebe die Königin!" „Gentleman," sagte er, „ihr müßt eure Hemd­ krause auch zerreißen auf das Wohlsein der Königin, ich habe auch meine zerris­ sen." „Geht zum Henker, ihr Sapperment," sagte der Engländer, „euer Hemd hat nimmer weit in die Papiermühle, meins kommt nagelneu von der Näherin weg und ist an einigen Orten noch ganz heiß vom Durchzuge der Nadel." Aber der Perückenmacher sagte: „Herr, ich verstehe keinen Spaß! Entweder zerreißt

ihr euer Hemd, oder ihr müßt euch mit mir stechen auf Leben und Tod." Wollte der fremde Engländer keinen Spektakel haben, so mußte er seine Hemdkrause zer­ reißen wie der Franzose.

V.

76

Erzählungen.

Aber jetzt wurde er auf einmal freundlich und redselig und erzählte dem Perückenmacher viel von England und von London und von dem großen Kirch­ turm in London, und wie einer droben schon gute Augen haben müsse, wenn er

unten die Stadt noch sehen wolle, bis der Chirurgus kam. Als der Chirurgus kam und fragte, was der fremde Herr befehle, sagte der Engländer: „Seid so gut und zieht mir diesen Stockzahn da aus, den dritten, aufs Wohlsein der Königin von England." „Herr," sagte er zu dem Perückenmacher, „ihr bleibt da sitzen und rührt euch nicht!" Als der Zahn glücklich heraus war, sagte er zu dem Zahnarzt: „Seid so gut und zieht jetzt diesem Herrn da ebenfalls einen Zahn aus aufs Wohlsein der Königin von England." „Guter Freund" sagte er, „ihr

müßt euch auch einen ausreißen lassen, ich habe mir auch einen ausreißen lassen." Da verging dem Spaßmacher der Mutwille und die roten Backen, und er pro­ testierte zwar, die Sache sei nicht gleich; „Euer Zahn da," sagte er, „ist so hohl, daß eine Häsin darin sitzen könnte; die meinigen sind alle so kerngesund, daß ich eine Bleikugel damit breit beißen kann; wenn drei Lilien daraus wären, könnte ich Gold damit prägen": aber der andere gab darauf kein Gehör, sondern sagte: „Herr, ich verstehe keinen Spaß! Entweder ihr laßt euch einen Zahn ausbrechen

auf der Stelle, oder ihr könnt euch mit mir stechen auf Leben und Tod, und ich bohre euch da an die Thüre hinan, daß der Degen eine Elle weit in die Kammer hineingeht." Da dachte der Perückenmacher: Ein Zahn — ein Leben! Neun Kinder habe ich daheim. Lieber ein Zahn! Also ließ er sich, wohl oder übel, auch

einen ausreißen, und sie schieden darauf in Frieden voneinander. Aber zu sei­ nen Kameraden sagte er nachher: „Dies Mal mit einem Fremden Mutwillen ge­ trieben, den ich nicht kenne.

17.

Hört man mir nichts an, wenn ich rede?"

Untreue schlägt den eigenen Herrn.

Als in dem Kriege zwischen Frankreich und Preußen ein Teil des französi­ schen Heeres nach Schlesien einrückte, waren auch Truppen vom rheinischen Bun­

desheer dabei, und ein bayrischer oder württembergischer Offizier wurde zu einem Edelmanne einquartiert und bekam eine Stube zur Wohnung, wo viele sehr schöne und kostbare Gemälde hingen. Der Offizier schien recht große Freude daran zu haben, und als er etliche Tage bei dem Mann gewesen und freundlich behandelt worden war, verlangte er einmal von seinem Hauswirt, daß er ihm eins von diesen Gemälden zum Andenken schenken möchte. Der Hauswirt sagte, daß er das mit Vergnügen thun wolle, und stellte seinem Gaste frei, dasjenige selber zu

wählen, welches ihm die größte Freude machen könnte. Nun, wenn man die Wahl hat, sich selber ein Geschenk von jemandem aus­ zusuchen, so erfordern Verstand und Artigkeit, daß man nicht gerade das vor­ nehmste und kostbarste wegnehme, und so ist es auch nicht gemeint. Daran schien dieser Mann auch nicht zu denken; denn er wählte unter allen Gemälden fast das schlechteste. Aber das war unserem schlesischen Edelmanne nicht desto lieber, und er hätte ihm gern das kostbarste dafür gelassen.

„Mein Herr Oberst," so sprach

er mit sichtbarer Unruhe, „warum wollen Sie gerade das geringste wählen, das mir noch dazu wegen einer andern Ursache wert ist? Nehmen Sie doch lieber

V.

Erz ählungen.

77

dieses hier oder jenes dort." Der Offizier gab darauf kein Gehör, schien auch darauf nicht zu merken, daß sein Hauswirt immer mehr und mehr in Angst geriet, sondern nahm geradezu das Gemälde herunter. Jetzt erschien an der Mauer, wo dasselbe gewesen war, ein großer, feuchter Fleck. „Was soll das sein?" sprach der Offizier wie erzürnt, zu seinem totblassen Wirt, that einen Stoß, und auf einmal fielen ein paar frisch gemauerte und übertünchte Backsteine zusammen, hinter welchen alles Geld, Gold und Silber des Edelmannes einge­

mauert war. Der gute Mann hielt nun sein Eigentum für verloren, wenigstens erwartete er, daß der feindliche Kriegsmann eine namhafte Teilung ohne In­ ventarium und ohne Kommissarius vornehmen werde, ergab sich geduldig darein und verlangte nur von ihm zu erfahren, woher er habe wissen können, daß hinter diesem Gemälde sein Geld in der Mauer verborgen war. Der Offizier erwiderte: „Ich werde den Entdecker sogleich holen lassen, dem ich ohnehin eine Belohnung schuldig bin," und in kurzer Zeit brachte sein Bedienter den Maurer­ meister selber, den nämlichen, der die Vertiefung in der Mauer zugemauert und die Bezahlung erhalten hatte. Das ist nun einer von den größten Spitzbubenstreichen, die der Satan auf sein Sündenregister setzen kann; denn ein Handwerksmann ist seinen Kunden die größte Treue und in den Geheimnissen, wenn cs nichts Unrechtes ist, so viel Verschwiegenheit schuldig, als wenn er einen Eid darauf gethan hätte. Aber was thut man nicht um des Geldes willen! Oft gerade das nämliche, was man um der Schläge oder um des Zuchthauses willen thut oder für den Galgen, obgleich ein großer Unterschied dazwischen ist. So etwas erfuhr unser Meister Spitzbub; denn der brave Offizier ließ ihn jetzt vor die Stube führen und ihm von frischer Hand hundert, sage hundert Prügel bar auszahlen, lauter gute Valuta, und war kein einziger falsch darunter. Dem Edelmann aber gab er unbelastet sein Eigentum zurück. Hebel.

18. Das Lied vom braven Mann. Hoch klingt das Lied vom braven Mann Wie Orgelton und Glockenklang. Wer hohen Muts sich rühmen kann,

Den lohnt nicht Gold, den lohnt Ge­

Am Hochgebirge schmolz der Schnee.

Der Sturz von lausend Wassern scholl; Das Wiesenthal begrub ein See, Des Landes Heerstrom wuchs und

sang. Gottlob, daß ich singen und preisen kann, Zu singen und preisen den braven Mann!

schwoll. Hoch rollten die Wogen entlang ihr Gleis

Der Tauwind kam vom Mittagsmeer

Auf Pfeilern und auf Bogen schwer, Aus Quaderstein von unten auf Lag eine Brücke drüber her.

Und schnob durch Welschland trüb und feucht; Die Wolken flogen vor ihm her, Wie wann der Wolf die Herde scheucht; Er fegte die Felder, zerbrach den Forst, Auf Seeen und Strömen das Grundeis

borst.

Und rollten gewaltige Felsen Eis.

Und mitten stand ein Häuschen drauf. Hier wohnte der Zöllner mit Weib und Kind. O Zöllner! o Zöllner! entfleuch ge­

schwind !

V.

78

Erzählungen.

Es dröhnt' und dröhnte dumpf heran,

Laut heulten

Sturm und Wog' ums

Haus. Der Zöllner sprang zum Dach hinan Und blickt' in den Tumult hinaus.

„Barmherziger Himmel, erbarme dich!

Verloren! verloren! Wer rettet mich?" Die Schollen rollten Schuß auf Schuß Bon beiden Ufern hier und dort; Bon beiden Ufern riß der Fluß Die Pfeiler samt den Bogen fort. Der bebendeZöllner mit Weib undKind,

Er heulte noch lauter als Sturm und Wind. Die Schollen rollten Stoß auf Stoß; An beiden Enden hier und dort Zerborsten und zertrümmert schoß Ein Pfeiler nach dem andern fort. Bald nahte der Mitte der Umsturz sich. Barmherziger Himmel, erbarme dich! Hoch auf dem fernen Ufer stand Ein Schwarm von Gaffern, groß und klein;

Und jeder schrie und rang die Hand, Doch mochte niemand Retter sein. Der bebende Zöllner mit Weib und Kind

Durchheulte nach Rettung den Strom

und Wind. Wann klingst du, Lied vom braven

Mann, Wie Orgelton und Glockenklang? Wohlan! So nenn' ihn, nenn' ihn dann!

Wann nennst du ihn, mein schönster

Sang? Bald nahet der Mitte der Umsturz sich: O braver Mann, braver Mann, zeige dich! Rasch galoppiert ein Graf hervor,

Auf hohem Roß ein edler Graf. Was hielt des Grafen Hand empor? Ein Beutel war es, voll und straff. „Zweihundert Pistolen sind zugesagt Dem, welcher die Rettung der Armen

wagt!"

Wer ist der Brave? Jst's der Graf? Sag' an, mein braver Sang, sag' an! Der Graf, beim höchsten Gott! war brav; Doch weiß ich einen bravern Mann. O braver Mann, braver Mann, zeige

dich! Schon naht dasVerderben sich fürchterlich. Und immer höher schwoll die Flut, Und immer lauter schnob der Wind, Und immer tiefer sank der Mut. O Retter! Retter, komm geschwind! Stets Pfeiler bei Pfeiler zerborst und brach, Laut krachten und stürzten die Bogen nach. „Halloh! Hallob! Frischauf, gewagt!" Hoch hielt der Graf den Preis empor. Ein jeder hört's, doch jeder zagt, Aus Tausenden tritt keiner vor. Vergebens durchheulte mit Weib und Kind Der Zöllner nach Rettung den Strom und Wind. Sieh, schlecht und recht ein Bauers­

mann Am Wanderstabe schritt daher, Mit grobem Kittel angethan, An Wuchs und Antlitz hoch und hehr. Er hörte den Grafen, vernahm sein Wort Und schaute das nahe Verderben dort. Und kühn in Gottes Namen sprang

Er in den nächsten Fischerkahn; Trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang Kam der Erretter glücklich an. Doch wehe! der Nachen war allzuklein,

Um Retter von allen zugleich zu sein. Und dreimal zwang er seinen Kahn Trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang,

Und dreimal kam er glücklich an. Bis ihm die Rettung ganz gelang. Kaum kamen die letzten in sicherm Port,

So rollte das letzte Getrümmer fort. Wer ist, wer ist der brave Mann? Sag' an, sag' an, mein braver Sang! Der Bauer wagt' ein Leben dran;

Doch that er's wohl um Goldesklang?

Erzäklungen. Denn spendete nimmer der Graf fein Gut, So wagte der Bauer vielleicht kein Blut. „Hier," rief der Graf, „mein wackrer Freund, Hier ist dein Preis! Komm her! Nimm hin!" Sag' an! War das nicht brav gemeint? Bei Gott! der Graf trug hohen Sinn; Doch höher und himmlischer wahrlich schlug Das Herz, das der Bauer im Kittel trug.

19.

79

„Mein Leben ist für Gold nicht feil;

Arm bin ich Mar, doch ess' ich satt. Dem Zöllner werd' eu'r Gold zu teil, Der Hab' und (®wt verloren hat!" So rief er mit herzlichem Biederton Und wandte den Riückeu und ging davon. Hoch klingst du,. Lied vom braven Mann, Wie Orgelton umd Glockenklang! Wer solches Miuts sich rühmen kaun, Den lohnt kein Geld, den lohnt Gesang. Gottlob, daß ich sinken und preisen kann, Unsterblich zu preisen den braven Mann!

Der Kaiser und der AbE.

Ich will euch erzählen ein Märchen gar schnurrig. Es war mal ein Kaiser, der Kaiser war knrrig;. Auch war mal ein Abt, ein gar stattlicher Herr, Nur schade! sein Schäfer war klüger als er. Dem Kaiser ward's sauer in Hitz' und in Kälte;. Oft schlief er bepanzert im Kricgesgezelte, Oft hatt' er kaum Wasser zu Schwarzbrot und Wmrst,

Und öfter noch litt er gar Hunger und Durst. Das Pfäfflein, das wußte sich besser zu heg em

Und weidlich am Tisch und im Bette zu Pflegen; Wie Bollmond glänzte sein feistes Gesicht, Drei Männer umspannten den Schmerbauch ihun uiicht. Drob suchte der Kaiser am Pfäsflein oft Hader. Einst ritt er mit reisigem Kriegesgeschwader

In brennender Hitze des Sommers vorbei; Das Pfäffleiu spazierte vor seiner Abtei.

Ha! dachte der Kaiser, zur glücklichen Stunde-! Und grüßte das Pfäffleiu mit höhnischem Munde. „Knecht Gottes, wie geht's dir? Mir däucht wwhl ganz recht. Das Beten und Fasten bekomme nicht schlecht! Doch däucht mir daneben, euch plage viel Weüle. Ihr dankt mir's wohl, wenn ich euch Arbeit erteüle..

Man rühmet, ihr wäret der pfiffigste Manu; Ihr hörtet das Gräschen fast wachsen, sagt mam. So geb' ich denn euren zwei tüchtigen Backen Zur Kurzweil drei artige Nüsse zu knacken. Drei Monden von nun an bestimm' ich zur Zent, Dann will ich auf diese drei Fragen Bescheid.

80

V.

Erzählungen.

Zum ersten, wann hoch ich im fürstlichen Rate Zu Throne mich zeige im Kaiserornate,

Dann sollt ihr mir sagen, ein treuer Wardein, Wie viel ich wohl wert bis zum Heller mag sein! Zum zweiten sollt ihr mir berechnen und sagen,

Wie bald ich zu Rosse die Welt mag umjagen; Um keine Minute zu wenig und viel! Ich weiß, der Bescheid daraus ist euch nur Spiel. Zum dritten noch sollst du, o Preis der Prälaten, Aufs Härchen mir meine Gedanken erraten; Die will ich dann treulich bekennen; allein Es soll auch kein Titelchen Wahres dran sein. Und könnt ihr mir diese drei Fragen nicht lösen, So seid ihr die längste Zeit Abt hier gewesen. So lass' ich euch führen zu Esel durchs Land, Verkehrt, statt des Zaumes den Schwanz in der Hand!" Drauf trabte der Kaiser mit Lachen von hinnen. Das Pfäfflein zerriß und zerspliß sich mit Sinnen. Kein armer Verbrecher fühlt mehr Schwulität, Der vor hochnotpeinlichem Halsgericht steht. Er schickte nach ein, zwei, drei, vier Un'vers'täten, Er fragte bei ein, zwei, drei, vier Fakultäten, Er zahlte Gebühren und Sporteln vollauf;

Doch löste kein Doktor die Fragen ihm auf. Schnell wuchsen bei herzlichem Zagen und Pochen Die Stunden zu Tagen, die Tage zu Wochen, Die Wochen zu Monden; schon kam der Termin: Ihm ward's vor den Augen bald gelb und bald grün. Nun sucht' er, ein bleicher, hohlwangiger Werther, In Wäldern und Feldern die einsamsten Örter. Da traf ihn auf selten betretener Bahn

Hans Bendix, sein Schäfer, am Felsenhang an. „Herr Abt," sprach Hans Bendix, „was mögt ihr euch grämen? Ihr schwindet ja wahrlich dahin wie ein Schemen.

Maria und Joseph! Wie Hotzelt ihr ein! Mein Sixchen! Es muß euch was angethan sein." „Ach, guter Hans Bendix, so muß sich's wohl schicken, Der Kaiser will gern mir am Zeuge was flicken

Und hat mir drei Nüss' auf die Zähne gepackt, Die schwerlich Beelzebub selber wohl knackt.

Zum ersten, wann hoch er im fürstlichen Rate Zu Throne sich zeiget im Kaiserornate, Dann soll ich ihm sagen, ein treuer Wardein, Wie viel er wohl wert bis zum Heller mag sein.

V.

Erzählungen.

Zum zweiten soll ich ihm berechnen und sagen, Wie bald er zu Rosse die Welt mag umjagen; Um keine Minute zu wenig und viel! Er meint, der Bescheid darauf wäre nur Spiel. Zum dritten, ich ärmster von allen Prälaten,

Soll ich ihm gar seine Gedanken erraten; Die will er mir treulich bekennen; allein Es soll auch kein Titelchen Wahres dran sein. Und kann ich ihm diese drei Fragen nicht lösen, So bin ich die längste Zeit Abt hier gewesen, So läßt er mich führen zu Esel durchs Land, Verkehrt, statt des Zaumes den Schwanz in der Hand!" „Nichts weiter?" erwidert Hans Bendix mit Lachen.

„Herr, gebt euch zufrieden, das will ich schon machen! Nur borgt mir eu'r Käppchen, eu'r Kreuzchen und Kleid, So will ich schon geben den rechten Bescheid. Versteh' ich gleich nichts von lateinischen Brocken, So weiß ich den Hund doch vom Ofen zu locken. Was ihr euch, Gelehrte, für Geld nicht erwerbt,

Das hab' ich von meiner Frau Mutter geerbt." Da sprang wie ein Böcklein der Abt vor Behagen. Mit Käppchen und Kreuzchen, mit Mantel und Kragen Ward stattlich Hans Bendix zum Abte geschmückt Und hurtig zum Kaiser nach Hofe geschickt. Hier thronte der Kaiser im fürstlichen Rate, Hoch prangt' er mit Scepter und Kron' im Ornate. „Nun sagt mir, Herr Abt, als ein treuer Wardein, Wie viel ich jetzt wert bis zum Heller mag sein!" „Für dreißig Neichsgulden ward Christus verschachert; Drum gäb' ich, so sehr ihr auch pochet und prachert, Für euch keinen Deut mehr als zwanzig und neun; Denn einen müßt ihr doch wohl minder wert sein." „Hm," sagte der Kaiser, „der Grund läßt sich hören

Und mag den durchlauchtigen Stolz wohl bekehren. Nie hätt' ich bei meiner hochfürstlichen Ehr' Geglaubet, daß so spottwohlfeil ich wär'. Nun aber sollst du mir berechnen und sagen. Wie bald ich zu Rosse die Welt mag umjagen;

Um keine Minute zu wenig und viel! Ist dir der Bescheid darauf auch nur ein Spiel?" „Herr, wenn mit der Sonn' ihr früh sattelt und reitet Und stets sie in einerlei Tempo begleitet. So setz' ich mein Kreuz und mein Käppchen daran,

In zweimal zwölf Stunden ist alles gethan." Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb.

5. Äuft.

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82

V.

Erzählungen.

„Ha," lachte der Kaiser, „vortrefflicher Haber! Ihr füttert die Pferde mit Wenn und mit Aber. Der Mann, der das Wenn und das Aber erdacht, Hat sicher aus Häckerling Gold schon gemacht. Nun aber zum dritten, nun nimm dich zusammen, Sonst muß ich dich dennoch zum Esel verdammen! Was denk' ich, das falsch ist? Das bringe heraus, Nur bleib' mir mit Wenn und mit Aber zu Haus." „Ihr denket, ich sei der Herr Abt von St. Gallen." „Ganz recht! und das kann von der Wahrheit nicht fallen." „Sein Diener, Herr Kaiser! Euch trügt euer Sinn,

Denn wißt, daß ich Bendix, sein Schäfer, nur bin!" „Was Henker, du bist nicht der Abt von St. Gallen?" Rief hurtig, als wär' er vom Himmel gefallen, Der Kaiser mit frohem Erstaunen darein; „Wohlan denn, so sollst du von nun an es sein! Ich will dich belehnen mit Ring und mit Stabe; Dein Vorfahr besteige den Esel und trabe Und lerne fortan erst quid Juris verstehn; Denn wenn man will ernten, so muß man auch sä'n!" „Mit Gunsten, Herr Kaiser! Das laßt nur hübsch bleiben. Ich kann ja nicht lesen, noch rechnen und schreiben; Auch weiß ich kein sterbendes Wörtchen Latein. Was Hänschen versäumet, holt Hans nicht mehr ein." „Ach, guter Hans Bendix, das ist ja recht schade! Erbitte demnach dir 'ne andere Gnade! Sehr hat mich ergötzet dein lustiger Schwank,

Drum soll dich auch wieder ergötzen mein Dank." „Herr Kaiser, groß hab' ich so eben nichts nötig! Doch seid ihr im Ernst mir zu Gnaden erbötig, So will ich mir bitten zum ehrlichen Lohn Für meinen hochwürdigen Herren Pardon." „Ha bravo! Du trägst, wie ich merke, Geselle, Das Herz wie den Kopf auf der richtigsten Stelle. Drum sei der Pardon ihm in Gnaden gewährt

Und obendrein dir ein Panis-Brief beschert! Wir lassen dem Abt von St. Gallen entbieten: Hans Bendix soll ihm nicht die Schafe mehr hüten; Der Abt soll sein pflegen nach unserm Gebot Umsonst bis an seinen sanftseligen Tod!" Bürger.

V. Erzählungen.

20.

83

Harras, der kühne Springer.

Noch harrte im heimlichen Dämmer­

Sie achten's nicht in des Kampfes Glut, Und keiner will sich ergeben, Denn Freiheit gilt's oder Leben. Doch dem Häuflein des Ritters wankt

licht Die Welt dem Morgen entgegen; Noch erwachte die Erde vom Schlummer nicht: Da begann sich's im Thale zu regen. Und es klingt herauf wie Stimmenge­

Das Schwert hat die meisten hinwegge-

wirr, Wie flüchtiger Hufschlag und Waffen-

rafft, Die Feinde, die mächtigen, siegen.

geklirr; Und tief aus dem Wald zum Gefechte Sprengt ein Fähnlein gewappneter Knechte. Und vorbei mit wildem Ruf fliegt der Troß Wie Brausen des Sturms und Gewitter, Und voran auf feurig schnaubendem Roß Der Harras, der mutige Ritter. Sie jagen, als gält' es den Kampf um die Welt,

Unbezwingbar nur, eine Felsenburg, Kämpft Harras noch und schlägt sich

Auf heimlichen Wegen durch Flur und Feld, Den Gegner noch heut zu erreichen Und die feindliche Burg zu ersteigen. So stürmen sie fort in des Waldes Nacht Durch den fröhlich aufglühenden Morgen. Doch mit ihm ist auch das Berderben erwacht, Es lauert nicht länger verborgen; Denn Plötzlich bricht aus dem Hinterhalt Der Feind mit doppelt stärkrer Gewalt; Das Hifthorn ruft furchtbar zum Streite, Und die Schwerter entfliegen der Scheide.

endlich die Kraft, Der Übermacht muß es erliegen.

durch, Und sein Roß trägt den mutigen Streiter Durch die Schwerter der feindlichen

Reiter. Und er jagt zurück in des Waldes Nacht, Jagt irrend durch Flur und Gehege; Doch flüchtig hat er des Weges nicht

acht, Er verfehlt die kundigen Stege. Da hört er die Feinde hinter sich drein; Scbnell lenkt er tief in den Forst hinein, Und zwischen den Zweigen wird's helle,

Und er sprengt zu der lichteren Stelle. Da hält er auf steiler Felsenwand, Hört unten die Wogen brausen;

Er steht an des Zschopauthals schwin­

delndem Rand Und blicket hinunter mit Grausen.

Aber drüben auf waldigen Bergeshöhn Sieht er seine schimmernde Feste stehn. Sie blickt ihm freundlich entgegen, Und sein Herz pocht in lauteren Schlä­

Wie der Wald dumpf donnernd wied erklingt Von ihren gewaltigen Streichen! Die Schwerter klingen, der Helmbusch winkt. Und die schnaubenden Rosse steigen.

gen. Ihm ist's, als ob's ihn hinüberrief, Doch es fehlen ihm Schwingen und

Aus lausend Wunden strömt schon das Blut,

Schreckt das Roß:

Flügel; Und der Abgrund, wohl fünfzig Klafter­

tief, es schäumt in den Zügel.

6*

84

V.

Erzählungen.

Und mit Schaudern denkt er's und blickt hinab, Und vor sich und hinter sich sieht er sein

Doch er spornt’s, daß die Fersen bluten, Und setzet hinab in die Fluten. Und der kühne, gräßliche Sprung ge­

Grab; Er hört, wie von allen Seilen Ihn die feindlichen Scharen umreiten.

lingt; Ihn beschützen höh're Gewalten. Wenn auch das Roß zerschmettert ver­

Noch sinnt er, ob Tod aus Feindes­ hand, Ob Tod in den Wogen er wähle: Dann sprengt er vor an die Felsenwand Und befiehlt dem Herrn seine Seele.

sinkt, Der Ritter ist wohl erhallen. Und er teilt die Wogen mit kräftiger

Und näher schon hört er der Feinde Troß, Aber scheu vor dem Abgrund bäumt sich das Roß;

21.

Hand, Und die Seinen stehn an des Ufers Rand Und begrüßen freudig den Schwimmer. Gott verläßt den Mutigen nimmer. Körner.

Die wiedergefundene Tochter.

Herr Saladin, ein Kaufmann in Paris, hatte unter andern Kindern ein Töchterchen, ein zartes, schönes Kind und das jüngste von allen. Eines Tages hatte seine Wärterin es spazieren geführt, und weil eben ein grosser Festtag war, hatte sie ihm seine besten Kleider angezogen und auch ein goldenes Kettchen um den Hals gehängt. Beim Nachhausegehen trifft es sich, dass der Wärterin ein Bekannter in den Weg kommt, mit dem sie in ein tiefes Gespräch gerät, und während dieser Zeit macht sich das Kind von ihrer Hand los, um mit Bequemlichkeit das Spielzeug zu bese­ hen, womit die Fenster eines Kramladens aufgeputzt waren. Es war dies auf einem Platze, wo mehrere Strassen ausliefen, eng und winklicht und wieder von Gässchen durchschnitten, wie es eben in dem alten Labyrinthe von Paris ist. Auf einmal entsteht ein Lärm und Geschrei. Flüchtige Pferde, die sich von einem Wagen losgerissen haben und einen Teil des Zeuges hinter sich herschleppen, was sie noch wütender macht, kommen durch eine enge Strasse herbeigerannt und gerade auf die Wärterin zu, die in dem Augenblick nur an ihre Sicherheit denkt und in die nächste Strasse flieht. Auch das Kind flieht in tödlicher Angst, aber in eine an­ dere Strasse, und als sich beide von dem ersten Schrecken erholt hatten, waren sie weit auseinander. Und nun fängt für beide eine neue Angst an. Die Wärterin läuft nach der vorigen Stelle zurück, ruft, fragt, aber in dem Getümmel und Strömen der Menschen hat niemand auf das Kind geachtet. Das Kind seinerseits läuft immer gerade aus und weint vor sich hin, und wie es so eine Weile gelaufen ist, kommt ein altes Weib gerade darauf zu, nimmt es auf den Arm und sagt: „Find’ ich dich endlich, Schätzchen; ich habe dich schon lange gesucht,“ und läuft mit dem weinenden Kinde, so schnell sie nur kann, davon, so dass jedermann meint, die Alte sei eben des Kindes Wärterin. Die war es aber freilich nicht; sondern die rechte Wärterin war nach vielem Hin- und Herlaufen nach Hause gegangen in

V.

Erzählungen.

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der ungewissen Hoffnung, das Kind würde vielleicht auch schon da an­ gekommen sein. Da es sich nun aber nicht so fand, so könnt ihr euch vorstellen, wie gross der Schrecken der Eltern war. Alles machte sich im Hause auf die Beine und lief und suchte; aber während sie nach der einen Seite liefen, war das Weib mit seiner Beute nach einer andern ge­ laufen, und da sie eine öde Gegend der Stadt erreicht hatte, fing sie an das Kind auszuziehen, erst das guldne Kettchen, das es am Halse trug, dann das feine Musselinkleid, mit neuen seidenen Bändern gebunden; ja, sie war im Begriff, ihm auch das Hemd zu nehmen und es dann seinem Schicksale preiszugeben, wo es vielleicht in der Kälte der Nacht um­ gekommen wäre; aber das Kind schrie so jämmerlich, dass die ruchlose Räuberin bemerkt zu werden fürchtete und mit ihrem Raube entlief. Das unglückliche Kind stand nun allein und unbekleidet auf der öden Stelle, und schon brach die Dämmerung ein, und es wusste nicht, wo es hin sollte, sondern blieb immer auf demselben Platz und schrie bald nach seiner Wärterin, bald nach Vater und Mutter. Da kam ein lahmer Bettler auf seiner Krücke und sah das jammernde Kind und fragte es, warum es denn so weine. Da sagte es, es wolle nach Hause; aber wo das Haus war, wusste es nicht, auch nicht, wie sein Vater hiess. Der Bettler dachte: Das Kind kann mir ja betteln helfen; für ein so hübsches Gesichtchen giebt mancher ein paar Kreuzer mehr. Vielleicht lassen es auch die, denen es angehört, aufsuchen, und dann setzt es wohl für den ehrlichen Finder ein gutes Trinkgeld ab. Er nahm also das Kind bei der Hand, das vor Furcht und Kälte zitterte, und sagte: „Sei nur still, Mäuschen, ich will dich nach Hause zu deinem Papa bringen.“ Da wurde dem Kinde wohl und weh, denn es fürchtete sich vor dem bärtigen Manne; indes lief es mit. Da er es aber in ein kleines, verfallenes Häuschen brachte und drei oder vier elende Stiegen hinauf auf den Boden kletterte, wollte das Kind nicht fort, sondern schrie immer: „Aber da wohnt ja mein Papa nicht.“ Der Bettler zog es mit Gewalt fort, fuhr es auch mit rauher Stimme an und drohete ihm mit der Krücke, wenn es mucksen würde. Nun kam es, still in sich hinein weinend, in einen elenden Verschlag, wo das Fenster mit Papier zugeklebt war und ein schmutziger Tisch nebst einem zer­ brochenen Schemel stand. Auf der Erde lag altes Stroh zum Lager; darauf liess er das Kind sich niederlegen; es konnte aber nicht einschla­ fen. Und da es sich hin und her warf, fragte es der arme Mann, ob es vielleicht Hunger hätte, und gab ihm eine harte Brotrinde aus seiner Tasche. Da nagte das Kind daran und schlief darüber ein. Am andern Morgen brachte der Bettler dem Kinde einen hässlichen Kittel, den er irgendwo geborgt haben mochte, und da er ihm etwas zu lang war, riss er unten einen Fetzen ab, so dass es nun noch lumpiger aussah. Und nun ging er mit dem Kinde nach der neuen Brücke, die über die Seine geht, und wo täglich die halbe Stadt hinüber und herüber zieht. Hier setzte sich der Bettler auf einen Stein, und das arme Kind musste sich neben ihn

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stellen, und wenn jemand vorüberging, der so aussah, als ob er etwas geben könnte, musste es die Hand hinhalten und sagen: „Prie, prie, ayez pitiö d’un pauvre estropiö,“ d. h.: „Bitte, bitte, erbarmt euch eines armen Krüppels.“ Viele gingen vorbei und achteten es nicht; mancher gab auch wohl einen Sou und mochte sich über das artige Gesichtchen in dem gro­ ben Kittel wundern; aber was es damit für eine Bewandtnis habe, da­ nach fragte keiner; denn jeder hat da mit seinen eigenen Geschäften voll­ auf zu thun und hat selten viel Zeit, sich um andere zu bekümmern. Es kamen auch einige Ausrufer, die verlorene Sachen ausriefen, und der Bett­ ler spitzte sein Ohr; aber die suchten goldene Petschafte, Ringe, Shawls und dergleichen; Kinder suchte keiner. So verging eine Stunde nach der andern, und das Kind wurde müde; und wie es so auf dem Ecksteine safs, lehnte es sich mit dem Köpfchen an den armen Mann und schlief ein. Herr Saladin hatte nun die ganze Nacht kein Auge zugethan und seine Er au ebenso wenig und niemand im ganzen Hause; und sie warteten nur, bis der Tag anbrach, um ihre Nachsuchungen fortzusetzen; denn bis nach Mitternacht waren sie mit Laternen umhergezogen. An allen Schlag­ bäumen und Hauptwachen forschten sie, und den Polizeidienern versprachen sie Geld, wenn sie das Kind aufspürten; die aber hatten das geputzte Kind in Gedanken, wie es ihnen beschrieben wurde, nicht das in dem zer­ rissenen und schmutzigen Kittel. Da nun wieder alles Forschen vergebens war, meinten sie endlich, das Kind könnte in den Fluss gefallen sein; ganz traurig und mit beklommenem Herzen ging Herr Saladin an dem Ufer hin und dachte an den Jammer seiner Frau; und wie die Dämmerung anbrach, kam er an die neue Brücke, wo der Bettler safs und das schla­ fende Kind auf dem Steine neben ihm. Und schon hatte er dem armen Manne im Vor üb ergehn ein Dreisoustück in den Hut geworfen, da rief das Kind im Schlafe: „Ah maman, ma chöre maman!“ und schlief immer fort. Die bekannte Stimme fuhr Herrn Saladin durchs Herz; er sah hin und erkannte in den schmutzigen Lumpen die Gestalt seiner Sophie. So­ gleich riss er sie in die Höh’, nahm sie auf den Arm und weckte sie mit seinen Küssen. Was das Kind für Augen machte, da es seinen Vater wiedersah, könnt ihr euch denken. Es schlang seine beiden Ärmchen um seinen Hals, drückte und küsste ihn und wollte ihm gar nicht wieder vom Arm herab. Herr Saladin zögerte auch nicht lange an dieser Stelle, son­ dern nachdem er von dem Bettler erfahren, wie er zu dem Kinde gekom­ men (das Übrige erzählte die kleine Sophie in der Folge selbst) und ihm ein schweres Goldstück zum Geschenk gegeben hatte, eilte er mit seiner lieben Bürde auf dem Arme nach Hause, wo die jammernde Mutter auf dem Sopha lag und mit steigender Angst die Rückkehr ihrer Diener und ihres Mannes erwartete. Dieser sprang, ohne dass ihn jemand bemerkte, mit wenigen Sätzen die Treppe hinauf, öffnete leise die Thür und liess Sophie hinein, während er selbst auf der Schwelle stehen blieb. Die Freude der Mutter und den Jubel im ganzen Hause will ich nicht beschrei-

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ben. Und auch in dieser Nacht schliefen nicht viele Augen in Herrn 8aladins Hause, aber diesmal aus Freude über die Rückkehr des geliebten Kindes. Dass die unvorsichtige Wärterin einer besseren und aufmerksame­ ren Platz machen musste, könnt ihr leicht glauben. Böse zwar hatte sie’s nicht gemeint, aber Unachtsamkeit im Beruf ist auch ein grobes Unrecht. Jacobs.

22.

Der junge Wanderer.

Die Frau des Handwerkers Adolf trat an das Fenster und sah einem jun­ gen Wanderer, der gegenüber in eines der besseren Häuser nach dem andern ging,

mit einem liefen Seufzer nach; denn es war sehr kalt. Aus allen Schornsteinen stieg der Rauch wie Säulen gerade empor, die Knaben hauchten in die roten Hände und zitterten jedesmal ein Weilchen am Ende der Eisbahn, ehe sie wieder auf derselben hingleiteten; und die Blumen, die am Mittage an den Fenstern zerronnen waren, blühten jetzt gegen Abend krause wieder auf.

„Da geht ein armer Handwerker," sagte die Frau bedauernd, „und spricht an. Er scheint hübscher Leute Kind zu sein; sein Kleid ist so reinlich, ins Ge­ sicht konnte ich ihm nicht mehr sehn; nur seine Füße sind so dünn bedeckt, daß einen selbst bei dem Anblicke friert. Gott bewahre jeden vor solcher Wanderung im Winter." „Ja wohl," erwiderte der Mann. „Die jungen Leute bringen sich oft freilich selbst durch Faulheit, unordentliche Lebensart und Trotz dahin, daß sie dann betteln müssen; aber manche sind auch unschuldig. Es giebt auch Krank­ heiten, und die, welche ein nicht überall nötiges Gewerbe treiben, können bis­ weilen nicht gleich wieder unterkommen." „Ach Gott, ja!" fiel das Weib ein. „Wer weiß, wie es unserem Sohne jetzt in der Fremde geht! Seit drei Jahren

haben wir nun nichts von ihm vernommen, und er erfährt nicht einmal, wo wir leben. Wir wußten ja nicht, wo er war, und konnten's ihm nicht melden." „Darüber sei ohne Sorgen," sprach der Gatte. „Wir durften doch das schöne Brot, das uns hier angeboten. ward, und wovon ich wohl wünschte, daß er es mit uns erwürbe und genösse, nicht von uns weisen; und wenn er in unsern alten Wohnort kommt oder dahin schreibt, so wird sich alles schon finden. Aber du sagtest da von dem Fremden, er wird vermutlich auf dieser Seite heraufkom­ men. Ich habe Strümpfe, die ich entbehren kann; suche ihm ein Paar aus. Vielleicht steht gegenwärtig in weiter Ferne ein christlicher Mensch auch unserm Sohne wohlthätig bei." Bewegt wandelte die Frau zu dem Vorräte, fand sogleich die am meisten abgetragenen Strümpfe und blieb dann an dem Schranke sitzen; denn ihre Hand und ihr Herz schwankte zwischen dem Mitleiden und der Wirtlichkeit bei der An­ sicht der besseren, ob sie dieselben geben oder behalten solle. Jetzt ward die Haus­

thür geöffnet. „Sag' dem jungen Menschen," gebot die Frau dem aufwartenden Mädchen, das am Spinnrade saß, „er solle einen Augenblick warten." Rasch sprang die Dienerin aus der Stube, und die beiden Gatten hörten eine lange

Rede, die sie nicht verstanden. Gerührt trat die Magd wieder herein und hielt in der Hand allerlei Blumen, aus buntem Papier zierlich geschnitzt, und kleine

V.

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Erzählungen.

pappene Kästchen. „Ach," begann sie, „der Mensch sieht so ehrlich aus und so bescheiden! Er erzählt, er wolle noch fünfzehn Meilen weit zu seinen Eltern und

habe niemals angesprochen; aber jetzt müsse er. Er habe acht Wochen in der Herberge krank gelegen und, ehe er wieder recht zu Kräften gekommen sei, diese Blumen und Kästchen gemacht. Es kaufe sie vielleicht mancher, sie den Kindern zu bescheren, habe er gedacht; denn er schäme sich zu betteln; aber wenige hätten ihm etwas aus Barmherzigkeit abgenommen." Hastig griffen jetzt die zögernden Hände nach den tüchtigeren Strümpfen, und der Gatte rief: „Dem gieb, der verdient es! Es blieb vom Mittage Essen übrig; wie wäre es, wenn du das in den Ofen setztest, damit er sich einmal durch etwas Warmes labte?" Die Frau eilte mit ihrer Gabe hinaus. Augenblicklich ertönten die Worte: „Gott! mein Sohn! Willkommen!" „Ach, meine Mutter!" Und ehe der Mann noch hinter dem Werktische hervorkommen konnte, sah er schon sein geliebtes Kind in den Armen der Gattin in die Stube treten und hörte den Ruf: „O mein

stm-fe.

Vater, mein Vater!"

23.

Der kluge Richter.

Ein reicher Mann hatte eine beträchtliche Geldsumme, welche in ein Tuch eingenäht war, aus Unvorsichtigkeit verloren. Er machte daher seinen Verlust bekannt und bot, wie man zu thun pflegt, dem ehrlichen Finder eine Belohnung und zwar von hundert Thalern an. Da kam bald ein guter und ehrlicher Mann dahergegangen. „Dein Geld habe ich gefunden. Dies wird's wohl sein! So nimm dein Eigentum zurück!" So sprach er mit dem heitren Blick eines ehr­ lichen Mannes und eines guten Gewissens, und das war schön. Der andere machte auch ein fröhliches Gesicht, aber nur, weil er sein verloren geschätztes Geld wiederhatte; denn wie es um die Ehrlichkeit aussah, das wird sich bald zeigen. Er zählte das Geld und dachte unterdessen geschwind nach, wie er den treuen Finder um seine versprochene Belohnung bringen könnte. „Guter Freund," sprach er hierauf, „es waren eigentlich 800 Thaler in dem Tuch eingenäht; ich finde aber nur noch 700 Thaler. Ihr werdet also wohl eine Naht aufgetrennt

und eure 100 Thaler schon herausgenommen haben; da habt ihr wohl daran gethan. Ich danke euch." Das war nicht schön; aber wir sind auch noch nicht zu Ende. Ehrlich währt am längsten, und Unrecht schlägt seinen eigenen Herrn.

Der ehrliche Finder, dem es weniger um die 100 Thaler als um seine unbe­ scholtene Rechtschaffenheit zu thun war, versicherte, daß er das Päcklein so ge­ funden habe, wie er es bringe, und es so bringe, wie er's gefunden habe. Am Ende kamen sie vor den Richter. Beide bestanden auch hier noch auf ihrer Be­ hauptung, der eine, daß 800 Thaler seien eingenäht gewesen, der andere, daß er

von dem Gefundenen nichts genommen und das Päcklein nicht versehrt habe. Da war guter Rat teuer; aber der kluge Richter, der die Ehrlichkeit des einen und die schlechte Gesinnung des andern zum voraus zu kennen schien, griff die Sache so an. Er ließ sich von beiden über das, was sie aussagten, eine feste und feier­ liche Versicherung geben und that hierauf folgenden Ausspruch: „Demnach und wenn der eine von euch 800 Thaler verloren, der andere aber nur ein Päcklein

v. Erzählun gen.

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mit 700 Thalern gefunden hat, so kann auch daS Geld des letztern nicht das näm­

liche sein, auf welches der erstere ein Recht hat.

Du, ehrlicher Freund, nimmst

also das Geld, welches du gefunden hast, wieder zurück und behältst es in guter Bewahrung, bis der kommt, welcher nur 700 Thaler verloren hat; und dir da weiß ich keinen Rat, als du geduldest dich, bis derjenige sich meldet, der deine

800 Thaler findet."

So sprach der Richter, und dabei blieb es.

24.

Hebel.

Türkische Gerechtigkeit.

Ein türkischer Kaufmannsdiener, auf der Reise von der Nacht und Müdig­ keit überfallen, bindet sein Pferd, das mit kostbaren Waren beladen war, nicht gar weit von einem Wachthaus an einen Baum, legt sich selber unter das Ob­ dach des Baumes und schläft ein. Früh, als ihn die Morgenluft und der Wachtel­ schlag weckte, hatte er gut geschlafen, aber das Nößlein war fort. Da eilte der Beraubte zu dem Statthalter der Provinz, nämlich zu dem Prinzen Caroöman Oglu, der in der Nähe sich aufhielt, und klagte vor seinem Richterstuhl seine Not. Der Prinz gab ihm ein wenig Gehör. „So nahe bei dem Wachthaus? Warum bist du nicht die fünfzig Schritt weitergeritten, so wärst du sicher gewesen. Es ist deines Leichtsinns Schuld." Da sagte der Kaufmannsdiener: „Gerechter Prinz,

hab' ich mich fürchten sollen, unter freiem Himmel zu schlafen in einem Lande, wo du regierst?" Das that dem Prinzen Carosman wohl und wurmte ihn zu­ gleich. „Trink' heute Nacht ein Gläschen türkischen Schnaps," sagte er zu den»

Kaufmannsdiener, „und schlafe noch einmal unter dem Baum." Wie gesagt, so gethan. Des andern Morgens, als ihn die Morgenluft und der Wachtelschlag weckte, hatte er auch gut geschlafen; denn das Rößlein stand mit allen Kostbar­ keiten wieder angebunden neben ihm, und an dem Baum hing ein toter Mensch, der Dieb, und sah das Morgenlicht nimmermehr. £ct'eL

28.

Der westfälische Hofschulze.

Im Hofe zwischen den Scheuern und Wirtschaftsgebäuden stand mit aufgekrempten Hemdärmeln der alte Hofschulze und schaute achtsam in ein Feuer, welches, zwischen Steinen und Kloben am Boden entzündet, lustig flackerte. Er

rückte einen kleinen Amboß, der daneben stand, zurecht, legte sich Hammer und Zange zum Griffe bereit, prüfte die Spitzen einiger großen Radnägel, die er aus dem Bruststücke des vorgebundenen Schurzfells zog, legte die Nägel auf das Boden­ brett des Leiterwagens, dessen Rad er ausbessern wollte, und drehte die Stelle des Rades, von welcher ein Stück Schiene abgebrochen war, achtsam nach oben, worauf er durch untergeschobene Steine das Rad in seiner Stellung befestigte. Nachdem er wieder ein paar Augenblicke in das Feuer gesehen hatte, ohne daß seine hellen und scharfen Augen davon zu blinzeln begannen, fuhr er rasch mit der Zange hinein, hob das rotglühende Stück Eisen heraus, legte es auf den Amboß, schwang den Hammer darüber, daß die Funken sprühten, schlug das im­ mer noch glutrötliche um das Rad, da wo die Schiene fehlte, schlug und schweißte es mit zwei gewaltigen Schlägen fest und trieb dann die Nägel, welche es in seiner weichen Dehnbarkeit noch immer leicht hindurchließ, an ihre Plätze. Einige

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Erzählungen.

der stärksten und heftigsten Schläge gaben dem eingefügten Stück das letzte Ge­ schick. Der Schulze stieß mit dem Fuße die vor das Nad gelegten Steine hin­ weg, faßte den Wagen bei der Stange, um das geflickte Nad zu prüfen, und zog ihn ungeachtet seiner Schwere ohne Anstrengung quer über den Hof, so daß die Hühner, Gänse und Enten, welche sich ruhig gesonnt hatten, mit großem Ge­ schrei vor dem rasselnden Wagen entflohen und ein paar Schweine aus ihrem eingewühlten Lager grunzend auffuhren. Zwei Männer, von denen der eine ein Pferdehändler, der andere ein Ren­ dant oder Receptor war, hatten, unter der großen Linde am Tische vor dem Wohnhause sitzend und ihren Trunk verzehrend, der Arbeit des alten rüstigen Mannes zugesehen. „Das muß wahr fein," rief jetzt der eine, der Pferdehändler, „ihr hättet einen tüchtigen Schmied abgegeben, Hofschulze!" Der Hofschulze wusch in einem Stalleimer voll Wasser, welcher neben dem kleinen Ambosse stand, sich Hände und Gesicht, goß dann das Feuer aus und sagte: „Ein Narr, der dem Schmied giebt, was er selbst verdienen kann." Er nahm den Amboß, als sei er eine Feder, auf und trug ihn nebst Hammer und Zange unter einen kleinen Schuppen zwischen Wohnhaus und Scheuer, in welchem Hobelbank, Säge, Stemmeisen und was sonst zum Zimmer- und Schreinergewerk gehört, bei Holz und Brettern mancher Art stand, lag oder hing. Indem der Alte sich unter dem Schuppen noch zu schaffen machte, sagte der Pferdehändler zu dem Re­ ceptor: „Wollen Sie glauben, daß der auch alle Pfosten, Thüren und Schwellen, die Kisten und Kasten im Hause mit eigener Hand flickt oder, wenn das Glück

gut ist, auch neu zuschneidet? Ich meine, wenn er wollte, könnte er auch einen Kunstschreiner vorstellen und würde einen richtigen Schrank zu Wege bringen." „Da seid ihr im Irrtum," sprach der Hofschulze, der das Letzte gehört hatte und, das Schurzfell jetzt abgethan, im weißleinenen Kittel aus dem Schuppen trat. Er setzte sich zu den beiden Männern an den Tisch, eine Magd brachte ihm auch ein Glas, er that seinen Gästen Bescheid und fuhr dann fort: „Zu einem Pfosten, zu einer Thür und Schwelle gehören nur ein Paar gesunde Augen und eine feste Faust; aber ein Schreiner braucht mehr. Ich habe mich einmal vom Hochmut verleiten lassen und wollte, wie ihr es nennt, einen richtigen

Schrank zu Wege bringen, weil mir Hobel und Meißel und Reißschiene auch bei dem Zimmergewerk durch die Hände gegangen waren; ich maß und zeichnete und schnitt die Hölzer zu, auf Fuß und Zoll hatte ich alles abgepaßt; ja, als es nun an das Zusammenfügen und Leimen gehen sollte, war alles verkehrt. Die Wände standen windschief und klafften, die Klappe vorn war zu groß und die Kasten für die Öffnungen zu klein. Ihr könnt das Machwerk noch sehen, ich

habe es auf dem Boden stehen lassen, mich vor Versuchung künftig zu wahren; denn es thut dem Menschen immer gut, wenn er

eine Erinnerung an seine

Schwachheit vor Augen hat." Zn diesem Augenblicke ließ sich ein lustiges Wiehern aus dem Pferdestalle

gegenüber vernehmen. Der Pferdehändler räusperte sich, spuckte aus, schlug sich Feuer an, blies dem Receptor eine starke Dampfwolke in das Gesicht, sah sehn­ süchtig nach dem Stalle und dann gedankenvoll vor sich nieder. Hierauf spuckte

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Erzählungen.

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er nochmals aus, nahm den lackierten Hut vom Kopfe, strich mit dem Arme über die Stirn und sagte: „Noch immer eine schwüle Witterung!" Dann schnallte er seine lederne Geldkatze vom Leibe, warf sie mit Getöse auf den Tisch, daß der Inhalt klang und klirrte, lösete die Riemen und zählte zwanzig blanke Goldstücke

hin, bei deren Anblick die Augen des Receptors zu funkeln anfingen, und nach denen der alte Hofschulze gar nicht hinsah. „Hier ist das Geld!" rief der Pferde­ händler, die Faust geballt auf den Tisch stemmend, „krieg' ich die braune Stute dafür? Sie ist, weiß Gott, nicht einen Heller mehr wert." „Dann behaltet euer Geld, damit ihr nicht zu Schaden kommt," versetzte der Hofschulze kaltblütig. „Sechsundzwanzig, wie ich gesagt habe, und keinen Stüber darunter. Ihr kennt mich nun die Jahre her, Herr Marz:, und solltet daher wissen, daß das Dingen und Feilschen bei mir nichts verschlägt, weil ich nie von meiner Sache abgehe. Ich begehre, was mir eine Sache wert ist, und thue niemalen Vorschlägen, und so könnte ein Posaunenengel vom Himmel dahergefahren kommen, er kriegte die Braune nicht unter sechsundzwanzig." „Aber Hofschulze!" schrie der Pferdehänd­ ler mit einem derben Fluch, „aus Fordern und Bieten besteht doch der Handel, und meinen eignen Bruder überfrage ich, und wenn kein Vorschlägen in der Welt mehr ist, so hört alles Geschäft auf!" „Im Gegenteil," erwiderte der Hofschulze, „das Geschäft kostet dann weit weniger Zeit und ist schon um deshalb profitlicher, aber auch außerdem haben beide Teile von einem Handel ohne Borschlagen vielen Nutzen. Ich habe es immer erlebt, daß, wenn vorgeschlagen wird, sich die Natur erhitzt und zuletzt niemand^ mehr recht weiß, was er redet oder thut. Da läßt dann der Verkäufer, um nur dem Gehader ein Ende zu machen, die Ware oft unter dem Preise, den er im stillen bei sich festsetzte, und der Käufer seiner­ seits in der Begierde und Brunst des Bietens verthut sich eben so oft. Ist aber gar keine Rede von Ablassen, dann bleiben beide schön ruhig und wahren sich vor

Schaden." „Da ihr so vernünftig redet, so werdet ihr meinen Antrag jetzt besser erwo­ gen haben," hob der Einnehmer an. „Wie gesagt, die Negierung will alle Korn­ gefälle der Höfe in hiesiger Gegend in Geld umwandeln. Sie hat allein den Schaden davon, denn Korn bleibt Korn, aber Geld ist heute so viel und morgen so viel wert; indessen ist es nun einmal ihr Wille, um der Last des Aufspei­

cherns quitt zu werden. Ihr thut mir also den Gefallen und unterschreibt diese neue, auf Geld lautende Urkunde, die ich da zu diesem Behufe schon milgebracht habe." „Durchaus nicht," antwortete der Hofschulze eifrig. „Es ist ein alter Glaube hier zu Lande, daß, wer seinem Hofe eine Last auflegt, dafür zur Strafe nach seinem Tode auf dem Hofe umgehen muß. Ich weiß nicht, wie es damit beschaffen ist, aber das weiß ich: Vom Oberhofe sind seit vielen hundert Jahren nur Körner an die Gotteszelle gegeben worden, und damit wolle sich also das

Rentamt begnügen, wie das Stift sich damit begnügt hat. Wächst Geld auf meinem Acker? Nein. Korn wächst darauf. Woher wollen sie das Geld neh­ men?" „Ihr sollt ja nicht übervorteilt werden!" rief der Einnehmer. „Es muß alles beim alten bleiben," sagte der Hofschulze feierlich. „Das war noch eine gute Zeit, als die Tafeln mit den Verzeichnissen der Lasten und Abgaben der Bauer-

Erz ählungen.

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schäft in der Kirche hingen.

Dazumalen stand alles fest, und kein Gezänk hat

sich nimmer darüber begeben, wie neuerdings nur gar zu oft. Hernach hieß es, die Tafeln mit den Hühnern und Eiern und Maliern schadeten der Andacht, und sie wurden hinweggethan. Im Gegenteil, sie hatten immer zu Predigt und Gesang gehört wie Amen und Segen; ich für mein Teil, wenn ich sie ansah, besonders beim dritten Teile oder der Nutzanwendung, hatte die erbaulichsten Gedanken bekommen, zum Exempel: Überhebe dich nicht, denn da steht geschrieben, wie viel Zinsroggen und Schoßhafer du geben mußt; oder auch so: Wenn du

draußen Lasten zu tragen hast, hier im Gotteshause bist du frei, und was der­ gleichen mehr war. Nun aber, als man auf die leeren Stellen sah, gingen die Gedanken immer wandern und fußten nach den Tafeln, und es dauerte geraume Zeit, ehe und bevor die Menschen wieder nach dem Pastor hinhörten." Er ging in sein Haus. „Das ist ein alter Racker!" rief der Pferdehändler, als er seinen Handelsfreund nicht mehr sah, indem er den lackierten Hut verdrieß­ lich wieder auf den Kopf stülpte. „Wenn der nicht will, so bringt ihn der Teufel nicht herum. Das Schlimmste ist, daß der Kerl die besten Pferde in der Gegend zieht und sie, im Grunde zu sagen, billig genug losschlägt." „Ein starres, wider­ haariges Volk ist hier zu Lande," sagte der Einnehmer. „Ich bin erst vor kur­ zem aus Sachsen hierher versetzt und merke den Abstand. Dort wohnen die Leute beisammen, und deshalb müssen sie schon höflich nnd nachgiebig und bethulich miteinander sein; aber hier in Westfalen sitzt ein jeder auf seinem Kampe, hat sein Holz, sein Feld, seinen Wiesenwuchs um sich, als gäbe es sonst nichts in der Welt. Darum halten sie auch auf ihre alten Schnurren und Faxen so steif, die anderwärts überall abgekommen sind. Was für Mühe habe ich schon mit den andern Bauern wegen der dummen Umschreibereien gehabt! Aber dieser hier ist doch der Schlimmste." „Das kommt daher, weil er so reich ist," bemerkte der Pferdehändler. „Mich wundert, daß Sie es mit den andern in der Bauerschaft ohne ihn durchgesetzt haben; denn der hier ist General und Advokat und alles; sie richten sich in jeglicher Sache nach ihm. Er bückt sich vor keinem. Vorm Jahre kam ein Prinz hier durch; wie er den Hut vor dem abnahm, war es wahr­ haftig, als wollte er sagen: Du bist der und ich bin der. Der Mistfink! Für die Stute sechsundzwanzig Pistolen haben zu wollen! Aber das ist ein Unglück, wenn der Bauer zu viel Vermögen kriegt. Wenn Sie dort durch das Eichholz hindurch sind, gehen Sie eine geschlagene halbe Glockenstunde durch seine Felder, und alles bestellt, daß es nur so eine Art hat.

Ich bin mit meiner Koppel vor­

gestern durch den Roggen und Weizen geritten, und Gott strafe mich, wenn was Anderes als die Köpfe von den Pferden über die Ähren hinübersahen. Ich dachte, ich würde ersaufen."

„Woher hat er's denn?" fragte der Einnehmer.

„O!"

rief der Pferdehändler, „da liegen hier mehrere solcher Höfe herum, man nennt sie Oberhöfe; wenn die nicht manchen Edelmann ausstechen, so will ich nicht Marx heißen. Das Erdreich ist von uralter Zeit zusammengeblieben. Und sparsam und fleißig ist der Nichtsnutz von jeher gewesen, das muß man ihm lasien. Sie sahen ja, wie er sich abäscherte, nur um dem Schmiede die paar Groschen Ver­ dienst zu nehmen."

V. Erzählungen.

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Während der letzten Rede hatte der verdrießliche Pferdehändler sacht in die Geldkatze gegriffen und den zwanzig Goldstücken, gleichsam gleichgültig thuend,

noch sechs hinzugefügt. Der Hofschulze trat wieder in die Thür, und der andere sagte brummend, ohne ihn anzusehen: „Da liegen die sechsundzwanzig, weil es einmal nicht anders sein soll." Der alte Bauer lächelte schalkhaft und sprach: „Ich wußte wohl, daß ihr das Pferd kaufen würdet, Herr Marx; denn ihr sucht für den Rittmeister zu Unna eins zu dreißig Pistolen, und mein Bräunchen paßt

euch dazu wie bestellt. Ich ging auch nur in das Haus, um die Goldwage zu holen, und konnte vorhersehen, daß ihr euch unterdessen besonnen haben würdet." Der Alte, welcher in seinen Bewegungen bald etwas ungemein Rasches, bald wieder die größte Bedächtigkeit zeigte, je nachdem das Geschäft war, das er trieb, setzte sich an den Tisch, wischte langsam und sorgfältig seine Brille ab, spannte sie über die Rase und fing nun an, die Goldstücke genau zu wägen. Zwei oder drei musterte er als zu leicht aus, worüber der Pferdehändler ein heftiges Ge­ zeter erhob, welchem der Hofschulze schweigend und kaltblütig, die Wage in der Hand behaltend, zuhörte, bis der andere statt der verworfenen vollwichtige her­ vorholle. Endlich war die Sache beendigt, der Verkäufer packte bedächtig das Gold in ein Papier und ging mit dem Pferdehändler nach dem Stalle, um ihm

das Pferd zu überliefern. Der Einnehmer wartete die Rückkunft der beiden nicht ab.

„Mit solchem

Klotz ist nichts anzufangen," sagte er; „aber wenn du uns nur nicht so ordent­ lich auf die Termine bezahltest, wir wollten dich —Er fühlte nach seinen ur­ kundlichen Papieren in der Tasche, merkte an ihrem Knittern, daß sie noch darin seien, und schlich vom Hofe. KZ Aus dem Stalle traten der Roßkamm, der Schulze und ein Knecht, welcher zwei Pferde, das des Roßkammes und die erkaufte braune Stute, hinter sich her führte. Der alte Schulze sagte, indem er die letztere zum Abschiede streichelte: „Es thut einem immer leid, wenn man eine Kreatur, die man aufzog, losschlägt, aber wer kann dawider? Nun, halte dich brav, Bräunchen!" rief er und gab dem Tiere einen herzhaften Schlag auf die runden, glänzenden Schenkel. Der Pferdehändler war indessen aufgestiegen und sah mit seiner langen Figur und der kurzen Schoßjacke unter dem breitkrempigen, lackierten Hute, mit seinen erbsen­ gelben Hosen über den dürren Lenden und den hoch hinauf reichenden ledernen Ga­ maschen, mit seinen Pfundsporen und mit seiner Peitsche wie ein Wegelagerer aus. Er ritt, ohne Lebewohl zu sagen, fluchend und wetternd davon, die Braune am Leitzaum nachziehend Keinen Blick warf er nach dem Gehöfte zurück; die Braune

hingegen drehte mehrere Male den Hals um und wieherte wehmütig, als wollte sie klagen, daß ihre gute Zeit nun vorüber sei. Der Hofschulze blieb, die Arme in die Seite gestemmt, mit dem Knechte stehen, bis der Zug durch den Baumgarten verschwunden war; dann sagte der Knecht: „Das Vieh grämt sich."

„Warum sollt' es nicht?" erwiderte der Hofschulze, „grämen wir uns doch auch. Komm auf den Futterboden, wir wollen Hafer messen."

smmermann.

V.

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Erzählungen.

Klugheit zu rechter Zeit.

Einem Kaiser von China wurde der Tod des Pferdes gemeldet, das er einem seiner Knechte besonders empfohlen hatte. Der Kaiser ließ den Unglücklichen rufen und geriet so in Zorn, daß er ihn mit eigner Hand erstechen wollte.

„Herrscher der Welt!" rief ein Mandarin ihm zu und wehrte den Stoß ab, „Herrscher der Welt, bald wäre ein Mensch getötet worden, ohne von der Größe seines Verbrechens überzeugt zu sein!" „Überzeuge ihn!" sagte der Kaiser noch immer in heftigem Zorn. „Unglücklicher!" sagte der Mandarin zu dem Knechte, „du bist schuld, daß ein Pferd gestorben ist, das unser Kaiser dir besonders empfohlen hatte; das ist ein großes Verbrechen! Du hast unsern Kaiser so sehr in Zorn gebracht, daß er dich beinahe mit eigener Hand getötet hätte; das ist ein noch viel schwereres Verbrechen! Du wirst endlich schuld daran sein, daß unser Kaiser bei den Unterthanen alle Liebe und bei den Fremden seinen guten Namen verliert, sobald sie hören, daß er um eines Pferdes willen einen Men­ schen habe töten lassen. Begreifst du, welch ein Verbrecher du bist?" „Entlaßt ihn," sagte der Kaiser, „ich verzeihe ihm." O. Schulz.

27.

Der gut ersonnene Scherz.

Bajazet, der zu Ende des vierzehnten Jahrhunderts türkischer Sultan war und von einem andern Eroberer, Timur oder Tamerlan, heftig bedrängt wurde,

war eines Tages auf den größten Teil seiner Offiziere sehr aufgebracht. Er­ hielt einen Kriegsrat und beschloß, sie alle niedersäbeln zu lassen; keiner von seinen Ministern wagte, dem erzürnten Sultan zu widersprechen. Da schlug sich Hassa, Bajazets Lustigmacher, mit einem gut ersonnenen Scherz ins Mittel. „Sultan", sagte er, „laß sie nur niedersäbeln, sie verdienen kein besseres Schicksal; und wozu helfen sie uns? Nimm du die Fahne, und ich werde die Trommel um­

hängen. Wir beide werden den Tartaren genug zu schaffen machen." Der Sultan wurde nachdenkend, und sein Zorn ging vorüber. O. Schulz.

28.

Wunderbare Lebensrettung.

Ich mochte etwa zehn Jahr alt sein, etwas mehr oder weniger, da schickte mich meine Mutter in den Keller, um einen Krug Wein heraufzuholen; denn es

war eben die Erntezeit, und der Wein sollte den Schnittern auf das Feld gebracht werden. Ich war immer frohen Gemüts und sprang fast mehr, als ich ging; und da ich mich in dem dunklen Keller fürchtete und mir Herz machen wollte, sprang und tanzt' ich noch ärger als sonst. Nun ist Harrach, wo ich geboren bin, aus alte Schachte gebaut, die aber seit Jahren verfallen sind.

Um den gan­

zen Ort liegt das Gestein des eingegangenen Bergwerks, und in manchen Häu­ sern sind halb offene Gänge, die man zum Teil zu Kellern eingerichtet hat. Auch unser Haus war auf einen Schacht gebaut; ob das niemand wußte oder

niemand daran dachte, ich weiß es nicht. Da ich nun so herzhaft sprang und eben den Krug, der in der Ecke stand, ergriffen hatte, that sich die Erde unter mir auf, und ich sank hinab.

Ich hätte mich vielleicht halten können; aber ich wollte

V. Erzählungen.

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den Krug nicht fahrenlassen, den ich in der Hand hielt, und so fuhr ich wohl haushoch in die Tiefe und wäre in den Abgrund hinabgestürzt, hätte nicht ein Haken, der zur Befestigung der Fahrten gedient haben mochte, meine Röcke er­ griffen. Da ich beim Hinabstürzen entsetzlich schrie, hörte meine Mutter, die eben in der Küche beschäftigt war, mein Angstgeschrei und kam mit einem Lichte herbeigelaufen; und da sie die Öffnung sah und mich nicht fand, auch auf ihr

Rufen keine Antwort bekam, mußte sie wohl glauben, ich sei in der Tiefe umge­ kommen. Meine Mutter hat mir öfters erzählt, der Schrecken habe sie so außer sich gesetzt, daß sie mir fast nachgestürzt wäre; es sei ihr dunkel vor den Augen geworden, sie habe sich kaum auf ihren Knieen halten können; aber der Gedanke, daß doch vielleicht noch Rettung möglich sei, habe ihr wieder Kraft gegeben. Sie eilte die Treppe hinauf und rief um Hülfe; aber niemand hörte sie, da alles auf dem Felde war. Erst da sie die Straße hinablief und immer ängstlich schrie, hörten einige Nachbarinnen das Unglück, liefen herzu, sahen händeringend in den Schacht hinab und wußten keine Hülse. Ich hatte beim Fallen das Bewußtsein verloren, und ich wäre nur gar zu glücklich gewesen, wenn es nicht eher als nach meiner Rettung zurückgekommen wäre; aber ich kam nach einiger Zeit wieder zu mir selbst. Wo ich war, wußte ich nicht; aber ich fühlte, daß ich zwischen Himmel und Erde schwebte, und daß ich vielleicht in dem nächsten Augenblicke in die bodenlose Tiefe hinabstürzen könnte. Ich war in einer so unbegreiflichen Augst, daß ich kaum wagte zu schreien; da ich aber Stimmen über mir und ein erbärmliches Wehklagen hörte, bat ich, um Gottes willen mir zu helfen. Da schwieg das Wehklagen einen Augenblick,

fing aber dann nur noch heftiger an; denn da sie hörten, daß ich noch lebte, und doch keine Hülfe wußten, wurde ihr Jammer noch größer. Ich aber sank, da mir keine Hülfe erschien, in meine vorige Betäubung zurück. An Rat fehlte es nicht, denn jedermann gab den seinigen; aber es zeigte sich immer gleich, daß nicht viel damit anzufangen war. Sie versuchten Stricke hinabzulassen; aber diese erreichten mich nicht, Stangen noch weniger. Und wie hätte ich mich auch an einer Stange oder einem Stricke festhalten können, ohne in einer solchen Höhe wieder hinabzugleiten? Endlich hatten sie doch einen alten

Bergmann herbeigerufen, der etwas besser Bescheid wußte. Er fing damit an, die Öffnung behutsam zu erweitern, schaffte dann die Winde herbei, an die er einen Eimer befestigte; aber so viel man auch eilte, ging doch viele Zeit hin. Ängstlich sahen die Umstehenden ven Zurüstungen zu; viele beteten laut, und in den fürchterlichen Augenblicken der Besinnung, die von Zeit zu Zeit meine Ohn­

macht unterbrachen, hörte ich einzelne Worte von Sterbeliedern und Gebeten in Todesgefahr, die ich nur allzugut aus meinem Gesangbuch kannte. Endlich war die Winde aufgestellt, der Eimer befestigt, und der alte Mann stieg mit einem Lichte auf der Mütze in den Eimer, nachdem er vorher erklärt hatte, es könne ja sein, daß er mich beim Hinabfahren mit forttiffe. Langsam und vorsichtig wurde der Eimer hinabgewunden. Ich sah das brennende Licht, und es war mir, als ob ein Stern vom Himmel zu mir herabstiege und Hülfe brächte. Über mir

war Totenstille. Ohne zu wissen, was ich that, drückte ich mich, so sehr ich konnte,

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V.

Erzählungen.

an die feuchte Wand, von der sich kleines Gestein ablöste und wiederhallend in

die Tiefe rollte.

Mein ängstliches Stöhnen bezeichnete den Ort, wo ich mich be­

fand. Jetzt fing der alte Mann an, mir Trost zuzusprechen; er hoffe, mich nun mit Gottes Hülfe zu retten; ich solle nur nicht verzagen. Schon sah ich den Eimer über mir schweben, dann näher und immer näher; aber die Öffnung war

so eng, daß er nicht neben mir vorbeikonnte. Mein Retter gab also ein Zeichen, daß man oben mit dem Winden innehalten solle, und reichte mir einen Strick mit einer Schlinge; in diese griff ich hinein und hob mich ein wenig in die Höhe. Schon konnte ich mit einer Hand den schwebenden Eimer berühren, dann auch mit der andern. In diesem Augenblicke rissen die Fäden, an denen ich bis jetzt so wunderbar gehangen hatte. Der Eimer schwankte; aber ich hing schon an den Händen meines Retters. Er hob mich zu sich hinein und rref: „Danket Gott da oben; ich habe das Kind!" Ich saß nun auf dem Schoße des Bergmanns in dem Eimer, und als dieser

hinaufgewunden wurde, war das erste, was mir einfiel, da ich mich in Sicher­ heit sah, der schöne Krug, der mir beim Hinabfallen aus den Händen geglitten war. Ich sing an bitterlich zu weinen. „Was weinst du denn, Kind?" sagte der alte Mann; „es hat nun keine Gefahr mehr; wir sind gleich oben." „Ach, der Krug! der Krug!" sagte ich immer schluchzend; „er war ganz neu und unser schönster!" Jetzt kamen wir an den Rand der Öffnung. Meine Mutter lag mit ausgebreiteten Armen darüber her und langte nach mir. Mein Retter hielt mich ihr hin. Mit zitternden Händen faßte sie mich unter den Armen und zog mich zu sich. Alle Umstehenden jubelten; alle wollten mich herzen; aber meine Mutter gab mich nicht vom Arm. Sie hatte mich immer lieb gehabt, die gute Mutter, aber von dieser Zeit an wurde ich recht ihr Augapfel. Ich durfte sie

nicht verlassen, und wenn sie sich den ganzen Tag mit mir beschäftigt hatte, glaubte sie doch, ihrer Pflicht noch nicht genuggethan zu haben. Ich habe nachher mehr als einmal von der Mutter gehört, daß, als sie die Worte des Bergmanns: „Danket Gott da oben; ich habe das Kind!" vernommen, es ihr erst wie ein großer Schrecken durch das Herz gefahren sei; dann hätte sie es gar nicht für möglich gehalten und wäre niedergefallen mit dem Gesicht auf die Erde und hätte nur weinen können; als aber das Licht wieder in die Höhe gestiegen sei und sie ihr Kind bei dem schwachen Schein erkannt und lebendig gesehn habe, wäre es ihr gewesen, als thäte sich der Himmel auf mit aller seiner

Herrlichkeit; sie habe diesen seligen Augenblick auch nie wieder vergessen, sondern Gott täglich dafür gedankt. Meine Mutter war eine sehr fromme Frau und

stand auch deshalb bei der ganzen Nachbarschaft in großem Ansehn.

Gott hat

ihr mancherlei Prüfungen auferlegt, aber nie habe ich sie kleinmütig gesehn oder murren hören. Sie sagte oft zu uns Kindern, sie hätte in allen ihren Leiden

recht deutlich Gottes Vaterliebe erkannt; denn alle wären zuletzt zu ihrem Segen ausgeschlagen; der Schreckenstag aber, wo sie mich verloren und wiedererhalten, habe sie erst recht in dem Glauben an Gottes Güte bestärkt und befestigt. Jacobs.

V.

29.

Erzä l>l ungen

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Der Geiger in der Wolfsgrube.

Bor noch nicht gar zu langer Zeit gab es in unsern deutschen Wäldern viele Wölfe, und mancher Bauer weiß noch die Geschichte von jenem Geiger in der Wolfsgrube so gut, als wäre sie gestern geschehen, obgleich sie ihm schon sein Großvater erzählt hat. Es ging nämlich ein Geigersmann von einer Kirch­ weih nach Hause, auf welcher er den Leuten bis tief in die Nacht aufgegeigt hatte. Das Männlein ging ohnehin nicht gern auf dem geraden Wege und kam daher auch in dem dicken Forst, durch den es mußte, bald so weit zur Seite ab, daß es am Ende in eine Grube siel, welche der Jäger zum Wolfsfange ge­ graben hatte. Der Schreck war schon groß genug für den Geiger, da er so ohne

weiteres von der ebenen Erde hinunter in die Tiefe fuhr, wurde aber noch größer, da er unten auf etwas Lebendiges aufsiel, das wild aufsprang, und da

er merkte, daß es ein Wolf sei, der Mann hatte nichts in der Hand als da vor dem geöffneten Wolfsrachen aber diesmal selber gar nicht lustig

ihn da mit glühenden Augen ansah. Der eine Geige, und in der Angst fängt er an, alle seine Stücklein aufzugeigen, die ihm vorkamen. Dem Wolfe mußte aber diese

Musik ganz besonders schön und rührend vorkommen; denn das dumme Vieh sing an überlaut zu heulen, was wohl wie bei unsern musikalischen Hunde», wenn sie Sang und Klang hören, gesungen heißen sollte. Die andern Wölfe draußen im Walde, da sie ihren Kameraden drinnen in der Grube so singen hörten, stimmten auch mit ein, und ihr Geheul kam manchmal so nahe, daß das Geigerlein, an welchem kaum ein einziger Wolf satt geworden wäre, geschweige zwei, jeden Augenblick fürchten mußte, es käme noch ein anderer, auch wohl noch ein dritter und vierter Gast zu feinem bißchen Fleisch in die Grube herein. Unser Kapellmeister in der Wüste guckte indes einmal übers andere in die Höhe, ob's noch nicht Tag werden wollte; denn das Geigen war ihm sein Lebtag nock nicht so lang geworden und so ganz sauer und niederträchtig vorgekommen als da vor dem Wolfe, und er hätte lieber Holz dafür hacken wollen zwanzig Jahre lang alle Wochentage. Ehe aber der Morgen kam, waren schon zwei Saiten an seiner Geige zerrissen, und da es Tag wurde, riß die dritte, und der Geiger spielte nun bloß noch auf der vierten und letzten, und wäre die auch noch ge­ rissen, so hätte ihm der Wolf, der durch das viele Heulen die ganze Nacht hin­ durch nur noch hungriger geworden war, keine Zeit mehr gelassen zum Wieder­ aufziehen, sondern hätte ihn dabei aufgefressen. Da kam zum Glück der alte Jobst, der Jäger, der den Wolf schon von weitem singen, den Geiger aber in der Nähe geigen hörte. Dieser zog den Kapellmeister gerade noch zur rechten

Zeit von dem hungrigen Wolf heraus und erlegte dann diesen. Der Kapell­ meister aber ging ganz still seines Weges und nahm sich vor, künftig lieber am Tage und auf geradem Wege nach Hause zu gehen. Das Geigen im Wirts­ haus war ihm auch so ganz verleidet, daß er zu seinen Kameraden sagte, er wollte sich lieber mit der Nähnadel (denn er war ein Schneider) sein tägliches Brot ergeigen, und wenn er einmal eins auf Saiten aufspielen wollte, so thäte er's lieber in der Kirche als im Wirtshaus; denn von dort sei ein gerader und sicherer Weg nach Hause, sei auch nicht so weit dahin als vom Wirtshaus. Schubert. Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb.

5. Nufl.

7

V.

98 3V.

Erzählungen.

Unglück der Stadt Lehden.

Diese Stadt heißt schon seit undenklichen Zeiten Leyden und hat noch nie gewußt, warum, bis am 12. Jänner des Jahres 1807.

Sie liegt am Rhein in dem Königreich Holland und hatte vor diesem Tage elftausend Häuser, welche von vierzigtausend Menschen bewohnt waren, und war nach Amsterdam wohl die größte Stadt im ganzen Königreich. Man stand an diesem Morgen noch auf wie alle Tage; der eine betete sein „Das walt' Gott!" der andere ließ es sein, und niemand dachte daran, wie es am Abend aussehen wird, obgleich ein Schiff mit siebenzig Fässern voll Pulver in der Stadt war. Man aß zu Mittag

und ließ sich's schmecken wie alle Tage, obgleich das Schiff immer noch da war. Aber als nachmittags der Zeiger auf dem großen Turm auf halb fünf stand (fleißige Leute saßen daheim und arbeiteten, fromme Mütter wiegten ihre Kleinen, Kaufleute gingen ihren Geschäften nach, Kinder waren beisammen in der Abend­ schule, müßige Leute hatten lange Weile und saßen im Wirtshaus beim Karten­ spiel und Weinkrug, ein Bekümmerter sorgte für den andern Morgen, was er essen, was er trinken, womit er sich kleiden werde, und ein Dieb steckte vielleicht gar einen falschen Schlüssel in eine fremde Thür): da geschah plötzlich ein Knall. Das Schiff mit seinen siebenzig Fässern Pulver bekam Feuer, sprang in die Lust, und in einem Augenblick (ihr könnt's nicht so geschwind lesen, als es ge­ schah) waren ganze lange Gassen voll Häuser mit allem, was darin wohnte und lebte, zerschmettert und in einen Steinhaufen zusammengestürzt oder entsetzlich beschädigt. Viele Hunderte Menschen wurden lebendig und tot unter diesen Trümmern begraben oder schwer verwundet; drei Schulhäuser gingen mit allen Kindern, die darin waren, zu Grunde; Menschen und Tiere, welche in der Nähe des Unglücks auf der Straße waren, wurden von der Gewalt des Pulvers in die Luft geschleudert und kamen in einem kläglichen Zustande wieder auf die Erde. Zum Unglück brach auch noch eine Feuersbrunst aus, die bald an allen Orten wütete, und konnte fast nimmer gelöscht werden, weil viele Vorratshäuser voll Öl und Thran mitergriffen wurden. Achthundert der schönsten Häuser

stürzten ein oder mußten niedergerissen werden. Da sah man denn auch, wie es am Abend leicht anders werden kann, als es am frühen Morgen war, nicht nur mit einem schwachen Menschen, sondern auch mit einer großen und volk­ reichen Stadt. Der König von Holland setzte sogleich ein namhaftes Geschenk

auf jeden Menschen, der noch lebendig gerettet werden könnte. Auch die Toten, die aus dem Schutt hervorgegraben wurden, wurden auf das Rathaus gebracht, damit sie von den ihrigen zu einem ehrlichen Begräbnis konnten abgeholt wer­ den. Viele Hülfe wurde geleistet. Obgleich Krieg zwischen England und Holland war, so kamen doch von London ganze Schiffe voll Hülfsmittel und große Geld­ summen für die Unglücklichen, und das ist schön; denn der Krieg soll nie ins Herz der Menschen kommen; es ist schlimm genug, wenn er außen vor allen Thoren und vor allen Seehäfen donnert. Hebel.

V. Erzä'hlungen.

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81. Die Bürgschaft. Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Moros, den Dolch im Gewände; Ihn schlugen die Häscher in Bande. „WaS wolltest du mit dem Dolche? Sprich!" Entgegnet ihm finster der Wüterich. „Die Stadt vom Tyrannen befreien!" „Das sollst du am Kreuze bereuen!" „Ich bin," spricht jener, „zu sterben bereit Und bitte nicht um mein Leben; Doch willst du Gnade mir geben, Ich flehe dich um drei Tage Zeit, Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit. Ich lasse den Freund dir als Bürgen, Ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen." Da lächelt der König mit arger List

Und spricht nach kurzem Bedenken: „Drei Tage will ich dir schenken. Doch wisse! Wenn sie verstrichen, die Frist, Eh' du zurück mir gegeben bist, So muß er statt deiner erblassen; Doch dir ist die Strafe erlassen." Und er kommt zum Freunde. „Der

König gebeut, Daß ich am Kreuz mit dem Leben

Bezahle das frevelnde Streben; Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,

Da gießt unendlicher Regen herab, Von den Bergen stürzen die Quellen, Und die Bäche, die Ströme schwellen. Und er kommt ans Ufer mit wandern­ dem Stab, Da reißet die Brücke der Strudel hinab, Und donnernd sprengen die Wogen Des Gewölbes krachenden Bogen. Und trostlos irrt er an Ufers Rand; Wie weit er auch spähet und blicket Und die Stimme, die rufende, schicket: Da stößt kein Nachen vom sichern Strand, Der ihn setze an das gewünschte Land, Kein Schiffer lenket die Fähre, Und der wilde Strom wird zum Meere. Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht, Die Hände zum Zeus erhoben: „O hemme des Stromes Toben! Es eilen die Stunden, im Mittag steht Die Sonne, und wenn sie niedergeht, Und ich kann die Stadt nicht erreichen, So muß der Freund mir erbleichen!" Doch wachsend erneut sich des Stro­ mes Wut, Und Welle auf Welle zerrinnet,

Und Stunde an Stunde entrinnet. Da treibt ihn die Angst, da faßt er sich

Bis ich die Schwester dem Gatten ge­

Mut Und wirft sich hinein in die brausende

freit: So bleib' du dem König zum Pfande, Bis ich komme, zu lösen die Bande!"

Flut Und teilt mit gewaltigen Armen Den Strom, und ein Gott hat Erbar­

Und schweigend umarmt ihn der treue

men. Und gewinnt das Ufer und eilet fort Und danket dem.rettenden Gotte. Da stürzet die raubende Rotte Hervor aus des Waldes nächtlichem Ort, Den Pfad ihm sperrend und schnaubend

Freund Und liefert sich aus dem Tyrannen; Der andere ziehet von dannen. Und ehe das dritte Morgenrot scheint, Hat er schnell mit dem Gatten die Schwe­ ster vereint, Eilt heim mit sorgender Seele, Damit er die Frist nicht verfehle.

Mord, Und hemmet des Wanderers Eile Mit drohend geschwungener Keule. 7*

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V.

Erzählungen.

„Was wollt ihr?" ruft er, vor Schrekken bleich; „Ich habe nichts als mein Leben, Das muß ich dem Könige geben!" Und entreißt die Keule dem nächsten gleich. „Um des Freundes willen erbarmet euch!" Und drei mit gewaltigen Streichen Erlegt er, die andern entweichen. Und die Sonne versendet glühenden

Brand, Und von der unendlichen Mühe Ermattet, sinken die Kniee. „O hast du mich gnädig ansRänbershand, Aus dem Strom mich gerettet ans hei­ lige Land, Und soll hier verschmachtend verderben, Und der Freund mir, der liebende, ster­ ben!" Und horch! da sprudelt es silberhell Ganz nahe wie rieselndes Rauschen, Und stille hält er, zu lauschen. Und sieh! Aus dem Felsen geschwätzig schnell Springt murmelnd hervor ein lebendiger

Quell; Und freudig bückt er sich nieder Und erfrischt die brennenden Glieder. Und die Sonne blickt durch der Zweige

Grün Und malt auf den glänzenden Matten Der Bäume gigantische Schatten. Und zwei Wanderer sieht er die Straße

ziehn. Will eilenden Laufes vorüberfliehn, Da hört er die Worte sie sagen: „Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen."

Und die Angst beflügelt den eilenden .Fuß, Ihn jagen der Sorgen Qualen: Da schimmern in Abendrots Strahlen Bon ferne die Zinnen von Syrakus. Und entgegen kommt ihm Philostratus, Des Hauses redlicher Hüter, Der erkennet entsetzt den Gebieter.

„Zurück! Du rettest den Freund nicht

mehr, So rette das eigene Leben! Den Tod erleidet er eben. Von Stunde zu Stunde gewartet' er Mit hoffender Seele der Wiederkehr; Ihm konnte den mutigen Glauben Der Hohn des Tyrannen nicht ranben." „Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht Ein Retter willkommen erscheinen, So soll mich der Tod ihm vereinen! Des rühme der blut'ge Tyrann sich nicht, Daß der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht; Er schlachte der Opfer zweie Und glaube an Liebe und Treue!" Und die Sonne geht unter, da steht er am Thor Und steht das Kreuz schon erhöhet, Das die Menge gaffend umstehet. An dem Seile schon zieht man den Freund empor. Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor, „Mich, Henker!" ruft er, „erwürget! Da bin ich, für den er gebürget!" Und Erstaunen ergreift das Volk um­

her; In den Armen liegen sich beide Und weinen vor Schmerzen und Freude. Da sieht man kein Auge thränenleer, Und zum Könige bringt man die Wun­ dermär'; Der fühlt ein menschliches Rühren, Läßt schnell vor den Thron sie führen.

Und blicket sie lange verwundert an; Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen, Ihr habt das Herz mir bezwungen. Und die Treue, sie ist doch kein leerer

Wahn; So nehmt auch mich zum Genossen an: Ich sei, gewährt mir die Bitte, In eurem Bunde der dritte!" Schiller.

v. Erzählungen.

32.

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Der Sänger.

„Was hör' ich draußen vor dem Thor, Was auf der Brücke schallen? Laßt den Gesang vor unserm OhrIm Saale wiederhallen!" Der König sprach's, der Page lief, Der Page kam, der König rief: „Laßt mir herein den Alten!" „Gegrüßet seid mir, edle Herrn! Gegrüßt ihr, schöne Damen! Welch reicher Himmel! Stern bei Stern! Wer kennet ihre Namen? Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit Schließt, Augeu, euch; hier ist nicht Zeit, Sich staunend zu ergötzen." Der Sänger drückt die Augen ein Und schlug in vollen Tönen; Die Ritter schauten mutig dreiu Und in den Schoß die Schönen. Der König, dem es wohlgefiel, Ließ, ihn zu ehren für sein Spiel, Ein' goldne Kette holen.

„Die goldne Kette gieb mir nicht; Die Kette gieb den Rittern, Bor deren kühnem Angesicht Der Feinde Lanzen splittern; Gieb sie dem Kanzler, den du hast, Und laß ihn noch die goldne Last Zu andren Lasten tragen.

Ich singe, wie der Bogel singt, Der in den Zweigen wohnet; Das Lied, das aus der Kehle dringt, Ist Lohn, der reichlich lohnet. Doch darf ich bitten, bitt' ich eins: Laß mir den besten Becher Weins In purem Golde reichen." Er setzt' ihn an, er trank ihn aus. „O Trank voll süßer Labe! O wohl dem hochbeglückten Haus, Wo das ist kleine Gabe! Ergeht's euch wohl, so denkt an mich, Und danket Gott so warm, wie ich Für diesen Trunk euch danke." Goethe.

33.

Erlkönig.

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Bater mit seinem Kind;

Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. „Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?" „Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron' und Schweif ?" „Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif." „Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel' ich mit dir; Manch' bunte Blumen sind an dem Strand;

MeineMutterhat manch güldenGewand." „Mein Vater, mein Bater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht?" „Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind! In dürren Blättern säuselt der Wind."

„Willst, feiner Knabe, du mit mir

gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn Und wiegen und tanzen und singen dich

ein." „Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstren Ort?" „Mein Sohn, mein Sohn, ich seh' es genau; Es scheinen die alten Weiden so grau." „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne

Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt." „Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt

er mich an! Erlkönig hat mir ein Leid's gethan!"

V.

102

Erzählungen.

Dem Vater grausens, er reitet geschwind,

Erreicht den Hof mit Müh' und Not; In seinen Armen das Kind war tot.

Er hält in den Armen das ächzende Kind,

Goethe.

34. Der weiße Hirsch. ES gingen drei Jäger wohl auf die Birsch, Sie wollten erjagen den weißen Hirsch. Sie legten sich unter den Tannenbaum, Da hatten die drei einen seltsamen Traum. Der erste. Mir hat'geträumt, ich klopft' auf den Busch, Da rauschte der Hirsch heraus, husch, husch! Der zweite. Und als er sprang bei der Hunde Gekläff, Da brannt' ich ihm auf das Fell, piff, paff! Der dritte. Und als ich den Hirsch an der Erde sah, Da stieß ich lustig ins Horn, trara! So lagen sie da und sprachen, die drei, Da rannte der weiße Hirsch vorbei. Und eh' die drei Jäger ihn recht gesehn, Da war er davon über Tiefen und Höh'n. Husch, Husch, piff, paff! trara!

33.

uhland.

Das Paar Pantoffeln.

Zu Bagdad lebte ein alter Kaufmann, namens Abu Kasem, der wegen seines Geizes sehr berüchtigt war. Seines Reichtums ungeachtet waren seine Kleider nur Flicken und Lappen, sein Turban ein grobes Tuch, dessen Farbe man nicht mehr unterscheiden konnte. Unter allen seinen Kleidungsstücken aber erregten seine Pantoffeln die größte Aufmerksamkeit. Mit großen Nägeln waren ihre Sohlen beschlagen; das Oberleder bestand aus so vielen Stücken als irgend ein Bettler­ mantel; denn in den zehn Jahren, seitdem sie Pantoffeln waren, hatten die ge­ schicktesten Schuhflicker von Bagdad alle ihre Kunst erschöpft, diese Stücke zu­ sammenzuhallen. Davon waren sie so schwer geworden, daß, wenn man etwas recht Plumpes beschreiben wollte, man die Pantoffeln des Kasem nannte. Als dieser Kaufmann einst auf dem großen Markte der Stadt spazieren ging, that man ihm den Vorschlag, einen ansehnlichen Vorrat von Krystallgeräten zu kaufen. Er schloß den Kauf und sehr glücklich. Einige Tage nachher erfuhr er,

daß ein verunglückter Salbenhändler nur noch Rosenwasser zu verkaufen habe und sehr in Verlegenheit sei. Er machte sich das Unglück dieses armen Mannes zu

nutze, kaufte ihm sein Rosenwasser für die Hälfte des Wertes ab und war über diesen Kauf sehr erfreut. Es ist die Gewohnheit der morgenländischen Kaufleute, die einen glücklichen Handel gemacht haben, ein Freudenfest zu geben. Dies that aber unser Geiziger nicht; er fand es zuträglicher, einmal auch etwas an seinen

V

Erzähln ngen.

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Körper zu wenden, und so ging er ins Bad, das er seit langer Zeit nicht besucht hatte, weil er sich vor der Ausgabe fürchtete, die dadurch nötig wurde. Indem er nun in das Badehaus kam, sagte einer seiner Bekannten, es wäre doch endlich einmal Zeit, seine Pantoffeln abzudanken und sich ein Paar neue zu kaufen. „Darauf denke ich schon lange," antwortete Kasem; „wenn ich sie aber so recht be­ trachte, so sind sie doch so schlecht nicht, daß sie nicht noch Dienste thun könnten." Damit begab er sich ins Bad. Während er sich badete, kam auch der Kadi von Bagdad dahin, und weil

Kasem eher fertig war als der Richter, ging er zuerst in das Zimmer, wo man sich ankleidete. Er zog seine Kleider an und wollte nun wieder in seine Pan­ toffeln treten, aber ein anderes Paar stand da, wo die feurigen gestanden hatten, und unser Geizhals überredete sich gern, daß dies neue Paar wohl ein Geschenk des Freundes sein könne, der ihn vorher erinnert hatte, sich ein Paar neue zu kaufen. Flugs zog er sie an und ging voll Freuden aus dem Bade. Unglück­ licher Weise aber waren es die Pantoffeln des Kadi. Als dieser sich nun ge­ badet hatte und feinte Pantoffeln begehrte, so fanden seine Sklaven sie nicht, wohl aber ein schlecht.es Paar andere, die an eine andere Stelle verschoben waren, und die man sogleich für Kasems Pantoffeln erkannte. Eilig lief der Thürhüter hinter ihm her und führte ihn als auf dem Diebstahl ertappt zurück zum Kadi. Dieser, über die unverschämte Dreistigkeit des alten Geizhalses ergrimmt, hörte seine Berteidigung gar nicht einmal an, sondern ließ ihn sogleich ins Gefängnis werfen. Um nun nicht wie ein Dieb mit öffentlicher Schande bestraft zu wer­ den, mußte er nach orientalischer Art reichlich zahlen. Hundert Paar Pan­ toffeln hätte er für die Summe kaufen können, die er erlegen mußte. Sobald er nach Haus gelangte, nahm er Rache an den Urhebern seines Verlustes. Zornig warf er die Pantoffeln in den Tigris, der unter seinem Fenster vorbeifloß, damit sie ihm nie mehr zu Gesicht kämen; aber das Schicksal wollte es anders. Wenige Tage nachher zogen Fischer ihr Netz auf und fanden es ungewöhnlich schwer. Sie glaubten schon einen Schatz an den Tag zu brin­ gen; statt dessen aber fanden sie die Pantoffeln Kasems, die noch dazu mit ihren Nägeln das Netz so zerrissen hatten, daß sie lange daran flicken mußten. Voll Unwillen gegen Kasem und seine Pantoffeln warfen sie diese gerade in seine offenen Fenster; aber eben in diesem Zimmer standen unglücklicher Weise alle die Krystallflaschen, voll von dem schönen Rosenwasser, das er gekauft hatte; und als nun die schweren, mit Nägeln beschlagenen Pantoffeln auf dieselben ge­ worfen wurden, so wurde das Krystall zertrümmert, und das herrliche Rosenwaffer floß auf den Boden. Man stelle sich Kasem vor, als er ins Zimmer trat und die Zerstörung erblickte. „Verwünschte Pantoffeln," rief er aus, „ihr sollt mir ferner keinen Schaden anrichten." Sofort nahm er eine Schaufel und lief mit ihnen in den Garten. Hastig grub er ein Loch, um seine Pantoffeln darin zu vergraben; als er aber damit beschäftigt war, sah einer seiner Nach­ barn, mit dem er seit langer Zeit in Feindschaft lebte, zum Fenster hinaus und bemerkte das hastige Graben Kasems. Unverzüglich lief er zum Statthalter und meldete ihm insgeheim, daß Kasem in seinem Garten einen großen Schatz ge-

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V.

Erzählung en.

funden habe. Mehr bedurfte es nicht, um die Geldgierde des Statthalters Zu reizen, und es war umsonst, daß Kasem beteuerte, er habe nichts gefunden, son­ dern vielmehr etwas hineingelegt, nämlich seine Pantoffeln. Vergebens grub er

sie wieder auf und ließ sie selbst vor Gericht zeugen; der Statthalter hatte sich auf Geld gefaßt gemacht, und Kasem mußte sich abermals mit einer großen Summe lösen. Voll Verzweiflung ging er vom Statthalter weg, seine teuren Pantoffeln in der Hand, und verwünschte sie von ganzem Herzen. „Warum," sprach er, „soll ich sie noch mir zum Schimpf in den Händen tragen?" Mit diesen Worten warf er sie nicht weit von des Statthalters Palast in eine Wasserleitung. „Nun werde ich," sprach er, „doch weiter von euch nichts hören, nachdem ihr mir so viel gekostet habt." Aber die Pantoffeln wurden gerade in die verschlämmte Röhre der Wasserleitung hineingetrieben. Nur noch dieses Zusatzes bedurfte es, und nach einigen Stunden stand der Fluß still, die Wasser traten über, und so­ gar des Statthalters Gewölbe ward überschwemmt. Überall war Angst und

Verwirrung, und die Brunnenmeister wurden zur Verantwortung gezogen. Diese untersuchten die Wasserleitung, und zu ihrem Glücke fanden sie die Pantoffeln in dem von ihnen vernachlässigten Schlamme und hatten sich damit genugsam gerechtfertigt. Der Herr der Pantoffeln ward in Verhaft genommen, und weil dies eine boshafte Rache gegen den Statthalter schien, so mußte er mit einer noch größeren Geldstrafe, als die beiden vorigen waren, büßen; seine Pantoffeln aber wurden ihm sorgfältig wiedergegeben. „Was soll ich nun mit euch thun," sprach Kasem, „ihr vermaledeiten Pantoffeln? Allen Elementen habe ich euch gegeben, und ihr kämet immer mit größerem Verluste für mich wieder; jetzt ist mir nur noch eins übrig, die Flamme soll euch verzehren. Weil ihr aber," fuhr er fort und wog sie in seinen Händen, „so ganz mit Schlamm erfüllt und mit Wasser getränkt seid, so muß ich euch noch das Sonnenlicht gönnen und euch auf meinem Dache trocknen; denn euch in mein Haus zu bringen, werde ich mich wohl hüten." Mit diesen Worten stieg er auf das platte Dach seines Hauses und legte sie daselbst nieder. Aber das Unglück hatte noch nicht aufgehört, ihn zu verfolgen; ja der letzte Streich, der ihm aufbehalten war, war der grausamste

von allen. Ein Hund seines Nachbars ward die Pantoffeln gewahr; er sprang von dem Dache seines Herrn auf das Dach Kasems und spielte mit ihnen, üv dem er sie umherzerrte. So hatte er den einen bis an den Rand des Daches geschleppt, und es bedurfte nur noch einer kleinen Berührung, da fiel der schwere Pantoffel einer Frau, welche eben an dem Hause vorbeiging und ein Kind trug, gerade auf den Kopf. Sie fiel selbst nieder, und das Kind stürzte aus ihren Armen auf die Steine. Ihr Mann brachte seine Klage vor den Richter, und Kasem mußte härter büßen, als er je gebüßt hatte; denn sein unvorsichtiger Pantoffel hätte beinahe zwei Menschen erschlagen. Als ihm dies Urteil verkündigt war, sprach Kasem mit einer Ernsthaftigkeit, die den Kadi selbst zum Lachen brachte: „Richter der Gerechtigkeit, alles will ich geben und leiden, wozu ihr mich

verdammt habt; nur erbitte ich mir auch den Schutz der Gerechtigkeit gegen die unversöhnlichen Feinde, welche die Ursache alles meines Kummers und Unglücks

V.

Erzählungen.

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bis auf diese Stunde waren: es sind diese armseligen Pantoffeln. Sie haben mich in Armut und Schimpf, ja gar in Lebensgefahr gebracht, und wer weiß,

was sie noch im Schilde führen. Sei gerecht, o edler Kadi, und fasse einen Schluß ab, daß alles Unglück, das ohne Zweifel noch diese Werkzeuge der bösen Geister anrichten werden, nicht mir, sondern ihnen zugerechnet werde." Der Richter konnte ihm seine Bitte nicht versagen. Er behielt die unglück­ lichen Störer der öffentlichen und häuslichen Ruhe bei sich; dem Alten aber gab er die Lehre, daß die rechte Sparsamkeit nur in der richtigen Anwendung des Geldes, nicht aber in dem Zusammenscharren desselben bestehe. Palmblatter.

36.

Der Glockenguß zu Breslau.

War einst ein Glockengießer Zu Breslau in der Stadt, Ein ehrenwerter Meister, Gewandt in Rat und That. Er hatte schon gegessen Biel Glocken, gelb und weiß, Für Kirchen und Kapellen Zu Gottes Lob und Preis.

Will mich mit einem Trünke Noch stärken zu dem Guß; Das giebt der zähen Speise Erst einen vollen Fluß. Doch hüte dich und rühre Den Hahn mir nimmer an; Sonst wär' es um dein Leben,

Fürwitziger, gethan!" Der Bube steht am Kessel, Schaut in die Glut hinein; Das wogt und wallt und wirbelt

Und seine Glocken klangen So voll, so hell, so rein; Er goß auch Lieb' und Glauben Mit in die Form hinein. Doch aller Glocken Krone, Die er gegossen hat,

Und will entfesselt sein Und zischt ihm in die Ohren Und zuckt ihm durch den Sinn

Das ist die Sünderglocke Zu Breslau in der Stadt.

Und zieht an allen Fingern Ihn nach dem Hahne hin.

Im Magdalenenturme, Da hängt das Meisterstück, Rief schon manch starres Herze Zu seinem Gott zurück.

Wie hat der gute MeisterSo treu das Werk bedacht! Wie hat er seine Hände Gerührt bei Tag und Nacht!

Und als die Stunde kommen, Daß alles fertig war. Die Form ist eingemauert, Die Speise gut und gar: Da ruft er seinen Buben Zur Feuerwacht herein. „Ich lass auf kurze Weile Beim Kessel dich allein;

Er fühlt ihn in den Händen, Er hat ihn umgedreht: Da wird ihm angst und bange, Er weiß nicht, was er thät, Und läuft hinaus zum Meister, Die Schuld ihm zu gestehn, Will seine Knie' umfassen

Und ihn um Gnade flehn. Doch wie er nur vernommen Des Knaben erstes Wort, Da reißt die kluge Rechte Der jähe Zorn ihm fort: Er stößt sein scharfes Messer Dem Buben in die Brust. Daun stürzt er nach dem Kessel, Sein selber nicht bewußt:

V.

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Erzählungen.

Vielleicht, daß er noch retten, Den Strom noch hemmen kann. Doch sieh', der Guß ist fertig, Es fehlt kein Tropfen dran.

Da eilt er abzuräumen Und sieht und will's nicht sehn Ganz ohne Fleck und Makel Die Glocke vor sich stehn. Der Knabe liegt am Boden, Er schaut sein Werk nicht mehr. Ach Meister, wilder Meister, Du stießest gar zu sehr! Er stellt sich dem Gerichte, Er klagt sich selber an. Es thut den Richtern wehe Wohl um den wackren Mann. Doch keiner kann ihn retten, Und Blut will wieder Blut. Er hört sein Todesurtel Mit ungebeugtem Mut. Und als der Tag gekommen, Das man ihn führt hinaus, Da wird ihm angeboten Der letzte Gnadenschmaus. „Ich dank' euch," spricht der Meister, „Ihr Herren lieb und wert! Doch eine andre Gnade Mein Herz von euch begehrt-

Laßt mich nur einmal hören Der neuen Glocke Klang! Ich hab' sie ja bereitet; Möcht' wiffen, ob's gelang." Die Bitte ward gewähret, Sie schien den Herrn gering; Die Glocke ward geläutet, Als er zum Tode ging. Der Meister hört sie klingen

So voll, so hell, so rein; Die Augen gehn ihm über. Es muß vor Freude sein. Und seine Blicke leuchten, Als wären sie verklärt. Er hat in ihrem Klange Wohl mehr als Klang gehört; Hat auch geneigt den Nacken Zum Streich voll Zuversicht;

Und was der Tod versprochen, Das bricht das Leben nicht. Das ist der Glocken Krone, Die er gegossen hat, Die Magdalenenglocke Zu Breslau in der Stadt. Die ward zur Sünderglocke

Seit jenem Tag geweiht. Weiß nicht, ob's anders worden In dieser neuen Zeit. W. Müller,

37.

Alles zum Guten.

Rabbi Akiba war einmal auf der Reise und hatte einen Esel, einen Hahn und eine Laterne bei sich; auf dem Esel ritt -er, der Hahn saß hinter ihm, und die Laterne hing dem Lasttier um den Hals. So kam er in ein Städtlein und wollte darin übernachten; aber er fand keine Herberge, wo noch Raum für ihn gewesen wäre, und wie er zu dem einen Thore hineingekommen war, staubig und müde, mußte er zu dem andern wieder hinaus, obgleich der Abendstern schon am Himmel stand. Der Esel schüttelte mit dem Kopfe; aber der Rabbi sprach: „Was Gott thut, das ist wohlgethan," und ging hin, in dem Walde zu übernachten. Den Esel band er an einen Baum, den Hahn setzte er auf einen Ast, die La­

terne hängte er an einen Zweig und zündete die Kerze an, damit er sogleich in dem heiligen Gesetz lesen könnte, wenn er des Nachts erwache; denn er ging nie

ohne dasselbe aus. Aber kaum hatte er sein Haupt in den Mantel gehüllt und war eingeschlafen, siehe, da kam der Löwe und fraß den Esel, und der Marder erwürgte den Hahn, und der Wind riß das Thürlein der Laterne auf und löschte

V.

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Erzählungen.

das Licht darin aus. Das war alles sehr traurig, und eins schlimmer als das andere; aber der Rabbi verneigte sich tief und bezeugte abermals: „WaS Gott

thut, das ist wohlgethan." Und er hatte recht; denn in der Nacht überfielen die Feinde das Städtlein und plünderten es. Wäre Akiba darin gewesen, so würde es bei ihm geheißen haben: „Mitgefangen, mitgehangen;" und hätte das Licht gebrannt oder der Hahn gekräht oder der Esel geschrieen, so würde ihn die Horde auf ihrem Rückzüge bemerkt und noch ärmer als um einen Esel und einen Hahn gemacht haben; denn der Rabbi kam von dem Begräbnis seines Vaters und hatte sein Erbteil bei sich, einen kostbaren Ring an seinem Finger und einen Beutel mit goldenen Byzantinern an seinem Gürtel.

Stöber.

38. Thörichtes Murren. Es war einmal ein reicher Graf, der wohnte auf seinem Schlosse nahe bei einem Dorfe. Er hatte ein sehr grosses Landgut und hielt viele Knechte und Mägde, die ihm sein Feld bestellten; überdies arbeiteten ihm auch viele Leute aus dem Dorfe um den täglichen Lohn. Unter diesen Tage­ löhnern befand sich auch ein Mann mit seiner Frau. Sie hiessen Hans und Grete und waren zwar nicht ärmer als die übrigen Arbeiter, aber sie fühlten sich doch unglücklicher, denn sie waren faul und arbeiteten nicht gerne; darum fiel ihnen die Arbeit auch so beschwerlich. Eines Ta­ ges waren sie auch wieder nach dem Schlosse des Grafen gekommen und wollten um den Lohn bei ihm arbeiten. Da schickte sie der Verwalter in den Garten, und der Gärtner wies ihnen ihre Arbeit an. Sie mussten die Wege des Gartens aufhacken und das Gras hinausschütten. Am Ende kam dann der Gärtner mit dem Rechen oder der Harke und ebnete die Wege wieder. Diese Wege aber waren sehr festgetreten, der Tag war schwül, und es war den beiden Leuten so heiss, dass ihnen der Schweifs von der Stirne rann. Da richtete sich Hans mit einem Male von der Arbeit auf und sagte zu seiner Frau: „Wir sind doch recht unglücklich, dass wir um die paar Groschen Tagelohn so hart arbeiten müssen!“ „Ja,“ sagte die Frau und warf ihre Hacke aus den Händen, „es ist recht hart! Warum ist denn die Einrichtung so in der Welt, dass man sein Brot im Schweisse seines An­ gesichts erwerben muss?“ „Ei, das kannst du in der Bibel lesen,“ erwiderte Hans, „das schreibt sich noch vom Paradiese her. Der liebe Gott hatte den ersten Menschen Adam und Eva verboten, von den Äpfeln des Bau­ mes mitten im Garten zu essen, und sie haben sein Gebot nicht geachtet und dennoch davon gegessen; darum sind sie aus dem Paradiese gejagt worden. Und seitdem muss der Mensch sein Brot im Schweisse seines Angesichts essen. Wäre das nicht geschehen, so sässen noch alle Men­ schen ruhig im Paradiese und brauchten gar nicht zu arbeiten.“ „Hm!“ brummte Grete, „das hätten sie können bleiben lassen. Die Eva muss aber sehr naschhaft gewesen sein. Muss man denn alles versuchen?“ „Ja,“ fiel ihr Hans in die Rede, „und der Adam muss sehr dumm gewesen

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V. Erzählungen.

sein, dass er sich von der Eva verleiten liess, auch in den Apfel zu beissen. Ich hätte der Adam sein sollen! Eine tüchtige Ohrfeige hätte die Frau Eva von mir bekommen, wenn sie mir mit ihrem Apfel gekommen wäre. Ich bin nicht so dumm wie der Adam und muss doch jetzt für seinen Fehler büssen.“ Er setzte unwillig seine Arbeit fort. „Und ich bin nicht so neugierig und näschig, wie die Eva war, und muss auch für sie büssen!“ setzte die Frau hinzu und griff langsam nach ihrer Hacke. Also murrten die beiden einfältigen und faulen Leute über die Sünde der ersten Men­ schen und über ihr eigenes Schicksal. Aber der Graf hatte in einer nahen Laube gesessen und ihr Gespräch mitangehört. Am Abende war er im Hofe zugegen, als sein Verwalter den Lohn unter die Arbeiter auszahlte. Als sie nach ihrem Dorfe zurück­ gehen wollten, rief er Hansen und Greten zurück. „Hört,“ sagte er, „ich habe heute mitangehört, was ihr im Garten miteinander gesprochen. Da du, Hans, nicht so dumm wie Adam und du, Grete, nicht so nasch­ haft bist wie Eva, so scheint es mir allerdings auch unbillig, dass ihr so bart für ihr Vergehen gestraft sein und euern Unterhalt so sauer verdienen sollt. Ich will euch in eine bessere Lage bringen. Bleibt bei mir auf dem Schlosse. Ihr sollt ein schönes Zimmer, ein gutes Bett und Nahrung und Kleidung haben. Auch mögt ihr euch die Zeit vertreiben, wie ihr wollt, arbeiten oder müssig gehen ganz nach Gefallen; nur eine Bedingung mache ich euch: unter den übrigen Schüsseln, aus welchen ihr euch des Mittags und des Abends sättigen sollt, wird immer eine verdeckte Schüssel sein; diese dürft ihr nie aufdecken. Sobald ihr sie aufdecket, ist eures Bleibens nicht mehr in meinem Schlosse; dann müsst ihr wieder nach eurem Dorfe zurückkehren.“ Hans und Grete sahen sich während dieser Rede des Grafen wechselnd fragend und in freudiger Verwunderung an, und als er sie fragte: „Nun, seid ihr’s zufrieden? Wollt ihr bleiben?“ riefen beide zugleich: „Ja, ja, gnädiger Herr, von Herzen gern!“ „Und wollt ihr die verdeckte Schüssel nie aufdecken ?“ fragte der Graf wieder. „Nein, nein, gewiss nicht!“ war die Antwort. Auf dieses Versprechen liess er ihnen eine schöne Stube in seinem Schlosse einräumen; bald wurde auch der Tisch gedeckt und ein herrliches Abendessen aufgetragen. Die verdeckte Schüssel war auch dabei. Sie sassen einander gegenüber am Tisch und liessen sich’s trefflich schmecken. Bald versuchten sie dieses Gericht, bald jenes. „Du stehst mir lange gut!“ sagte Hans, indem er auf die verdeckte Schüssel deutete. „Dieser Braten und Salat ist mir gut genug.“ „Heisa, lustig, Hans!“ rief Grete. „Ver­ deckte Schüssel hin, verdeckte Schüssel her! Da ist ja Essen die Hülle und die Fülle, was man nur auftreiben kann. Was kann denn auch noch besonderes drinnen sein!" „Meinetwegen sei drinnen, was da wolle!" sagte Hans und kauete auf beiden Backen. „Ja, ich meine nur, Hans! Halt, es ist vielleicht eine Pastete drinnen." „Was ist denn das für ein Ding, eine Pastete?" „Ach", erwiderte Grete, „eine Pastete ist das allerbeste,

V.

E V z ak 1 unge n.

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was man nur essen kann; das hat den Geschmack von allerlei Fleisch und Gewürz und ist doch gebacken; da ist ein Kalbsbraten oder ein Schweine­ braten noch nichts dagegen.“ „Hast du denn schon einmal eine Pastete ge­ gessen?“ fragte Hans. „Ei nein I“ antwortete Grete, „aber meine Mutter stand in ihrer Jugend in der Stadt in Diensten, und diese hat mir oft er­ zählt, dass ihre Herrschaft alle Sonntage eine Pastete gegessen hätte; sie hat aber selbst niemals etwas davon bekommen, denn so etwas Kost­ bares essen nur die vornehmen Leute allein. Der Tausend! so ein Stück­ chen Pastete, Hans, das wäre doch nicht übel! Mir wässert schon der Mund. Ich muss doch einmal riechen; vielleicht geht neben am Deckel ein wenig Dunst heraus.“ Indem sie an der verdeckten Schüssel roch, sagte Haus: „HmI Hm! Versuchen möchte ich doch solch ein Wunderessen auch!“ „Ilans, Hans!“ rief Grete freudig, „das ist wahrlich eine Pastete! Es ist ja kein Mensch da, der es sehen könnte. Komm, halte einmal das Licht nahe! Ich will den Deckel nur halb aufdecken, und da wollen wir hineinsehen. Sehen werden wir doch dürfen, was es ist, und ganz unver­ merkt ein bisschen davon versuchen! Komm, Hans, eine Pastete kann man nicht jeden Tag zu sehen und zu versuchen bekommen.“ Hans war neugierig genug; er nahm das Licht, hielt es näher. Die Frau ergriff den Deckel und hob ihn auf der einen Seite in die Höhe, und beide sahen neugierig hinein; aber in demselben Augenblick sprang eine Maus heraus, und die Schüssel war übrigens ganz leer. Grete schrie vor Schrecken laut auf und warf den Deckel hin, dass er in Stücke brach. Da trat der Graf durch eine Seitenthür herein und sah sie noch in ihrer Bestürzung. „Ei, ei!“ sagte er, „wer hat die Schüssel denn aufgedeckt?“ Sie standen beschämt und sahen unter sich. „Ich hatte mir vorgenommen, euch das Leben so angenehm zu machen wie möglich, allein nun könnt ihr nicht mehr hier bleiben; ich habe es euch vorhergesagt. Nun könnt ihr wieder um den täglichen Lohn arbeiten. Schiebt die Schuld nun aber nicht mehr auf Adam und Eva, da ihr euch selbst das sorgenlose Leben verscherzt habt.“ Sie gingen noch in der Nacht in ihre Hütte nach dem Dorfe zurück und kamen zur Erkenntnis ihrer albernen Beschuldigungen. Sie arbeite­ ten künftig ohne Murren über ihr Schicksal, und so arbeiteten sie auch leichter und lebten zufriedener. Und murrten sie ja wieder einmal, so war es ein Murren über ihre eigene Thorheit. Grimm. 39.

Wie schön leuchtet der Morgenstern! Des alten Dorfschulmeisters liebstes Lied.

Wie schön leuchtet der Morgenstern! Hab' doch kein andres Lied so gern! Mit Thränen füllt sich jedesmal Mein Auge, spiel' ich den Choral.

's war damals, als der alte Fritz Noch stritt um Schlesiens Besitz; Hier in den Schluchten lag sein Heer, Der Feind dort auf den Höh'n umher;

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V.

Er^zählun gen.

Da sah's im Dorf gar übel aus, Die Scheuern leer, kein Brot |ün Haus, Im Stalle weder Pferd, noch Kuh

Und vor dem Feind die Furcht dazu. So hatt' ich eben eine Nacht Mit Seufzen und Gebet durchwacht Und stieg beim ersten Morgengraun Den Turm hinauf, um auszuschaun, Wie's draußen stünd'; 's war still umher, Und ich sah keine Feinde mehr. Da zog ich still mein Käpplein ab, Dem lieben Gott die Ehre gab. Horch! Plötzlich trabt's ins Dorf herein. Der Himmel woll' uns gnädig sein! Ein alter Schnauzbart jagt im Trab Nach meinem Haus, dort steigt er ab; Kaum bin ich unten, schreit er: „Lauf, Schließ mir geschwind die Kirche auf!" Ich bat: „Bedenkt, 's ist Gottes Gut, Was man vertraut hat meiner Hut, Und Kirchenraub bestraft sich schwer." Doch er schrie wild: „Was schwafelt Er? Flink aufgeschlossen, sonst soll Ihn—!" Schon wollt' er seinen Säbel ziehn, Da dacht' ich bang an Weib und Kind Und öffnete die Kirch' geschwind Und trat dann zagend mit ihm ein; Mein Weib schlich weinend hinterdrein.

Er ging vorüber am Altar, Hinauf dann, wo die Orgel war; Da stand er still. „Gesangbuch her!

Hier den Choral da spielet Er, Und daß Sie brav die Bälge tritt! Marsch! Vorwärts jetzt und zögert nit!" Ich fing mit einem Vorspiel an, Wie ich's mein Lebetag gethan; Da fiel der Alte grimmig ein: „Was soll mir das Geklimper sein? Hab' ich's gesagt denn nicht dem Herrn: Wie schön leucht' uns der Morgenstern!"

„'s ist nur das Vorspiel!"

„Dummes Zeug! Was spielt Er den Choral nicht gleich?"

So spielt' ich denn, weil er's befahl, Ganz ohne Vorspiel den Choral; Der alte Schnauzbart sang das Lied, Ich und mein Weib, wir sangen mit. Das Lied war aus, still saß der Mann, Ein heißer Strom von Thränen rann Ihm übers braune Angesicht, Die funkelten wie Demantlicht; Dann stand er auf und drückte mir Die Hand und sprach: „Da nehmt das hier." Es war ein großes Thalerstück; Ich wies das Geld beschämt zurück, Er aber rief: „Was soll das, Mann? Bei Gott, es klebt kein Blut daran! Gebt's an die Armen in dem Ort." Drauf gingen wir zusammen fort, Und noch im Gehen sprach er weich: „Kein Lied kommt diesem Lied mir gleich; Es hat mich in vergangner Nacht Zum lieben Gott zurückgebracht, 's rief gestern Abend der Major Vor unsrer Front: Freiwill'ge vor! 's soll ein verlorner Posten stehn Dem Feinde nah', dort auf den Höh'n; Hat keiner Lust, hat keiner Mut? Das trieb mir ins Gesicht das Blut. Da müßten wir nicht Preußen sein! Ich rief's und trat rasch aus den Reih'n; Drei meiner Söhne folgten mir: Gehst du, so gehen wir mit dir! So zogen wir nach jenen Höh'n, Um dort die ganze Nacht zu stehn. Es blitzte hier, es krachte da,

Es war der Feind uns oft so nah, Daß er uns sicherlich entdeckt'.

Wenn uns nicht droben der versteckt. Ja, Mann, ich hab' so manche Nacht Im Feld gestanden auf der Wacht, Doch war mir nie das Herz so schwer; 's kam nur von meinen Jungens her; Ihr habt ja Kinder, nun da wißt Ihr selbst, was Vaterliebe ist. Drum hab' ich auch emporgeblickt

V. Erzählungen. Und ein Gebet zu Gott geschickt; Und wie ich noch so still gefleht,

Da war erhört schon mein Gebet; Denn leuchtend ging im Osten fern

Auf einmal auf der Morgenstern; Und mächtig mir im Herzen klang Der längst vergess'ne fromme Sang; Hätt' gern gesungen gleich das Lied, Doch schwieg ich, weil's uns sonst ver­ riet. Zugleich fiel mir auch manches ein, Was anders hätte sollen sein, Vor allem, daß ich dieses Jahr

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Noch nicht im Gotteshause war. Das machte mir das Herz so schwer; Das war's, das trieb mich zu euch her." Der Alte sprach's, bestieg sein Pferd Und machte munter rechtsum kehrt. Seht, drum hab' ich dies Lied so gern „Wie schön leuchtet der Morgenstern" Und spiel' noch heute jedesmal Ganz ohne Vorspiel den Choral, Und wenn ich spiel', sitzt immerdar Mir dicht zur Seite der Husar; Ich höre seinen kräst'gen Baß, Und da wird mir das Auge naß. Sturm.

40.

Das Erkennen.

Ein Wandersbursch mit dem Stab in der Hand Kommt wieder heim aus fremdem Land. Sein Haar ist bestäubt, sein Antlitz verbrannt; Von wem wird der Bursch wohl zuerst erkannt? So tritt er ins Städtchen durchs alte Thor; Am Schlagbaum lehnt just der Zöllner davor; Der Zöllner, der war ihm ein lieber Freund, Oft saßen die beiden früher vereint. Doch siehe, der Zöllner erkennt ihn nicht; Die Sonn' hat zu sehr ihm verbrannt das Gesicht. Und weiter geht er die Straße entlang, Eine Thräne hängt ihm an bleicher Wang'. Da thut seine Schwester ihr Fenster auf, Und er winkt mit dem herzlichsten Gruß hinauf. Doch steh', auch die Schwester erkennt ihn nicht; Die Sonn' hat zu sehr ihm verbrannt das Gesicht, Und weiter geht er die Straßen entlang,

Benetzt von Thränen die bleiche Wang'. Da wankt von der Kirche sein Mütterchen her. „Gott grüß' euch!" so spricht er und sonst nichts mehr. Doch siehe, das Mütterchen schluchzt vor Lust: „Mein Sohn!" und sinkt an des Burschen Brust. Wie sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt, Das Mutterherz hat ihn gleich erkannt.

41. des

Der Schiffbruch.

Weltmeers wilden Wellen Scheiterte das Schiff. Die Edlen retten

Mitten in

Vogl.

Sich

im

Fahrzeug.

„Wo

ist Don

Alonso?" Riefen sie. Er war des Schiffes Priester.

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V.

Erzählungen.

ihr Freunde meines Lebens, „Bruder, Oheim!" sprach er von dem Borde;

„Reiset wehl,

„Meine Pflicht beginnt, die eure endet." Und er eilt hinunter in des Schiffes

Kammern, seine Sterbenden zu trösten, Höret ihre Sünden, ihre Buße,

Ihr Gebet und wehret der Verzweiflung, Labet sie und geht mit ihnen unter.

Welch ein Geist war größer? Jenes Cato, Der im Zorne sich die Wunden aufriß, Oder dieses Priesters, der, den Pflichten Seines Amtes treu, im Meer versinket?

42. Kannitverstan. Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit an allen Orten, Betrachtungen über den Unbestand aller irdischen Dinge anzustellen, wenn er will, und zufrieden zu werden mit seinem Schicksal, wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in der Luft herumfliegen; aber auf dem seltsamsten Umwege kam ein deutscher Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis. Denn als er in diese große und reiche Handelsstadt, voll prächtiger Häuser, wogender Schiffe und geschäftiger Menschen, gekommen war, fiel ihm sogleich ein großes, schönes Haus in die Augen, wie er ans seiner ganzen Wan­ derschaft noch keines gesehen hatte. Lange betrachtete er mit Verwunderung dies kostbare Gebäude, die sechs Kamine auf dem Dach, die schönen Gesimse und die hohen Fenster, größer als an des Vaters Haus daheim die Thür. Endlich konnte er sich nicht enthalten, einen Vorübergehenden anzureden. „Guter Freund," redete er ihn an, „könnt ihr mir nicht sagen, wie der Herr heißt, dem dieses wunderschöne Haus gehört mit den Fenstern voll Tulipanen, Sternblumen und Levkojen?" Der Mann aber, der vermutlich etwas Wichtigeres zu thun hatte und zum Unglück gerade so viel von der deutschen Sprache verstand als der Fragende von der holländischen, nämlich nichts, sagte kurz und schnauzig: „Kannitverstan!" und schnurrte vorüber. Dies war ein holländisches Wort oder drei, wenn man's recht betrachtet, und heißt auf deutsch so viel als: Ich kann euch

nicht verstehen. Aber der gute Fremdling glaubte, es sei der Name des Mannes, nach dem er gefragt hatte. Das muß ein grundreicher Mann sein, der Herr Kannitverstan, dachte er und ging weiter.

Gass' aus Gass' ein, kam er endlich

an den Meerbusen, der da heißt: het U oder auf deutsch: das Vpsilon. Da stand nun Schiff an Schiff und Mastbaum an Mastbaum; und er wußte anfänglich nicht, wie er es mit seinen zwei einzigen Augen durchfechten werde, alle diese Merkwürdigkeiten genug zu sehen und zu betrachten, bis endlich ein großes Schiff

seine Aufmerksamkeit an sich zog, das vor kurzem aus Ostindien angelangt war und jetzt eben ausgeladen wurde. Schon standen ganze Reihen von Kisten und Ballen auf und neben einander am Lande. Noch immer wurden mehrere heraus­ gewälzt und Fässer voll Zucker und Kaffee, voll Reis und Pfeffer. Als er aberlange zugesehen hatte, fragte er endlich einen, der eben eine Kiste auf der Achsel Heraustrug, wie der glückliche Mann heiße, dem das Meer alle diese Waaren an das Land bringe. „Kannitverstan" war die Antwort. Da dachte er: Haha, schaut's da heraus? Kein Wunder; wem das Meer solche Reichtümer an das

V.

Erzählungen.

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Land schwemmt, der hat gut solche Häuser in die Welt stellen und mancherlei Tulipanen vor die Fenster in vergoldeten Scherben. Jetzt ging er wieder zurück und stellte eine recht traurige Betrachtung bei sich selbst an, was er für ein armer Mensch sei unter so viel reichen Leuten in der Welt; aber als er eben dachte: Wenn ich's doch nur auch einmal so gut bekäme, wie dieser Herr Kannitverstan es hat, kam er um die Ecke und erblickte einen großen Leichenzug. Vier schwarz vermummte Pferde zogen einen ebenfalls schwarz überzogenen Leichen­ wagen langsam und traurig, als ob sie wüßten, daß sie einen Toten in seine Ruhe führten. Ein langer Zug von Freunden und Bekannten des Verstorbenen folgte nach, Paar und Paar, verhüllt in schwarze Mäntel und stumm. In der Ferne läutete ein einsames Glöcklein. Jetzt ergriff unsern Fremdling ein weh­ mütiges Gefühl, das an keinem guten Menschen vorübergeht, wenn er eine Leiche sieht, und er blieb mit dem Hut in den Händen andächtig stehen, bis alles vor­ über war. Doch machte er sich an den letzten vom Zug, der eben in der Stille ausrechnete, was er an seiner Baumwolle gewinnen könnte, wenn der Centner um zehn Gulden aufschlüge, ergriff ihn sachte am Mantel und bat ihn treuherzig um Entschuldigung. „Das muß wohl auch ein guter Freund von euch gewesen fein," sagte er, „dem das Glöcklein läutet, daß ihr so betrübt und nachdenklich mitgeht." „Kannitverstan!" war die Antwort. Da sielen unserm guten Hand­ werksburschen ein paar große Thränen aus den Augen, und es war ihm auf ein­ mal schwer und wieder leicht ums Herz. „Armer Kannitverstan," rief er aus, „was hast du nun von allem deinem Reichtum? Was ich einst von meiner Armut auch bekomme: ein Totenkleid und ein Leichentuch, und von allen deinen schönen Blumen vielleicht einen Rosmarin auf die kalte Brust oder eine Raute." Mit diesen Gedanken begleitete er die Leiche, als wenn er dazu gehörte, bis ans Grab, sah den vermeinten Herrn Kannitverstan hinabsenken in seine Ruhestätte und ward von der holländischen Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr­ gerührt als von mancher deutschen, auf die er nicht achtgab. Endlich ging er leichten Herzens mit den andern wieder fort, verzehrte in einer Herberge, wo man deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stück Limburger Käse, und wenn es ihm einmal schwer fallen wollte, daß so viel Leute in der Welt so reich seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein reiches Schiff und an sein enges Grab.

43. Das Glöcklein des Glücks. Der König lag am Tode; da rief er seinen Sohn; Er nahm ihn bei den Händen und wies ihn auf den Thron: „Mein Sohn," so sprach er zitternd, „mein Sohn, den laß ich dir; Doch nimm mit meiner Krone noch dies mein Wort von mir: Du denkst dir wohl die Erde noch als ein Haus der Lust; Mein Sohn, das ist nicht also; sei dessen früh bewußt! Nach Eimern zählt das Unglück, nach Tropfen zählt das Glück:

Ich geb' in tausend Eimern zwei Tropfen kaum zurück!" Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb.

5. Aufl.

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V.

Erzählungen.

Der König spricht's und scheidet. Der Sohn begriff ihn nicht; Er sieht noch rosenfarben die Welt im Maienlicht. Zu Throne sitzt er lächelnd; beweisen will er's klar, Wie sehr getäuscht sein Vater von düstrem Geiste war. Und auf das Dach des Hauses, grad' über seinem Saal, Worin er schläft und sinnet und sitzt am frohen Mahl, Läßt er ein Glöcklein hängen von hellem Silberklang, Das läutet, wie er unten nur leise rührt den Strang. Den aber will er rühren (so thut er's kund im Land), So oft er sich recht glücklich in seinem Sinn empfand; Und traun, zu wissen glaubt er's, da wird kein Tag entfliehn, An dem er nicht mit Rechten das Glöcklein dürfte ziehn. Und Tag' um Tage heben ihr rosig Haupt empor, Doch abends, wenn sie's senken, trägt's einen Trauerflor. Oft langt er nach dem Seile, das Auge klar und licht; Da zuckt ihm was durchs Jnn're, das Seil berührt er nicht. Einst tritt er, voll des Glückes erhörter Freundschaft, hin; „Ausläuten," ruft er, „will ich's, wie hoch beglückt ich bin." Da keucht ein Bot' inS Zimmer, der's minder spricht als weint: „Herr, den du Freund geheißen, verriet dich wie ein Feind!" Einst fliegt er, voll des Glückes erhörter Lieb', herein; „Mein Glück, mein Glück," so ruft er, „muß ausgeläutet sein!" Da kommt sein blasser Kanzler und murmelt bang und scheu: „Herr, blüht denn auch dem König hienieden keine Treu?" Der König mag's verwinden, er hat ja noch sein Land Und einen vollen Säckel und eine mächt'ge Hand; Er hat noch grüne Felder, noch Wiesen, voll von Duft, Und drauf den Fleiß der Menschen und drüber Gottes Luft! Zu seinem Fenster tritt er, sieht nieder, sieht hinaus, Und Wiege seines Glückes bedünkt ihn jedes Haus. Zum Seil hin eilt er glühend, will ziehn, will läuten: steh! Da stürmt's herein zum Saale, da fällt's vor ihm aufs Knie. „Herr König, siehst du drüben den Rauch, den Brand, den Strahl? So rauchen unsre Hütten, so blitzt der Nachbarn Stahl!" „Ha, freche Räuber!" donnert der Fürst in wildem Glühn, Und statt des Glöckleins muß er sein rächend Eisen ziehn. Schon bleichen seine Haare; vor Dulden wird er schwach, Und stets noch schweigt das Glöcklein auf seines Hauses Dach; Und wenn's auch oft wie Freude sich auf die Wang' ihm drängt, Er denkt kaum mehr des Glöckleins, das er hinauf gehängt. Doch als er nun zu sterben in seinem Stuhle saß, Da hört' er vor dem Fenster Geschluchz' ohn' Unterlaß. „Was soll das?" fragt er leise den Kanzler, „sprich's nur aus!" „Ach, Herr, der Vater scheidet, die Kinder stehn vorm Haus!"

V.

Erzählungen.

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„Herein mit meinen Kindern! Und war man mir denn gut?" „Stünd', Herr, zu Kauf ein Leben: sie kauften deins mit Blut!" Da wogt's auch schon zum Saale gedämpften Schritts herein Und will ihn nochmals segnen, ihm nochmals nahe sein. „Ihr liebt mich also, Kinder?" Und tausend weinen: „Ja!" Der König hört's, erhebt sich, steht wie ein Heil'ger da. Sieht auf zu Gott, zur Decke, langt nach dem Seile stumm. Thut einen Riß: es läutet, und lächelnd sinkt er um.

44.

®cibl-

Der Trompeter an der Katzbach.

Von Wunden ganz bedecket, Der Trompeter sterbend ruht, An der Katzbach hingestrecket, Der Brust entströmt das Blut. Brennt auch die Todeswunde, Doch sterben kann er nicht, Bis neue Siegeskunde Zu seinen Ohren bricht. Und wie er schmerzlich ringet In Todesängsten bang, Zu ihm herüber dringet Ein wohlbekannter Klang. Das hebt ihn von der Erde, Er streckt sich starr und wild: Dort sitzt er auf dem Pferde Als wie ein steinern Bild.

Und die Trompete schmettert, Fest hält sie seine Hand, Und wie ein Donner wettert Viktoria! in das Land. Viktoria! so klang es, Viktoria überall, Viktoria! so drang es Hervor mit Donnerschall. Doch als es ausgeklungen, Die Trompete setzt er ab; Das Herz ist ihm zersprungen, Vom Roß stürzt er herab. Um ihn herum im Kreise Hielt's ganze Regiment; Der Feldmarschall sprach leise: „Das heißt ein selig End'!" Mosen.

43.

Der Kauf.

Der Pascha zu Mardin stand schon seit langer Zeit mit einem arabischen Stamme wegen einer schönen Stute in Unterhandlung; endlich vereinigte man sich zu dem Preise von sechzig Beuteln oder nahe an zweitausend Thalern. Zur verabredeten Stunde trifft der Häuptling des Stammes mit seiner Stute im Hofe des Pascha ein. Dieser versucht noch zu handeln; aber der Scheck er­ widert stolz, daß er nicht einen Para ablasse. Verdrießlich wirft der Türke ihm die Summe hin mit der Äußerung, daß dreißigtausend Piaster ein unerhörter Preis für ein Pferd seien.

Der Araber blickt ihn schweigend an und bindet das

Gold ganz ruhig in seinen weißen Mantel; dann steigt er in den Hof hinab, um Abschied von seinem Thiere zu nehmen. Er spricht ihm einige arabische Worte ins Ohr, streicht ihm über die Stirn und die Augen, untersucht die Hufe und schreitet bedächtig und musternd rings um das aufmerksame Thier. Plötzlich schwingt er sich auf den nackten Rücken des Pferdes, welches augenblicklich vor­ wärts und zum Hofe hinausschießt. In der Regel stehen hier die Pferde Tag und Nacht angeschirrt, mit dem Sattel aus Filzdecken auf dem Rücken. Jeder vornehme Mann hat wenigstens

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V. Erzählungen.

ein oder zwei Pferde im Stall bereit, die nur gezäumt zu werden brauchen, da­ mit man sie besteigen kann; die Araber aber reiten ganz ohne Zaum, denn der Halfterstrick dient, um das Pferd anzuhalten, und ein leiser Schlag mit der fla­ chen Hand auf den Hals, eS rechts oder links zu leiten. Es dauerte auch nicht lange, so saßen die Agas des Pascha im Sattel und jagten dem Flüchtlinge nach. Der unbeschlagene Huf des arabischen Rosses hatte noch nie ein Stein­ pflaster betreten, und es mußte also mit Vorsicht den holprigen, steilen Weg vom Schlöffe hinuntereilen. Die Türken hingegen galoppieren einen jähen Abhang mit scharfem Geröll hinab, wie wir eine Sandhöhe hinan; die dünnen, ringför­ migen, kalt geschmiedeten Eisen schützen den Huf vor jeder Beschädigung, und die Pferde, an solche Ritte gewöhnt, machen keinen falschen Tritt. Am Ausgange des Ortes hatten die Agas den Scheik beinahe ereilt; aber jetzt sind sie in der Ebene, der Araber ist in seinem Element und jagt fort in gerader Richtung; denn hier hemmen weder Gräben, noch Hecken, weder Flüsse, noch Berge seinen Lauf. Wie einem geübten Jockey, der beim Nennen führt, kommt! es dem Scheik darauf an, nicht so schnell, sondern so langsam als möglich zu reiten. Indem er sich beständig nach seinen Verfolgern umsieht, hält er sich auf Schußweite von ihnen entfernt; dringen sie auf ihn ein, so beschleunigt er seine Bewegung; blei­ ben sie zurück, so verkürzt er die Gangart des Tieres; halten sie an, so reitet er Schritt. In dieser Art geht die Jagd fort, bis die glühende Sonnenscheibe sich gegen Abend senkt. Da erst nimmt der Scheik alle Kräfte seines Rosses in Anspruch; er lehnt sich vorn über, stößt die Fersen in die Flanken des Tieres und schießt mit einem lauten Geschrei davon. Der feste Nasen erdröhnt unter dem Stampfen der kräftigen Hufe, und bald zeigt nur noch eine Staubwolke den Verfolgern die Richtung an, in welcher der Araber entfloh. Hier, wo die Sonnenscheibe fast senkrecht unter den Horizont hinabsinkt, ist die Dämmerung äußerst kurz, und die Nacht verdeckte also bald jede Spur des Flüchtlings. Die Türken, ohne Lebensmittel für sich, ohne Wasser für ihre Pferde, waren wohl zwölf bis fünfzehn Stunden von ihrer Heimat entfernt und in einer ihnen ganz unbekannten Gegend. Was war zu thun als umzukehren und dem erzürnten Herrn die unwillkommene Botschaft zu bringen, daß Roß und Reiter und Geld verloren seien! Erst am dritten Abend trafen sie, halbtot vor Erschöpfung und Hunger, mit Pferden, die sich kaum noch schleppten, in Mardin wieder ein. Es blieb ihnen nur der traurige Trost, über dieses neue Beispiel von Treulosigkeit eines Arabers zu schimpfen, wobei sie jedoch genötigt waren, dem Pferde des Verräters alle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und einzuge­ stehen, daß ein solches Tier nicht zu teuer bezahlt worden war. Am folgenden Morgen, als eben der Imam zum Frühgebete ruft, hört der Pascha Hufschlag unter seinen Fenstern, und in den Hof reitet ganz harmlos

unser Scheik. Pferd?"

„Herr," ruft er hinauf, „Herr, willst du dein Geld oder mein Aus Dielitz' Skizzenbuch.

V.

46.

Erzählungen.

Das große Los.

„Frau," sagte Meister Till, „ich muß Zuletzt noch aus der Stadt, so schlecht stehn unsre Sachen. Doch rührten wir auch jemals Hand und Fuß, Dem Glück ein Pförtchen aufzumachen? Pfui, laß uns nicht so schläfrig sein. Laß uns noch heut ein Lotterielos kaufen! Durch dieses Thürchen schleicht gewiß das Glück herein Und bringt uns Gold- und Silberhausen." Frau Till, ein Weibchen guter Art, Sprach immer ja zu allen Dingen. Das Los kommt an, wird heilig aufbewahrt, Und unser Pärchen borgt und spart, Um nach und nach den Einsatz zu erschwingen. Doch das papierne Psörtchen stand Ein halbes Jahr Fortunen offen, Und immer noch ließ sie, als wär's ihr nicht bekannt. Vergebens ihren Einzug hoffen. Jetzt krähte schon der muntre Hahn Den Morgen der Entscheidung an. Und Till sprang jubelnd aus dem Bette. „He, Weibchen, freue dich mit mir! Das große Los (was gilt die Wette?) Bekommt kein Menschenkind als wir. Ein goldner Traum hat mir's versprochen. Und Träume halten gern mir Wort. Bemüh' dich nicht, Kaffee für mich zu kochen; Ich will gleich fort, ins Lotteriehaus fort. Zum letzten Mal vielleicht berühren meine Sohlen Den harten Pflasterweg; denn steht das Glück uns bei.

Alsdann ade, Fußgängerei! Ich lasse stracks mir eine Sänfte holen Und mache mich vor Stolz so schwer wie Blei. Die Sänfte, Kind, sei dir so gut als Brief und Siegel, Daß uns das große Los gehört. Erblickst du sie, dann wirf, vor Freude wie beihört, Flugs Teller, Schüsseln, Töpf' und Tiegel Und Schrank und Tisch und Stuhl und Spiegel, Wirf, wie man sagt, das ganze Haus

Zum Fenster Schlag auf Schlag hinaus! Was wollen wir den alten Plunder schonen? Wir werden bald in goldnen Zimmern wohnen!"

117

118

V.

Erzähln ngen.

Er rannte fort, und feine Gattin sprach: „Karl, lauf dem Vater schnell ans Lotteriehaus nach Und lau're vor der Thür, bis man vom Saal hernieder Nach einer Sänfte läuft und ruft; Dann aber komm im Fluge wieder Gleich einem Vogel in der Luft." Das Knäblein hatte schier drei Stunden Langeweile Und hörte noch von dem, was er begierig dort Erwartete, kein stummes Wort; Doch Plötzlich sprang in größter Eile Jemand die Trepp' herab, und oben rief's: „Fort, fort! Nur eine Sänfte gleich! Geschwind um Gottes willen!" Karl fragte schnell: „Für wen, mein lieber Mann?" Der Renner flog vorbei und fuhr ihn unsanft an: „Für wen denn sonst als Meister Tillen?" Der Bube flog hinweg, als ritt' er gleich Kurier Auf Doktor Fausts berühmtem Mantel. Die Mutter harrt' auf ihn mit flammender Begier Und schwärmte, da er stammelnd ihr Bericht gab, wie verletzt vom Gifthauch der Tarantel. Sie sprang bacchantisch wild mit aufgelöstem Haar Und schleuderte durchs Fenster, was im Zimmer Wand-, niet- und nagelfest nicht war. Mit Brummen überstieg das Sänftenträgerpaar Die vor der Thür gehäuften Trümmer. Man öffnet jetzt das kleine Haus Und denkt, Herr Till wird flink heraus Trotz einem jungen Böcklein springen. Doch welch ein Schreck! Er liegt darin Bewegungslos und ohne Sinn, Als sollte man für ihn die Totenmesse singen. Man spritzt ihm Wasier ins Gesicht, Man heult und schreit ihm in die Ohren; Vergebens! Er ermannt sich nicht Und scheint für diese Welt verloren. Allein nach kurzem Zeitverlauf Schlug er, geweckt durch steigendes Getümmel, Das Aug' allmählich wieder auf, Und seine Gattin rief: „O tausend Dank dem Himmel!

Ha, Männchen!" fuhr sie fort, „ward dir vor Freuden schwül? Ja, ja, das große Los ist traun kein Pappenstiel! Doch hätt' ich dich darüber in der Blüte Des Lebens eingebüßt (davor mich Gott behüte!), So wär' die Lotterie dennoch ein böses Spiel."

V.

Erzählungen.

119

„Das ist sie!" sprach er matt, „ich fiel In Ohnmacht über unsre Niete!" Das Dreißigtausendthaler-Los Warf einem reichen Mann Fortuna in den Schoß. Man munkle, wie man will, von dieser Menschenklasse, Daß sie sich mit Gefühl und Mitleid nicht befasse; Mich freut's, daß ich von dem, der jenes Los gewann, Ein andres Liedchen singen kann. Er hörte kaum durch fliegende Gerüchte Tills tragikomische Geschichte, Da rief er seufzend aus: „Der arme gute Mann! Nein, ich will wahrlich nicht verschulden, Daß er vor Gram vergeht! Geschwind, geschwind, Johann! Lauft hin und bringt ihm diesen Gulden!" Langbein.

47.

Bon des Kaisers Bart.

Am Schank zur goldnen Traube, Da saßen im Monat Mai

In blühender Rosenlaube Guter Gesellen drei. Ein frischer Bursch war jeder, Der eine am Gurt das Horn, Der zweit' am Hut die Feder, Der dritte mit Koller und Sporn. Es trug in funkelnden Kannen Der Wirt den Wein auf den Tisch;

Lustige Reden sie spannen Und sangen und tranken frisch. Da war auch einer drunter, Der grüne Jägersmann, Vom Kaiser Rotbart munter Zu sprechen hub er an: „Ich habe den Herrn gesehen Am Rebengestade des Rheins; Zur Messe wollt' er gehen Wohl in den Dom nach Mainz. Das war ein Bild, der Alte, Fürwahr von Kaiserart! Bis auf die Brust ihm wallte Der lange, braune Bart." Ins Wort fiel ihm der zweite, Der mit dem Federhut:

„Ei, Freund, bist du gescheite? Dein Märlein ist nicht gut. Auch ich hab' ihn gesehen Auf seiner Burg im Harz; Am Söller that er stehen, Sein Bart, sein Bart war schwarz!" Da fuhr vom Sitz der dritte, Der Mann mit Koller und Sporn, Und in der Zänker Mitte Rief er in hellem Zorn: „So geht mir doch zur Höllen, Ihr Lügner! Glück zur Reis'! Ich sah den Kaiser zu Köllen, Sein Bart war weiß, war weiß!" Das gab ein grimmes Zanken Um weiß und schwarz und braun; Es sprangen die Klingen, die blanken,

Und wurde scharf gehaun. Verschüttet aus den Kannen Floß der viel edle Wein; Blutige Tropfen rannen Aus leichten Wunden drein. Und als es kam zum Wandern, Ging jeder in zornigem Mut, Sah keiner nach dem andern, Und waren sich jüngst so gut. Geibel.

V. Erzählungen

120 48.

Bestrafte Ungenügsamkeit.

Es war das Kloster Grabow im Lande Usedom, Das nährte Gott vor Zeiten aus seiner Gnade Strom. Sie hätten sich sollen begnügen! Es schwammen an der Küste, daß es die Nahrung sei Den Mönchen in dem Kloster, jährlich zwei Fisch' herbei.

Sie hätten sich sollen begnügen! Zwei Störe, groß gewaltig! Dabei war das Gesetz, Daß jährlich sie den einen fingen davon im Netz. Sie hätten sich sollen begnügen! Der andre schwamm von dannen bis auf das andre Jahr, Da bracht' er einen neuen Gesellen mit sich dar.

Sie hätten sich sollen begnügen! Da fingen wieder einen sie sich für ihren Tisch; Sie fingen regelmäßig jahraus jahrein den Fisch.

Sie hätten sich sollen begnügen! Einst kamen zwei so große in einem Jahr herbei; Schwer ward die Wahl den Mönchen, welcher zu fangen sei. Sie hätten sich sollen begnügen! Sie fingen alle beide; den Lohn man da erwarb, Daß sich das ganze Kloster den Magen dran verdarb. Sie hätten sich sollen begnügen! Der Schaden war der kleinste, der größte kam nachher; Es kam nunmehr zum Kloster kein Fisch geschwommen mehr. Sie hätten sich Sie hat so lange Daß sie nun des Sie hätten sich

sollen begnügen! gnädig gespeiset Gottes Huld; sind ledig, ist ihre eigne Schuld. sollen begnügen!

49.

Rücken.

Die Histörchen.

„Wir sitzen zusammen auf lustiger Bank, Erzähle drum jeder einen Schwank, Vielleicht vom dummen Volk etwas, Das macht uns Klugen am meisten Spaß. Wer ausgetrunken hat, fängt an! Das trifft mich selber; nun wohlan! Die Fockbecker — es ist doch kein Fock­ becker am Tisch?" „Nein, noch ist er draußen; erzähl' Er nur frisch!" „Die Fockbecker aßen Hering einmal,

Das war für sie ein Göttermahl; Sie dachten: das sollte man öfter haben.

Ist eine der besten Tafelgaben! Sie haben nicht viel und sind nicht reich; Drum legen sie an einen Heringsteich

Und kaufen sie gut gesalzen ein Und setzen sie in den Teich hinein Und dachten, so ohne sondre Mühn Sich ihren Heringsbedarf zu ziehn. Ging einer nun bei dem Wasser vorbei, Und rührte sich was, so rief er: Hei! Es rührt sich schon; es werden schon mehr! Und rieb sich die Hände und freute sich sehr.-

V.

Erzählungen.

Als nun der Herbst gekommen war, Da ließen sie ab das Wasser klar Und standen herum und guckten drein: Da fanden sie einen Aal, allein Bon Heringen nicht einen Schwanz, Die waren weggeschwunden ganz. Da schrien sie alle auf einmal : Der Aal hat sie verzehrt, der Aal! Fort, fort mit ihm zur FeuerSqual! Nein, meinte der eine, so stirbt er zu schnell; Werft lieber ihn in ein Wasser hell! In ein Wasier? DaS wäre ein dummer

Streich; Er hat ja immer gelebt im Teich! Das Wasser im Teich ist flach und klein, Wohl zehnmal tiefer muß es sein. Werft in den großen Strom ihn hin; Da wird er schon versaufen drin! Wie nun der Aal tief Wasser spürt Und lustig drin herumvagiert, Da rufen sie: Seht seine Not; Ersaufen ist ein böser Tod! Die Fockbecker — doch, da kommt einer herein, Da muß ich wahrhaftig stille sein. Guten Tag, Herr Fockbecker, setzet euch, Trinkt und erzählt einHistörchenj" „Gleich! Die Kisdorfer — es ist doch kein Kis­

dorfer am Tisch?" „Nein, noch sind sie draußen, erzähl' Er nur frisch!" „Die Kisdorfer sind nicht gerade dumm. Doch kommen sie oft ums Wahre herum. Einst wie ein fremder Bauer da fährt, Macht er am Wege sich Gras fürs Pferd, Läßt liegen die Sense und denkt: Hieher Komm' ich am Abend und hol' mir mehr. So fährt er davon. Nun war es ein

Spaß, Die Kisdorfer merken, es fehlt da Gras,

Und halten die Sense für ein Tier Und glauben, das hat gefreffen hier. Der kühnste tritt nah hinzu und spricht:

121

ES scheint zu schlafen; es rührt sich nicht. Was thun? Dem Ding ist nicht zu traun; Kommt her, und machen wir einen Zaun

In aller Stille ringsherum, So muß es verhungern! Das schien

nicht dumm. Sie machen den Zaun. Nun kann's nicht heraus! Da gehn sie getröstet all' nach Haus. Der Bauer kam wieder; der hat gelacht Und die Sense geholt und Gras gemacht Und den Streich dann unter die Leute gebracht. Den Kisdorfern aber ward angst und bang, Weil das Tier den Zaun doch über­ sprang. Und keiner ging nachmals mehr allein. Sie mußten immer gekoppelt sein, Bis auf dem Markt sie Sensen gesehn Und merkten, das sei ein Ding zum

Mähn. Noch schöner war es mit einem Gaul, Der schlug um sich mit den Füßen nicht

faul. Dem bauten sie rings umher ein Haus; Doch erzähl' ich die Geschichte nicht aus, Es kommt von Kisdorf eben ein Mann! Heran, heran, nur immer heran! Herr Kisdorfer, kommt und setzet euch, Trinkt und erzählt einHistörchen!" „ Gleich!

Die Gabler — es ist doch kein Gabler am Tisch?" „Nein, noch sind sie draußen; erzähl' Er nur frisch!" „Die Gabler kannten die Katzen noch nicht Und wurden geplagt vom Mäusegezücht; Da bracht' ein Jud' eine Katze daher, Die, sagt' er, zum Mäuseausrotten wär'; Der Jude verlangte die halbe Welt, Da legten zusammen sie vieles Geld Und setzten die Katz' ins erste Haus:

V.

122

Erzählungen.

Dort fange sie an und rotte aus. Der Jude war schon ein Weilchen fort, Ein Tauber ritt nach und rief: Ein

Was frißt das Tier?

Wort! Milch!

rief er

zurück. Und Mäuschen frißt es! O Ungelück! Ruft aus der Taube; denn er verstund: Auch Menschen frißt eö! O böse Stund'! Es erschrickt im Dorf Mann, Weib und

Kind; Doch weil sie gefaßte Leute sind, Entschließen sie sich: Ums Haus dahier Macht flugs ein Feuer, verbrennt das

Tier! Biel besser ein Haus geopfert ist, Als wenn es einen Menschen frißt! Gesagt gethan, das Feuer brennt; Doch die Katze kommt herausgerennt Und läuft in das zweite, auch das muß fort! Viel besser Brand als Menschenmord! Man zündet an; flink ist sie heraus Und ist schon wieder im dritten Haus.

Das ist des Schulzen. Der brave Mann, Er setzt das seine gern daran, Wenn er die Menschheit retten kann. Hei! brennt der Speck in Schulzens Haus! Wipp, war die Katze wieder heraus! Hier kann nichts helfen, man sengt und

brennt, Wo immer nur das Tier hin rennt. Die Katze bleibt in einem Lauf: So geht das Dorf in Feuer auf. Doch tröstet man sich bei aller Not, Die Katze ist zuletzt doch tot.

Man trug sie auf einer Stang' umher, Als ob es ein groß Mirakel wär'. Das Dorf war bald neu ausgestellt, Sie hatten viel verscharrtes Geld. Und dies war nicht ihr letztes Stück, Sie hatten bei aller Dummheit Glück,

Zum Beispiel: — doch da kommt ein

Mann Aus Gabeln, still! Heran, heran! Herr Gabler, kommt und setzet euch, Trinkt und erzählt einHistörchen!" „Gleich! Die Büsumer — es ist doch kein Bü­ sumer am Tisch?" „Nein, noch sind sie draußen, erzähl' Er nur frisch!" „Die Büsumer wohnen am Meeresstrand Und sind für kluge Leute bekannt; Nur treiben sie die Bescheidenheit In manchem Stücke gar zu weit.

Des einen Sonntags ihrer neun Schwimmen sie weit in die See hinein; Auf einmal, wie das Meer so schwankst, Wird einem um die andern angst, Und zählt sie alle: eins, zwei, drei Bis acht und läßt sich aus dabei; Denn er ist ein echtes Büsumer Kind, Die immer so bescheiden sind. Ein zweiter probiert's, zählt: eins, zwei,

drei Bis acht und vergißt sich auch dabei. Da schwimmen sie alle bestürzt ans Land, Wo eben ein kluger Fremder stand; Dem klagten sie jammernd ihre Not Und sagten: Von uns ist einer tot! Und wußten nicht, welcher ertrunken sei, Und jammern und zählen immer aufs neu Und finden immer nur wieder acht, Weil jeder bescheiden an sich nicht ge­

dacht. Der Fremde sprach: Bescheidenheit Führt euch, ihr guten Leute, zu weit; Steck' jeder die Nas' in den Sand ein­ mal, Und zählt die Tupfen, so habt ihr die

Zahl. Sie folgten dem Fremden: da zählten

sie neun Und luden vor Freud' ihn zum Früh­ stück ein.

V.

Erzählungen.

Die Büsumer — still, wer tritt in die

Thür? Ein Büsumer! Schön willkommen hier! Herr Büsumer kommt und setzet euch. Trinkt und erzählt einHistörchen!" „Gleich! Die Romöer — es ist doch kein Romöer am Tisch?" „Nein, noch sind sie draußen, erzähl' Er nur frisch!" „Die Romöer tragen als Leibgewand Eine rote Jacke, das ist bekannt. Nun war ein Robbenschläger zu arm, Trug eine graue, daß Gott erbarm'! Er sagte zwar: Ich liebe das Grau! Doch neckten damit ihn Mann und Frau. Geh', Peter Modder, du thust nur so, Hälfst du eine rote, so wärest du froh. Nun muß es zu jener Zeit geschehn, Daß in Romöe kalte Winde wehn; Die Kirche steht so sehr nach Nord, Man rückte sie gern nach Süden fort. Da sprach Peter Modder: Das wird gar leicht Von uns durch vereinte Kraft erreicht. Stemmt alle euch hier im Norden dran, Ich richt' auf der Süderseite dann; Und daß wir treffen das rechte Maß, Legt eine rote Jacke ins Gras; Dann schiebt, und hat sie erreicht die

Hat Und Die Die

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eine rote Jacke an; keiner wußte da, woher rote Jack' ihm kommen wär'? Romöer — still, wer tritt in die

Thür? Ein Romöer! Schön willkommen hier! Herr Romöer, kommt und setzet euch, Trinkt und erzählt einHistörchen!" „Gleich! Die Hosdrupper — es ist doch kein Hosdrupper am Tisch?" „Nein, noch sind sie draußen, erzähl' Er nur frisch!" „Die Hosdrupper leben friedlich im Land, Und Krieg ist dort ganz unbekannt. Und wie sie einmal Gras mähen zu Heu, Ist einer, vielleicht ein Fremder, dabei; Der hatt' in der Stadt gehört von Krieg. Da fragten sie alle: Was ist denn Krieg? Da sagte der Mann: Der Krieg besteht Darin, daß immer die Trommel umgeht. Wie geht denn die Trommel? Sie geht bumm, bumm, Bumm, bumm im ganzen Land herum. Der Krieg ist schlimm und frißt viel Leut' Samt Vieh und Häusern weit und breit! Die Hosdrupper sprachen: Vor Krieges­

Wand, So klopf' ich und rufe: Stillestand! Gesagt gethan,-der Rat beliebt. Die Jacke liegt da, man drückt und schiebt Vermeintlich fort die Kirchenwand. Da ruft Peter Modder: Stillestand! Ihr schiebt zu stark: die Jack' ist fort!

not Bewahr' uns der liebe Herregott! Und mähten weiter. Nun lag im Gras Ein Faß voll Bier, gut schmeckte das; Die Sommerhitze war nicht gering, Weshalb es bald zu Ende ging. Da fliegt durch den Spund zum Ungelück Eine Hummel hinein, findet nicht zurück.

Da laufen sie alle hin zum Ort. Fort ist sie richtig; jedermann Sieht staunend Peter Moddern an Und lobet seinen guten Rat Und ist gar stolz auf solche That. Doch nächsten Sonntag wundert sich Im Dorfe jedermänniglich: Peter Motder, der sonst so graue Mann,

Summ, summ, bumm, bumm, summ, summ, bumm, bumm Flog sie im hohlen Faß herum. Da sprach der klügste: Ich höre bumm, bumm; Der Krieg ist da, die Trommel geht um! Nun fliehn sie über Stock und Block, Und jeder wünscht der Bein' ein Schock;

V.

124

Erzählungen.

Das leere Faß noch rettet der ein’, Läuft immer hinter den andern drein. Drin tobt die Hummel mit ihrem Ge­

Da spannten sie einen langen Strick Von der Kirchenthür zum Dorf zurück; Dran gingen sie hin, wenn Christnacht

brumm Dicht hinter ihnen bumm, bumm, bumm. Sie liefen, bis endlich der Mann mit

war. Möcht sein das Wetter trüb oder klar. Sie kamen lange Jahre mit Glück Am Stricke hin und wieder zurück; Doch einmal band ein böser Mann Den Strick an den offenen Brunnen an. Plantsch! fällt der erst' in das Wasser da. Der zweite dahinter war schon nah Und denkt, er schließt die Kirchenthür, Und ruft: Laß offen, ich bin schon hier! Plantsch! fällt der zweite dazu ins Loch. Da ruft der dritte: Warte doch! Was machst du zu? und planscht hinein, Da ruft der vierte hinterdrein: Was schlagt ihr denn die Pforte zu? Und planscht hinein im selben Nu. Der fünft' und sechste mit Weib und Kind, Das purzelt alles hinein geschwindDrein plumpt das ganze Volk gemach, Der Pfarr und Küster hintennach; Und blieb nicht eine Seel’ am Ort, Ganz war es ausgestorben dort; Und kamen sie miteinander um, Und war auch kein Lamento drum. Zuletzt getröst' sich jeder Christ, Daß solch ein Volk verstorben ist! Es geh' der Krug die Reih' herum, Dankt Gott, daß keiner von uns so

dem Faß Hinfiel und es zerbrach im Gras. Da traf ein Splitter den einen am Kopf. Ich bin geschossen! schrie der Tropf. Das war den andern erst ein Graun, Hoch sprangen sie über Heck' und Zaun Und rannten fort die Kreuz und Quer, Man sah sie den ganzen Tag nicht mehr. Die Hosdrupper — still, wer tritt in die Thür? Ein Hosdrupper! Schön willkommen hier! Herr Hosdrupper, kommt und setzet euch, Trinkt und erzählt ein Histörchen!" „Gleich!" Der Hosdrupper setzt sich, trinkt und spricht: „Ein rechtes Histörchen weiß ich nicht; Doch ist euch lustiges angenehm, So gab's recht dumme Leute vordem Zu Bishorst, das vergangen ist. Da wohnt einst mancher gute Christ; Die Kirche aber war so klein, Sie fanden bei Tage kaum hinein; Wie sollt es erst in der Christnacht ge­ schehn, Wenn alle Wege mit Schnee verwehn?

30.

Der Pascha von Damaskus.

dumm."

Kopisch.

In keinem andren Lande giebt es so viele Beispiele, dass Menschen aus dem niedrigsten Stande sich auf einmal zur höchsten Macht und Grösse emporschwingen wie in der Türkei, wo Sitte und Gesetze den plötzlichen Glückswechsel ungemein begünstigen. Daher sind dort die höchsten Hofund Staatsämter nicht selten mit kühnen und schlauen Abenteurern, frei­ gelassenen Sklaven und mit Leuten aus der Hefe des Volkes besetzt. Unter allen derartigen Beispielen in der türkischen Geschichte ist jedoch keines auffallender als die Erhebung des Pascha Muhamed el Adme zum Statt­ halter von Damaskus.

V.

Erzählungen.

125

Muhamed und Murad waren die Söhne eines reichen Kaufmanns in Konstantinopel, welcher starb, als seine Kinder kaum aus dem Knabenalter herausgetreten waren, so dass die beiden unerfahrenen Jünglinge plötzlich in den Besitz eines bedeutenden Vermögens gelangten. Murad trat in die Fussstapfen seines Vaters und vermehrte sein Vermögen durch Umsicht und geregelte Thätigkeit; Muhamed dagegen vergeudete sein Erbe auf die leichtsinnigste Weise, indem er, von einer Schar Müssiggänger und Schmeichler umgeben, sich allen Arten von Ausschweifungen hingab. Es war nicht zu verwundern, dass die Ausgaben eines so unordentlichen Lebenswandels in wenigen Jahren das ganze Vermögen Muhameds ver­ schlangen, und ebenso natürlich war es, dass ihn die ganze Schar seiner Genossen verliess, als bei ihm nichts mehr zu finden war. Auch sein eigener Bruder Murad verschloss ihm unter dem Vorwande, dass er seine War­ nungen nicht beachtet habe und kein Mitleid verdiene, seine Thür und erklärte, ihn nie wiedersehn zu wollen. Obwohl ein solches Schicksal bei Verschwendern nicht ungewöhnlich ist, so machte doch das Benehmen der Freunde und besonders die Hart­ herzigkeit des Bruders einen empörenden Eindruck auf das sonst gut­ mütige Herz des Unglücklichen. Da er aber eine unbeugsame Seelenstärke besass, so verlor er den Mut nicht, sondern beschloss, die selbst ver­ schuldeten Schläge des Schicksals mit männlicher Standhaftigkeit zu er­ tragen. Weil er kein anderes Mittel zu seiner Erhaltung ausfindig machen konnte, so blieb ihm fürs erste nichts übrig, als sein Leben durch die Al­ mosen zu fristen, die er von den Gläubigen, welche! n die Moscheeen zum Gebete eilten, erhielt. Dabei verliess ihn aber die Hoffnung nicht, dass die untergesunkene Sonne des Glückes ihn einst wieder heiter anlächeln würde. Der Zufall wollte es, dass gerade zu dieser Zeit auch der Sultan sich in eine der Hauptmoscheeen der Residenz begab, um daselbst seine Andacht zu verrichten, wobei ihm die höchsten Staatsbeamten in ihren prunkenden Kleidern das Geleite gaben. Zu seiner Seite schritten ehrfurchtsvoll zwei Hofleute mit gefüllten Geldsäcken einher, aus denen der wohlthätige Gross­ herr nach einer löblichen Sitte eigenhändig Gold- und Silberstücke unter das Volk streute. Jedes Goldstück war in ein Papierchen gewickelt; aber hin und wieder vertraten die Stelle des edlen Metalls kleine runde Glas­ stückchen. In letzterem Falle enthielt indessen das Papier noch eine nütz­ liche Lehre oder einen Spruch, der vom Sultan selbst verfasst und eigen­ händig niedergeschrieben war. Diese Versehen bestanden zum grössten Teile im Lobe der Armut und in witzigen Ausfällen gegen die über­ mütigen Reichen. Es lässt sich leicht erraten, dass die Volksmenge, welche dem Herrscher nachfolgte, weit gieriger nach dem edlen Metall als nach den von lehrreichen und witzigen Sprüchen begleiteten Glasstücken griff.

126

V.

Erzählungen.

Muhamed hatte sich auch unter das Gesindel gemischt. Aufmerksam beobachtete er alle Bewegungen des Monarchen, und als dieser mit der einen Hand in den Sack griff und das ersehnte Gold und Silber auf die Menge hinabregnen liess, da griff auch er mit Gier nach einem zusammen­ gerollten Stückchen Papier, das er aber nicht eher aufmachte, als bis er sich wieder ganz allein befand. Doch welch schmerzliches Gefühl durch­ schnitt sein Herz, als er statt des erhofften Goldes ein rundes Glasstück­ chen herauswickelte! Schon wollte er es an einem Steine zerschmettern, als ihm noch zur rechten Zeit folgender vom Sultan ausgeschriebene Spruch in die Augen fiel: „Geschicklichkeit und Mut hat schon manchem den Weg zur Auszeichnung gebahnt.Muhamed lächelte; dann sann er über den Spruch nach, verwahrte, als er zu einem Entschlüsse gekommen war, das Papier nebst dem Glasstückchen vorsichtig in seinem Turban und eilte sicheren Schrittes weiter, wohl wissend, was zu thun sei. In Konstantinopel giebt es Kaufleute, die sich mit dem Ausleihen ver­ schiedener Anzüge, von den kostbarsten, von Diamanten blitzenden Ge­ wändern herab bis zu dem bescheidenen Kleide des Derwisches befassen. Solche Niederlagen werden in der Türkei darum gehalten, weil viele, die plötzlich aus der tiefsten Armut zu hohen Würden gelangen, sofort eines ihrem neuen Stande angemessenen Kleiderschmuckes bedürfen. Aus dem­ selben Grunde pflegen diese Kaufleute den Emporkömmlingen ausser den Kleidern auch noch Pferde, Diener und ähnlichen Zubehör zum notwen­ digen Aufwande herzugeben, indem sie diese Gegenstände wochenweis für eine namhafte Summe vermieten. Zu einem dieser Kaufleute begab sich nun auch Muhamed, und weil er eine würdevolle Gestalt und einnehmende Gesichtszüge hatte, so gelang es ihm, den Wucherer durch eine erdichtete Erzählung dahin zu bestim­ men, dass er ihm einen prachtvollen Anzug, schöne Pferde und reich ge­ kleidete Leibwachen gab. So war binnen einer Stunde der arme Bettler in einen angesehenen Pascha verwandelt, der die Bewunderung des Volkes auf sich zog. Der neue Pascha hatte sich verpflichtet, seine kostspielige Einrichtung binnen acht Tagen zu bezahlen. Er hatte zwar kein Geld, aber einen desto erfindungsreicheren Kopf, dem durch den prächtigen Turban noch einmal so viel Verstand zugeströmt zu sein schien. Er sprengte also mit seinen Trabanten vor das Haus seines Bruders und sandte, nachdem er sich auf dem Hofe aufgestellt hatte, einen seiner Diener mit der Meldung zu ihm, dass Muhamed, sein Bruder, ihn zu sprechen verlange. Schon wollte Murad den Abgesandten mit unwilligen Worten zurückweisen, als er gerade noch zur rechten Zeit auf den Hof hinausblickte und seinen Bruder in der vollen Pracht eines Pascha dort halten sah. Schnell eilte er über die Schwelle des Hauses dem Bruder entgegen, um ihn freundlich zu empfangen.

V.

Erzählungen.

127

„Murad“, redete Muhamed den Bruder an, ohne vom Pferde herab­ zusteigen, „der Sultan, unser Gebieter, hat mich zum Pascha von Damas­ kus ernannt; ich bedarf aber, um mich zu meiner neuen Würde gehörig einzurichten, einer bedeutenden Summe Geldes. Schiesse sie mir vor, Bruder! Ich werde dir, wie es einem Bruder und Pascha ziemt, mit Dank alles zurückerstatten.“ „Der Herr vermehre unsers allergnädigsten Herrn Ruhm,“ erwiderte mit leuchtenden Augen der entzückte Bruder. „In dir erhebt die Vor­ sehung unsere Familie zu einer nie geahnten Grösse. Wunderbar sind Allahs Wege, unermesslich der Brunnen seiner Gnade. Ja, Muhamed, gern reiche ich dir von nun an mein ganzes Vermögen dar; nimm davon, so viel dir beliebt. O dass Allah auch ferner mit dir gehe I“ Noch während der Nacht bereitete sich Muhamed zur Abreise vor. Er versah sich mit einer Leibwache von fünfzig Mann und nahm auch einige tartarische Kuriere unter seine Begleitung auf. Am folgenden Tage schickte er seinen Schatzmeister an seinen Bruder ab, um sich von ihm zwanzigtausend Dukaten auszahlen zu lassen, bezahlte dem Kaufmann die Kosten seiner Ausrüstung, setzte über den Bosporus und wandte sich ge­ rades Weges gen Damaskus. Muhamed war kein gemeiner Betrüger, der nur nach augenblicklichen Erfolgen jagt, sondern hatte alles vorher aufs genaueste berechnet. Sein Aufwand, seine gebietende Gestalt und seine edle Haltung mussten in einem Lande, wo dergleichen plötzliche Erhebungen an der Tagesordnung sind, jedermann und vorzüglich seine Begleitung überzeugen, dass er wirklich vom Sultan zum Pascha von Damaskus ernannt worden sei. Anfangs reiste er, um alles Aufsehen zu vermeiden, ganz in der Stille, je mehr er sich aber von Stambul entfernte und den Grenzen seiner Pro­ vinz näherte, desto mehr liess er seine Erhebung veröffentlichen, desto freigebiger verteilte er in den Städten, durch welche ihn sein Weg führte, Geschenke und Almosen. So wurde er denn überall mit gebührender Ehr­ furcht empfangen und mit Gegengeschenken überhäuft. Als man endlich nur noch drei Tagereisen von Damaskus entfernt war, liess er Halt machen und ein Lager aufschlagen. Dann diktierte er seinem Geheimschreiber Briefe an die angesehensten Emire in Damaskus, durch welche er diese benachrichtigte, dass der Grossvezier infolge einer Untreue beim Sultan in Ungnade gefallen und enthauptet worden sei, dass auch sein Sohn, der Pascha von Damaskus, als Mitschuldiger seines Vaters dieselbe Strafe zu erwarten habe, und dass er, Muhamed, als neuernannter Statthalter er­ scheine, um das Urteil des Sultans zu vollziehen, und den Emiren gebiete, den Verbrecher gefangen zu nehmen und bis zu seiner Ankunft im streng­ sten Gewahrsam zu halten. Vor der Absendung dieser Briefe schickte er aber einen Eilboten an den Statthalter von Damaskus ab, um ihm insgeheim zu eröffnen, dass sein Vater enthauptet worden sei, und dass ihm durch den anziehenden neuen Pascha dasselbe Schicksal bereitet werden solle.

128

V.

Erzählungen.

Die Folge dieser richtig berechneten Mitteilung war die, dass der arme Statthalter, der sich übrigens der Liebe des Volkes durchaus nicht zu er­ freuen hatte, in der Meinung, dass er wirklich mit dem Tode bedroht sei, alles, sogar seine Schätze und Weiber im Stiche liess und in der schleu­ nigsten Flucht seine Rettung suchte. Nachdem die Emire die Briefe empfangen hatten, versammelten sie sich upd hielten Rat, welche Mittel zu ergreifen wären, um die erhaltenen Befehle in Ausführung zu bringen. Während sie noch in der Beratung begriffen waren, erschien schon ein zweiter Bote mit einem Schreiben des­ selben Inhalts. Voll Furcht, dass Aufschub und Widerstand ihnen selbst Gefahr bereiten könnte, versammelten sie schnell alle ihre Anhänger und drangen in die Bewohner von Damaskus, den alten Pascha gefangen zu nehmen, den neuen aber mit gebührender Ehrfurcht zu empfangen. Die versammelte Schar eilte unverweilt in den Palast des geächteten Statt­ halters, besetzte alle Ausgänge und durchsuchte, da sie auf keinen Wider­ stand stiess, alle Winkel auf das sorgfältigste; doch ihre Mühe war ver­ gebens, denn der Gesuchte war nirgends zu finden. Das ergrimmte Volk tadelte laut die Nachlässigkeit der Emire, und ohne Zweifel wäre ein Aufstand ausgebrochen, der eine allgemeine Plün­ derung der Stadt herbeigeführt hätte, wenn nicht gerade in demselben Augenblick von der andern Seite ein Freudenruf erschollen wäre, der den neu anziehenden Pascha begrüsste. Der neue Gebieter liess, von einem prachtvollen Gefolge umgeben, nach allen Seiten Gold und Silber unter das Volk werfen und begab sich ohne Aufenthalt in den Palast des Statthalters, wo die Emire zu seinem Empfange versammelt waren. „Wo ist der Schuldige?“ redete er sie mit durchbohrenden Blicken an. Dieser strenge, befehlende Ton brachte alle dermassen in Verwirrung, dass eine lange Zeit eine lautlose Stille herrschte. „Deine Hoheit,“ sagte endlich einer der Emire, „wolle uns gnädigst verzeihen. Wahrscheinlich erhielt der Verurteilte geheime Nachrichten aus Konstantinopel, infolge deren er aus Damaskus entwichen ist, denn als wir seinen Palast besetzten, war er nicht mehr zu finden.“ „Also ist er entflohen?“ rief mit donnernder Stimme der erzürnte Muhamed. „Elende, wisset, dass meine Befehle Gebote des Sultans, unseres allergnädigsten Herrn, sind. Hinweg aus meinem Angesicht! In kurzem werdet ihr die Strafe empfangen, welche denjenigen trifft, der gleich euch die Befehle des Grossherrn aus den Augen setzt.“ Diese Drohung verbreitete unter den Emiren Furcht und Bestürzung. Schon hatte der neue Pascha durch seine Freigebigkeit das gemeine Volk für sich gewonnen, und an Widerstand war daher nicht zu denken. Mo­ hamed aber liess hinterher die Bekümmerten einzeln zu sich rufen, empfing sie auf das huldvollste und beschenkte sie mit den Schätzen seines Vor­ gängers. Auf diese Weise verwandelte sich die Furcht in allgemeine

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Freude. Dieses kräftige Auftreten des neuen Gebieters hatte aber noch den Vorteil zur Folge, dass die erschrockenen Emire nicht wagten, nach dem Firman des Sultans zu fragen, durch welchen Muhamed zum Pascha von Damaskus ernannt worden wäre, indem sie zufrieden waren, dass ihre Nachlässigkeit in betreff der Gefangenuehmung des früheren Pascha un­ bestraft geblieben war. Unterdes trat Muhamed, der ebensoviel Verstand als Willenskraft besass, sein Amt damit an, dass er die Lasten des Volks erleichterte, die Missbräuche in der Verwaltung, die sich unter seinem Vorgänger einge­ schlichen hatten, abstellte, treffliche Gesetze gab und den Ackerbau und den Kunstfleiss unter seinen besonderen Schutz nahm. Nachdem er sich auf diese Weise die allgemeine Zuneigung der Besseren erworben hatte, gewann er die Liebe des Volks durch grosse Freigebigkeit gegen die Armen, indem er die Schätze seines Vorgängers unter alle Bedürftigen verteilte. Auch gegen die Verwandten und Freunde des vertriebenen Statt­ halters benahm er sich auf das grossmütigste, und die angesehensten Emire, die unter den Befehlen desselben gestanden hatten, überhäufte er mit Ehren und Wohlthaten. Zu der Zeit, als dies geschah, war die Verbindung zwischen der Re­ sidenz und den Provinzen noch sehr mangelhaft, und so verging eine geraume Zeit, ehe der Sultan von den ausserordentlichen Vorfällen in Damaskus Kunde erhielt. Erst durch den vertriebenen Pascha, der aus Damaskus durch die Wüste nach Bagdad geflohen war, kam die Sache an den Tag. Da dieser kein anderes Mittel zur Erhaltung seines Lebens finden konnte, so war er anfangs genötigt, vor den Moscheen zu betteln ; später aber trat er in die Dienste eines Pastetenbäckers, dem er jedoch seinen Namen und seine ehemalige Würde verbarg, da er fürchtete, dass ihn auch hier noch die über ihn verhängte Strafe treffen könnte. Der Türke ist an einen unerwarteten Glückswechsel gewöhnt. Die plötzliche Erhöhung, so wie den jähen Sturz vom Gipfel der Ehre trägt er mit ruhigem Gemüte, und so verlebte auch der ehemalige Statthalter, in die Notwendigkeit eines harten Loses sich fügend, mehrere Monate geduldig in Niedrigkeit und Armut, ohne den Mut zu haben, auch nur den Namen seines Vaters, des Grossveziers, zu nennen oder sich auf Öffent­ lichen Plätzen zu zeigen. Indessen traf es sich doch endlich, dass ein Beamter der Pforte, der früher in Damaskus gelebt hatte, ihn im Laden des Pastetenbäckers erblickte und ihn mit Verwunderung also anredete: „Wie kommt deine Hoheit zu dieser Mummerei ? Ich glaube doch wohl mit dem Pascha von Damaskus zu sprechen? Ist es nicht so?44 „Du irrst, Herr44, erwiderte der erschrockene Mann mit sichtbarer Verwirrung; „ich bin ein armer Handwerker, ein Pastetenbäckergehülfe dieses Hauses.44 „Wozu dieses Verstellen?44 sprach der Beamte weiter. „Ich kenne dich zu genau, denn du bist ja der Sohn des Grossveziers, meines allergnädig­ sten Herrn Was würde dein Vater dazu sagen, wenn er dich in dieser Dielitz Heinrichs, deutsch. Lesebuch. 5. Aust. 9

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Verkleidung erblickte? Grosser Gott!“ „Im Namen Allahs,“ raunte ihm der ehemalige Pascha ins Ohr, „bist du ein Freund meines Vaters ge­ wesen, so beschwöre ich dich bei seinen teuren Überresten, dass du mich nicht verrätst!“ „Überreste?“ fragte der erstaunte Beamte weiter. „Dein Vater lebt ja! Hab’ ich doch noch gestern ein Schreiben von seiner Hand erhalten!“ Die weitere Unterredung deckte die Sache vollends auf. Der Sohn des Grossveziers begab sich hocherfreut in die Wohnung des Beamten, um andere Kleider, die seiner Würde angemessener waren, anzulegen. Da es sich ergeben hatte, dass hier der schnödeste Verrat obgewaltet, so beschlossen die beiden Männer, sich ohne Aufschub nach Konstan­ tinopel zu begeben und den Sultan selbst um Gerechtigkeit anzuflehen. Der Grossvezier, an welchen man sich zuerst wandte, konnte die ganze Sache nicht begreifen, obgleich er das Missgeschick seines Sohnes aus dessen eigenem Munde vernahm, und selbst der Sultan wollte es nicht glauben, als ihm von dem unglücklichen Vertriebenen in der erbetenen Audienz die ganze Sache auseinandergesetzt wurde; doch schwur er hoch und teuer, den Missbrauch sofort abzustellen und den Unverschämten die ganze Schwere seines Zornes fühlen zu lassen; auch sandte er auf der Stelle einen Offizier mit vierhundert Janitscharen nach Damaskus, um den Frevler sofort gefangen nehmen und nach Konstantinopel schaffen zu lassen. Die achtmonatliche Verwaltung der Statthalterschaft von Damaskus durch Muhamed war indes für die Bewohner jener Provinz, die in ihm einen wahren Vater gefunden hatten, überaus wohlthätig gewesen, und es war daher vorauszusehen, dass man ihn ungern missen würde. Als nun der Offizier des Sultans bei Muhamed erschienen war und ihm den Brief seines Herrn überreicht hatte, so küsste jener das Schreiben in aller De­ mut, drückte es zum Zeichen völliger Unterwerfung an die Stirn und bat nur um wenige Stunden Aufschub, um sich zur Reise rüsten zu dürfen. Unterdes berief er die sämtlichen Emire zu sich, teilte ihnen mit, dass er ab berufen worden sei, und nahm herzlichen Abschied von ihnen. Kaum hatte er inmitten der Janitscharen die Stadt verlassen, so fassten die sämt­ lichen Emire und die vornehmsten Bewohner der Stadt ein Schreiben ab, in welchem sie den Sultan demütig baten, ihnen keinen andern Pascha zu geben als Muhamed, dem sie und alle Bewohner der Provinz zur in­ nigsten Dankbarkeit verpflichtet wären. Dieser Brief wurde einem Schnell­ läufer übergeben, der ihn in fünf Tagen nach Konstantinopel bringen sollte. Da indes manchem dieses Schreiben nicht kräftig genug schien, so wurde sogleich noch ein zweites verfasst, in welchem die Verdienste, die sich Muhamed um die Provinz erworben, ausführlich dargelegt und zugleich deutlich ausgesprochen wurde, dass man ausser Muhamed keinen Pascha freiwillig anzunehmen gesonnen sei. Unterdes war Muhamed in Konstantinopel eingetroffen und wurde hier sogleich vor den Sultan geführt. „Im Namen Allahs, sprich, wer

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bist du,“ fragte der Grossherr mit strenger Miene, „dass du so wenig den Zorn deines Herrn gefürchtet?“ „Einer der Paschas deiner Kaiserlichen Hoheit, Herri“ antwortete Muhamed mit Ehrfurcht, aber ohne Zittern. „Beim Barte des Propheten,“ rief der Sultan mit steigendem Zorn, „wer hat dich zu meinem Pascha ernannt, und wer hat den Firman deiner Be­ stallung unterzeichnet, elender Betrüger ?“ „Deine Kaiserliche Hoheit, der Beherrscher der Gläubigen,“ erwiderte fest der Gefragte. „Das ist zu viel!“ schrie der Sultan im höchsten Grimm. „Nun, so weise ihn mir vor, oder ich lasse dich, abgefeimter Bösewicht, auf der Stelle erdrosseln.“ „Hier ist er, Herr!“ antwortete jener und zog aus dem Busen ein Stück­ chen Papier hervor, indem er das Glasstückchen, das darin eingewickelt war, dem Herrscher ehrfurchtsvoll zu Füssen legte. Ungeduldig griff der Sultan nach dem Papierschnitzel und besah mit prüfendem Auge die auf demselben befindliche Schrift, die er bald als die seinige erkannte. Dann stand er lange schweigend da, in tiefes Nachdenken versunken, während der Grossvezier, ihm zur Seite stehend, den nahen Ausbruch des Zorns erwartete und Muhamed, Verzeihung hoffend, in edler Bescheidenheit sein Knie beugte. In diesem Augenblick waren die Briefe aus Damaskus angekommen, welche als ausserordentlich wichtig dem Grossherrn auf der Stelle über­ reicht wurden. Nachdem dieser sie genau durchgesehen und erwogen hatte, was zu thun sei, sprach er also: „Grossvezier, Allah ist barmherzig! Wollte ich diesen Menschen strafen, so würde ich grosse Unzufriedenheit und vielleicht eine blutige Empörung in einer Provinz meines Reiches hervor­ rufen; darum will ich deinem Sohne lieber eine andere Provinz überweisen. Dich aber, Muhamed, ernenne ich selbst nun zum Pascha von Damaskus. Vergiss es jedoch nicht, dass, nachdem du dir durch List und Umsicht diese Würde errungen hast, ich dir auch nur darum Verzeihung gewähre und dich in deinem Amte bestätige, weil du meinem Volke ein gutes Herz gezeigt hast. Geh!“ „Gebenedeiet sei die Barmherzigkeit unseres Herrn und Sultans!“ rief der erfreute Muhamed aus, beugte sich nochmals in tiefer Demut vor dem Beherrscher und verliess den Palast unter dem Jubelrufe der Menge. Und Muhamed regierte noch fünfundzwanzig Jahre mit vielem Glück und grosser Weisheit in Damaskus. Nach Rosa.

51. Der Magnet. „Ei, lieber Vater,“ begann der kleine Emil, „wie soll ich denn fertig werden mit meiner Arbeit, wenn du mir so viel aufgiebst und der Lehrer seine Aufgaben dazu? Erst warst du zufrieden, wenn ich wenige Sprüch­ lein schrieb ; jetzt füllen meine Aufgaben mehrere Seiten, und dabei muss ich noch über den Büchern sitzen und mancherlei lernen!“ „Du wirst älter, mein Sohn!“ entgegnete der Vater; „und da das Leben gar viel von uns fordert und es mancherlei Lasten auf unsere 9 *

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Schultern legt, so ist es gut, dass wir frühzeitig unsere Kräfte zu üben beginnen/' „Ach meine schönen SpielstundenI" seufzte der Knabe; „hören denn von nun an die Lasten und Arbeiten gar nicht aus?" „Die Pflichten, die das Leben uns auferlegt, wachsen im Gegenteil mit jedem Jahre," entgegnete der Vater. „Das, was du jetzt mit Mühe vollbringst, ist, gegen die Arbeiten deines älteren Bruders gehalten, ein Kinderspiel; und doch kommen die Aufgaben desselben, mit denen deines Vaters verglichen, in keinen Betracht. Diesem aber liegen ausserdem noch Sorgen anderer Art ob; und dies ist das Los jedes Staatsbürgers und jedes Familienvaters und wird auch dereinst das deinige sein." „0 weh'" seufzte der Knabe, „wie soll ich es anstellen, so viel zu vollbringen? Und wie machst du es denn, lieber Vater, dass du dies alles leisten und fördern kannst und dabei noch immer so fröhliches Mutes bist?" „Sieh her!" sprach der Vater und führte den Knaben zu einem Magneten, welcher an der Stubenthüre hing und mit allerlei Eisenwaren belastet war. „Kannst du dich noch erinnern," fuhr er fort, „wie ich vor einigen Jahren dies seltsame Metall zum Geschenk erhielt und ihr alle kämet und seine Kraft prüfen wolltet und der Lasten zu viel wurden und alles zu Boden sank?" „Das weiss ich sehr wohl," entgegnete Emil. „Du sagtest, er sei noch ungeübt, und es müsse so kommen. Darauf hingest du vorsichtig ein eisernes Reiflein daran und schobest bald nachher einen Schlüssel hinein, und so führst du fort, mit der Zeit eins nach dem andern hinzu­ zufügen, so dass der Magnet nach Verlauf eines Jahres alle Schlüssel des Hauses trug und jetzt noch andere Lasten dazu trägt." „So wächst mit der Übung die Kraft/ sagte der Vater. „Auch ich war unerfahren und schwach; aber was man mir auftrug, das übernahm ich mit Freuden. Bald wurde es mir leicht, auch schweres zu vollbrin­ gen; denn die Beharrlichkeit erleichtert die Last. So ging es mir wie dem Magneten. Auch ich erkannte erst die in mir schlummernde Fähig­ keit, nachdem diese geweckt und versucht ward. Und also verfährt das Leben mit uns allen. Wir tragen und müssen tragen; aber allmählich wächst die Kraft durch die Last, bis diese uns leicht und bequem wird. Bald nehmen wir zu der einen die andere, und zuletzt wird uns die Be­ schwerde zur Freude; denn das erhöhte Selbstgefühl erzeugt innere Zu­ friedenheit; über beide aber geht die Liebe, welche uns für die beseelt, mit denen uns der Himmel verbunden hat, und durch ihre Hülfe vermögen wir bald zu vollbringen, was der leblose Magnet nicht vermag.“ Da verstand der Knabe das Gleichnis und blickte ermuntert zu dem Vater empor. Dieser aber legte seine Rechte auf des Kindes Haupt und sagte: „Künftig wirst du den Magneten nicht ohne Nutzen betrachten.“

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Das verlorene Kamel.

Drei Brüder aus der Familie Adnan beschlossen, eine Reise zu thun und das Land zu besehen. Unterwegs begegnete ihnen ein Kameltreiber, der sie fragte, ob sie nicht ein Kamel gesehen hätten, das sich von ihm gerade auf dieser Straße verlaufen habe. „Das Kamel hat nur ein Auge," sagte der älteste Bruder, während sie mit dem Manne etwas zurückgingen, und der Kameltreiber bejahte es. „Es fehlt ihm ein Vorderzahn," sagte der zweite Bruder, und auch dies be­ jahte der Kameltreiber. „Ich wollte wohl wetten, es hinkt," setzte der dritte hinzu. Nach allen diesen Angaben war der Kameltreiber überzeugt, daß sie sein verlornes Kamel gesehen hätten, und bat sie, ihm zu sagen, wo er es finden könne. „Geh nur mit uns," sagten die Brüder; allein sie fanden kein Kamel. Nach einiger Zeit fing der eine wieder an: „Nicht wahr, es ist mit Getreide beladen?" Der andere sagte: „Es trägt auf einer Seite Öl und auf der an­

dern Honig." Der Kameltreiber bat nun inständiger, da er nichts gewisser glaubte, als daß sie es gesehen haben müßten, ihm wenigstens den Ort anzugeben, wo sie es gesehen hätten, und jetzt versicherten ihm die Brüder, daß sie kein Kamel gesehen

und auch nirgend etwas davon gehört hätten. Diese Versicherung konnte der Kameltreiber nicht mit jenen Angaben vereinigen; er glaubte, sie wollten ihm sein Kamel vorenthalten, und zog sie vor Gericht und ließ sie gefangen setzen, ohne auf ihre Beteurungen zu achten. Indessen da der Kadi in ihnen Leute von Stande erkannte, so sandte er sie zum Könige. Bei der Untersuchung fragte sie der König selbst, wie sie von einem Kamele so viele Kennzeichen hätten angeben können, wenn sie es doch nicht gesehen hätten.

Sie antworteten: „Wir bemerkten am Wege, daß bloß auf der einen Seite die Kräuter und Disteln abgeweidet waren, und schlossen daraus, daß es nur ein

Auge habe, und, da überall, wo es abgerupft, ein Nestchen von den Pflanzen stehen geblieben war, daß ihm ein Zahn fehlen müsse. Ferner bemerkten wir an den Fußstapfen, daß der eine geschleift war, woraus wir auf die Lahmheit schlossen, und, da die vorderen Huftritte tiefer waren als die Hintern, daß es schwer beladen gewesen sein müsse, welches mit nichts Anderem sein konnte als mit Getreide. Endlich, daß es auch Honig und Öl getragen, mutmaßten wir daher, weil sich überall Haufen von Ameisen und Fliegenschwärme gesammelt hatten, wo ein Tropfen von beiden herabgefalleu sein mochte." Palmblatter.

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Edle Rache.

In einem schwäbischen Dorfe lebte in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ein junger Bauer, Georg Langhans genannt, ein schöner und wohlgewachsener

Mann, dabei arbeitsam auf dem Acker seiner Eltern, anstellig im Hauswesen

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Erzählungen.

und im ganzen Dorfe beliebt; am meisten aber liebte ihn Rosine Pfullingen ein wohlgestaltetes Mädchen, das mit ihm aufgewachsen war; und da beide Eltern nichts gegen ihre Liebe einzuwenden hatten, waren sie im Begriffe, sich zu hei­

raten. 9^un war aber eben in der Zeit der siebenjährige Krieg ausgebrochen, und das damalige deutsche Reich zog auf des Kaisers Gebot auch ein Heer zu­ sammen, um den stolzen König von Preußen zu demütigen; und da den Schwa­ ben an der ganzen Sache nichts lag, die Taugenichtse ausgenommen, und keiner von selbst in die Montur kriechen wollte, wurden die jungen Bursche mit Gewalt von den Werbern weggenommen und zu Helden gestempelt. So wurde auch Jörg Langhans wenige Tage vor seiner Hochzeit aus dem Bette geholt, und ihr mögt euch nun selbst denken, mit welchem Herzen er statt in den Ehestand in den Krieg marschierte, und wie seiner armen Braut dabei zu Mute war. Ein wackerer Mann muß sich indes in alles zu finden wissen, und Jörg Langhans war ein so braver Schwabe, als irgendeiner zwischen dem Rhein und dem Neckar lebt. Er that also auch im Kriege seine Schuldigkeit so gut und oft besser als ein anderer, war der vorderste beim Angriff und der letzte auf der Flucht, und daß das Fliehen so oft vorkam, war wenigstens nicht seine Schuld; denn wer ihn bei solchen Gelegenheiten sah, mußte meinen, daß die Reichsarmee wohl mehr Ehre eingeerntet haben würde, wenn sich alle so gut gehalten hätten wie unser Langhans. Diesen Mut zeigte er insbesondere einmal, aber zu seinem Unglücke, als er mit seiner Kompanie, ich weiß nicht, in welchem Städtchen lag, um ein Magazin zu decken. Die Feinde hatten davon Nachricht bekommen. In der Nacht dringt eine Schar Husaren von einem preußischen Freicorps ein, haut sich mit den Reichstruppen herum und hat schon zwei Dritteile zu Gefangenen gemacht, als Jörg Langhans noch immer seine Freiheit gegen die ihn umringen­ den Feinde verteidigt. Umsonst ruft ihm der Anführer zu, sich zu ergeben. Er haut immer um sich und will nichts von Gefangenschaft wissen, bis ihm endlich der Offizier einen Hieb über den Kopf giebt und einen andern in den Hals und noch einige Stiche in die Brust obendrein. Da fiel Langhans zu Boden und

wurde am Morgen für tot aufgehoben. Da er aber doch noch lebte, kam er ins Lazarett; und nachdem er hier bei elender Kost und schlechter Wartung drei Vierteljahre lang von den unwissenden^Barbieren hin- und hergezogen worden war, durfte er endlich, weil er zum Dienste untüchtig war, in der zerrissenen Montur auf zwei Krücken nach Hause hinken. Ihr werdet euch nun nicht wundern,

wenn diese letzte Epoche seines Soldatenlebens, in das er so wider Lust und

Willen geraten war, ihm das ganze Kriegswesen verleidete und einen bittern Nachgeschmack in ihm zurückließ, und daß er insbesondere einen tiefen Groll gegen den Offizier behielt, der ihm, wie er meinte, doch gar zu arg mitgespielt

hätte. Den Hieb über den Kopf, pflegte er zu sagen, hätte er sich wohl gefallen lassen; das sei Kriegsmanier, aber die übrigen Hiebe und Stiche wären offenbar zuviel gewesen. In der That war der arme Schelm teils durch die Wunden, teils durch die Kur so arg zugerichtet, daß ihn in seiner Heimat niemand wiedererkennen wollte.

Nur seine Braut erkannte ihn; aber wenn sie ihn darauf ansah, wie er

V.

Erzählungen.

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so armselig auf seinen Krücken ging, und an seine Gestalt dachte, wie sie vorher

gewesen war, da wollte ihr das Herz brechen, und sie hatte nur Mühe, in seiner Gegenwart die Thränen zurückzuhalten. Lange konnte sie sich nicht zufrieden geben, und in ihrem bittern Schmerze bat sie Gott, den zu bestrafen, der ihren Geliebten so verstümmelt hätte. Das Gebet war freilich nicht recht; aber Gott wird es ihrem Schmerz und ihrer Liebe verziehen haben. Heiraten that sie

den Jörge doch. Wie hätte sie es auch über das Herz bringen können, die treue Seele jetzt zu verlassen, wo er ihre liebende Pflege noch mehr nötig hatte

als je? Mehrere Jahre waren nun vergangen, und der Friede war geschlossen, und Jörge saß des Abends mit seiner Frau unter den Nußbäumen, die vor seinem Hause standen, und erzählte ihr vom Kriege. Da kam ein fremder Wanderer die Straße her in abgetragener Kleidung mit einem Ranzen auf dem Rücken,

worin wenig war, blaß und mager; der grüßte das Ehepaar mit der anständigen Haltung eines Mannes, der wohl sonst zu befehlen gewohnt gewesen, und bat um ein Abendbrot. Der Gruß wurde mit Freundlichkeit erwidert. „Setzt euch

hierher und ruht aus/' sagte Jörge und zeigte neben sich auf die Bank; seine Frau aber schickte er mit einem leisen Händedruck in die Küche, um dem Wan­ derer ein Abendbrot zurecht zu machen. Während dieses geschah, kam Jörge, dem eine Rede leicht abzugewinnen war, mit dem Fremden ins Gespräch. Der Fremde erzählte, er habe während des Krieges bei einem Freicorps als Lieutenant gestanden, die Schar sei nach dem Kriege aufgelöst worden, und er leide jetzt, nachdem er seine Dienste in mehreren Ländern angeboten, drückenden Mangel. Bei dieser Erzählung faßte Jörge den Redenden scharf ins Auge. Seine Stimme kam ihm bekannt vor, und je mehr er ihn ansah, desto mehr überzeugte er sich, daß er ebender sei, der ihn bei dem nächtlichen Überfalle so grausam verstüu:melt

hatte. Um nun seiner Sache noch gewisser zu werden, sagte er: „Ich habe auch im Felde gedient, und Sie sehen, wie ich gezeichnet bin; denn daß mir der Hals so schief steht, ist daher." Dann erzählte er, wie er zu seinen Wunden gekommen, und überging keinen Umstand, auch den kleinsten nicht. Da wurde der Fremde ganz blaß; denn er erinnerte sich des Borfalls nur allzuwohl, ob er ihm gleich nicht mit so leserlicher Schrift eingezeichnet war wie seinem Wirt, und er mochte wohl in seinem Herzen denken, daß er ja hier in die Höhle des Löwen geraten sei.

Jörge bemerkte den Schrecken des Mannes und sagte, zuerst mit verstärkter

Stimme: „Mein Herr Lieutenant, ich kenne Sie wohl und weiß, daß Sie eben­ der sind, der mich zum Krüppel gemacht hat. Ich habe wohl oft mit Groll und Unmut an Sie gedacht und mein Weib auch, aber da Sie Gottes Wille unter mein Dach geführt hat" — hier reichte er ihm die Hand und setzte mit treu­ herziger Freundlichkeit hinzu: — „so sollen Sie mir von Herzen willkommen sein.

Was geschehen ist, kann nicht geändert werden, und ich sehe an Ihren Mienen, daß es Ihnen jetzt leid thut. Das ist genug. Wenn Ihnen die Kost eines armen Bauern ansteht, so bleiben Sie bei mir, so lange es Ihnen gefällt, und bis das Glück Ihnen günstiger wird. Jörg Langhans wird Ihnen immer ein freundlicher Wirt sein."

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Erzählungen.

Ihr könnt euch nun wohl selbst denken, wie sehr der Fremde, der ganz etwas anderes erwartet hatte, von dem Anerbieten des ehrlichen Schwaben überrascht war. Mit tiefer Rührung fiel er ihm um den Hals, dankte ihm für seine Groß­

mut und bat ihm sein früheres Vergehen an ihm reumütig ab. Zu dieser Um­ armung kam die Frau, die nun mit ihrer Suppe fertig war. Sie erfuhr alles mit kurzen Worten, und so erzürnt sie vormals auf den Lieutenant gewesen war, so reichte sie ihm doch die Hand und sagte: „Was Jörge will, ist auch mir recht.

So soll alles vergeben und vergessen sein." Nun aßen sie die Suppe zusammen aus einer Schüssel, und dem Lieutenant fielen Thränen auf das Brot, das ihm Jörge schnitt. Es war ihm lange nicht so wohl gegangen wie jetzt in dem Hause seines Feindes. Siebzehn Monate blieb er bei ihm und arbeitete mit ihm und half, wo er konnte, und so gut er es verstand. Aber obgleich er sein Brot nicht umsonst aß, war es ihm doch drückend, andern so lange zur Last zu sein, und er that sich immerfort nach einem Dienste um; aber es wollte nicht gehn. Da kam eines Abends Jörge aus der Stadt zurück, wohin er Getreide zu Markt gefahren, und rief schon von fern seinem Gaste zu: „Gute Nachrichten, Herr Lieutenant! Es giebt wieder Krieg. Ein Freicorps wird angeworben, und Sie können gleich eintreten. Ich habe selbst mit dem Kommandanten gesprochen, und es hat alles seine Richtigkeit. Nur für Waffen und Kleidung müssen Sie sorgen!" Der Lieutenant, der beim Anfänge dieser Rede sehr froh ausgesehen hatte, veränderte seine Gestalt bei den letzten Worten, sah zum Himmel, dann wieder zur Erde, und eine Thräne zitterte in seinen Augen. „Seien Sie nur ohne Kummer," sagte Jörge, „ich nehme das auf mich." Und noch denselben Abend ging er zu einem Freunde, borgte hundert Thaler auf sein Grundstück und gab diese seinem Hausgenossen. Jörge war kein reicher Mann, die Zurückzahlung in jeder Rücksicht höchst ungewiß. Ob sie jemals erfolgt ist, weiß ich nicht. Auf alle Fälle hat dieser ehrliche Schwabe die Zinsen für seine Handlung im Himmel gezogen. So erfüllten Jörg Langhans, der Bauer, und Rosine Pfullinger, sein Weib, die Pflichten des Christentums. Geht hin und thuet desgleichen! Jacobs.

34. Das Glück dreht sich im Kreise,

Es kommt und geht vorbei; Nur was in Gott gegründet,

Das bleibet ewig neu. Zu Augsburg war ein Weber, Hans Fugger zugenannt, Der war mit seinen Söhnen Als Weber wohl bekannt. Er und die Söhne woben Bei Tag und auch bei Nacht;

Die Fuggerei. Daß gleich und rein die Fäden,

Des hatten sie wohl acht.

Drum kaufte jeder gerne Von ihrem Tuch, so fein; Sie woben goldne Sterne Der Treue ja hinein, Der Treue und des Glauben-, Und frommen Bürgersinn, Barmherzigkeit und Liebe; Das mehrte den Gewinn.

V. Da ward an Gold und Ehren

Erzählungen.

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Zu Augsburg bei St. Jakob,

Gar reich und groß ihr Haus; Die Kaiser und die Fürsten,

Da hub ein Graben an, Ein Zimmern und ein Mauern

Die gingen ein und ausDie Weber wurden Grafen, Ihr Wort galt weit und breit;

Von manchem Handwerksmann. Mit hundert kleinen Häusern Ein Städtlein stieg empor, Mit Brunnen und mit Straßen Und seinem eignen Thor. Und als das Werk vollendet, Da weihten es die drei,

Sie woben mit den Fürsten Am Webestuhl der Zeit.

Doch bei den hohen Ehren, Die ihnen Gott verlieh, Vergaßen auch die Grafen Den armen Weber nie. Was hilft uns unser Weben?

So dachte stets ihr Herz, — Es kommt ja doch der Segen Dazu erst himmelwärts. Drum nahmen sie ins Schilde Die Lilien von dem Feld, Die spinnen nicht, noch weben, Und Gott sie doch erhält. Drei Brüder waren ihrer, Die reichten sich die Hand, Ulrich, Georg und Jakob, So waren sie genannt. Die sprachen zu einander: „Die Güter dieser Zeit, Die müssen wir verrechnen

Daß armen frommen Bürgern Es eine Wohnung sei. Uns was die drei gesprochen, Das schrieben sie auf Stein; Den Söhnen und den Enkeln Sollt' es ein Vorbild sein. Sie bauten für sich selber Ein Häuslein auch dazu, Das lieget bei Sankt Anna; Dort ist der Fugger Ruh. Wohl kamen arge Zeiten, Sankt Anna ward zerstört; Run wird auf ihrem Grabe Die Mesi' nicht mehr gehört Doch in der Armen Herzen

Einst in der Ewigkeit. So laßt ein Werk uns gründen

Wird ihrer noch gedacht Im Städtlein, das sie milde Dem Herren dargebracht. Das Glück dreht sich im Kreise,

Hier mit vereinter Kraft, Womit wir mögen geben Gott einstens Rechenschaft!"

Der Fugger Namen preiset Noch heut die Fuggerei.

Es kommt und geht vorbei;

Pocn.

35.

Der Bahnwärter Martin.

Wenn auch nach dem Kalender der Winter erst am 22. Dezember seinen Anfang nehmen soll, so bewies doch einst der 16. Dezember, daß auch ein Ka­ lender sich irren kann; denn der Schnee lag so hoch, daß der einsame Wandrer, der auf dem Felde gegen den Nordoststurm sich durchkämpfte, bei jedem Schritte bis an die Kniee einsank, wenn er nicht gar in einen der mit Schnee gefüllten

Bewässerungsgräben geriet, bis an die Hüften hineinfiel und sich mühsam heraus­ arbeiten mußte; den Weg aber hatte er längst verloren. Und doch war es der alte Waldhüter Felix, der in seinem Revier sonst jeden Schritt kannte, aber der Schnee, der ihm ins Gesicht geblasen wurde, batte ihn ganz verwirrt gemacht;

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V.

Erzählungen.

war doch selbst sein treuer Hund nicht mehr bei ihm geblieben, und der wohlbe­ kannte Pfiff seines Herrn brachte ihn nicht zurück. „Die Bestie wird wohl zum warmen Ofen heimgelaufen sein," murrte der Alte, „ich wollte nur, ich wäre auch erst so weit." Da leuchteten plötzlich durch die tiefe Nacht zwei rotglühende Augen auf, ein eigentümliches Brummen und Grollen ward vernehmbar, und ein

schwarzes Ungetüm schob einen ganzen Schneewall vor sich her und schleuderte die Schneemassen zu beiden Seiten fort aus seinem Wege. „Jesus, die Eisen­ bahn!" schrie der Waldhüter. Im selben Augenblicke ward er von einer mäch­ tigen Schneewelle erfaßt, umgeworfen und beiseite geschoben. Uber ihm breitete sich der Schnee weiter aus, und nichts verriet nach wenigen Minuten, daß unter der kalten Decke ein Menschenherz schlug. Nicht weit von dem Platze, wo er lebendig begraben lag, stand das Häuschen des Bahnwarts Martin. Das Ehe­ paar saß am Tische und horchte auf das Heulen deö Sturmes, der noch immer zuznnehmen schien. Plötzlich drang ein Ton wie ein langgezogner Weheruf an ihr Ohr, und bald noch einer und dann ein kurzes Bellen. „Das ist ein Hund, der seinen Herrn sucht," sagte der Bahuwart. Er trat mit der Lampe ans Fenster und erblickte deutlich etwa 20 Schritt vom Hause einen schwarzen Hund, der, bis an den Bauch im Schnee stehend, eifrig grub. „Muß doch sehen, was da los ist;" sagte Martin, „ich meine fast, den Hund sollte ich kennen. Komm, Marianne, laß uns nachsehn!" Gleich drauf trat er aus dem Hause: die Frau, die eine Laterne trug, folgte. „Faßan, bist du es?" rief er erschreckt, „was treibst du da?" Aber der Hund hörte nicht auf zu graben, und da, da zeigte sich in dem leuchtenden Schnee ein dunkler Fleck, und ein Ärmel und eine Hand wurden sichtbar, die der Hund winselnd zu lecken begann. „Da ist ein Unglück geschehen," rief Martin, „Frau, hilf schnell den Schnee wegräumen!" In zwei Minuten war der Körper vom Schnee befreit, und der Mann leuchtete ihm mit der Laterne ins Gesicht. „Himmel, es ist der alte Felix! Der Schneepflug hat

ihn überfahren!" Aber die Frau rief: „Er ist noch nicht tot; reibe ihn rasch mit Schnee, ich hole einen Schluck Branntwein." Dank den Bemühungen des wackeren Ehepaares schlug der Alte nach wenigen Minuten die Augen auf, trank

von dem Branntwein, den ihm die Frau vorhielt, streckte sich und rief — „Brrr, was ist denn zum Henker mit mir passiert?" „Nun," rief Martin lachend, „wenn er wieder trinken und fluchen kann, hat es ihm noch nichts gethan."

„So, ihr seid's," sagte der Waldhüter, und suchte sich aufzurichten, „jetzt be­ sinne ich mich, ich glaube, der verwünschte Schneepflug hat mich in den Schnee

gelegt." Im warmen Bahnwärterstübchen erholte sich der Alte bald von seinem Schrecken und seiner Betäubung und streckte sich in Martins Großvaterstuhl behaglich aus, klopfte seinem Hunde den Kopf und reichte Martin die Hand. „Nun, Felix," sagte dieser, „ihr könnt von Glück sagen, es macht selten einer so

nahe Bekanntschaft mit dem Schneepflug, ohne ein paar Rippen oder gar den Hals zu brechen." „Ja wohl, Martin," erwiderte der Alte, „aber ohne euch und den da hätte ich doch zu Grunde gehen müssen. Hol mich der Teufel, ich werd's euch nie vergessen, euch und dem Faßan." „Pfui, Felix," rief die Frau vor

V.

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Errählunge n

wurfsvoll, „ihr solltet Gott danken für eure Rettung und euch das böse Fluchen abgewöhnen!" „Das geht nicht," sagte der Alte. „Gewiß bin ich unserm Herr­

gott dankbar, aber das Fluchen muß er mir nachsehn, ich hab's schon zu lange gethan, und solcher Ausruf macht einem das Herz frei; nicht wahr, Martin?"

„Das ist schon wahr," sagte der, „aber es braucht ja nicht immer ein Fluch zu sein. Ich hab' mir's meiner Frau zu Liebe abgewöhnt, und Potz Schienenkloben

und

Schwellenholz

ist

grade so gut,

wie Kreuzdonnerwetter

früher

war."

„Nun," meinte der Waldhüter, „euch zu Liebe könnte ich mir auch Potz Tannen­ zapfen und Forstinspektor angewöhnen, nicht wahr, Faßan? uns kaun's schon

recht sein. Aber wohin wollt ihr?" fragte er, als Martin den Mantel anzog, die Mütze aufsetzte und die brennende Laterne in die Hand nahm: „Ihr wollt doch nicht in diesem Wetter die Bahn begehn?" „Doch, doch, ich muß meine

Pflicht thun, in einer halben Stunde kommt der Zug." „Eure Pflicht!" lachte der Waldhüter. „Glaubt ihr, daß heut noch ein einziger Bahnwart so thöricht ist, in Sturm und Schnee auf der Bahn herumzustolpern, während der In­ spektor und der Bahnmeister daheim in ihren warmen Nestern liegen? Ich denke, die kontrollieren euch nicht in dieser Nacht." „Mag sein und geht mich nichts an," entgegnete der Bahnwart und griff nach der Thür; „ich bin ein alter Soldat und weiß, was ich zu thun habe, auch ohue Kontrolle, und damit Gott befohlen." „Martin," sagte jetzt die Frau und sah ihrem Manne sorgenvoll ins

Gesicht, „es ist eine gar so abscheuliche Nacht; der Felix hat recht, bleibe nur diesmal da, thu's mir zu Liebe, es wird nicht gerade heut etwas passieren." „Potz Schienenkloben und Schwellenholz," rief der Bahnwärter ungeduldig und machte sich unsanft von der Hand seiner Frau los, „mische dich nicht in meinen Dienst, ich leide es nicht. Es wird nichts passieren? Woher weißt du denn das so sicher? Und wenn auch, nur um so besser. Und jetzt hört mich, ich will euch zum Abschied noch zwei Worte sagen. Man hat mir diesen Posten anvertraut, und man bezahlt mich dafür, und ich will als braver Mann meine Pflicht thun in Ehren und bis ans Ende, und ich meine so in meinen Gedanken, dieser Posten sei der wichtigste auf der ganzen Bahn, wichtiger als der Posten des

Direktors oder Inspektors. So ist meine Ansicht, und wenn ich auf diesem Posten meine Pflicht nicht thue, sondern gewissenlos und faul bin, so kann alles zu Grunde gehn, und wenn alle so dächten und jeder sich für den wichtigsten hielte in meinem Sinne, so wäre alles wohlbestellt im Staate. So denke ich,

und nun noch einmal Gott befohlen, und hört ihr, ihr alter Sünder von einem Waldhüter," fetzte er hinzu und drohte halb lachend mit dem Finger, „redet mir nicht mehr in meine Sache hinein und seid froh, daß ihr aus dem

Schneeloch heraus seid!" Und damit verließ der Bahnwärter rasch die Stube. „Meinetwegen geht," rief Felix ihm nach, „ich will mich indesien für euch wärmen!" Der Alte setzte sich im Lehnstuhl am Ofen wieder zurecht, rauchte und blickte

die Frau von der Seite an, die still zu ihrem Spinnrade zurückgekehrt war. Endlich begann er: „Marianne, warum weint ihr? So viel Sorge macht euch doch nicht der Spaziergang eures Mannes im Schnee?" „Ach Felix," ant-

140

V.

Erzählungen.

wertete die Frau, „ihr wißt ja, wie viel Geld meine Krankheit gekostet hat, und

da blieb uns nichts anders übrig, als 100 Gulden zu borgen und jetzt" — sie holte ein Papier aus der Tasche — „da lest, er will uns auspfänden lassen!" „Wer?" rief Felix und sah in das Papier. „Was, ein Zahlungsbefehl, und es ist der reiche Meirer? der, von dem alle acht Tage die Wohlthaten in der Zei­ tung stehn? der will ordentliche Leute um lumpige 100 Gulden unglücklich machen? Nein, Marianne, das ist wohl nicht möglich!" „Doch," schluchzte die Frau, „mein Mann ist noch einmal zu ihm gegangen und wurde auch ganz freundlich empfangen, mußte sich setzen, und ein Bedienter mit Gold am Rock mußte ihm Wein anbieten. Aber als er um Aufschub bat und sagte, daß wir nicht zahlen könnten, da zuckte Herr Meirer die Achseln und bedauerte, nichts thun zu können. Die Sache sei schon in den Händen seines Anwalts, und das Geld könne er nicht entbehren, das sei für einen frommen Zweck bestimmt." „Der Lump, der . . ." grollte Felix, „hoffentlich vergilt ihm Gott noch einmal diese Art von Frömmig­ keit. Wäre ich nur unser Herrgott, ich wollte ihn —" Aber er kam nicht dazu, seine Vorsätze auszusprechen, denn im selben Augen­ blick brauste der Sturm mit solcher Wut daher, daß mit Donnergepolter der Kamin herabstürzte und einen Teil des Daches mitriß. „Jesus, meine Kinder," rief die Frau und stürzte nach der Speichertreppe; aber da ward die Thür auch schon aufgerissen, und ein derber Junge von etwa 16 Jahren, auf dem einen Arme einen Haufen Kleider, auf dem andern einen etwa vierjährigen Jungen und gefolgt von 2 andern Blondköpfen, alle nicht gerade ballmäßig angekleidet, stürmten in die Stube. „Mutter, das Dach ist eingestürzt grade neben unsrer Kammer; wie sind wir erschrocken, wir haben gemeint, das Haus wolle zusammen­ fallen!" rief der älteste Bube. Die Mutter hatte ihren kleinen Liebling auf den Arm genommen und küßte ihn, während er rief: „Pelznickel ist kommen, Pelz­ nickel ist kommen, jetzt kommt auch bald das Christkind!" Der achtjährige Heiner aber rief: „Der Frieder ist aber mal ein Hasenfuß, der hat uns nicht helfen wollen den Pelznickel durchprügeln, davon gelaufen ist er!" „Ja, du hast recht," lachte Felix, „du bist ein großer Held, jetzt aber marsch in die Kleider mit euch, mit dem Schlafen ist's heut Nacht doch vorbei." Eben waren die Knaben an­ gekleidet und Felix mit Frieders Hülfe beschäftigt, ein Tuch vor eine zerschlagene Fensterscheibe zu hängen, durch die der Sturm trotz des Fensterladens den Schnee hereintrieb, als die Thür aufgerissen wurde und Martin bleich und atemlos in die Stube stürzte. „Weib," keuchte er, „schnell die Pechpfanne, die Pechkränze! Rasch, rasch, oder es giebt ein gräßliches Unglück!" Mit diesem Rufe stürmte er in die Kammer nebenan und kehrte im Augenblick zurück, beladen mit zwei Pechpfannen und mehreren Ringen Pechkränzen. Während er hastig die eine

Pfanne mit Pechkränzen füllte und dieselben an der Lampe in Brand steckte, so

daß ein schwarzer Qualm die kleine Stube verfinsterte, stieß er in abgebrochnen Sätzen hervor: „Marianne, Felix, helft, sonst ist alles verloren; nehmt Schaufel, Axt und Säge und folgt mir, so rasch ihr könnt," und, zu den beiden ältesten Söhnen gewendet, rief er diesen zu: „Frieder, Karl, jeder nimmt ein Beil und begleitet die Mutter! aber rasch, rasch!" und er stürmte mit der brennenden

V.

Erzählungen.

141

Pechpfanne wieder zur Thür hinaus. „Jesus, welche Nacht!" seufzte die Frau, aber dann wurde kein weiteres Wort mehr gesprochen, und in einer halben Mi­ nute waren Felix, Marianne und die beiden Knaben mit Werkzeugen beladen

und eilten dem Bahnwart nach. In der Stube war es wieder still geworden. Faßan hatte sich bei dem Lärm zwar erhoben, legte sich aber jetzt wieder nieder

mit dem festen Vorsatz, sich durch nichts mehr stören zu lassen, es müßte denn sein, daß sein Herr ihm als Belohnung für seine Heldenthaten ein Stück Kalbs­ braten vorsetzen wolle, was ihm aber kaum wahrscheinlich vorkam. Auch der achtjährige Heiner stand still am Tisch und schaute nachdenklich vor sich hin. Plötz­ lich sprang er auf und rief: „Hans, komm, wir müssen auch helfen, sie werden nicht ohne uns fertig, ich weiß schon/' und damit schleppte er aus der Kammer die mächtige Zimmermannssäge und eine Schaufel herbei. „Da, Hans, nimm und komm," und damit eilte er, die Säge nachschleppend, aus der Thür. Hans nahm den Schaufelstiel wie ein Steckenpferd zwischen seine kleinen Beine: „Hü, Roß," rief er, und galoppierte dem Bruder nach. Faßan aber, der im Allein­ besitz der warmen Stube zurückblieb, knurrte behaglich und überlegte, ob an dem Kalbsbraten auch wohl Knorpeln sein würden.

Nach dem letzten gewaltigen Angriffe hatte sich der Sturm gelegt und einervölligen Windstille Platz gemacht; die Kälte war nicht mehr so arg, und auf dem Bahndamm hatte der Schneepflug tüchtig aufgeräumt, so daß Marianne und die andern rasch vorwärts kamen. Nach zwanzig Schritten sahen sie be­ leuchtet von der einen Pechpfaune eine riesige Pappel quer über den Schienen liegen. „Potz Forstinspektor und Tannenzapfen," rief der Waldhüter, „die hat derselbe Windstoß umgebrochen, der uns den Kamin auf die Köpfe warf. Wenn der Zug auf den verdammten Klotz stößt, giebt's ein furchtbares Unglück. Holla, Jungens, Axt und Beil zur Hand, haut Äste und Zweige weg, daß die Funken

fliegen," und indem er sich zu der Frau wandte, die mit gefalteten Händen da­ stand, sagte er freundlich, „helft, Marianne schleppt die Äste aus dem Wege."

Indem kam der Mann eilenden Laufes und von Schweiß triefend und rief: „Brav, Kinder; aber hört, der Zug sollte schon da sein, der ist Gottlob vom Schnee aufgehalten. Tausend Schritt von hier habe ich die zweite Pechpfanne aufgestellt; wenn der Lokomotivführer seine Schuldigkeit thut und nicht die Kappe über die Augen gezogen hat, so kann's gut gehn, sonst möge Gott dem Zuge

gnädig sein. Ihr aber sägt den Gipfel der verwünschten Pappel ab, daß die Lokomotive sie nachher besser auf die Seite schaffen kann, denn anders geht's doch nicht. Das ist, was wir thun können, Gott muß das Übrige thun. Ihr habt doch die große Säge?" „Da schlag der Donner drein," fluchte Felix, „die ist vergessen. Marianne, lauft, was ihr könnt, und holt die Säge." „Da ist sie schon," schrie der kleine Heiner und kam mit der schweren Last daher ge­ keucht; „ich hab' mir wohl gedacht, daß ihr nicht fertig werdet ohne mich und

den Hans."

„Blitzjunge," rief der Bahnwart, „wie kommst du daher?

Wo ist

Hans?" Da klang die fröhliche Kinderstimme durch die Nacht: „Hü, Roß," und Hans kam auf seiner Schaufel angeritten. Martin küßte seine wackern Buben

und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

„Ihr werdet einmal brave Bahn-

142

V.

Erzählungen.

Wärter werden!" Dann ging er zu seiner Pechpfanne. Noch etwa zehn Mi­ nuten arbeitete der Waldhüter mit seinen jungen Gehülfen, da hielt er ein, horchte in die Nacht hinaus und rief: „Halt da, her zu mir, nehmt die Kinder­ auf die Seite, ich höre den Zug." Ein dumpfes Rollen wurde immer mehr vernehmbar. „Ich sehe die roten Augen," schrie der junge Martin, „sie müssen schon ganz nah beim Vater sein, er schwenkt seine Fackel schon! „Donner, sie sind blind und sehn sie nicht," murrte der Alte und faßte krampfhaft den Stiel seiner Axt. Noch eine Sekunde bangen Schweigens, dann tönte ein dreimaliger gellender Pfiff durch die Nacht. „Gelobt sei Gott," schrie der Alte und schwang die brennende Pechpfanne über seinem Haupte, daß ein glühender Sprühregen um ihn herflog. „Jetzt schreit und brüllt, was ihr könnt." — Ho ho, halt an, ahoi! Alle schrieen laut, Hans auf dem Arme seiner Mutter jauchzte und patschte in die Hände. Jetzt schoß das schwarze Ungetüm mit den roten Augen und dem glühenden Atem durch die Nacht daher; ein zweiter gellender Notpfiff, und man

hörte die Bremsen kreischen und sah die Funken von den Rädern fliegen. Jetzt war es ganz nahe, aber mit schon sehr gemäßigter Eile; noch einmal schwang Felix seine Fackel und brüllte: Halt ahoi! und die Lokomotive stieß noch mit ziem­ licher Gewalt auf die Pappel, daß die Wagen krachten, und aus ihrem Innern ein Schreckensschrei erscholl. Dann stand die Maschine still; desto lebendiger­ wurde es jetzt im Innern der Wagen. Alle Fenster waren mit Köpfen besetzt, und ängstliche, zornige, bittende und drohende Stimmen schrieen durcheinander nach dem Zugmeister und Schaffner. Ein Engländer in der ersten Klasse wollte das Beschwerdebuch haben, da seine Frau sich die Nase gestoßen hatte; aus einem andern Wagen kamen eine Anzahl Herren und boten sich dem Zugführer zur Hülfe an, die derselbe dankend annahni. Zuerst waren alle der Pappel gegen­ über ziemlich ratlos, aber Martin sprang, eine Fackel in der Hand, auf den Stamm und verteilte die Arbeit. Im Packwagen fanden sich Beile und Ketten, und manche Hand mit goldnen Ringen führte jetzt Beil und Säge. Vier Herren hatten die große Trummsäge und plagten sich wacker: ein Herr mit goldner Brille und ein dicker ältlicher Herr, von dessen Gesicht nur die fette Nasenspitze aus dem Kragen des Pelzrocks heraussah, hatten den Griff auf einer

Seite gefaßt, auf der andern waren ein Professor und ein Offizier. Die drei lachten über die ungewohnte Arbeit, aber der Dicke erklärte salbungsvoll: „Ich kann nicht mehr, ich will zurück zum Wagen und den Herrn bitten, daß er uns erlöse aus dieser Not und seinen Segen der Arbeit gebe!" Eben wollte er sich auf die Beine machen, aber sein Kamerad mit der goldnen Brille rief: „Nichts da, Herr Meirer, jetzt handelt es sich nicht um Segen, sondern Sägen, danken Sie Gott, und es ist Segen genug, daß Sie überhaupt mit gesunden Gliedern bei dieser Pappel flehn, die leicht unser aller Tod hätte sein können!" „Aber, mein Lieber," seufzte der dicke Herr, „bedenken Sie doch, ich, der Bankier

Meirer, und Holz sägen, das ist doch himmelschreiend!" „So, Sie sind es, Herr Meirer," rief erstaunt der alte Felix, der gerade vor den Herren vorbei wollte. „Nun, da will ich Ihnen doch ein Wort im Vertrauen sagen, und die andern Herren mögen zuhören.

Wissen Sie, Herr Meirer, wer der Mann ist, der Ihnen

V.

Erz ab langen.

143

heut Nacht das Leben gerettet hat? Denn das hat er, und ohne seine Pflicht­ treue lägen Sie vielleicht mit zerschmetterten Gliedern im Schnee. Das ist der Bahnwart Martin, derselbe, den Sie auf Weihnachten wollen wegen einer Schuld von 100 Gulden auspfänden lassen, derselbe, den Sie mit seiner braven Familie ins Elend stürzen wollen!" „Wie, was ist das?" riefen die andern Herren, „Herr Meirer, das wird doch wohl nicht sein?" „Ich weiß nicht," stotterte dieser, „ich kenne keinen Bahnwart Martin — der Mann muß sick­ irren — ich fürchteeine Erkältung; Gott befohlen, meine Herren!" und damit verkroch sichHerr Meirer wieder in die Polster seines Wagens. „Du kennst den Martin wohl," riefihm der erbitterte Waldhüter nach, und der Herr mit der goldnen Brille bat ihn, Näheres mitzuteilen, und so, während die Säge wacker gehandhabt wurde, erzählte Feliz- die ganze Geschichte dieses Abends, von der unerschütterlichen Pflichttreue Martins und der unerschütterlichen Hartherzig­ keit des reichen Herrn Meirer. Indes war die Pappel durchgesägt, wurde mit Ketten an die Lokomotive befestigt und so mit einem kräftigen Ruck von dem

Geleise entfernt, und Martin trat zu dem Zugmeister uud berichtete, die Hand an der Mütze: „Alles in Ordnung!" „Martin, diese Pappel werd' ich euch ge­ denken im Bericht. Gute Nacht," sagte der Zugmeister und schüttelte dem Bahnwart herzlich die Hand. Da trat noch der Herr mit der goldnen Brille zu Martin heran und sprach: „Freund Bahnwärter, ihr habt euch brav ge­ halten, und ich weiß, was ich nächst Gott euch zu danken habe. Darf ich um euren Namen bitten?" „Bahnwart Martin, Station Nr. 113," sagte dieser und legte die Hand wieder an die Mütze. „Martin," sagte hierauf der Fremde wieder, „laßt mich eure Hand drücken. Ihr seid ein braver Mann, und ich

werde diese Stunde nicht vergessen." Der Zug fuhr ab, Frau Marianne trieb ihre Kinder ins Haus, Martin und Feliz- waren die letzten, die den Platz verließen; aber dem alten Waldhüter war unbehaglich zu Mut. Er blieb stehn und sagte kleinlaut: „Martin, ich war doch ein rechter Esel, als ich euch abgeraten habe, die Bahn zu begehn!" „Ja, das wäret ihr,

ich kann's nicht leugnen,"

erwiderte der Bahnwart lachend,

„aber nachher habt ihr mir doch ordentlich beigestanden." „Ist was Recht's," brummte der Alte, „mir läuft's noch kalt den Buckel herunter, wenn ich an die

Geschichte denke. Aber Respekt habe ich vor euch bekommen, und mir komme ich ganz miserabel vor." „Nun denn," tröstete der Bahnwart, „wenn ihr wollt, so will ich euch eine Buße auflegen. Bon heut an laßt ihr das lästerliche Fluchen bleiben und denkt an Marianne, die euch schon so oft drum gebeten hat." „Es gilt," schrie der Alte, „hier meine Hand, von heut an thu ich's nimmer, der Teu —" „Halt, halt," rief der Bahnwart lachend, „kommt nur herein in die warme Stube, und bessert euch."

Der Weihnachtsabend war herangekommen, und wieder saß Felix bei Frau Marianne; Faßan lag ihm zu Füßen, und Heiner und Hans spielten Bahn­ meister miteinander; aber die arme Frau sah noch bekümmerter aus als vor 8 Tagen, denn Felix erzählte gerade, wie ihn der reiche Herr Meirer abgewiesen hatte. „Gerade aus der Kirche kam er, als ich ihn ansprach; aber wie ich

144

V.

Erzählungen.

Martins Name nannte, da sagte er freundlich: „Am Sonntag mache ich keine Geschäfte, lieber Mann," und schlug mir die Hausthür vor der Nase zu. „Und Marianne, ich habe selbst da nicht geflucht, und das ist ein Beweis, daß ich mir's für immer abgewohnt habe." „Also keine Hoffnung mehr," sagte die Frau, „und wir müssen alles einbüßen, wenn Gott nicht für uns ein Wunder thut!" Indem trat Martin mit seinen beiden ältesten Söhnen ins Zimmer und hörte die letzten Worte. „Nun, du altes Kind," rief er, „diesmal vertraue noch auf Gott, er läßt uns nicht im Stich! Da hast du ein Papier, das lies, das macht all' deinen Sorgen ein Ende. Am 1. Januar 50 Gulden besondere Zu­ lage und später besseres Gehalt, und dann, was das Beste ist, der Bahnwart Martin ist belobt worden vor dem ganzen Personal, und nun sei Gott Preis und Dank, und habt Respekt vor solchen Vorgesetzten! Hier hast du etwas zum Aufbauen für die Kinder; mach schnell zurecht! Da ist auch ein Bäumchen, da sind Lebkuchen, Äpfel und Nüsse, Papier und Federn für die Großen, eine Tafel

für Heiner, ein Steckenpferd für den Hans, es kostet wohl einen Gulden, aber ich konnte nicht anders, ich mußte den Kindern die Freude machen." „Und

hier," rief Felix halb weinend, halb lachend, „hier ist noch etwas vom Christ­ kind," und zog von dem dunkeln Flur einen großen Packen ins Zimmer herein. „Da, lest auch den Brief; dieweil will ich auspacken." Aus dem Brief fiel ein Hundertgulvenschein, und Martin las: „Mein lieber Bahnwart Martin! Am 16. nachts hat euch ein Herr mit einer goldnen Brille die Hand gegeben und hat gesagt, er werde diese Stunde nicht vergessen. Dieser Herr war ich, und ich möchte euch jetzt gern eine Freude machen. Gott hat mich mit Reichtum gesegnet, und ich kann keinen besseren Gebrauch davon machen, als daß ich einem braven Familienvater einen Teil seiner Sorgen abnehme. Ich sende deshalb euch, eurer guteu Frau und euren Kindern ein Christgeschenk nebst einer Summe von 100 Gulden, um eure Schuld zu bezahlen, und die gleiche Summe wird euch Bankier Müller in der Hauptstadt jedes Jahr am 16. Dezember zur Erinnerung an diesen Tag auszahlen. Ich wünsche, ihr möget einen glücklichen Christabend haben. Meinen Namen müsset ihr nicht erforschen; er thut nichts

zur Sache." Der Bahnwärter war blaß geworden, hielt sich zitternd am Tische und rief, während seine Frau Freudenthränen weinte: „Gott, mein Gott, das ist zuviel!" „Nein, noch nicht genug," lachte Felix, „denn nun kommt noch der Packen! Seht her, Tuch, Leinwand, hier eine Uhr für den Frieder - ich hab' auch eine bekommen und 50 Gulden dazu, aber er hat auch nicht gewußt, daß ich euch so schön abgeraten habe, die Bahn zu begehn! Da Taschenmesser, Bleisoldaten und Kanonen! Marianne, räumt nur die Kommode noch ab, denn

auf dem Tische hat nicht alles Platz!" „Jetzt aber schnell die Buben herein," rief der Bahnwärter. Als die Kinder, sprachlos vor Erstaunen, vor dieser nie geahnten Pracht standen, sprach Martin feierlich: „Kinder, dankt mit uns Gott, der uns in dieser Nacht zu glücklichen Menschen gemacht hat. Und von heut an nehmt unsern Wohlthäter in euer tägliches Gebet auf; wenn wir auch seinen Namen nicht kennen, die Engel im Himmel haben ihn droben ausgezeichnet!" So wurde der Christabend im Bahnwartshäuschen Station 113 gefeiert.

VI.

VI.

145

Geschichte.

Geschichte.

1.

Cyrus.

Astyages, der König der Meder, welcher nach dem Sturz des assyrischen

Reichs über Mandane.

einen großen Teil Asiens herrschte, hatte eine Tochter, namens

Bon dieser träumte ihm einst, sie verwandle sich in einen Weinstock,

welcher sich über ganz Asien verbreitete.

Dies legten die Traumdeuter so aus,

seine Tochter werde einen Sohn bekommen, der über ganz Asien die Herrschaft erlangen und ihn selbst der feinigen berauben würde.

Da fürchtete sich Astyages

sehr und verheiratete seine Tochter an einen Perser, der zwar aus einem guten Hause, aber doch der Königstochter keineswegs würdig war, da die Perser den Medern unterworfen und allgemein verachtet waren.

Als Astyages darauf von

einem neuen Traume geschreckt wurde, ließ er seine Tochter aus Persien kommen,

den Sohn aber, den sie bald daraus gebar, gab er einem seiner Verwandten und

vornehmsten Ratgeber, namens Harpagus, töten.

mit dem Befehl,

ihn sogleich zu

Harpagus hatte Mitleid mit dem Knaben und hätte ihn gern gerettet;

doch er mußte die Rache des Königs fürchten.

Er ließ daher einen von den

königlichen Hirten holen, gab ihm den Knaben und befahl ihm im Namen des

Königs, ihn in der wildesten Gebirgsgegend auszusetzen, damit er sogleich von den

Tieren des Waldes zerrissen würde.

Als der Hirt mit dem jungen Cyrus (so

wurde der Sohn der Mandane später genannt) nach Hause zurückkam, hörte er,

daß seine Frau einen toten Knaben geboren habe.

Sogleich beschloß er, den

Enkel des Königs wie sein eigenes Kind zu erziehen, den totgebornen Knaben aber auszusetzen.

Als nun bald darauf Harpagus einen seiner getreuesten Diener

schickte, um zu erfahren, ob der Hirt seinen Befehl ausgeführt habe, fand man den Leichnam des Kindes und begrub diesen in der Meinung, es sei der Sohn

der Mandane.

Cyrus aber wuchs unter den Hirten auf und that sich bald vor

allen seinen Gespielen hervor; denn er übertraf sie an Klugheit und an jeglicher

Geschicklichkeit.

Einst, als er zwölf Jahre alt war, wurde er von den anderen

Knaben im Spiele zum König erwählt.

Alle folgten den Befehlen ihres kleinen

Königs; nur einer, der Sohn eines vornehmen Meders, w-ollte nicht thun, was ihm Cyrus auftrug.

Da ließ dieser ihn durch die andern Knaben ergreifen und

mit derben Schlägen züchtigen.

Der aber lief sogleich zu seinem Vater, klagte

ihm, wie schmählich der Sohn des Hirten ihn behandelt habe, und der Vater

ging mit ihm zum Könige, um Genugthuung für diesen Schimpf zu erlangen. Astyages ließ den Hirten mit seinem Sohne rufen und fragte den Cyrus,

wie er sich habe unterstehen können, den Sohn eines so vorn ehmen Mannes schlaDielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb.

5. Aust.

10

146

VI.

Geschichte.

gen zu lassen. „Herr," antwortete Cyrus, „ich habe mit Recht so gehandelt. Die Knaben aus dem Dorfe haben mich zum König erwählt, weil ich ihnen dazu der beste zu sein schien. Alle haben meine Befehle vollzogen; dieser allein war ungehorsam und hat daher die Züchtigung verdient. Wenn ich daran Unrecht

gethan habe, so strafe mich!" Während der Knabe so sprach, erkannte ihn der König; denn die Züge seines Gesichts däuchten ihm wie seine eigenen, sein gan­

zes Benehmen hatte etwas Freies und Edles, und auch die Zeit der Aussetzung Als er nun den Hirten befragte und

traf mit dem Alter des Knaben zusammen.

ihm, wenn er nicht die Wahrheit sagte, mit den grausamsten Martern drohte, ge­ stand dieser die ganze Geschichte. Auch Harpagus mußte nun eingestehen, daß er seinen Auftrag damals nicht ausgerichtet hatte, glaubte aber, vor aller Strafe sicher zu sein, da Astyages sich über den Ausgang der Sache zu freuen und an dem munteren Knaben großes Wohlgefallen zu haben schien; aber der arme Mann sollte bitter enttäuscht werden. Der König ließ nämlich des Harpagus einzigen Sohn holen, ihn töten und in Stücke schneiden und das Fleisch auf verschiedene Weise zubereiten. Bei der nächsten Mahlzeit setzte er dem Harpagus

seines eigenen Sohnes Fleisch vor, und als dieser sich daran gesättigt hatte, zeigte er ihm in einem Korbe des Knaben Kopf und fragte ihn, ob er wohl wüßte, von welchem Wildbret er gegessen. Harpagus schlich betrübt nach Hause, begrub den Kopf seines Sohnes und jammerte über sein Elend. Nun ging Astyages mit seinen Traumdeutern über den Cyrus zu Rat. Diese meinten, da der Knabe König gewesen sei im Spiel, so würde er nicht zum zweiten Mal König werden; Astyages könne sich also zufrieden geben und gutes Mutes sein. Dieser freute sich über solchen Trost und schickte den Knaben zu seinen Eltern nach Persien.

Hier aber war große Freude über die Rettung des

Sohnes, den alle als tot betrauert hatten. Während Cyrus zum Manne aufwuchs, sann Harpagus beständig darüber

nach, wie er sich an dem grausamen Astyages rächen könne. Es gelang ihm, mehrere der vornehmsten Meder zu überreden, man müsse den König absetzen und dem jungen Cyrus die Regierung übertragen. Darauf schrieb er dem Cyrus, er möchte die Perser zur Empörung aufreizen, denn alle seien der Regierung des

harten Königs überdrüssig, und auch die vornehmsten Meder seien bereit, mit ihm gemeinschaftliche Sache zu machen. Da aber alle Wege bewacht wurden, so ersann er folgende List, um seinen Brief nach Persien zu schaffen. Er richtete

einen Hasen zu, schnitt ihm den Bauch auf und legte den Brief hinein; dann nähete er den Hasen wieder zu, gab ihn dem getreuesten Diener in dem Jagdnetz, und so kam dieser, den alle für einen Jäger hielten, unangefochten nach Persien. Als Cyrus den Hasen, wie ihm bestellt wurde, eigenhändig und ohne Zeugen aus­

geschnitten und des Harpagus Brief gelesen hatte, ließ er die vornehmsten Perser zusammenkommen und meldete ihnen, der König habe ihn zum Statthalter über Persien bestellt. Darauf befahl er ihnen, sich am folgenden Tage, mit Sicheln versehen, bei ihm einzufinden. Als sie nun kamen, wie ihnen gesagt war, mußten

sie vom frühen Morgen bis in die Nacht ein weites Feld von Disteln und Dor­ nen reinigen. Am folgenden Tage aber, als die Perser seinem Befehle gemäß

VI.

Geschichte.

147

wieder erschienen, mußten sie sich lagern auf den Rasen, und es wurde ihnen eine prächtige Mahlzeit und herrlicher Wein vorgesetzt, so daß sie schmauseten und

fröhlich waren bis auf den Abend. was ihnen besser gefiele,

Als sie gegessen hatten, fragte sie Chrus,

wie sie's gestern gehabt,

oder wie sie's heute hätten.

Sie sagten aber, da sei ein gewaltiger Unterschied; denn gestern hätten sie es sehr schlecht, heute aber sehr gut gehabt.

„also stehet es mit euch!

Wollt ihr

„Ihr Perser," sprach darauf Chrus,

mir folgen,

so sollt ihr es immer so gut

haben wie heut; folgt ihr mir aber nicht, so warten euer Müh' und Arbeit ohne

Zahl, der gestrigen gleich. macht euch frei!"

Folget mir also,

fallet ab von dem AstyageS und

Diese Rede gefiel allen Persern wohl; denn schon längst war

ihnen die Herrschaft der Meder ein Greuel.

Als sie nun vereint gegen die Me­

der ausrückten, brachte Astyages eiligst sein Volk unter die Waffen, und zum An­

führer machte er den Harpagus.

Kaum war dieser mit dem Heere ausgerückt,

so ging er mit dem größten Teil desselben zum Chrus über; denn nur wenige blieben dem verhaßten Könige treu.

Da versuchte Astyages den letzten Kampf

gegen die Perser, ward aber geschlagen und gefangen genommen; doch that ihm

Chrus kein Leid, sondern behielt ihn bei sich bis an sein Ende. Reich der Meder unter,

So ging das

und die Perser wurden das herrschende Volk in Asien

etwa 555 Jahre vor Christi Geburt.

2.

DreUtz.

Krösus und Solon.

Als Solon, der berühmte athenische Weise, auf seinen Reisen an den Hof des lydischen Königs Krösus gekommen war, soll

dieser im Gefühl der Größe

seiner Herrschaft, des Glanzes seines Thrones, der Erfolge, welche er so eben gegen die griechischen Städte, die seinen Vorgängern jo lange widerstanden, er­ rungen hatte, dem Solon die Frage vorgelegt haben, wen er, der doch viel in

der Welt gesehen habe, für den glücklichsten Menschen halte.

Solon nannte den

Tellus, einen Mann von Athen; dieser habe nach menschlichem Maße ein glück­

liches Leben geführt.

Das Gemeinwesen sei zu seiner Zeit in gutem Stande

gewesen; er habe vortreffliche Söhne gehabt und Enkel von diesen, von welchen

keiner bei seinem Leben gestorben; endlich habe er einen schönen Tod nach einem

guten Leben gefunden, indem er im Kampfe für seine Vaterstadt siegend gefallen

sei und die Athener ihn auf Kosten des Staates bestattet und hoch geehrt hätten. Krösus fragte weiter, wen er nach diesem den Glücklichsten nenne.

Biton, zwei Brüder von Argos," erwiderte Solon.

viel sie

„Kleobis und

Diese hätten besessen, so

bedurften, und seien kräftig von Körper gewesen, so daß beide zugleich

den Kampfpreis

davongetragen; und als einst an einem Feste

der Hera

die

Mutter der beiden Jünglinge nach dem Tempel fahren mußte und die Rinder

nicht zur rechten Zeit vom Felde kamen, da hätten sich die Söhne selbst vor den Wagen gespannt und die Mutter über eine Meile weit in den Tempel ge­

zogen.

Die Argiver hätten die Jünglinge, die Argiverinnen die Mutter gepriesen,

daß ihr solche Kinder zu teil geworden; die Mutter aber sei vor das Bild der Göttin getreten und habe zu ihr gefleht, daß sie ihren Kindern, die ihr so große

10*

148

VI.

Geschichte.

Ehre gethan, das Beste verleihe, was Menschen zu teil werden könne. Nachdem das Opfer gebracht und das Mahl gehalten worden, seien die Jünglinge im Tempel eingeschlafen und nie wieder erwacht.

Da fragte Krösus den Solon,

ob er denn sein Glück für gar nichts rechne, daß er ihn nicht einmal gemeinen

Männern gleichachte. „O Krösus," antwortete Solon; „du scheinst mir sehr reich und König vieler Menschen. Glücklich aber kann ich dich nicht nennen, bis ich erfahren, daß dein Leben glücklich geendet; denn der großen Besitz hat, ist nicht glücklicher als der, welcher nur für die Notdurft des Tages besitzt, wenn jener seinen Reichtum nicht bis ans Ende bewahrt. Viele sehr Begüterte sind unglücklich, und viele von mäßigem Vermögen sind glücklich. Vor dem Ende darf man niemand glücklich nennen; man kann nur sagen, es gehe ihm gut. Daß ein Mensch alles Gute erlange, ist unmöglich. Wer nun das meiste bis an

sein Ende hat und dann auf schöne Weise sein Leben beschließt, der kann den Namen des Glücklichen mit Recht tragen. Bei jeglichem Dinge muß man auf den Ausgang sehen." Manches Jahr war seit dieser Unterredung verflossen; da gedachte Krösus, einen Krieg gegen Cyrus zu unternehmen, den immer mächtiger werdenden König von Persien. Obgleich geneigt, den Krieg zu beginnen, war er doch seiner Sache nicht sicher. Seinem Schwanken ein Ende zu machen und sich selbst die letzte Entscheidung zu ersparen, nahm er seine Zuflucht zu dem Orakel von Delphi. Dorthin sendete er Boten mit überreichen Opfergaben und befahl ihnen die

Frage, auf welche es ihm ankam, ob er wider Cyrus in den Streit ziehen solle. Zweideutig antwortete die Pythia, wenn Krösus gegen die Perser zöge, werde er ein großes Reich zerstören. Auf die zweite Frage, ob er einen Bundesge­ nossen suchen sollte, erhielt er zur Antwort: „Die mächtigsten der Hellenen." Voller Freude über diesen günstigen Ausspruch des Gottes beschenkte Krösus jeden Delphier mit zwei Goldstücken und ließ, um ganz sicher zu gehen, noch eine dritte Frage an das Orakel richten, ob seine Herrschaft lange bestehen werde. Die Pythia erwiderte: „Wenn das Maultier König der Meder wird, dann fliehe, zartfüßiger Lyder," (die Lyder gingen nicht barfuß oder auf Sohlen

wie die Hellenen, sondern in Schuhen) „am vielsteinigen Hermes; halte nicht stand und schäme dich nicht, feig zu sein!" Krösus glaubte, nun endlich seiner Sache gewiß zu sein, und war entschlossen, den Kampf zu beginnen. Der Wei­

sung von Delphi gemäß forderte er die Spartaner, damals unzweifelhaft die mächtigsten der Hellenen, auf, ihm Hülfstruppen zu senden; diese sagten ihm auch ihre Hülfe zu. Auf Babylons Unterstützung zählte Krösus mit Sicherheit; man war hier durch die Erfolge des Cyrus noch weit mehr bedroht als in Ly­ dien. Aber auch mit Ägypten, welches Amasis damals beherrschte, trat er in Verbindung; auch von dem Pharao erhielt er die Zusage, daß ägyptische Hülfs­

truppen den Lydern zuziehen würden. In der That waren alle drei Großmächte, Lydien, Ägypten und Babylonien, näher oder entfernter durch die Revolution

bedroht, welche Cyrus in Medien vollbracht hatte. An der Spitze einer solchen Verbindung, mit einen? so tüchtigen Heere, wie das lydische war, mochte Krösus

VI.

Geschichte.

149

mit um so größerer Zuversicht ans Werk gehen, als der Osten von Iran dem Cyrus noch keineswegs gehorchte. Als Babylonien und Ägypten ihm Hülfe zugesagt hatten, vollendete Krösus seine Rüstungen und überschritt im Sommer des Jahres 549 den Halys. Gleich im Beginn des Feldzuges beging er einen großen Fehler; statt entschlossen auf den Cyrus loszugehen, den der Angriff der Lyder ganz unvorbereitet getroffen hatte, wollte er sich nicht zu weit von seinen Hülfsquellen entfernen. Bei Pteria

im Lande der Syrer trafen die Heere aufeinander. Obwohl das Heer des Cyrus bei weitem stärker war als die Lyder, gab es einen harten Kampf; von beiden Seiten fiel eine große Zahl, und die Nacht brach über einer unentschie­ denen Schlacht ein. In Wahrheit war der Sieg bei den Lydern, deren Tapfer­ keit auf Cyrus einen solchen Eindruck gemacht hatte, daß er den Angriff am folgenden Morgen nicht zu erneuern wagte. Des Krösus Kleinmut gab ihm jedoch bald wieder Mut und alle Borteile einer gewonnenen Schlacht in die Hand. Unter dem Eindruck des blutigen Tages schien es dem Krösuö besser, nicht alles aufs Spiel zu setzen und die letzte Entscheidung lieber zu vertagen. Ohne Zweifel war es ja sicherer, erst das Heer zu verstärken, um dann mit gleichen Zahlen schlagen zu können: man hatte ja Bundesgenossen, deren Truppen

herangezogen werden konnten. So beschloß denn Krösus, obwohl ihn die Perser­ nicht angriffen, den Rückzug nach Sardes in der Hoffnung, Cyrus werde es nicht wagen weiter vorzudringen, da der Winter vor der Thür sei. Diesen wollte er benutzen, die Streitkräfte der Bundesgenossen bei Sardes zusammen­ zuziehen. Einem Feldherrn wie Cyrus gegenüber durfte man solche Fehler nicht ungestraft begehen. Cyrus begnügte sich nicht, dem unerwarteten Abzug der Lyder langsam zu folgen; ein schneller Marsch auf die feindliche Hauptstadt sollte die Kräfte des Feindes lähmen, ihn in dem Mittelpunkt seiner Macht treffen und den Krieg mit einem Schlage entscheiden. Die plötzliche Erscheinung des perschen Heeres in der Nähe von Sardes überraschte und erschreckte den Krösus vollständig. Wenn er zurückgegangen war, um dem Heere des Cyrus eine gleiche Zahl von Streitern entgegenstellen zu können, so mußte er jetzt mit einer noch viel geringeren Zahl als bei Pteria auf der Ebene des Hermos kämpfen. Ob­ wohl weit überlegen an Streitkräften und im Gefühl des Vorteils über den Feind, versäumte Cyrus kein Mittel, um sich den Sieg zu sichern. Er hatte den stürmischen Angriff der lydischen Reiter, ihre entschiedene Überlegenheit über seine Kavallerie trotz aller Übung im Reiten, welches die Perser von Jugend auf

trieben, trotz der Trefflichkeit der medischen Rosse, bei Pteria kennen gelernt. Den Reiterangriff der Lyder unwirksam zu machen, ließ er die Kamele, welche den Troß seines Heeres bildeten, mit Reitern besetzen und stellte sie in die erste Schlachtlinie; im zweiten Treffen stand das Fußvolk, im dritten erst die persische Reiterei. Wirklich scheuten die Pferde der Lyder vor der Witterung und dem ungewohnten Anblick der Kamele.

Ihrer besten Waffe und Fechtart beraubt, ent-

schlosien sich die Lyder abzusttzen und den Kampf zu Fuß zu führen. Auch so drangen sie mutig auf die Perser ein und konnten erst nach einer blutigen Schlacht in die Thore von Sardes getrieben werden.

VI.

150

Geschichte.

So war Krösus auf die Mauern seiner Hauptstadt beschränkt und auf beirett Verteidigung angewiesen, bis die Bundesgenossen erscheinen würden, welche er bei der Ankunft des Cyrus noch einmal mit der Bitte um schleunigste Hülfe be­ schickt hatte. Schon am vierzehnten Tage nach der Einschließung der Stadt be­ fahl Cyrus den Sturm. Dieser wurde auf allen Punkten abgeschlagen, und die Perser gingen bereits ins Lager zurück, als der festeste Theil der Stadt, die Bmrg, von einem Marder Hyröades an einer unbewachten Stelle erstiegen wurde. Er hatte tags zuvor gesehen, wie ein Lyder, dem sein Helm heruntergefallen war, gerade an dieser Stelle, um denselben zu holen, hinabgestiegen und dann wieder emporgeklettert war. Dem Hyröades folgten andere, die Stadt wurde genom­ men, geplündert, die Einwohner niedergemacht. Auch auf den Krösus drang ein

Perser ein. In seiner Verzweiflung erwartete der König den Todesstreich ohne Gegenwehr; aber in diesem Augenblicke löste seinem stummen Sohn die Liiebe zum Vater die Zunge. In der höchsten Angst brachte er die Worte hervor: „Töte den Krösus nicht!" Der Perser vernahm den Namen des Königs der

Lyder und stand ab; des Krösus Sohn aber konnte seitdem sprechen. Nach der Erzählung Herodots gab Cyrus den Befehl, den gefangenen Krö­ sus mit vierzehn lydischen Jünglingen zu verbrennen; schon sei der Scheiterhautfen entzündet gewesen, als Krösus dreimal „Solon" gerufen; da habe Cyrus durch die Dolmetscher fragen lassen, was das bedeute, und nachdem er die Reden ver­ nommen, welche Solon einst zu Krösus gethan, habe er sich erinnert, daß auch sein Glück nicht beständig dauern könne, und das Feuer zu löschen befohlen. Als dies nicht gelingen wollte, habe Krösus zum Apollo gebetet, wenn er jemals genehme Gaben gespendet, ihn heute zu retten; schleunig hätten sich darauf Wolken gesammelt und alsbald ein Regenguß den Scheiterhaufen gelöscht. Danach habe Cyrus dem Krösus die Kelten abnehmen lassen, ihn um sich behalten und

Duncker.

viel um Rat gefragt.

3.

Herkules.

Herkules war nach der Sage der Sohn des ZeuS und einer thebanischen Schon in dem Kinde zeigte sich die künftige Helden­

Königin, namens Alkmene.

kraft, indem er zwei giftige Schlangen, die an seine Wiege kamen, mit seinen Händchen erdrückte. Wie alle Knaben jener Zeit wuchs er unter Anstrengungen und kriegerischen Übungen heran. Dann zog er aus, um Eber, Bären und Wölfe zu erlegen, und erlangte eine Kraft, die den Göttersehn von allen seinen

Genossen unterschied; aber bald verfiel er in einen Wahnsinn, in welchem er eine schreckliche That beging. Er ermordete nämlich seine und seines Bruders Kinder und kam erst wieder zur Besinnung, als die fürchterliche That geschehen

war. In seinem heftigen Schmerze legte er sich selbst die Strafe der Verbannung auf, verließ Gattin, Freunde und Unterthanen und irrte umher. Da aber das Gewissen ihm keine Ruhe ließ, wanderte er nach Delphi, wo ein berühmtes Orakel des Apollo war, und befragte dasselbe. Er erhielt den Spruch, er solle, um seinen Frevel zu büßen,, zum König Eurystheus nach TirynS gehen, diesem

VI.

Geschichte.

151

zwölf Jahre lang dienstbar sein und alles gehorsam ausrichten, waS von ihm verlangt werden würde. Eurystheus erschrak, als der gewaltige Gast ihm seine Dienste anbot; aber obschon er ihn nicht ohne Furcht und Argwohn ansehen

konnte, so wagte er es doch nicht, ihn gegen den Orakelspruch abzuweisen. Da­ gegen beschloß er, ihm solche Aufträge zu geben, daß er seiner bald ledig wer­ den müßte; doch der Held führte sie alle glücklich aus und wurde dadurch der Wohlthäter seines Volkes. Wjr wollen einige dieser berühmten zwölf Arbeiten des Herkules näher betrachten, unter denen die Erlegung des nemeischen Löwen

die erste ist. In der Landschaft Argolis hausete ein entsetzlicher Löwe, der schon einen großen Teil der Herden zerrissen und ringsumher solche Furcht verbreitet hatte,

daß niemand aus seiner Hütte sich herauswagte. Herkules suchte, mit einer Keule, einem Bogen und Pfeilen bewaffnet, die Fußstapfen des Ungeheuers auf, verfolgte dieselben und sah endlich den Löwen einen Bergpfad herabsteigen. Er versteckte sich sogleich hinter einen Baum, spannte seinen Bogen und schoß, als das Tier nahe genug herangekommen war; aber der wohlgezielte Pfeil prallte kraftlos von der Brust des Löwen ab, der mit einem gewaltigen Satze auf den mutigen Jäger lossprang. Dieser hatte schon den Bogen aus der Hand geworfen und seine Keule ergriffen, und in dem Augenblick, da der Löwe noch in der Luft mit den fürchterlichen Krallen über seinem Haupte schwebte, schmetterte er ihm die Keule mit solcher Gewalt an die Stirn, daß das Ungeheuer betäubt zurück­

fiel. Schnell warf sich nun Herkules auf den Löwen, trat ihm mit beiden Füßen auf die Krallen seiner Hinterbeine, umfaßte ihm den Hals mit den Armen und erstickte den gewaltigen Feind. Dann zog er ihm das Fell ab, hing es als Mantel um seine Schultern und wanderte so zum Schrecken und zur Bewunderung

aller ihm Begegnenden zum Eurystheus zurück. Dieser hatte bald eine neue, noch gefährlichere Arbeit für den Helden auf­ gefunden. Er sollte das »Land von der lernäischen Schlange befreien, einem

neunköpfigen Ungeheuer, das deshalb besonders fürchterlich war, weil statt jedes abgehauenen Kopfes sogleich zwei neue hervorwuchsen. Mit vorgehaltenem Schilde und funkelndem Schwerte sprang Herkules auf die Schlange ein, nach­ dem er sie mit glühenden Pfeilen aus ihrer Höhle herausgetrieben hatte. Kopf auf Kopf fiel herunter; aber mit entsetzlicher Schnelligkeit wuchsen aus jeder Wunde zwei neue Köpfe hervor.

Da rettete den Helden ein kluger Einfall. Er

befahl seinem Waffenträger Jolaus, der an einem großen Feuer seine Pfeile glühend gemacht hatte, mit Feuerbränden herbeizueilen und jede frisch geschlagene Wunde auszubrennen. So konnten keine neuen Köpfe hervorwachsen, und bald

flog auch der mittelste, unsterbliche Kopf zur Erde.

Diesen vergrub Herkules

und wälzte einen Fels darauf; in das giftige Blut der Schlange

aber tauchte

er seine Pfeile, um sie dadurch noch furchtbarer zu machen. Denselben Mut, den er bei der Erlegung des Löwen und der Hyder be­ wiesen hatte, bewährte er auch bei den übrigen Arbeiten, welche Eurystheus ihm

auferlegte. Er fing einen furchtbaren Eber, der vom Berge Erymanthus aus ganz Arkadien verwüstete, und brachte ihn lebendig nach Tiryns, reinigte den

152

VI.

Geschichte.

stymphalischen See in Arkadien von ungeheuren Schwärmen großer Wasservögel, kämpfte mit den Amazonen, einem kriegerischen Volke von Weibern und tötete Riesen und Räuber. Einmal mußte er auch eine seltsame Arbeit ausführen. Der König Augias in Elis besaß dreitausend Rinder, deren Ställe seit dreißig Jahren nicht gereinigt worden waren. Zu diesem schickte Eurystheus den Helden und trug ihm auf, die Ställe in einem Tage ohne fremde Hülfe zu reinigen. Augias versprach ihm, wenn es gelänge, den zehnten Teil seiner Herden, und nun begann Herkules die Vorbereitungen zu der großen Arbeit. Er grub aus einem Flüßchen, welches nahe an den Ställen vorüberfloß, einen Kanal bis an die Mauer derselben und von der entgegengesetzten Mauer einen zweiten Kanal bis an den Fluß Alpheus, der gleichfalls nicht weit entfernt war. Als er hier­ mit fertig war, rief er eines Morgens den Augias herbei, stieß dann die beiden Mauern ein, und nun stürzte sich das Wasser in die Ställe und führte allen Unrat mit sich fort in den Alpheusstrom. Hierauf verschüttete Herkules die Gräben, setzte die Mauer wieder zu und verlangte den verheißenen Lohn. Aber Augias, der die Sache nicht für möglich gehalten hatte, war von Anfang an nicht willens gewesen, ihm Wort zu halten, und wies seinen Wohlthäter mit

Undank von sich. Herkules durfte sich als Knecht des Eurystheus an dessen Gast­ freund nicht rächen; als aber seine Dienstzeit verflossen war, vereinigte er sich mit mehreren Fürsten, zog gegen Augias, der wegen seiner Grausamkeit allge­ mein verhaßt war, und erschlug ihn mit seiner Keule. Die beiden letzten Arbeiten des Helden waren die schwierigsten von allen. Eurystheus verlangte von ihm die goldenen Äpfel der Hesperiden, die in einem

Lande, das er ihm nicht bezeichnete, von einem hundertköpfigen Drachen bewacht wurden. Nach vielen Irrfahrten kam Herkules nach Ägypten, dessen grausamer König Busiris alle Fremdlinge, die in sein Land kamen, den Göttern zum Opfer

schlachten ließ. An den Altar geführt, erschlug Herkules den König und seinen Sohn; dann befreite er den Prometheus, der vom Juppiter an einen Felsen des Kaukasus geschmiedet worden war, wo ihm ein Adler täglich die Leber ausfraß; darauf bezwang er den Niesen Antäus und fand endlich am Fuße des Atlas den Baum mit den goldenen Früchten der Hesperiden, die er sich durch Ein­ schläferung des Drachen verschaffte.

Zuletzt sollte er noch den Cerberus, den

dreiköpfigen Höllenhund, der einen Drachen zum Schweif und Schlangen statt

der Haare hatte, aus der Unterwelt heraufholen. Er bezwang das Ungeheuer ohne Anwendung seiner Waffen, feffelte es, brachte es nach Tiryns und führte es dann wieder in die Unterwelt zurück. Unter diesen Abenteuern war endlich die zwölfjährige Dienstzeit des Helden verflossen; aber seine Mühen und Kämpfe horten darum noch nicht auf.

Was

er schon einmal auf Eurystheus' Befehl hatte ausführen müssen, das that er nun freiwillig einem lieben Gastfreunde zu Gefallen. Als er nämlich den König Admet in Theffalien besuchte, fand er ihn jammernd neben der Leiche seines geliebten Weibes Alceste. Der König war nämlich von einer unheilbaren Krank­ heit befallen worden, und ein Orakel hatte ihm gesagt, daß keine Rettung für ihn wäre, es müßte denn jemand freiwillig für ihn das Leben hingeben. Da

VI.

Geschichte.

153

war die treue Alceste hinausgegangen und hatte die Todesgöttinnen angefleht, ihr

Leben für das ihres Gemahls hinzunehmen.

Ihr Wunsch war erfüllt worden.

Kaum hatte Herkules von der edlen Aufopferung gehört und den Schmerz Admets gesehen, als er in den Schlund des Tartarus hinab zur Unterwelt stieg. Er ging

ohne Furcht bei dem Cerberus vorüber, erbat von der Göttin Proserpina, die im Schattenreich herrschte, das Leben des treuen Weibes und führte diese dem glück­ lichen Admet zu. Nach einem so unruhigen und mühseligen Leben erlitt Herkules noch einen qualvollen Tod. Er hatte sich zum zweiten Male mit der schönen Dejanira, der Tochter eines ätolischen Königs, vermählt. Als er auf einer seiner Reisen mit ihr über einen Fluß setzen wollte, schickte er sie auf einer Fähre voran. Der Fährmann, ein Centaur, namens Nessus, wollte diese Gelegenheit benutzen, um sich ihrer zu bemächtigen; Herkules aber hörte vom Ufer aus ihren Hülferuf und schoß dem Bösewicht einen vergifteten Pfeil durch den Leib. Neffus sann noch im Sterben auf Rache; er fing etwas von seinem vergifteten Blute in seinem ledernen Gewände auf und gab es der Dejanira mit den Worten: „Obgleich

dein Gatte mich zu Grunde gerichtet hat, so sollst du doch sehen, daß ich es gut mit dir meine. Nimm dieses Blut, es wird dir für immer die Liebe deines Gatten erhallen; denn sollte er je eine andere liebgewinnen, so brauchst du nur­ sein Gewand damit zu färben, und sogleich wird seine Liebe zu dir mit erneuter Kraft wieder erwachen und dir bis an dein Ende verbleiben." Dejanira glaubte

dem Verräter, und nicht lange nachher ließ sie sich durch Eifersucht verleiten, das Mittel des Nessus anzuwenden. Sie färbte ein wollenes Feierkleid mit dem Blute und schickte es ihrem Gemahl, der sich eben auf einem Kriegszuge in Euböa be­ fand. Herkules hatte, als er das Gewand erhielt, bereits den Sieg erfochten; er legte es an, um seinem Vater Zeus ein feierliches Dankopfer darzubringen. Plötzlich ergriff ihn ein heftiger Schmerz; das Gewand klebte an seiner Haut und ver­ brannte sie wie eine lodernde Flamme; bald zuckten die Wirkungen des furchtbaren Giftes durch alle seine Glieder, und, von grimmigen Qualen gefoltert, krümmte

sich der Held laut heulend am Boden. Jetzt sprang er empor und zerschmetterte in blinder Wut den unschuldigen Diener, der ihm das Gewand gebracht hatte,

an einem Felsen; dann sank er wieder, vom Schmerz überwältigt, zur Erde nieder und verwünschte sein Weib und ihr entsetzliches Geschenk. Endlich ermannte er sich und sagte zu seinem Sohne Hyllus: „Für mich giebt es keine Rettung. Willst du mir nun meinen Tod versüßen, so laß mich schnell auf das Schiff bringen, damit ich nicht im fernen Lande sterbe." Als Dejanira erfuhr, welches Unheil sie wider ihren Willen angerichtet hatte, erstach sie sich mit einem Schwerte; Herkules aber ließ sich, da ein Orakel ver­ kündet hatte, daß er nur auf dem Öta sein Leben beschließen könne, auf den

Gipfel dieses Berges tragen.

Hier ward ein Scheiterhaufen errichtet, auf dem

der kranke Held seinen Platz nahm.

Ungeachtet seiner dringenden Bitten zauderten

seine Freunde, den Holzstoß anzuzünden; endlich entschloß sich Philoktet, dem von unerträglichen Qualen gemarterten Helden diesen Liebesdienst zu erweisen. Zum

Dank reichte ihm dieser seinen nie fehlenden Bogen und seine Pfeile.

Als nun

154 die Flammen emporloderten,

VI.

Geschichte.

schlugen Blitze

vom Himmel darein;

eine Wolke

senkte sich auf den Holzstoß herab und trug den Helden unter Donnerschlägen zum Olymp empor. Daher fanden die Freunde, als sie sich dem ausgebrannten Scheiterhaufen näherten, um seine Überreste zu sammeln, kein einziges von seinen

Gebeinen. Im Himmel empfing Athene den verklärten Helden und führte ihn in den Kreis der Unsterblichen ein; Hera aber, durch seine Leiden versöhnt, ver­ mählte ihn zum Lohn für sein mühevolles Leben mit ihrer Tochter Hebe, der ewig blühenden Göttin der Jugend. DieUtz.

4.

Theseus.

Theseus, der größte Held und König von Athen, war ein Sohn des Agens. Sein Vater ließ ihn unter der Fürsorge seines Großvaters und seiner Mutter Äthra in Trözen aufwachsen. Dort hatte er sein Schwert und seine Sohlen unter einem Felsblock verborgen und der Mutter des Theseus aufgetragen, diesen, wenn er im stände sei, den Stein hinwegzuwälzen, mit dem Schwert und den Sohlen als Erkennungszeichen nach Athen zu senden. Als nun der Jüngling nicht bloß zu herrlicher Körperstärke Heranwuchs, sondern auch Kühnheit, Einsicht und festen Sinn zeigte, da führte ihn seine Mutter Äthra zu dem Steine am

Meeresufer, unterrichtete ihn über seines Vaters Willen und forderte ihn auf, die Erkennungszeichen für denselben hervorzuholen und nach Athen zu bringen. Theseus stemmte sich gegen den Stein und schob ihn mit Leichtigkeit zurück. Die Sohlen unter den Füßen und das Schwert an der Seite, vollbrachte er auf dem Wege nach Athen mehrere Heldenthaten. Ägeus erkannte das ihm wohlbekannte

Schwert und stellte ihn der Versammlung des Volkes vor, dem er, von freudigem Zurufe begrüßt, die Abenteuer seiner Reise erzählen mußte. Bald danach kamen von der Insel Kreta Abgeordnete des Königs Minos, um den gebräuchlichen Tribut abzuholen.

Mit demselben verhielt es sich also.

Der Sohn des Minos, Androgeos, war, wie die Sage ging, im attischen Gebiete durch Hinterlist getötet worden. Dafür hatte sein Vater die Einwohner mit einem verderblichen Kriege und die Götter selbst das Land durch Dürre und Seuchen heimgesucht. Da that das Orakel des Apollo den Spruch, der Zorn der Götter und die Leiden der Athener würden aufhören, wenn sie den Minos besänftigten und seine Verzeihung erlangen könnten. Hierauf hatten sich die Athener mit

Bitten an ihn gewendet und Frieden erhalten unter der Bedingung, daß sie alle neun Jahre sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen als Tribut zu schicken hätten. Diese sollen nun von Minos in sein berühmtes Labyrinth eingeschlossen und dort von dem gräßlichen Minotaurus, der halb Mensch, halb Stier war, gelötet worden sein. Als nun die Zeit des dritten Tributs herbeigekommen war und die Väter, welche unverheiratete Söhne und Töchter hatten, diese dem entsetz­ lichen Lose unterwerfen mußten, da erneuerte sich der Unwille der Bürger gegen Ägeus, und sie singen an darüber zu murren, daß er, der Urheber des ganzen

Unheils, allein keinen Teil an der Strafe zu leiden habe, und nachdem er einen Fremdling zu seinem Nachfolger ernannt, gleichgültig zusehe, wie ihnen ihre

Kinder entrissen würden.

155

Geschichte.

VI.

Theseus, der sich schon gewöhnt hatte, das Geschick

seiner Mitbürger nicht als ein fremdes zu betrachten, schmerzten diese Klagen; er stand in der Versammlung auf und erklärte, sich selbst ohne Los hingeben zu

wollen.

Alles Volk bewunderte seinen Edelmut und aufopfernden Bürgersinn;

auch blieb sein Entschluß, obgleich sein Vater ihn mit den dringendsten Bitten

bestürmte, daß er ihn des großen Glückes, einen Sohn und Erben zu besitzen, doch nicht so bald wieder berauben solle, unerschütterlich fest.

Seinen Vater aber

beruhigte er durch die zuversichtliche Versicherung, daß er mit den herausgelosten

Jünglingen und Jungfrauen nicht in das Verderben gehen, sondern den Mino­ Bisher nun war das Schiff, das die unglücklichen Opfer

taurus bezwingen werde.

nach Kreta hinüberführte, zum Zeichen ihrer Nettungslosigkeit mit Segel abgesendet worden. Stolze sprechen hörte,

schwarzem

Jetzt aber, als Agens seinen Sohn mit so kühnem

rüstete er zwar das Schiff noch auf dieselbe Weise aus;

doch gab er dem Steuermann ein anderes Segel von weißer Farbe mit und be­

fahl ihm, wenn Theseus gerettet zurückkehre, dieses anfzuspannen, wo nicht, mit

dem schwarzen zurückzukehren und so das Unglück zum

voraus

anzukündigen.

Nach feierlich dargebrachtem Opfer bestieg Theseus mit den auserlesenen Jüng­ lingen und Jungfrauen das Trauerschiff.

Als er auf Kreta gelandet und vor dem Könige Minos erschienen war, zog

seine Schönheit und Heldenjugend die Augen der reizenden Königstochter Ariadne

auf sich.

Sie gestand ihm ihre Zuneigung in einer geheimen Unterredung und

händigte ihm ein Knäuel ein, dessen Ende er am Eingänge des Labyrinths fest­ knüpfen und während des Hinschreitens durch die verwirrenden Jrrgänge in der

Hand sollte ablaufen lassen, bis er an die Stelle gelangt wäre, wo der Mino­ taurus seine gräßliche Wache hielt.

Zugleich übergab sie ihm ein gefeites Schwert,

mit dem er dieses Ungeheuer töten könnte.

So gelangte er zum Minotaurus,

den er mit seiner Zauberwaffe erlegte, und wand sich mit allen,

die bei ihm

waren, durch Hülfe des abgespulten Zwirns aus den Höhlengängen des Labyrinths

glücklich heraus.

Jetzt, entfloh er samt allen seinen

in Begleitung Ariadnes, nachdem der

Gefährten mit Hülfe und

junge Held auf ihren Rat den Boden der

kretischen Schiffe zerhauen und so ihrem Vater das Nachsetzen unmöglich gemacht hatte.

Schon glaubte er seine holde

Ariadne sorglos auf der Insel Naxos

Beute ganz in Sicherheit und

kehrte mit

ein: da erschien ihm im Traume der Gott

Bacchus, erklärte, daß Ariadne die ihm selbst vom Schicksal bestimmte Braut sei, und drohte ihm alles Unheil, wenn Theseus die Geliebte ihm nicht überlassen

würde.

Theseus ließ deshalb die wehklagende, verzagende Königstochter auf der

einsamen Insel zurück und schiffte weiter; in der Trauer aber über den Verlust der Jungfrau vergaß er, die weißen Segel aufzuspannen, und das Schiff flog in seiner schwarzen Trauertracht der Heimatküste entgegen. Ägeus befand sich eben

an der Küste, als das Schiff herangesegelt kam, und schloß aus der schwarzen Farbe der Segel, daß sein Sohn tot sei; da erhob er sich von dem Felsen, auf

dem er saß, und im unbegrenzten Schmerze des Lebens überdrüssig, stürzte er sich in die jähe Tiefe.

156

VI.

Geschichte.

Nachdem Theseus gelandet war und seinen Vater bestattet hatte, bestieg er

den Königsthron und bewies bald, daß er nicht nur ein Held in Kampf und Fehde sei, sondern auch fähig, ein Volk im Frieden zu beglücken. Vor seiner Regierung wohnten die meisten Einwohner Attikas zerstreut um die Burg und die kleine Stadt herum auf einzelnen Bauerhöfen und in weilerartigen Dörfern. Sie konnten daher nur schwer zusammengebracht werden, um über öffentliche An­

gelegenheiten zu ratschlagen; ja bisweilen gerieten sie auch über kleinliche Gegen­ stände des Nachbarbesitzes miteinander in Streit. Theseus nun war es, der alle Bürger des attischen Gebietes in einer Stadt vereinigte und so aus den zerstreuten Gemeinden einen gemeinschaftlichen Staat bildete. Nach Schwab.

4a. Ödipus. Laios, ein Sohn des Labdakus, aus dem Stamme des Kadmus, herrschte über Theben. Da er mit seiner Gemahlin Jokaste lange in kinderloser Ehe lebte, so bat er das delphische Orakel um Nachkommenschaft und erhielt die Antwort, ihm werde zwar ein Sohn geboren, aber später von demselben das Leben ge­ nommen werden. Um der Erfüllung dieses Spruches auszuweichen, ließen daher die Eltern, als Jokaste einen Sohn gebar, diesen Sohn nach wenigen Monden mit durchstochenen und zusammengebundenen Füßen in das Gebirge Kithäron werfen. Der Hirt aber, welcher diesen Auftrag empfangen hatte, rettete das Kind aus Mitleid und gab es einem andern Hirten, welcher in demselben Ge­ birge die Herden des Königs Polybus von Korinth weidete. Dieser nannte das Kind Ödipus („Schweüfuß") und überbrachte es seinem Herrn. König Polybus, der mit seiner Gemahlin Merope auch keine Kinder hatte, erzog Ödipus als sei­ nen Sohn und ließ ihn in dieser Meinung heranwachsen. Als nun aber Ödipus

einst von einem Korinther geschmäht wurde, daß er eine Würde sich anmaße, die ihm nicht gebühre, ging er selbst nach Delphi und befragte das Orakel nach sei­ nen wahren Eltern, erhielt aber auf seine Frage keine Antwort, sondern nur den Ausspruch, daß er seinen Vater erschlagen und seine eigene Mutter heiraten

werde. Er kehrte deshalb nach Korinth nicht zurück, sondern schlug den Weg nach Theben ein. Unterwegs begegnete er bei Daulia dem Könige Laios und

erschlug, da desien Wagenführer ihn aus dem Wege treiben wollte, im Jähzorn sowohl diesen, als auch seinen Vater, der sich in den Streit einmischte. Indessen war vor Theben die Sphinx erschienen, ein Ungeheuer mit Flügeln, vorn wie eine Jungfrau, hinten wie ein Löwe gestaltet; auf einem Felsen ge­ lagert, legte sie dort den Thebanern Rätsel vor und erwürgte den, der sie nicht lösen konnte. Viele schon hatten durch das Ungeheuer ihren Tod gefunden; in

der Not versprach man dem, der die Stadt von diesem Unheil befreien würde, den durch den Tod des Laios erledigten Thron und die Hand Jokastens. Ödi­

pus kam nach Theben. Als ihm nun die Sphinx den Eintritt in die Stadt sperrte und ihn fragte, welches Zweifüßige vierfüßig sei und auch dreifüßig, ant­ wortete er nach kurzem Bedenken:

VI.

Geschichte.

157

Wahrlich, du meinest den Menschen, der, weil auf Erden er wandelt, Erst vierfüßig erwuchs, jüngst erst geborenes Kind; Aber den Greis auch stützet der Stab als dritter der Füße,

Hat ihm das Alter das Haupt drückend darniedergebeugt. Er hatte das Rätsel gelöst. Die Sphinx stürzte sich nun selbst vom Felsen, Ödipus aber erhielt zum Lohne den Thron und die Hand seiner Mutter, mit der er nach und nach vier Kinder erzeugte.

Lange herrschte er glücklich, bis eine

Pest ausbrach, welche die Götter gesandt hatten, weil das Land noch immer von den unbekannten Greueln befleckt war. Um zu erforschen, durch welche Mittel die Gottheit versöhnt und die Seuche beseitigt werden könnte, sandte Ödipus seinen Schwager Kreon nach Delphi, um

das Orakel des Apollo zu befragen. Kreon brachte den Bescheid, das Land sei durch große, in ihm begangene Schuld befleckt, und nur dann, wenn dasselbe durch Tötung oder Verbannung der Frevler gereinigt sei, werde die Pest ihr Ende finden. Ödipus verhieß feierlich die Landesverweisung des Verbrechers, sobald derselbe bekannt sein werde.

Uni ihn ZU ermitteln, wird der blinde Seher

Tiresias befragt; aber erst nach langem Widerstreben und nur nachdem er von Ödipus zum Zorne gereizt worden war, erklärte er, dieser selber sei der Frevler, dessen That und Leben den Zorn der Götter über Theben gebracht hätten. Die Wahrheit dieser Erklärung des Weissagers stellte sich heraus, als ein Bote von Korinth die Nachricht brachte, der König Polybus sei gestorben und das Volk von Korinth habe Ödipus zu dessen Nachfolger erwählt. Durch diesen

Boten, der derselbe Mann war, welcher einst auf dem Kithäron von dem Hirten des Laios den Knaben mit den durchstochenen Füßen empfangen und zu Polybus gebracht hatte, erfuhr Ödipus, daß er nicht der Sohn des Polhbus sei, sondern aus Theben stamme. Sogleich wurde nunmehr der noch lebende alte Hirte des Laios, welcher auch Zeuge von dem Tode seines Königs gewesen war, herbeigerufen und gestand auf Befragen die bisher von ihm verhehlte Wahrheit, daß Ödipus der Sohn des Laies und der Jokaste, der Mörder seines Vaters und der Gatte seiner Mutter sei. Von dieser Erkenntnis zur Verzweiflung getrieben, tötete sich Jokaste, Ödi­

pus aber blendete sich selbst und ward, als seine Söhne Polynices und Eteokles heranwuchsen, von diesen und ihrem Vormunde Kreon aus dem Lande vertrieben. Dem unglücklichen Greise durfte nur seine ältere Tochter Antigone als Führerin in die Verbannung folgen, die jüngere, Jsmene, wurde in Theben zurückgehalten. Nach langer mühevoller Wanderung erreichte der als Bettler herumirrende Flücht­ ling den Hain der Eumeniden bei Kolonos, einem Gaue von Attika, wo er, wie ihm Apollo verheißen, das Ziel seiner Leiden finden und dem Lande, in dem er

ruhete, Unbesiegbarkeit verleihen sollte. In Theben hatte unterdes Kreon die Herrschaft den Söhnen des Ödipus übergeben; doch bald brach unter diesen Zwist aus; sie wollten die Herrschaft abwechselnd führen, aber der jüngere Eteokles weigerte sich, als das Jahr seiner

Regierung verflossen war, das Scepter dem älteren Polynices abzutreten, und da er im Besitz der Gewalt war, vertrieb er seinen Bruder aus Theben. Poly-

158

VI.

Geschichte.

nices floh nach ArgoS im Peloponnes zu dem Könige AdrastuS, dessen Schwieger­ sohn er wurde. Jsmene brachte aus Theben dem Vater die Nachricht von der Zwietracht

der beiden Brüder; ihr folgte Kreon, der aus Theben zu ihm gesandt war, daß er ihn veranlasse, an die Grenze seiner Heimat zurückzukehren; denn die Thebaner hofften, daß, wenn Ödipus in ihrem Lande stürbe, der Besitz seines Grabes dem Orakelspruche gemäß ihre Stadt unbezwingbar machen würde. Ödipus wei­

gerte sich aber, Kreon zu folgen, und wurde, als dieser ihn zwingen wollte, von Theseus, dem Könige von Athen, selber geschützt. Auch sein älterer Sohn Polynices versuchte ihn für sich zu gewinnen, wurde aber gleichfalls vom Vater abgewiesen, da er ihn früher der Heimat beraubt hätte und ihn erst wieder aufsuchte, nachdem er selber in gleiches Elend geraten wäre. Er trieb den Sohn von sich mit dem Fluche, daß es ihm nie gelingen solle, seine Vaterstadt zu erobern, noch nach Argos zurückzukehren, sondern daß er, den Bruder mordend, von des Bruders Hand den Tod erleide. Bald darauf starb Ödipus in Kolonos und ward auf attischem Gebiete begraben. Des Vaters Fluch erfüllte sich. Polynices hatte durch seinen Schwieger­ vater Adrastus von sieben griechischen Fürsten das eidliche Versprechen erhalten, ihm mit den Waffen zur Behauptung seines Rechts auf den Thron von Theben behülflich zu sein, und führte sein siebenfaches Kriegsheer gegen Theben. Jedes der sieben Thore Thebens wurde von einem der sieben Fürsten bestürmt; aber die Götter selbst beschützten die Stadt. Das Heer der Feinde wurde gänzlich besiegt; Amphiaraos, einer der sieben Fürsten, ward von der Erde verschlungen, Kapaneus, indem er mit Feuer und Schwert die Mauer erstieg, vom Blitze des

Zeus erschlagen, und Adrastus floh mit den übrigen.

Die Brüder Polynices und

Eteokles aber erfüllten den auf ihnen ruhenden Fluch, indem beide einander im Zweikampfe töteten. Nach ihrem Tode fiel die Königswürde an Kreon, den

Oheim der beiden Gefallenen.

3.

Nach Brohm.

Der Argonautenzug.

Ungefähr 1250 Jahre vor Christi Geburt vereinigten sich zuerst mehrere tapfere Männer in Griechenland zu einem gemeinsamen Zuge in ein fernes Land.

Die Veranlassung war folgende. Etwa zwanzig Jahre vorher war ein thessa­ lischer Königssohn, namens Phrixus, mit seiner Schwester Helle, um den Nach­ stellungen einer bösen Stiefmutter zu entgehen, zu den Kolchiern geflohen, welche

an der Ostküste des schwarzen Meeres wohnten. Die Fabel schmückt diese Flucht wunderbar aus. Phrixus, heißt es, ritt mit seiner Schwester auf einem goldenen Widder; als sie aber von Europa nach Asien übersetzten, fiel Helle hinab und ertrank, wovon die Meerenge den Namen Hellespont erhielt. Der König von Kolchis, Äetes, nahm den Flüchtling auf, gab ihm auch eine seiner Töchter zur Ehe, opferte aber den Widder dem Zeus und hing dessen goldenes Fell oder Vließ an einer Eiche in dem Haine des Ares auf.

Drache mußte dasjelbe bewachen.

Ein schlafloser, feuerspeiender

VI.

Geschichte.

159

Nun herrschte zu Jolkus in Thesialien ein König, nennend Pelias. Dieser hatte die Herrschaft unrechtmäßig an sich gebracht, da sie seinem älteren Bruder gebührte. Der Sohn dieses älteren Bruders hieß Jason und war von seiner Mutter aus Furcht vor den Nachstellungen des Oheims in der Fremde erzogen worden. Als einmal Pelias das Orakel über die Dauer seines Königreichs be­ fragte, bekam er den Spruch, er solle sich vor dem in Acht nehmen, der mit einem Schuh zu ihm kommen würde. Danach waren Jahre vergangen, und Pelias hatte das Orakel fast vergessen. Einst aber, als er dem Poseidon am Ufer des Meeres ein großes Opfer darbrachte und eine Menge Volks versammelt war,

kehrte gerade Jason von seinem Erzieher in die Heimat zurück.

Er kam nur mit

einem Schuh; den andern hatte er beim Durchwaten eines Flusses im Schlamm verloren. Pelias erschrak, als er in dem schönen, kräftigen Jüngling seinen Neffen und zugleich auch den erkannte, vor dem ihn das Orakel gewarnt hatte. Er nahm ibn zwar freundlich auf, sann aber darüber nach, auf welche Weise er ihn am besten aus seinem Reiche entfernen könnte. Endlich fiel ihm das goldene Vließ in Kolchis ein. „Höre," sprach er zu Jason, „schon längst ist dir mein Scepter zugedacht; aber ich will es keinem Unwürdigen geben. Vollführe mir, was ich dir auftrage, und du sollst König sein. Ich will dir ein herrliches Schiff aus­ rüsten; mit dem sollst du nach Kolchis segeln und das Fell des goldenen Widders, das uns Griechen gehört, von Aetes fordern und hierher bringen." Jason, der nach Ehre strebte und die Ausführung des Unternehmens zwar für schwer, doch nicht für unmöglich hielt, ließ sogleich durch einen geschickten

Zimmermann, namens Argus, ein fünfzigrudriges Schiff bauen, so groß und schön, wie man noch keins in Griechenland gesehen hatte, welches von dem Bau­ meister den Namen Argo erhielt. Sodann durchzog er das ganze Land, um Teil­ nehmer an seinem gefahrvollen Unternehmen zu suchen. Da fand sich eine Menge kühner Jünglinge und Männer, welche auf dem abenteuerlichen Zuge Ehre und

Beute gewinnen wollten, unter anderen Herkules, Kastor und Pollux, Telamon, Theseus und der Sänger Orpheus. Sie versammelten sich zu Jolkusj, bestiegen unter Anführung des Jason das Schiff und segelten ab, nachdem sie noch allen

Meeresgöttern geopfert. Während die fünfzig Ruderer in regelmäßigem Taktschlag das Schiff fort­

bewegten und ein günstiger Wind die Segel schwellte, ergötzte Orpheus durch die lieblichen Töne seiner Leier die Helden und erhöhte mit begeisternden Gesängen ihren Mut.

So fuhr man an vielen Inseln und Vorgebirgen vorüber und mit

einem günstigen Winde durch den Hellespont in die Propontis. Hier erwartete sie ein Abenteuer. Amykus, der König der wilden Bebryken, ließ nämlich keinen Fremdling, der sein Gebiet betrat, wieder fort, wenn er nicht zuvor mit ihm

einen Faustkampf bestanden hatte.

Da er auch die Argofahrer nicht ziehen lasten

wollte, bevor einer von ihnen sich mit ihm gemessen, so trat Pollux, Juppiters

und der Leda Sohn, hervor und traf den König nach einem lange unentschie­ denen Kampfe so heftig gegen den Kopf, daß er zu Boden sank. Die Bebryken eilten herbei, um seinen Fall zu rächen, wurden aber von den Griechen zurück­ geschlagen und entflohen in das Innere des Landes.

VI.

160

Geschichte.

Nicht lange darauf gelangte man zum König Phineus in Bithhnien. Dieser hatte die ihm verliehene Gabe der Weissagung gemißbraucht; Apollo hatte ihn dafür mit Blindheit geschlagen, und außerdem fraßen ihm die gräßlichen Wunder­ vögel, die Harpyien, so oft er sich zu einer Mahlzeit niedersetzte, die Speisen fort und besudelten das Zurückbleibende so, daß jeder sich mit Ekel abwenden mußte. Der Unglückliche bat die Argonauten um Hülfe; denn er hatte gehört, daß sich unter ihnen die Söhne des Boreas, Zetes und Kalais, befanden, durch welche ihm das Orakel Rettung verheißen hatte. Die geflügelten Jünglinge verfolgten die Ungeheuer durch die Luft, bis sie versprachen, den armen König nicht mehr zu plagen; und dieser konnte sich nun nach langer Entbehrung wieder der Speise

und des Tranks erfreuen. Unter den zahllosen Gefahren, mit denen die Sage die fernere Reise der

Argonauten ausschmückt, ist besonders die Fahrt durch die Symplegaden hervor­ zuheben. Es waren dies steile Felseninseln am Eingänge in das schwarze Meer, welche im Wasser schwammen und von Zeit zu Zeit mit furchtbarer Gewalt an­ einanderschlugen, so daß jedes Schiff, das nicht mit der Geschwindigkeit einer fliegenden Taube zwischen ihnen hindurchfuhr, durch ihren Zusammenstoß zer­

schmettert wurde. Die Argonauten hörten schon von fern das Krachen der anein­ anderschlagenden Felsen und das Zischen des zwischen ihnen eingepreßten Meeres. Als sie sich dem Eingänge näherten, ließen sie eine Taube fliegen; denn ein Seher hatte ihnen geweissagt, daß, wenn diese sich hineinwagte und glücklich

hindurchkäme, auch ihr Schiff wohlbehalten durchsegeln würde. Die Taube flog in den gefährlichen Engpaß hinein und erreichte das Ende desselben, als eben die Felsen wieder krachend zusammenschlugen; nur die äußersten Schwanzfedern wurden ihr abgeklemmt. Ermutigt durch dieses glückliche Zeichen, ruderten die Helden ihr Fahrzeug mutig vorwärts, als die Felsen sich wieder öffneten. Turm­

hohe Wellen wälzten sich ihnen entgegen, so daß das Schiff mit Macht empor­ geschleudert wurde und dann eben so rasch wieder in die Tiefe sank; sie arbeiteten, daß die Ruder sich krümmten; dennoch wären sie verloren gewesen,

wenn nicht ihre Schutzgöttin Athene in dem Augenblick, als die Felsen sich wieder schließen wollten, das Fahrzeug mit einem gewaltigen Stoß vorwärts getrieben hätte.

So erreichten sie glücklich

das

offene Meer,

und nur das

äußerste Ende des Steuerruders wurde von den zusammenstoßenden Felswänden zermalmt. Unter solchen Abenteuern kamen die Argonauten endlich nach Kolchis. Der König Äetes war ein wilder, grausamer Mann, der fast alle an seiner Küste

landenden Fremden töten ließ.

Nur seiner Tochter Medea, einer Zauberin,

welche von ihrer Mutter die Kräfte aller Kräuter kennen gelernt hatte, gelang es bisweilen, durch List oder Überredung die unglücklichen Fremden zu retten. Endlich aber hatte sie vor dem grausamen Vater entfliehen müssen und irrte

gerade damals, als die Argonauten sich dem Ufer näherten, am Strande des Meeres verlassen umher. Von ihr erfuhren die Griechen, welchen Gefahren sie entgegengingen; als aber Jason der Medea versprach, sie als seine Gattin mit nach Griechenland zu nehmen und sie sein Leben lang nicht zu verstoßen, sagte

VI.

Geschichte.

161

diese ihm ihre Unterstützung bei dem schwierigen Unternehmen zu. Nun gingen die Anführer der Griechen zum König und forderten daS goldene Vließ als ein Eigentum ihres Volkes zurück. Äetes lächelte höhnisch. „Du sollst es haben," sprach er zu Jason, „wenn du meine feuerschnaubenden Stiere ins Joch spannen und mit ihnen einen Acker umpflügen kannst. Dann aber mußt du noch diese Drachenzähne säen und mit den geharnischten Männern kämpfen, die daraus

hervorwachsen. Gelingt dir auch dies, so brauchst du nur noch den Drachen zu töten, der das goldene Vließ bewacht, und dann kannst du frisch und fröhlich damit nach Hause ziehen." Jason erschrak, aber Medea hielt Wort. Sie bereitete ihm eine Salbe, die den Körper gegen Feuer und Wunden unverletzlich machte und ihm die Stärke eines Gottes verlieh; für den Drachen aber gab sie ihm eine Flasche, welche einschläferndes Wasser enthielt. Außerdem teilte sie ihm mit, wie er die ge­ harnischten Kämpfer erlegen könne. Der Held ging, als er sich durch einen kurzen Schlaf gestärkt hatte, mutig ans Werk. Er ließ sich vom König die

Felsenkluft zeigen, in der die fürchterlichen Stiere waren, schob den Riegel zu­ rück, und mit entsetzlichem Schnauben stürzten die Tiere hervor. Aber Jason faßte sie kräftig bei den Hörnern, legte ihnen das Joch auf, pflügte den Acker und streute die Drachenzahne aus. Alsobald wuchsen an allen Enden geharnischte Männer von wildem Ansehen aus der Erde hervor und stürmten auf den Helden los; dieser aber warf, wie ihm Medea gelehrt, einen Stein unter sie, und sogleich stürzten sich die Männer mit Wut auf einander los und zerfleischten sich. Die übrigbleibenden stieß Jason mit leichter Mühe nieder und begab sich dann zu seinen Freunden auf das Schiff zurück, um sich zu neuer Arbeit zu stärken. Um Mitternacht erhob er sich wieder von seinem Lager, suchte die heilige Eiche auf, besprengte den Drachen mit dem Wasser, das ihm Medea gegeben, und nahm, als dieser in Schlaf verfiel, das goldene Vließ ohne Gefahr herunter. Unterdes hatten die Freunde das Schiff segelfertig gemacht; kaum hatten Jason und Medea dasselbe bestiegen, so setzten es die fünfzig Ruderer in Bewegung, und

bei Tagesanbruch hatte man die Küste aus dem Gesicht verloren. Alles war fröhlich, nur Medea nicht. Sie wußte, daß die Kolchier gute Schiffer waren, und daß ihr Vater die Fremdlinge nicht ungestört mit dem goldenen Vließe würde

abziehen lassen. Die Argonauten hatten schon das schwarze Meer durchschifft und befanden sich gerade an der Mündung des Jster oder der Donau, als sie am Horizonte

eine Reihe von Segeln erblickten, welche Medea sogleich für kolchische erkannte. Alle hielten sich für verloren; da rettete sie Medea durch ein grausames Mittel. Sie hatte ihren kleinen Bruder Absyrtus mit sich aus der Heimat fortgeführt. Da sie wußte, daß ihr Vater den Knaben außerordentlich liebte, tötete sie ihn, zerstückle den Leichnam in unzählige Teilchen und streute diese hier und dort im Meer und am Ufer umher. Sie erreichte ihren Zweck. Der König Äetes er­

kannte, als sein Schiff sich dem Lande näherte, den Kopf seines Sohnes, der auf einer Stange am Ufer steckte, und ließ so lange vom Verfolgen ab, bis er die Überreste seines geliebten Kindes vollständig gesammelt und bestattet hatte. Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb.

5. Aufl.

H

VI.

162

Geschichte.

Darüber vergingen mehrere Tage, und unterdes entflohen die Argonauten durch den Bosporus und den Hellespont. Nicht ohne Gefahren mancherlei Art und nach vielen Stürmen, welche Zeus ihnen zur Strafe für den Mord des Absyrtus sendete, kamen Jason und Medea

nach Thessalien. Hier hatte Pelias, der noch immer mit Grausamkeit herrschte, die ganze Familie Jasons ausgerottet. Dafür räumte ihn dieser mit Medeas Hülfe bald nach seiner Ankunft aus dem Wege; doch auch Jason fand keine Ruhe und nahm, wie die grausame Medea, ein trauriges Ende. Dieup.

6. Der trojanische Krieg. a.

Der Rauch der Helena.

Die Westküste von Kleinasien war schon in den ältesten Zeiten von zahl­ reichen Bolksstämmen bewohnt, welche in Sprache und Sitte mit den Griechen nahe verwandt, aber weit früher als diese gebildet und durch Kunstfertigkeit und Handel wohlhabend waren. Unter allen Städten an dieser Küste war Troja oder Jlium am mächtigsten. Hier herrschte ungefähr zwölfhundert Jahre vor Christi Geburt der König Priamus. Einer seiner vielen Söhne, namens Paris, setzte einmal nach Europa hinüber und kam auf seiner Wanderung auch zu dem König Menelaus nach Sparta. Dieser nahm ihn nach der schönen Sitte jener Zeiten gastfreundlich auf und bewirtete ihn mehrere Tage aufs köstlichste; aber Paris vergalt seinem Wirte diese Freundlichkeit mit argem Undank. Er entführte ihm seine Gattin, die schöne Helena, raubte ihm auch noch einen Teil seiner Schätze und segelte rasch mit seiner Beute nach Troja zurück. Menelaus konnte die erlittene Kränkung nicht verschmerzen; aber er war nicht mächtig genug, um allein an den Trojanern Rache zu nehmen. Daher forderte er alle benachbarten Fürsten, namentlich seinen Bruder Agamemnon, welcher in

Argolis herrschte, den alten Nestor in Pylos und Odysseus, König von Ithaka, zum Beistand auf. Alle sagten ihm ihre Unterstützung zu, und noch viele andere Königssöhne freuten sich, daß sie nun Gelegenheit haben würden, sich Ruhm zu erwerben wie ihre Väter auf dem vielgepriesenen Argonautenzuge. Während die Zurüstungen zu dem großen Kriegszuge getroffen wurden, reisten Odysseus und Nestor im ganzen Griechenland umher, um immer neue Teilnehmer aufzusuchen. Wer nicht durch Liebe zum Ruhm sich bewegen ließ, den leckte die unermeßliche Beute, welche die Zerstörung des reichen Troja versprach, und so strömten denn aus allen Landschaften wohlgerüstete Scharen unter Anführung ihrer Fürsten

herbei. Der Hafen Aulis in Böotien war der Sammelplatz. Agamemnon, der mächtigste unter allen griechischen Fürsten, wurde hier zum Oberanführer gewählt; aber obwohl er ein wackerer, verständiger Mann und tapferer Streiter war, so stand er doch an Stärke dem unbezwinglichen Achilles bei weitem nach. Dieser, der Sohn des Peleus und der Thetis, war, da seine Mutter ihn in den Styx, den Höllenfluß, eingetaucht hatte, am ganzen Leibe unverletzlich bis auf die Stelle am Fuße, an der sie ihn beim Eintauchen angefaßt hatte. Ihm hatte ein Orakel entweder ein kurzes Leben und unsterblichen Ruhm, wenn er Troja erobern helfe,

VI

Geschichte.

163

oder ein hohes, aber rühmloses Alter verkündet. Der kühne Jüngling wählte das erstere und schloß sich an der Spitze seiner Myrmidonen dem Zuge an. Er ist der Hauptheld der Ilias, dieser herrlichen Dichtung, in welcher Homer, einer der ältesten und trefflichsten Dichter der Griechen, den Kampf vor Troja besingt. Nächst Achilles zeichneten sich unter allen Griechen Diomedes, die beiden Ajax, Jdomencus und Tencer durch Kraft und Unerschrockenheit aus, während Nestor und Odysseus durch ihre klugen Ratschläge in hohem Ausehen standen. Schon längst waren die griechischen Streiter, fünfzig- bis sechzigtausend an der Zahl, mit ihren Fürsten in Aulis versammelt, um sich hier einzuschiffen; aber immer verhinderten Stürme und widrige Winde die Abfahrt, so daß Mißmut und Ungeduld das ganze Heer ergriff. Endlich wandte man sich an den Seher Kalchas, der sich dem Zuge augeschlossen hatte, um in Fällen der Not aus dem Fluge der Bögel und den Eingeweiden der Opfertiere den Willen der Götter zu erforschen. „Die Himmlischen zürnen," erwiderte er, „und können nur ver­ söhnt werden, wenn ihnen Jphigenia, Agamemnons Tochter, geopfert wird." Aga­ memnon erschrak, aber so lieb ihm seine Tochter auch war, so wagte er es doch nicht, sich dein Götterspruch zu widersetzen; er ließ sie herbeiholen, und das grau­ same Opfer würde stattgefunden haben, wenn nicht Diana die Jungfrau in dem Augenblick, als schon das Messer auf sie gezückt war, in eine Wolke gehüllt und emporgehoben hätte. Em Hirschkalb, das an ihrer Stelle auf dem Altar lag, wurde geopfert; augenblicklich wandle sich der Wind, und die Fahrzeuge verließen unter dem lauten Jubelruf der Krieger den Hafen.

b.

Achilles und Agamemnon.

Ein günstiger Wind brachte die Flotte, die aus tausend und zweihundert Schiffen bestand, ohne Unfall an die asiatische Küste. Die Fahrzeuge wurden

ans Land gezogen und in vier langen Reihen hintereinander aufgestellt; vor denselben wurden die Lagerhütten nebst den zugehörigen Ställen und Vorrats­ häusern errichtet und das Ganze mit einem Wall und Graben eingeschlossen, so daß es mehr einer befestigten Stadt als einem Lager glich. In der Mitte war ein freier Platz, auf dem sich die Altäre der Götter befanden, und der auch zu allgemeinen Versammlungen und Beratungen diente. Vor dem Lager dehnte sich in einer Breite von drei bis vier Stunden eine vom Skamander durchflossene Ebene aus, und hinter ihr erhob sich die prächtige Stadt Troja mit ihren Mauern, Zinnen und Türmen. Die Ebene war bald der Schauplatz blutiger Kämpfe, indem die Trojaner mehrere vergebliche Versuche machten, das griechische Lager zu zerstören. Auch sie hatten wie die Griechen tapfere Anführer, unter denen sich Aneas und besonders Hektor, der älteste Sohn des Königs Priamus, hervorthaten, und außer ihrer eigenen Mannschaft kämpften in ihren Reihen die vielen Verbündeten, welche aus allen Teilen Kleinasiens zur Verteidigung ihrer Stadt herbeigekommen waren. Wie es ihnen aber nicht gelang, in das Lager der Griechen einzudringen, so vermochten auch diese nicht, gegen die hohen Mauern der Stadt etwas Entscheidendes zu unternehmen. So kam es denn, daß sich die Belagerung unter beständigen Kämpfen von einem Jahr

11*

164

VI.

Geschichte.

zum andern hinzog. Unterdessen mußte sich ein Teil der Griechen an der benachbarten thrazischen Küste mit Ackerbau beschäftigen, und einzelne Scha­ ren unternahmen nach verschiedenen Seiten hin Raub- und Plünderungszüge und zerstörten viele mit den Trojanern verbündete Ortschaften. So eroberte Achilles mit seinen Myrmidonen allein dreiundzwanzig asiatische Städte, während Ajax, Telamons Sohn, mehrere thrazische Städte mit Feuer und Schwert ver­ wüstete. In dieser Weise waren bereits neun Jahre verflossen, ohne daß eins der beiden Völker einen entscheidenden Sieg erfochten hätte. Auch die Götter nahmen, wie Homer erzählt, an dem Kampfe thätigen Anteil: Juno, Minerva, Merkur, Neptun und Vulkan standen auf der Seite der Griechen, Venus, Mars und

Apollo auf der der Trojaner. Endlich brach unter den griechischen Fürsten ein Zwist aus, der ihrem ganzen Heere verderblich zu werden drohte. Die Veran­ lassung dazu war folgende. Auf einem der Plünderungszüge Achills war einem Priester des Apollo, namens Chryses, seine Tochter Chrysels geraubt und bei der Verteilung der Beute dem Agamemnon zuerteilt worden. Nach einiger Zeit erschien der Priester im Lager der Griechen und bot für seine Tochter ein reiches Lösegeld. Agamemnon wies ihn mit drohenden Worten ab; Chryses aber erhob seine Hände und betete zum Apoll, er möge die Griechen für den Schimpf, den sie seinem Priester zugefügt, bestrafen. Sein Gebet wurde erhört; Apollo warf seine Geschosse unter die Scharen der Griechen, und jeder, den er traf, erkrankte an der Pest und starb nach wenigen Stunden. Neun Tage schon wütete die Seuche; da erklärte Kalchas, daß Apollo ihr nicht eher ein Ende machen würde, als bis seinem Priester die geraubte Tochter ohne Lösegeld zurückgegeben wäre. Agamemnon ergrimmte; doch blieb ihm nichts übrig, als dem Seher zu gehorchen. Während er aber- dem Chryses seine Tochter zurückschickte, verlangte er als Ent­ schädigung die gefangene Königstochter Briseis, die dem Achill als sein Anteil an der Beute zuerkannt worden war, und ließ sie durch seine Herolde aus dem Lager desselben wegführen. Entrüstet über diesen Schimpf und über die Habsucht Agamemnons, beschloß Achilles, nie wieder den Arm gegen die Trojaner zu er­ heben und auch seine Myrmidonen nicht mehr am Kampfe teilnehmen zu lassen. Dies brachte eine gewaltige Änderung in die Verhältnisie. Bisher hatte Achilles,

wo er erschien, Schrecken und Verwirrung unter den Feinden verbreitet; auch war er der einzige unter den Griechen, dem der männermordende Hektor auf dem Schlachtfelde immer ausgewichen war. Jetzt, da er in seinem Lager bei den Schiffen unthätig blieb, erfochten die Trojaner Sieg auf Sieg; Hunderte von tapferen Kämpfern fielen unter Hektors Streichen; im griechischen Heere verbrei­ tete sich Furcht und Zagen, und hier und dort wurden schon Stimmen laut, man müsse den verheerenden Krieg aufgeben und nach Hause zurückkehren. Jndeffen gelang es den Fürsten, die Entmutigten teils durch Drohungen, teils durch die Hoffnung auf Beute immer wieder zum Kampfe zu bewegen, so daß kein Tag verging, an dem sich nicht die Ebene zwischen der Stadt und dem Lager mit dem Blute der Erschlagenen gefärbt hätte.

VI. c.

Geschichte.

165

Paris und Menelaus.

Einst hatte sich das ganze Heer der Griechen, nach Völkerstämmen geordnet, in der Ebene in Schlachtordnung aufgestellt; die Trojaner standen ihnen gegen­ über, und der Kampf sollte beginnen, als Paris, in ein buntes Pantherfell gekleidet und mit Bogen, Schwert und Lanze bewaffnet, aus der Reihe der Seinigen her-

vortrat und mit lauter Stinime den tapfersten aller Griechen zum Zweikampf herausforderte. Als Menelaus dies hörte, sprang er eiligst von seinem Streit­ wagen herab und warf sich wie ein Löwe, der einen Hirsch oder einen Gemsbock erblickt, dem Räuber seiner Gattin und seiner Schätze entgegen. Paris erschrak beim Anblick dieses furchtbaren Gegners; blaß und zitternd trat er zurück und verbarg sich im Gedränge. Da rief ihm Hektor voll Unmuts zu: „Elender Weiberheld, wärest du doch gestorben, ehe du solche Schmach über dein Haus brachtest! Hörst du nicht das Gelächter der Feinde, welche deiner Feigheit spotten? Also nur dazu hattest du Mut, dem Helden seine Gattin zu rauben, nicht auch, ihm im Kampfe gegenüberzutreten?" „Du hast recht," antwortete Paris, „ich schäme mich meines Kleinmuts. Willst du mich aber kämpfen sehen, so verkündige Trojanern und Griechen, daß ich jetzt mit Menelaus vor allem Volk den Zweikampf wagen will. Wer von uns siegt, der mag Helena und die Schätze behalten; ihr bauet dann wieder in Frieden eure Äcker, und jene schiffen heim nach Griechenland."

Hektor war hocherfreut über die Worte seines Bruders; er eilte in die vorderste Reihe und rief den Kämpfenden zu, sie möchten die Waffen ruhen lassen. Dann sprach er mit lauter Stimme: „Hört, ihr Achäer, ich habe euch freudiges zu verkünden. Paris, mein Bruder, der alles Unglück verursacht hat, will's auch beenden und bietet dem Menelaus offenen Zweikampf an um Helena und sämtliche Schätze. Wer siegt, der soll beides dahinnehmen, und des Fallen­ den Tod soll das Ende des ganzen Krieges sein." Menelaus erklärte sich bereit, den Zweikampf anzunehmen, und sogleich eilte ein Bote in die Stadt, um den alten König Priamus herbeizuholen, damit er unter den üblichen Opfergebräuchen den Bund beschwöre. Unterdes lagerten sich die Heere in zwei langen Reihen und erwarteten den Zweikampf. Als Priamus auf dem Gefilde angekommen war, traten die Fürsten zusam­ men, und Agamemnon verrichtete das Opfer. Er schor den Lämmern mit einem Messer die Köpfe, betete zum Zeus, und nachdem alle geschworen, daß sie die Bedingungen des Vertrages erfüllen wollten, zerschnitt er die Kehlen der Lämmer und ließ ihr Blut in den Staub rinnen. Dann schöpften sich alle Wein in ihre Becher, gossen den Göttern zu Ehren die 'ersten Tropfen aus und riefen laut, daß Zeus auf dieselbe Art das Blut dessen vergießen möchte, der zuerst den hei­ ligen Eidschwur bräche. Mit Thränen in den Augen fuhr nun der alte König

in die Stadt zurück;., denn er mochte nicht die Gefahr seines lieben Sohnes mit ansehen. Hektor und Odysseus maßen den Kampfplatz ab, warfen zwei Lose in

einen Helm, um zu entscheiden, wer von den beiden Kämpfern den ersten Wurf haben sollte, und schüttelten den Helm. Paris' Los flog heraus. Sogleich wichen

VI.

166

Geschichte.

alle zurück, die beiden Kämpfer traten hervor, und Paris warf mit heftigem Schwünge den Wurfspieß auf seinen Gegner; aber er traf nur den eisernen

Rand des Schildes, und der Speer fiel kraftlos zur Erde. In demselben Augen­ blick schmetterte ihm Menelaus seine Lanze auf den Leib, daß sie den Schild durch­ brach und ihm gewiß ins Herz gedrungen wäre, hätte jener nicht durch eine rasche Wendung das Unglück vermieden. Aber indem er noch bestürzt auf seinen Schild sah, sprang Menelaus mit dem Schwerte auf ihn los und führte einen so kräftigen Hieb auf seinen Kopf, daß die Klinge an der Härte des Helmes zer­

brach. Und wie Menelaus zum dritten Male auf seinen Feind losfuhr und ihn mit den Händen beim Helmbusch packte, da riß der Riemen, und er hatte den leeren Helm in der Hand. Paris benutzte diesen Augenblick, um sich eilenden Laufs unter die Troer zu stürzen. Alle Griechen frohlockten, und Agamemnon erklärte laut seinen Bruder für den Sieger. Er verlangte daher die Auslieferung der Helena und aller geraubten Schätze und überdies Entschädigung für den langen Krieg, wie es im Vertrage beschworen war. Doch in dem Augenblick traf ein Pfeil aus den Reihen der Trojaner den Menelaus und verwundete ihn leicht. Da verwandelte sich das Frohlocken der Griechen in die heftigsten Verwünschungen gegen die Trojaner, und Agamemnon schwur laut, nun nicht eher zu rasten, als bis er dieses bund­ brüchige, hinterlistige Geschlecht von der Erde vertilgt und ihre ,Stadt den Flammen preisgegeben hätte. d.

Zweikampf des Hektor und Ajax.

Einst forderte Hektor auf das Gebot seines Bruders Helenus, des kundigen Sehers, die Griechen auf, ihm den tapfersten zum Zweikampfe gegenüberzustellen. Da bedachte sich jeder und wartete auf des andern Erbieten; denn mit Hektor zu kämpfen, war ein gefahrvolles Wagstück. Endlich sprang, nicht im Gefühl seiner Stärke, sondern vom rasch aufwaüenden Ehrgefühl überwältigt, Menelaus auf, griff nach der Lanze und wollte fort; aber die anderen Könige der Griechen und selbst sein Bruder Agamemnon hielten ihn schnell zurück. Sie stellten ihm Hektors überwiegende Stärke vor, brachten eine andere Auskunft in Vorschlag und bewogen ihn endlich, ruhig zu bleiben. Statt seiner standen jetzt neun Männer auf und erboten sich, den Kampf mit Hektor zu bestehen. Agamemnon selbst war unter ihnen, die beiden Ajax auch; die übrigen waren Diomedes, Ulysses, Idomeneus und sein Wagenlenker Meriones, Eurhpylus und Thoas. Jeder von ihnen wählte ein Los und warf es in Nestors Helm. Der Alte schüttelte die Lose, bis eins herausflog, welches der ältere Ajax für das seinige erkannte. So­ gleich stürmte er mächtig dem wartenden Hektor entgegen. Und wahrlich, er war nicht ungleich dem Gegner; denn ein kraftvoller Wuchs, nervige Arme und mächtige Schultern und Schenkel kündigten schon beim ersten Anblick den furcht­ baren Krieger an. Seine Rüstung war undurchdringlich, und ihr allein ver­ dankte er auch diesmal seine Rettung vom sicheren Verderben. Sieben überein­ ander gelegte Stierhäute unv noch ein eiserner Überzug, das war sein Schild;

Helm und Panzer mochten dem angemessen sein.

Nach der Sitte jener Krieger

VI.

Geschichte.

167

begann der Zweikampf nicht gleich auf der Stelle, sondern die Kämpfer rühmten sich erst gegen einander, höhnten sich auch wohl und schimpften im ärgsten Falle. So unedel ging es nun in diesem Gefechte zwar nicht zu; allein ganz ohne Vor­ rede blieb es doch auch nicht. „Sieh da, Hektor," rief Ajax ihm' zu, „nun erkennst du doch wohl, daß sich im Achäervolke noch Männer erheben, die deinen Aufruf nicht scheuen, auch wenn Achilles ruht? Ja, wir anderen sind auch noch Mannes genug, dir mutig zu begegnen, und ich bin nur einer von vielen! Wohlan, beginne den Zweikampf!" „Denkst du, mich durch Trotz zu versuchen, Sohn Telamonö?" erwiderte Hektor. „Irre dich nicht; ich habe die Schlachten der Männer gelernt, weiß den Speer zu schwingen, daß er trifft, und den Schild zu wenden, daß mich kein Wurf ver­ letzt. Zu Fuß und auf flüchtigem Wagen hol' ich den Feind ein, und meine Thaten zeugen für meine Worte. Aber jetzt gieb acht, tapferer Held, ich will nicht mit lauernder List dich überfallen, sondern offen dich treffen." In diesem Augenblicke schleuderte er die gewaltige Lanze mit aller Kraft auf ihn, und sie durchdrang das Erz des Schildes und sechs der ledernen Schichten; dann erst ermattete sie. Nasch warf nun Ajax die seinige auf Hektors Brust; aber Hektors Schild war nicht stark genug, der Spitze zu widerstehen. Doch durch eine geschickte Wendung des Leibes verhinderte er, daß sie in das Fleisch drang. Beide zogen nun die Lanzen mit Macht aus ihren Schilden und rannten damit einander auf den Leib, jeder entbrannt, den Gegner zu durchbohren. Wiederum traf Hektors richtig gezielter Stoß jenen auf die starke, eherne Buckel des vor­ gehaltenen Schildes, daß die Spitze sich krumm bog; aber sie drang noch nicht ein. Auch des Ajax Stoß glitt ab von der Fläche des Schildes und fuhr dem Gegner, seitwärts streifend, in den Hals, daß das Blut ihm den Panzer be­

fleckte. Da wandte sich Hektor schnell und suchte einen Feldstein; den warf er aus vollen Kräften dem Ajax nach dem Kopfe, und er hätte ihn zerschmettert, hätte sich Ajax nicht schnell hinter dem schützenden Schilde verborgen. Jetzt packte Ajax einen noch weit größeren Feldstein und warf ihn auf Hektor, zerbrach ihm den entgegengehaltenen Schild und verletzte ihn am Knie; aber Hektor wäre ge­ wiß noch einmal mit aller Wut über ihn hergefallen, hätten nicht die Griechen jetzt selbst dem Streite ein Ende gemacht; denn sie sandten einen Herold, der die beiden Kämpfer trennte. Ajax starrte noch immer auf Hektors Bewegungen hin und rief dem Herolde zu: „Gut, mein Freund, ermahne nur jenen zum Stillstand; er hat das Gefecht begonnen; will er ruhen, so lass' auch ich mir's gefallen." Da sprach Hektor mit ruhigem Ton: „Ajax, du hast dich männlich bewiesen im Streite, und ein

Gott hat dir Stärke und Besonnenheit verliehen. Laß uns jetzt ausruhen vom Kampfe und künftig einmal ihn erneuern, bis uns ein Gott durch den Tod von­ einander trennt. Doch zuvor wollen wir einander noch mit preiswürdigen Gaben beschenken, damit man künftig unter Achäern und Troern sage: Seht, sie kämpf­ ten erst lange den Kampf der Zwietracht und schieden dann versöhnt in Freund­ schaft." Er reichte ihm sein künstlich gearbeitetes Schwert mit der Scheide und dem zierlichen Gehenke, und Ajax schenkte ihm dagegen seinen purpurnen Leib-

VI

168 gurt.

Geschichte.

So schieden sie; und jedes Heer empfing seinen Helden mit Freudenge­

schrei und führte ihn triumphierend zu den Seinen zurück.

6.

Becker.

Hektors Ende.

Auf einem hohen Turme der Stadt stand der greise König PriamuS und schaute nieder auf den gewaltigen Peliden, wie er die fliehenden Trojaner vor sich hertrieb, ohne daß ein Gott oder ein Sterblicher erschien, ihn abzuwehren. Die Trojaner flohen glücklich durchs offene Thor in die Stadt, während Achilles noch immer auf der Verfolgung Apollos begriffen war, den er für den Agenor hielt. Als der Gott sich ihm zu erkennen gegeben, wandte er sich und flog trotzigen Sinnes auf die Stadt zu wie ein ungestümes, sieggewohntes Roß am Wagen. Ihn erblickte zuerst der greise Priamus von der Warte des Turmes herunter, und er erschien ihm leuchtend, wie der ausdörrende Hundsstern am Nachthimmel dem Landmann verderbenbringend entgegenfunkelt. Der Greis schlug sich die Brust mit den Händen und blickte wehklagend auf seinenZSohn hinab, der außer­ halb des skäischen Thores stand und voll heißer Kampfbegier auf den Peliden

wartete.

Auch Hekuba, die Mutter, erschien an seiner Seite, zerriß ihr Gewand

und weinte. Aber das laute Weinen und Rufen seiner Eltern vermochte den Sinn des SohneS nicht umzustimmen; er blieb unbeweglich auf dem Platze und erwartete den herannahenden Achilles. Immer näher kam dieser geschritten, dem Kriegs­ gott an furchtbarer Herrlichkeit gleich; auf der rechten Schulter bebte ihm ent­ setzlich seine Lanze aus Eschenholz, seine Erzwaffen schimmerten um ihn wie eine Feuersbrunst oder wie die ausgehende Sonne. Als Hektor ihn sah, mußte er unwillkürlich zittern; er vermochte nicht mehr stillezustehen; er wandle sich um dem Thore zu, und hinter ihm her flog der Pelide, wie ein Falk der Taube nachstürzt, die ost seitwärts schlüpft, während der Raubvogel gerat/ andringt in seinem Fluge. So flüchtete Hektor längs der Mauer von Troja über den Fahr­ weg hinüber an den beiden sprudelnden Quellen des Skamander vorbei, der

warmen und der kalten, immer weiter um die Mauer; ein Starker floh, aber ein Stärkerer folgte. Also kreisten sie dreimal um die Stadt des Priamus, und vom Olymp sahen alle ewigen Götter dem Schauspiele mit gespannter Aufmerk­

samkeit zu. Hektor floh immer noch vor seinem Verfolger, der ihn, wie ein Jagd­ hund den aus dem Lager aufgejagten Hirsch, bedrängte und ihm, wie dieser sei­ nem Wilde, keinen Schlupfwinkel und keine Rast gönnte. Auch winkte Achilles seinem Volke zu, daß keiner sein Geschoß auf Hektor werfen und ihm den Ruhm rauben sollte, der erste und einzige gewesen zu sein, der den furchtbarsten Feind der Griechen erlegt habe. Als sie nun zum vierten Mal auf ihrer Runde um die Mauer an die Quellen des Skamander gelangt waren, da erhob sich Juppiter auf dem Olymp, streckte die goldene Wage vor und legte zwei Todeslose hinein,

das eine für den Peliden, das andere für den Hektor. Dann faßte er die Wage in der Mitte und wog; da sank Hektors Wagschale tief nach dem Hades zu, und augenblicklich verließ Phöbus Apollo seine Seite. Zu Achilles aber trat Athene, die Göttin, und flüsterte ihm ins Ohr: „Steh und erhole dich, während

VI

Geschichte.

ich jenem zurede, dich kühn zu bekämpfen!"

169

Achilles lehnte sich, der Göttin ge­

horchend, auf seinen eschenen Speer; sie aber trat in der Gestalt des Dei'phobus ganz nahe zu Hektor und sprach zu ihm: „Ach, mein älterer Bruder, wie be­

drängt dich der Pelide! Wohlan, laß uns standhalten und ihn abwehren!" Freudig aufblickend erwiderte Hektor: „Du warst immer mein trautester Bruder, Dei'phobus, jetzt aber muß dich mein Innerstes nur um so mehr hochachten, daß du dich, sobald mich dein Auge wahrnahm, aus der Stadt gewagt hast, während die andern alle hinter der Mauer sitzen." Athene winkte dem Helden zu und schritt ihm, die Lanze gehoben, voran dem ausruhenden Achilles entgegen. Dieser schleuderte sogleich die Lanze; doch Hektor sank ins Knie, und das Geschoß flog über ihn weg in die Erde; hier faßte es Athene und gab es, unbemerkt von Hektor, dem Peliden zurück. Mit zornigem Schwung entsandte nun Hektor auch seinen Speer, und dieser fehlte nicht; er traf mitten auf den Schild des Achilles, prallte aber davon ab. Bestürzt sah sich Hektor nach seinem Bruder Deiphobus um, denn er hatte keine zweite Lanze zu entsenden; doch dieser war verschwun­ den. Da wurde Hektor inne, daß es Athene war, die ihn getäuscht hatte. Wohl sah er ein, daß das Schicksal ihn jetzt fassen würde; er dachte daher nur darauf, wie er nicht rühmlos in den Staub sinken wollte, zog sein gewaltiges Schwert von der Hüfte und stürmte wie ein Adler einher, der auf einen geduckten Hasen oder ein Lämmlein aus der Luft herabschießt. Der Pelide wartete den Streich nicht ab, auch er drang unter dem Schilde hervor; sein Helm nickte, die Mähne flatterte, und sternhell strahlte sein Speer, den er grimmig mit seiner Rechten schwenkte. Sein Auge durchspähte den Leib Hektors, forschend, wo etwa eine

Wunde haften könne. Da fand er alles ganz von der Rüstung umhüllt; nur wo Achsel und Hals das Schlüsselbein verbindet, erschien die Kehle ein wenig entblößt. Dorthin lenkte Achilles schnell besonnen seinen Stoß und durchstach ihm den Hals so mächtig, daß die Lanzenspitze zum Genick herausdrang und der treffliche Held, auf den Tod verwundet, in den Staub sank. Run kamen aus dem griechischen Heere viele Streiter herbeigelaufen und betrachteten bewundernd den Wuchs und die hohe Bildung des toten Hektor, und mancher sprach, ihn anrührend: „Wunderbar, wie viel sanfter ist doch der Mann nun zu betasten, als da er den Feuerbrand in unsere Schiffe schleuderte!" Nach Schwab.

f.

Die Zerstörung Trojas.

Neun Tage dauerte der Waffenstillstand, den Priamus sich zur Bestattung seines SohneS erbeten hatte, und dann begann der Kampf von neuem. Fürch­ terlich wütete Achill unter den Feinden; aber schon nach wenigen Tagen ereilte auch ihn das Verhängnis, 'indem ein Pfeil ihm die Ferse, die einzig verwund­ bare Stelle seines Körpers, durchbohrte. Die Griechen ehrten ihren tapfersten

Helden durch eine Leichenfeier, bei welcher prächtige Spiele veranstaltet wurden und Thetis selbst, die göttliche Mutter des Gefallenen, die Preise verteilte. Die Rüstung Achills wurde als höchster Preis dem Odysseus zuerkannt. Darüber­ zürnte der Telamonier Ajax, so daß er in Wahnsinn verfiel und dann, seiner Thorheiten sich schämend, sich in sein Schwert stürzte.

170

VI.

Geschichte.

Als der Kampf sich erneuerte, wandte sich das Kriegsglück wieder ans die Seite der Griechen. Paris, der Urheber des ganzen Krieges und nach Hektors

Tode der oberste Anführer der Trojaner, wurde durch einen Pfeilschuß getötet, und nun beschlossen die Griechen einen Sturm auf die Mauern der Stadt. Auf Odysseus' Rath rückten sie in dichten Reihen an, die Schilde über ihren Köpfen haltend, so daß sie wie durch ein festes Dach geschirmt waren und die Steine und Pfeile, mit denen die Belagerten sie überschütteten, kraftlos herab­ fielen, ohne auch nur einen Mann zu verwunden; aber wenn sie auch ohne Ver­ lust bis an die Mauer vordringen konnten, so mißlangen doch alle ihre Versuche, den Wall zu ersteigen. So mußten sie sich denn, nachdem sie viele wackere Streiter verloren hatten, wieder zu den Schiffen zurückziehen, und da auch ein zweiter und dritter Sturru in gleicher Weise abgeschlagen wurde, so mußten sie die Hoffnung aufgeben, Troja zu erobern.

In dieser Not ersann Odysseus eine List, welche endlich die Stadt in ihre Hände lieferte. Sie erbauten aus hölzernen Balken ein gewaltiges Pferd; im Innern desselben verbargen sich Menelaus, Odysseus, Diomedes und noch zehn andere tapfere Männer; die übrigen brachen ihr Lager ab, verbrannten die Hütten und Zelte, zogen die Schiffe ins Meer und segelten ab; doch bei der Insel Tenedos, die nur einige Meilen vom Ufer entfernt ist, gingen sie vor Anker, um in der nächsten Nacht wieder zurückzukehren und sich in aller Stille den Thoren Trojas zu nähern. Unterdes stürzten die Trojaner mit lautem Jubel aus der Stadt. Welche Freude, nach zehnjähriger Bedrängnis sich endlich wieder frei zu fühlen, die Felder leer zu sehen, auf denen sich die kriegerischen Scharen herumgeschlagen hatten, alle die Stellen besuchen zu können, an denen sie so schreckliche Drang­

sale ausgestanden hatten! Eins nur beunruhigte das erfreute Volk — das selt­ same Tier von Holz, das einsam auf dem Kampfplatze stand. Einige, die noch immer nicht glauben wollten, daß die Griechen auf immer abgezogen wären, drangen darauf, man solle den Koloß ins Meer werfen oder verbrennen; die meisten aber waren überzeugt, das Bild sei von den Griechen zu Ehren der Götter errichtet, um dadurch eine glückliche Rückkehr zu erflehen, und verlangten,

daß es in die Stadt gezogen und neben dem Minerventempel ausgestellt würde. Unter denen, welche die Vernichtung des Rosses verlangten, war auch Laokoon, der Priester des Apollo und des Neptun. „Unglückliche!" rief er dem Volke zu, „kennt ihr die Griechen nicht besser? Meint ihr, sie seien abgezogen, um nie wiederzukommen? Und glaubt ihr, daß ein Geschenk von ihnen euch etwas an­ deres als Unheil bereiten kann? Entweder birgt das Tier irgendeine Gefahr, oder es ist eine Kriegsmaschine, die gegen eure Mauern verwendet werden soll. Was es auch sei, trauet dem Tiere nicht!"

Während er noch sprach, brachten einige Hirten einen Griechen mit ge­ fesselten Händen, namens Sinon, herbei, den sie im Schilf versteckt gefunden hatten. Wie ihm Odysseus aufgetragen, erzählte er den Trojanern, seine Lands­

leute hätten beschlossen, ihn dem Gott des Meeres zum Opfer darzubringen, um eine glückliche Rückkehr zu erflehen; es sei ihm aber gelungen, in der Nacht zu

VI

Geschichte.

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entfliehen und sich am Ufer im Schilf zu verbergen. Auf die Frage, was es mit dem Pferde für eine Bewandtnis habe, erwiderte er: „Wenn ihr mir das Leben schenken und mich bei euch aufnehmen wollt, sollt ihr die Wahrheit er­ fahren." Priamus versprach, ihm in Troja eine Zufluchtsstätte zu gewähren, und nun fuhr der Arglistige fort: „Wohlan, so sind die Bande, die mich bisher an mein Volk knüpften, zerrissen, und ich frevle nicht, indem ich seine Geheiinnisse verrate. Dieses Nieseupferd haben wir auf Kalchas' Rat als Weihgeschenk für die zürnende Minerva errichtet; zerstört ihr es, so ist euer Untergang gewiß; ehrt ihr es aber, indem ihr es in eure Stadt bringt und neben deut Tempel der Göttin ausstellt, so wird euch Minerva Nahm und Sieg verleihen. Damit dies aber nicht geschehe, ist dem Tiere eine so riesenhafte Gestalt gegeben worden; denn jetzt werdet ihr es schwerlich durch eure Thore hindurchbriugeu können." Die Trojaner glaubten dem Betrüger und wurden noch durch ein Wunder in ihrer Zuversicht bestärkt. Es kamen nämlich zwei ungeheure Schlangen aus dem Meere ans Land geschwommen und stürzten, ohne sich um das erschreckte Volk zu kümmern, gerade auf den Altar des Neptun zu, wo Laokoon mit seinen beiden Söhnen bei einem Opfer beschäftigt war. Hier wanden sie sich zuerst um die Leiber der beiden Knaben und bohrten ihre giftigen Zähne in ihr zartes Fleisch; dann umschlangen sie den unglücklichen Vater mit ihren furchtbaren Windungen und verschwanden, nachdem sie auch ihn getötet, in dem Tempel der

Minerva. In diesem gräßlichen Ereignis sahen alle eine Strafe der Göttin für den frevelhaften Unglauben des Priesters und zweifelten nun nicht mehr, daß das Riesentier in die Stadt geschafft werden müsse. Sogleich rissen sie einen Teil der Mauer ein, um dem Roß einen Weg zu bahnen, während andere Walzen unter die Füße desselben legten und lange Seile um seinen Hals schlangen. Als alle Vorbereitungen getroffen waren, zogen sie es im Triumph nach der Stadt. An der Mauer stockte viermal sein Lauf, und viermal dröhnte eö in seinem In­ nern wie Erz und Eisen; aber das Volk war mit Blindheit geschlagen und führte das Roß unter Jubelgesängen auf die Burg, wo es neben dem Minerventempel

ausgestellt wurde. Mitten in der allgemeinen Freude blieb nur eine Seele bekümmert: es war die Seherin Kassandra, die gottbegabte Tochter des Priamus. Sie sah im Geist das nahe Unheil voraus; mit aufgelösten Haaren stürzte sie sich unter das rasende Volk und rief mit zitternder Stimme: „Wehe mir! Ich sehe die Stadt mit Feuer und Blut erfüllt, und aus dem Leibe des Rosses, das ihr hergebracht habt, sehe ich den Tod hervorbrechen! Wehe euch allen, die ihr meinen Worten nicht glaubt; ihr seid den Rachegöttinnen geweiht, und Trojas letzte Stunde ist ge­ kommen!" Aber obschon sie noch nie ein Wort gesprochen hatte, das nicht in Er­ füllung gegangen wäre, wollte ihr doch das verblendete Volk nicht glauben; viel­ mehr überließen sich alle der Freude und brachten den Abend unter fröhlichen Ge­ lagen hin, bis sie dem Weinrausch und der Müdigkeit erlagen. Während die ganze Stadt in Schlaf begraben lag, kehrten die Griechen von Tenedos zurück und landeten vorsichtig an dem bekannten Gestade. Wohlbewaff-

172

VI.

Geschichte.

net schlichen sie sich an das Thor und fanden die Flügel offen; denn Odysseus und seine Genossen hatten schon das Innere des Pferdes verlassen, die Wächter auf der Mauer niedergestoßen und das Thor geöffnet. In kurzer Zeit waren die Griechen durch alle Straßen der Stadt zerstreut; bald leuchteten ihnen die Flammen der brennenden Dächer, und nun erhob sich aus tausend Kehlen ein entsetzliches Geschrei. Priamus und seine noch übrigen Söhne wurden an dem Altare, zu dem sie sich geflüchtet, niedergestoßen; die Männer versuchten noch hier und da ein kurzes Gefecbt; aber ungeordnet, wie sie waren, mußten sie unterlie­ gen. Nur wenige entkamen durch die Flucht, unter diesen Äneas, der seinen

greisen Vater Anchises auf seinen Schultern aus dem Getümmel trug; die meisten

wurden niedergemacht; die Weiber, auch die Königin, die weise Kassandra und die edle Andromache, Hektors trauernde Wittwe, wurden von den Siegern als Sklavinnen fortgeschleppt. Bald war die ganze Stadt ein Aschenhaufen. Helena, die alles Unglück angestiftet hatte, erhielt Verzeihung von Menelaus und wurde von ihm wieder als Gattin anerkannt. Mit reicher Beute beladen, traten die Griechen die Rückreise an; aber noch großes Elend war ihnen auf ihrer Heimkehr vorbehalten. Heftige Stürme zerstreuten ihre Flotte; ein Teil der Schiffe ver­ sank oder wurde an Klippen zertrümmert, während andere an ferne Küsten ver­ schlagen wurden; alle diejenigen aber, welche nach langen Drangsalen die Heimat erreichten, erwartete hier mannigfaches Mißgeschick. Dielitz.

7. a.

Odysseus von Ithaka.

Odysseus bei den Cyklopen.

Zu den griechischen Helden, welche nach der Eroberung TrojaS lange Jahre auf dem Meere umhergetrieben wurden, ehe sie ihre Heimat wiedersahen, gehörte Odysseus, König von Ithaka. Seine Irrfahrten und Leiden hat derselbe treffliche Sänger, der in der Ilias die Thaten der Griechen vor Troja beschreibt, in einer

anderen ebenso schönen Dichtung, der Odyssee, besungen. Odysseus hatte mit seiner aus zwölf Schiffen bestehenden Flotte die südliche Spitze von Griechenland erreicht, als sich ein entsetzlicher Sturm erhob, der ihn wieder weit ins offene Meer Hinaustrieb. Nachdem die Fahrzeuge neun Tage lang umhergeworfen worden waren, landete er endlich am Ufer der Lotophagen. Dieses Volk nährte sich blos von Lotosfrüchten, die so süß waren, daß jeder, der sie einmal gekostet hatte, das Land nicht wieder verlassen wollte und Heimat und Freunde darüber vergaß. Mit großer Mühe gelang es Odyffeus, seine Gefähr­ ten wieder auf die Schiffe zu bringen; dann lichtete er die Anker und kam nach einigen Tagen an eine kleine, unbewohnte Insel zunächst der sizilischen Küste, wo er des himmelhohen Ätna ansichtig ward, aus welchem unaufhörlich eine schwarze Rauchwolke emporstieg. Dieser wunderbare Anblick veranlaßte ihn, mit einem Teil seiner Gefährten nach der großen und fruchtbaren Insel hinüberzuschiffen. Als ein kluger und vorsichtiger Mann unterließ er jedoch nicht, einen Schlauch köstlichen Weins mit hinüberzunehmen; auch verbarg er, als er gelandet war, sein Schiff in einer versteckten und wenig zugänglichen Bucht. Nur zu bald zeigte

VI.

Geschichte.

173

sich, daß er in beiden Stücken sehr weise gehandelt hatte; denn er befand sich in dem Lande der Cyklopen, ungeschlachter Riesen mit einem einzigen Auge in der Mitte der Stirn, die weder Ackerbau, noch Gesetze kannten und Götter und Men­ schen nicht scheuten. In der Nähe des Ufers erblickten Odysseus und seine Ge­

fährten eine gewaltige Höhle, die rings mit einem Walle von ungeheuren Fels­ blöcken umbaut war und, wie sie zu ihrem Unglück zu spät erfuhren, einem der wildesten unter diesen Riesen, dem Polyphem, zur Wohnung diente. Sie traten in dieselbe ein und waren eben beschäftigt, sich darin umzuschauen, als der fürch­ terliche Eigentümer erschien. Nachdem er seine Schafe und Ziegen hineingelrie­ ben und den Eingang der Höhle mit einem Stein verschlossen hatte, den fünfzig Pferde nicht von der Stelle bewegt haben würden, zündete er ein großes Feuer an, um seine Abendmahlzeit zu bereiten. Bei dem hellen Schein der auflodern­ den Flamme gewahrte er gar bald die Fremdlinge, welche sich zitternd in den Winkeln der Höhle zu verbergen suchten. Auf seine Frage, wer sie seien, und ob nicht Raubsucht sie zu ihm geführt habe, erzählte ihm Odysseus, daß sie vom Sturm hierher verschlagen worden seien; dagegen hütete er sich, auf die weitere Frage des Ungetüms, wo denn ihr Schiff sich befinde, die richtige Antwort zu geben, da er wohl me-rkte, daß der Cyklop keine andere Absicht hatte, als sich des­ selben zu bemächtigens Er gab vielmehr vor, daß sein Fahrzeug an den Felsen der Küste zerschellt sei und er mit den Seinigen nur das nackte Leben gerettet habe; schließlich bat er um die Gastfreundschaft des Riesen. Allein hohnläcbelnd ergriff dieser statt alller Antwort zwei der Gefährten des unglücklichen Helden, schmetterte sie gegen den Boden der Höhle und ließ sich, nachdem er die Körper­ zerlegt hatte, diese abscheuliche Kost vor den Augen der halberstarrten Griechen wohlschmecken. Hierauf streckte er sich zum nächtlichen Schlummer nieder. Unser Held und seine Gefährten hatten jetzt alle Muße, das Entsetzliche ihrer Lage zu erkennen. Allerlei Mittel zur Rettung wurden ersonnen, aber keins er­ schien ausführbar, bis endlich Odysseus selbst einen Plan erdachte, der sie, wenn er gelang, aus den Klauen des Ungeheuers befreien mußte. Sobald der Cyklop am andern Morgen mit seiner Herde die Höhle verlassen und mit dem ungeheu­ ren Steine verschlossen hatte, wurde zur Ausführung geschritten. Aus der Zahl der noch übrigen Gefährten — denn ihrer zwei hatten dem Niesen wiederum zum Frühstück dienen müssen — wählte Odysseus die vier beherztesten aus. Nachdem

er ihnen mitgeteilt hatte, daß er die Absicht habe, den Riesen seines einzigen Auges zu berauben, um dann ungesehen aus der Höhle entfliehen zu können, spitzte er mit ihrer Hülfe einen Baum, den Polyphem als Keule zu benutzen pflegte, an dem einen Ende zu und verbarg ihn unter dem Mist. Jetzt erschien der Riese. Mit verstellter Freundlichkeit nahte sich ihm Odysseus und reichte ihm aus dem mitgebrachten Schlauche eine Kanne Wein. Das ungewohnte süße Getränk mundete dem Cyklopen; er begehrte und erhielt mehr und immer mehr und geriet bald in die heiterste Laune. „Ha," rief er vergnügt, „das ist ein herrliches Getränk; aber sage mir nun, wie du heißest, damit ich dich nach Ge­ bühr ehren kann." „Ich habe einen seltsamen Namen", erwiderte Odysseus. „Vater und Mutter und alle Menschen nennen mich Niemand." „Nun, Freund

VI.

174 Niemand,"

Geschichte.

fuhr der Cyklop fort, „zum Dank für daS schöne Getränk will ich Und mit diesen Worten leerte er abermals eine Kanne

dich zuletzt verzehren." des süßen Getränks.

Es währte nicht lange, so äußerte der Wein seine betäubende Wirkung in so vollem Maße, daß der Cyklop in tiefen Schlaf verfiel. Nun war der erwünschte Augenblick gekommen; rasch entzündeten Odysseus und seine vier auserwählten Gehülfen den zugespitzten Pfahl an den glühenden Kohlen und senkten ihn dann in das vom Schlummer geschlossene Auge des Niesen. Mit wildem Gebrüll fuhr dieser von seinem Lager auf und erfüllte die Luft mit seinem Geschrei. Aus dem Schlafe gestört, eilten die Cyklopen aus den benachbarten Höhlen herbei, indem sie durch den verschlossenen Eingang in die Höhle hineinriefen, was ihm denn sei, und wer ihm etwas zu Leide gethan hätte. Polyphem antwortete: „Niemand will mich morden, Niemand bringt mich um!" Als die Cyklopen dies hörten, sagten sie: „Nun wenn niemand dir etwas zu Leide thut, warum schreist du denn so? Du bist wohl krank oder nicht bei Sinnen!" Und mit diesen Worten zogen sie wieder ab. Odysseus und seine Gefährten hatten sich unterdessen in den äußersten Win­ keln der Höhle versteckt, während der Riese vergebens suchte, einen oder den an­ dern von ihnen zu erhaschen, um seine Rache an ihm zu kühlen; aber obschon es ihnen gelang, seinen Nachforschungen zu entgehen, so war damit doch erst ein Teil ihrer Aufgabe gelöst und das Schwierigste, die Befreiung aus der Höhle des Ungeheuers, noch zu bewerkstelligen. Dies schien unmöglich; denn als der Riese am Morgen seine Herde durch die halbgeöffnete Thür hinausziehen ließ, fühlte er sorgfältig mit den Händen umher, damit keiner der Gefangenen ihm bei dieser Gelegenheit entfliehen könne; aber auch jetzt wußte des Helden Scharf­ Er band jeden seiner Gefährten und zuletzt sich selbst unter den sinn Rat.

Bäuchen von je dreien der stattlichen Widder fest, welche einen Teil des Vieh­ standes des Cyklopen ausmackten, und als dieser am nächsten Morgen seine

Herde wieder auf die Weide schickte, sahen die Hartgeprüften mit Entzücken das langentbehrte Tageslicht wieder und freuten sich der wiedererlangten Freiheit. Ohne Verzug und in aller Stille brachten sie die Herde in ihr Schiff, stiegen ein und stießen mit leichtem Herzen vom Lande. Als das Schiff sich eine Strecke vom Ufer entfernt hatte, konnte Odysseus es sich nicht versagen, dem Riesen mit lauter Stimme seine Schandthat vorzuwerfen und sich ihm unter seinem wahren Namen zu erkennen zu geben. In seiner Wut ergriff der Cyklop ungeheure Felsenstücke und schleuderte sie mit aller Kraft seines gewaltigen Armes nach der Richtung, woher Odysseus' Stimme tönte; doch die Felsmassen, die sonst das gebrechliche Fahrzeug unfehlbar zerschellt hätten, stürzten vor oder hinter dem­ selben in das hoch aufspritzende Meer, und Odysseus gelangte wohlbehalten nach der kleinen Insel, wo seine zurückgelassenen Gefährten ihn und seine Begleiter mit lautem Jubel empfingen. Dielitz.

VI.

Geschichte.

175

b. Odysseus bei den Phäaken. Mit der Morgendämmerung erhob sich der König Alcinous und sein ihm

noch unbekannter Gast (Odysseus) vom Lager. Beide gingen auf den Markt und setzten sich auf zwei behauene Steine nieder, dergleichen ringsumher für die phäakischen Fürsten aufgestellt waren, wenn sie sich zu einer allgemeinen Berat­ schlagung versammelten. Noch war niemand da; aber bald kamen die Fürsten in Scharen und erfüllten die Sitze, während das Volk sich neugierig durchein­ anderdrängle, den Fremdling zu sehen, über dessen Geleitung jene beraten wollten. Er aber stand wie ein Gott unter ihnen; denn Athene hatte ihm eine riesige Heldengestalt und feurige Jugend verliehen, damit er Bewunderung und Liebe bei den Phäaken erweckte. Nachdem sie alle versammelt waren, nahm der König das Wort. „Hört mich an," sprach er, „ihr erlauchten Fürsten der Phäaken! Dieser Fremdling hier (ich kenne ihn nicht und weiß nicht, ob er vom Morgen oder vom Abend her zu uns gekommen ist), hülfeflehend kam er in mein Haus und begehrt von uns weilergeleitet zu werden. Also auf, ihr Jünglinge, versammelt euch, zweiundfünfzig an der Zahl, zieht ein gutbewährtes Schiff ins Meer und besorget alles, was dazu gehört! Dann kommt in meinen Palast, da will ich euch alle mit Speise und Trank versorgen! Ihr aber, ihr Fürsten, er­ füllt mir eine andere Bitte! Folgt mir in meinen geräumigen Saal, damit wir den Fremdling noch einmal würdig bewirten; und daß unserer Freude auch das Lied nicht fehle, so rufet den göttlichen Sänger Demodokus herbei!" Als nun das Mahl bereitet war, erschien der abgeschickte Diener mit dem alten Sänger, die Fürsten im Saale zu belustigen. Demodokus war ein blinder Mann, aber sein Gedächtnis war voll von herrlichen Geschichten, die sein be­ redter Mund entzückend vorzutragen wußte, indes seine Hand kräftig die Saiten

der Phorminx rührte.

Der Herold führte ihn sanft am Arme herbei, stellte ihm

mitten im Kreise einen Sessel hin an eine Säule des Saales, und über seinem Haupte hängte er die Phorminx an einem Nagel auf, lenkte auch freundlich dem blinden Manne die Hand dahin, daß er nachher sie finden könnte. Dann setzte er einen Tisch mit Fleisch vor ihn hin, holte den Brotkorb herbei, mischte Wein für ihn und bediente so auch alle übrigen Gäste. Als nun die Eßlust der Schmau­ senden gestillt war, griff der Sänger nach seiner Phorminx, das Spiel zu be­ ginnen; und nun erscholl sein Lied wie ferner Schlachtruf und Schwerterklirren und donnernder Hufschlag zur Feier des Trojanerkrieges. Alles lauschte be­ geistert den Klängen, die tief in jedem Griechenherzen wiederhallten. Da wandte sich sein Gesang, und nun pries er den Streit zweier Helden, deren Ruhm vor­ allen groß war, des Achilles und Odysseus. Das traf unseren Helden wie Schwertstreich. Die Erinnerung riß alle Wunden seines Herzens wieder auf; er zog den Mantel über das Haupt und verbarg sein Gesicht, daß die Phäaken seine Thränen nicht sähen. Erst als der Sänger schwieg, trocknete er sich schnell die Thränen und nahm den Mantel von seinem Haupte; aber sobald der Sänger wieder anhub, stürzten auch die Thränen wieder hervor. Odysseus schluchzte.

Das hörte Alcinous, der ihm zunächst saß; aber schonend, als merke er's nicht,

176

VI.

Geschichte.

sprach er bei der nächsten Pause des Gesanges zu seinen Gästen: „Hört, Freunde, ich denke, jetzt hat Mahl und Gesang uns alle sattsam erfreuet. Laßt uns nun hinausgehen und Kampfspiele versuchen, damit unser Gast auch darin die Geschicklichkeit der Phäaken sehe und bewundere und seinen Freunden zu

Hause davon erzähle!" Sogleich standen die Schmausenden alle auf und folgten dem Könige hin­

aus. Auch der blinde Sänger ging mit, nachdem ein treuer Diener ihm seine Phorminx abgenommen und an den Nagel gehängt, ihn selbst aber bei der Hand gefaßt hatte. Der Markt füllte sich wieder mit neuem Getümmel. Die Fürsten setzten sich, ringsumher stand das Volk, und die Jünglinge, welche ihre Kunst im Ringen, im Faustkampf, im Laufen und Werfen zeigen wollten, traten in den weiten Kreis hervor. Zuerst versuchten sich drei Söhne des Königs im Wettlauf, und der jüngste trug den Preis davon. Dann traten die Ringer auf, unter denen der tapfere Euryalus alle besiegte. Hierauf ließen sich die Sprin­ ger sehen, auf sie folgten die Scheibenwerfer, den Beschluß machten die Faust­ kämpfer. Daraus selber auf höhnische Weise zum Kampfe von dem übermütigen Jünglinge Euryalus aufgefordert, nahm Odysseus die schwerste der metallenen Scheiben, welche zum Werfen dalagen, schwang sie am Riemen einige Male im Wirbel herum, und nun schleuderte er sie hoch in die Luft, daß sie weit, weit hinter den Zeichen der anderen niederfiel. Da lief einer der Zuschauer hin nnd steckte an dem Orte, wo die Scheibe liegen geblieben war, einen Pfahl zum Zeichen ein, und als er wieder zurückkam, rief er laut: „Das Mal findet wohl ein Blinder heraus, so weit hat es die anderen hinter sich gelassen. In dem Kampfe kannst du sicher sein, fremder Mann, darin wird dir's keiner gleichthun!" Und die Phäaken schwiegen alle; keiner getraute sich mehr, den Helden heraus­ zufordern. Der König aber schlug in der Versammlung vor, jedes der zwölf phäakischen Häupter solle dem Gast ein Geschenk an Golde und ein schön ge­ wirktes Ober- und Unterkleid geben; dazu wolle er selbst noch ein übriges thun, und so wolle man ihn fortsenden. Alle stimmten dem Könige bei, und jeder schickte einen Herold nach Hause, die Geschenke herbeizuholen. Indes war es Abend geworden. Die Diener kamen mit den Geschenken auf dem Markt an, legten sie alle zusammen und trugen sie in des Königs Wohnung. Dahin folgte auch die ganze Schar, und die Fürsten nahmen da­ selbst die rings im Saale hingestellten Stühle ein. Als der Hunger gestillt war,

wandte sich Odysseus an den Sänger und bat ihn, da er doch alle Abenteuer aus dem Trojanerkriege wisse, noch das eine von dem hölzernen Pferde zu singen. Da sang der Alte zum Klange der Phorminx die seltsame Märe, nicht ahnend, daß der Held, dessen List er feierte, an seiner Seite lauschend saß; aber Odyffeus fand, daß der Mann alles nach der Wahrheit schilderte, als wäre er selber zu­

gegen gewesen, und der treffliche Gesang erschütterte abermals sein Herz, daß er nicht ruhig aufsehen konnte wie die anderen Gäste, sondern oft seufzte und sich verstohlen die Thränen in den Augen trocknen mußte. Alcinous bemerkte es wieder, und mit derselben Schonung wie das erste Mal gebot er dem Sän­

ger Stillschweigen und fragte nun erst den Gast, wie er heiße, und welchen

VI.

Geschichte.

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Eltern und welchem Lande er angehöre. Alle saßen in stummer Erwartung umher und sahen den Fremdling an. „Ja," fing dieser an, „herrlich ist es hier­ bei euch, und eine Wonne ist es, den Sänger zu hören und sein unsterbliches Lied. Schöneres kenne ich nicht, als wenn die Reihen der Gäste rings im Saale schmausend sitzen, der Herold von einem Tische zum anderen geht, die Becher vollzuschenken, und nun der Sänger herrliche Lieder singt von den Groß­

thaten alter und neuer Zeit, daß alle Hörer sich freuen. Aber ihr fragt mich jetzt um mein jammervolles Schicksal. Ach, das wird mich noch trauriger machen! Was soll ich doch zuerst, was soll ich zuletzt euch erzählen? Denn die himm­ lischen Götter haben viel Elend auf mich gehäuft. Mein Name mag das erste sein, damit ihr mich kennet und mich als euren Gastfreund im Andenken be­ haltet, wie weit uns auch das Schicksal trennen mag. Ich bin Odysseus, der Sohn des Laertes, durch manche That der Welt bekannt; der Ruhm meiner Klugheit ist über die Erde verbreitet." Die Phäaken erstarrten vor Verwunderung, und der alte Sänger beklagte den Verlust seiner Amgen, daß er den Mann nicht sehen könne, dessen Helden­ thaten er mit eigenen» Entzücken so oft gesungen hatte, und der jetzt plötzlich leibhaftig vor ihm saßl. Nach Becker. c.

Odysseus und Telemach.

Das Schiff der Phäaken glitt über die Fläche des Meeres leicht wie ein Vogel; Odysseus aber sauk in tiefen, tiefen Schlummer. Der tapfere Held, der so viele große Thaten verrichtet, so viele Leiden erduldet hatte, da lag er nun gleich einem Toten und schlief so ruhig, als ob all das Leiden nur ein Traum gewesen wäre. Eben ging der Morgenstern auf, als das Schiff in einer Bucht fenden armen Decke, packten

von Ithaka landete. Selbst der starke Stoß des auf den Kiessand lau­ Schiffes konnte den Helden nicht ermuntern, und die Jünglinge, die dem Dulder seinen Schlaf von Herzen gönnten, faßten leise die Zipfel der auf der er ruhte, und trugen ihn sanft ans Land. Auch die Geschenke sie schweigend aus und stellten sie neben ihn unter einen Ölbaum, und

nun setzten sie sich wieder in ihr Schiff und steuerten fröhlich nach Hause. Unterdessen erwachte Odysseus auf dem feuchten Boden; er sah sich um. Ein trüber Nebel umhüllte rings die wilde Gegend, und der Arme erkannte sein Vaterland nicht. Er wankte trostlos am Gestade umher und erforschte die Gegend. Da kam Athene in der Gestalt eines schönen Hirtenknaben auf ihn zu, einen Wurfspieß in der Hand und Sohlen an den Füßen. Freudig erblickte Odysseus

den Knaben, und mit unsäglichem Entzücken erfuhr er von ihm, daß er in dem

lieben, lange ersehnten Vaterlande sei. Dann gab sich Athene dem Helden zu erkennen und ließ sich mit ihm unter einem alten Ölbaume nieder, ferneren Rat mit ihm zu pflegen. So sehr sie ihm ihren Beistand versprach, so dringend empfahl sie ihm doch Vorsicht, weil der Freier über hundert wären. Vor allen Dingen, meinte sie, dürfe niemand etwas von seiner Ankunft ahnen, bevor er nicht unter der Hand seine Freunde kennen gelernt und eine Anzahl zuverlässiger Anhänger heimlich auf seine Seite gebracht hätte. Darum wollte sie seine GeDielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb. 5. Au ft. 12

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VI.

Geschichte.

statt umwandeln, damit er allen unkenntlich sei, und ihm einen Anzug verschaffen, in welchem niemand auf der ganzen Insel den großen König erkennen sötte. Sie berührte ihn darauf sanft mit dem Stabe, und sogleich schrumpfte das schwellende Fleisch um die schönen Glieder zusammen; es verhärtete sich die Haut in Run­ zeln wie bei einem Greise, der stolze Nacken bog sich, das braune Haar fiel aus, und blöde wurden die feurigen Augen, die sonst von Anmut strahlten. Aus den langen, glänzenden Gewändern, die in weiten Falten seinen Leib umschlangen, wurde ein grober, häßlicher Kittel, zerlumpt und garstig eingeräuchert, und als

Mantel hängte sie ihm ein altes, schäbiges Hirschfell um. Den Bettleraufputz zu vollenden, verehrte sie ihm noch einen schmierigen, hinten und vorn geflickten Ranzen an einem geflochtenen Tragbande und gab ihm einen zackigen Knittel in seine Hand. In diesem Aufzuge befahl sie ihm, den Sauhirten aufzusuchen, der einer der treuesten Anhänger des königlichen Hauses und ein Erzfeind der Freier­ sei, und von dem er bald mehr erfahren werde; sie wolle unterdessen dem jungen Telemach entgegeneilen, welcher soeben von Sparta zurückkehre, und dem die Freier in einem Hinterhalte zu Schiffe auflauerten; sie werde deren Anschläge vereiteln und hoffe, den Jüngling bald seinem Vater freudig in die Arme zu führen. So trennten sie sich, und Odysseus erklomm den rauhen Pfad über die waldbewachsenen Berghöhen nach der Richtung hin, wo ihm Athene die Wohnung des braven Sauhirten Eumäus bezeichnet hatte. Am nächsten Morgen kam auch der unterdes glücklich gelandete Telemach zu dem Hirten, den Odysseus schnell gefunden hatte, und wurde von ihm aufs herzlichste begrüßt, während der unbekannte Bettler, dem das Herz beim Anblick des schönen Sohnes mit freudigen Schlägen klopfte, seine Freude niederzwang. Mit der Ehrerbietung eines Armen stand er von seinem Lager auf, seinen Platz dem Fremden einzuräumen; aber der bescheidene Telemach hielt ihn zurück und sprach: „Bleib sitzen, Fremdling, ich finde wohl sonst noch ein Plätzchen. Eumäus wird mich schon unterbringen." Odysseus setzte sich wieder, und der Sauhirt machte sogleich einen neuen Sitz von Reisig und Ziegenfellen zurecht, welchen Telemach einnahm. Dann holte er die Überreste der letzten Mahlzeit herbei und

reichte dem Telemach zu essen, mischte auch Wein für seine Gäste und bot frei­ gebig dar, was er hatte. Während des Mahles fragte der Jüngling den Sau­ hirten, was er da für einen Gast bekommen habe, und wie derselbe hier ange­ langt sei. „Er sagt, er stamme aus Kreta und habe viele Reisen gemacht und

auf denselben viel Ungemach erduldet; nun harret er auf weitere Entsendung; ich übergebe ihn dir, zumal ich ihn längst auf deine Freundlichkeit vertröstete," erwiderte der Hirt und entfernte sich, von Telemach zu seiner Mutter mit der Nachricht abgeschickt, daß er glücklich von Pylos zurückgekehrt sei. Noch sah ihm Odysseus nach, als ihm durch die halbgeöffnete Pforte die

Gestalt eines schönen, schlanken Mädchens erschien, die ihm herauszukommen winkte. Die Hunde krochen schweigend in die Winkel; Telemach aber gewahrte die Erscheinung nicht. Odysseus dagegen ahnte sogleich die Nähe seiner gött­ lichen Freundin, ging unter einem Vorwande zur Thür hinaus, wurde von ihr

aufgefordert, sich nun seinem Sohne zu entdecken, und sogleich in den edlen

VI.

beschichte.

179

Odysseus verwandelt. Mit königlicher Würde trat er in die Hütte, der kurz zu­ vor in Lumpen hinausgegangen war. Telemach staunte und sah ihn zweifelhaft, ja bange an; er glaubte, ihn versuche ein Gott. „Fremdling," redete er ihn mit ungewisser Stimme an, „wie erscheinst du mir jetzt so anders in Kleidung und Gestalt! Ha, ich ahn' es, mir naht ein Gott. O schone unser, heiliges Wesen, und sei uns gnädig! Gern wollen wir dir Geschenke und Opfer bringen!" „Sohn!" rief Odysseus mit funkelnden Augen und schloß ihn freudig in die Arme, „nein, ich bin kein Gott; wie wär' ich Unsterblichen ähnlich? Dein Vater bin ich, um den du so lauge trauerst, um den du so viele Schmach von den trotzigen Männern ertragen hast! Ich bin Odysseus!" Jetzt rannen die lange verhalte­ nen Thränen und mischten sich mit unaufhörlichen Küssen. Ja, in diesem Augen­ blick war Odysseus ein Gott; denn des Wiedersehens himmlische Freude, des Wiedersehens Freude in dem lange ersehnten Vaterlande durchschauerte alle seine Glieder. Vergesien war in diesem Augenblicke der Umarmung aller Kummer der vergangenen Jahre, alle Jrrsale und Schiffbrüche, aller Schmerz der oft ge­ täuschten Hoffnung; verschwunden auch war die Besorgnis der noch zu bestehen­ den Wagnisse. Nach Becker. d.

Der Tod der Freier.

Sobald der Morgen des verhängnisvollen Tages graute, an dem die Freier vernichtet werden sollten, füllten sich die weiten Hallen der Königsburg mit den ungebetenen Gästen. Es währte nicht lange, so begann abermals der Schmaus,

und Odysseus, den Telemach an einen besonderen Tisch gesetzt hatte, war vielen Mißhandlungen durch die übermütigen Freier ausgesetzt. Plötzlich erschien Pe­ nelope, von ihren Dienerinnen begleitet, in der Halle und sagte: „Wohlan, ihr Freier, ich bin bereit, einem von euch als Gattin zu folgen. So beginnet denn den Wettstreit, damit ich erfahre, wer unter allen meine Hand am meisten ver­ dient. Hier ist der Bogen meines erhabenen Gemahls: ihm war es ein Leichtes, einen Pfeil durch die Löcher von zwölf hintereinander aufgestellten Äxten hin­ durchzuschnellen. Wer von euch dies vermag, dem will ich morgen als Gemahlin folgen!" Während sie. dies sprach, brachte der Sauhirt den Bogen und die Pfeile her­ bei; Telemach aber schlug die Äxte hintereinander in den Boden und forderte dann die Freier auf, den Wettstreit zu beginnen.

Einer nach dem andern ver­

suchte nun den gewaltigen Bogen zu spannen; doch so sehr sie sich auch anstrenglen, so wollte es doch keinem gelingen, obgleich sie ihn zuletzt noch mit Fett ein­ rieben und, nm ihn geschmeidiger zu machen, über das Feuer hielten. Während dies in der großen Halle vorging, war Odysseus selbst nicht un­ thätig. Er nahm den treuen Sauhirten und den Aufseher der Rinderherden, Philötius, der seinem Hause nicht minder ergeben war, beiseite, gab sich ihnen mit Hülse der Göttin zu erkennen und befahl ihnen, die nach den hinteren Ge­ mächern führende Thür und die äußere Pforte des Hauses sorgfältig zu verschlie­ ßen. Darauf kehrte er in die Halle zurück, wo die Freier, mißmütig und unge­ halten über die Vergeblichkeit ihrer bisherigen Anstrengungen, bereits beschlossen

12*

180

VI.

Geschichte.

hatten, weitere Versuche bis zum anderen Tage aufzusparen.

Jetzt trat Odysseus

vor und bat sich die Gunst aus, auch seinerseits einen Versuch machen zu dürfen, den Bogen zu spannen. Die Freier waren entrüstet über diese unverschämte Bitte; Penelope aber befahl, ihm den Bogen zu reichen, versprach ihm für den

Fall, daß ihm das Probestück gelänge, ein neues Kleid, einen Speer und ein Schwert und verließ mit ihren Dienerinnen die Halle. Odysseus ergriff den Bogen; mit leichter Mühe spannte er die gewaltige Waffe, und zischend flog der Pfeil durch die zwölf Ringe. Jetzt aber hatte die große Stunde geschlagen; der Held stand in seiner wahren Gestalt vor seinen Feinden und rief: „Dieser Wettkampf wäre vollendet; nun aber wähle ich mir ein anderes Ziel, das noch kein Schütze getroffen hat!" Und mit diesen Worten schoß er dem Antinous, dem übermütigsten unter den Freiern, einen Pfeil durch die Gurgel, daß er den Becher aus der Hand fallen ließ und, zu Boden sinkend, den Tisch nebst Wein und Speisen umstürzte. Roch hatten die Freier nicht Zeit gehabt, auch nur zu überlegen, was ihnen bevorstand, so lag schon ein zweiter, von einem Pfeil durchbohrt, entseelt am Boden, und im nächsten Augenblick hauchte ein dritter seinen Geist aus. Schuß auf Schuß stürzten nun die Freier. Auf den Wink des Helden waren ihm Telemach und die beiden treuen Hirten, mit Schwertern und Wurf­ spießen bewaffnet, zur Seite gesprungen, und immer blutiger wurde die Metzelei. Doch nun ermannten sich auch die Angegriffenen; ihrer Übermacht sich bewußt,

stürmten sie mit ihren Schwertern auf ihre vier Gegner ein, und fürchterlich drohte das Blatt sich zu wenden, als der listige Ziegenhirt, den Ort erspähend, wo die Waffen verborgen waren, mit einer Ladung Wurflanzen in der Halle er­ schien. Zwanzig Speere waren jetzt auf einmal gezückt, die Brust des Helden zu durchbohren; Athene aber erschien in Mentors Gestalt und fing mit ihrem unsichtbaren Schilde die tödlichen Geschosse auf, welche auf die kleine Schar ge­ schleudert wurden. Bald war das grausige Geschäft vollbracht; unter der ganzen Schar hatte die Rache des erzürnten Helden auf Telemachs Fürbitte nur zwei

Männer verschont, gezwungen an den Odysseus und Halle, schafften die

den Sänger Phemius und den Herold Medon, welche nur Gelagen der Freier teilgenommen hatten. Telemach reinigten jetzt mit den beiden Hirten die blutige Leichname hinaus, ließen Stühle und Tische abscheuern und

durchräucherten das Haus mit Schwefel. Penelope, über welche Athene während des Gemetzels einen wohlthätigen Schlummer ausgegossen hatte, erfuhr durch die Schaffnerin, was geschehen war, und als nun der geliebte Gemahl, einem Gotte gleich, vor ihr erschien, da sank sie ihm unter heißen Thränen in die Arme. Auch der vielgeprüfte Held weinte vor Freuden, und dann erzählte er der treuen Gattin von den zahllosen Leiden, die er während der langen Trennung erduldet

hatte. Am andern Tage suchte Odysseus seinen Vater Laertes in seinem Landhause auf. Der Greis, der bisher aus Gram um seinen geliebten Sohn das Gewand eines Knechtes getragen hatte, legte nun wieder seinen Purpurmantel an und kehrte mit ihm in seine Königsburg zurück. Inzwischen hatten die Angehörigen

VI.

Geschichte.

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der erschlagenen Freier das Volk aufgewiegelt und rückten gegen die Burg vor, um an den Mördern ihrer Söhne und Brüder Rache zu nehmen; Athene aber in Mentors Gestalt besänftigte sie, und bald war die Eintracht zwischen dem König und dem Volke wiederhergestellt. DieNtz.

8. a.

Die Perserkriege.

Der Aufstand der ionischen Griechen.

Athen war, seit es durch Solon ungefähr 600 Jahre vor Christo neue Ge­ setze und Staatseinrichtungen erhalten hatte, der gebildetste und reichste Staat

Griechenlands geworden. Durch Solon hatten alle Bürger Anteil an der Staats­ verwaltung erhalten; er hatte die Erziehung der Jugend so eingerichtet, daß diese zwar einen zum Kriege tüchtigen und kräftigen Körper bekam, zugleich aber auch an Bildung des Geistes allen Griechen überlegen war. Er hatte freiwillig seine

Vaterstadt verlassen, um nicht gezwungen zu werden, an seinen Gesetzen etwas zu ändern. Zwar machte sich während seiner Abwesenheit einer seiner Ver­ wandten, Pisistratus, zum Tyrannen oder unumschränkten Herrn von Athen, aber von den Söhnen desselben wurde der eine, Hipparch, ermordet, der andere, Hippias, bei einem Aufstande des freiheitsliebenden Volkes vertrieben. Er floh zum Persenkönig Darius, gerade als dieser damit beschäftigt war, ein Heer gegen die Athener abzuschicken. Die Veranlassung dazu war folgende. Als Cyrus, der Gründer deö mächtigen Perserreichs, Kleinasien eroberte, mußten auch die griechischen Kolonieen, welche an der Küste dieser Halbinsel lagen, sich ihm unterwerfen. Aber nur mit Unwillen ertrugen diese reichen und blühenden, von einem gebildeten und freiheitsliebenden Volke bewohnten Städte die Herrschaft eines Barbaren. Überdies wurden sie meist von Tyrannen re­

giert, welche Darius über sie gesetzt hatte. Einer von diesen, namens Histiäus, welcher zu Milet herrschte, hatte sich um den König sehr verdient gemacht, indem er bei einem Kriege gegen die Scythen ihn selbst und das ganze Heer durch seine Treue gerettet hatte. Dafür gab ihm Darius ein Stück Land in Thrazien, das fruchtbar und an Silberbergwerken reich war. Als aber hier seine Macht außer­ ordentlich zunahm, wurde der König besorgt und berief ihn an seinen Hof, damit er dort als sein Freund und Ratgeber bliebe. Ungern verließ Histiäus sein Vaterland und dachte ohne Unterlaß darüber nach, auf welche Weise er dorthin zurückkehren könnte; aber alle seine Schritte wurden bewacht, und nicht einmal durch Briefe durfte er sich mit seinen Landsleuten in Verbindung setzen. Da sah er wohl ein, daß nur eine Empörung derselben ihn aus seiner Haft befreien würde; denn in diesem Falle hoffte er vom Könige selbst zur Unterdrückung des

Aufstandes hingeschickt zu werden. Um nun die Griechen zur Empörung auszu­ reizen, ließ er einem Sklaven das Haar abscheren und schrieb dann auf den Kopf desselben einen Brief an seinen Vetter Aristagoras, der seit seiner Entfernung in Milet regierte. Als dem Sklaven das Haar wieder gewachsen war, schickte er ihn zu seinem Vetter mit der Aufforderung, dieser solle ihm das Haar ab­ scheren und den Kopf besehen.

182

VI.

Geschichte.

Auf diese Weise erfuhr Aristagoras den Plan des Histiäus. Er war, wie alle ionischen Griechen, schon längst des persischen Joches überdrüssig und ging daher sogleich nach Europa hinüber, um die Griechen zur Unterstützung ihrer asiatischen Landsleute aufzufordern Zuerst wandte er sich nach Sparta; aber so viel er auch von den Reichtümern der Perser erzählte und von der unermeß­ lichen Beute, die dort zu machen wäre, er konnte den König Kleomenes nicht zur Teilnahme an dem Kriege bewegen. Er versuchte darauf, ihn zu bestechen, und bot ihm zehn, dann zwanzig, endlich sogar fünfzig Talente — eine bedeutende

Summe, da ein Talent über tausend Thaler wert war. Da rief die kleine Tockter des Königs, die zugegen war: „Vater, der fremde Mann wird dich noch bestechen, wenn du nicht forlgehst." Der König hatte seine Freude an den Worten des Kindes, ging in ein anderes Gemach, und Aristagoras mußte unverrichteter Sache Sparta verlassen. Darauf begab er sich nach Athen. Hier gelang es ihm, das Volk zu über­ reden, so daß sogleich zwanzig Schiffe zur Unterstützung der Ionier abgeschickt wurden. Mit ihnen kehrte Aristagoras nach Milet zurück und begann die Feind­ seligkeiten gegen die Perser. Er rückte vor Sardes und nahm es ohne Gegen­ wehr. Die Dächer der Häuser aber waren meist von Rohr, und als daher eins durch Zufall in Brand geriet, ergriff das Feuer sogleich die ganze Stadt. Die Griechen mußten nun die brennende Stadt verlassen und zogen sich an die Küste zurück. Hierhin folgte ihnen ein persisches Heer, von dem sie nach wenigen Tagen

gänzlich geschlagen wurden. Aristagoras entfloh nach Thrazien, wo er bei der Belagerung einer Stadt seinen Tod fand. Als dem Könige gemeldet ward, die Ionier hätten sich mit Hülfe der Athener empört und Sardes verbrannt, wurde er sehr erzürnt und schickte den Histiäus ab, um die Schuldigen zu bestrafen; dieser aber ging, sobald er in die Nähe von Milet gekommen war, zu fehlen Landsleuten über, wie er sich schon längst

vorgenommen hatte. Unterdes hatten die Ionier ihre ganze Flotte, zusammen dreihundertundfünfzig Schiffe, bei Milet aufgestellt, um diese ihre Hauptstadt zu schützen. Als jedoch die persischen Schiffe, sechshundert an der Zahl, sich näherten, verloren viele den Mut, eilten zurück in ihre Städte und suchten sich durch Unterwerfung unter die persische Herrschaft zu retten; diejenigen aber, die nicht entflohen, waren zu schwach, der feindlichen Macht zu widerstehen; so tapfer sie auch kämpften, sie mußten doch endlich weichen und verloren einen großen Teil ihrer Schiffe und ihrer Flottenmannschaft. Unterdes hatten die Perser Milet eingeschloffen und erstürmten die Stadt im sechsten Jahre der

Empörung. Viele Einwohner wurden niedergemacht, die übrigen gefangen fort­ geführt und an der Mündung des Tigris angesiedelt. Ihre Stadt und ihr Land gab Darius anderen Griechen, die ihm treu geblieben waren; Histiäus aber, der

Urheber der ganzen Empörung, fiel in die Hände der Perser und wurde ans Kreuz geschlagen. Bald waren auch die übrigen ionischen Griechen den Persern wieder unterworfen. DreUtz.

VI. b.

Geschichte.

183

Die Schlacht bei Marathon.

Nichts hatte den Darius mehr erzürnt als die Keckheit der Athener. Der vertriebene Hippias, der an seinem Hofe sich aufhielt, unterließ nichts, was den Zorn des Königs noch erhöhen konnte; dieser aber flehte täglich zu den Göttern, ihm Rache an dieser Stadt zu geben, und dreimal täglich mußte ihm ein Sklave zurufen: „Herr, gedenke der Athener!" So rüstete er denn ein großes Heer gegen sie, das zugleich auch das übrige Hellas unterwerfen, und eine Flotte, die den Truppen Lebensmittel zuführen sollte; aber das Landheer ward durch die Angriffe der wilden Bölter in Thrazien so geschwächt, daß es mit Schimpf und Schande nach Asien zurückkehrte, und die Flotte wurde durch einen gewaltigen Sturm nahe am Borgebirge Athos fast ganz vernichtet. Da geriet Darius noch mehr in Zorn und rüstete ein neues Heer, das aus fünfmalhunderttausend Mann auserlesener Truppen bestand, und eine Flotte von sechshundert Kriegsschiffen; vorher aber schickte er Herolde durch ganz Grie­ chenland, welche Erde und Wasser als Zeichen der Unterwerfung fordern sollten. Biele Städte erfüllten aus Furcht das Berlangen; die Athener aber warfen die Herolde in einen Abgrund, und die Spartaner stürzten sie in einen Brunnen mit dem spöttischen Zusatz, dort könnten sie sich Erde und Wasser holen. Als Darius dies erfuhr, schickte er sein gewaltiges Heer ab unter Anführung des Datis und ArtapherneS. Diese hatten den Befehl, die Athener als Knechte vor sein Angesicht zu bringen. Sie segelten im Jahr 490 vor Christo mit dem Heere quer durch das ägäische Meer, um den Kampf mit den Thraziern zu vermeiden, landeten auf der Insel Euböa, zerstörten die Stadt Eretria und schickten die Ein­ wohner, welche gleichfalls die Ionier bei ihrer Empörung unterstützt halten, als Knechte nach Asien. Bon da segelten sie nach Attika und lagerten sich auf dem Felde von Marathon. Die Athener schickten sogleich einen Herold nach Sparta und baten um schleunige Hülfe; aber ein Gesetz verbot den Spartanern, vor dem Bollmond in den Kampf zu ziehen, und so waren die Athener auf sich allein be­ schränkt. Nur die benachbarte Stadt Platää sandle ihnen lausend Mann zu Hülfe, während sie selbst zehntausend Mann unter zehn Feldherren den Feinden entgegenschickten. Unter den Anführern befand sich Miltiades, ein freiheitslieben­ der, tapferer und besonnener Mann, der schon durch frühere Waffenthaten berühmt war. Dieser wußte seine Mitfeldherren zu überreden, daß sie den zehnmal stär­

keren Feind im Felde angriffen und ihm den täglich wechselnden Oberbefehl über­ ließen; trotzdem wartete er, bis sein Tag gekommen war. Jetzt ordnete er die Schlachtreihe. Die Sklaven, die man in der Not hatte bewaffnen müssen, stellte er in den Mittelpunkt, und nun ging's in vollem Lauf

auf die Perser los.

Diese, ganz erstaunt über die Kühnheit des kleinen athenischen

Häufleins, brachen bald durch die Mitte hindurch; dagegen wurden sie an den Flügeln so gedrängt, daß sie bestürzt zurückwichen. Je größer ihre Menge, um so verderblicher war nun die Berwirrung. Als die Perser auch im Mitteltreffen flohen, jagten die Athener ihnen nach, töteten viele Tausende, eroberten das Lager und verfolgten sie bis an die Schiffe. Auch hier gab es noch einen erbit-

184

VI.

Geschichte.

terten Kampf. Ein Athener, Cynägirus, hielt ein persisches Schiff, das soeben vom Lande abstoßen wollte, so lange mit den Händen zurück, bis ihm diese ab-

gehauen wurden; aber auch dann ließ er seine Beute nicht fahren, sondern faßte den Schiffsschnabel mit den Zähnen, bis er entseelt unter den Streichen der Feinde umsank. Ein andrer stürzte, als die Feinde zu fliehen begannen, in vollem Laufe nach Athen, rief fast atemlos durch die Straßen: „Freuet euch, wir haben ge­

Dielitz.

siegt!" und fiel dann tot nieder. c.

Der Kampf bei Thermopylä.

Als Xerxes in die erste griechische Landschaft, Thessalien, eindrang, eilten viele Städte, sich durch Unterwerfung zu retten; diejenigen aber, welche wohlgesinnt waren, hielten Rat, wie und an welchen Orten sie den Krieg führen wollten. End­ lich beschlossen sie, den Paß von Thermopylä, welcher aus Thessalien nach Hellas führt, zu verteidigen. Es ist aber dieser Paß auf der einen Seite vom Ota, einem steilen, unzugänglichen Gebirge, auf der andern vom Meere begrenzt und so schmal, daß er an einigen Stellen nur die Breite für einen Wagen hat. Außerdem war er durch eine Mauer mit einem Thore gesperrt. Hier stellte sich Leonidas, König von Sparta, mit fünftausend Griechen, unter denen sich dreihundert Spartaner befanden, zum Kampfe auf. Unterdes kamen zwei Überläufer im persischen Lager

an und wurdeu gefragt, was die übrigen Griechen machten. „Sie schauen den olympischen Spielen zu," war die Antwort. — „Und welches ist der Kampf­ preis?" — „Ein Kranz von Ölzweigen." — „O Xerxes," rief ein vornehmer Perser aus, „du führst uns gegen Leute, die um Tugend und Ehre, nicht um Schätze kämpfen!" Xerxes aber hielt es für Raserei, daß so wenige Menschen seiner Übermacht

widerstehen wollten; er wartete daher einige Tage, ob sie nicht entfliehen wür­ den; dann schickte er zu ihnen, um ihnen die Waffen abzufordern. „Komm und

hole sie!" lautete die Autwort.

Und als jemand sagte, der Feinde seien so viele,

daß ihre Pfeile die Sonne verfinstern würden, antwortete ein Spartaner: „Desto besser, so werden wir im Schatten fechten!" Endlich befahl der Perserkönig den Angriff; aber eine große Anzahl seiner Krieger fiel unter den Streichen der Griechen, und die übrigen wichen bestürzt zurück. Immer neue Tausende wurden in den Kampf geschickt, — immer vergebens. Da fand sich ein elender Grieche, Ephialtes, der in der Hoffnung, eine große Belohnung zu empfangen, dem Kö­ nige einen Fußweg über das Gebirge zeigte. Lerkes schickte zehntausend aus­ erlesene Perser mit ihm, und am andern Morgen sah sich Leonidas von zwei Seiten angegriffen. Er entließ daher die übrigen Griechen, die bei ihm waren;

seine dreihundert Spartaner aber und siebenhundert Thespier blieben, um mit ihm bei der Verteidigung des ihnen anvertrauten Postens zu fallen. Als nun die Perser gegen die kleine Schar heranrückten, wurden sie noch mehrere Male zurückgeschlagen; endlich aber erlagen die Griechen der Übermacht. Den Leichnam des Leonidas ließ Xerxes ans Kreuz schlagen; der Bundesrat der Griechen aber ließ ihm und seinen tapferen Gefährten ein Denkmal errichten, welches aus einem großen steinernen Löwen und einer Säule bestand, deren Inschrift von

VI. ihrem Heldentode Kunde gab.

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Geschichte.

Der Verräter Ephialtes, auf dessen Kopf der

Bundesrat einen Preis gesetzt hatte, irrte flüchtig umher, bis ihn einer seiner

Dlelitz.

Landsleute erschlug. d. Der Sieg bei Salamis.

Als Lerxes mit ungeheurer Land- und Seemacht gegen Griechenland heran­ zog, verschaffte Themistokles den Athenern den Ruhm der Rettung der griechischen Freiheit. Sein Werk waren die lange vorbereiteten Schiffe, das große Rettungs­ mittel für Hellas; seine Entschlossenheit und sein Mut begeisterten die Eifrigen,

befestigten die Wankelmütigen, verbanden die Getrennten. Themistokles war ganz erfüllt von dem Gedanken, Athen und ganz Hellas durch einen Kampf zur See bei Salamis zu retten, wo die Enge des Raumes den Griechen große Vorteile versprach; aber so dachten die übrigen nicht; Furcht machte die Menge ungehorsam und riß die Führer, bei denen auch Neid und Eifersucht herrschten, mit sich fort. Dazu kam die Nachricht, daß die Perser, die in Attika eingerückt waren, auch die Burg von Athen eingenommen und in Asche gelegt hätten. Alle wollten nun nach dem Isthmus ziehen, weil sie im

Falle einer Niederlage sich in der Nähe des Peloponnes sicher retten zu können hofften; aber Themistokles dachte nicht an die Niederlage, sondern nur an den Sieg, und er trug die Gründe für die Wahrscheinlichkeit desselben, wenn man hier fechten würde, in der Versammlung der Führer mit aller Kraft vor, die aus dem Gefühle der Wahrheit entsprang; allein bald darauf, als das persische Landheer wirklich den Peloponnes bedrohte, regte sich in allen Verbündeten von neuem der vorige Unmut, Athens wegen, wie sie wähnten, an dieser Stelle kämpfen zu müssen, und in einer neuen Beratschlagung wurde nun der Abzug in der That beschlossen. Jetzt faßte Themistokles einen Entschluß, der seinen

kühnen und sichern Geist zeigt; die Furchtsamen sollten wider ihren Willen, ehe

sie noch auseinandergehen könnten, zum Fechten gebracht werden. Er sandte einen treuen Diener heimlich auf einem Boote zu Terxes und ließ diesem mit der Miene des freundlichen Wohlwollens sagen, die Griechen wären uneinig unter sich und gedächten zu entwischen; er könne sie daher, wenn er ihnen zuvor­ komme, leicht umzingeln. Xerxes fand den Rat gut und ließ alle seine Schiffe

Bewegungen machen, um die unbesorgten Griechen zu umgarnen. Aristides, der, in dieser Zeit der Not von dem Volke herbeigewünscht, aus seiner Verbannung zurückkehrte und in derselben Nacht aus Ägina sich zur griechischen Flotte be­ geben wollte, bemerkte zuerst die feindliche Bewegung. Er vergaß in diesem Augenblicke alle persönliche Feindschaft, eilte zum Themistokles und teilte ihm mit, was er gesehen. Themistokles vertraute ihm, daß er selbst dies herbeigeführt,

und bat ihn, nun den übrigen Griechen das Anrücken der Feinde als ein glaub­

würdiger Augenzeuge zu melden. Dies that er auch, fand aber doch bei den meisten keinen Glauben, bis endlich ein tenisches Schiff, welches trotz dieser Not zu den Griechen überging, ihnen allen Zweifel benahm. Nun, da keine Wahl mehr war, rüstete sich alles zur Schlacht und bestieg die Schiffe, der anrückenden feindlichen Flotte entgegenzugehen. An dem einen Ende derselben waren die

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VI. Geschichte.

Phönizier als die tapfersten den gewandten Athenern gegenübergestellt; das an­

dere Ende nahmen die Ionier ein, damit sie, denen die Perser nie trauten, nicht mit ihren Stammgenossen zusammenträfen. Xerxes, welcher glaubte, daß die Niederlage bei Artemisium nur wegen seiner Abwesenheit erfolgt sei, wollte dieses Mal von einem hohen Berge am Ufer zuschauen, damit er durch seine Gegenwart alle zur Tapferkeit ermuntere. Mit Tagesanbruch trafen die Flotten zusammen, und das Handgemenge ward allgemein. Die persische Seemacht kämpfte wirklich anfangs mit Mut, und selbst die Ionier zeigten sich tapfer; aber

dessenungeachtet entschied sich der Kampf sehr bald zum Nachteile der Perser. Ihre eigne Menge ward ihnen in den engen Gewässern hinderlich und stopfte sich bald so sehr, daß sie weder vor- noch rückwärts konnten. Biele persische Schiffe wurden in den Grund gebohrt, viele kamen wegen der Enge des Rau­ mes gar nicht zum Gefecht; eins hinderte das andere, und als die hintersten flohen, drängten sie die vorderen mit sich fort. Mit jedem Augenblicke wuchs die Verwirrung in der feindlichen Flotte. Athener und Ägineten, die ausge­

zeichnetsten unter allen Griechen, wetteiferten miteinander; die ersteren ver­ nichteten in dem Gedränge die feindlichen Schiffe, welche Widerstand thaten, die letzteren lauerten allen, welche sich nach dem Hafen Phalerum unter den Schutz des Landheeres flüchten wollten, auf, so daß, wer den Händen der Athener ent­ gangen war, in die Hände der Ägineten fiel. So glorreich und glänzend dieser Sieg der Griechen bei Salamis war, so groß waren auch seine Folgen. Xerxes ließ noch in der folgenden Nacht seine Schiffe nach dem Hellespont aufbrechen mit einer Eile und Stille, daß die Grie­ chen, die am folgenden Tage einen neuen Angriff erwarteten, voll Verwunderung den Abzug der feindlichen Flotte erfuhren; durch eine neue List aber schreckte Themistokles den Perserkönig vollends aus Hellas hinweg. Er ließ ihm nämlich sagen, die Griechen seien im Begriff, nach dem Hellespont zu segeln; Themistokles

aber, besorgt um den König, rate ihm, schleunigst nach Asien hinüberzugehen.

Xerxes trat auch bald seinen Rückweg an.

Becker.

6. Die Schlacht bei Platää. Durch den Sieg bei Salamis war Griechenland keineswegs befreit; denn in Thessalien stand noch der Kern des persischen Heeres unter Mardonius, aus dreimalhunderttausend geübten Kämpfern bestehend. Das griechische Heer, das sich auf der Landenge von Korinth versammelt hatte, war etwa hunderttausend Mann stark und stand unter dem Oberbefehl des Pausanias, eines Spartaners aus königlichem Geschlecht, der für seinen unmündigen Neffen die Regierung führte. Unter ihm befehligte Aristides, der schon vor der Schlacht bei Salamis aus seiner Verbannung zurückgekehrt war und an dem dortigen Kampfe rühm­ lichst Anteil genommen hatte, achttausend schwerbewaffnete Athener. Eine Zeit lang standen die beiden Heere einander unweit Platää gegenüber, ohne daß es zu einem Kampfe gekommen wäre, weil keins derselben die vorteilhafte Stellung,

die es innehatte, verlassen wollte. Doch nach einigen Tagen mußten sich die Griechen wegen Wassermangels einen anderen Lagerplatz suchen, da die Perser

VI.

Geschichte.

187

alle Brunnen in der Umgegend verschüttet hatten; und nun befahl Mardonius den Angriff; denn er meinte, die Griechen wären im Begriff zu entfliehen, und wollte sich die Gelegenheit, sie mit einem Schlage zu vernichten, nicht ent­ gehen lassen. Als Pausanias sah, daß die Perser ihm folgten, ließ er augenblicklich Halt machen, stellte seine Spartaner in Schlachtordnung auf und schickte an die Athener, die schon weit voraus waren, einen Reiter ab, um sie zurückzurufen;

da aber die Opferzeichen ungünstig waren, so zauderte er noch immer, sich auf den Kampf einzulassen, und befahl seinen Kriegern, ihre Schilde vor die Füße zu stellen, sich ruhig zu verhalten und auch die Angriffe der Feinde nicht abzu­ wehren. Die Spartaner bewiesen in dieser schlimmen Lage eine bewunderungs­ würdige Selbstbeherrschung; denn obgleich viele von ihnen durch die Geschosse der Barbaren gelötet oder verwundet wurden, so blieben sie doch ruhig auf ihrem Posten und harrten in Geduld des Augenblicks, den die Gottheit und der Feld­ herr zum Handeln bestimmen würde. Da nun der Priester ein Opfertier nach dem andern schlachtete, ohne ein günstiges Zeichen zu finden, und der Andrang der Perser immer heftiger und verderblicher wurde, wandte Pausanias die thrä­ nenden Blicke zum naheliegenden Tempel der Juno, erhob flehend seine Hände

zur Göttin und betete: „Laß unsere Hoffnung nicht zu Schanden werden, und wenn uns zu siegen nicht bestimmt ist, so laß uns wenigstens, ehe wir fallen, etwas Rühmliches vollbringen!" In diesem Augenblick erschienen die gewünschten Opferzeichen, und der Seher­ verkündete nüt lauter Stimme den Sieg. Sogleich gab Pausanias den Befehl zum Angriff, und nun stürzten sich die Spartaner gleich Löwen auf die Feinde, durchbrachen schon im ersten Anlauf ihre Reihen und streckten sie mit Lanzen­ stößen zu Boden. Den Persern fehlte es nicht an Mut und Standhaftigkeit; aber dem Ungestüm der Spartaner vermochten sie nicht lange Widerstand zu leisten, zumal da diese durch ihre Rüstung geschützt, sie selbst aber ohne Harnisch waren. Am hartnäckigsten war der Kampf da, wo Mardonius stand. Er ritt,

um von allen erkannt zu werden, ein weißes Streilroß von ungewöhnlicher Größe und war von lausend der tapfersten Perser umgeben. Als er durch einen Steinwurf getroffen, leblos vom Pferde sank, kämpfte seine Leibwache noch eine Zeit lang mit großer Hartnäckigkeit; endlich aber erlag auch sie den unge­ stümen Angriffen der Spartaner, und nun ergriff das ganze persische Heer in größter Verwirrung die Flucht, um hinter den hölzernen Mauern seines Lagers

Schutz zu suchen. Die Athener waren auf ihrem Marsch nach dem neuen Lagerplatz schon weit vorgerückt, als das Schlachtgeschrei der Perser zu ihren Ohren drang.

Nicht

lange nachher erschien der von Pausanias abgesandte Bote, und nun eilten sie über die Felder hin der Gegend zu, aus welcher der Schlachtruf ertönte; ehe sie aber noch die Stelle erreichten, wo die Perser und Spartaner miteinander kämpften, stellten sich ihnen die griechischen Scharen entgegen, welche sich, fünf­ zigtausend Mann stark, freiwillig oder gezwungen den Persern angeschlosien hatten. Aristides trat, als er ihnen gegenüberstand, aus der Reihe hervor und

VI.

188

Geschichte.

beschwor sie bei allen Göttern Griechenlands, sich der Feindseligkeiten zu enthalten

und den Athenern den Weg freizulassen, damit sie den Spartanern bei dem Kampfe für die griechische Freiheit Hülfe leisten könnten. Da sie indessen nicht geneigt waren, seinen Worten zu folgen, und sich vielmehr zum Widerstand rüste­

ten, so ließ er seine Athener gegen sie vorrücken und schlug sie nach einem kurzen Kampfe in die Flucht; dann vereinigte er sich mit Pausanias, welcher unterdessen den Angriff auf das feindliche Lager begonnen, aber nichts ausgerichtet hatte, da sich die Spartaner auf den Kampf gegen Mauern und auf die Belagerung fester Plätze nicht verstanden. Den Athenern gelang es nach einem langwierigen und hitzigen Kampfe, die Mauer zu erstürmen und hier und dort zu zerstören, so daß die Griechen in Masse in das Lager eindringen konnten. Den Persern entsank jetzt aller Mut; niemand dachte mehr an Berteidigung, und unter Jammern und Wehklagen ließen sie sich von den Griechen hinwürgen. So kam es denn, daß von den dreimalhunderttausend Mann, welche Nerzes in Griechenland zurückgelassen hatte, nur fünfzigtausend durch die Flucht sich retteten und die übrigen zweimalhundertundfünfzigtausend bei Platää ihren Tod fanden. rieiie.

9.

Roms Gründung.

Äneas, nächst Hektor der tapferste trojanische Held, der Sohn der Göttin

Venus und des ans trojanischem Königsgeschlechte entsprossenen Anchises, war vom Schicksale dazu ausersehen, den Ruhm seiner unglücklichen Vaterstadt in ein fernes Land zu verpflanzen. In jener Schreckensnacht, wo die im Schlafe Über­ fallenen Troja in Flammen auflodern sahen, riß Äneas, als er erkannte, daß alles rettungslos verloren sei, mit Schmerzen sich los von der teuren Heimat;

noch schwerer als ihm wurde der Abschied von dem langgewohnten Stammsitze seinem ehrwürdigen Vater Anchises. Zaudernd schaute der Greis in die Flammen­ glut; Schrecken und Schwäche des Alters lähmten seine Schritte. Doch hier­ galt kein Bedenken; rasch lud Äneas den Vater auf seinen Rücken und verließ fliehenden Fußes die Stätte der Verzweiflung. Am Meeresgestade sammelte sich um den Helden die geringe Schar der Trojaner, welche dem Verderben ent­ ronnen waren; nur das Meer bot Zuflucht vor den Feinden und Hoffnung, in der Ferne eine Stätte neuen Glücks zu finden. Auf zwanzig Schiffen steuerten die Flüchtlinge von dannen. Ein Orakelspruch bezeichnete dem Äneas die Küste

Italiens als den Ort, wo ihm nach dem Ratschlüsse der Götter ein neues Reich zu gründen bestimmt war. Auch für die Stelle, an welcher die neue Stadt ge­ gründet werden sollte, erhielt er ein unzweifelhaftes Zeichen; wo ihn nämlich

der Hunger zwänge, samt seiner Mahlzeit die Tische zu verzehren, so lautete der Spruch, da sollte er seinen zweiten Herd sich erbauen. Die weiten Fluten trugen die Heimatlosen von Meer zu Meer, von Asien und Macedonien auf die Pfade des Ulysses, an Siciliens entlegene Küste. Hier entriß der Tod dem Äneas seinen treuen Berater, den kundigen Führer seiner Fahrt, den teuren Anchises.

VI.

Geschichte.

189

Endlich liefen die Schiffe nach mancherlei Abenteuern in die Mündung des

Tiber ein, und kaum hatten die des Umherirrens müden Männer den Fuß auf das feste Land gesetzt, als die längst erharrte und doch unerwartete Erfüllung des Orakels sie mit fröhlicher Hoffnung belebte. Die ganze Schar nämlich, im Freien gelagert, stärkte sich an einem kärglichen Mahle, das nur aus einem kunst­ los geformten Brotkuchen bestand, da die Einöde nichts Besseres darbot. Die Speise war verzehrt, doch der Hunger noch nicht gestillt; unwillkürlich griffen sie auch zu den breiten Eppichblättern, die dem Kuchen als Unterlage gedient halten, und noch waren diese nicht alle verzehrt, als sie lächelnd bemerkten, daß sie ja auch die Tische aufäßen, von denen sie ihr Mahl eingenommen hätten, daß also das Land ihrer Verheißung gefunden sei. Dieses Land hieß Latium und wurde von einem Könige, namens Latinus, beherrscht, der auf die Ankunft von Fremd­ lingen durch göttliche Zeichen längst vorbereitet war; und doch hätte die erste Begegnung leicht eine feindliche werden können. Jene nämlich trieb die Not, die Gegend an dem Tiber plündernd zu durchstreifen. Der König bot Bewaffnete aus Stadt und Dörfern auf, um den Gewaltthätigkeiten der Ankömmlinge zu wehren, die sich den Latinern gegenüber in Schlachtordnung reiheten. Schon harrten beide Haufen des Zeichens zum Angriff, da durchfuhr wie ein Blitzstrahl den König eine Ahnung. Rasch trat er vor die Reihen, fragte den Äneas nach

Heimat und Stamm, gedachte des Adels des göttlichen Abstammung und des Ruhmes des den sich erbot; nicht weniger aber flößte ihm gleich gefaßter Mut Achtung ein; so reichte

trojanischen Volkes, freute sich der Mannes, der sein Freund zu wer­ auch dessen auf Krieg und Frieden er denn dem Äneas zum Unter­

pfande ihrer künftigen Freundschaft seine Rechte. Beide Heerführer schlossen einen Bund, die Heere begrüßten sich. Latinus nahm den Aneas in seinen Palast auf und knüpfte hier mit ihm am Altare seiner Hausgötter noch einen Familienbund; er gab ihm seine Tochter; die Trojaner aber gründeten alsbald eine Stadt, die Äneas seiner Gemahlin zu Ehren Lavinium nannte. Nach seinem Tode überließ des Äneas Sohn, Julus oder Askanius genannt, seines Vaters Gründung der Lavinia und baute mit einem Teile der ausgewanderten Einwohner eine zweite

latinische Stadt. Sie bekam von ihrer am Abhange des Berges lang hinge­ streckten Lage den Namen Albalonga. Mit den Etruskern schloß Julus Frieden und setzte den Tiber als Latiums Grenze gegen Etrurien fest.

Albalonga aber wurde wieder die Mutter einer andern Stadt, welche die berühmteste des ganzen Erdkreises geworden ist, die Mutter der Weltbeherrscherin Rom.

Als nämlich des Julus Nachkommen in Albalonga etwa vier Jahrhun­

derte lang regiert hatten, hinterließ ein König aus dieser Herrscherreihe, namens Proca, bei seinem Tode zwei Söhne, den Numitor, welchem er das Reich be­

stimmt hatte, und den Amulius; letzterer aber, uneiugedenk der Achtung, welche er dem väterlichen Willen und dem Rechte der Erstgeburt schuldig war, stieß seinen älteren Bruder vom Thron, tötete, um der Herrschaft desto sicherer zu sein, den Sohn desselben und machte Numitors Tochter, Rhea Silvia, zur Vestalin oder Priesterin der Vesta. Als solche gebar sie dem Gotte Mars Zwillings­

knaben, welche der grausame Oheim sogleich in einer Mulde in den Tiber tragen

190

VI

Geschichte.

ließ, während die Mutter eingekerkert wurde; durch göttliche Schickung aber hatte

sich der angeschwollene Strom weithin über seine sumpfigen Ufer ergossen. Als daher die königlichen Diener mit den Zwillingen an daS Gewässer kamen, konn­ ten sie nirgends zu dem eigentlichen Strome gelangen; doch hielten sie auch das seichte Wasser für tief genug, die Neugeborenen zu ertränken, und setzten daher die Kinder in der nächsten Anflutung aus. Eine Zeit lang schaukelte die Mulde auf der Wasserfläche hin und her; bald aber sank der Strom und ließ das schwan­ kende Fahrzeug zurück, welches endlich an der Wurzel eines wilden Feigenbaumes hangen blieb. Da zog das Wimmern der Knaben eine Wölfin herbei, die vom nahen Gebirge kam, um zu trinken. Mit mütterlicher Zärtlichkeit beleckte sie die Kleinen und reichte ihnen ihre Brüste dar. So fand sie Faustulus, der Oberhirt der königlichen Herden, nahm die Kinder mit zu den Standhütten der Hirten und übergab sie seiner Frau Acca Laurentia. Er nannte sie Romulus und Remus und erzog sie als Hirtenknaben. Sobald sie heranwuchsen, durchstreiften sie die umliegenden Wälder mit dem Bogen und dem Jagdspieß, ohne darum auf der Viehweide lässig zu sein. Hierdurch an Kraft und Mut gestählt, wagten sie sich bald nicht bloß an wilde Tiere, sondern überfielen auch mit Beute beladene Straßenräuber und teilten den Raub unter ihre Genossen aus. Ein Zufall machte nach einiger Zeit diesem Leben auf der Weide und im Walde ein Ende. Die Beraubten nämlich ersahen sich den Zeitpunkt, wo die Hirten, an ihrer Spitze die beiden Brüder, ein Fest feierten, zu einem plötzlichen Überfalle, um den Verlust ihrer Beute zu rächen. Romulus erwehrte sich ihrer

mannhaft, den Remus aber nahmen sie gefangen und stellten ihn unter der Be­ schuldigung, daß er auf Numitors Gebiete Plünderungen begangen habe, vor den König Amulius. Dieser lieferte ihn zur Hinrichtung an den Numitor ab. Niemand hegte bei diesem Vorgänge größere Besorgnis als Faustulus, der Pflege­ vater der beiden Jünglinge. Gleich von dem Tage an, wo er die Zwillinge ge­ funden, hatte er die Vermutung genährt, daß seine Zöglinge königlicher Abkunft wären. Er wußte, daß auf königlichen Befehl Zwillinge ausgesetzt waren, und die Zeit, in welcher er die Kinder zu sich genommen, traf genau mit der Zeit der Aussetzung überein; doch wollte er sein Geheimnis nicht kund werden lassen, wenn ihn nicht die Not dazu drängte. In der Angst eröffnete er dem Romulus, waS ihn beunruhigte. Auch dem Numitor, der den Remus gefangen hielt, fiel

bei dessen Anblick der Gedanke an seine Enkel aufs Herz; er glaubte, an dem Jünglinge die Züge seiner Tochter wiederzuerkennen; das zutreffende Alter und das kühne Benehmen desselben bestärkten ihn in seiner Ahnung. Schon war er geneigt, sich gegen den Remus darüber auszusprechen und denselben als seinen Enkel anzuerkennen; schon entwarf er, alle Gefahren prüfend, Pläne zu des

Amulius Entthronung: da gab des Romulus Kühnheit dem Großvater zu ent­ schlossenem Handeln den letzten Antrieb. An der Spitze seiner Gefährten, die er auf verschiedenen Wegen um eine bestimmte Zeit am königlichen Schlosse hatte Zusammentreffen lassen, stürmte Romulus zum Könige Amulius hinein, während der in Freiheit gesetzte Remus ihn von Numitors Wohnung aus mit einem zwei­ ten Haufen unterstützte.

Amulius wurde ermordet; Numitor aber enthüllte nun

VI.

191

Geschichte.

seines Bruders Frevelthaten dem zusammenströmenden Volke und empfing zuerst von seinen Enkeln als König Begrüßung und Huldigung, in welche die versam­ melten Latiner jubelnd einstimmten. Romulus und Remus sahen den Numitor auf diese Weise wieder im Be­ sitze von Albalonga. Da stieg in ihnen der Wunsch auf, in der Gegend, wo sie ausgesetzt und erzogen worden waren, eine Stadt zu bauen. Wer sie indes nach sich benennen und beherrschen sollte, darüber entstand ein Streit zwischen ihnen, bei welchem das Recht der Erstgeburt keinen Ausschlag geben konnte, weil sie Zwillinge waren. Götterzeichen sollten also entscheiden, und beide begaben sich zur Beobachtung des Vogelflugs auf zwei verschiedene Schauhöhen, Romulus auf den palatmischen, Remus auf den aventinischen Berg. Dem Remus erschienen zuerst glückbringende Vögel, sechs vorüberfliegende Geier; kaum aber hatte er dies triumphierend dem Romulus melden lassen, als dieser die doppelte Anzahl, zwölf Geier, erblickte. Jetzt schien der Wille der Götter zweifelhaft; jeder legte das ihm gewordene Zeichen zu seinem Vorteile aus und wurde von seinen Anhängern zum König erklärt. Aus dem Wortstreit wurde ein Handgemenge; erbittert schrit­ ten die Brüder zu blutigen Thaten, und Remus sank, im Gewühle des Kampfes tödlich getroffen, zu Boden. Romulus schritt nun zur Ausführung des bisher verhinderten Baues der neuen Stadt unter mancherlei frommen und heiligen Gebräuchen, zu welchen auch folgender gehörte. Er spannte einen weißen Stier und eine weiße Kuh vor einen Pflug und zog damit ringsherum eine Furche, die den Umfang der neuen Stadt und die Linie der nachher zu errichtenden Mauern bezeichnete; da, wo ein Thor stehen sollte, ward der Pflug aufgehoben, weil dieser Ein- und Ausgang nicht heilig sein durfte. Dann baute Romulus die Stadt auf dem palatmischen Berge. Nach einer zweiten Sage fand Remus erst jetzt seinen Tod. Es heißt, er sei seinem Bruder zum Spotte über die niedrige Mauer gesprungen; da habe

ihn der erzürnte Romulus erschlagen mit den Worten: der nach dir über meine Mauer setzt!"

„So fahre jeder dahin, Nach Livius.

10. Eiserne Kriegszucht des Lucius Papirius Cursor. Im Jahre 324 v. Chr. wurde dem Diktator Lucius Papirius Cursor und dem Magister Quintus Fabius Rullianus die Führung des zweiten Krieges mit den Samnitern übertragen. Als sie bereits dem Feinde gegenüberstanden, mel­ dete der Pullarius dem Diktator, daß er durch seine heiligen Hühner bedenk­

liche Anzeichen erhalten habe. Der Diktator eilte daher nach Rom zurück, um dort die Auspicien, welche hierdurch zweifelhaft geworden waren, zu erneuern, ließ aber seinem Stellvertreter, dem Fabius, den bestimmten Befehl zurück, daß er während seiner Abwesenheit jedes Zusammentreffen mit dem Feinde ver­ meiden sollte. Die Sammler hatten von der Entfernung und wahrscheinlich auch von dem Verbote des Diktators gehört; sie bewiesen sich daher, da sie nach ihrer Meinung nichts zu fürchten hatten, übermütig und höhnisch gegen die Rö­

mer und reizten dadurch den Fabius so lange, bis dieser eine günstige Gelegen-

192

VI. Geschichte.

heit ergriff, sie zu einer Schlacht zwang und ihnen eine entscheidende Niederlage beibrachte. Fabius kannte seinen Oberbefehlshaber, und in der wohlbegründeten Voraussetzung, daß er von ihm alles zu fürchten habe und eine Besänftigung bei ihm unmöglich sei, sandte er die Botschaft von dem errungenen Siege nicht an ihn, sondern an den Senat und suchte zugleich die Truppen für sich zu ge­ winnen, um nötigen Falls an ihnen einen Rückhalt zu finden. Allein Papirius eilte auf die empfangene Nachricht sofort ins Lager, berief das Heer zu einer Versammlung, setzte hier das Vergehen seines Magister equitum auseinander und schloß seine Rede damit, daß er das Todesurteil über ihn verkündete. Das Heer murrte, die Unterbefehlshaber in der Nähe des Diktators baten, aber ohne anderen Erfolg, als daß dieser nur noch mehr gereizt wurde. Zwar war mittlerweile der Abend herangekommen und demnach an diesem Tage die Voll­ streckung des Urteils unmöglich geworden; aber desto gewißer war es, daß der Diktator sie am andern Tage erzwingen würde. Da ergriff Fabius ein anderes Nettungsmittel; er floh in der Nacht nach Rom. Dort trat er am andern Tage im Senate auf und suchte seine Sache zu verteidigen. Allein auch hierher folgte ihm der Diktator, und Fabius hatte seine Rede noch nicht beendigt, als sein Gegner eintrat und mit allen Gründen, die ihm die Rück­ sicht auf die Kriegszucht eingab, das ausgesprochene Todesurteil aufrecht hielt. Noch blieb ein Mittel übrig, die Berufung an das Volk, die ja seit dem Jahre 449 auch gegen den Diktator gestattet war. Auch dieses Mittel wurde ver­ sucht; allein Papirius behauptete auch dem Volke gegenüber seinen Willen. So sehr sich auch einige der Volkstribunen des Schuldigen annahmen, und so geneigt daö Volk selbst dem jüngeren Manne war, so wußte doch Papirius die Ansicht geltend zu machen, daß es sich hier lediglich um Gehorsam gegen den Vorgesetzten handle und selbst das ganze Volk hier nickt eingreifen dürfe, ohne seine Befugnisse zu überschreiten und die Zucht im Heere aufzulösen, bis endlich Fabius selbst und sein Vater, um Gnade flehend,

auf die Kniee fielen

und auch die Volkstribunen mit dem Volke selbst ihre Bitten mit denen jener

vereinten. Nun erst erklärte der Diktator, ohne Schaden für das Vaterland nachgeben zu können; er nahm sein Todesurteil zurück, gewährte aber auch jetzt noch seinem Gegner keine Verzeihung; wenigstens enthob er ihn seiner Würde und setzte einen andern an seine Stelle.

Peter.

11. Fabricius. Der Sieg bei Heraklea im Jahre 280 vereinigte die Heere der italischen Völker um den Pyrrhus, König von Epirus, und von Rom fielen Unterthanen ab. Diese Vorteile wollte er benutzen; denn er liebte langwierige Kriege nicht, sondern wünschte einen schnellen und glänzenden Frieden. Darum sandte er den Cineas nach Rom. Die Bedingungen, welche dieser dort vortrug, waren die des Siegers: Rom solle die Unabhängigkeit aller griechisch-italischen Städte an­ erkennen, den Samnitern, Lukanern, Bruttiern und Apuliern alles zurückgeben, was es ihnen entrissen.

So hart dieses klang, schienen doch die Umstande schwer

VI. Geschichte.

193

genug, um es in Erwägung zu ziehen, und nachdem Cineas im Senate mit seiner einschmeichelnden Redekunst gesprochen, vergingen Tage in steten Versamm­ lungen, ohne daß ein Entschluß gefaßt ward. Da ließ sich Appius Claudius, ein blinder Greis, der sich lange von dem Senate entfernt gehalten hatte, in die Versammlung tragen, um von dem Schimpfe eines solchen Friedens abzumahnen. „Wie?" rief er, „bisher habe ich den Verlust meiner Augen betrauert; jetzt wünschte ich auch noch taub zu sein, daß ich die unwürdigen Ratschläge eurer

Feigheit nicht anhören dürfte. Ihr zittert vor einem Haufen von Molossern, die immer eine Beute der Macedonier gewesen sind, vor einem Abenteurer, der sein Leben lang um die Gunst eines der Waffenträger dieses Alexander gebuhlt hat?" In diesem Tone sprach er, und sogleich stimmten alle für den Beschluß, den Gesandten mit der Antwort zu entlassen, es sei nicht eher an Friedensunter­ handlungen zu denken, als bis Pyrrhus Italien verlassen habe. Cineas konnte bei seiner Rückkehr den Eindruck, den dieses alles auf ihn gemacht, nicht lebhaft genug schildern. Der Senat, sagte er, sei ihm wie eine Versammlung von Königen erschienen, und er fürchte, Pyrrhus fechte gegen die Köpfe der Hydra. Dieser rückte nun zwar gegen Rom vor in der Hoffnung, die Etrusker fortzureißen; mit diesen hatte Rom indes eben Frieden geschlossen. Einen unmittelbaren Angriff auf die Stadt hielt der König für zu bedenklich, aber er setzte sich auch nicht in den eingenommenen Landschaften fest, sondern trat den Rückzug an bis nach Tarent. Zu einer Unterhandlung über die Auswechselung der Gefangenen schickten die Römer bald darauf eine Gesandtschaft an Pyrrhus, bei welcher sich auch Fabricius befand. Ihn hatte schon vorher Cineas dem Könige als einen Mann

geschildert, der bei der höchsten Armut wegen seiner Rechtschaffenheit und Tapfer­ keit zu Rom in der größten Achtung stände. Pyrrhus nahm ihn freundschaftlich auf und bat ihn, ein reiches Geschenk als ein Zeichen seiner Hochachtung und Gastfreundschaft anzunehmen. Fabricius schlug es aus. Am folgenden Tage wollte Pyrrhus die gerühmte Geistesgegenwart des Mannes auf die Probe stellen. Er ließ zu dem Ende vorher insgeheim seinen größten Elephanten, ein Tier, desgleichen Fabricius nie gesehen hatte, hinter einen Vorhang führen. Nach ge­ endeter Unterredung gab er ein Zeichen, der Vorhang ward weggezogen, und der Elephant streckte mit einem entsetzlichen Gebrüll seinen Rüssel über des Römers Kopf hin. Pyrrhus beobachtete begierig die Mienen des Fabricius; aber dieser wandte sich gelassen um und sagte lächelnd: „So wenig mich gestern dein Geld gereizt hat, so wenig schreckt mich heute dein Elephant." Noch verschiedene Ver­ suche machte Pyrrhus, diesen heldenmütigen Mann zu bewegen, als sein Freund und erster Feldherr bei ihm zu bleiben, die bei einem Römer natürlich nicht fruchteten. Den Antrag wegen Auswechselung der Gefangenen lehnte der König ab; um dem Fabricius jedoch einen Beweis seiner Achtung zu geben, erlaubte er den römischen Gefangenen, zu dem bevorstehenden großen Feste der Saturnalien

nach Rom zu gehen, dort mit den Ihrigen fröhlich zu fein und sich nachher wie­ der in seinem Lager als Gefangene einzustellen. Sie gingen und kehrten zur gesetzten Frist zurück; ja der Senat setzte Todesstrafe darauf, wenn jemand von ihnen zurückbliebe. Dielitz it. Heinrichs, deutsch. Lesebuch.

5. Aufl.

13

194

VI.

Geschichte.

AlS Fabricius zwei Jahre darauf als Konsul mit seinem AmtSgenossen das Heer wider den Pyrrhus führte, erhielt er einen Brief von des Königs gewissen­ losem Leibarzte, worin dieser sich erbot, seinen Herrn gegen eine angemessene

Belohnung zu vergiften. Der Konsul sandte sogleich den Brief dem Pyrrhus, der vor Erstaunen ausrief: „Eher könnte die Sonne von ihrem Laufe abgelenkt

werden als Fabricius vom Wege der Rechtschaffenheit." Er wie er es verdiente, und sandte den Römern zur Dankbarkeit ohne Lösegeld zurück. Zugleich bot er durch Eineas von neuem erhielt aber die vorige Antwort, erst müsse er Italien verlassen,

strafte den Arzt, alle Gefangenen den Frieden an,

ehe an Verträge

zu denken sei. Für die Gefangenen erhielt er ebenso viele gefangene Samniter und Tarentiner zurück. «ecker.

12. Ilaiinihals Zug über die Alpen. Kaum hatte Hannibal die Kriegserklärung der Römer erfahren, so fasste er den kühnen Plan, über die Pyrenäen und Alpen in Italien einzu­ dringen und den Feind im Herzen seines Landes anzugreifen. Er liess in Afrika und Spanien starke Heere zurück, ging im Frühling des Jahres 218 vor Christo über den Ebro, besetzte die Pässe der Pyrenäen und überstieg dieses Gebirge in ununterbrochenem Kampfe mit dessen wilden Bewohnern. Nun drang er mit einem Heere von fünfzigtausend Mann Fussvolk, neun­ tausend Reitern und siebenunddreifsig Elephanten durch Gallien vor, in­ dem er die Völker dieses Landes teils durch Geschenke gewann, teils mit bewaffneter Hand bezwang. An der Rhone traf er auf ein römisches Heer, das ihm unter dem Konsul Scipio entgegengezogen war; doch ohne sich in eine Schlacht einzulassen, eilte er auf die Alpen zu, die ihn von Italien schieden. Furcht und Schrecken bemächtigten sich der Karthager, als sie die schneebedeckten Gipfel dieses Gebirges erblickten, dessen Gefahren der Ruf noch weit fürchterlicher geschildert hatte, als sie waren. Hannibal berief daher seine Krieger zusammen, belebte durch ermunterndes Zureden ihren Mut wieder und begann im Monat November den gefährlichen Marsch. Ein afrikanisches Heer, an glühende Hitze gewöhnt, begleitet von Elephan­ ten und zahllosen Lasttieren, sollte über Felsenabhänge, Schnee- und Eis­ massen geleitet werden ohne Strasse, ohne Wegweiser, unter beständigen Angriffen barbarischer Horden. Wenngleich die Soldaten auf diese Ge­ fahren vorbereitet waren, so erregten doch die Höhe der Berge, die sie zu ersteigen hatten, die himmelhohen Schneemassen, die elenden Hütten, die schmutzigen, wilden Menschen immer von neuem ihr Entsetzen. Bald be­ merkten sie auch, dass die Bergbewohner alle Pässe besetzt hielten. Als Hannibal sah, dass er nicht weiter vordringen konnte, bezog er in einem weiten Thale ein Lager; da erfuhr er, dass der vor ihm liegende Gebirgs­ pass nur bei Tage besetzt sei. Er brach daher sein Lager ab, liess es am Fusse der Anhöhen wieder aufschlagen und, um die Feinde zu täuschen,

VI.

beschichte.

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an den Verschanzungen eifrig arbeiten. Sobald er aber bemerkte, dass die Feinde die Höhen verlassen hatten, zündete er zum Schein viele Wacht­ feuer an, liess das Gepäck, die Reiterei und einen Teil des Fussvolks im Lager zurück und besetzte mit den besten Truppen eiligst die Höhen, welche der Feind innegehabt hatte. Mit dem frühesten Morgen brach er sodann das Lager ab und liess die Zurückgebliebenen nachrücken. Schon wollten die Bergbewohner ihren gewohnten Posten besetzen, als sie das feind­ liche Heer durch den Engpass ziehen sahen; zugleich aber bemerkten sie, dass ein Teil der Pferde scheu wurde und eine grosse Verwirrung im Zuge anrichtete. Sie benutzten diesen Umstand, um von allen Seiten auf die Karthager herzufallen. Immer grösser wurde die Unordnung, immer verwirrter das Geschrei; jeder suchte so geschwind als möglich der Ge­ fahr zu entkommen; die Pferde traten Menschen und Gepäck zu Boden, die Lasttiere wurden im Gedränge in den Abgrund hinabgestossen. Hannibal stand auf einer Anhöhe und musste den Jammer mit ansehen; denn er hielt seine Leute zurück, um nicht die Verwirrung zu vermehren. Als er aber fürchten musste, sein ganzes Gepäck zu verlieren, eilte er mit seinen Kerntruppen hinab, zerstreute die Feinde und stellte Ruhe und Ordnung im Zuge wieder her. Darauf konnte er drei Tage lang seinen Weg ungehindert fortsetzen. Aber bald kam er zm einem andern Bergvolke, das ihm durch List und Hinterhalt grosse Gefahr bereitete. Als er- sich demselben näherte, kamen ihm die angesehensten Männer entgegen, versprachen, alle seine Befehle gehorsam zu vollziehen, und boten ihm Lebensrnittel und Weg­ weiser an. Hannibal nahm ihr Anerbieten an, folgte ihnen jedoch mit der grössten Vorsicht, indem er die Soldaten stets schlagfertig hielt und die Reiterei mit den Elephanten voranschickte. Kaum hatte das Heer einen schmalen Weg betreten, der an einem tiefen Ab hange hinführte, so brachen die Eingeborenen von allen Seiten hervor und wälzten grosse Fels­ stücke auf den Zug hinab. Nur dadurch, dass der Nachtrab sich augen­ blicklich in bester Ordnung gegen die Andringenden aufstellen konnte, entging das Heer einer gänzlichen Niederlage. Dessenungeachtet drohte noch grosse Gefahr; denn von der Seite durchbrachen die Feinde die Mitte des Zuges und besetzten den Weg, so dass Hannibal eine Nacht hindurch von der Reiterei und dem Gepäck getrennt war. Endlich wurden die Feinde in die Flucht geschlagen und der Marsch fortgesetzt. Seitdem wagten die Bergbewohner nur noch in kleineren Haufen den Vortrab oder die Nach­ hut der Karthager anzugreifen. Am neunten Tage endlich erreichte Hannibal den Gipfel der Alpen. Ein tiefer, plötzlich gefallener Schnee vermehrte das Ungemach, mit dem man bisher hatte kämpfen müssen. Wie nun die ermüdeten Truppen kla­ gend und verzweifelnd weiter zogen, liess Hannibal auf dem Gipfel des Berges, wo man eine weite Aussicht hatte, Halt machen und zeigte ihnen Italien und die reizende Ebene des Po, die vor ihren Blicken ausgebreitet 13*

196

VI.

Geschichte.

lag. Er versicherte ihnen, von nun an sei ihr Weg durchaus eben oder führe bergab; bald würden sie den Lohn für ihre Ausdauer empfangen; denn nach einem, höchstens zwei Treffen würden sie die Hauptstadt Ita­ liens in ihrer Gewalt haben. Indes waren die Gefahren, welche den Hinabsteigenden drohten, weit grösser als die, welche sie bereits überstanden hatten. Auf den jähen, engen, von Schnee und Eis schlüpfrigen Pfaden gleiteten Menschen und Tiere aus, und jeder Hinabstürzende riss die Nächststehenden mit sich fort. So fanden Tausende in den Abgründen ihren Tod, während andere in dem lockeren Schnee versanken. An einer Stelle war durch einen Erd­ fall ein fast senkrechter Abhang von tausend Fuss Tiefe entstanden. Ver­ gebens versuchte Hannibal das Heer auf einem Umwege weiterzuführen; endlich musste er sich entschliessen, auf der Höhe ein Lager aufzuschla­ gen und daselbst vier Tage zu verweilen. Während hier die Tiere vor Hunger fast umkamen, bahnten die Soldaten mit unsäglicher Anstrengung durch die steile Felswand eine Strasse. Auf dieser gelangte man dann in mildere Gegenden, wo das Vieh auf die Weide getrieben und den ermat­ teten Menschen drei Tage Rast gegeben ward. So gelangte Hannibal, nachdem er in fünfzehn Tagen die Alpen über­ stiegen hatte, etwa mit der Hälfte seines Heeres nach Italien; die Mehr­ zahl war in diesem kurzen Zeitraum durch feindliche Angriffe und die Wut der Elemente umgekommen. Dieiitz.

13.

Die Schlachten am Tieinus und am trasimenischen See.

Ein römisches Heer unter dem Konsul Scipio erwartete die Karthager am Flusse Ticinus. Vor der Schlacht berief Hannibal seine Soldaten zusammen und zeigte ihnen, wie sie von zwei Meeren und den Alpen eingeschlossen wären und keine andere Wahl hätten als zu siegen oder zu sterben. Und als nun die Schlacht begann, da konnten die römischen Bogenschützen, die im ersten Treffen standen, den stürmischen Andrang der Karthager nicht aushalten und flohen in wilder Un­ ordnung zurück. Das zweite Treffen kämpfte mit großer Ausdauer, aber die

numidische Reiterei der Feinde überwältigte bald jeden Widerstand, und als dar­ auf der Konsul verwundet vom Pferde sank, ward die Flucht allgemein. Sowie sich die Nachricht von dieser Niederlage der Römer verbreitete, fielen die gallischen Völker Oberitaliens, die erst kurz zuvor unterworfen worden waren, von ihnen ab, schlossen sich den Karthagern an und versorgten sie mit Lebensmitteln und Kriegsbedürfnissen. Rastlos verfolgte Hannibal die zurückweichenden Römer, die unterdes durch ein neues Heer verstärkt worden waren. Er schlug sie in einer zweiten Schlacht und drang mit dem Frühling des folgenden Jahres in Mittelitalien ein. Hier mußte er vier Tage lang durch ununterbrochene Moräste marschieren. Ein großer Teil der Lasttiere blieb im Sumpfe stecken; die Menschen standen oft bis an die Brust im Wasser, und auch die letzten Elephanten gingen verloren bis auf

VI.

Geschichte.

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einen, der den Feldherrn trug. Hannibal selbst verlor infolge einer heftigen Erkältung ein Auge; dennoch verfolgte er rastlos die Feinde und griff sie, die durch ein drittes Heer unter dem Konsul Flaminius verstärkt waren, am trasimenischen See an. Es gelang ihm, seinen unbesonnenen Gegner in ein enges Thal zu locken und von den Bergen herab anzugreifen, während ein dichter Ne­ bel die Unordnung im römischen Heere außerordentlich vermehrte. Nachdem die Römer sich drei Stunden lang mit unerschütterlichem Mute verteidigt hatten und der Konsul selbst gefallen war, löste sich alles in wilde Flucht auf; aber auch von den Entflohenen mußte sich noch der größere Teil den nacksetzenden Reitern ergeben. So kostete diese furchtbare Niederlage den Römern gegen zwan­ zigtausend MaNN. Dielch.

14.

Fabius Cunctator.

Eine ungeheure Bestürzung ergriff das römische Volk, als es die Nachricht von dem unersetzlichen Verlust erhielt, den es durch die Niederlage am trasimenischen See erlitten hatte. Es erwählte in seiner Not den Quintus Fabius Maximus zum Diktator und trug ihm auf, die Stadt in Verteidigungszustand zu setzen. Doch Hannibal versprach sich von einer Belagerung Roms keinen Er­ folg, sondern wandte sich nach Unteritalien, um seinen erschöpften Kriegern einige Ruhe zu gönnen. Dorthin folgte ihm der Diktator. Dieser erwog, wie viel für Rom auf dem Spiele staud, wenn es noch eine Niederlage erlitt, und vermied daher ebenso sorgfältig eine Schlacht, als Hannibal sie suchte. Er begnügte sich, den Feind überall im Auge zu behalten und ihm die Zufuhr abzuschneiden, und nahm demnach seine Stellung immer in unzugänglichen Gebirgen. Aber dies besonnene Verfahren, durch das er Nom vom Verderben rettete, erregte die Un­ zufriedenheit seiner Soldaten, die ihn spottend den Zauderer (Cunctator) nannten, ein Name, den er nachmals als Ehrennamen behielt. Einmal war es ihm fast gelungen, den schlauen Karthager zu fangen, indem er ihn in einem engen Thale einschloß; doch Hannibal rettete sich durch eine List. In der Nacht ließ er näm­

lich einigen hundert Ochsen brennende Reisbündel an die Hörner binden und jagte sie die Anhöhen hinauf den Römern entgegen. Diese glaubten im ersten Schrecken, das feindliche Heer rücke mit Feuerbränden auf sie los, und wußten nicht, auf welcher Seite sie sich zuerst verteidigen sollten; Hannibal aber verließ während der allgemeinen Verwirrung unangefochten den Engpaß. Bald darauf zog Hannibal bei den Landgütern des Fabius vorbei. Da ließ er alles Land umher verwüsten, und nur diese Landgüter befahl er zu verschonen. Seine Absicht gelang; denn nun erregten die unzufriedenen römischen Soldaten den Argwohn, daß Fabius mit den Fremden in Einverständnis stehe, und be­ wirkten, daß sein Reiteroberster Minucius, ein tapferer und kühner Mann, einen gleichen Anteil am Oberbefehl erhielt. Dieser sah sich kaum von dem lästigen

Zwange befreit, als er mit der Hälfte des Heeres die Berge verließ und die Karthager angriff; aber er fiel in einen Hinterhalt und wäre unrettbar verloren gewesen, wenn ihm nicht Fabius zu Hülfe gekommen wäre. Als Hannibal den

VI.

198

Geschichte.

Diktator nahen sah, zog er sich zurück und sagte: „Endlich hat doch die Wolke, die immer auf den Bergen lag, ein Ungewitter gebracht." Minucius erkannte sein Unrecht. Er ließ sogleich seine Soldaten zusammen­ kommen und redete sie folgendermaßen an: „Kriegsgenossen! Derjenige ist der erste Mann, der guten Rat giebt, derjenige der zweite, der gutem Rat folgt; wer aber keins von beiden versteht, der ist der allgemeinen Verachtung wert. Auf, laßt uns zum Fabius und seinen Kriegern gehen, ihn als Vater und sie als unsere Netter begrüßen und so wenigstens den Ruhm der Dankbarkeit ge­ winnen!" Darauf pflanzte er seine Feldzeichen vor des Fabius Zelt auf und kehrte bescheiden unter seinen Oberbefehl zurück. Dielitz.

13.

Die Schlacht bei Cannä.

Als die Zeit der Amtsführung des Fabius verstrichen war, wurden wieder zwei Konsuln erwählt. Der eine derselben, Ämilius Paullus, wollte den Krieg

auf dieselbe Weise fortführen wie vor ihm Fabius; doch sein Amtsgenvsse, Terentius Varro, ein stürniischer, unüberlegter Mann, griff die Karthager bei der Stadt Cannä an und veranlaßte dadurch die furchtbarste Niederlage, welche Nom je erlitten. Ämilius Paullus selbst und viele Männer vom höchsten Ansehn, achtzig Senatoren, viele hundert Ritter und fünfzigtausend Soldaten lagen auf dem Schlachtfelde. Varro entkam nach Rom, wo ihm der Senat dankte, daß er an der Rettung des Staates nicht verzweifelt habe; denn auch jetzt unter dem Jammergeschrei der ganzen Stadt verlor der Senat die Fassung nicht. Er schrieb neue Werbungen aus, und da es an waffenfähigen Bürgern fehlte, so bewaffnete er Sklaven, indem er ihnen als Lohn der Tapferkeit die Freiheit versprach. Diese heldenmütige Festigkeit rettete Rom; denn auch Hannibal war erschöpft und mußte neue Verstärkungen abwarten. Es hatte aber dieser große Manu in Karthago viele Gegner, die, neidisch auf seinen Ruhm, das Wohl des Staates ihrem Haß aufopferten. Sie setzten es durch, daß ihm weder Geld, noch frische Truppen geschickt wurden, und so konnte Hannibal an neue Unter­

nehmungen nicht denken. Als er darauf im folgenden Jahre durch den Konsul Marcellus, den die Römer ihr Schwert nannten, wie sie Fabius ihren Schild genannt hatten, bei Nola geschlagen wurde, blieb ihm nur eine Hoffnung übrig. Sein Bruder HaSdrubal, den er mit einem Heere zur Beschützung Spaniens zurückgelassen hatte, sollte ihm von dort aus zu Hülfe kommen.

Glücklich ge­

langte Hasdrubal über die Pyrenäen und die Alpen nach Italien; doch ehe er sich mit seinem Bruder vereinigen konnte, ward er von den Römern angegriffen,

geschlagen und getötet. Als dem Hannibal der Kopf seines Bruders ins Lager geschickt wurde, rief er im höchsten Schmerz aus: „Jetzt erkenne ich Karthagos Geschick!" Er blieb seitdem auf einige Gegenden Unteritaliens beschränkt, bis er

zur Verteidigung seiner bedrängten Vaterstadt nach Afrika gerufen wurde. Dielitz.

VI.

199

Geschich te.

16, Die Zerstörung Karthagos. Karthago hatte sich von der Ohnmacht, in welche es durch den zweiten Krieg

mit den Römern versetzt worden war, durch seinen blühenden Handel schnell er­ holt. Das erregte den Neid und zugleich die Besorgnis der Römer. Besonders heftig trat ein alter Senator, namenS Cato, der früher als Sittenrichter die überhandnehmende Pracht und Üppigkeit der Römer aufs strengste verfolgt hatte, gegen die alten Feinde seines Vaterlandes auf. Einst schilderte er im Senat die Gefahr, mit der das wieder aufblühende Karthago Rom bedrohe, und ließ am Ende seiner Rede einige Feigen aus seiner Toga fallen. Alle bewunderten die

Größe und Schönheit der Früchte; er aber rief: „Wisset, daß sie erst vor drei Tagen in Karthago gepflückt sind! So klein ist der Zwischenraum, der uns von diesem gefährlichen Feinde trennt." Seitdem trat er nie im Senate auf, ohne seiner Rede, wovon sie auch immer handeln mochte, die Worte hinzuzufügen: „Übrigens bin ich der Meinung, daß Karthago zerstört werden muß." Endlich drang er mit seinem Vorschlag zu einem Vernichtungskriege durch.

Schon längst

hatte der den Römern befreundete König von Numidien die Karthager wieder­ holt beleidigt und ihnen Land weggenommen, und immer waren diese zu Rom

mit ihren Klagen abgewiesen worden. Endlich verteidigten sie sich ohne Er­ laubnis der Römer; deich obgleich sie geschlagen wurden, erklärten die Römer dies für einen Friedensbruch und schickten ein Heer nach Afrika. Da ver­ sprachen die Karthager völlige Unterwerfung und schickten zum Unterpfand ihrer Treue dreihundert Jünglinge aus den angesehensten Familien. Der Konsul lobte sie für diese schnelle Unterwerfung, verlangte aber nun die Auslieferung aller ihrer Waffen und Kriegsvorräte. Auch dazu verstanden sich die Bedrängten; sie brachten zweimalhunderttausend vollständige Rüstungen, zweitausend Wurf­ maschinen und eine zahllose Menge von Wurfspießen und Pfeilen und lieferten ihre ganze Flotte aus, die sofort vor ihren Augen verbrannt wurde. Aber nun ermahnte sie der Konsul, auch die letzte Forderung zu erfüllen, nämlich ihre Stadt zu zerstören und sich drei Meilen von der Küste anzubauen. Da ergreift Ver­ zweiflung das betrogene und entwaffnete Volk; sie rüsten sich, ihre alte, heiß­ geliebte Vaterstadt bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Mit außer­

ordentlicher Anstrengung arbeitet alles, jung und alt, neue Verteidigungsmittel zu schaffen. Alle Tempel verwandelten sich in Werkstätten; aus Gold und Silber den Waffen geschmiedet; die Weiber schneiden ihr Haar

Männer und Weiber, um und öffentlichen Gebäude und jeglichem Metall wer­ ab, um daraus Seile und

Bogensehnen zu flechten; die Häuser werden abgetragen, um Holz zu Schiffen und Wurfmaschinen herzugeben. So gelingt es den Karthagern, drei Jahre

lang alle Angriffe der Römer zurückzuschlagen und ihnen sogar zur See wie zu Lande beträchtlichen Schaden zuzufügen. Endlich wendeten sich in Rom, wo mit jedem Jahre die Besorgnis und der Unwille zunahm, die Blicke des ganzen Volkes auf einen Jüngling, dessen Name schon die besten Hoffnungen erweckte, und der bereits die rühmlichsten Proben seiner Tapferkeit und seines Feldherrngeschicks abgelegt hatte. Es war Publius

200

VI.

Geschichte.

Scipio Ämilianus, der Sohn des Ämilius Paullus, der den Perseus unterworfen

hatte, und durch Adoption ein Enkel des Siegers bei Zama, dessen Namen er

nach römischer Sitte führte. Wiewohl er noch nicht das gesetzliche Alter hatte, wählte ihn das Volk zum Konsul und schickte ihn mit bedeutender Verstärkung nach Afrika. Hier war sein erstes Geschäft, die ganz verfallene Zucht im Heere wiederherzustellen. Darauf bemächtigte er sich der Landenge, welche Karthago mit dem festen Lande verband, zog von einem Meer zum andern einen Wall und zwei Gräben und schnitt so der Stadt alle Zufuhr vom Lande ab. Dann suchte er durch einen breiten Damm auch den Hafen zu sperren. Doch die Kar­ thager öffneten sich mit beispielloser Anstrengung einen neuen Zugang zur See, indem sie die Halbinsel nach einer andern Seite hin durchstachen, und erbauten gleichzeitig sechzig neue Schiffe. Mit diesen hätten sie die Römer durch den neuen Ausgang überfallen und ihre ganze Flotte verbrennen können; sie versäumten aber den rechten Augenblick und wurden, als sie endlich angriffen, mit bedeuten­

dem Verlust zurückgeschlagen. Da Scipio unterdes die übrigen Städte des kar­ thagischen Gebietes bezwang, von wo aus den Belagerten bisher die Lebens­ mittel zugeführt worden waren, so nahm mit jedem Tage das Elend und der Mangel zu. Endlich eroberten die Römer eine Insel, welche mitten im Hafen lag und die Schiffsmagazine enthielt. Von hier aus drangen sie nach einem blutigen Kampfe in die Stadt selbst ein und besetzten den Marktplatz. Doch auch jetzt noch waren die Karthager entschlossen, ihr Leben teuer zu verkaufen, und fochten in allen Straßen mit dem Mute der Verzweifelnden. Auf die Burg führten vom Markte aus drei Straßen, die mit sechsstöckigen Häusern besetzt waren. Als die Römer nun die Burg angriffen, wurden von den Dächern und Fenstern dieser Häuser herab Steine und Geschosse auf sie geworfen. Sie erstürmten daher die ersten Häuser und drangen von den Dächern aus in die nächsten. So wurde also in diesen Straßen ein doppelter Kampf geführt, oben auf den Dächern und unten auf dem Pflaster. Mitten unter die unten Kämpfenden wurden von oben Lebende und Tote herabgeschleudert, wäh­ rend ein fürchterliches Getöse und Jammern die Luft erfüllte. Endlich, als die Römer bis zur Burg vorgedrungen waren, wurden die Straßen in Brand gesteckt. Von hier aus verbreitete sich das Feuer über andere Teile der ungeheuren Stadt,

und da verloren noch unzählige von den Bewohnern, meist Greise, Weiber und Kinder, unter den einstürzenden Balken ihr Leben. Sechs Tage und sechs Nächte arbeiteten die Soldaten, die sich beständig ablösten, an der Wegräumung des Schuttes, um dem Heere einen Zugang zur Burg zu bereiten. Endlich am sie­ benten Tage kamen einige Karthager mit Ölzweigen in der Hand von der Burg

herab zu Scipio, der ohne Rast und ohne Schlaf von einer Anhöhe herab die Arbeiten geleitet hatte. Sie versprachen, die Burg zu übergeben, und baten um Schonung ihres Lebens. Scipio gewährte ihre Bitte; die römischen Überläufer jedoch, die sich unter ihnen befanden, nahm er aus, und nun zogen fünfzigtausend Menschen, Männer und Weiber, durch eine enge Mauerlücke hervor. Die römi­ schen Überläufer dagegen, etwa neunhundert an der Zahl, begaben sich mit Hasdrubal, dem Anführer der Karthager, seiner Gattin und seinen beiden Knaben

VI.

Geschichte.

201

in den Tempel, der auf dem höchsten Teile der Burg lag und schwer zugänglich war, so daß sie sich hier trotz ihrer geringen Anzahl leicht verteidigen konnten. Als sie aber, von Hunger und Anstrengungen erschöpft, ihr Verderben vor Augen sahen, zündeten sie den Tempel an und verbrannten sich mit demselben. Nur Hasdrubal war, mit Ölzweigen in der Hand, heimlich zu den Römern hinab­

gestiegen.

Seine Gattin verwünschte ihn laut als treulosen Verräter und Feig­

ling und stürzte sich mit ihren Kiudern in die Flammen. Als der brennende Tempel in Trümmer sank, war dies die Losung zur Vertilgung der prächtigen Stadt: sie wurde an allen Ecken angezündet, nachdem die kostbarste Beute nach Rom gesandt, das Übrige aber von den Soldaten geplündert worden war. Sieb­

zehn Tage brannte Karthago, dann aber wurde auf Befehl des Senats auch der Platz der vernichteten Stadt geebnet und zu einer ewigen Wüste bestimmt. Von siebenmalhunderttausend Einwohnern war nur ein geringer Teil gerettet; die übrigen waren bei der Belagerung umgekommen. Als Scipio die Stadt, welche siebenhundert Jahre geblüht, an Reichtum und Macht mit den größten Reichen gewetteifert, an Betriebsamkeit und Unter­ nehmungskraft aber alle übertroffen hatte, in Schutt und Asche dahinsinken sah, vergoß er Thränen der Wehmut und versank in tiefes Nachdenken über das Geschick der Städte und Völker. Mit einem ahnenden Blick auf das künftige Schicksal Roms sprach er die Worte des Dichters: „Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkr, Priamus selbst und das Volk des lanzenkundigen

Königs!"

Dielitz.

17. Die Kimbern und Teutonen. Während die Römer in Afrika mit Jugurtha kämpften, wurde ihr Land von Norden her durch eine Gefahr bedroht, die alle Gemüter mit Furcht und Schrecken

erfüllte. Es erschienen nämlich an den Alpen wilde Völkerschwärme, Cimbern und Teutonen genannt, die mit Weibern und Kindern heranzogen, um sich unter dem milden Himmel Italiens ein neues Vaterland zu suchen. Wo sie frühergewohnt, ist nicht bekannt; gewiß waren es deutsche Völker; das schloß man aus ihren blauen Augen, ihren hohen Gestalten und ihrer außerordentlichen Lei­ besstärke. Durch ihren Mut und ihre Kühnheit waren sie unwiderstehlich, und in der Schlacht brachen sie mit solchem Ungestüm hervor, daß niemand ihren Angriff auszuhalten vermochte. Bereits hatten sie große Landstrecken durchzogen, alle Völker, auf die sie trafen, mit leichter Mühe überwältigt und selbst mehrere römische Feldherren mit großen Heeren, die ihnen über die Alpen entgegengezogen waren, aufgerieben. Jetzt standen sie an den Grenzen Italiens, mindestens dreimalhunderttausend streitbare Männer und ein noch viel zahlreicherer Schwarm von Weibern und Kindern. In Rom war der Schrecken so groß, daß keiner von den angesehenen Bür­ gern sich um das Konsulat bewarb. Da wählte das Volk den Marius zum Konsul, der sich damals noch in Afrika befand, um die Angelegenheiten Numidiens zu ordnen. Sobald ihm der Oberbefehl gegen die Cimbern und Teutonen

202

VI.

Geschichte.

übertragen war, suchte er vor allen Dingen das Heer durch fortgesetzte Übungen abzuhärten. Dabei verfuhr er mit unerbittlicher Strenge; aber willig folgten ihm die Soldaten; denn seine Umsicht, seine unermüdliche Thätigkeit und die

glänzenden Erfolge, mit denen bisher alle seine Unternehmungen gekrönt worden waren, nahmen die rohen Soldaten bis zur Begeisterung für ihn ein. Glück­ licherweise zogen die Barbaren für jetzt bei Italien vorbei, um in Spanien ein­ zudringen. Dadurch gewann Marius Zeit, seine Truppen zu üben und durch strenge Kriegszucht abzuhärten.

Endlich zogen die Barbaren heran, als Marius zum vierten Mal das Kon­ sulat bekleidete. Sie teilten sich in zwei gewaltige Heerhaufen. Die Cimbern zogen durch die Schweiz, um von Deutschland aus in Italien einzudringen; die Teutonen dagegen wählten den kürzeren Weg durch das südliche Frankreich Mit diesen beschloß Marius zuerst zu kämpfen und bezog daher ein befestigtes Lager, während er seinen Amtsgenossen Catulus den Cimbern entgegenschickte. Alsbald erschienen die Teutonen in zahlloser Menge vor dem römischen Lager; sie waren gräßlich anzuschauen und forderten mit einem fürchterlichen Geschrei, das dem Gebrüll wilder Tiere glich, die Römer zum Kampfe heraus; allein Marius hielt seine Soldaten im Lager zurück, ließ sie der Reihe nach auf den Wall treten

und sich umseheu und gewöhnte sie auf diese Weise an den schrecklichen Anblick und das betäubende Geschrei der Feinde. Dadurch verminderte sich nicht nur ihr Entsetzen, sondern sie lernten auch die Rüstung und die Bewegungen der

Barbaren kennen. Zugleich aber wurde durch die Drohungen und die Großspreche­ reien derselben ihr Unwille gereizt, so daß sie in laute Klagen über die Unthätigkeit ihres Feldherrn ausbrachen. Endlich zogen die Deutschen fort vor den Römern vorbei, und so groß war ihre Menge, daß der Zug sechs Tage lang ununterbrochen fortdauerte. Als sie

dem Walle nahe waren, riefen sie den Römern mit lautem Gelächter zu, ob sie etwas an ihre Weiber zu bestellen hätten; denn bald würden sie bei ihnen sein. Run brach auch Marius auf und rückte ihnen auf dem Fuß nach, indem er sich immer mit der größten Vorsicht an unzugänglichen Stellen lagerte. So kamen beide Heere bis an den Fuß der Alpen, wo Marius die entscheidende Schlacht zu liefern beschlossen hatte. Nachdem zwei Tage lang mit wechselndem Glück gefochten worden war, griffen die Teutonen in geschlossenen Reihen an; doch sie wurden zurückgeworfen. Ehe sie sich zu einem zweiten Angriff ordnen konnten, drangen dreitausend Römer, welche Marius auf den Bergen im Rücken der Bar­ baren aufgestellt hatte, in vollem Laufe auf sie ein und brachten die hintersten

Reihen dermaßen in Verwirrung, daß sich die Unordnung von da aus über das ganze Heer verbreitete. Nun ergriffen die Teutonen in wilder Eile die Flucht. Die Römer setzten ihnen nach und richteten ein solches Blutbad unter ihnen an,

daß über hunderttausend Mann teils gefangen, teils niedergehauen wurden. Unterdes waren die Cimbern dem Catulus, der an der Etsch ein befestigtes Lager bezogen hatte, mit Trotz und Verachtung entgegengezogen. Um ihre Stärke und ihre Abhärtung zu zeigen, ließen sie sich nackt beschneien, kletterten über Schnee- und Eismassen die Berge hinan, legten sich dann auf ihre breiten Schilde

VI.

Geschichte.

und ließen sich auf denselben die Abhänge Hinuntergleiten.

203 Als sie in die Nähe

der Römer kamen, rissen sie die stärksten Bäume mit den Wurzeln aus der Erde, warfen sie nebst gewaltigen Felsblöcken in den Strom und zertrümmerten die

Brücke der Römer. Da floh das Heer des Catulus; nur diejenigen Römer, welche jenseit der Brücke standen, leisteten so tapferen Widerstand, daß die Cimbern ihnen, als sie sie überwältigt, um ihres Mutes willen freien Abzug ge­ statteten. Darauf ergossen sich die cimbrischen Scharen über die schönen Fluren Norditaliens und brachten den Winter in behaglicher Ruhe zu. Vergebens warteten sie auf ihre Brüder, die Teutonen; statt ihrer kam im Frühling der gewaltige Marius mit seinem siegreichen Heere. Zu diesem schickten nun die Cimbern Gesandte und baten für sich und ihre Brüder um Land. „Die haben schon Land genug!" rief Marius lachend, und als sie die Trauerbotschaft noch immer nicht glauben wollten, wurden ihnen die gefangenen Könige der Teutonen gefesselt vorgeführt. Wut und Rache im Herzen, drangen nun die Eimbern vor. Sie trugen Helme, auf denen die Köpfe wilder Tiere abgebildet waren, und hohe Federbüsche darauf, Harnische von Eisen und glänzend weiße Schilde, zweizackige Spieße und schwere Säbel. Die Vorkämpfer in den ersten Reihen hatten sich, um gemeinsam zu siegen oder zu fallen, mit eisernen Ketten aneinandergeschlossen; aber durch die Sonne und den Staub geblendet und durch die drückende Hitze entkräftet, unterlagen sie beim ersten Angriff. Bald mußte sich die ganze Schar in Verwirrung zurückziehen, und nun begann ein Würgen, das bis in die Nacht währte. Zu ihren Verschanzungen zurückgetrieben, wurden sie hier von den Weibern empfangen, die von den Wagen herab die Flüchtlinge löteten, mochten es auch ihre Väter, Brüder oder Männer sein Endlich, als alles verloren war, erdrosselten die Weiber mit eigenen Händen ihre Kinder und brachten sich selbst

um; auch die Männer durchbohrten sich gegenseitig, um doch als freie Männer zu sterben. Diese gewaltige Schlacht vernichtete das Volk und den Namen der Cimbern. Uber hunderttausend Krieger waren erschlagen und sechzigtausend gefangen; der

Schrecken aber, der vor ihnen hergegangen war, blieb noch Jahre lang bei den Römern sprichwörtlich. Dielitz.

18.

Cäsars Tod.

Nach Beendigung aller Bürgerkriege stand Julius Cäsar auf der Höhe seines Glücks; Senat und Volk überhäuften ihn mit Ehrenbezeigungen ohne Maß und Ziel, und während man ihn als unumschränkten Herrscher anerkannte und fürch­ tete, beeiferten sich die angesehensten Männer, seine Gunst zu gewinnen. Ohne

Sorge mehr vor einem äußeren oder inneren Feind dachte er nur noch darauf, seinen Sieg dauernd zu machen und durch Weisheit und Milde zu behaupten, was er durch das Glück der Waffen gewonnen hatte. Die Machtfülle, welche ihm die immerwährende Diktatur, die Jmperatorwürde, die freie Verfügung über den öffentlichen Schatz und alle übrigen ihm übertragenen Würden und Rechte gewährten, konnte wohl alle Wünsche der Herrschsucht befriedigen; dennoch trach-

204

VI.

Geschichte.

tete der immer höher strebende Sinn, die höchste Gewalt, die er der That nach besaß, noch durch den Schmuck der Königskrone zu verherrlichen und zu befestigen. Wohl mochte er auch überzeugt sein, daß die dem Staate wiedergegebene Ruhe und neu begründete Ordnung nicht besser gesichert würde als durch dauernde Be­ festigung seiner Macht.

Noch gab es aber eine Partei, an deren Spitze die ehrenwertesten Männer standen, welche die Wiederherstellung der früheren Verfassung der Republik fürmöglich und dem Staate heilsam hielten. Fanden sich diese Männer schon in ihrer stillen Hoffnung, Cäsar werde nach Beendigung der Kriege die ihm über­ tragene Gewalt von selbst niederlegen, getäuscht, so wurden sie durch das wenig verhüllte Streben nach dem Ziel seiner Wünsche nur besorgter und durch den Stolz seines Betragens gereizt. Als ihm der gesamte Senat, die Konsuln an der Spitze, die Beschlüsse überreichte, welche die glänzendsten Ehrenbezeigungen ihm zuerkannten, empfing er sie, auf seinem goldneu Ehrenstuhl sitzend, ohne auf­ zustehen. Die Leibkohorten, die ihn während der Kriege begleitet hatten, entließ er zwar, lehnte auch zum Schein den angebotenen Königstitel ab, aber die Volks­ tribunen, welche diejenigen zur Strafe zogen, die ihn als König begrüßten, ent­ setzte er ihres Amtes und steigerte dadurch den Unwillen umsomehr, als dies Amt nach alten Gesetzen für heilig und unverletzlich galt. Als ihm der Konsul Antonius bei einer Festfeier auf öffentlichem Markt ein Diadem aufsetzen wollte, nahm er es zwar nicht an, aber jedermann sah, daß er dabei nur der Stimme des Volkes nachgab, das seinen Unwillen laut zu erkennen gegeben hatte. Wie nun durch solches Benehmen der Unwille und die Erbitterung immer allgemeiner wurde, entspann sich unter den angesehensten Männern eine Verschwörung, um durch Ermordung des Alleinherrschers die freie Verfassung wiederherzustellen. Unter denselben befanden sich seine vertrautesten Freunde und Männer, die er mit Gnaden und Wohlthaten an sich gefesselt zu haben glaubte. An der Spitze standen Marcus Junius Brutus uud Cajus Cassius. Brutus stammte von jenem älteren Brutus, welcher den König Tarquinius vertrieben hatte. Von sanftem und ernstem Charakter, durch Unterricht und philosophische Grundsätze gebildet, war er für alles Große und Edle empfänglich, durch Lauterkeit des Herzens und Geradheit der Gesinnung ausgezeichnet; daher schoben selbst die Feinde das Ge­ hässige der That auf den Cassius, der ein leidenschaftlicher Mann war, und man sagte, Brutus hasse die Tyrannei, Cassius den Tyrannen selbst. Die Verschwo­ renen teilten auch anderen angesehenen Männern, die nicht zu ihren Freunden

gehörten, den Plan mit und nahmen sie in den Bund auf, besonders solche, die durch Kühnheit und Entschlossenheit bekannt waren, und dabei wirkte des Brutus Ansehen am meisten, dieselben zu gewinnen; doch verbanden sie sich nicht durch

einen Eid, sondern auch ohne diesen hielten sie fest zusammen und harrten aus

und schwiegen. Es wurde nun beschlossen, am fünfzehnten März in voller Senatssitzung zum Werke zu schreiten; denn da hofften sie, ohne Verdacht zu erregen, sich alle zusammen einfindeu zu können und an den edelsten und ersten Männern, welche der That beiwohnten, Verteidiger der Freiheit zu finden. Als der Tag erschienen

VI.

Geschichte.

205

war, begaben sie sich schon früh in den Versammlungssaal, eine Säulenhalle, die mit des Pompejus Bildsäule geschmückt war. Brutus und Cassius, welche Prätoren waren, hielten, bevor Cäsar erschien, vor der Halle Gericht, hörten ruhig an, die vor ihnen stritten, und sprachen Urteile mit aller Aufmerksamkeit und Einsicht; so unerschütterlich war ihr Gemüt in der Nähe solcher Gefahr, die niemand, der nicht eingeweiht war, hätte ahnen können. Indes ereignete sich Verschiedenes, was sie beunruhigen konnte. Cäsar blieb aus, wiewohl es schon hoch am Tage war, zurückge halten von seiner Frau, die durch ängstliche Träume und ungünstige Opfer geschreckt war, und von Wahrsagern, die ihm abrieten auszugehen. Schon wollte ter den Antonius abschicken, um den Senat zu ent­ lassen; aber Decimus Brutus, einer der Verschworenen, der zu seinen Vertrauten gehörte, wußte ihn zu bereden, daß er nicht einen solchen Schein des Übermuts auf sich laden möge. So begab sich denn Cäsar, getragen in einer Sänfte, zur Sitzung. Als er eintrat, stand der ganze Senat auf; sobald er sich aber

gesetzt hatte, drängten sich die Verschworenen um ihn, und Tullius Cimber trat vor, für seinen verbannten Bruder zu bitten; die andern alle unterstützten seine Bitte, ergriffen Cäsars Hände und küßten ihm Brust und Haupt. Anfänglich wies er die Bitten zurück; dann, als sie nicht losließen, stand er mit Gewalt gegen sie auf; da riß ihm Tullius mit beiden Händen den Mantel von der Schulter, und Casca, der gerade hinter ihm stand, versetzte ihm mit dem Dolch einen Stich in die Schulter. Cäsar faßte gleich den Griff mit der Hand und rief ihn an: „Verruchter Casca, was beginnst du?" Jetzt drangen die andern von allen Seiten auf ihn ein; er blickte umher, wie er die Andringenden ab­ wehren könnte, bis er sah, daß auch Brutus den Dolch gegen ihn zückte. Da ließ er die Hand deß Casca, die er noch festhielt, fahren, und, sein Haupt in die

Toga gehüllt, gab er mit den Worten: „Auch du, mein Sohn Brutus?" den Leib ihren Stichen hin. Nun fielen die Verschworenen im Gedränge über ihn so hastig her, daß sie einander selbst verwundeten und alle mit Blut bespritzt

wurden.

Nach Lanz.

19.

Hermann, der Befreier Deutschlands.

Nach Drusus' Tode suchte sein listiger Bruder Tiberius die Deutschen an

sich zu locken, aber es wollte ihut nicht gelingen; desto gefährlicher wurde ihnen Quintilius Barus, der einige Jahre nach Chr. G. als römischer Statthalter an den Rhein kam. Varus war gewohnt zu herrschen und zu gebieten. Den rohen Deutschen, die er als römische Unterthanen betrachtete, glaubte er keine Rück­ sichten schuldig zu sein. Er legte neue Zwingburgen an, zog neue Straßen durch das Land, ließ neue Legionen in die deutschen Marken rücken und schrieb Steuern und Abgaben aus, wie es ihm gefiel. Der Freiheitssinn der Deutschen sträubte sich dagegen, aber sie mußten zahlen. Bei Nechtsstreitigkeiten führten bloß römische Advokaten das Wort, römische Richter sprachen das Urteil nach römischen Gesetzen, und römische Gerichtsdiener vollzogen den Urteilsspruch, züchtigten den einen mit Ruthen, straften den andern mit dem Beil.

Das war

206

VI.

Geschichte.

für die Deutschen, die nur ihresgleichen als Richter anerkannten, unerhört.

Ein

finsterer Haß loderte in ihren Herzen gegen die fremden Unterdrücker auf. Varus aber gebot über ein Heer von 40000 Mann, und ein offener Kampf gegen ihn mußte zu einem sicheren Untergänge führen. Die Deutschen sahen das ein und duldeten mit verbissenem Grimme, was nicht zu ändern war. Doch bald erstand dem unterdrückten Volke ein Retter: das war Hermann oder Armin, der Sohn eines edlen Cheruskerfürsten, Rom selbst hatte ihn groß gezogen; im römischen Heere hatte er gedient, die Kunst des Krieges gelernt und selbst die römische

Nitterwürde erlangt. Er war untadelig an Sitten, klug und gewandt wie we­ nige seines Volkes, voll feuriger Beredsamkeit und glühend von Freiheits- und Vaterlandsliebe. Leicht gewann er die Herzen der freigesinnten Männer und Jünglinge und wurde der Stifter eines großen, geheimen Bundes zur Rettung des Vaterlandes. In einer nächtlichen Versammlung im Walde schwuren die Verbündeten allen Römern in Deutschland den Untergang. Segest, der Schwie­ gervater Hermanns, war römisch gesinnt und wurde, als er Kunde von der Verschwörung erhielt, an seinem Volke zum Verräter; glücklicherweise aber glaubte ihm Varus nicht. Die Verbündeten bereiteten unterdessen in der Stille alles zu einem Kampfe auf Leben und Tod gegen die Römer vor; in der Schlacht im Teutoburger Walde vernichteten sie im Jahre 9 nach Chr. G. daS römische Heer. Lüttrmzhaus.

20. Der heilige Martin. Als Kaiser TheodosiuS Regierte mit Arcadius, Einem Reiter aus Pannonia Mit Namen Martin dies geschah. Er kam im Sturm und Schnee einst mitten Zu einem Ort hineingeritten; Da fleht' alsbald ein armer Mann

Um eine kleine Gab' ihn an. Der Mann war elend, nackt und bloß, Der Wind ging auf die Haut ihm los; Herr Martin hätt' ihm für sein Leben Gern Koller, Nock und Wams gegeben; Allein, ihr wißt wohl, ein Soldat

Sehr wenig zu verschenken hat. Doch hielt er an auf hohem Üiofc, Worauf der Regen niederfloß, Und sprach: „DerMann ist nackt und bloß; Es muß ja grad' auch Geld nicht sein, Ich will ihm dennoch was verleihn."

Sein Schwert drauf mit der Faust gefaßt,

Haut er von seinem Mantel fast Des einen Zipfels Hälft' herab. Die er dem armen Manne gab. Der Arme nimmt das Stück sogleich Und wünscht dafür das Himmelreich Dem guten, frommen Reitersmann,

Der sich nicht lange drauf besann. Wie der gesagt sein Gratias, So reitet dieser auch fürbaß Zu einer armen Witwe Thür Und legt daselbst sich ins Quartier, Nimmt Speis' und Trank ein wenig ein, Es wird nicht viel gewesen sein. Nachdem er also trunken, geffen Und das Gebet auch nicht vergessen, Legt er sich nieder auf die Streu; Ob's eins gewesen oder zwei, Das hat die Chronik nicht gemeld't; Drum lass' ich's auch dahingestellt.

Alsbald begiebt sich's in der Nacht, Daß er von einem Glanz erwacht;

VI.

Ge,'schichte

Der zwingt das Aug' ihn aufzuschlie­

ßen, Da steht ein Mann zu seinen Füßen; Sein Haupt trägt eine Dornenkron'. Er ist'ö, er ist's des Menschen Sohn! Mit lausend Engeln, die ihm dienen, Ist plötzlich unser Herr erschienen In aller seiner Herrlichkeit. Und mit dem Mantel, welchen heut Der Martin aus Pannonia, Der dessen gar sich nicht versah, Geschenkt dem armen Bettelmann,

Ist unser Heiland angethan. Und so der Herr zu Petrus spricht: „Siehst du den neuen Mantel nicht, Den ich hier auf den Schultern trage?" Auf des Apostels weitre Frage, Wer ihm den Mantel denn geschenkt, Das Aug' auf Martin hingesenkt,

207

Mit einem sanften HimmelSton Fährt also fort des Menschen Sohn: „Der Martin hier, der ist es eben, Der diesen Mantel mir gegeben. Ermuntre dich, steh auf, mein Knecht, Den ich erwählt, du bist gerecht! Du warst bisher ein blinder Heide; Das Schwert, das steck' nun in die Scheide! Ein Streiter Gottes soll auf Erden Mein frommer Bischof Martin werden!" Als dieses Wort der Herr gesagt, So kräht der Hahn, der Morgen tagt. Ein Engel küßt des Mantels Saum, Und Martin ist erwacht vom Traum, Denkt nach, klopft an ein Kloster an

Und ist getreu nach Christi Worten Aus einem wilden Neitersmann Ein großer, frommer Bischof worden. Falk.

21.

Der heilige Ambrosius.

VorZeiten schon lief aus dem Gotteshaus

Bewähre seiner Lehren Frucht.

Das Volk nach geendigter Predigt hinaus, Trieb vor der Kirche manch loses Spiel Und andrer Narreieidinge viel, Verführt' auch wohl ein Lärmen groß,

Ambrosius lächelt, nimmt sein Buch, Folgt auf den Kirchhof nach dem Zug.

Das Küster und Priester sehr verdroß. Drum zu der Kirch' und Gottes Ehren Dem leidigen Ärgernis abzuwehren,

Droht oft der Archidiakonus Von der Kanzel herab mit Kirchenbuß'. Der Küster trat wohl an die Thür, Stellt den Leuten vor die Ungebühr, So vor der Zeit in hellen Haufen Aus der heiligen Kirche wegzulaufen; Doch kaum verliest man das Kirchengebet, Alles Volk wieder aus der Kirche geht. Da winkt der Küster dem Erzbischof, Hinauszusehen auf den Kirchenhof, Wie dort das Volk in böser Zucht

Dort thut er mitten unter sie treten Und mit lauter Stimme weiter beten. Darob das Volk sich verwundert schier. Der Erzbischof spricht: „Was staunet ihr? Wo die Schafe sind, muß der Hirte sein. Geht ihr wieder zur Kirchenthür hinein, So will ich mit euch zurücke gehen; Wo nicht, so kaun ich auch draußen stehen;

Denn wo demHerrn die Gläubigen dienen, Da ist er mitten unter ihnen." Als nun das Volk die Worte hört, Es schnell zurück zur Kirche kehrt,

Faltet wieder betend die Hände, Wartet die Kirch' ab bis zum Ende. Und bis der Priester: missa estl rief, Kein Mensch mehr aus der Kirch' entlief. Avel.

VI.

208

22

Geschichte.

Die Hunnen.

Im Jahre 375 drangen die Hunnen aus dem nördlichen Asien in Europa ein und brachen die Welt der gotischen Völker zusammen. Sie waren ein furcht­ bares und häßliches Geschlecht, Deutschen, Griechen und Römern ein gleicher Abscheu. Ihr Gesicht hatte das Ansehen eines Klumpens; die Augen waren wie kleine Löcher, die Wangen voll knotiger Narben, weil sie in der Kindheit aufge­ rissen wurden, um das Wachseu des Bartes zu verhüten, der Nacken steif und stolz, die Glieder des Leibes kurz und gedrungen und vom Kopse bis zur Sohle in Tierfelle gehüllt, deren rauhe Seite nach außen gekehrt war. Immer saßen sie auf ihren kleinen, zähen Nossen, wie wenn sie mit denselben zusammenge­ wachsen wären; zuweilen ritten sie jedoch auch nach der Weiber Weise. Aus den Rossen verrichteten sie alle Geschäfte, kauften und verkauften, nahmen Speise uud Trank uud pflogen gemeinschaftlichen Rat. Wenn sie ruhen wollten, so legten sie sich vorwärts auf den Hals und überließen sich unbesorgt dem Schlaf und dem Traum. Ihre Nahrung waren die Wurzeln wilder Kräuter und das Fleisch jegliches Tieres. Dieses Fleisch, durch die Jagd gewonnen, legten sie wie einen Sattel auf den Rücken des Pferdes und ritten es mürbe mit ihren Schenkeln; Feuer und Würze gebrauchten sie nicht zu der Zubereitung. Ihr Kleid wechselten

sie nicht anders, als wenn es vor Alter in Fetzen vom Leibe fiel. Von Anstän­ digkeit und Schicklichkeit hatten sie keinen Begriff und keine Vorstellung von Re­ ligion- Ihre Weiber saßen auf den Karren; auf denselben wurden die Kinder­ genährt, bis die Knaben dem Vater folgten und die Mädchen an die Stelle der Mutter traten. Nach Gold hatten sie die heftigste Begierde und ein brennendes Verlangen nach Raub. Ihre Laute waren einer menschlichen Stimme kaum ähn­ lich. Wandelbar wie ihre Lebensart war ihre Gesinnung; auf ihr Wort durfte niemand rechnen, und leicht war ihr Zorn entflammt. Lanzen, Pfeile und Bogen waren ihre Waffen, die Spitze ein scharfer Knochen. Auch hatten sie Schlingen, die sie mit Geschicklichkeit über den Feind zu werfen verstanden, um ihn wehrlos zu machen. In Schnelligkeit und Ausdauer bestand ihre Stärke; darum sie der Verteidigung den Angriff vor. Keilweise drangen sie heran; in der des Feindes lösten sie sich auf und umzogen in einem wilden Schwarme Schlachtordnung. An der Stirn, im Rücken, auf den Seilen, vor jeder

zogen Nähe seine Lücke

zeigten sie sich mit wildem Geschrei, verschwanden im Augenblick, uud im Augen­

blick stürzten sie von neuem heran, überall schadend, nirgends zu fassen. So stürmten sie ohne Unterlaß wie eine schreckliche Gewitterwolke hinein auf ihren Feind inl befestigten Lager, im offenen Felde, auf dem Marsche, ringsher mit

Tod und Verwüstung alles erfüllend; und sie überwanden ihn durch Ungeduld, Angst und Ermüdung. In der That, es ist nicht zu verwundern, daß solche Feinde bei ihrem Auftreten die Sage veranlaßten, sie gehörten nicht zum Ge­ schlechte der Menschen.

Ludcn.

VI. Geschichte.

209

23. Das Grab des Busento. Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder, Aus den Wassern schallt es Antwort, und in Wirbeln klingt es wieder. Und den Fluß hinauf hinunter ziehn die Schatten tapfrer Goten, Die den Alarich beweinen, ihres Volkes besten Toten. Allzufrüh und fern der Heimat mußten hier sie ihn begraben, Während noch die Jugendlocken seine Schulter blond umgaben. Und am Ufer des Busento reihten sie sich um die Wette; Um die Strömung abzuleiten, gruben sie ein frisches Bette. In der wogenleeren Höhlung wühlten sie empor die Erde, Senkten tief hinein den Leichnam mit der Rüstung, auf dem Pferde,

Deckten dann mit Erde wieder ihn und seine stolze Habe, Daß die hohen Stromgewächse wüchsen aus dem Heldengrabe. Abgelenkt zum zweiten Male, ward der Fluß herbeigezogen: Mächtig in ihr altes Bette schäumten die Busentowogen. Und es sang ein Chor von Männern: „Schlaf in deinen Heldenehren! Keines Römers schnöde Habsucht soll dir je dein Grab versehren!" Sangen's, und die Lobgesänge tönten fort im Gotenheere. Wälze sie, Busentowelle, wälze sie von Meer zu Meere! diäten.

24.

Die Schlacht bei Zülpich.

Chlodewig, der Frankenkönig, sah in Zülpichs heißer Schlacht, Daß die Alemannen siegten durch der Volkszahl Übermacht.

Plötzlich aus des Kampfs Gedränge hebt er sich auf stolzem Roß, Und man sah ihn herrlich ragen vor den Edlen, vor dem Troß.

Beide Arme, beide Hände hält er hoch empor zum Schwur, Ruft mit seiner Eisenstimme, daß es durch die Reihen fuhr: „Gott der Christen, Gott am Kreuze, Gott, den mein Gemahl verehrt, So du bist ein Gott der Schlachten, der im Schrecken niederfährt, Hilf mir dieses Volk bezwingen, gieb den Sieg in meine Hand, Daß der Franken Macht erkennen muß des Rheins, des Neckars Strand! Sieh, so will ich an dich glauben, Kirchen und Kapellen baun Und die edlen Franken lehren keinem Gott als dir vertraun." Sprach es, und aus Wolken leuchtend brach der Sonne voller Strahl, Frischer Mut belebt die Herzen, füllt des schwachen Häufleins Zahl. Chlodwig selbst ergriff das Banner, trug es in der Feinde Reihn,

Und die Franken siegesmutig stürzten jauchzend hinterdrein. Schreck ergriff der Feinde Rotten, feige wenden sie und fliehn, All ihr Kriegsruhm ist erloschen, ihre Macht und Freiheit hin. König Chlodwig ließ sich taufen und sein edles Volk zugleich, Und ob allen deutschen Stämmen mächtig ward der Franken Reich. Wenn sie einst den Gott verlassen, der bei Zülpich Sieg verlieh, Ist den Alemannen wieder Macht gegeben über sie. Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb.

5. Aust.

Simrock.

210

VI.

23.

Geschichte.

Pipin der Kurze.

„Der Stärkste soll König der Star­ ken sein. Der Größte Herrscher der Großen! Nicht ziemt's, daß jenem, so schwach und klein, Die mächtigen Recken Gehorsam weihu;

Zu Childerich sei er verstoßen!" So murmelt's frech und frecher im Heer, So höhnen die kecken Vasallen. „O seht auf die Franken, ihr Völker, her, Der Kleine, der Kurze, ihr Fürst ist er, Wohl wird's euch l errlich gefallen! Seht, wenn er reitet auf mächtigem Gaul, Ein Äfflein auf hohem Kamele,

Reicht just sein Helmbusch dem Mar­ schall ans Maul; Doch ist er auch klein, so ist er nicht faul Zu trotzigem, stolzem Befehle." Und wohl vernimmt's der wackre Pi­ pin, Bemerkt, wie die Grollenden flüstern, Mit Murren folgend, gen Welschland ziehn, Ihm säumig gehorchen und frevelhaft kühn Sich mürrischer täglich verdüstern. Und stark im Geiste, gewaltig und klug, Erwägt er's mit weisen Gedanken. „Sei heut des Weges, der Mühen genug, Gehemmt der Scharen gewaltiger Zug! Errichtet zum Fechtspiel die Schranken! Herbeigebracht der gewaltige Leu! Den Kämpfer will ich ihm stellen!" Wohl seltsam scheint die Bestellung und

neu, Und mit Neugier murmeln, es murmeln

mit Scheu Die trotzigen, stolzen Gesellen.

Rings wird der Platz mit Gittern

umhegt, Dahinter die Sitze der Ritter, Erhaben des Königs Balkon. Da frägt Wohl jeder, zu Unmut und Sorgen er­ regt: „Wie schwach doch, wie schwankend das Gitter! Ein Ruck mit,der mächtigen Tatz', und es fällt, Und das Ungetüm sitzt uns im Nacken, Doch der dort oben, der winzige Held, Wohl hat er sich trefflich sicher gestellt, Zu schaun, wie die Krallen uns packen!" Und der Leu wird gebracht im vergit­ terten Haus, An der Schranke geöffnet das Pförtchen. Und der Tiere König, er schreitet heraus, Und die Ritter erfaßt nun Schrecken und Graus, Und keiner redet ein Wörtchen. Doch zweifelnd sieht sich der Löwe be­ frein Und reckt in der Freiheit die Glieder Und schreitet getrost in die Schranken hinein Und zeigt der Zähne gewaltige Reihn, Laut gähnend, und strecket sich nieder. Vom Balkon ruft Pipin mit donnern­ dem Laut: „Ihr männlichen, trotzigen Krieger,

Da schaut ein Kampfspiel, ein würdiges,

schaut! Wer sich zu messen mit diesem getraut, Den nenn' ich den ersten der Sieger." Und ein Zischeln, ein Murmeln, ein Murren erklingt, Dumpf nur im Beginnen und leise; Bald, wie wann, stärker und stärker be­ schwingt,

VI.

Geschichte.

211

Mit wogenden Fluten die Windsbraut

Auf schnellt der Leu, wutschauernd im

ringt, So sauset's und brauset's im Kreise.

Flug, Doch dringt, eh' die Tatze, die zuckende,

Und kecklich hervor tritt Gerhard vom Stern, Der frechste der frechen Kumpane. „Der Vortanz verbleibe dem König und

schlug, DasSchwert durch denRachenzurKehle.

Herrn! Auf, tanze denn, Hoheit, wir lassen dir's

gern, Herab von dem sichren Altane!" „So sei's!" spricht Pipin, und sich schwingend im Satz, Springt der Kurze, doch markig und sehnig, Born Balkon herab auf den sandigen Platz. „Auf, Bruder Leu, mnf, wetze die Tatz'! Auf, König! dick fordert ein König!" Und schlägt ihm mit flacher Kling' auf den Bug Und erregt ihm den Grimm in der Seele.

26.

Und das Blut entsprudelt dem grau­ sigen Schlund, Und über sich stürzt er und wendet Drei-, viermal die Augen, rollend im Rund, Drei-, viermal geißelt der Schweif den Grund, Und er streckt sich und zuckt und veren­ det. Stolz schaut der König im Kreise her-

UNl, Und die Ritter atmen beklommen Und blicken zu Boden erstaunt und stumm, Und der Hohe dreht sich verachtend um. Kein Murren ward weiter vernommen. Streckfuß.

Beiisar.

Vor 1300 Jahren lebte unter dem griechischen Kaiser Justinian ein Mann, mit Namen Beiisar, der, aus geringem Herkommen entsprossen, erst unter der Leibwache des Kaisers gedient und sich endlich dort so ausge­ zeichnet hatte, dass er bis zum ersten Feldherrn emporgestiegen war. Der Kaiser war damals in einen bedenklichen Krieg mit den Persern verwickelt und vermochte ihrem grossen Heere, welches über 40000 Mann stark war, kaum die Hälfte der Truppen entgegenzustellen; aber Beiisars Klugheit galt mehr als das grosse persische Heer; er erfocht über dasselbe einen vollständigen Sieg und zwang die Perser zu einem vorteilhaften Frieden. Im folgenden Jahre, nachdem er die Unruhen, welche in Konstantinopel selbst ausgebrochen waren und nicht allein grosses Blutvergiessen veran­ lasst, sondern auch einen Teil der Stadt in Asche gelegt hatten, mit kräf­ tiger Hand gestillt und seinem Kaiser den Thron und das Leben gerettet hatte, ging er mit einer Flotte nach Afrika, um Gelimer, den König der Vandalen, zu bekriegen. Sein Heer bestand nur aus 15000 Mann; dennoch eroberte er Karthago, besiegte den feindlichen König und führte ihn ge­ fangen im Triumph nach Konstantinopel. Justinian überhäufte ihn mit Gunstbezeigungen, liess ihm zu Ehren sogar Münzen schlagen und ergriff immer neue Gelegenheit, durch diesen grossen Feldherrn sich neue Siege zu verschaffen. Er sendete ihn nämlich nach Italien, um dort das Reich 14*

212

VI.

Geschichte.

der Ostgoten zu vernichten. Beiisar landete mit einer Flotte an den Küsten von Sicilien, eroberte die Städte Syrakus, Palermo und Neapel, schlug den gotischen König Vitiges, nahm ihn gefangen, zog siegreich in Rom ein und brachte seinem Kaiser auch die Krone dieses Reiches und den gefangenen König nach Konstantinopel. Auch gegen die Bulgaren zog Beiisar zu Felde, und auch hier blieb ihm der Sieg getreu. Diese grossen Dienste, die er dein Vaterlande geleistet, die Schlachten, in denen er sein Blut für dasselbe verspritzt, die fremden Länder, die er seinem Kaiser erobert hatte, hätten diesen wohl fest überzeugen sollen, Belisar sei ein eben so ausgezeichneter Mann als ein treuer Diener seines Herrn; aber der Neid suchte ihn zu stürzen, und der misstrauische Kaiser war leichtgläubig und undankbar genug, den Verleumdungen Gehör zu geben, die ihm zuflüsterten, Belisar wolle sich selbst auf den Thron schwingen. Er wurde der Verräterei wirklich angeklagt, und der Kaiser, der den seltenen Mann jetzt so sehr fürchtete, wie er ihn früher geliebt und ihm vertraut hatte, entsetzte ihn aller seiner Würden und liess ihn ins Gefängnis werfen. Aber auch dies genügte noch nicht. Der Kaiser fürchtete auch hier noch den kräftigen Mann und wollte ihn wenigstens unfähig machen, ihm zu schaden. Er gab deshalb den grausamen Befehl, ihm die Augen aus­ zustechen und ihn des Landes zu verweisen. Die grauenhafte That wurde vollzogen, und man bemühte sich, einen Führer aufzufinden, der den blin­ den Mann über die Grenzen des Reichs hinausbringen möchte. Ein öffent­ licher Aufruf wurde deshalb erlassen; aber wer sollte sich zu diesem trau­ rigen Geschäft wohl hergeben? Endlich meldete sich ein Knabe und erbot sich, der Führer des blinden, unglücklichen Mannes zu sein. Man machte dies dem Belisar bekannt, öffnete ihm das Gefängnis, nahm ihm die Fes­ seln ab und gab dem Helden darauf statt des Schwertes den Wanderstab in die Hand, um sein Vaterland auf immer zu verlassen. Belisar war nicht allein durch den unwürdigen Verdacht und die grausame Behandlung tief niedergebeugt und über die schauervolle Zukunft, die ihn erwartete, be­ kümmert, sondern das Herz war ihm auch zerrissen, dass er das Liebste auf der Welt verlassen sollte, nämlich seine Familie und ganz besonders seine Tochter Irene, die in kindlicher Treue und Zärtlichkeit von Jugend auf an ihm gehangen, ihn bisher allenthalben begleitet, ihm oft, wenn er siegreich aus dem Kampf zurückgekehrt war, die heisse, blutbespritzte Stirne getrocknet und ihn mit zarter Hand nach den Mühseligkeiten seines schweren Berufes gepflegt hatte. Auch diese Tochter sollte er nun ver­ lassen. Das war zu viel für das Herz des unglücklichen Mannes! Nur einmal noch wollte er sie sprechen, nur einmal noch den süssen Ton ihrer Stimme hören, nur einmal noch sie an seine Brust drücken und dann als Bettler in die Fremde gehen. Der Gefangenwärter hatte ihn verlassen; er wusste, dass er sich mit dem Knaben, der ihn fortgeleiten sollte, allein in dem Vorhof des Gefängnisses befand; er rief ihn zu sich und bat ihn leise,

VI.

Geschichte.

213

dass er ihn, ehe sie die Stadt verliessen, doch noch einmal zu seiner Toch­ ter Irene führen möchte, damit er auf immer von ihr Abschied nehmen und ihr seinen Segen geben könnte; aber der Knabe konnte vor Schluchzen nicht antworten; er umfasste des blinden Mannes Kniee und weinte laut; es war die Tochter selbst, die sich von allem losgerissen hatte, um auch jetzt bei dem Vater zu sein, um auch jetzt als schützender Engel seine unsicheren Schritte zu geleiten. Und so hat sie ihn denn auch hinausge­ führt in die öde Fremde, hat sein trauriges Schicksal geteilt, bis er sein Grab fand, und so blieb der arme, blinde Bettler dennoch reich durch die treue Liebe seines Kindes. Houwald.

27.

Alboin vor Pavia.

Drei Jahre vor Ticinum liegt daS gewalt'ge HeerDes Königs der Lombarden, da kommt er selbst daher Und sieht die Mauertürme noch ragen ihm zum Leid. Da schwört er bei seinem Barte einen großen, grimmen Eid: „Wird mir vom hohen Himmel die trotz'ge Stadt gewährt, Soll keine Seele drinnen entrinnen meinem Schwert!" Als nun im vierten Jahre das Thor sich aufgethan, Ritt er auf weißem Roffe dem ganzen Heer voran. Er wollt' im Grimm einreiten und rief: „Wir sind am Ziel!" Hoch warf er das Gezäume: da glitt das Roß und fiel. Tief hin zur Erde fiel es, der König mußte stehn; Was er auch that, es wollte das Roß nicht fürder gehn. Er schlug es mit dem Speere, da kam ein weiser Mann, Der redete den König mit rechten Würden an: „Du hast, o Herr und König, gesprochen ein schweres Wort; Drum hemmt der Himmel selber dein Roß an diesem Ort. Brich dein Gelübd' und wolle der edlen Stadt verzechn, So wird dein Roß sich heben und Gott dir Heil verleihn!" Da schüttelt Alboinus die Locken sich zurück Und schaut empor zum Himmel mit blauem Adlerblick. „So mag der Wind verwehen, was ich zuerst beschloß! Ich will verzechn, erhebe dich hoch, mein edles Roß!" Auf stand das Roß, und milder ritt er zum Thor hinein; Statt Weheklag' empfing ihn Gejauchz' und Jubelschrei'n. Kopisch.

28.

Aus dem Leben Karls des Großen.

Karl war von starkem und kräftigem Körperbau, stattlich hoher Gestalt, ohne daß sie gerade das rechte Verhältnis überschritt (er war bekanntlich sieben seiner Fußlängen hoch), sein Haupt schön gerundet, die Augen sehr groß und klar, die Nase etwas mehr als mittelgroß, der Gesichtsausdruck heiter und freundlich, und

214

VI.

Geschichte.

die grauen Haare des Alters standen ihm ganz gut. DasalleS gab ihm, mochte er stehen oder sitzen, ein Ansehn voll Hoheit und Würde, und das Ebenmaß der

übrigen Glieder ließ ganz übersehen, daß sein Hals etwas kurz und dick war und sein Unterleib etwas hervortrat. Sein Gang war fest, seine ganze Körperhaltung männlich, die Stimme zwar klar und hell, aber für seine Figur nicht so recht passend, seine Gesundheit vorzüglich, außer daß er die^ letzten vier Jahre vor seinem Tode häufig von Fieberanfällen geplagt wurde; zuletzt wurde ihm auch der eine Fuß gelähmt. Und in diesen Zeiten lebte er mehr nach seinem Gut­ dünken als nach dem Rat der Ärzte, die er nicht leiden mochte, weil sie ihm den Genuß gebratenen Fleisches untersagt und Brühen an dessen Stelle anempfohlen hatten. Beständig machte er ritterliche Übungen und Jagden mit. Auch war

er ein großer Freund .der heißen Quellen und hatte sich so im Schwimmen ge­ übt, daß ihm darin niemand den Rang streitig machen konnte. Deshalb baute er gerade zu Aacken einen Palast und wohnte während seiner letzten Lebens­ jahre beständig dort. Auch lud er nicht bloß seine Söhne zur Teilnahme am Bade ein, sondern auch die Großen des Reiches und seine befreundete Umge­ bung, mitunter sogar seine Trabanten und Leibwächter, so daß er sich manch­ mal in Gesellschaft von hundert und mehr Leuten badete. Sein Anzug war der volksmäßige. Auf dem Leibe trug er ein Kamisol von Linnen und Beinkleider von demselben Zeuge, darüber einen Rock, der einen Seidenbesatz hatte. Im Winter schützte er Schultern und Brust mit einem Überwurf aus Otter- und

Zobelpelz; ein dunkelgrüner Mantel umhüllte ihn, und im Gurte führte er stets das Schwert, dessen Griff und Gehänge von Silber und Gold war. Etliche Male trug er auch einen reich mit Edelsteinen besetzten Degen, doch nur bei großen Festlichkeiten, oder wenn Gesandtschaften von fremden Nationen empfangen wurden. An hohen Festen pflegte er ein mit Gold durchwirktes Gewand und mit Edelsteinen besetzte Schuhe anzuziehen, und sein Haupt schmückte ein Diadem von Gold und Edelsteinen; an Werkeltagen aber unterschied er sich in seiner Tracht kaum von dem übrigen, gewöhnlichen Volke. In Speise und Trank war

er sehr enthaltsam, doch mehr noch im Trank; denn er hatte stets den größten Abscheu vor Trunkenheit und litt sie um keinen Preis bei den Seinigen. Der Speise konnte er sich nicht so gut enthalten und klagte deshalb oft, wie wenig zuträglich für seinen Körper die Fasten seien. Große Gelage gab er selten und nur an den allerhöchsten Festtagen; da aber gab es bei ihm Gäste genug. Ge­ wöhnlich ließ er nur vier Schüsseln auftragen außer dem Braten, der von dem Jagdgefolge am Weidspieße auf die Tafel gebracht wurde, und das war seine Lieblingsspeise. Während des Essens wurde entweder ein Musikstück aufgeführt oder von jemand vorgelesen. Gewöhnlich ließ er geschichtliche Darstellungen von den Thaten der Alten vorlesen. Auch lieble er die Schriften des heiligen Augustin, besonders das Werk, das den Titel „Vom Gottesstaat" führt. Wäh­ rend des Ankleidens ließ er nicht bloß seine Freunde vor, sondern er ließ auch,

wenn der Pfalzgraf ihm von einem Rechtsstreit berichtet hatte, der ohne seinen Richterspruch nicht beendet werden konnte, die prozessierenden Parteien sogleich hereinkommen und sprach nach Einsicht der Sache das Urteil ebensogut, als

VI.

Geschichte.

215

wenn er auf dem Tribunal säße. Auch pflegte er neben diesen Geschäften zu dieser Stunde alles das in Ordnung zu bringen, was an dem Tage zu besorgen oder irgendeinem seiner Diener aufzutragen war. Seine Rednergabe war außer­ ordentlich bedeutend und reichhaltig, und er verstand alles, was er sagen wollte, mit gehöriger Klarheit auszudrücken. Auch begnügte er sich nicht mit der Fertig­ keit in seiner Muttersprache, sondern er bemühte sich auch um die Erlernung fremder Sprachen, von denen er das Lateinische sich so zu eigen gemacht hatte, daß er es ebensogut wie seine Muttersprache zu handhaben wußte; griechisch verstand er besser, als er es sprach. In den freien Künsten gab er sich viel Mühe und hatte große Hochachtung vor den Lehrern derselben, denen er die größten Ehren anthat. Er erlernte die Rechenkunst und stellte mit großem Scharfsiun Untersuchungen über den Lauf der Gestirne an. Er versuchte es auch zu schreiben und hatte zu diesem Behufe Wachstafeln und Pergamentblätter in seinem Bette unter dem Kopfkissen liegen, um in jedem freien Augenblicke seine Hand an Bildung von Schriftzügen zu gewöhnen. Das Christentum, in dem er von frühster Kindheit an auferzogen war, verehrte er aufs heiligste und baute als Beweis dafür die prachtvolle Kirche zu Aachen, die er mit Gold und Silber, großen Kronleuchtern, Gittern und Pforten aus massivem Erze schmückte. Früh und abends, ebenso in den Nachmittags­ stunden und während der Messe fehlte er niemals in der Kirche. Für die Ver­

besserung des Vortrages und des Gesanges gab er sich die größte Mühe; in beiden Stücken war er ausnehmend unterrichtet. Nach der Annahme des Kaisertitels beschäftigte er sich mit der Verbesierung der Gesetze seines Volkes. Ebenso trug er Sorge für die Aufzeichnung und Erhaltung der deutschen uralten Lieder, welche die Thaten der frühern Könige und ihre Kämpfe besangen. Auch legte er den Monaten Bezeichnungen aus seiner Sprache bei, während bei den Franken bis dahin teils römische, teils deutsche Namen dafür in Gebrauch gewesen waren. In der letzten Zeit seines Lebens, wo ihn Krankheit und Alter bereits schwer drückte, berief er seinen Sohn Ludwig, König von Aquitanien, zu sich, machte ihn zum Mitregenten und Mit­ kaiser und bestimmte ihn zum Erben seines Reiches. Im Januar des Jahres darauf wurde er durch einen heftigen Fieberanfall an das Bett gefesselt. Wie gewöhnlich bei solchen Fieberanfällen legte er sich strenge Diät auf und glaubte durch derartige Enthaltsamkeit die Krankheit bezwingen oder lindern zu können;

aber zum Fieber trat noch Schmerz in der Seite;

ungeachtet dessen setzte er

seine Speiseentziehung noch fort und gab dem Körper keine andere Nahrung als etwas weniges Getränke. Indessen am siebenten Tage, nachdem er sich ge­ legt hatte, starb er nach Empfang des heiligen Abendmahls im 72. Jahr seines Alters und nach Antritt seiner Regierung im 47., den 28. Januar 814 um 9 Uhr des Morgens.

Rückert.

29.

König Karls Meerfahrt.

Der König Karl fuhr über Meer Mit seinen zwölf Genossen;

Zum heil'gen Lande steuert' er Und ward vom Sturm verstoßen.

VI.

216

Geschichte.

Da sprach der kühne Held Roland: „Ich kann wohl fechten und schirmen; Doch hält mir diese Kunst nicht stand

Doch süßeS Wasser und guter Rat Sind oft zu Schiffe teuer."

Wie um die Altekläre." Dann sprach der schlimme Ganelon,

„Gott helf' uns aus der Schwere! Ich trink viel lieber den roten Wein Als Wasser aus dem Meere." HerrLambert sprach, einJüngling frisch: „Gott woll' uns nicht vergessen! Äß' lieber selbst 'nen guten Fisch,

Da sprach der graue Herr Riol: „Ich bin ein alter Degen Vor Wellen und vor Stürmen." Dann sprachHerrHolger aus Dänemark: Und möchte meinen Leichnam wohl Dereinst ins Trockne legen." „Ich kann die Harfe schlagen; Es war Herr Gui, ein Ritter fein, Was hilft mir das, wenn also stark Der fing wohl an zu singen: Die Wind' und Wellen jagen?" „Ich wollt', ich wär' ein Vögelein, Herr Oliver war auch nicht froh, Wollt' mich zum Liebchen schwingen." Er sah auf seine Wehre. Da sprach der edle Graf Garein: „Es ist mir um mich selbst nicht so,

Er sprach es nur verstohlen: „Wär' ich mit guter Art davon, Möcht' euch der Teufel holen!" Erzbischof Turpin seufzte sehr. „Wir sind die Gottesstreiter; Komm, liebster Heiland, über das Meer Und führ' uns gnädig weiter!" Graf Richard ohne Furcht hub an: „Ihr Geister aus der Hölle! Ich hab' euch manchen Dienst gethan, Jetzt helft mir von der Stelle!" Herr Naimis diesen Ausspruch that: „Schon vielen riet ich heuer;

Statt daß mich Fische fressen." Da sprach Herr Gottfried lobesan: „Ich laß' mir's halt gefallen; Man richtet mir nicht anders an Als meinen Brüdern allen." Der König Karl am Steuer saß, Der hat kein Wort gesprochen. Er lenkt das Schiff mit festem Maß, Bis sich der Sturm gebrochen. Uhland.

30.

Roland Schildträger.

Der König Karl saß einst zu Tisch Zu Aachen mit den Fürsten; Man stellte Wildbret auf und Fisch Und ließ auch keinen dürsten. Viel Goldgeschirr von klarem Schein, Manch roten, grünen Edelstein Sah man im Saale leuchten. Da sprach Herr Karl, der starke Held: „Was soll der eitle Schimmer? Das beste Kleinod dieser Welt, Das fehlet uns noch immer. Dies Kleinod, hell wie Sonnenschein, Ein Riese trägt's im Schilde sein Tief im Ardenner Walde."

Graf Richard, Erzbischof Turpin, Herr Haimon, Naims von Bayern, Milon von Anglant, Graf Garin, Die wollten da nicht feiern. Sie haben Stahlgewand begehrt

Und hießen satteln ihre Pferd', Zu reiten nach dem Riesen. Jung Roland, Sohndes Milon, sprach: „Lieb Vater! hört, ich bitte! Vermeint ihr mich zu jung und schwach, Daß ich mit Riesen stritte, Doch bin ich nicht zu winzig mehr, Euch nachzutragen euern Speer Samt eurem guten Schilde."

VI. Die sechs Genossen ritten bald

Vereint nach den Ardennen; Doch als sie kamen in den Wald, Da thäten sie sich trennen. Roland ritt Hinterm Vater her. Wie wohl ihm war, des Helden Speer, Des Helden Schild zu tragen! Bei Sonnenschein und Mondenlicht Streiften die kühnen Degen; Doch fanden sie den Riesen nicht In Felsen, noch Gehegen. Zur Mittagsstund' am vierten Tag Der Herzog Milon schlafen lag In einer Eiche Schatten. Roland sah in der Ferne bald Ein Blitzen und ein Leuchten, Davon die Strahlen in dem Wald Die Hirsch' und Reh' aufscheuchten; Er sah, es kam von einem Schild, Den trug ein Riese, groß und wild, Vom Berge niedersteigend. Roland gedacht' im Herzen sein: Was ist das für ein Schrecken! Soll ich den lieben Vater mein Im besten Schlafe wecken? Es wachet ja sein gutes Pferd, Es wacht sein Speer, sein Schild und Schwert, Es wacht Roland, der junge. Schwert zur Seite band, Herrn Milons starkes Waffen, Die Lanze nahm er in die Hand Und that den Schild aufraffen; Herrn Milons Roß bestieg er dann

Roland

217

Geschichte.

das

Und ritt ganz sachte durch den Tann, Den Vater nicht zu wecken. Und als er kam zur Felsenwand, Da sprach der Ries' mit Lachen: „Was will doch dieser kleine Fant Auf solchem Rosse machen? Sein Schwert ist zwier so lang als er, Vom Roffe zieht ihn schier der Speer, Der Schild will ihn erdrücken."

Jung Roland rief:

„Wohlauf zum Streit!

Dich reuet noch dein Necken. Hab' ich die Tartsche lang und breit, Kann sie mich besser decken; Ein kleiner Mann, ein großes Pferd, Ein kurzer Arm, ein langes Schwert, Muß eins dem andern helfen." Der Riese mit der Stange schlug, Auslangend in die Weite; Jung Roland schwenkte schnell genug Sein Roß noch auf die Seite; Die Lanz' er auf den Riesen schwang Doch von dem Wunderschilde sprang Auf Roland sie zurücke. Jung Roland nahm in großer Hast Das Schwert in beide Hände, Der Riese nach dem seinen faßt, Er war zu unbehende; Mit flinkem Hiebe schlug Roland Ihm unterm Schild die linke Hand, Daß Hand und Schild entrollten. Dem Riesen schwand der Mut dahin, Wie ihm der Schild entrissen, Das Kleinod, das ihm Kraft verliehn,

Mußt' er mit Schmerzen missen. Zwar lief er gleich dem Schilde nach, Doch Roland in das Knie ihm stach,

Daß er zu Boden stürzte. Roland ihn bei den Haaren griff, Hieb ihm das Haupt herunter; Ein großer Strom vom Blute lief

Ins tiefe Thal hinunter; Und aus des Toten Schild hernach Roland das lichte Kleinod brach

Und freute sich am Glanze. Dann barg er's unterm Kleide gut Und ging zu einem Quelle; Da wusch er sich von Staub

Blut Gewand und Waffen helle; Zurücke ritt der jung' Roland, Dahin, wo er den Vater fand Noch schlafend bei der Eiche.

und

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VI.

Geschichte.

Er legt' sich an des Vaters Seit', Vom Schlafe selbst bezwungen, Bis in der kühlen Abendzeit Herr Milon aufgesprungen. „Wach auf, wach auf, mein Sohn Ro­ land! Nimm Schild und Lanze schnell zur Hand, Daß wir den Riesen suchen!" Sie stiegen auf und eilten sehr. Zu schweifen in der Wilde; Roland ritt hinterm Vater her Mit dessen Speer und Schilde. Sie kamen bald zu jener Statt', Wo Roland jüngst gestritten hätt'; Der Niese lag im Blute. Roland kaum seinen Augen glaubt, Als nicht mehr war zu schauen Die linke Hand, dazu das Haupt, So er ihm abgehauen, Nicht mehr des Riesen Schwert und Speer, Auch nicht seinSchild undHarnisch mehr, Nur Rumpf und blut'ge Glieder. Milon besah den großen Rumpf. „Was ist das für 'ne Leiche? Man sieht noch am zerhauneu Stumpf, Wie mächtig war die Eiche. Das ist der Riese! frag' ich mehr? Verschlafen hab' ich Sieg und Ehr'; Drum muß ich ewig trauern!" Zu Aachen vor dem Schlosse stund Der König Karl gar bange. „Sind meine Helden wohl gesund? Sie weilen allzulange. Doch seh' ich recht, auf Königswort! So reitet Herzog Haimon dort, Des Riesen Haupt am-Speere." Herr Haimon ritt in trübem Mut, Und mit gesenktem Spieße Legt' er das Haupt, besprengt mit Blut, Dem König vor die Füße. „Ich fand den Kopf im wilden Hag, Und fünfzig Schritte weiter lag Des Riesen Rumpf am Boden."

Bald auch der Erzbischof Turpin

Den Riesenhandschuh brachte, Die ungefüge Hand noch drin; Er zog sie aus und lachte. „Das ist ein schön Reliquienstück, Ich bring' es aus dem Wald zurück, Fand es schon zugehauen." Der Herzog Naims von Baherland Kam mit des Riesen Stange. „Schaut an, was ich im Walde fand! Ein Waffen stark und lange. Wohl schwitz' ich von dem schwerenDruck; Hei! bayrisch Bier ein guter Schluck Sollt' mir gar köstlich munden!" Graf Richard kam zu Fuß daher. Ging neben seinem Pferde; Das trug des Riesen schwere Wehr, Den Harnisch samt dem Schwerte. „Wer suchen will im wilden Tann, Manch Waffenstück noch finden kann, Ist mir zu viel gewesen." Der Graf Garin thät ferne schon Den Schild des Niesen schwingen. „Der hat den Schild, des ist die Kron', Der wird das Kleinod bringen!" „Den Schild hab' ich, ihr lieben Herrn! Das Kleinod hätt' ich gar zu gern,

Doch das ist ausgebrochen." Zuletzt thät man Herrn Milon sehn.

Der nach dem Schlosse lenkte; Er ließ das Rößlein langsam gehn, Das Haupt er traurig senkte. Roland ritt hinterm Vater her Und trug ihm seinen starken Speer Zusamt dem festen Schilde. Doch wie sie kamen vor das Schloß Und zu den Herrn geritten, Macht' er von Vaters Schilde los

Den Zierat in der Mitten; Das Riesenkleinod setzt' er ein: Das gab so wunderklaren Schein,

Als wie die klare Sonne. Und als nun diese helle Glut Im Schilde Milons brannte,

VI. Da rief der König frohgemut: „Herr Milon von Anglante, Der hat den Riesen übermannt, Ihm abgeschlagen Haupt und Hand, Das Kleinod ihm entrissen." Herr Milon hatte sich gewandt, Sah staunend all' die Helle.

31.

219

Geschichte.

„Roland, sag' an, mein junger Fant,

Wer gab dir das, Geselle?" „Um Gott, Herr Vater! zürnt mir nicht, Daß ich erschlug den groben Wicht, Derweil ihr eben schliefet." Nh land.

Heinrich der Vogelsteller.

Herr Heinrich sitzt am Vogelherd Recht froh und wohlgemut; Aus lausend Perlen blinkt und blitzt Der Morgenröte Glut. In Wies' und Feld und Wald und Au, Horch, welch ein süßer Schall! Der Lerche Sang, der Wachtel Schlag, Die süße Nachtigall! Herr Heinrich schaut so fröhlich drein. „Wie schön ist heut die Welt! Was gilt's? heut giebt's 'nen guten Fang!" Er lugt zum Himmelszelt. Er lauscht und streicht sich von der Stirn Das blondgelockte Haar.

„Daß Gott —!"

Die Herrn verderben mir

Den ganzen Vogelfang! Ei nun! Was giebt's?" Es hält der Troß Vorm Herzog plötzlich an; Herr Heinrich tritt hervor und spricht:

„Wen sucht ihr, Herrn? Sagt an!" Da schwenken sie die Fähnlein bunt Und jauchzen: „Unsern Herrn! Hoch lebe Kaiser Heinrich! HockDes Sachsenlandes Stern!" Dies rufend knien sie vor ihm hin

„Ei doch, was sprengt denn dort herauf Für eine Reiterschar?"

Und huldigen ihm still Und rufen, als er staunend fragt: „'s ist deutschen Reiches Will'!" Da blickt Herr Heinrich tief bewegt

Der Staub wallt auf, der Husschlag dröhnt, Es naht der Waffen Klang.

Hinauf zum Himmelszelt. „Du gabst mir einen guten Fang; Herr Gott, wie dir's gefällt!" Vogl.

32.

Heinrich der Vogelsteller.

Der Morgen ist trüb, die Luft ist kalt, Herzog Heinrich zieht hinein in den Wald, In den bergigen Harz auf den Vogel­ fang! Das ist ja sein liebster, sein steter Gang. Sieh, wie der Nebel im Thale steigt! Der Fink ist still, und die Drossel schweigt. „Die Zeichen sind gar wohl mir kund, Das giebt einen guten Fang zur Stund'." Die Netze stellt er mit gutem Bedacht, Er hat auf die Ruten und Schlingen acht,

Er streut die Lockung mit kundiger Hand, Er lockt mit der Pfeife, ihm wohlbekannt. Da rauscht's in der Luft wie ein Schwin­ genpaar, Auf flatterndem Banner ein stolzer Aar; Drei Männer nahen in eiserner Wehr, Eine goldene Kron' auf dem Kissen schwer. „Willkommen, ihr Herrn! was bringt

ihr neu?" „König Konrad ist tot, Karls Stuhl ist

frei!

VI.

220

Geschichte.

Im Namen der Fürsten sind wir hier, Als König zu bieten die Krone dir!"

„Ha, glücklicher Tag auf dem Vogel­ herd! Solch reicher Fang ward noch nie erhört. Von allem Gewild in der Vögel Schar Hab' ich mir erjaget den deutschen Aar. Frisch auf denn, mein Adler, jetzt jag' ich mit dir Manch wilden Vogel voll räub'rischer Gier.

33.

Steckt auf mir die Ruten, die Speere

schnell Und webt mir die Netze aus Schwertern hell! Wie die Falle gestellt wird, das hat mich gelehrt So manches Jahr auf dem Vogelherd; Ihr Habicht' und Falken! nehmt euch in Acht! Der Vogelsteller ist auf der Wacht!" Mühle r.

Heinrich der Vogelsteller schlägt die Ungarn.

Gegen den Frühling des Jahres 933 erhielt Heinrich zuerst durch das Ge­ rücht, bald durch Briefe die Nachricht, daß die Ungarn im Anzuge wären. Alsobald traf er seine Anstalten. Er befahl den Grafen, ihre Scharen zu verstärken und das ganze Heer an einem bestimmten Orte zu vereinigen. Alsdann begab er sich selbst zu dem Heere, führte dasselbe vorwärts, schlug an einer schicklichen Stelle ein Lager auf und erwartete den Feind. Die Ungarn zogen heran; der König jedoch hielt sich ruhig im Lager und vermied die Schlacht. Er wollte die Seinigen zuvörderst an den Anblick und die Weise der Ungarn gewöhnen. Eben­ deswegen ließ er auch einige Reitergeschwader leichte Gefechte mit den Ungarn bestehen, um sich selbst und um die Seinigen zu überzeugen, daß die Feinde keine Überlegenheit hätten. Endlich führte er das Heer aus denl Lager heraus und stellte es in Schlachtordnung. Hierauf schickte er eine Abteilung von Thüringern zu Fuße, nur von wenigen Reitern begleitet, gegen den Feind, um denselben zu reizen und zum Angriff auf das geordnete Heer in seiner günstigen Stellung zu bewegen. Inzwischen ermahnte er die seinigen zur Tapferkeit nur mit dem einen Worte, sie möchten an ihre alte Tugend denken. Mit dieser Ermahnung begann der Kampf. Derselbe wurde hart und furchtbar. Mehr als einmal schwankte der Sieg. Der linke Flügel der Deutschen, vom Grafen Hoger geführt, erschlug eine so große Menge der Barbaren, daß dieselben in die wildeste Flucht zu ge­ raten schienen, und daß die Sieger mit Ungestüm nachsetzten auf ein ungünstiges Gelände. Dadurch gerieten die Deutschen selbst in Unordnung, und nun sam­ melten sich plötzlich die Ungarn und stellten die Schlacht mit solcher Wut wieder her, daß die Deutschen zur Flucht genötigt wurden. Heinrich jedoch sandte den Bedrängten die nötige Hülfe. So hielt sich die Schlacht. Endlich nach langem Kampf entschied sich der Sieg für die Deutschen. Die Ungarn jedoch, die es fühlten, daß diese Schlacht der Anfang großer Unfälle für sie sein würde, stritten wie in Verzweiflung. Also geschah es, daß ihre Anführer erschlagen wurden, daß ihre Feldzeichen verloren gingen, daß die meisten den Tod fanden, daß nurwenige ohne Wunden blieben. Der Sieg war vollkommen; denn auch das Lager der Ungarn mit allem Gerät und Gezeug, mit allem Raub und aller Beute siel

VI.

Geschichte.

221

in die Hand der Deutschen. Das Heer wurde von solcher Begeisterung ergriffen, daß es den König Heinrich als Kaiser begrüßte. Und so wie sich die Botschaft von dem Siege verbreitete, ging ein großer Jubel der Dankbarkeit und Verehrung durch alle deutschen Gaue. Er selber aber, der siegreiche König, gab Gott die Ehre, der ihm auch dieses Glück gewährt hatte, und blickte mit dankbarer Be­ scheidenheit auf die Erfüllung seines teuersten Wunsches. Vuben-

34. Otto mit dem Bart. Kaiser Otto der Große wurde in allen Landen gefürchtet; er war strenge, trug einen schönen, roten Bart, und was er bei diesem Barte schwur, machte er wahr und unabwendlich. Nun geschah es, daß er zu Bamberg eine prächtige Hofhaltung hielt, zu welcher geistliche und weltliche Fürsten des Reiches in großer Zahl kommen mußten. Am Ostermorgen zog der Kaiser mit allen diesen Fürsten in das Münster, um die feierliche Messe zu hören, indes in der Burg zu dem Gastmahl die Tische bereitet wurden; man legte Brot und setzte schöne Trink­ gesäße auf. An des Kaisers Hofe diente aber damals ein edler und wonne­ samer Knabe; sein Eater war Herzog in Schwaben und hatte nur diesen ein­ zigen Erben. Das schöne Kind kam von ungefähr an die Tische gegangen, griff nach einem weichen Brot mit seinen zarten, weißen Händen, nahm es auf und wollte essen. Wie es nun einen Teil des weißen Brotes abbrach, ging da mit seinem Stabe des Kaisers Truchseß, welcher die Aufsicht über die Tafel haben sollte; der schlug zornig den Knaben aufs Haupt so hart und ungefüge, daß ihm Haar und Haupt blutig ward. Das sah eiu auserwählter Held, genannt Hein­ rich von Kempten; der war mit dem Kinde aus Schwaben gekommen und dessen Zuchtmeister, nahm einen großen Knüttel und spaltete des Truchsessen Schädel, daß er wie ein Ei zerbrach und der Mann zu Boden sank. Unterdessen hatten die Herren Gott gedient und kehrten zurück; da sah der Kaiser den blutigen Estrich und vernahm, was sich zugetragen hatte. Heinrich von Kempten wurde auf der Stelle vorgefordert, und Otto, von lobendem Zorn entbrannt, rief: „Daß mein Truchseß hier erschlagen liegt, beschwöre ich bei meinem Barte, an

euch zu rächen." Als Heinrich von Kempten diesen teuren Eid aussprechen hörte und sah, daß es sein Leben galt, faßte er sich, sprang schnell auf den Kaiser los und ergriff ihn bei dem langen roten Barte. Damit schwang er ihn plötzlich auf die Tafel, daß die kaiserliche Krone von Ottos Haupte in den Saal fiel, und zückte, als die Fürsten, den Kaiser von diesem wütenden Menschen zu be­ freien, herzusprangen, sein Messer, indem er laut ausrief: „Keiner rühre mich an, oder der Kaiser liegt tot hier!" Alle traten zurück; Otto winkte mit großer Not ihnen zu; der unverzagte Heinrich aber sprach: „Kaiser, wollt ihr das Leben

haben, so versprecht mir Sicherheit!"

Der Kaiser, der das Messer an seiner

Kehle stehen sah, hob alsbald die Finger in die Höhe und gelobte dem edlen Ritter bei kaiserlichen Ehren, daß ihm das Leben geschenkt sein solle. Sobald Heinrich Gewißheit hatte, ließ er den roten Bart aus seiner Hand und den Kaiser aufstehen. Dieser setzte sich ohne Zögern auf den königlichen Stuhl, strich

222

VI.

Gesch ichte.

sich den Bart und sprach zu seinem Peiniger: „Ritter, Leib und Leben habe ich euch zugesagt, damit fahrt eurer Wege! Hütet euch aber vor meinen Augen, daß sie euch nimmer Wiedersehen, und räumet mir Hof und Land; ihr seid mir zu schwer zum Hofgesind, und mein Bart müsse immerdar euer Schermesser meiden!"

Da nahm Heinrich von allen Rittern und Bekannten Urlaub und zog gen Schwaben auf sein Land und Feld, die er vom Stifte zu Lehen trug, und lebte einsam und in Ehren. Danach über zehn Jahre begab es sich, daß Kaiser Otto einen schweren Krieg führte jenseit des Gebirges und vor einer festen Stadt lag. Da fehlte es ihm an Rittern und Mannen, und er sandte her nach deutschen Landen; wer ein Lehen von dem Reiche trage, solle ihm schnell zu Hülfe eilen bei Verlust des Lehens und seines Dienstes. kam auch ein Bote zum Abt nach Kempten, ihn zu der Fahrt zu mahnen. Der Abt sandte wiederum seine Dienstleute und forderte Herrn Heinrich auf, dessen er vor allen bedürftig war. „Ach, edler Herr, was wollt ihr thun!" antwortete der Ritter; „ihr wißt doch, daß ich des Kaisers Huld verwirkt habe; lieber gebe ich euch meine zwei Söhne hin und lasse sie mit euch ziehen." „Ihr aber seid mir nötiger als sie beide zusammen," sprach der Abt; „ich darf euch nicht von diesem Zuge entbinden, oder ich leihe euer Land anderen, die es besser zu verdienen wissen." „Traun," antwortete der edle Ritter, „ist dem so, daß Land und Ehre auf dem Spiele stehen, so will ich euer Gebot leisten, es komme, was da wolle, und des Kaisers Drohung möge über mich er­ gehen." Hiermit rüstete sich Heinrich zu dem Heerzug und kam bald nach Welsch­ land zu der Stadt, wo die Deutschen lagen; jedoch barg er sich vor des Kaisers Antlitz und floh ihn. Sein Zelt ließ er ein wenig seitwärts vom Heere auf­ schlagen. Eines Tages badete er daselbst in einem Zuber und konnte aus dem Bad in die Gegend schauen. Da sah er einen Haufen Bürger aus der belager­ ten Stadt kommen und den Kaiser ihnen entgegenreiten zu einem Gespräch, das zwischen beiden Teilen verabredet worden war. Die treulosen Bürger hatten aber eine List ersonnen; denn als der Kaiser ohne Waffen und arglos zu ihnen

ritt, hielten sie gerüstete Mannschaft im Hinterhalte und überfielen den Herrn mit frechen Händen, daß sie ihn fingen und schlügen. Als Herr Heinrich diesen Treubruch und Mordanfall geschehen sah, ließ er Baden und Waschen, sprang aus dem Zuber, nahm den Schild mit der einen und sein Schwert mit der an­ dern Hand und lief bloß und nackend dem Gemenge zu. Kühn schlug er unter die Feinde, tötete und verwundete eine große Menge und machte sie alle flüchtig. Darauf löste er den Kaiser seiner Bande und lief schnell zurück, ligte sich in den Zuber und badete nach wie vor. Als Otto wieder zu seinem Heere gelangte,

wollte er erkunden, wer sein unbekannter Retter gewesen wäre. Zornig saß er im Zelt auf seinem Stuhl und sprach: „Ich war verloren, wenn mir nicht zwei ritterliche Hände geholfen hätten; wer aber den nackten Mann erkennt, führe ihn vor mich her, daß er reichen Lohn und meine Huld empfange; kein kühnerer Held lebt hier, noch anderswo." Run wußten wohl einige, daß es Herr Heinrich von Kempten gewesen war; doch fürchteten sie den Namen dessen auszusprechen, dem der Kaiser den Tod geschworen hatte. „Auf dem Ritter," antworteten sie, „lastet

VI.

Ge'schich f e.

223

schwere Ungnade; möchte er deine Huld wiedergewinnen, so ließen wir ihn vor dir sehen." Da nun der Kaiser sprach, und wenn er ihm gleich seinen Vater erschlagen hätte, so solle ihm vergeben sein, nannten sie ihm Heinrich von Kemp­ ten. Otto befahl, daß er alsbald herbeigebracht würde; er wollte ihn aber er­ schrecken und ihn übel empfangen. Als Heinrich von Kempten herbeigeführt wor­ den war, gebärdete der Kaiser sich zornig und sprach: „Wie getrauet ihr euch, mir unter die Augen zu treten? Ihr wißt doch wohl, warum ich euer Feind bin, der ihr meinen Bart gerauft und ohne Schermesser geschoren habt, daß er noch ohne Locke steht. Welch hoffärtiger Übermut hat euch jetzt dahergeführt?"

„Gnade, Herr," sprach der kühne Degen, „ich kam gezwungen hierher; mein Fürst, der hier steht, gebot es bei seinen Hulden. Gott sei mein Zeuge, wie ungern ich diese Fahrt gethan; aber meinen Diensteid mußte ich lösen. Wer mir das übel nimmt, dem lohne ich so, daß er sein letztes Wort gesprochen hat." Da begann Otto zu lachen: „Seid mir tausendmal willkommen, ihr auserwählter Held! Mein Leben habt ihr gerettet, das würde ich ohne eure Hülfe verloren haben." So sprang er auf und küßte ihm Augen und Wangen. Ihre Feind­ schaft war dahin und eine lautere Sühne gemacht. Der hochgeborne Kaiser lieh und gab ihm großen Reichtum und brachte ihn zu Ehren, deren man noch ge­ denket. (Grunin.

33.

Kaiser Otto I.

Zu Quedlinburg im Dome ertönet Glockenklang, Der Orgel Stimmen brausen zum ernsten Chorgesang; Es sitzt der Kaiser drinnen mit seiner Ritter Macht,

Voll Andacht zu begehen die heil'ge Weihenacht. Hoch ragt er in dem Kreise mit männlicher Gestalt, Das Auge scharf wie Blitze, von goldnem Haar umwallt; Man hat ihn nicht zum Scherze den Löwen nur genannt, Schon mancher hat empfunden die löwenstarke Hand. Wohl ist auch jetzt vom Siege er wieder heimgekehrt; Doch nicht des Reiches Feinden hat mächtig er gewehrt: Es ist der eigne Bruder, den seine Waffe schlug, Der dreimal der Empörung blutrotes Banner trug. Jetzt schweift er durch die Lande, geächtet, flüchtig hin, Das will dem edlen Kaiser gar schmerzlich in den Sinn; Er hat die schlimme Fehde oft bitter schon beweint. „O Heinrich, du mein Bruder, wie bist du mir so feind!" Zu Quedlinburg vom Dome ertönt die Mitternacht; Vom Priester wird das Opfer der Messe dargebracht; Es beugen sich die Kniee, es beugt sich jedes Herz, Gebet in heil'ger Stunde steigt brünstig himmelwärts.

Da öffnen sich die Pforten, es tritt ein Mann herein; Es hüllt die starken Glieder ein Büßerhemde ein;

VI.

224

Geschichte.

Er schreitet auf den Kaiser, er wirft sich vor ihm hin, Die Knie' er ihm umfasset mit tiefgebeugtem Sinn. „O Bruder! meine Fehler, sie lasten schwer auf mir, Hier liege ich zu Füßen, Verzeihung flehend, dir: Was ich mit Blut gesündigt, die Gnade macht es rein; Vergieb, o strenger Kaiser, vergieb, du Bruder mein." Doch strenge blickt der Kaiser den sünd'gen Bruder an. „Zweimal hab ich vergeben, nicht fürder mehr fortan! Die Acht ist ausgesprochen, das Leben dir geraubt, Nach dreier Tage Wechsel, da fällt dein schuldig Haupt!" Bleich werden rings die Fürsten, der Herzog Heinrich bleich, Und Stille herrscht im Kreise gleich wie im Totenreich; Man hätte mögen hören jetzt wohl ein fallend Laub, Denn keiner wagt zu wehren dem Löwen seinen Raub. Da hat sich ernst zum Kaiser der fromme Abt gewandt; Das ew'ge Buch der Bücher, das hält er in der Hand; Er liest mit lautem Munde der heil'gen Worte Klang, Daß es in aller Herzen wie Gottes Stimme drang: „Und Petrus sprach zum Herren: Nicht so? Genügt ich hab',

Wenn ich dem sünd'gen Bruder schon siebenmal vergab? Doch Jesus ihm antwortet: Nicht siebenmal vergieb, Nein, siebenzig mal sieben, das ist dem Vater lieb." Da schmilzt des Kaisers Strenge in Thränen unbewußt. Er hebt ihn auf, den Bruder, er drückt ihn an die Brust; Ein lauter Ruf der Freude ist jubelnd rings erwacht. Nie schöner ward begangen die heil'ge Weihenacht. Mähler.

36.

Habsburgs Mauern.

Im Aargau steht ein hohes Schloß, Vom Thal erreicht es kein Geschoß.

Wer hat's erbaut, Das wie aus Wolken niederschaut? Der Bischof Werner gab das Geld, Graf Radbot hat sie hingestellt, Klein aber fest, Die Habichtsburg, das Felsennest. Der Bischof kam und sah den Bau. Da schüttelt er der Locken Grau, Zum Bruder spricht: „Die Burg hatWall und Mauern nicht." Versetzt der Graf: „Was macht das aus? In Straßburg steht ein Gotteshaus

Das bautest du, Doch Wall und Mauern nicht dazu." „Das Münster baut ich Gott, dem

Herrn; Dem bleiben die Zerstörer fern; Vor Feindessturm Beschützt ein Schloß nur Wall und

Turm." „Wohl hast du recht, ich räum' es ein, Ja, Wall und Mauern müssen sein. Gieb morgen acht! Ich baue sie in einer Nacht." Und Boten schickt der Graf ins Thal; Die Mannen nahn im Morgenstrahl,

VI.

Geschichte.

Und scharenweis Umstellen sie die Burg im Kreis. Frohlockend stößt ins Horn der Graf Und weckt den Bischof aus dem Schlaf. Die Mauern stehn; Wer hat so schnellen Bau gesehn? Das Wunder dünkt den Bischof fremd, Zum Erker springt er hin im Hemd

Und sieht gereiht Der Helden viel im Eiseukleid. Mit blankem Schilde, Mann an Mann,

225

Steht mauergleich des Grafen Bann, Und hoch zu Roß Hebt mancher Turm sich aus dem Troß. Da spricht der Bischof: „Sicherlich,

An solche Mauern halte dich! Nichts ist so fest Als Treue, die nicht von So schütze Habsburg fort Lebend'ger Mauer starker Und herrlich schaun Wird's über alle deutsche

dir läßt. und fort Hort,

Gau'n!" Limrock.

37. Taillefer. Normannenherzog Wilhelm sprach einmal: „Wer singet in meinem Hof und in meinem Saal? Wer singet vom Morgen bis in die späte Nacht So lieblich, daß mir das Herz im Leibe lacht?"

„Das ist der Taillefer, der so gerne singt Im Hofe, wann er das Rad am Brunnen schwingt, Im Saale, wann er das Feuer schüret und facht, Wann er abends sich legt, und wann er morgens erwacht." Der Herzog sprach: „Ich hab' einen guten Knecht, Den Taillefer, der dienet mir fromm und recht;

Er treibt mein Rad und schüret mein Feuer gut Und singet so hell; das höhet mir den Mut." Da sprach der Taillefer: „Und wär' ich frei. Viel besser wollt' ich dienen und singen dabei. Wie wollt' ich dienen dem Herzog hoch zu Pferd! Wie wollt' ich singen und klingen mit Schild und mit Schwert!" Nicht lange, so ritt der Taillefer ins Gefild Auf einem hohen Pferde mit Schwert und mit Schild. Des Herzogs Schwester schaute vom Turm ins Feld; Sie sprach: „Dort reitet, bei Gott! ein stattlicher Held."

Und als er ritt vorüber an Fräuleins Turm, Da sang er bald wie ein Lüftlein, bald wie ein Sturm. Sie sprach: „Der singet, das ist eine herrliche Lust! Es zittert der Turm, und es zittert mein Herz in der Brust." Der Herzog Wilhelm fuhr wohl über das Meer, Er fuhr nach Engelland mit gewaltigem Heer. Er sprang vom Schiffe, da fiel er auf die Hand. „Hei!" rief er, „ich fass' und ergreife dich, Engelland!"

Als nun das Normannenheer zum Sturme schritt, Der edle Taillefer vor dem Herzog ritt. Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Lesed. 5. Vlufl.

VI.

226

Geschi'chte.

„Manch Jährlein hab' ich gesungen und Feuer geschürt, Manch Jährlein gesungen und Schwert und Lanze geführt.

Und hab' ich euch gedient und gesungen zu Dank Zuerst als ein Knecht und dann als ein Ritter frank: So laßt mich das entgelten am heutigen Tag, Bergönnet mir auf die Feinde den ersten Schlag!" Der Taillefer ritt vor allem Normannenheer Auf einem hohen Pferde mit Schwert und mit Speer; Er sang so herrlich, das klang über Hastingsfeld,

Bon Roland sang er und manchem frommen Held. Und als das Rolandslied wie ein Sturm erscholl, Da wallte manch Panier, manch Herze schwoll; Da brannten Ritter und Mannen von hohem Mut, Der Taillefer sang und schürte das Feuer gut. Dann sprengt' er hinein und führte den ersten Stoß, Davon ein englischer Ritter zur Erde schoß; Dann schwang er das Schwert und führte den ersten Schlag, Davon ein englischer Ritter am Boden lag. Normannen sahen's, die harrten nicht allzulang, Sie brachen herein mit Geschrei und mit Schilderklang. Hei, sausende Pfeile, klirrender Schwerterschlag, Bis Harald fiel und sein trotziges Heer erlag! Herr Wilhelm steckte sein Banner aufs blutige Feld, Inmitten der Toten spannt' er sein Gezelt; Da saß er am Mahle, den goldnen Pokal in der Hand, Auf dem Haupte die Königskrone von Engelland. „Mein tapfrer Taillefer, komm, trink mir Bescheid! Du hast mir viel gesungen in Lieb' und in Leid; Doch heut im Hastingsfelde dein Sang und dein Klang, Der tönet mir in die Ohren mein Leben lang." m?ianb.

38. Albrecht der Bär. Unweit Aschersleben in der Provinz Sachsen, da, wo die Borberge des Har­ zes sich erheben, sieht man auf einer Anhöhe noch Wälle und Spuren eines alten Gemäuers, die auf eine Burg von weitem Umfange hindeuten. Das sind die Überreste der alten Askanierburg, des Stammsitzes der Grafen von Ballenstädt.

Der frühere Name dieser Familie, Askanier, hat sich noch in dem Namen Aschers­ leben erhalten; denn die Endung „leben", die in dem Namen vieler Städte und Dörfer jener Gegend vorkommt, soll so viel als Aufenthalt oder Wohnort und Aschersleben also einen Wohnort der Askanier bedeuten. Aus der Familie der Askanier stammen noch die jetzigen Herzöge von Anhalt, und ebendaher

stammten auch die Fürsten, die in den ältesten Zeilen über die

Mark Brandenburg geherrscht haben.

Wie das ergangen ist, das will ich hier in

VI

Geschichte.

227

der Kürze erzählen. Lange Zeit hindurch bildeten der Böhmerwald und die Saale und weiter nordwärts die Elbe die Grenze zwischen Deutschland und dem Lande der Slaven oder Wenden. Zum Schutz der Grenzen errichtete man einzelne Bur­ gen, denen ein Burggraf, und Marken, d. i. Grenzländer, denen ein Markgraf vorstand. Die älteste der gegen die Wenden gegründeten Marken ist die Mark Soltwedel und weniger jünger als diese die Mark Tangermünde; beide wurden später unter dem Namen der Nordmark vereinigt. Beherrscher dieser Nordmark wurde um das Jahr 113:3 Albrecht aus dem Hanse Askanien, den man noch bis auf den heutigen Tag Al brecht den Bären nennt. Wir wissen so eigentlich nicht, was dieser Beiname sagen will; wahrscheinlich aber ist es ein ehrender Beiname, der des Fürsten Stärke und Unerschrockenheit anzeigen soll. Ein anderer, etwas jüngerer Fürst damaliger Zeit hieß Heinrich der Löwe, und so darf der Beiname uns gerade so sehr nicht befremden. Albrecht ließ es sich angelegen sein, das Gebiet der Nordmark auf jegliche Weise zu erweitern, und ein glücklicher Umstand kam ihm dabei sehr zustatten. Przibislav, Fürst der Heveller, der zu Branden­ burg seinen Sitz hatte, und seine Gemahlin Petrufsa waren zum Christentum

übergetreten. Ihre Ehe war kinderlos, und Fürst Przibislav mochte wohl bei sich erwägen, wie es doch seinem Havellande ergehen würde, wenn es unter die Re­ gierung eines heidnischen Wenden zurückfiele. Da soll er mit dem Markgrafen Albrecht dem Bären, dessen Sohne Otto er schon das Land Zauche als ein Patengeschenk verehrt hatte, die Berabredung genommen haben, daß er sein Nachfolger im Besitz des Havellaudes, d. i. Beschützer seiner christlichen Unterthanen werden solle; wenigstens nannte sich Albrecht schon 1136 Mark­ graf voll Brandenburg, obgleich Stadt und Land damals noch im Besitz des wendischen Fürsten waren. Erst int Jahre 1141 ging Przibislav mit Tode ab, und jetzt bemächtigte sich Albrecht der Stadt und des Landes. Im folgen­ den Jahre bestätigte auch der Kaiser den angemaßten Titel, und seitdem er­ scheint die Mark Brandenburg als eines der großen Fürstentümer des deutschen

Reiches. Markgraf Albrecht sollte jedoch um den Besitz des Havellandes noch mit einem entschlossenen Gegner kämpfen. Zu Köpnick an der Spree wohnte ein Weudenfürst, Jaczo, ein Neffe des verstorbenen Przibislav. Bin ich nicht der natürliche Erbe des Landes, sagte dieser bei sich selber, und welches Recht haben die Christen auf wendisches Eigentum? So zog er aus mit einer zahlreichen Schar und eroberte mit Hülfe der wendischen Umwohner die Burg Brandenburg, die auf der Stelle des jetzigen Domes lag; aber Albrecht, von dem Bischof zu Brandenburg und Heinrich dem Löwen unterstützt, bemeisterte sich seinerseits der ihm entrissenen Burg, und Jaczo entfloh in der Richtung nach Spandau. Bon den Feinden eingeholt, setzte er sich zwar zur Wehre; aber seine Wenden ergriffen nach leichtem Widerstände die Flucht, und er selbst eilte der rettenden Havel zu. Bor ihm lag die blaue Fläche des breiten Stromes, aber eine Landzunge, die sich vom Ufer in den Strom hinein erstreckt, verengte und vertiefte gerade an dieser Stelle das Flußbett. Einen Augenblick zögerte Jaczo; aber hinter ihm waren die Feinde, und jenseit des Stromes war befreundetes Land; hier drohte ihm Tod, 15*

228

VI.

Geschichte.

und dort winkte ihm Rettung. „Meine Götter," rief der Heide dann aus, „meine Götter haben mich verlassen; so schütze du mich denn, du mächtiger Gott der Christen! Wenn ich das jenseitige Ufer glücklich erreiche, so gelobe ich dir, mich

taufen zu lassen."

Mit diesen Worten stürzte er sich mit seinem Roß schwer be­

waffnet in die Fluten der Havel, die sogleich über ihm zusammenschlugen. Erst nach einer Weile enthob ihn das arbeitende Pferd der feuchten Tiefe, und stau­ nend sahen die Christen das kühne Wagestück an und verfolgten nicht weiter den Unglücklichen, der dennoch verloren schien. Aber das starke Roß trug ihn glücklich hinüber. Auf der Landspitze warf er sich vom Pferde, fiel auf die Kniee und betete zum zweiten Male zu dem rettenden Gotte der Christen. Seinen Schild legte er als ein Weihopfer auf die Landspitze, wo er sich ge­ rettet sah; die Christen nannten sie zum Andenken an jene Begebenheit Schild­ horn, und den Namen führt sie im Munde des Volkes noch bis auf den heutigen Tag. So hatte Albrecht, ohne daß er es wollte, die weitere Verbreitung des Christen­ tums unter den Wenden veranlaßt; aber ein Versuch, das Christentunl mit Ge­ walt zu verbreiten, hatte keinen glücklichen Ausgang. Cs war damals die Zeit der Kreuzzüge, durch die man das heilige Land den Ungläubigen entreißen wollte. Warum hätte man nicht auch einen Kreuzzug gegen die Ungläubigen an der Ost­ see unternehmen sollen? Ein Heer von 40 000 Mann, von Albrecht dem Bären und Heinrich dem Löwen geführt, rückte in Mecklenburg ein, und eine dänische Flotte sollte gleichzeitig an der Küste bei Wismar landen; aber Niklot, der Fürst der Mecklenburger oder, wie man sie damals nannte, der Obotriten, kam dem Angriff des heiligen Heeres zuvor. Am Tage Pauli und Johannis eroberte er Lübeck, wo die christlichen Einwohner sich auf gut heidnisch zu Ehren der ge­ nannten Heiligen betrunken hatten, und verheerte das Land umher zu mehreren Malen. Die dänische Flotte fiel auch in die Hände Niklots, und das Landheer konnte nur wenig gegen den Widerstand der kampflustigen Wenden ausrichten. So zogen sie denn unverrichteter Sache heim; nur zum Schein hatten die Wenden versprochen, den christlichen Glauben anzunehmen und alle Gefangenen ohne Löse­ geld zu entlassen. Wenige schwache Greise wurden ausgeliefert, das Volk aber

blieb nach wie vor seinen heidnischen Götzen getreu. Das Ersprießlichste, was Albrecht für die Mark Brandenburg gethan hat, ist, daß er das entvölkerte Land durch Ansiedler aus Holland wieder bevölkerte. Die Anwohner des Rheins und der Nordsee hatten durch große Überschwem­

mungen zum Teil ihr Eigenttun eingebüßt, und viele wären gern in fremde Länder gezogen, wenn sie nicht hätten fürchten müssen, daß sie nach damaliger Sitte Sklaven ihres neuen Landesherrn werden müßten. Da lud Albrecht die Unglücklichen in sein Land ein und verhieß ihnen Eigentum und alle Freiheiten, die sie im eignen Lande genossen hätten. Fröhlich folgten die Niederländer diesem

Rufe. Sie ließen sich an den Ufern der Elbe, der Spree und der Havel nieder und schufen sumpfige Gegenden durch Deiche und Gräben in fruchtbare Äcker um. Der hohe Bergrücken zwischen Belzig und Jüterbog führt von den angesiedelten Flämingern noch jetzt den Namen des Flämings, und die Städte Niemegk, Brück

VI.

Geschichte.

229

und Kemberg erinnern an die niederländischen Städte Nymwegen, Brügge und Cambray. Und hat denn nicht Albrecht auch unser Berlin gegründet? Hat die Stadt nicht von ihm ihren tarnen erhalten, und führt sie nicht zum Andenken ihres Er­ bauers einen Bären im Wappen? Man hat es behauptet, aber es fehlt darüber an einer bestimmten und zuverlässigen Nachricht. Man weiß nicht einmal, was die Namen Berlin und Kölln eigentlich bedeuten. Die gewöhnliche Meinung ist, die Wenden hätten sich in einer sumpfigen Gegend am linken Ufer der Spree niedergelassen, ihre Häuser auf Pfählen oder Köllen gebaut; die von Albrecht dem Bären in das Land gezogenen Fläminger hätten sich am rechten Ufer der Spree

in einer öden, mit Strauchwerk bewachsenen Gegend angebaut, und der Name Berlin bezeichne eine solche mit Strauchwerk bewachsene Gegend, der Name Kölln aber sage so viel als Pfahlstadt. O. Lchuiz.

39.

Die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer.

Ohne bedeutendell Widerstand zu finden, zog das Kreuzheer im Frühling des Jahres 1099 durch Syrien längs der Meeresküste. Zn Cäsarea bereiteten sich die Kreuzfahrer durch die Feier des Pfingstfestes auf den Eintritt in das heilige Land vor, und als sie am folgenden Tage zuerst den Fuß auf den ge­ weihten Boden setzten, entbrannte ihr frommer Eifer mit neuer Glut; endlich sahen sie sich dem Ziele nahe, das zu erreichen sie so oft schon verzweifelt hatten. Alle Trübsal, alle Leiden und Entbehrungen, die sie während des Zuges über­ standen halten, waren vergessen; voll Mitleids gedachten sie ihrer Brüder, welche Hunger und Seuchen oder das Schwert der Ungläubigen dahingerafft hatten, voll Verachtung der kleinmütigen und feigen Gefährten, welche umgekehrt oder entflohen waren. Als man endlich am fünften Juni nach Nikopolis, dem vor­ maligen Emmaus, gelangte, welches nur noch drei Meilen von Jerusalem ent­ ferntist, erschien um Mitternacht eine Gesandtschaft von den Christen in Bethlehem und bat um eine Besatzung zum Schutz ihrer schönen Kirche aus Furcht, die von allen Seiten in die Hauptstadt flüchtenden Ungläubigen könnten sie in ihrer Wut zerstören. Sogleich eilte Tankred mit einer auserlesenen Schar normannischer Ritter dorthin, pflanzte seine Fahne auf den Turm der Kirche, ließ einen Teil seiner Begleiter zum Schutz des Städtchens zurück und eilte mit den übrigen vor­ wärts; denn es drängte ihn, der erste zu sein, der die heiligen Mauern erblickte. Als er vom Gipfel eines Berges der Stadt Gottes ansichtig wurde, sprang er

vom Pferde und küßte in schwärmerischer Entzückung den geweihten Boden. Gleiche Begeisterung ergriff die ganze Schar, und mit Thränen in den Augen und aus­ gestreckten Armen riefen sie: „Gott will es! Gott will es! Wir sind da!" Unter­ des waren einige französische Ritter, welche Tankreds Tapferkeit gerettet hatte, zum Hauptheer zurückgekehrt. Ihr Bericht setzte das ganze Lager in Aufruhr,

und schlaflos vor Ungeduld und Sehnsucht brachte das Heer die Nacht zu. Ohne den Befehl zum Aufbruch zu erwarten, setzte sich alles am nächsten Morgen in Bewegung. Endlich kam vom Vortrabe die Nachricht, daß man die Türme der

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VI

Geschichte.

heiligen Stadt erblicke. In diesem Augenblicke war die Ordnung des ganzen Zuges aufgelöst, und Ritter und Priester, Soldaten und Weiber eilten in buntem Gemisch die Anhöhe hinauf, welche die Stadt ihren Blicken entzog. Als sie oben aulangten und das Ziel ihrer Wünsche und ihrer Anstrengungen vor sich sahen, sielen sie auf die Kniee, erhoben Lobgesänge und dankten Gott mit Thränen in den Augen. Ein Glück war es, daß Tankred von .feinem Posten aus die tür­ kische Besatzung abhielt, das christliche Heer anzugreifen, ehe es sich sammeln und

zum Kampfe ordnen konnte. Die Stadt Jerusalem lag in Gestalt eines länglichen Bierecks von mäßigem Umfang auf den Gipfeln und den Abhängen zweier Hügel, Zion und Moria genannt. Auf dem ersteren, der südwestlich die Stadt begrenzte, erhob sich als festes Bollwerk der Turm Davids, und auf seinem Abhang erblickte man die Auferstehungskirche; auf dem letzteren lag au derselben Stelle, wo früher der Tempel Salomons gestanden hatte, die vom Kalifen Omar erbaute Moschee. Doppelte, mit starken Türmen besetzte Ringmauern umschlossen die ganze Stadt, die überdies auf drei Seiten durch tiefe Thäler von der gebirgigen Umgegend geschieden war. Ostwärts nämlich zieht sich das Thal Josaphat zwischen dem Moria und dem Ölberge hin, nach Süden und Westen bilden die schroffen Ab­

hänge des Berges Zion daö enge Thal Hinnom, und nur nach Norden hin wird die Stadt von einer weiten Ebene begrenzt. Auf dieser und auf einem Teil der Westseite, so weit hier die Gegend zugänglich war, schlugen die Christen noch an demselben Tage ihr Lager auf. Ihr Heer war jetzt bis auf 40 000 Köpfe zu­ sammengeschmolzen, und unter diesen waren nur 20 000 Mann streitbaren Fuß­ volks und 1500 Ritter; Jerusalem dagegen war von 40000 Bewaffneten geschützt, und ein großer Teil der Bevölkerung wetteiferte mit der Besatzung in der Ver­ teidigung der Stadt. Bei der großen Ungeduld und Kampflust der Kreuzfahrer ward schon am fünften Tage ein allgemeiner Sturm gewagt und nach einem hartnäckigen Kampfe

die äußerste Ringmauer genommen; aber aus Mangel an Belagerungsgerät mußten sie sich wieder zurückziehen. Da zeigte ihnen ein syrischer Christ in einer Entfernung von zwei Meilen ein verborgenes Thal, dessen Wände mit hohen Bäumen bewachsen waren, die das nötige Bauholz lieferten. Alles machte sich nun an die Arbeit; wer nicht bei der Anfertigung der Maschinen thätig sein konnte, half Balken und Flechtwerk herbeitragen, und Vornehme und Geringe wetteiferten

in dieser beschwerlichen Arbeit.

Bald aber mußte der Eifer der Christen eine

harte Probe bestehen; denn die wasserarme Gegend wurde durch die Hitze der

Sommermonate völlig ausgedorrt. So waren sie den entsetzlichen Qualen des Durstes preisgegeben, der sie bald noch ärger peinigte, als zu Antiochien der Hunger. Fünf bis sechs Meilen weit mußte das Wasser in Schläuchen herbei­ geholt werden, und da dies nicht einmal für das Bedürfnis der Menschen aus­

reichte, so starben die Tiere haufenweise dahin und verpesteten die die Kreuzfahrer aber auszogen, um Wasser und Futter zu holen, den Angriffen der Sarazenen ausgesetzt, welche aus Hinterhalten und, ehe die Zerstreuten sich sammeln konnten, wieder verschwanden.

Luft. Wenn so waren sie hervorbrachen In dieser Not

VI.

Geschichte.

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war die Ankunft einer genuesischen Flotte in dem Hafen von Joppe ein sehr er­

freuliches Ereignis. Sie brachte Lebensmittel, Handwerkszeug und frische Mann­ schaft, namentlich geschickte Werkleute, welche ebenjetzt treffliche Dienste leisteten. Mit neuem Eifer ging es an die Arbeit, und bald waren die nötigen Wurf­ maschinen und die großen beweglichen Türme vollendet; ehe man aber den An­ griff begann, bereitete man sich durch einen feierlichen Zug auf den Ölberg zu dem gefährlichen Werke vor. Dort wurde ein Lobgesang anzestimmt, dessen Strophen das Volk in ungeheurem Chore wiederholte; dann hielt Peter der Ein­ siedler eine ergreifende Anrede, in welcher er die Versammlung zu Eintracht und

Vertrauen ermahnte und den Beistand des Höchsten zu dem wichtigen Werke erflehte. In der folgenden Nacht wurden mit der größten Anstrengung alle Vorbe­ reitungen zum Sturm getroffen. Da Gottfried von Bouillon und Robert vou der Normandie bemerkten, daß an den Stellen, wo sie ihr Geschütz und ihren Turm errichtet hatten, die Mauern der Stadt sehr fest und wohl verteidigt waren, so nahmen sie ihr ganzes Belagernngsgerät in aller Stille auseinander und richteten es weiter östlich, wo die Mauer schwächer und zugänglicher war, wieder auf. Die ganze Arbeit war noch vor Sonnenaufgang vollendet, so daß die Feinde nicht wenig erstaunten, als sie am Morgen die Veränderung ge­ wahrten. Zugleich hatten Raimund und Tankred den Boden vor ihren Türmen geebnet und diese selbst vorgeschoben. Diese Türme waren vierseitige, auf Rollen befindliche Gerüste und hatten vorn eine doppelte Bretterbekleidung, so daß man die äußere gleich einer Fallbrücke auf die feindliche Mauer hinablassen konnte, während die innere durch Häute gegen Wurfgeschosse und Feuerbräude gesichert war. Mit Anbruch des Tages begannen die Christen den allgemeinen Sturm, fest entschlossen zu siegen oder zu sterben. Kein Arm blieb unthätig; selbst die Kranken rafften sich von ihrem Lager auf, und auch die Weiber, Greise und Kinder nahmen an dem heiligen Kampfe teil, indem sie die Maschinen vorrücken halfen. Es entstand ein hartnäckiger und wütender Kampf, der ohne Unter­ brechung vom Morgen bis zum Abend währte; besonders heftig aber entbrannte der Streit bei den drei großen Belagerungstürmen, bis ihm die einbrechende

Finsternis ein Ende machte. Die Nacht wurde auf beiden Seiten schlaflos zu­ gebracht. Schon vor Sonnenaufgang war jeder wieder auf seinem Posten. Mit verdoppelter Hitze erneuerte sich der Kampf; denn so groß auch auf beiden Seiten die Zahl der Leichen, der Verstümmelten und Zerschmetterten war, so vermochte doch selbst der Tod in seiner schrecklichsten Gestalt nicht, den Eifer der Stürmenden und den Widerstand der Verteidiger zu schwächen. Der hitzige Kampf währte sieben Stunden, ohne daß die Kreuzfahrer einen wesentlichen Vor­ teil zu erringen vermochten. Schon fingen sie an, von der übermäßigen An­ strengung zu ermatten, schon waren viele ihrer Maschinen zerschmettert oder vom

Feuer zerstört, schon dachten sie daran, sich zu erholen und den Sturm am fol­ genden Tage zu erneuern: als plötzlich Herzog Gottfried von seinem Turm aus eiiun Ritter mit glänzendem Schilde gewahrte, der auf dem Gipfel des Öl­ berges den Christen zur Fortsetzung des Kampfes winkte.

Mit freudigem Zuruf

232

VI.

Geschichte.

zeigte er den Fürsten und dein Volk die Erscheinung, und wie von einem Zauber gerührt (denn alle glaubten, in dem Ritter den heiligen Georg zu erkennen), griffen die ermatteten Krieger wieder zu deu Waffen, sammelten sich um die Führer und erneuerten in freudiger Siegeshofsnung den Kampf. Binnen einer

Stunde war der Graben vor der Mauer ausgefüllt, der äußere Wall gebrochen und Gottfrieds Turm an die innere Mauer gerückt. Jetzt wurden die Kissen und Säcke, mit denen dieser behängt war, angezündet, und ein günstiger Wind trieb den dichten Rauchwirbel den Verteidigern ins Gesicht, so daß sie aus Furcht zu ersticken zurückwichen. Sogleich ließ Gottfried die Fallbrücke seines Turmes herab, und einen Augenblick später stand er mit seinem Bruder Eustach und zwei flandrischen Rittern auf der feindlichen Mauer. Seine Begleiter folgten, und während die Sarazenen bestürzt zurückwichen, legten die Stürmenden ihre Leitern an, besetzten einen Teil der Mauer, öffneten das Stephansthor und ließen das gesamte Christenheer in die Stadt. Jetzt entstand in allen Straßen ein entsetzliches Blutbad; alles, was den Siegern in den Weg kam, wurde nieder­ gemacht, und Leichen häuften sich auf Leichen. Unterdes kämpften die Belagerten noch auf der Südseite der Stadt gegen Raimund von Toulouse, dessen Turm schon dicht vor der Mauer stand; als sie aber hinter sich das Geschrei der siegestrunkenen Christen und den Jammerruf der Sterbenden vernahmen, verließen sie erschreckt die Mauer und flohen in den nahgelegenen Davidsturm. Jetzt ließ auch Raimund die Fallbrücke nieder, drang mit seinen Begleitern ein und öffnete das Davidsthor. Das einströmende Heer begann ein furchtbares Gemetzel, und wer etwa dem Blutbade im nördlichen Teile der Stadt noch entronnen war, fand hier seinen Tod. Eine Zeit lang kämpften die Sarazenen noch von den platten Dächern herab, indem sie Steine, Balken, Feuerbrände und fierendes Pech auf die Christen warfen; aber bald hörte jeder Widerstand auf, da in dem dicken schwefligen Dampfe, der die Luft

erfüllte, weder Freund, noch Feind zu erkennen war. Jetzt ergossen sich die Christen zum wilden Morden durch alle Straßen der unglücklichen Stadt; kein Flehen um Erbarmen, kein Mer, kein Geschlecht konnte die Schlachtopfer retten; Sarazenen, Juden und Christen fielen unter dem Schwert der Wütenden, die von den Priestern noch zum Morden angefeuert wurden. Bis tief in die Nacht hinein dauerte das entsetzliche Morden; denn als der Kampf in den Straßen aufhörte, verteilten sich die Sieger rottenweise in den Häusern und erwürgten alle, die sie aus den Schlupfwinkeln hervorzogen, oder schlachteten sie unter grausamen Martern, um das Geständnis verborgener Schätze von ihnen zu er­

pressen. Nur diejenigen Sarazenen, die sich in den Turm Davids geflüchtet hatten, retteten durch einen Vertrag mit Raimund von Toulouse ihr Leben, in­ dem sie gegen ein hohes Lösegeld und freien Abzug nach Askalon die Burg übergaben. Von der ganzen übrigen Bevölkerung Jerusalems blieben nicht so viele am Leben, als nötig waren, um die Straßen und Häuser von den Leich­

namen zu reinigen. Nachdem am folgenden Morgen die Straßen und Häuser gereinigt, die Tempel zum Dienste Christi geweiht und der Tag der Eroberung — es war der 15. Juli —

VI.

233

W c sch i ch t e.

für ewige Zeiten zu einem Freudenfeste der ganzen Christenheit bestimmt worden war, versammelten sich die Feldherren, um für den neuen Staat ein Oberhaupt zu wählen. Als der laute Jubelruf des versammelten Heeres den Herzog Gott­

fried als König begrüßte, weigerte sich der bescheidene Held, in der Stadt, wo der Heiland der Welt mit Dornen gekrönt worden war, eine goldene Krone zu tragen, und nannte sich Schirmvogt des heiligen Grabes und Baron von Jerusalem.

Dielitz.

40,

Landgraf Ludwig der Eiserne.

Zu Ruhla im Thüringer Walde liegt eine alte Schmiede, und sprichwörtlich pflegt man von laugen Zeiten her einen strengen, unbeugsamen Mann mit den Worten zu bezeichnen: „Er ist in der Ruhl hart geschmiedet worden." Den Ursprung dieses Sprichworts lehrt folgende Sage. Landgraf Ludwig zu Thü­ ringen und Hessen war anfänglich ein gar milder und weicher Herr, demütig

gegen jedermann; da begannen seine Junker stolz zu werden und verschmähten ihn und seine Gebote; aber die Unterthanen druckten und schätzten sie aller Enden. Es trug sich nun einmal zu, daß der Landgraf auf die Jagd in den Wald ritt

und ein Wild so lange verfolgte, bis er sich verirrte und von der Nacht über­ fallen wurde. Da gewahrte er ein Feuer durch die Bäume, richtete sich danach und kam in die Ruhl zu einem Hammer oder einer Waldschmiede. Der Fürst war mit schlechten Kleidern angethan, ein Jagdhorn an seiner Seile. Der Schmied fragte, wer er wäre; er antwortete: „des Landgrafen Jäger." Da sprach der Schmied: „Pfui, ves Landgrafen, des barmherzigen Herrn! Beher­ bergen will ich dich diese Nacht; in dem Schuppen da findest du Heu, da magst du dich mit deinem Pferde behelfen; aber um deines Herrn willen will ich dich nicht aufnehmen." Der Landgraf ging schweigend an den angewiesenen Ort, konnte jedoch nicht schlafen; denn die ganze Nacht hindurch arbeitete der Schmied, und wenn er mit dem großen Hammer das Eisen zusammenschlug, sprach er bei jedem Schlag: „Landgraf, werde hart! hart wie dieses Eisen!" und schalt ihn also: „Du böser, unseliger Herr, was taugt deine Regierung den armen Leuten? Siehst du nicht, wie deine Räte das Bolk plagen?" Dann erzählte er dem Schmiedegesellen bei der Arbeit, was die Beamten für Bedrückungen gegen die armen Unterthanen ausübten, und wie diese mit ihren Klagen nirgends Gehör fänden; denn der Herr nähme sie nicht an, während doch die Ritterschaft seiner hinterrücks spottete und ihn gar unwert hielte. So trieb es der Schmied bis zum Morgen, und wenn die Hammerschläge kamen, schalt er den Herrn und hieß

ihn hart werden wie das Eisen. Der Landgraf aber faßte alles zu Ohren und zu Herzen, kehrte am Mor­ gen heim und ward seit der Zeit scharf und strenge in seinem Sinn und Wesen. Er begann die Widerspenstigen zu zwingen und zum Gehorsam zu bringen, mit) als sie sich unterstanden, sich zur Gegenwehr gegen ihn zu verbinden, stritt er mit ihnen bei der Naumburg an der Saale, bezwang sie und führte sie gefangen auf die Burg. Hier strafte er sie mit harten Worten, führte sie dann aufs

Feld, fand dort einen Pflug, spannte in denselben je vier der ungehorsamen

234

VI. Geschichte.

Edelleute und ackerte mit ihnen eine Furche, während die Diener den Pflug

hielten und er selbst mit einer Geißel die Vorgespannten antrieb und hieb, daß sie sich beugten und oft auf die Erde fielen. So pflügte er den ganzen Acker, mit je vieren eine Furche, ließ danach denselben zum ewigen Gedächtnis mit großen Steinen bezeichnen und nannte ihn den Edelacker; die Gedemütigten aber führte er wieder zur Naumburg, wo sie ihm aufs neue schwören und huldigen

mußten. Der Landgraf aber ward fortan im ganzen Lande von seinen Dienern gefürchtet; einige derselben wollten ihm zwar den angethanen Schimpf nicht ver­ gessen und standen ihm heimlich und öffentlich nach dem Leben; wurden sie jedoch ihrer Schuld überführt, so ließ er sie hängen, enthaupten, ertränken oder in den Stöcken sterben. Dadurch zog er sich viele heimliche Feinde unter ihren Kindern und Freunden zu und ging deshalb unter seinen Dienern stets in einem eisernen Panzer; darum hieß man ihn den eisernen Landgrafen.

41.

Grimm.

Friedrich Barbarossa.

Friedrich war von mittlerer Grösse und wohlgebaut, hatte einen röt­ lichen Bart, schöne Züge, feine Lippen, blaue Augen, einen heiteren, aber durchdringenden und der innern Kraft sich gleichsam bewussten Blick. Sein Gang war fest, die Stimme rein, der Anstand männlich und würde­ voll, die Kleider weder gesucht, noch nachlässig. Keinem stand er auf der Jagd und in Leibesübungen nach, keinem an Heiterkeit bei Festen; nie aber durfte der Aufwand in übermässige Pracht, nie die gesellige Lust in Vollere! ausarten. Seine Kenntnisse konnten in jener Zeit und bei der mehr weltlichen Richtung seines Lebens nicht umfassend sein; doch ver­ stand er lateinisch und las gern und fleissig die römischen Schriftsteller. Ungeachtet seines grossen Feldherrntalents sah er im Kriege nur ein Mittel für den höheren Zweck, den Frieden. Furchtbar und streng zeigte er sich gegen Widerstrebende, versöhnlich gegen Reuige, herablassend gegen die Seiuigen; doch verlor er weder in der Freude, noch im Schmerz jemals Würde und Haltung. Selten trog ihn sein Urteil, fast nie sein Gedächtnis. Gern hörte er Rat; die Entscheidung aber kam, wie es dem Herrscher gebührt, stets von ihm selbst. Andacht an heiliger Stätte, Ehrfurcht gegen Geistliche als Verkünder des göttlichen Wortes möchte man Eigen­ schaften des Zeitalters überhaupt nennen; wenige verstanden jedoch so wie er, die übertriebenen Forderungen der Kirche davon zu sondern und ihnen mit Nachdruck entgegenzutreten. Rücksichtslos die Gesetze zu voll­ ziehen, hielt er für die erste Pflicht des Fürsten; ihnen unbedingt zu gehor­ chen, für die erste des Unterthans. Überall stärkte er seinen Willen und seine Kraft dadurch, dass er nur das unternahm, was nach seiner Überzeugung dem Rechte und den Gesetzen gemäss war, und dass er auf grosse Vorbilder früherer Zeiten mit der Begeisterung hinblickte, welche selbst ein Zeichen der Tüchtigkeit ist. Insbesondere hatte er Karl den Grossen zum Muster genommen und erklärte, ihm nachstrebend müsse

VI.

Geschichte.

235

man das Recht der Kirche, das Wohl des Staates, die Unverletzlichkeit der Gesetze im ganzen Reiche zu gründen und herzustellen suchen. Einem solchen Manne konnte sich bei seiner Thronbesteigung kein anderer als Bewerber gegenüberstellen, weder der jüngere und in mancher Hinsicht bedrängte Heinrich der Löwe, noch ein österreichischer Babenber­ ger, noch einer der übrigen Fürsten. Schon am Hten Tage nach dem Tode Konrads III., am 5. März 1152, versammelten sich alle geistlichen und weltlichen Fürsten des Reichs in Frankfurt am Main und erwählten den Herzog Friedrich von Schwaben um seiner Abkunft und persönlichen Würdigkeit willen einstimmig zum deutschen Kaiser. Das in grosser Zahl aus allen Gegenden versammelte Volk und einige zufällig gegenwärtige italienische Mannen stimmten laut und freudig dieser Wahl bei. Fünf Tage nachher erfolgte in Aachen die feierliche Krönung durch den Erz» bischof Arnold von Köln. In diesen Augenblicken allgemeiner Freude hoffte ein wegen schwerer Vergehen von Friedrich verstossener Diener, Gnade zu finden, und warf sich mitten in der Kirche vor ihm nieder; aber der König sprach mit Ernst: „Ich entfernte dich nicht aus Hals, son­ dern der Gerechtigkeit gemäss; daher ist kein Grund zürn Widerrufe vor­ handen. ~ Raumer.

42

Schwäbische Kunde.

Als Kaiser Rotbart lobesam 3um heil'gen Land gezogen kam, Da mußt' er mit dem frommen Heer Durch ein Gebirge, wüst und leer. Daselbst erhub sich große Not: Viel Steine gab's und wenig Brot, Und mancher deutsche Neitersmann Hat dort den Trunk sich abgethan. DenPfevden war's so schwach im Magen: Fast mußt' der Reiter die Mähre tragen. Nun war ein Herr aus Schwabenland, Von hohem Wuchs und starker Hand; Des Nößlein war so krank und schwach,

Er zog es nur am Zaume nach; Er hätt' es nimmer aufgegeben, Und kostet's ihn das eigne Leben. So blieb er bald ein gutes Stück

Ging seines Weges Schritt vor Schritt, Ließ sich den Schild mit Pfeilen spicken Und that nur spöttisch um sich blicken, Bis einer, dem die Zeit zu lang, Auf ihn den krummen Säbel schwang. Da wallt dem Deutschen auch sein Blut;

Er trifft des Türken Pferd so gut, Er haut ihm ab mit einem Streich Die beiden Vorderfüß' zugleich.

Als er das Pferd zu Fall gebracht, Da faßt er erst sein Schwert mit Macht: Er schwingt es auf des Reiters Kopf,

Haut durch bis auf den Sattelknopf, Haut auch den Sattel noch in Stücken

Und tief noch in des Pferdes Rücken. Zur Rechten sieht man, wie zur Linken Einen halben Türken heruntersinken. Da packt die andern kalter Graus:

Hinter dem Heereszug zurück. Da sprengten plötzlich in die Quer Fünfzig türkische Reiter daher; Die huben an, auf ihn zu schießen,

Sie fliehen in alle Welt hinaus, Und jedem ist's, als würd' ihm mitten Durch Kopf und Leib hindurchgeschnitten.

Nach ihm zu werfen mit den Spießen. Der wackre Schwabe forcht sich nit,

Drauf kam des Wegs ’ne Christenschar, Die auch zurückgeblieben war;

236

VI

Ge sch ichte.

Die sahen nun mit gutem Bedacht,

Was Arbeit unser Held gemacht. Bon denen hat's der Kaiser vernommen; Der ließ den Schwaben vor sich kommenEr sprach: „Sag' au, mein Ritter wert!

Wer hat dich solche Streich' gelehrt?" Der Held bedacht' sich nicht zu lang. „Die Streiche sind bei uns im Schwang! Sie sind bekannt im ganzen Reiche: Man nennt sie halt nur Schwabenstreiche!" Uhland.

43.

Der dritte Kreuzzug.

Jussuf Saladin, der Sohn Ejubs, hatte sich in den Kriegen Rureddins mit den Christen durch Tapferkeit und Umsicht so ausgezeichnet, daß er schon als

Jüngling zu dem Range eines Befehlshabers emporstieg. Als Nureddin ein Heer nach Ägypten sandte, um einen vertriebenen Bezier, der ihn um Schutz gebeten

hatte, wieder einzusetzen, nahm auch Saladin an dem Feldzuge teil und war, obgleich er nicht den Oberbefehl führte, die Seele der ganzen Unternehmung. Bald darauf starb der Feldherr; Saladin wurde zu seinem Nachfolger ernannt und hatte nun Gelegenheit, sein Herrschertalent in vollem Maße zu entwickeln. Als endlich im Jahre 1173 Nureddin starb, benutzte Saladin die Streitigkeiten, die in der Familie desselben ausbrachen, um sich allmählich zum Herrn aller seiner Länder zu machen, so daß sich seine Herrschaft von Kairo bis an den Euphrat erstreckte und das kleine christliche Königreich Jerusalem in einem großen Halbkreise umschloß. Ein gefährlicherer Feind hätte für die morgenländischen Christen nicht aufstehen können. Er war tapfer, gerecht, wohlthätig und edel­ mütig, fest und beharrlich in allen seinen Entschlüssen und dabei ein eifriger

Freund und Beförderer der Wissenschaften. Und während dieser heldenmütige und weise Fürst an der Spitze der türkischen Macht stand, wurde das Königreich Jerusalem durch innere Streitigkeiten zerrissen, welche eine zusammenhängende und nachdrückliche Verteidigung hinderten, besonders seitdem der elende Guido

von Lusignan den Thron bestiegen hatte. Dieser hatte mit dem mächtigen Feinde einen Waffenstillstand geschlossen; aber bald störte die freche Gewalt eines Ritters, namens Rainald, den Frieden und stürzte das Reich völlig ins Verderben; er überfiel nämlich Saladins Mutter, welche im Vertrauen auf den Waffenstillstand durch das Gebiet der Christen reiste, tötete ihre Begleiter und raubte ihre Schätze. Guido war so unbillig und zugleich so thöricht, dem Sultan Saladin die verlangte Genugthuung und die Bestrafung des Frevlers zu verweigern. So brach denn der Krieg aus. Nach einigen unglücklichen Gefechten erlitten die Christen bei Tiberias eine völlige Niederlage; der König, sein Bruder, der Groß­

meister der Tempelherren und viele andere Edle wurden gefangen und das ganze Heer aufgerieben. Großmütig reichte Saladin in seinem Zelt dem König den

Becher der Gastfreundschaft; der Verräter Rainald aber empfing von seiner Hand den Todesstreich. Bald waren die meisten Städte der Christen in der Gewalt

des Sultans; nach einer kurzen Belagerung mußte auch Jerusalem, dem es an Verteidigern und an Lebensmitteln fehlte, dem Sieger die Thore öffnen. Saladin verlangte für jeden männlichen Einwohner zehn, für jedes Weib fünf,

VI.

Geschichte.

237

für jedes Kind ein Goldstück als Lösegeld und hielt am 3. Oktober 1187 unter Pauken- und Trompetenschall seinen Emzug in die heilige Stadt. Als die Nachricht von dem Verlust der heiligen Stadt nach Europa gelangte,

verbreitete sich allgemeine Bestürzung, und die drei ersten Fürsten der Christen­ heit, der Kaiser Friedrich Barbarossa, der König Philipp August von Frankreich und Richard Löwenherz, König von England, erklärten ihren Entschluß, sich an die Spitze des Kreuzheeres zu stellen. Zuerst setzte sich Friedrich, der damals schon siebenundsechzig Jahr alt war, mit einem stattlichen und mit allen Be­ dürfnissen reichlich versehenen Heere, das aus 50000 Rittern und 80000 wohlbe­ waffneten Fußsoldaten bestand, im April des Jahres 1189 von Regensburg aus in Bewegung. Um alles lästige und unnütze Gesindel fernzuhalten, hatte er befohlen, daß niemand sich dem Zuge anschließen durfte, der nicht wenigstens drei Mark Silber mitnehmen konnte. Seinem ältesten Sohne Heinrich hatte er die Regierung seiner Reiche übertragen; sein zweiter Sohn, Friedrich von Schwaben, begleitete ihn nebst vielen deutschen Fürsten, Grafen und Bischöfen. In größter Ordnung zog das Heer durch Ungarn, unter vielen Kämpfen durch die Bulgarei. Die Überfahrt über den Hellespont geschah auf 500 Schiffen; Friedrich blieb so

lange auf tein europäischen Ufer, bis alle Krieger glücklich hinüber waren, und betrat dann mit den Worten: „Nun mutig vorwärts, liebe Brüder! Das feind­ liche Land ist unser!" den Boden Asiens. Er hatte mit dem Sultan von Jkonium

einen Vertrag geschlossen, der ihm freien Durchzug durch das Gebiet desselben, und die Lieferung von Lebensmitteln zu mäßigen Preisen verhieß. Anfangs wur­ den diese Bestimmungen genau beobachtet; bald aber erfuhren die Kreuzfahrer zu ihrem großen Leidwesen, daß es den Abgeordneten Saladins gelungen war, die Söhne des Sultans durch Bestechuug zum Trenbruch zu verleiten. So faßte er denn den kühnen Entschluß, gerade auf die Hauptstadt des Sultans loszugehen.

Er teilte zu dem Ende das Heer, gab die eine Hälfte seinem Sohne, dem Her­ zog von Schwaben, und folgte selbst mit der andern nach, indem er das wenige Gepäck und die Menge der Kranken in die Mitte nahm. Alle waren so erschöpft, daß der Zug sich nur langsam fortbewegte; aber dennoch wagten die zahllosen Haufen der Türken, die ihn von allen Seiten umschwärmten, nicht, ihn anzu­ greifen, da die feste Haltung der Deutschen sie schreckte. Endlich stieg das Kreuz­

heer in die fruchtbare und wohl angebaute Ebene hinab, in welcher Jkonium liegt. Der Herzog Friedrich beschleunigte seinen Marsch; jetzt aber kamen aus den ge­ öffneten Thoren zahllose Scharen von Reitern entgegen, die sich in der Ebene ausbreiteten und den Vortrab der Deutschen von allen Seilen angriffen. Dem Andrang einer so überlegenen Macht konnten die ermatteten Kreuzfahrer nicht widerstehen; sie mußten zurückweichen und rissen die nachfolgenden Abteilungen in Unordnung mit sich fort. Mit unsäglicher Anstrengung gelang es endlich den Deutschen, die feindlichen Reiterscharen wieder nach der Stadt hin zurückzudrän­

gen.

Ohue sich von den Pfeilschüssen der Fliehenden aufhalten zu lassen, dran­

gen sie mit Ungestüm gegen die Mauern vor, öffneten mit Streitäxten die schlecht verwahrten Thore und nahmen die Stadt in Besitz, während das türkische Heer in panischem Schrecken entfloh.

Als der Kaiser, der unterdes einen gefährlichen

238

VI.

Ge schichte.

Kampf mit dem Hauptheer der Türken unter dem Sohne des Sultans siegreich

bestanden hatte, in Jkonium einzog, kam ihm sein Sohn vor dem Thore entgegen und führte ihn unter dem Jubelruf der Pilger zu dem Palast des Sultans. Schrecklich hatte das Schwert in den Straßen gewütet, ehe die Anführer dem Morden Einhalt thun konnten; aber am Abend war überall die Ordnung herge­ stellt, und die Krieger durften sich in voller Sicherheit der lange entbehrten Ruhe überlassen. Am folgenden Tage ordnete Friedrich ein allgemeines Dankfest an; unter Thränen der Freude und des Dankes priesen die Kreuzfahrer den Allmäch­ tigen, der sie so wunderbar aus der größten Gefahr und Verzweiflung gerettet hatte. Zwei Tage später erschien eine demütige Gesandtschaft des Sultans, welche die Gnade des Siegers anstehte und alle Schuld auf die Söhne ihres Ge­

bieters schob; Friedrich versprach, dem Sultan seine Hauptstadt zurückzugeben, und verlangte dafür nur die Verpflegung des Kreuzheers während des Durchzugs durch sein Gebiet, die Lieferung der nötigen Pferde und freien Handel mit seinen Un­ terthanen. Nachdem er sich darauf Zwanzig der angesehensten Türken als Gei­ seln hatte stellen lassen, brach er acht Tage nach der Eroberung Jkoniums wieder­ auf, um den Zug uach Cilicien anzutreten. Der Weg führte durch fruchtbare Ebenen und an volkreichen Städten und Dörfern vorüber, welche Lebensrnittel im Überfluß lieferten; als man sich aber der finsteren Bergkette des Taurus näherte, trat wieder ein drückender Mangel ein. Je höher man stieg, desto größer­ wurden die Beschwerden und Gefahren. Zwei Tage lang zog sich der Weg an schroffen Felsenwänden und tiefen Abgründen hin, in welche nie ein Sonnen­ strahl eindringt. Auf dem schmalen Pfade, der kaum für einen Mann breit genug war, mußten die Pferde am Zügel geführt werden, und bei dem geringsten Fehl­ tritt rollten Manu und Roß ohne Rettung in einen finstern Schlund hinab, aus dem das dumpfe Getöse eines brausenden Bergstroms furchtbar herauftönte. Vom

Schwindel ergriffen beim Anblick der entsetzlichen Abgründe, krochen viele auf Händeu und Füßen weiter, und dennoch sah man treue Knappen und Diener, welche ihre ermatteten Herren auf dem Rücken trugen.

Am dritten Tage endlich

stiegen die Vordersten von dem Gebirge hinab, und allmählich sammelten sich am Fuße desselben die Scharen wieder und schlugen unter feierlichen Lobgesängen in der fruchtbaren Ebene von Seleueia ihr Lager auf. Da die Stadt Lebensrnittel im Überfluß lieferte, so hörte man im ganzen Lager nichts als fröhlichen Jubel; auch der Kaiser überließ sich der Freude und brachte in andächtiger Rührung dem Allmächtigen seine Dankopfer. Am Nachmittage ließ er den selbst in der Ebene noch unruhig flutenden Strom Kalhkadnus, in dessen Thal man hinabgestiegen war, untersuchen, um eine Furt zum Übergang des Heeres aufzufinden. Er

selbst ritt mit einigen Begleitern hinaus; ermüdet von der Hitze des Tages, wünschte er, sich durch ein Bad zu erfrischen, und warf sich, nachdem er seine Rüstung abgelegt hatte, in den Fluß. Als ein geschickter Schwimmer achtete er der sprudelnden Wellen nicht, aber schon nach einigen Augenblicken sahen seine Begleiter ihn sinken. Er arbeitete sich wieder empor, und ein Ritter, der ihm

nachgeschwommen war, ergriff ihn; aber beide gerieten in einen Wirbel des Stroms, der sie auseinanderriß. Ein zweiter, der sich mit dem Pferde ins Wasser ge-

VI.

Geschichte.

239

worfen hatte, brachte den Kaiser ans Land, aber schon ohne Leben- Ein entsetz­ licher Schrecken lähmte plötzlich jede frohe Bewegung, als sich die furchtbare Nach­

richt im Lager verbreitete. Eine Nacht der Thränen, des Jammers und der Verzweiflung folgte auf den lauten Jubel, und jeder neue Tag erhöhte noch das Gefühl des unersetzlichen Verlustes. Gleich nach dem Tode des Kaisers kehrten viele Grafen und Ritter, an einem glücklichen Ausgang des Zuges verzweifelnd, zu Schiffe nach Europa zurück; die Mehrzahl aber setzte unter der Anführung des Herzogs Friedrich ihren Weg über Tarsus nach Antiochien fort, wo sie wegen einer verheerenden Seuche, die täglich viele hundert Deutsche fortraffte, acht Wochen bleiben mußten. In Tyrus wurde der Kaiser feierlich bestattet; dann wandte sich der Nest des Heeres nach Ptolemais, das von dem König Guido,

der unterdes seiner Haft entlassen worden war, und vielen zu Schiffe ange­ kommenen Kreuzfahrern belagert wurde. Hier starb Herzog Friedrich im Januar des Jahreö 1191 an einem hitzigen Fieber, das auch unter den übrigen Kreuzfahrern so heftig wütete, daß von dem gewaltigen Heere nicht mehr als fünftausend Reiter unter Anführung des Herzogs Leopold von Östreich übrig­ blieben. Unterdes hatten auch die Könige von Frankreich und England ihren Kreuz--

zug angetreten. Sie hatten beschlossen, die Reise zur See auszuführen, und schifften sich daher in Genna und Marseille mit allen ihren Streitern ein. In Messina vereinigten sich die beiden Könige wieder; aber schon hier brach unter ihnen der böse Zwist ans, der den ganzen Kreuzzug über fortdauerte und mehr als alles andere dazu beitrug, den Erfolg desselben zu hemmen. Im März des folgenden Jahres segelte Philipp August mit den Franzosen auf genuesischen Schiffen weiter und kam ohne Unfall nach Palästina. Richard Löwenherz folgte

ihm vierzehn Tage später auf zweihundert größtenteils englischen Fahrzeugen, landete bei Ptolemais und vereinigte sich mit den Franzosen und den Trümmern

des deutschen Heeres zur Belagerung dieser Stadt. Es war verabredet, daß Franzosen und Engländer immer abwechselnd einen Tag um den andern stürmen sollten, und so brachte es ihr Wetteifer dahin, daß die feste Stadt sich ungeachtet der heldenmütigsten Tapferkeit der Bewohner schon nach einem Monat ergeben mußte. Auch der Herzog Leopold hatte sich bei der Belagerung sehr thätig ge­ zeigt und mit großer Tapferkeit gefochten. Als er nun nach der Besetzung der

Stadt auf einem von ihm eroberten Turm seine Fahne aufpflanzte, ließ der stolze Richard sie herunterreißen und in den Kot treten. Leopold konnte für den Augenblick gegen den mächtigen König nichts ausrichten; er verschob diese Rache auf eine gelegenere Zeit, verließ die Stadt und schlug mit den Seinigen vor.dem Thore ein Lager auf. Bald aber fühlte sich auch Philipp August durch Richards hochmütiges und rohes Betragen beleidigt, und da er überdies durch Krankheit ermattet war, so schiffte er sich schon im Juli wieder nach Frankreich ein. Zuvor hatte er vor dem versammelten Heere einen Eid geschworen, daß er Richards und der übrigen Kreuzritter Besitzungen nicht nur nicht angreifen, sondern auch gegen fremde Angriffe verteidigen wolle. Der größte Teil seines Heeres blieb in

Palästina zurück.

240

VI.

Geschichte.

Bald darauf setzte er das Kreuzheer gegen Jerusalem in Bewegung. Schon in den ersten Tagen erlag ein großer Teil desselben den beständigen Angriffen der von allen Seiten umherschwärmenden Türken; am vierzehnten Tage aber sah es sich Plötzlich in einem engen Thale von den Feinden eingeschlossen und von allen Lebensmitteln und Wasserquellen abgeschnitten. So ungünstig die Stellung der Christen war, so errang doch Richards Löwenkühnheit einen vollständigen

Sieg; dennoch mußte das Kreuzheer, als es sich der heiligen Stadt bis auf drei Meilen genähert hatte, den Rückzug antreten, weil es sich von einer Belagerung keinen Erfolg versprechen konnte. Mißmütig entfernten sich zuerst die Franzosen, und bald rüstete sich auch Richard zur Rückkehr nach England. Schon war er im Begriff sich eiuzuschiffen, als er erfuhr, daß die Seestadt Joppe von den Türken bedroht wäre. Sogleich segelte er mit einer Schar von tausend Bewaff­ neten dorthin; allein bei seiner Ankunft war die Stadt schon erobert. Ohne die Landung seines Heeres abzuwarten, sprang er mit wenigen Begleitern von seinem Schiffe ins Meer, schwamm an das Ufer, trieb die durch seinen bloßen Anblick erschreckten Türken in die Flucht und rettete so den Christen die schon verlorene Stadt, indem er in aller Eile die zerstörten Mauern wiederherstellen ließ. Bald nach der Schlacht bei Joppe schlossen Richard und Saladin einen dreijährigen Waffenstillstand, demzufolge der ganze Küstenstrich in den Händen der Christen blieb und ihnen zugleich die Wallfahrten nach Jerusalem, Nazareth und Bethlehem gestaltet wurden. Die Pilger begaben sich scharenweis in die heiligen Städte, wo sie von den Türken gastfreundlich ausgenommen wurden; Richard aber ver­ sagte es sich, das Grab des Erlösers zu besuchen, weil er nicht als Sieger in

Jerusalem einziehen konnte. Auf der Rückreise nach Europa hatte Richard mannigfache Drangsale aus­

zustehen. Sechs Wochen lang wurde er auf dem Meere durch heftige Stürme umhergeworfen; endlich litt er in der Gegend von Venedig Schiffbruch und mußte die Weiterreise in Begleitung eines Dieners zu Lande fortsetzen. Die Deutschen, die er in Palästina mit so empörendem Übermut behandelt hatte, hatten von seinem Wege Kunde erhalten und stellten ihm eifrig nach. Er suchte daher ver­ kleidet zu entschlüpfen; in Wien aber verriet sich sein Diener durch morgenlän­ dische Goldmünzen und er selbst durch einen kostbaren Ring, den er am Finger trug, und der zu seiner unscheinbaren Kleidung nicht paßte. So geriet er in die Gewalt seines erbittertsten Feindes, des Herzogs Leopold von Östreich, der

ihn als Gefangenen auf die Festung Dürrenstein bringen und scharf bewachen ließ. Von ihm wurde er an den Kaiser Heinrich VI. ausgeliefert, weil dieser erklärt hatte, daß es einem Herzoge nicht gezieme, einen König gefangen zu hal­ ten, und erst gegen ein Lösegeld von zwei Millionen Thaler in Freiheit gesetzt. DieUtz.

44. Barbarossa. Der alte Barbarossa, Der Kaiser Friederich,

Er ist niemals gestorben, Er lebt darin noch jetzt;

Im unterirdischen Schlosse

Er hat im Schloß verborgen

Hält er verzaubert sich.

Zum Schlaf sich hingesetzt.

VI. Er hat hinabgenommen Des Reiches Herrlichkeit Und wird einst wiederkommen Mit ihr zu seiner Zeit. Der Stuhl ist elfenbeinern, Darauf der Kaiser sitzt; Der Tisch ist marmelsteinern, Worauf sein Haupt er stützt. Sein Bart ist nicht von Flachse,

Er ist von Feuersglut, Ist durch den Tisch gewachsen, Worauf sein Kinn ausruht.

Geschichte.

241

Er nickt als wie im Traume, Sein Aug' halb offen zwinkt; Und je nach langem Raume Er einem Knaben winkt. Er spricht im Schlaf zum Knaben: „Geh hin vors Schloß, o Zwerg,

Und sieh, ob noch die Raben Herstiegen um den Berg.

Und wenn die alten Raben Noch fliegen immerdar, So muß ich auch noch schlafen Verzaubert hundert Jahr/' 91 iiifert.

43.

Friedrich LI

Er war ein Enkel Barbarossas und durch Heldensinn, Festigkeit des Willens

und Kühnheit des Geistes seinem Großvater ähnlich. Er liebte Künste und Wissen­ schaften, war selbst Dichter, sprach sechs Sprachen und trug sieben Kronen auf seinem Haupte. Sein Leben war ein fortwährender Kampf mit den Päpsten; so gewaltig wie er hat kein deutscher Kaiser mit ihnen gerungen. Sie hatten den Bann und das Interdikt und wußten damit umzugehen. Es war ein schauer­ licher Anblick, wenn ein ganzes Land mit dem Interdikt belegt wurde. Aller Gottesdienst mußte mit einem Mal anfhören; die Altäre wurden entkleidet, die Kerzen ausgelöscht, alle Heiligenbilder und Kreuze lagen schwarz verschleiert am Boden; keine Glocke tönte mehr, die Kirchenpforten blieben verschlossen, die Or­ geln stumm, kein Sakrament wurde ausgeteilt; kein Toter kam in die heilige Erde des Gottesackers, er wurde ohne Gebet und Gesang in unheiliges Land

eingescharrt. Ehen wurden nicht vor dem Altare, sondern in dem Totengarten eingesegnet. Niemand durfte auf der Straße grüßen; jeder Anblick sollte ver­ kündigen, daß das ganze Land ein Land des Fluches sei. Friedrich II. hatte bei seiner Krönung versprochen, einen Kreuzzug zu machen; als er aber damit zögerte, sprach der Papst den Bannfluch über ihn aus. Er unternahm darauf deu Kreuzzug; söhnte jedoch dadurch den Papst nicht aus. Dieser erließ sogar an die Geistlichkeit und an die Ritterorden in Palästina die strengsten Befehle, den Kaiser nicht zu unterstützen; denn ein mit dem Fluche der Kirche Beladener sei unwürdig, für die Sache Gottes zu kämpfen. Friedrich aberbefreite Jerusalem, Bethlehem und Nazareth von den Sarazenen und setzte sich selbst die Krone eines Königs von Jerusalem aufs Haupt. Darauf eilte er nach Italien zurück, trieb dort die Feinde aus seinen Besitzungen und söhnte sich mit dem Papste aus, um später wieder mit ihm zu zerfallen. Da ward er auf dem großen Konzil zu Lyon, wo die Kardinäle den roten, breiten Hut erhielten, vom Papste förmlich seines Reiches entsetzt und der Kreuzzug gegen ihn gepredigt. Feierlich wurde er in der Kirche als Ketzer verflucht. Alle anwesenden Kardinäle

und Bischöfe warfen ihre brennenden Kerzen auf die Erde, und der Papst rief: Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb.

5. 9liifl.

16

242

VI.

Geschichte.

„Des Kaisers Macht und Glück soll ausgelöscht sein wie diese Kerzen."

Als

Friedrich den Spruch von Lyon vernahm, rief er, von Zorn glühend: „Wie? abgesetzt, meiner Krone beraubt hat mich der Papst? Bringt sie herbei!" Und man brachte ihm seine sieben Kronen: die deutsche Königskrone, die Kaiserkrone, die eiserne von Lombardien, die Kronen von Neapel, Burgund, Sardinien und Jerusalem. Eine dieser Kronen setzte er sich aufs Haupt und rief: „Noch habe ich sie, und kein Papst soll sie mir rauben." Er erklärte den Fürsten: „Ihr sollt

mir helfen, aber ihr thut nichts und lasset es geschehen, daß die ganze Welt in des Papstes Gewalt kommt." Heftige Kämpfe entbrannten. Nur die deutschen Städte blieben dem Kaiser treu und hörten nicht auf die Scharen von Bettel­ mönchen, die das Volk zum Abfalle, ja sogar zum Mord des Kaisers aufwiegelten. Friedrich mußte es erleben, daß die Treue seiner treuesten Freunde wankend ge­ macht wurde; sogar sein Kanzler, „die Hälfte seiner Seele," wie er ihn nannte, wollte ihn vergiften. Als es entdeckt wurde, zerstieß er sich den Kopf an den Wänden seines Kerkers. Schrecklich wütete in Italien der Krieg zwischen der kaiserlichen und päpstlichen Partei, schrecklicher als in Deutschland. Das heiße Blut des rachsüchtigen und jähzornigen Südländers führte unerhörte Greuelthaten herbei: Familie wider Familie, Stadt wider Stadt; weder Alter, noch Stand entzog sich dem Kampfe; Parteiwut beherrschte alles. Lange hielt sich Friedrichs hohe Gestalt aufrecht; die Zahl der Feinde hob nur seinen Mut; als aber sein hochsinniger Sohn Enzio in die Gewalt der Bologneser kam und alle Versuche, den jungen, blond gelockten König aus dem Kerker zu befreien, scheiterten, als selbst viele seiner Vertrautesten sich von der Gegenpartei gewinnen ließen: da brach endlich das Herz des Kaisers. Im 56. Jahre seines vielbewegten Lebens

verschied er in den Armen seines geliebtesten Sohnes Manfred und ward zu Palermo begraben. Es war ihm prophezeit worden, er solle unter Blumen ster­ ben. Deshalb mied er die Stadt Florenz, dachte aber nicht an Fiorenzuola. Als man sein Grab im Jahre 1781 öffnete, fand man ihn geschmückt mit Krone und Reichsapfel, gestickten Gewändern, Stiefeln und Sporen, an der Hand einen Ring mit kostbarem Smaragde. Ein hartes Geschick verfolgte alle noch übrigen Glieder des hohenstaufischen Hauses. König Enzio schmachtete zwanzig Jahre im Kerker und starb in Haft. Manfred fiel, um den Besitz Siciliens gegen Karl von Anjou ritterlich fechtend, mitten im Schlachtgetümmel. Auch er war so schön, daß seine Soldaten den Steinhaufen, der seine Leiche deckte, den Fels der Rosen nannten. Seine Söhne

ließ der unbarmherzige Karl bis an ihren Tod im Kerker schmachten. Des Kai­ sers Tochter Margareta ward von ihrem Gemahl, einem Markgrafen von Thü­ ringen, so mißhandelt, daß sie zur Nachtzeit aus der Wartburg entfloh und bei der Umarmung ihrer beiden Knaben im Schmerz über die Trennung den einen so in die Wange biß, daß er ein Mal und den Beinamen „der Gebissene" da­

von behielt. Und der letzte Hohenstaufe, der schöne Konradin, mußte zu Neapel in der Blüte seiner Jahre das Haupt dem Henker auf den Block legen. Nach Vehse.

VI. Geschichte.

243

46. Landgraf Ludwig und der Löwe. Der heil'ge Ludwig ritt hervor Aus Wartburgs hochgewölbtem Thor; Er grüßet fromm den Morgenstrahl Und schaut hinab auf Stadt und Thal. Und wie er jetzt hinunterschaut, Schreckt ihn ein donuergleicher Laut; Er wendet sich nach dem Geschrei Und sieht bestürzt den Löwen frei, Den Löwen, den man ihm geschenkt, Der seinen Kerker heut gesprengt. Sein Haupt, von Mahnen dicht umrollt, Bewegt er wild; die Stimme grollt; Und seiner Augen Flammenstern Ist starr gerichtet auf den Herrn.

Der aber blickt so fest ihn an, Wie ihm der Löwe kaum gethan. Und Auge fest in Auge ruht; Der Landgraf aber droht voll Mut: „Gleich lege dich, mein edles Tier! Bei meinem Zorn befehl' ich's dir!" Da hat der Löwe sich erschreckt Zu Ludwigs Füßen hingestreckt. Der Wärter eilt herbei entsetzt; Der Landgraf steht da unverletzt. Ein fester Blick, ein hoher Mut, Die sind zu allen Zeiten gut. Der Leu des feindlichen Geschicks Weicht oft dem Feuer kühnen Blicks. Bechstein.

47.

Der Graf von Habsburg.

Zu Aachen in seiner Kaiserpracht Im altertümlichen Saale Saß König Rudolfs heilige Macht Beim festlichen Krönungsmahle. Die Speisen trug der Pfalzgraf des

Uud der Kaiser ergreift den goldnen Pokal Uud spricht mit zufriedenen Blicken:

stellt. Umstanden geschäftig den Herrscher der

„Wohl glänzet das Fest, wohl pranget das Mahl, Mein königlich Herz zu entzücken; Doch den Sänger vermiss' ich, den Brin­ ger der Lust, Der mit süßem Klang mir bewege die Brust Und mit göttlich erhabnen Lehren.

Welt, Die Würde des Amtes zu üben.

So hab' ich's gehalten von Jugend an, Und was ich als Ritter gepflegt und ge­

Und rings erfüllte den hohen Balkon Das Volk in freud'gem Gedränge; Laut mischte sich in der Posaunen Ton Das jauchzende Rufen der Menge;

than, Nicht will ich's als Kaiser entbehren."

Denn geendigt nach langem, verderblichem

Trat der Sänger im laugen Talare; Ihm glänzte die Locke silberweiß, Gebleicht von der Fülle der Jahre. „Süßer Wohllaut schläft in der Saiten Gold;

Rheins, Es schenktederBöhme des perlendenWeins, Und alle die Wähler, die sieben,

Wie der Sterne Chor um die Sonne sich

Streit War die kaiserlose, die schreckliche Zeit, Und ein Richter war wieder auf Erden.

Nicht blind mehr waltet der eiserne Speer, Nicht fürchtet der Schwache, der Fried­ liche mehr, Des Mächtigen Beute zu werden.

Und sieh, in der Fürsten umgebenden Kreis

Sänger

von der Minne Sold, Er preiset das Höchste, das Beste,

Der

singt

16 *

244

VI.

Geschichte.

Was das Herz sich wünscht, was der Sinn begehrt; Doch sage, was ist des Kaisers wert An seinem herrlichsten Feste?" „Nicht gebieten werd' ich dem Sän­

ger," spricht Der Herrscher mit lächelndem Munde. „Er steht in deS größeren Herren Pflicht, Er gehorcht der gebietenden Stunde. Wie in den Lüften der Sturmwind saust, Man weiß nicht, von wannen er kommt und braust, Wie der Quell aus verborgenen Tiefen, So des Sängers Lied aus dem Innern

schallt Und wecket der dunklen Gefühle Gewalt, Die im Herzen wunderbar schliefen." Und der Sänger rasch in die Saiten fällt Und beginnt sie mächtig zu schlagen. „Aufs Weidwerk hinaus ritt ein edler

„Was schaffst du?" redet der Graf ihn an,

Der ihn verwundert betrachtet. „Herr, ich walle zu einem sterbenden Mann, Der nach der Himmelskost schmachtet. Und da ich mich nahe des Baches Steg, Da hat ihn der strömende Gießbach hin­

weg Im Strudel der Wellen gerissen. Drum daß dem Lechzenden werde seinHeil, So will ich das Wässerlein jetzt in Eil' Durchwaten mit nackenden Füßen." Da setzt ihn der Graf auf sein ritterlich Pferd Und reicht ihm die prächtigen Zäume, Daß er labe den Kranken, der sein begehrt, Und die heilige Pflicht nicht versäume. Und er selber auf seines Knappen Tier Bergnüget nochweiterdes Jagens Begier;

Held, Den flüchtigen Gemsbock zu jagen. Ihm folgte der Knapp' mit dem Jäger­

Der andre die Steife vollführet. Und am nächsten Morgen mit dankendem Blick, Da bringt erdem Grafen seinNoß zurück,

geschoß, Und als er auf seinem stattlichen Noß

Bescheiden am Zügel geführet. „Nicht wolle das Gott!" rief mit

In eine Au kommt geritten: Ein Glöcklein hört er erklingen fern, Ein Priester war's mit dem Leib des

Demutsinn Der Graf, „daß zum Streiten und Jagen Das Roß ich beschritte fürderhin,

Herrn; Boran kam der Meßner geschritten. Und der Graf zur Erde sich neiget hin, Das Haupt mit Demut entblößet,

Das meinen Schöpfer getragen! Und magst dn's nicht haben zu eignem

Zu verehren mit gläubigem Christen­

Dienst! Denn ich hab' es dem ja gegeben, Bon dem ich Ehre und irdisches Gut

sinn, Was alle Menschen erlöset. Ein Bächlein aber rauschte durchs Feld, Bon des Gießbachs reißenden Fluten geschwellt, Das hemmte der Wanderer Tritte. Und beiseit legt jener das Sakrament, Bon den Füßen zieht er die Schuhe be­

hend, Damit er das Bächlein durchschritte.

Gewinst, So bleibt es gewidmet dem göttlichen

Zu Lehen trage und Leib und Blut Und Seele und Atem und Leben." „So mög' auch Gott, der allmächtige

Hort, Der das Flehen der Schwachen erhöret, Zu Ehren euch bringen hier und dort, So wie ihr jetzt ihn geehret. Ihr seid ein mächtiger Graf, bekannt

VI.

Geschichte.

Durch ritterlichWalten imSchweizerland; Euch blühen sechs liebliche Töchter. So niößen sie," rief er begeistert aus, „Sechs Kronen euch bringen in euer Haus Und glänzen die spätsten Geschlechter!" Und mit sinnendem Haupt saß der Kaiser da, Als dächt' er vergangener Zeiten;

245

Jetzt, da er dem Sänger ins Auge sah, Da ergreift ihn der Worte Bedeuten. Die Züge des Priesters erkennt er schnell

Und verbirgt derThränenstürzendenQuell In des Mantels purpurnen Falten. Und alles blickte den Kaiser an Und erkannte den Grafen, der das gethan, Und verehrte das göttliche Walten. Schiller.

48.

Rudolfs Ritt zum Kaisergrabe.

Auf der Burg zu Germersheim, Stark am Geist, am Leibe schwach, Sitzt der greise Kaiser Rudolf,

Spielend das gewohnte Schach. Und er spricht: „Ihr guten^Meister, Ärzte, sagt mir ohne Zagen,

Wann aus dem zerbrochnen Leib Wird der Geist zu Gott getragen." Und die Meister sprechen: „Herr, Wohl noch heut erscheint die Stunde." Freundlich lächelnd spricht der Greis: „Meister! Dank für diese Kunde!"

„Auf nach Speier! Auf nach Speier!" Ruft er, als das Spiel geendet; „Wo so mancher deutsche Held Liegt begraben, sei's vollendet! Blast die Hörner, bringt das Roß,

Das mich oft zur Schlacht getragen!" Zaudernd stehn die Diener all', Doch er ruft: „Folgt ohne Zagen!" Und das Schlachtroß wird gebracht. „Richt zum Kampf, zum ew'gen Frieden," Spricht er, „trage, treuer Freund, Jetzt den Herrn, den lebensmüden." Weinend steht der Diener Schar, Als der Greis auf hohem Rosse, Rechts und links ein Kapellan, Zieht, halb Leich', aus seinem Schlosse. Trauernd neigt des Schlosses Lind' Bor ihm ihre Äste nieder;

Bögel, die in ihrer Hut, Singen wehmutsvolle Lieder.

Mancher eilt des Wegs daher. Der gehört die bange Sage, Sieht des Helden sterbend Bild Und bricht aus in laute Klage. Aber nur von Himmelslust Spricht der Greis mit jenen zweien. Lächelnd blickt sein Angesicht, Als er ritt zur Lust im Maien. Von dem hohen Dom zu Speier Hört man dumpf die Glocken schallen; Ritter, Bürger, zarte Frauen Weinend ihm entgegenwallen. In den hohen Kaisersaal Ist er rasch noch eingetreten. Sitzend dort auf goldnem Stuhl, Hört man für das Volk ihn beten. „Reichet mir den heil'gen Leib!" Spricht er dann mit bleichem Munde. Drauf verjüngt sich sein Gesicht Um die mitternächt'ge Stunde. Da auf einmal wird der Saal Hell von überird'schem Lichte,

Und verschieden sitzt der Held, Hirnmelsruh' im Angesichte. Glocken dürfen's nicht verkünden, Boten nicht zur Leiche bieten: Alle Herzen längs des Rheins Fühlen, daß der Held verschieden. Rach dem Dome strömt das Volk,

Schwarz, unzähliges Gewimmels; Der empfing des Helden Leib, Seinen Geist der Dom des Himmels. Kerner.

VT. Geschichte.

246

49.

Kaiser Albrechts Hund.

Voll Unmuts und ergriffen von finsterm Menschenhaß Zu Wien in seiner Hofburg der Kaiser Albrecht saß. Ihm durfte niemand nahen, er wollte niemand sehn, Er ließ die Weltgeschäfte, so wie sie rollten, gehn.

Die nahmen für ihn freilich wohl ärgerlichen Lauf; Unruhig war der Deutsche, der Schweizer stand schon auf, Der Schwabe wollte Hansen, doch Hansenö Übermut, Der machte ja vor allem dem Kaiser böses Blut.

Oft rief er seinem Hunde; der Hund war ihm getreu. „Steh' du mir, treuer Packan, vor falschen Menschen bei!" Da kroch der Bullenbeißer sogleich an seinen Ort,

Hielt an der Thüre Wache und jagte jeden fort. Die Schranzen nahten leise; da hob er nur den Kopf

Und knurrte. Hei! sie flohen, als hielt er sie am Schopf. Der Marschall einstolzieret, den springt er grimmig an, Und schnell hinaus zur Pforte treibt er den kecken Mann. Nun Herzog Leupold nahet mit leichtem Jünglingsschritt.

Es kennt der Hund von weitem des Kaisersohnes Tritt Und eilet ihm entgegen und wedelt mit dem Schwanz, Umhüpft ihn auf zwei Beinen im freundelichen Tanz. Die Tatzen auf den Schultern, giebt er ihm manchen Kuß:

Der Herzog sanft erwidert durch Streicheln seinen Gruß. Jetzt schiebt er ihn zur Seite, rasch wandelnd hin zur Schwell': Da springt der Hund inzwischen mit Winseln und Gebell Und faßt mit Kraft den Mantel und zerrt den Herrn zurück

Und schmeichelt ihm nun wieder mit flehentlichem Blick. Doch war der Herr unwillig und gab ihm einen Stoß

Und ging im Doppelschritte rasch auf die Thüre los.

Der Hund kennt seine Pflichten und setzet nach in Hast, Am Halse schnell den Kragen er fest dem Herzog faßt;

Da ballt die Faust Herr Leupold und giebt ihm einen Schlag; Der Hund hielt nie mehr Wache, wohl war's sein letzter Tag.

Wie klug nun auch der Herzog die Flucht in Eile nahm, Doch allzubald die Märe vor Albrechts Ohren kam, Man habe vor der Thüre den Hund gefunden tot, Erschlagen ohne Zweifel; der Boden sei noch rot.

Der Herr, Unmaßen grimmig, berief den ganzen Hof, Den Ritter und die Frauen, den Knappen und die Zof', Die Söhne mit Herrn Hansen, dem war er nimmer gut, Ihn zieh er schon int stillen des treuen Packans Blut.

VI.

Geschichte.

247

Der Hof war nun versammelt; der Herr im Thronstuhl sitzt; Sein vorgetretnes Auge ganz blutdurchströmet blitzt. Es bebet ihm die Lippe, ha! furchtbar anzuschaun, Darob wohl fasset Leupold ein heimlich schauernd Graun. Nun donnert Kaiser Albrecht: „Der Hund war meine Lust, Das war von euch wohl jedem seit Jahren her bewußt.

Recht mich ins Herz zu kränken, traf ihn der Todesschlag. Doch zittern mag der Mörder! Die That muß mir an Tag. Wer mir den Thäter kündet, und sei's ein schlechter Knecht, Belohn' ich reich mit Gütern aus vollem Kaiserrecht. Doch weh dem falschen Mörder! Er soll von meinem Thron Entfliehen als ein Ächter, und wär's mein eigner Sohn."

Da siehet Leupold beben der schöne Friederich; Schnell zu des Vaters Füßen hin wirft er flehend sich Und ruft: „Verzeihung, Vater! Ich schlug den Packan tot; Er siel mich an so wütend; es that mir wahrlich not."

Und Albrecht, sich vergessend, die Hand empor nun schwingt, Doch schneller aus den Scharen vorfliegend Leupold dringt Und fängt die Hand des Kaisers und rufet: „Vater, halt! Mich trifft ja nur nach Rechten nun deines Zorns Gewalt. Mein Friederich, nicht lüge! Wie bist du gar so gut! Für mich zu sterben, wahrlich, des hättest du wohl Mut! Doch solchen Hund zu töten, hast du wohl nicht die Kraft,

Hab' ich doch selbst zum Schlage mich ganz emporgerafft." Doch Friederich entgegnet:

„Nicht traue seinem Wort!

Er will mich retten, Vater, will in die Welt nur fort. Stets strebt zum heil'gen Lande sein ehrbegier'ger Sinn, Doch hätt' wohl Östreich nimmer von diesem Zug Gewinn."

„Durch Gott!" aufbrauset Leupold. „Wohl zeugt es meine Hand, Noch ist vom Schlag sie blutig und auch des Wamses Rand. Jetzt magst du, Herr, mich bannen aus deinem Angesicht, Es sei! Nur, Herr, entziehe mir deinen Segen nicht!" Darob dem guten Friedrich das Aug' in Thränen schwellt,

Schnell um den Hals des Bruders er nun laut schluchzend fällt. Der Kaiser beide Augen sich mit den Händen drückt,

Dann schnell zu seinen Söhnen sich liebvoll niederbückt Und leget ihre Häupter wohl sanft an seine Brust,

Sie küssend und sie herzend mit wahrer Vaterlust. Es sieht der Hof mit Staunen, der strenge Kaiser weint;

Das hätten sie von Albrecht wohl nimmermehr vermeint. Anjetzt der Kaiser saget zum edlen Bruderpaar: „Zwei Dinge werden Plötzlich nun meinem Geiste klar.

248

VI.

Geschichte.

Der Mensch ist doch nicht böse, kommt gut aus Gottes Hand. Gelobet sei der Höchste, daß ich euch gut erfand!

Und Habsburg kann nicht sinken, wenn seine Söhne sich So brüderlich stets lieben, so fest, so inniglich. Und wie die Feinde drängen, und wie die Meute bellt, Ihr Brüder, stellt euch siegend entgegen einer Welt!"

80.

o'cuin.

Wilhelm Tell.

Unter dem Kaiser Albrecht that Geßler, Landvogt zu Uri und Schwyz, den Landleuten daselbst großen Zwang an, hielt sie streng und hart und nahm sich vor, eine Feste in Uri zu bauen, damit er und andere Landvögte nach ihm um so sicherer dort wohnen möchten, wenn Aufruhr entstände, und auch das Land

in desto größerer Furcht und in Gehorsam erhallen würde. Er fing also an, auf einem bei Altorf, dem Hauptflecken, gelegenen Hügel den Bau ins Werk zu richten, und wenn ihn jemand fragte, wie die Feste heißen werde, antwortete er: „Zwing Uri wird ihr Name sein." Das verdroß die edlen Landsassen und ge­ meinen Landleute in Uri, und als sie sich das merken ließen, wurde Geßler grim­ mig und drohete, er wolle sie so weich und zahm machen, daß man sie um einen

Finger winden könne. Da ließ er zu Altorf am Platze bei der Linde, wo viele vorübergingen, eine Stange aufrichten, einen Hut oben darauf legen und gebieten, daß jeder, der vorüberginge, sich dem Hute neigen sollte, als ob der König selbst zugegen wäre, widrigenfalls ihn Verlust seines Gutes und Leibesstrafe treffen würde. Auch stellte er einen steten Wächter hin, der diejenigen anzeigen sollte, welche dem Gebote nicht Folge leisteten. Dieser große Übermut drückte das Volk noch ärger als der Bau des Schlosses; doch wagten sie aus Furcht vor des Kaisers Ungnade und gewaltiger Macht keine Widersetzlichkeit. Da ging an einem Sonntage im November ein redlicher, frommer Mann, Wilhelm Tell ge­ nannt, an dem aufgesteckten Hute vorüber, ohne sich vor ihm zu neigen. Das

ward dem Landvogt angezeigt. Morgens danach, am Montage, beruft er den Tell vor sich und fragt, warum er seinem Gebote nicht gehorsam wäre und dem Kaiser wie auch ihm zum Trotz sich vor dem Hute nicht geneigt hätte. Tell gab zur Antwort: „Lieber Herr, es ist von ungefähr und nicht aus Verachtung geschehen; ich dachte nicht, daß es Euer Gnaden so hoch ansehen würden." Nun

war der Tell ein guter Armbrustschütze, daß man einen besseren kaum fand, und hatte hübsche Kinder, die ihm lieb waren. Die ließ der Landvogt holen und sprach: „Tell, welches unter den Kindern ist dir das liebste?" Tell antwortete: „Herr, sie sind mir alle gleich lieb." Da sprach der Landvogt: „Wohlan, Tell, du bist ein guter Schütze, wie ich höre; nun wirst du deine Kunst vor mir be­ währen und einem deiner Kinder einen Apfel vom Haupte schießen; triffst du ihn nicht auf den ersten Schuß, so kostet es dir dein Leben." Der Tell erschrak und bat den Landvogt um Gottes willen, daß er ihm den Schuß erließe; denn es wäre unnatürlich, daß er auf sein liebes Kind schießen sollte; er wolle lieber sterben. Der Landvogt sprach: „Das mußt du thun oder du und das Kind sterben." Nun sah Tell, daß er nicht ausweichen konnte, bat Gott inniglich,

VI.

Geschichte.

249

daß er ihn und sein liebes Kind behüten möge, nahm seine Armbrust, spannte sie, legte den Pfeil auf und steckte noch einen Pfeil hinten in sein Koller. Der Landvogt selber legte dem Kinde den Apfel auf das Haupt. Tell zielte und schoß ihn glücklich dem Kinde vom Scheitel.

Der Landvogt verwunderte sich des meister­

haften Schusses und lobte den Tell wegen seiner Kunst. „Aber eins," sprach er, „wirst du mir sagen: Was bedeutet es, daß du den ersten Pfeil hinten in das Koller stecktest?" Tell erschrak und sprach: „Das ist der Schützen Gewohn­ heit." Der Landvogt aber wußte wohl, daß Tell etwas Anderes im Sinne ge­ habt hatte, und redete ihm gütlich zu: „Tell, nun sage mir fröhlich die Wahrheit und fürchte nichts; du sollst deines Lebens sicher sein, aber die gegebene Antwort nehme ich nicht an." Da sprach Tell: „Wohlan, Herr, da ihr mich meines Lebens versichert habt, so will ich euch die gründliche Wahrheit sagen. Hätte ich den Apfel verfehlt, so würde ich euch mit dem andern Pfeile nicht verfehlt haben." Darüber erschrak der Vogt und sprach: „Deines Lebens habe ich dich zwar versichert; weil ich aber deinen bösen Willen gegen mich erkannt habe, so will ich dich au einen Ort führen lassen, wo du weder Sonne, noch Mond sehen sollst, damit ich vor dir sicher sei." Hierauf ließ er ihn binden und auf ein Schiff führen; denn er wollte gen Brunnen fahren und von dort seinen Ge­ fangenen über Land durch Schwyz in sein Schloß Küßnacht führen. Als sie nun auf dem See waren, da ließ Gott einen so ungestümen Sturmwind losbrechen, daß sie alle elend zu verderben meinten. Da sprach der Diener einer zum Landvogt: „Herr, ihr sehet eure und unsere Lebensgefahr; nun ist der Tell ein

starker Mann und versteht sich gut darauf, mit einem Fahrzeuge umzugehen; man sollte ihn jetzt in der Not gebrauchen." Sogleich wandte sich der Landvogt an Tell mit den Worten: „Wenn du dich getrautest, uns aus dieser Gefahr zu helfen, so wollt' ich dich deiner Banden entledigen." Der Tell gab zur Ant­ wort: „Ja, Herr, ich getraue, uns mit Gottes Hülfe wohl zu retten." Also

ward er losgebunden, trat an das Steuerruder und fuhr redlich dahin; doch lugte er allenthalben auf gute Gelegenheit zu entrinnen und auf sein Schießzeug, welches im Schiff beim Steuerruder lag. Und als er der Felsenplatte nahe kam, welche seitdem den Namen Tellsplatte behalten hat, ersah er seinen Vorteil und ermunterte die Knechte, fest anzuziehen, bis sie vor jene Platte kämen; denn dann hätten sie das Schlimmste überwunden. Also kamen sie der Platte nahe; da drückte er das Schiffsende mit Macht an den Felsen, erraffte sein Schießzeug und that einen Sprung hinaus auf die Platte; das Schiff aber stieß er mit Gewalt weit hinter sich in den See zurück. Nun kletterte er den Berg hinauf und floh durch das Land Schwyz bis auf die Höhe an der Landstraße bei Küß­

nacht, und wo dort eine hohle Gasse ist, verbarg er sich im Gebüsch, den Land­ vogt erwartend. Dieser und seine Diener kamen, mit genauer Not dem See

entronnen, durch den Hohlweg geritten. Tell hörte in seinem Versteck allerlei Anschläge des Landvogts wider ihn, nahm seine Armbrust und durchschoß den Vogt mit einem Pfeile, daß er tot vom Roß zu Boden sank. Hierauf entfloh Tell über die Gebirge gen Uri; das Volk aber freute sich überall, wo die That ruchbar wurde, daß es seines schlimmsten Gewaltherrn entledigt war.

Baßler.

VI.

250 31.

Geschichte.

Seifried Schweppermann.

Es ritt ein wackrer Streiter Zu Nürnberg aus dem Thor; Doch ragte just der ReiterZu Roß nicht hoch empor. Drob lachten sein die Recken. „Vom Mann ist keine Spur, Wo mag der Ritter stecken? Man sieht den Helmbusch nur!" Der ließ sich das nicht stören, Ritt still und keck von dann. Sollt seinen Namen hören, Er hieß Herr Schweppermann! Gen Mühldorf mußt' er reiten, Da war 'ne heiße Schlacht, Da that er besser streiten Denn alle, die gelacht. Wie saß er stolz zu Pferde, That nicht die Feinde scheun! Ihr Herrn, ich fürcht', es werde

Euch euer Spott gereun. Seht seines Schwertes SchimmerHell leuchten durch die Schlacht! Am besten lacht doch immer, Wer just am letzten lacht!

Dem Bayer Ludwig ließen

Sie dort das blut'ge Feld. Wie ward von ihm gepriesen Herr Schweppermann, der Held! „Sagt, wer wohl würd'ger streitet," Sprach er, „in diesem Krieg?

Er hat allein bereitet Uns den ruhmvollsten Sieg!" Doch nach dem heißen Trabe Gab's auf der ganzen Flur Schier weiter nichts zur Labe Als wenig Eier nur. Herr Ludwig sprach: „Bekommen Soll männiglich ein Ei; Doch meinem Held, dem Frommen, Gehören billig zwei!" That Schweppermann sich heben

Im Sattel hocherfreut; Der kleinste Ritter eben, Der ward der größte heut! Gen Nürnberg ritt er heiter; Da ging ein froh Geschrei: „Ein Ei gebt jedem Reiter, Dem frommen Schweppermann zwei!" ÖlckerS.

32.

Der reichste Fürst.

Preisend mit viel schönen Reden Ihrer Länder Wert und Zahl, Saßen viele deutsche Fürsten Einst zu Worms im Kaisersaal.

„Herrlich," sprach der Fürst vonSachsen, „Ist mein Land und seine Macht,

Silber hegen seine Berge Wohl in manchem tiefen Schacht." „Seht mein Land in üpp'ger Fülle," Sprach der Pfalzgraf von dem Rhein,

„Schaffen, daß mein Land dem euern Wohl nicht steht an Schätzen nach." Eberhard, der mit dem Barte,

Württembergs geliebter Herr, Sprach: „Mein Land hat kleine Städte, Trägt nicht Berge silberschwer. Doch ein Kleinod hält's verborgen, Daß in Wäldern, noch so groß, Ich mein Haupt kann kühnlich legen

„Goldne Saaten in den Thälern, Auf den Bergen edlen Wein!" „Große Städte, reiche Klöster,"

Jedem Unterthan in Schoß!" Und es rief der Herr von Sachsen, Der von Bayern, der vom Rhein: „Graf im Bart! ihr seid der reichste,

Ludwig, Herr zu Bayern, sprach,

Euer Land trägt Edelstein!" Kerner.

VI.

Geschichte.

251

53. Timur, der Mongole. Timur, gewöhnlich Timur lenk (d. i. der lahme Timur) oder Tamerlan ge­ nannt, war wohl der blutigste unter allen Tyrannen. Bei seinem Volke hieß

er auch „der große Wolf", „der Herr der Zeit" und „der Eroberer der Welt". Das Blut von Hunderttausenden fließen zu lassen, war seine Wonne, und sein wilder Ehrgeiz hatte keinen andern Zweck als die unersättliche Lust des Eroberns und Herrschens; in der schonungslosesten Rachsucht und in der wildesten Bar­ barei übertraf er auch den entsetzlichen Dschingiskan. Durch außerordentliche Tapferkeit und Herrscherklugheit schwang er sich auf den Thron von Dschagatai, und Samarkand ward zu seinem Herrschersitz erhoben; aber dieser Krone fügte er noch sechsundzwanzig andere hinzu, die seine Beute wurden in den fünfund­ dreißig Jahren seiner Regierung und seiner Kriegszüge, auf welchen er die Völker

von der chinesischen Mauer bis zum Mittelmeer, von Moskau bis an die Grenzen Ägyptens unterwarf; wie nur ein Gott, solle auch*nur ein Herrscher auf Erden sein, sagte Timur. Verheerte und entvölkerte Länder, zerstörte Städte und Schädelpyramiden waren die Denkmäler, die er zurückließ. Nachdem die persischen Mongolen unterworfen waren, machten die Einwohner einer Stadt einen Auf­ stand; Timur ließ 2000 derselben lebendig übereinanderschichten und statt Bau­ steine mit Lehm und Kalk zu Türmen aufmauern. Eine andere Stadt wagte gleichfalls Empörung; da gab Timur Befehl zur Wiederbesetzung mit stürmender Hand, zur Plünderung und zum allgemeinen Blutbade der Rache. Jeder Soldat ward zur Lieferung einer bestimmten Anzahl von Köpfen aufgeboten; viele aber waren zuletzt von Blut und Beute so übersättigt, daß sie die vorgeschriebenen Köpfe lieber kauften. Nach der geringsten Angabe waren es 70 000 Erschlagene, die hier den Rache- und Blutdurst des Wüterichs befriedigen mußten. Auch über den Indus richtete der Mongole seine blutige Laufbahn, und noch ehe daselbst eine Schlackt geschehen war, schleppte das Heer schon über 100 000 Gefangene mit sich. Bei Delhi erwartete sie Muhamed II. mit der gesamten Reichsmacht. Als der Anblick seiner Kriegselephanten auf den Gesichtern der Hindu-Sklaven freudige Erwartungen zeigte, befahl Timur, sie sämtlich uiederzuhauen, und eine Stunde

kostete mehr als Hunderttausenden das Leben. Noch größer war das Gemetzel in der darauf folgenden Schlacht, in welcher die Mongolen trotz hartnäckiger Gegenwehr und trotz des betäubenden Lärms der indischen Glocken und Trom­ peten und der Beckenschläge, die von den Rücken der Elephanten herab ertönten, ihre Feinde niedermähten. Delhi wurde geplündert; von den überlebenden Ein­

wohnern schleppte jeder Mongole so viel Sklaven fort, als er wollte, und ge­ meine Soldaten zogen wohl mit 500 davon. Von den rauchenden Trümmern, die er an Delhis Stelle hinterließ, eilte Timur gen Merut, eroberte es und ließ

die ganze Bevölkerung lebendig schinden.

Nach einem ebenso blutigen Rückzüge

wurde Siwas, damals eine der bevölkertsten Städte Persiens, erstürmt, und furchtbar waren die Frevel, welche auch diese Einnahme bezeichneten, besonders die Todesmartern, welche den gefangenen Christen angethan wurden. Viertau­ send armenische Reiter, welche große Tapferkeit bei der Verteidigung gezeigt

252

VI.

Geschichte.

hatten, sollten lebendig begraben werden. Der Kopf wurde ihnen zwischen die Schenkel gebunden, je zehn in eine Grube gerollt, diese mit Brettern und dann erst mit Erde bedeckt, daß die Todesqual sich länger hinziehe. Von hier wandte sich Timur nach Aleppo und drang siegreich in die Stadt; vierzehn Tage dauerte die Plünderung und Zerstörung. Auch Damaskus wurde erobert, Feuer in die Gebäude geworfen, und die zahlreichen Kunstwerke wurden gleichfalls ein Raub

der Flammen. Nach der Erstürmung von Irak mußte jeder Mann des Heeres einen Kopf liefern, wenn er seinen eigenen behalten wollte; so konnten 90 000 Schädel zum Siegesdenkmal aufgerichtet werden. Bei Angora im alten Galatien stieß Timur mit einem andern wilden Eroberer, der Bajazeth hieß, zusammen; die beiden Heere mochten zusammen wohl eine Million Menschen zählen. Auch hier blieb Timur nach gräßlichem Gemetzel Sieger. Drei Jahre nachher jedoch, 1405, machte der Tod seinem blutigen Leben ein Ende; er starb auf einem Zuge gegen China. Becker.

34.

Die Belagerung von Ottenstein.

Vor Ottenstein, der Feste, der Bischof Otto lag; Er hielt sie eingeschlossen wohl über Jahr und Tag Und ließ aus ihren Thoren nicht Mann, noch Weib entfliehn Und ließ in ihre Thore nicht Roß, noch Wagen ziehn. In Ottenstein, der Feste, da herrschte bittre Not, Auf Wall und Straßen wandeln der Hunger und der Tod; Und wie sie fürbaß schreiten, manch Aug' in Qualen bricht: Die Bürger stehn in Treuen, die Herzen wanken nicht. Tief ist bekümmert Heinrich, von Solms der edle Graf,

Ob allem, so die Seinen um seinetwillen traf. Die Thore wollt' er öffnen, bevor die Sonne sank, Wenn nur von dannen zöge die Tochter frei und frank. Ins Zelt des Feldherrn schreitet alsbald des Herolds Fuß. „Der Graf von Solms entbietet dem Bischof seinen Gruß. Es jammert ihn des Volkes; ergeben soll sich euch Die Feste samt der Mannschaft und allem Kriegeszeug. Ein einziges Bedingnis stellt euch der Graf dabei: Daß seine Tochter ziehe von dannen frank und frei

Mit dem, was an Kleinodien sie teuer hält und wert. Entscheidet, ob's genehm ist; entscheide sonst das Schwert!" Der Bischof lächelt grimmig; bald kühlt er alten Groll. „Wenn bis zur Mittagsstunde das Thor sich öffnen soll,

Dann mag die Jungfrau wandeln hinweg aus unserm Bann

Mit allen ihren Schätzen, so viel sie tragen kann." Und kürzer fällt der Schatten; das Heer steht hart am Wall, Zum Einzug oder Stürmen ruft heller Trommelschall, Und ungeduldig schmettern Trompetentöne drein: Da schlägt die zwölfte Stunde vom Turm zu Ottenstein.

VI.

Geschich't e.

253

Da klirren rost'ge Riegel; weit thut sich auf das Thor, Und schüchtern tritt und zagend die zarte Maid hervor. Das wilde Kriegsvolk staunet der Reichbeladnen dort; Die trägt auf ihren Schultern den greisen Baler fort. Der Groll des Bischofs schwindet, sein Herz ist umgewandt, Den reichsten Segen spendet der Jungfrau seine Hand. „Mein Wort gilt, hat's dem Feinde die Freiheit auch verliehn!" Und mit dem Kuß des Friedens den Grafen läßt er ziehn.

33.

Die Belagerung von Marienburg.

Furcht und Entsetzen hatte die Trauerbotschaft der verlornen Schlacht bei Tannenberg im ganzen Preußenlande verbreitet. Jedermann hielt nun die Sache des Ordens für rettungslos verloren, und in banger Verzagtheit wartete man, welches Los der Sieger dem Lande zuerkenuen würde. Fast alle Städte und Burgen öffneten dem polnischen Könige freiwillig ihre Thore, 'als dieser am vier­ ten Tage nach der Schlacht gegen die Marienburg loszog, und schwuren ihm dell Eid der Treue und des Gehorsams. Selbst ein Teil der Ordensbrüder ver­ zweifelte an der eignen Sache und räumte dem Polenkönige mehrere Burgen unter der Bedingung des freien Abzugs ein. Inzwischen erließ Jagjiel, der Polenkönig, eine Aufsordernug au allle Bewohner des Landes, ihm zu huldigen und seine Unterthanen zu werden. Da wandte sich fast alles zu ihm, was bisher noch die Sünde gescheut hatte, seinem rechtmäßigen Herrn untreu und meineidig zu wer­ den. Rur von wenigen Ordensburgen wehte noch das Kreuzbanner einsam herab; auf allen übrigen Burgtürmen und Zinnen flatterte stolz die polnische Fahne. Verloren und aufgegeben schien jetzt der deutsche Orden, aber er war es nicht. Eine Heldenbrust atmete noch zu seiner Rettung, ein Heldenarm riß ihn noch einmal empor aus dem Abgrunde des nahen Verderbens. Dem Komtur von Schwetz, Heinrich von Plauen, hatte Ulrich von Jun­ gingen, als er zunl Kampfe auszog, den Schutz Pommerellens übertragen; aber

kaum vernahm der heldenherzige Ritter das Unglück, das auf dem Mordgefilde

von Tannenberg sich zugetragen, da sammelte er in der Eile eine Schar von Kriegern, um des Ordens Haupthaus, die hehre Marienburg, vor den Händen

der Polen zu retten. Schon am dritten Tage nach der Schlacht zog er mit den Seinen in die Burg ein; aber er fand sie entblößt von allen Vorräten; es fehlte ihr selbst an Mannschaft. Doch Plauens rascher Feldherrnblick wußte bald die Mittel zu entdecken, die aus dieser Not führen konnten. Er ließ die Speicher

und Vorratshäuser der Stadt leeren und alles, was zur Nahrung und Notdurft der Menschen brauchbar war, auf die Burg bringen. Auch ließ er aus der Um­

gegend so viel Schlachtvieh eintreiben, als es ihm die Eile, womit er handeln mußte, gestattete. Darauf gebot er den Bürgern Marienburgs, aus ihren Häu­ sern die beste Habe zu nehmen und mit Weib und Kind auf das Schloß zu zie­

hen; denn die Stadt, die nicht verteidigt werden konnte, sollte den Flammen preisgegeben werden, damit sie den Polen nicht etwa zu einem Bollwerke gegen

254

VI.

Geschichte.

die Burg dienen möchte. Inzwischen zogen die einzelnen Heerhaufen, die sich aus der Tannenberger Schlacht gerettet, mit ihren Führern in die Burg ein. Zu ihnen gesellte sich flüchtiges Landvolk, und aus Danzig zogen 400 Matrosen mit Harnisch und Wehre zur Verteidigung des Schlosses herbei, so daß sich die Be­

satzung der Feste bis auf 5000 Mann belief. Zu allen diesen Vorbereitungen hatte der Polenkönig dem wackern Plauen Zeit gelassen; denn erst sieben Tage nachher, seitdem dieser in die Marienburg gerückt, sah man die polnischen Fahnen vor der Feste Verderben drohend daherwehen. Des Königs ganze Streitmacht

zog sich wie eine Gewitterwolke uni die Burg zusammen: da wimmelte es von Polen, Litthauern und Tartaren ringsum, und von allen Seiten drohete das Wurfgeschütz den festen Mauern; aber Heinrich von Plauen zagte nicht. Mit klugem Feldherrngeiste verteilte er die Verteidigung auf alle Posten des belager­ ten Schlosses und beseelte seine Schar durch Wort und Beispiel mit dem kühnen, unerschütterlichen Heldenmut, der in seiner eignen Brust wohnte. Schon wochen­ lang dauerte die Belagerung, und noch hatte Jagjiel auch nicht einen einzigen Graben der Feste gewonnen; doch Heinrich von Plauen sah mit besorgten Blicken, wie der Mundvorrat in dem Schlosse täglich abnahm und nicht mehr auf lange Zeit hinreichen konnte; und mehr als diese Besorgnis noch ging dem edlen Ritter des Landes Not und Drangsal zu Herzen. Immer war der Himmel von bren­ nenden Dörfern gerötet, und das geängstete Volk wußte vor dem raub- und mordgierigen Feinde keine Freistatt mehr zu finden. Solchen Jammer konnte Plauen nicht länger ertragen. Ihm ward bald nach seiner Ankunft in der Ma­ rienburg von den dortigen Ordensrittern aufgetragen, des Hochmeisters Stelle zu vertreten, und darum beschloß er, dem Polenkönige Friedensvorschläge zu machen. Nachdem ihm sicheres Geleit zugesagt war, begab er sich, von einigen seiner Ritter

begleitet, in das Zelt des feindlichen Fürsten und bat um Frieden; doch Jagjiel verachtete auch die vorteilhaftesten Vorschläge des Statthalters. Voll Ungeduld sahen die Ordensritter der Rückkehr ihres Feldherrn entgegen; sie hofften ja, er

würde ihnen Frieden bringen; er aber schilderte ihnen bei seiner Rückkehr des Polenkönigs Stolz und Grausamkeit und entflammte sie zu neuem Mute und neuen Thaten. Und als hätte eine höhere Macht Plauens sich angenommen, so brachen ansteckende Seuchen in dem Belagerungsheere aus; der Mundvorrat fing

auch an zu fehlen, und Unmut und Verdruß herrschten rings im Lager. Da fochten die Verteidiger der Burg mit erhöhtem Mute, zumal der König von Ungerland sie auffordern ließ, sich wacker und ritterlich zu halten, da er bereits

mit einem großen Heere zu ihrer Rettung herbeigezogen sei, und der Ordens­ marschall aus Livland gleichfalls seine Ankunft mit einem Hülfsheere meldete. Auch empfanden die Polen bald, welch ein neuer Mut unter die Belagerten ge­ kommen; denn mit doppelter Kühnheit fielen diese nun täglich aus und halten

mit den Heiden und Polen manch ritterlich Spiel vor der Burg, also daß die Feinde sich ihrer kaum erwehren konnten. Da Jagjiel nun sah, daß er mit offener Gewalt nichts schaffen konnte, nahm er zu List und Verrat seine Zuflucht. Es fand sich ein treuloser Bube in der Burg, der sich mit polnischem Golde zu schnöder Verräterei erkaufen ließ. In der Marienburg ist ein prächtiger Saal,

VI.

Geschichte.

255

dessen kühnes Gewölbe von einem einzigen Granitpfeiler stolz getragen wird; seine hohen, schön verzierten Fenster schauen weithin über den großen Werder und er­

freuen das Auge mit der lieblichsten Aussicht; hier pflegte Plauen sich oft mit seinen Rittern zur Beratung zu versammeln. Nun meinte der Verräter, wenn es dem Feinde gelänge, mit seinem Wurfgeschütze den Pfeiler, auf dem das Ge­ wölbe ruht, zu zertrümmern, so müsse der Saal Zusammenstürzen. Darum ver­ sprach er, sobald der Statthalter und seine Ritter sich wieder in dem Saal ver­ sammelt haben würden, eine rote polnische Mütze aus dem Fenster zu hängen gerade dem Pfeiler gegenüber. Dann sollte der Büchsenmeister seine Donner­ büchse nur auf dieses Ziel richten, und sicher würde so der Pfeiler gestürzt und die edle Versammlung von den Trümmern des einörechenden Gewölbes erschlagen werden. Der Verräter hielt Wort. Die rote Mütze war als Zeichen ausgesteckt.

Genau richtete der Büchsenmeister das Geschoß. Jetzt donnerte der Schuß; aber das Bubenstück mißlang. Hart an dem Granitpfeiler vorbei sauste die mächtige Steinkugel und schlug krachend in die gegenüberstehende Wand des Saales. Dort ist sie eingemauert zum ewigen Denkmal der Schande für den Verräter und noch bis auf den heutigen Tag zu sehen. Inzwischen aber wuchs mit jedem Tage der Unmut und die Unzufriedenheit im polnischen Lager. Immer mächtiger griff die

Krankheit um sich, und immer fühlbarer und drückender ward der Mangel an Lebensrnitteln: da knirschte Jagjiel vor Zorn, daß an der einzigen Burg sein stolzes Siegesglück zu scheitern drohte. Noch einen Versuch beschloß er zu machen, um nicht ganz mit Schimpf und Schande wiederabziehen zu müssen; er sandte auf das Schloß und ließ dem Statthalter Frieden anbieten unter den Bedingun­ gen, die er selbst früher verschmäht; Plauen aber schickte des Königs Boten mit abschlägiger Antwort zurück. In die zehnte Woche dauerte schon die Belagerung, als Jagjiel durch das laute Murren seines Heeres und durch die immer näher­ drohende Gefahr aus Ungarn, Deutschland und Livland sich endlich genötigt sah, seinen Rückzug anzutreten; wie ein Geschlagener zog er von Marienburgs Mauern ab, an denen seine Macht sich gebrochen hatte wie die Meereswellen an einem Felsen. Hemel.

36.

Das Mahl zu Heidelberg.

Von Württemberg und Baden die Herren zogen aus, Von Metz des Bischofs Gnaden vergaß das Gotteshaus; Sie zogen aus zu kriegen wohl in der Pfalz am Rhein, Sie sahen da sie liegen im Sommersonnenschein.

Umsonst die Rebenblüte sie tränkt mit mildem Duft, Umsonst des Himmels Güte aus Ährenfeldern ruft;

Sie brannten Hof und Scheuer, daß heulte groß und klein; Da leuchtete vom Feuer der Neckar und der Rhein. Mit Gram von seinem Schlosse sieht es der Pfälzer Fritz; Heißt springen auf die Roffe zween Mann auf einen Sitz.

Mit enggedrängtem Volke sprengt er durch Feld und Wald, Doch ward die kleine Wolke zum Wetterhimmel bald.

256

VI. Geschichte. Sie wollen seiner spotten, da sind sie schon umringt, Und über ihren Rotten sein Schwert der Sieger schwingt. Vom Hügel sieht man prangen das Heidelberger Schloß, Dorthin führt er gefangen die Fürsten samt dem Troß. Zuhinterst an der Mauer, da ragt ein Turm so fest, Das ist ein Sitz der Trauer, der Schlang' und Eule Nest. Dort sollen sie ihm büßen im Kerker trüb' und kalt; Es gähnt zu ihren Füßen ein Schlund und finstrer Wald. Hier lernt vom Grimme rasten der Württemberger Utz, Der Bischof hält ein Fasten, der Markgraf läßt vom Trutz. Sie mochten schon in Sorgen um Leib und Leben sein, Da trat am andern Morgen der stolze Pfälzer ein. „Herauf, ihr Herrn, gestiegen in meinen hellen Saal! Ihr sollt nicht fürder liegen in Finsternis und Qual. Ein Mahl ist euch gerüstet, die Tafel ist gedeckt, Drum, wenn es euch gelüstet, versucht, ob es euch schmeckt!" Sie lauschen mit Gefallen, wie er so lächelnd spricht, Sie wandeln durch die Hallen ans goldne Tageslicht. Und in dem Saale winket ein herrliches Gelag, Es dampfet und es blinket, was nur das Land vermag. Es satzten sich die Fürsten; da möcht' es seltsam sein: Sie hungern und sie dürsten beim Braten und beim Wein. „Nun, will's euch nicht behagen? Es fehlt doch, däucht mir, nichts? Worüber ist zu klagen? An was, ihr Herrn, gebricht's? Es schickt zu meinem Tische der Odenwald das Schwein,

Der Neckar seine Fische, den frommen Trank der Rhein. Ihr habt ja sonst erfahren, was meine Pfalz beschert; Was wollt ihr heute sparen, wo keiner es euch wehrt?" Die Fürsten sahn verlegen den andern jeder an, Am Ende doch verwegen der Ulrich da begann:

„Herr, fürstlich ist dein Bissen, doch eines thut ihm not, Das mag kein Knecht vermissen! Wo ließest du das Brot?" „Wo ich das Brot gelassen?" sprach da der Pfälzer Fritz. Er traf, die bei ihm saßen, mit seiner Augen Blitz;

Er that die Fensterpforten weit auf im hohen Saal, Da sah man aller Orten ins offne Neckarthal. Sie sprangen von den Stühlen und blickten in das Land, Da rauchten alle Mühlen rings von des Krieges Brand; Kein Hof ist da zu schauen, wo nicht die Scheune dampft, Von Rosses Huf und Klauen ist alles Feld zerstampft. „Nun sprecht, von westen Schulden ist so mein Mahl bestellt?

Ihr müßt euch wohl gedulden, bis ihr besä't mein Feld, Bis in des Sommers Schwüle mir reifet eure Saat,

Und bis mir in der Mühle sich wieder dreht ein Rad.

VI.

Geschichte.

257

Ihr seht, der Westwind fächelt in Stoppeln und Gesträuch; Ihr seht, die Sonne lächelt, sie wartet nur auf euch! Drum sendet flugs die Schlüssel und öffnet euern Schatz, So findet bei der Schüssel das Brot den rechten Platz!"

57.

Schwab.

Kolumbus.

„Was willst du, Fernando, so trüb und bleich? Du bringst mir traurige Mär'?" „Ach, edler Feldherr, bereitet euch! Nicht länger bezähm' ich das Heer. Wenn jetzt nicht die Küste sich zeigen will, So seid ihr ein Opfer der Wut; Sie fordern laut wie Sturmgebrüll Des Feldherrn heiliges Blut!" Und eh' noch dem Ritter das Wort entflohn, Da drängte die Menge sich nach, Da stürmten die Krieger, die wütenden, schon Gleich Wogen ins stille Gemach,

Verzweiflung im wilden, verlöschenden Blick, Auf bleichen Gesichtern den Tod. „Verräter, wo ist nun dein gleißendes Glück? Jetzt rett' uns vom Gipfel der Not! Du giebst uns nicht Speise, so gieb uns dein Blut!" „Blut!" riefen die Schrecklichen, „Blut!" Sanft stellte der Große den Felsenmut

Und trauet der Hülfe des Herrn!" Die Würde des Helden, sein ruhiger Blick Besiegte noch einmal die Wut; Sie wichen vom Haupte des Führers zurück Und schonten sein heiliges Blut. „Wohlan denn, es sei noch! Doch hebt sich der Strahl Und zeigt uns kein rettendes Land: So siehst du die Sonne zum letzten Mal! So zitt're der strafenden Hand!" Geschlossen war also der eiserne Bund; Die Schrecklichen kehrten zurück. Es thue der leuchtende Morgen nun kund Des duldenden Helden Geschick! Die Sonne sank, der Tag entwich, Des Helden Brust ward schwer: Der Kiel durchrauschte schauerlich Das weite, wüste Meer. Die Sterne zogen still herauf, Doch ach! kein Hofsnungsstern; Und von des Schiffes ödem Lauf

Blieb Land und Rettung fern. Sein treues Fernrohr in der Hand, Die Brust voll Gram, durchwacht,

Entgegen der stürmenden Flut. „Befriedigt mein Blut euch, so nehmt es und lebt!

Nach Westen blickend unverwandt, Der Held die düstre Nacht. „Nach Westen, o nach Westen hin

Doch, bis noch ein einziges Mal Die Sonne dem leuchtenden Osten ent­

Beflügle dich, mein Kiel! Dich grüßt noch sterbend Herz und Sinn,

schwebt, Vergönnt mir den segnenden Strahl! Beleuchtet der Morgen kein rettend

Du meiner Sehnsucht Ziel! Doch mild, o Gott, von Himmelshöhn

Gestad', So biet' ich dem Tode mich gern; Bis dahin verfolgt noch den mutigen

Im wüsten Flutengrab!" So sprach der Held, von Mitleid weich,

Da, horch! welch' eil'ger Tritt?

Pfad Dielitz it. Heinrichs, deutsch. Lesebuch.

Blick' auf mein Volk herab! Laß nicht sie trostlos untergehn

5. Aust.

17

258

VI.

Ges ch ichte.

„Noch einmal, Fernando, so trüb und bleich? Was bringt dein bebender Schritt?" „Ach, edler Feldherr, es ist geschehn! Jetzt hebt sich der östliche Strahl!" „Sei ruhig, meinLieber, von himmlischen Höh'n Entwandt' sich der leuchtende Strahl. Es waltet die Allmacht von Pol zu Pol;

Mir lenkt sie zum Tode die Bahn." „Leb' wohl denn, mein Feldherr, leb' ewig wohl! Ich höre die Schrecklichen nahn!" Und eh' noch dem Ritter das Wort

entflohn, Da drängle die Menge sich nach, Da stürmten die Krieger, die wütenden, schon Gleich Wogen ins stille Gemach. „Ich weiß, was ihr fordert, und bin bereit, Ja, werft mich ins schäumende Meer!

Doch wisset, das rettende Zielistnichtwe'it. Gott schütze dich, irrendes Heer!" Dumpf klirrten die Schwerter, ein wüstes Geschrei Erfüllte mit Grausen die Luft. Der Edle bereitete still sich und frei Zum Weg in die flutende Gruft. Zerrissen war jedes geheiligte Band,, Schon sah sich zum schwindelnden Ramd Der treffliche Feldherr gerissen und —

„Land! Land!" rief es und donnert' es, „Land!" Ein glänzender Streifen, mit Purpur­ gemalt, Erschien dem beflügelten Blick; Vom Golde der steigenden Sonne be­

strahlt, Erhob sich das winkende Glück. Was kaum noch geahnet der zagende Simn, Was mutvoll der Große gedacht: Sie stürzten zu Füßen dem Herrlichen hin Und priesen die göttliche Macht. Luise Vrachinann.

38. Martin Luther. Schon längst waren über den traurigen Zustand der Kirche von vielen den­ kenden Männern und selbst von ganzen Völkern laute Klagen erhoben worden. Besonders war es die Unwissenheit und Sittenlosigkeit der meisten Pfarrer und

Mönche, welche dem ganzen geistlichen Stande die allgemeine Verachtung zuzog. Gab es doch damals zahllose Geistliche, welche von der Geschichte der christlichen Kirche und von den Sprachen, in denen die heiligen Bücher geschrieben sind, nicht das geringste verstanden, und welche die Bibel auch nicht einmal in der lateinischen Übersetzung gelesen hatten. Noch trauriger aber sah es mit dem Lebenswandel dieser Männer aus, welche berufen waren, den anderen das Beispiel eines tugendhaften Wandels zu geben, und die sich statt dessen unge­

scheut dem lasterhaftesten Leben überließen. Und diese Unsittlichkeit war nicht bloß in der niederen Geistlichkeit herrschend, sondern wurde auch an Bischöfen und Erzbischöfen wahrgenommen, und selbst Päpste gab es, welche angesichts der vielen gläubigen Christen, die alljährlich nach Rom pilgerten, den päpstlichen Stuhl durch Sünden und Laster schändeten. So oft auch der Wunsch nach einer Verbesserung der Kirche an Haupt und Gliedern laut geworden war, immer hatte die Geistlichkeit die gesetzmäßige Durchführung derselben zu hintertreiben gewußt; als aber zu den vielen Gebrechen noch ein neuer, schreiender Mißbrauch hinzntrat, da kam der Unwille der Völker zum Ausbruch und führte eine ge-

VI.

Geschichte.

259

waltsame Trennung der Kirche und infolge derselben eine Reihe blutiger Kriege herbei. Es war nämlich eine alte Sitte, daß die Kirche bußfertigen Sündern, welche für irgendein frommes Werk, namentlich für die Erbauung einer Kirche oder Schule, eine Geldspende gaben, einen Teil der von ihnen verwirkten Kirchen­ strafen erließ. Dadurch war allmählich unter dem ungebildeten Volke die ver­ derbliche Ansicht entstanden, daß die Sünde durch Bezahlung eines Ablaßzettels gesühnt werden könne, und in diesem Irrtum wurde das Volk von manchem eigennützigen Prediger, der aus dem Handel mit Ablaßbriefen Vorteil zog, noch bestärkt. Viele derselben trieben diesen verderblichen Handel mit einer solchen

Unverschämtheit, daß sie für die schwersten Verbrechen, selbst für Kirchenraub, Meineid und Mord Ablaß verkauften, und einige gaben sogar für zukünftige Sünden Ablaß. Besonders erregte ein Dominikaner-Mönch, Johann Tezel, welcher in Sachsen und Brandenburg den Ablaß ausbot, den der Papst Leo X. ausgeschrieben hatte, um die von seinem Vorgänger angefangene Peterskirche in Rom vollenden zu können, durch ein schamloses Benehmen den allgemeinen Un­ willen. Er begnügte sich nicht, den Ablaß von der Kanzel herab zu verkünden, sondern bot ihn auf Märkten und in Wirtshäusern wie eine gemeine Ware zum Verkauf aus; dabei rühmte er sich öffentlich, mit seinem Ablaß mehr Seelen erlöst zu haben seine Zettel die bald das Geld denn von allen

als Petrus mit seinem Evangelium. Auch behauptete er, durch Pforten des Himmels öffnen zu können; „denn," sagte er, „so­ im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt." So eilten Seiten unwissende und thörichte Menschen herbei, um durch die

Bezahlung einiger Groschen die Seele irgendeines lieben Verwandten aus dem Fegefeuer zu befreien. Gegen diesen Mißbrauch erhob sich ein Lehrer an der Universität Wittenberg,

der Augustiner-Mönch Martin Luther, ein Mann, der wegen seiner Gelehrsamkeit und seines trefflichen Charakters von allen, die ihn kannten, hochgeachtet wurde. Er war der Sohn eines armen Bergmanns und am 10. November 1483 in Eis­ leben geboren.

Nachdem er ein Jahr lang die lateinische Schule in Magdeburg

besucht hatte, brachte ihn sein Vater nach Eisenach, wo er sich sein Brot durch Singen vor den Thüren verdienen mußte, bis eine wohlthätige Frau ihn in ihr

Haus aufnahm und für seinen Unterhalt sorgte.

In seinem achtzehnten Jahre bezog er die Universität Erfurt, um sich nach dem Wunsch seiner Eltern der Rechtswissenschaft zu widmen; doch eine unwiderstehliche Neigung führte ihn zum

Studium der Philosophie, der lateinischen Schriftsteller und der Bibel, und end­ lich brachten ihn zwei Vorfälle, welche sein reizbares Gemüt mächtig erschütterten, zu dem Entschluß, Gott allein sein Leben zu weihen. Als er nämlich im Begriff war, eine Reise nach Mansfeld zu seinen Eltern anzutreten, und von seinem liebsten Freunde, namens Alexis, Abschied nehmen wollte, fand er diesen von Räubern ermordet und in seinem Blute schwimmend. In tiefster Bestürzung

und Kümmernis machte er sich auf den Weg und kehrte nach wenigen Tagen nach Erfurt zurück. Unterwegs wurde er von einem heftigen Gewitter überrascht, und plötzlich fuhr dicht neben ihm ein Blitzstrahl mit solcher Gewalt in die Erde,

daß er besinnungslos zu Boden stürzte.

Als er nach Erfurt kam, gab er, ohne

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260

VI.

Geschichte.

ein Wort von seinem Vorhaben zu äußern, seinen Freunden einen Abschieds­ schmaus und ging in der darauf folgenden Nacht in das Augustiner-Kloster. Hier mußte er lange Zeit die niedrigsten Dienste verrichten, die Zimmer reinigen, den Unrat wegtragen, die Kirche auf- und zuschließen und mit dem Bettelsack durch die Stadt laufen, um für das Kloster Brot, Eier und Fleisch bei den Bürgern einzusammeln. Zwei Jahre später erhielt er die Priesterweihe; aber den Seelen­ frieden, den er als Mönch zu finden gehofft hatte, suchte er noch immer vergebens. Er war ins Kloster gegangen, um die sündhaften Regungen in seinem Innern durch eine harte Lebensweise und durch strenge Fasten und Kasteiungen zu er­ töten, und da ihm dies nicht vollständig gelang, so wurde er bei dem Gedanken an Gott, in dem er nur den strengen, unversöhnlichen Richter sah, von einer­ quälenden Angst erfüllt. Endlich eröffnete er sein Herz dem Generalvikar seines Ordens, Johann von Staupitz, einem ebenso wohlwollenden als gelehrten Mann, der ihn zu trösten und zu ermutigen verstand und, um ihm einen angemessenen Wirkungskreis zu verschaffen, ihn dem Kurfürsten von Sachsen zum Professor der Theologie an der neu errichteten Universität Wittenberg empfahl. Freudig folgte er diesem Rufe; doch blieb er noch immer seinem Orden treu und bewohnte auch in Wittenberg eine Zelle des dortigen Augustiner-Klosters. Seine Predigten fan­ den hier solchen Beifall, daß er schon im folgenden Jahre von der Gemeinde zum Prediger gewählt wurde. Diese Erfolge hatten zugleich den wohlthätigsten Einfluß auf seine Gemütsstimmung; denn nun erfüllte ihn ein freudiger Mut und ein unerschütterliches Vertrauen auf Gott. Auch seine frühere Blödigkeit verließ ihn, und aus dem schwermütigen, geängstigten Manne wurde der heiterste, angenehmste Gesellschafter. Im Jahre 1510 ward Luther nebst einem andern Mönche in Angelegenheiten seines Ordens nach Rom gesandt. Voll Ehrfurcht und Andacht machte er sich nach dem Wohnsitz des Statthalters Christi auf den Weg; aber je mehr er sich der heiligen Stadt näherte, desto größer fand er die Sittenlosigkeit der Geistlichen und den Leichtsinn, mit dem sie alle religiösen An­

gelegenheiten behandelten. Besonders empörte ihn das gedankenlose und leicht­ fertige Herplappern der Gebete. In späteren Jahren pflegte er zu sagen, er möchte nicht tausend Gulden dafür nehmen, daß er diese Reise nicht sollte ge­ macht haben. Nach seiner Rückkehr erwarb er sich auf Zureden seines Gönners Staupitz die theologische Doktorwürde, indem der Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen, der ihn als trefflichen Prediger schätzte, die Gebühren für ihn be­ zahlte. Seitdem beschäftigte er sich, um die Bibel richtiger verstehen zu lernen, besonders mit dem Studium der hebräischen und der griechischen Sprache; je tiefer er aber in den Geist des Evangeliums eindrang, desto verhaßter wurden ihm die Spitzfindigkeiten, welche die Schulweisheit der Geistlichen in die einfache

christliche Lehre hineingetragen hatte, desto schärfer erkannte er die zahllosen Miß­ bräuche, auf deren Abstellung die Völker mit so großer Sehnsucht hofften. Es war am 31. Oktober des Jahres 1517, als Luther 95 lateinische Lehr­ sätze oder Thesen, in denen er besonders den Ablaßkram angriff, an die Thür der Schloßkirche zu Wittenberg anschlug und zu einer öffentlichen Disputation über den Inhalt derselben aufforderte. Diese Sätze verbreiteten sich schnell in zahl-

VI.

Geschichte.

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losen Abdrücken über ganz Deutschland; überall fanden sie den lebhaftesten Beifall

aller denkenden Männer, und auch das Volk regten sie so mächtig auf, daß die Ablaßkrämer an vielen Orten verhöhnt und beschimpft wurden. Tezel sebst em­

pfand bald, wie sehr sich die öffentliche Meinung geändert hatte. Als er aus Jüterbog auszog, ritt ihm ein Edelmann mit mehreren Knechten nach, holte ihn im Walde ein und löste sich einen Ablaßbrief für eine Sünde, die er begehen wollte; sobald er den Zettel erhalten hatte, nahm er dem Ablaßkrämer seinen vollen Geldkasten weg, erklärte, daß dies die Sünde sei, für die er ihm Ablaß gegeben habe, und brachte den Kasten nach Jüterbog, wo er noch jetzt in einer Kirche aufbewahrt wird. Der Streit über die Rechtmäßigkeit des Ablaßhandels war unterdes so allgemein geworden, daß Luther vom Papste nach Rom vorge­ laden wurde, um sich hier wegen seiner Thesen zu verantworten. Zu seinem Glück erlangte es der Kurfürst Friedrich, der durch seine Entfernung die Blüte der Universität Wittenberg gefährdet glaubte, daß die Sache in Deutschland verhandelt werden durfte, und so erhielt denn Luther einen zweiten Befehl, in Augsburg vor dem Kardinal Cajetan zu erscheinen. Da eine zweitägige Unterredung zu keiner Einigung führte, so wurde er mit den Worten entlassen: „So gehe denn hin und komme nicht wieder, es sei denn, du wolltest einen Widerruf thun." Eine Disputation, die er im folgenden Jahre in Leipzig mit dem gelehrten Dok­ tor Eck hatte, entfernte ihn immer weiter von seinen Gegnern; obgleich diese aber eine päpstliche Bulle erwirkten, durch welche vierzig seiner Sätze als ketzerisch ver­ dammt wurden, so war er doch immer noch zum Frieden geneigt und versprach dem Papste in einem Briefe, er wolle den ärgerlichen Streit ruhen lassen, wenn nur auch seinen Gegnern Stillschweigen auferlegt würde. Jetzt aber lag es nicht

mehr in seiner Gewalt, der Sache ein Ende zu machen; denn schon erhoben sich von allen Seiten neue Stimmen gegen die Anmaßungen der Päpste. Nament­ lich trat ein Teil des deutschen Adels auf seine Seite und bot ihm Schutz und Hülfe an; unter diesen ist besonders Franz von Sickingen zu nennen, ein kühner und unternehmender Ritter, auf dessen Burgen viele von der Geistlichkeit verfolgte freisinnige Männer eine Zuflucht fanden; auch der wackere Ulrich von Hutten, ein kühner Kämpfer für Aufklärung und Geistessreiheit, trat für Luther in die Schranken, indem er in zahlreichen Schriften die Geistlichkeit wegen ihrer An­ maßung und ihrer Unwissenheit angriff; den eifrigsten Gehülfen aber fand Luther

an Philipp Melanchthon, einem Manne von hoher Gelehrsamkeit und sanfter, friedlicher Sinnesart, dessen Vorlesungen solchen Beifall fanden, daß sie oft von zweitausend Zuhörern besucht waren. Luther hatte unterdes, statt seine Sätze zu widerrufen, in einer Schrift an den deutschen Adel viele in der römischen Kirche geltende Lehren angegriffen und das Volk zur Abschüttelung des päpstlichen Joches aufgefordert. Seine Gegner machten jetzt die päpstliche Bulle bekannt, durch welche er mit dem Kirchenbann belegt wurde, und bewirkten, daß seine Schriften in mehreren Städten verbrannt wurden; doch wurde die Bannbulle in den meisten Orten, in denen sie öffentlich angeschlagen ward, vom Volke abgerissen. Luther selbst berief am 10. Dezember 1520 die ganze Universität vor das Elsterthor in Wittenberg und warf die Bulle

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VI.

Geschichte.

nebst dem kanonischen Recht mit den biblischen Worten ins Feuer: „Weil du den

Heiligen des Herrn betrübt hast, so verzehre dich das ewige Feuer!" Im folgen­ den Jahre erhielt er die Aufforderung, nach Worms zu kommen, wohin der neu gewählte Kaiser Karl V. seinen ersten Reichstag berufen hatte. Obgleich durch eine Krankheit entkräftet, machte er sich sogleich auf den Weg, predigte in mehreren

der Orte, welche er auf seiner Reise berührte, und ward überall vom Bolke mit Begeisterung empfangen. Als er in die Nähe von Worms kam, erinnerte ihn einer seiner Freunde an das Schicksal des Johann Huß, der ungeachtet des kai­ serlichen Geleites in Kostnitz seinen Tod gefunden hatte; er aber erwiderte: „Und

wenn so viele Teufel in Worms wären als Ziegel auf den Dächern, so würde ich doch hineingehen." Bei seinem Einzug vermochte der vor dem Wagen herrei­ tende Reichsherold sich nur mit Mühe einen Weg nach der angewiesenen Herberge zu bahnen: so groß war die Volksmenge, welche von allen Seiten herbeiströmte, um den merkwürdigen Mann zu sehen. Auch die ganze Nacht war das Haus von Neugierigen umlagert, und als Luther am folgenden Morgen durch den Reichs­ marschall auf das Rathaus geführt wurde, wo der Reichstag versammelt war, mußten beide ihren Weg durch Gärten und Hintergebäude nehmen, weil die Straßen durch die Volksmassen gesperrt waren. Vor der Saalthür stand der alte, tapfere Feldhauptmann Georg von Frundsberg; der klopfte Luthern treu­ herzig auf die Schultern und sagte: „Mönchlein, Mönchlein! Du gehst jetzt einen schweren Gang, dergleichen ich und mancher Krieger auch in der schwersten Schlacht nicht gethan habe; bist du aber auf dem rechten Wege und deiner Sache gewiß, so fahre in Gottes Namen fort und sei getrost; denn der Herr wird dich nicht verlassen." Es war am 17. April des Jahres 1521, als Luther in seinem Mönchs­ gewände vor der glänzenden Reichsversaulmlung erschien. Der Kaiser saß auf dem Thron, umgeben von seinem Bruder, dem Erzherzog Ferdinand, sechs Kur­ fürsten, vierundzwanzig Herzögen, acht Markgrafen, dreißig Bischöfen und vielen Fürsten, Grafen und Herren. Aller Augen waren auf den eintretenden Mönch

gerichtet.

Ehrerbietig nahte sich dieser dem Throne.

Als ihm die Frage vorgelegt

wurde, ob er die Bücher, die man ihm vorzeigte, als die seinigen anerkenne und ihren Inhalt widerrufen wolle, wurde er befangen und erbat sich Bedenkzeit. Arn folgenden Tage hatte er seine frühere Zuversicht wiedergewonnen und verteidigte seine Grundsätze mit solcher Ruhe und Geistesgegenwart und in einer so edlen

und würdevollen Sprache, daß er die Herzen vieler Anwesenden gewann. Aufforderung zum Widerruf wies er mit der Erklärung zurück, daß er nicht widerrufen würde, als wenn er mit Zeugnissen der heiligen Schrift oder klaren Gründen widerlegt wäre, weil es nicht geraten sei, etwas wider das

Die eher­ mit Ge­

wissen zu thun, und schloß mit den Worten: „Hier stehe ich, ich'^kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen." Da auch alle weiteren Versuche, ihn auf andere Ge­ danken zu bringen, vergeblich waren, so wurde ihm befohlen, wieder abzureisen: der Kaiser erneuerte das ihm verheißene freie Geleit zur Rückreise auf einund­ zwanzig Tage und sprach dann über ihn und alle seine Anhänger und Beschützer die Reichsacht aus.

VI.

Geschichte.

263

Der Kurfürst Friedrich der Weise hatte indes schon für die Sicherheit seines Schützlings gesorgt. Als dieser auf seiner Rückreise durch den Thüringer Wald

kam, wurde er in der Gegend von Altenstein von fünf verkappten Reitern über­ fallen, mit scheinbarer Gewalt aus dem Wagen gerissen und auf die Wartburg bei Eisenach gebracht. Hier lebte er, vor Freund und. Feind verborgen, fast ein Jahr laug; er hieß Junker Georg, trug einen Bart und ritterliche Kleidung, und niemand ahnte, wer er war. Von dieser Freistatt aus förderte er das begonnene Werk durch treffliche Schriften; auch begann er hier die Übersetzung der Bibel,

während er mit manchen Anfechtungen zu kämpfen hatte, da er sich vom Teufel heftig verfolgt wähnte. Endlich bestimmten ihn die Nachrichten, die er von den Unruhen in Wittenberg erhielt, seinen Zufluchtsort zu verlassen. Es waren näm­ lich mehrere seiner Anhänger, an deren Spitze ein gewisser Karlstadt stand, in ihrem Eifer so weit gegangen, daß sie alles, was an den früheren Gottesdienst erinnerte, zerstörten, die Altäre zertrümmerten und die geweihte!! Gefäße, die Beichtstühle und die Heiligenbilder aus den Kirchen warfen. Mit ihnen verban­ den sich andere Schwärmer, welche die Kindertaufe abschaffeu wollten, und deren Gewaltthaten alle bürgerliche Ordnung aufzulösen drohten. Als Luther hiervon Kunde erhielt, verließ er trotz der Abmahnungen des Kurfürsten die Wartburg und kehrte nach Wittenberg zurück. Hier predigte er acht Tage hintereinander mit solcher Kraft gegen die eingerissenen Unordnungen, daß die Ruhe in kurzer

Zeit völlig wiederhergestellt war; aber nun kam der Aufstand in anderen Ge­ genden Deutschlands zum Ausbruch, indem namentlich die hart bedrückten Bauern sich gegen ihre Herren erhoben. Luther ermahnte zum Frieden, indem er jeder der beiden Parteien ihr Unrecht vorwarf. Den Fürsten und Herren schrieb er: „Ihr allein seid an diesem Unglück schuld, die ihr um eures Hochmuts willen eure Unterthanen schindet und schätzt, bis die Armen es nicht länger ertragen können. Ihr müßt anders werden, wenn eure stolze Vermessenheit euch nicht den Hals brechen soll. Von den Forderungen der Bauern sind die meisten billig

und gerecht; thut also, was sie begehren, damit nicht Verachtung und Verderben über euch komme." Und als er von den Gewaltthätigkeiten hörte, welche die aufrührerischen Bauern verübten, schrieb er diesen: „Auch wenn die Obrigkeit böse und unleidlich ist, so entschuldigt dies den Aufruhr nicht; denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen. Wenn ihr aber handelt, wie ihr jetzt thut, so seid ihr noch viel ärgere Räuber als jene." Bei der Nachricht aber von den Gräuelscenen in Schwaben ließ er eine Schrift „Wider die räuberischen und mörderischen Bauern" drucken, in der es hieß: „Hier sollzuschlagen, würgen und stechen heimlich und öffentlich, wer da kann, und bedenken, daß es nichts Giftigeres, Schändlicheres und Teuflerisches giebt als einen aufrührerischen Men­ schen, gleichwie du einen tollen Hund totschlagen mußt, damit er nicht dich und ein ganzes Land verderbe." Ungeachtet dieser traurigen Ereignisse nahm die Kirchenverbesserung in vielen Gegenden Deutschlands ihren ungestörten Fortgang,

indem die Messe abgeschafft, der Gottesdienst in deutscher Sprache gehalten, die Mönche ihrer Gelübde entbunden, die Klöster aufgehoben und allen Geistlichen

die Ehe gestattet wurde.

Luther selbst vermählte sich im Jahre 1525 mit einer

264

VI.

Geschichte.

ehemaligen Nonne, Katharina von Bora; doch erlitt sein Fleiß im Schreiben utnb Lehren durch seinen Ehestand keine Störung, vielmehr fuhr er unablässig fort,

theologische Schriften und Predigten herauszugeben; zugleich arbeitete er an d^er Verbesserung und Fortsetzung seiner Bibelübersetzung und faßte die Hauptsätze der Glaubenslehre in seinem berühmten Katechismus zusammen. Melanchthon schrieb unterdes ein Lehrbuch des christlichen Glaubens und eine Anweisung, wie in Kirchen und Schulen gelehrt werden sollte. Da die schnellen Fortschritte der Reformation den katholischen Reichsständen ernstliche Besorgnisse einflößten, so bewirkten diese 1529 auf dem Reichstage zu Speier den Beschluß, daß die, welche sich der neuen Lehre zugewandt hätten, sich

bis zu einer Kirchenversammlung aller weiteren Veränderungen in kirchlichen An­ gelegenheiten enthalten sollten. Gegen diesen Beschluß reichten die Evangelischen

eine Protestation ein und wurden seitdem Protestanten genannt. Im folgenden Jahre aber Übergaben sie dem Kaiser auf dem Reichstage zu Augsburg ihr durch Melanchthon verfaßtes Glaubensbekenntnis, welches später die Augsburgische Konfession genannt wurde. Alle Versuche einer Vereinigung, welche auf diesem und auf spätern Reichstagen gemacht wurden, blieben vergeblich; vielmehr wurde die Feindschaft zwischen den beiden Parteien mit jedem Tage größer und führte endlich eine Reihe blutiger Kämpfe herbei. Ehe aber noch der Krieg zum Aus­ bruch kam, starb Luther am 18. Februar 1546 in seiner Geburtsstadt Eisleben. Er war, obschon krank, hierher gereist, um einen Streit unter den Grafen von Mansfeld zu schlichten. Ungeachtet seiner zunehmenden Schwäche predigte er noch viermal und wohnte allen Sitzungen bei, welche zur Beilegung jenes Zwistes gehalten wurden. Endlich mußte er sich entschließen, in seinem Zimmer zu blei­ ben; er ging hier langsam auf und nieder und ruhte abwechselnd auf einem Lehn­ stuhl aus; dabei betete er viel und unterhielt sich mit seinen Freunden. Da die

Brustbeklemmungen zunahmen, so erboten sich mehrere Freunde, namentlich der Doktor Jonas aus Halle, die Nacht über bei ihm zu wachen. Nachdem er in sein Bett gebracht war, schlief er schweratmend ein; um ein Uhr morgens aber

stand er wieder auf und ging einige Male auf und ab; da er immer heftiger über Beklommenheit klagte, wurde er wieder auf das Bett gelegt und ihm der Leib mit warmen Tüchern gerieben. Unterdes war der Graf Albrecht von Mans­ feld mit seiner Gemahlin erschienen und hatte stärkende Tropfen mitgebracht, mit denen man ihm den Puls bestrich; doch nahm die Schwäche und Beklommenheit zu, so daß Doktor Jonas ihn endlich fragte: „Ehrwürdiger Vater, wollt ihr auf die Lehre von Christo, wie ihr sie gepredigt, sterben?" Mit deutlicher Stimme

antwortete er „Ja," wandte sich dann auf die Seite und entschlief so sanft, daß die Umstehenden lange Zeit glaubten, er schlummere nur. Zwei Tage später­ ward die Leiche in einem zinnernen Sarge, begleitet von allen anwesenden Gra­ fen, vielen Edelleuten und Geistlichen und der ganzen Bürgerschaft von Eis­ leben, nach Halle gebracht. In allen Orten, durch welche der Trauerzug kam, wurden die Glocken geläutet, und weinend schlossen sich ihm Männer, Weiber und Kinder an. Aus Halle kam ihm der Magistrat, die Geistlichkeit und die Bürger­

schaft in feierlichem Zuge entgegen; noch

rührender aber war der Einzug in

VI.

G e sch i ch te.

265

Wittenberg, wo der Sarg in der kurfürstlichen Schloßkapelle beigesetzt wurde.

Au

Luthers Seite ruht sein treuer Gefährte Melanchthon, welcher, nachdem er noch vierzehn Jahre in Schriften und Predigten für die Kirchenverbesserung gewirkt

hatte, im Jahre 1560 zu Wittenberg starb.

Dalitz.

Luther und Frundsberg.

89.

Schon harret an den Thüren Des Volkes Menge dicht, Als sie den Luther führen

Vor Kaiser und Gericht; Und an der Thüre Pfosten Dem Eingang Luthers nah Steht fest auf seinem Posten Der alte Frundsberg da. Wie unter Blitzesflammen, Wie unter Sturmeswehn Zwei Eichen dicht beisammen Auf zähen Wurzeln stehn: So stehen kühngestaltig Die beiden Helden dort, In Waffen der gewaltig Und jener in dem Wort. Den schirmt die Pickelhaube,

Das Panzerhemd aus Erz; In jenem stählt der Glaube Das vielgeprüfte Herz. In Schlachten schaut der eine Dem Tod ins Angesicht; Dem zittern die Gebeine Auch vor dem Teufel nicht-

Der Ritter sieht den Priester Sich werfen in den Tod, In seinen Zügen liest er Der Losung ernst Gebot, Das siegen oder sterben Den Frommverweg'nen heißt,

Und vor dem Himmelserben Beugt sich des Helden Geist. „Mönchlein," begann der Ritter,

„Du gehest einen Gang, Wie auch im Schlachtgewitter, Im Mord- und Sturmesdrang Ich noch bestanden keinen Und keinen werd' bestehn; Bist du mit Gott im reinen, Magst du den Gang auch gehn!"

So gab der greise Degen Am heißen Kampfestag Dem Luther seinen Segen, Den Hand- und Ritterschlag. Wohlauf denn, Held! und schwinge Dein ritterliches Schwert! Laß sehn, ob sich die Klinge

Als flammende bewährt! Hagenbach.

60.

Herzog Alba in Rudolstadt.

Als Karl V. im Jahre 1547 nach der Schlacht bei Mühlberg auch durch Thüringen kam, wirkte die verwitwete Gräfin Katharine von Schwarzburg, eine

geborne Fürstin von Henneberg, einen Sauve-Garde-Brief bei ihm aus, daß ihre Unterthanen von der durchziehenden spanischen Armee nichts zu leiden haben

sollten; dagegen verband sie sich, Brot, Bier und andere Lebensmittel gegen billige Bezahlung aus Rudolstadt an die Saalebrücke schaffen zu lassen und die spanischen Truppen, die dort übersetzen würden, zu versorgen. Doch gebrauchte sie dabei die Vorsicht, die Brücke, welche dicht bei der Stadt war, in der Ge­

schwindigkeit abbrechen und in einer größer« Entfernung über das Wasser schla­ gen zu lassen, damit die allzugroße Nähe der Stadt ihre raublustigen Gäste nicht

266 in Versuchung führte.

VT.

Geschichte.

Zugleich wurde den Einwohnern aller Ortschaften, durch

welche der Zug ging, vergönnt, ihre besten Habseligkeiten auf das Rudolstadter Schloß zu stückten. Mittlerweile näherte sich der spanische General, vom Herzog Heinrich von Braunschweig und dessen Söhnen begleitet, der Stadt und bat sich durch einen Boten, den er voranschickte, bei der Gräfin von Schwarzburg auf ein Morgenbrot zu Gaste. Eine so bescheidene Bitte, an der Spitze eines Kriegs­ heeres gethan, konnte nicht wohl abgeschlagen werden. Man würde geben, was das Haus vermöchte, war die Antwort; Seine Excellenz möchten kommen und vorlieb nehmen. Zugleich unterließ man nicht, der Sauve-Garde noch einmal zu

gedenken und dem spanischen General die gewissenhafte Beobachtung derselben ans Herz zu legen. Ein freundlicher Empfang und eine gut besetzte Tafel er­ warteten den Herzog im Schlosse. Noch hatte man sich kaum niedergesetzt, als der Gräfin gemeldet wird, daß in einigen Dörfern unterwegs die spanischen Sol­ daten Gewalt gebraucht und den Bauern das Vieh weggetrieben hätten Aufs äußerste über diese Wortbrüchigkeil entrüstet, doch von ihrer Geistesgegenwart nicht verlassen, befiehlt sie ihrer ganzen Dienerschaft, sich in aller Geschwindigkeit und Stille zu bewaffnen und die Schloßpforten wohl zu verriegeln; sie selbst begiebt sich wieder nach dem Saal, wo die Fürsten noch bei Tische sitzen. Hier klagt sie ihnen in den beweglichsten Ausdrücken, was ihr eben hinterbracht wor­ den, und wie schlecht man das gegebene Kaiserwort gehalten. Man erwiderte ihr mit Lachen, daß dies nun einmal Kriegsgebrauch sei, und daß bei einem Durch­ marsch von Soldaten dergleichen kleine Unfälle nicht zu verhüten stünden. „Das wollen wir doch sehen," antwortete sie aufgebracht. „Meinen armen Unterthanen muß das Ihrige wieder werden, oder bei Gott! Fürstenblut für Ochsenblut!"

Mit dieser bündigen Erklärung verließ sie das Zimmer, das in wenigen Augen­ blicken von Bewaffneten erfüllt war, die sich, das Schwert in der Hand, hinter

die Stühle der Fürsten pflanzten und das Frühstück bedienten.

Beim Eintritt

dieser kampflustigen Schar veränderte Herzog Alba die Farbe; stumm und be­ treten sah man einander an. Abgeschnitten von der Armee, von einer überlege­ nen handfesten Menge umgeben, was blieb ihm übrig, als sich in Geduld zu fassen und, auf welche Bedingung es auch sei, die beleidigte Dame zu versöhnen? Heinrich von Braunschweig faßte sich zuerst und brach in ein lautes Gelächter­ aus. Er ergriff den vernünftigen Ausweg, den ganzen Vorgang ins Lustige zu kehren, und hielt der Gräfin eine Lobrede über ihre landesmütterliche Sorgfalt und den entschlossenen Mut, den sie bewiesen. Er bat sie, sich ruhig zu verhal­ ten, und nahm es auf sich, den Herzog von Alba zu allem, was billig sei, zu vermögen. Auch brachte er es bei dem letzten wirklich dahin, daß er auf der

Stelle einen Befehl an die Armee ausfertigte, das geraubte Vieh den Eigentümern ohne Verzug wieder auszuliefern. Sobald die Gräfin von Schwarzburg der Zu­ rückgabe gewiß war, bedankte sie sich aufs schönste bei ihren Gästen, die sehr

höflich von ihr Abschied nahmen. Schiller.

VI.

61.

267

Geschichte.

Einer oder der andere.

Zu König Heinrichs IV. Zeiten ritt ein Bäuerlein vom Lande her des We­ ges nach Paris. Nicht mehr weit von der Stadt gesellt sich zu ihm ein gar statt­ licher Reiter, welches der König war, und sein kleines Gefolge blieb absichtlich

in einiger Entfernung zurück. „Woher des Landes, guter Freund?" „Da und da her." „Ihr habt wohl Geschäfte zu Paris?" „Das und das, auch möchte ich gern unsern guten König einmal sehen, der so väterlich sein Volk liebt." Da lächelte der König und sagte: „Dazu kann euch heute Gelegenheit werden." „Aber wenn ich auch nur wüßte, welcher es ist unter den vielen, wenn ich ihn sehe!"

Der König sagte: „Dafür ist Rat. Ihr dürst nur achtgeben, welcher den Hut allein auf dem Kopfe behält, wenn die andern ehrerbietig ihr Haupt entblößen." Also ritten sie miteinander in Paris ein und zwar das Bäuerlein hübsch auf der rechten Seite des Königs; denn das kann nie fehlen: was die liebe Einfalt Un­ geschicktes thun kann, sei es gute Meinung oder Zufall, das thut sie. Aber ein gerader und uuverkünstelter Bauersmann, was er thut und sagt, das thut und sagt er mit ganzer Seele und sieht nicht um sich, was geschieht, wenn's ihn nicht angeht. Also gab auch der unsrige dem König auf seine Fragen nach dem Land­ bau, nach seinen Kindern, und ob er alle Sonntage ein Huhn im Topfe habe, gesprächige Antwort und merkte lange nichts; endlich aber, als er doch sah, wie sich alle Fenster öffneten und alle Straßen mit Leuten sich füllten, und alles rechts und links auswich und ehrerbietig das Haupt entblößt hatte, ging ihm ein Licht auf. „Herr!" sagte er und schaute seinen unbekannten Begleiter mit Be­ denklichkeit und Zweifel an, „entweder seid ihr der König, oder ich bin's; denn wir zwei haben noch allein die Hüte auf dem Kopf." Da lächelte der König und

sagte: „Ich bin's. Wenn ihr euer Rößlein eingestellt und eure Geschäfte besorgt habt," sagte er, „so kommt zu mir in mein Schloß. Ich will euch alsdann mit einem Mittagssüpplein aufwarten und euch auch meinen Ludwig zeigen." — Von dieser Geschichte her rührt das Sprüchwort, wenn jemand in einer Gesellschaft aus Vergessenheit oder Unverstand den Hut allein auf dem Kopf behält, daß man ihn fragt: Seid ihr der König oder der Bauer?

62.

Hebel.

Die Zerstörung Magdeburgs.

Diese reiche, blühende und stark befestigte Hansestadt war seit dem Ende des März 1631 Tillys Hauptaugenmerk geworden; aber vergeblich hatte er sechs Wochen lang seine ganze Kriegskunst aufgeboten, sie in seine Gewalt zu bekommen. Zwar ging ihr zuletzt die Munition aus, allein der schwedische Kommandant Falkenberg wusste durch weise Verteilung des kleinen Restes und durch glückliche Ausfälle den Kaiserlichen noch immer vielen Schaden zu thun. Die grösste Hoffnung der Bürger ruhte aber auf Gustav Adolfs Ankunft, und das Vertrauen auf die Nähe dieses Schutz­ geistes machte sie so sicher, dass sie gar nicht glaubten, Tilly werde es etzt noch wagen, etwas gegen sie zu unternehmen. In diesem Glauben

268

VT.

Geschichte.

bestärkte sie Tilly selbst, als er am 19. Mai mit Kanonieren innehalten und am Nachmittage sogar die bisher so tapfer gebrauchten Stücke ab­ führen liess. Sie hielten dies für ein sicheres Zeichen, dass Gustav nahe sei, während es ein Vorbote des Sturmes war, den der General auf den Rat seiner besten Offiziere beschlossen hatte. In grösster Stille wurden dazu die Nacht vorher die Leitern in Bereitschaft gelegt, und den Solda­ ten ward befohlen, sich zu morgen früh um fünf Uhr fertig zu halten. Die Wächter auf der Mauer blieben bis nach Mitternacht auf ihren Posten ; da aber alles still blieb, gingen sie beim Anbruch der Morgendämmerung in ihre Wohnungen, um einige Stunden der Ruhe zu pflegen. Ach, sie wussten nicht, welch ein Erwachen ihnen bereitet war! Endlich schlug die bestimmte Stunde. Die Soldaten standen bereit; aber das Zeichen erfolgte noch nicht. Ungewiss, was er thun sollte, hatte Tilly seinen Kriegsrat noch einmal zusammenberufen; die meisten Stimmen vereinigten sich aber­ mals für das Sturmlaufen, und so ward dann um sieben Uhr den harrenden Kriegern das Zeichen gegeben. Sogleich ward die Mauer von allen Sei­ ten berannt: man setzt die Leitern an, die grössten Stücke werden heran­ gezogen, um irgendwo eine Bresche zu schiessen. Ein wildes Geschrei von vielen tausend Stimmen dringt durch die Luft. Die erschrockenen Bürger überfällt eine Todesangst. Falkenberg, der eben mit einem seit gestern aufgehaltenen kaiserlichen Trompeter auf dem Rathause in Gegen­ wart des Magistrats unterhandelt, eilt schnell auf seinen Posten und findet hier in dem fürchterlichen Kugelregen seinen Tod. Die Besatzung, nun ohne Anführer, denkt bald nicht mehr an die Verteidigung; jeder eilt nach Hause, bringt seine Barschaft beiseite und verbirgt sich, wo er kann. Die Mauer ward erstiegen; um neun Uhr war der Feind in der Stadt. Hier und da wagt es ein Bürger noch, aus dem Fenster zu schiessen; selbst Weiber werfen Ziegeln von den Dächern herab. Aber nun be­ ginnt das eigentliche Trauerspiel. Die Erlaubnis zum Plündern wird gegeben. Die lange verhaltene Tierheit bricht plötzlich los; aus Men­ schen werden gereizte Tiger. Blutdurst und Raubsucht, diese verschie­ denartigen und doch so verschwisterten Begierden, bemächtigen sich der ungebundenen Willkür, und alle Greuel der Unmenschlichkeit werden ohne Scheu und Scham geübt. In der Katharinenkirche fand man 53 Weiber mit abgeschlagenen Köpfen; die Strassen waren mit zuckenden und röcheln­ den Körpern bedeckt, und kein Haus war ohne Blut. Um zehn Uhr kam an mehreren Stellen Feuer aus, welches bald so um sich griff, dass selbst die Plünderer genötigt wurden, sich auf die Wälle zurückzuziehen. Viele, die sich auf den Böden versteckt hatten, verbrannten nun auf die jämmer­ lichste Art. Man sah kleine Kinder auf den Strassen herumlaufen und nach ihren Müttern schreien, und Kroaten, die unmenschlich genug waren, diese unschuldigen Kleinen aufzuspiessen und in die Flammen zu werfen. Einige menschenfreundliche Offiziere brachten Tilly draussen im Lager von diesen Greueln Nachricht und fragten ihn, ob er nicht dem Plündern

VI.

Geschichte.

269

Einhalt thun wolle; er aber antwortete: „Lasset ihnen immer noch eine Stunde Zeit und dann kommt wieder! Der Soldat muss für seine Mühen und Gefahren auch was haben.“ Abends um zehn Uhr legte sich der Brand, nachdem von der ganzen herrlichen Stadt nichts weiter als die Domkirche, das Liebfrauenkloster und eine Reihe entlegener Fiseberhäuser an der Elbe übrig geblieben war. Am folgenden Tage kamen die Sieger abermals in die Stadt, um die Keller zu durchsuchen, und hier fanden sie unermessliche Beute. Auch eine Menge erstickter Leichname ward her­ ausgeworfen. Etwa vierhundert der reichsten Bürger waren von den Offi­ zieren, die sich ansehnliche Lösegelder von ihnen versprachen, in das Lager gerettet worden. Zwei Tage nach dem Brande ward die Domkirche geöffnet, und hier fand man gegen tausend Unglückliche, die von Angst, Hunger und Durst so abgemattet waren, dass sie mehr Leichen als Leben­ digen glichen. Man gab dem Tilly davon Nachricht, und er schenkte ihnen nicht nur das Leben, sondern liess auch Brot unter sie austeilen. Jetzt schien sein Zorn befriedigt zu sein; auch war ja sein Hauptzweck erreicht. Man brauchte viele Tage dazu, um die Strassen insoweit aufzuräumen, dass der General seinen Einzug halten konnte. Am 25. Mai geschah end­ lich Tillys feierlicher Einzug. Nachdem in der Domkirche Messe gehalten, das Tedeum gesungen und um die Stadt herum mit allen Kanonen drei­ mal Victoria geschossen worden war, ritt der Sieger mit seinem Gefolge durch die Hauptstrassen und weidete sich an den furchtbaren Denkmälern seiner Macht. Nicht ohne Selbstzufriedenheit schrieb er darauf in dem nach Wien zu sendenden Bericht, er glaube, dass seit Trojas und Jeru­ salems Zerstörung solch ein Sieg nicht sei gesehen worden. Becker.

63.

Die Schlacht bei Lützen.

Auf den Feldern des Dorfes Breitenfeld bei Leipzig Hatte Gustav Adolf den alten, nie besiegten Tilly in einer blutigen Schlacht geschlagen (1631) und zog nun wie im Triumph durch Thüringen und Franken an den Rhein und

dann nach Bayern. Mit unbeschreiblichem Jubel schlugen die Herzen dem könig­ lichen Sieger entgegen. Tilly, der Bayern beschützen sollte, wagte es nicht mehr, ihm im offenen Felde entgegenzutreten, fand auch bald durch eine Verwundung seinen Tod. Das bayrische Volk zitterte vor der Ankunft des Königs; es hatte seinen Zorn durch grausame Ermordung einzelner Schweden gereizt; aber gnädig

empfing der edle Fürst die Abgesandten, welche ihm die Schlüssel der Stadt München überbrachten. „Mit Recht hätte ich an eurer Stadt das Unglück Magdeburgs rächen können," sagte er, „allein fürchtet nichts; geht in Frieden und seid eurer Güter und eurer Religion wegen unbesorgt!" Bayern war größtenteils in des Königs Gewalt, und Wien zitterte um so mehr, da die Sachsen in Böhmen eingedrungen waren und Prag erobert hatten. In solcher Not blieb dem bedrängten Kaiser Ferdinand nichts übrig, als sich wieder an

Wallenstein zu wenden.

Nach vielen Bitten ließ sich der stolze Mann bewegen,

VI.

270

Geschichte.

aufs neue ein Heer für den Kaiser zu werben, und so stand er Denn nach we­ nigen Monaten mit unumschränkter Gewalt an der Spitze einer bedeutenden Macht, die sich noch täglich durch neue Werbungen vermehrte. Nachdem er lange gezögert hatte, brach er endlich nach Sachsen auf, wo Raub und Mord umd Brand seinen Einzug bezeichnete. Gustav Adolf eilte ihm nach und wurde von

dem Volke als ein rettender Engel empfangen. In Naumburg an der Saale umringte es ihn, drängte sich au ihn und suchte ihm die Füße zu fassen. „Unsere Sachen stehen gut," sagte er, „allein ich fürchte, daß mich Gott wegen der Thor­ heit dieses Volkes strafen werde. Hat es nicht das Ansehen, daß diese Leuste mich recht zu ihrem Abgott machen? Wie leicht könnte der Gott, welcher den Stolzen demütigt, sie und mich selbst empfinden lassen, daß ich nichts als eün schwacher, sterblicher Mensch bin!" Am Abend des 15. November 1632 traf er bei Lützen auf das Wallenstei-

nische Heer, und jeder bereitete sich zur morgenden Schlacht vor. Der König blieb die Nacht in seinem Wagen und gab die nötigen Anordnungen und Be­ fehle. Ein dichter Nebel verhüllte den neuen Morgen und verhinderte, die Stellung der Gegner zu erkennen. Schweigend verharrte die Menge. Im Lager der Schweden erhebt sich Pauken- und Trompetenschall, und die Tausende von Kriegern stimmen ein in das Lied: „Ein' feste Burg ist unser Gott." Jetzt, nach 11 Uhr, blickt die Sonne freundlich durch den Nebel. Der König schwingt sich aufs Pferd und ruft: „Nun wollen wir dran! Das walt' der liebe Gott! Jesu, Jesu, hilf mir heut streiten zu deines Namens Ehre!" Darauf stürmt er mit deu Seinen gegen die Straße, welche von Lützen nach Leipzig führt. Hier

wird er durch ein fürchterliches Feuer aus den Verschanzungen und Gräben em­ pfangen, und viele sinken in den Tod; dennoch setzen die übrigen über den Graben und bringen die Wallensteinschen zum Weichen. Indes stürmt Pappen­ heim mit seinen Reitern herbei, und die Schlacht wird zu einem grausigen Ge­ tümmel. Der König eilt mit einer Reiterschar seinem wankenden rechten Flügel zu Hülfe; von dem Herzoge Franz von Sachsen-Lauenburg und einigen andern

begleitet, sprengt er weit vor, um die Stellung des Feindes zu erspähen; sein kurzes Gesicht läßt ihn aber zu nahe an die Kaiserlichen geraten; er erhält einen

Schuß in den Arm, und indem er sich umweudet, trifft ihn ein zweiter in den Rücken; mit dem Rufe: „Mein Gott, mein Gott!" sinkt er vom Pferde. Die schnaubenden Rosse stürmen über ihn hinweg und zertreten ihn mit ihren Hufen. Das dahersprengeude blutige Pferd bringt den Schweden die Schreckenskunde, und das Gefühl der Rache treibt sie unaufhaltsam vorwärts. Der heldenmütige Herzog Bernhard von Weimar übernimmt die Führung. Die Kaiserlichen wer­ den geworfen.

Mit dem Rufe: „Die Schlacht ist verloren; der Pappenheimer

ist tot; die Schweden kommen über uns!" ergreifen sie die Flucht. Die Schlacht

hatte elf Stunden gedauert, und 9000 Leichen bedeckten den Walplatz. Die Schweden verfolgten wegen der Dunkelheit und Ermüdung den Feind nicht und brachten die Nacht auf dem Schlachtfelde zu. Am folgenden Morgen fanden sie nach

langem Suchen

den nackten und blutigen Leichnam ihres Königs unter

einem Haufen von Toten; er lag, mit elf Wunden bedeckt, von Hufen zertreten

271

Geschichte.

VI.

und bis zur Unkenntlichkeit entstellt, zwischen der Stadt Lützen und dem großen Feldsteine, der seitdem der Schwedenstein heißt und noch heute an jener Stelle zu sehen ist. Sein Leichnam wurde nach Stockholm gebracht. Die goldene Kette und sein blutiges Koller, welches ihm die Kroaten abgenommen hatten, sandte Wallenstein nach Wien zum Kaiser. Dieser rief mit Thränen in den Augen: „Gern hätte ich dem Helden ein längeres Leben und eine fröhliche Rückkehr in sein Königreich gegönnt, wenn nur in Deutschland Frieden geworden wäre!" Ein Weheruf durchzuckte die Protestautischen Länder. Aber das Werk des großen Königs ging nicht verloren. Was er angefangen hatte, haben seine Hel­ den, Bernhard von Weimar, Banner, Torstenson und andere, im Bunde mit

Frankreich vollendet. Wallenstein hat den heldenmütigen König nicht lange über­ lebt. Er geriet in den Berdacht, mit den Schweden gemeinschaftliche Sache machen zu wollen, und da man offene Gewalt gegen den gewaltigen Mann fürch­ tete, so ward der Dolch des Meuchelmörders für ihn geschliffen. Es war am 25. Februar 1634, als die gedungenen Mörder in sein Schlafgemach zu Eger drangen; aus dem Bette springend, will der Feldherr um Hülfe rufen; als er aber sieht, daß keine Rettung möglich ist, entblößt er selbst die Brust und empfängt schweigend den Todesstoß. Seine Güter wurden vom Kaiser eingezogen; sein

Tod blieb ungerächt.

N.ich Henning.

64.

Die Sieger.

Es sitzen zu Wien im Kaisersaal

Die Fürsten und Helden in großer Zahl; Sie haben entsetzet die bange Stadt, Nach der so gelüstet die Heiden hat. Und als nun geendet das reiche Mahl Und freudig geleert der Siegespokal, Spricht einer: „Genug nun mit Sang und Klang! Nun sagt, wer die beste Beute errang!" EinPole entgegnet: „Des Sultans Gold

Hab' ich mir aus seinem Zelte geholt." Ein Lothringer drauf: „Sein stolzes Panier Erkämpft' ich mit blutigem Degen mir." Ein Wiener sodann: „Manch reiches

Entriß

Gewand ich den Flücht'gen mit dieser

Hand." Ein andrer: „Ich wählte in aller Eil' Kamele und Pferde zu meinem Teil." So wußte ein jeder nach seiner Art Zu sagen, was ihm für Beute ward.

Nur einer im Kreise der Sieger saß, Der über die andern das Wort vergaß. „Wie stumm doch, Herr Bischof! Be­ kennet auch ihr! Mich dünkt, ihr errangt das Geringste schier." Herr Kollonitsch, also der Bischof hieß, Entgegnet mit Lächeln: „Eins ist gewiß:

Was ihr auch erlangt durch der Heiden

Flucht, Nach meiner Beute hat keiner gesucht. Und doch ist's das Köstlichste in der That, Was man erobert vom Schlachtfeld hat." Drauf winkt er den Dienern; auf thut

sich das Thor: Da dränget ein Heer sich von Kindern hervor, Von Knaben und Mägdlein,

so zart

und hold, Die Wangen wie Röslein, die Locken

wie Gold. Die sinken aufs Knie vor dem Gottesmann

272

VI.

Geschichte.

Und schmiegen mitWeinen an ihn sich an.

Und will den Verwaisten ein Vater sein.."

„Das ist meine Beute," der Bischof sagt, „Nach derhatnicht einer von euch gefragt.

Und als er zu ihnen gesagt das Wort, Da schwiegen beschämt wohl die andern

Ich fand sie verlassen in Harm und Not, Erwürgt ihre Mütter, die Väter tot. Da führt' ich sie alle nach Wien herein

dort; Was alle sie auch nach Hause gebracht, Nicht glich es der Beute, die er gemacht. Vogl.

63.

Die Schlacht bei Fehrbellin.

Im Dezember 1674, als der große Kurfürst Friedrich Wilhelm mit feinten Truppen im Elsaß gegen Turenne focht, rückten 16 000 Schweden unter demr Feldmarschall Wrangel in die wehrlosen Marken und späterhin auch in Hinterpommern ein, verübten schwere Brandschatzungen, betrugen sich als Herren d«es Landes und lebten in Überfluß und Verschwendung. Nicht einmal die Kirch.en

wurden von ihnen verschont; sie stiegen sogar in die Grüfte hinab und beraubten die Leichen. Diese Frevel erbitterten alles; man stand gegen die Schweden auf, um sich vor ihnen zu retten und, wenn man stark genug war, blutige, aber ge­ rechte Rache an ihnen zu nehmen. In der Altmark scharten sich die Landleutte in großen Haufen zusammen; auf ihren Fahnen von weißer Leinwand mit einem roten Adler, die an schwarzen Stangen flatterten, standen die einfachen, aber treu gemeinten Worte: „Wir sind Bauern von geringem Gut und dienen unserm Kurfürsten mit unserm Blut." Friedrich Wilhelm schrieb seinem Statthalter in der Mark, dem Fürsten Georg von Dessau, man solle so lange in Geduld ver­ harren, bis er mit seiner ganzen Macht zu Hülfe kommen könne. Mit seinen in den fränkischen Winterquartieren wohl verpflegten Brandenburgern brach er zu Anfang des Juni 1675 plötzlich auf, eilte in angestrengten Märschen nach Magde­

burg, ließ hier den größten Teil seiner Truppen zurück und stand mit 6000 Rei­ tern und 1200 Musketieren, welche auf Wagen fortgeschafft worden waren, am 25. Juni vor Rathenow, als man ihn noch tief in Franken glaubte. Schrecklich war die Überraschung der in Rathenow befindlichen Schweden, als sie sich plötz­

lich von allen Seiten angegriffen sahen. Nach einem Kampfe von wenigen Stun­ den war die Stadt genommen, und der Kurfürst eilte weiter, um das feindliche Heer, welches in den Umgebungen von Brandenburg, Pritzerbe und Havelberg stand, vereinzelt zu überfallen. Bei Fehrbellin traf er auf den Generallieutenant Wrangel, einen Stiefbruder des Feldmarschalls. Da die Schweden ihm an Zahl weit überlegen waren, denn die Stärke betrug 11 000 Mann und 38 Geschütze, so widerrieten die meisten Befehlshaber dem Kurfürsten, einen so kriegerischen und sieggewohnten Feind mit bloßer Reiterei anzugreifen. Friedrich Wilhelm wollte dagegen den Vorteil, den ihm die Abwesenheit des kriegserfahrenen Feld­ marschalls Wrangel auf der feindlichen Seite gewährte, nicht fahrenlassen und beschloß die Schlacht. Der Prinz von Heffen-Hemburg führte die brandenbur­ gische Vorhut, 1500 Reiter, und hieb kühn in die Feinde, ehe die übrigen Trup­

pen herankamen.

Endlich erschien der Kurfürst und erkannte trotz eines dichten Nebels bald die vorteilhaftesten Punkte des Schlachtfeldes. Auf einem Sand-

VI.

Geschick) te.

273

Hügel, welcher die Stellung der Schweden beherrschte, ließ er seine ganze Artillerie, nur 13 Geschütze, auffahren, zu deren Deckung die Dragoner-Regimenter Derfflinger und Bomsdorf absaßen und die umliegenden Gebüsche besetzten. Hier wurde der Kampf am heftigsten; denn Wrangel, die Wichtigkeit dieser Anhöhe wohl einsehend, ließ den gegen dieselbe gerichteten Angriff unablässig erneuern. Der Kurfürst befand sich überall, wo die Gefahr am größten war, und feuerte

durch Wort und Beispiel den Mut seiner wackeren Krieger an. Um diese Zeit war es, als der kurfürstliche Stallmeister Froben seinen Herrn beredete, den

Schimmel, den er ritt, mit seinem Pferde von dunklerer Farbe zu vertauschen, aber kurz nach diesem hochherzigen Tausche von einer Kanonenkugel zwei Schritte von seinem hohen Herrn zu Boden gerissen wurde und verschied. Einen Augen­ blick war der Kurfürst im Handgemenge von schwedischen Reitern rings umzingelt, aber neun seiner tapferen Dragoner hieben ihn ans der Mitte der Schweden

heraus. Gegen Mittag wichen die Feinde auf allen Punkten; sie halten 3000 Mann an Toten und Gefangenen verloren und eilten nach Vorpommern zurück, wohin der Feldmarschall Wrangel mit seiner Abteilung schon vorausgegangen war; Friedrich Wilhelm aber verfolgte seinen Vorteil und bemeisterte sich im Herbste des größten Teiles von Vorpommern. Der Sieg bei Fehrbellin ver­ schaffte dem brandenburgischen Namen in ganz Europa Ruhm und Achtung. Nach Becke»'.

66.

Fehrbellin.

Herr Kurfürst Friedich Wilhelm, der große Kriegesheld, Seht, wie er auf dem Schimmel vor den Geschützen hält!

Das war ein rasches Reiten vom Rhein bis an den Rhin, Das war ein heißes Streiten am Tag von Fehrbellin. Wollt ihr, ihr trotzigen Schweden, noch mehr vom deutschen Land? Was tragt ihr in die Marken den würgen Kriegesbrand? Herr Ludwig von der Seine, der hat euch aufgehetzt,

Daß Deutschland von der Peene zum Elsaß werd' zerfetzt. Doch nein, Graf Gustav Wrangel, hier steh' nun einmal still;

Dort kommt Herr Friedrich Wilhelm, der mit dir reden will; Gesellschaft aller Arten bringt er im raschen Ritt Samt Fahnen und Standarten zur Unterhaltung mit. Nun seht ihn auf dem Schimmel, ein Kriegsgott ist er traun! Den Boden dort zum Tanze will er genau beschaun. Und unter seinen Treuen, da reitet hintenan Zuletzt, doch nicht aus Scheuen, Stallmeister Froben an.

Und wie der Wrangel drüben den Schimmel nun erblickt, Ruft er den Kanonieren: „Ihr Kinder, zielt geschickt!

Der auf dem Schimmel sitzet, der große Kurfürst ist's; Nun donnert und nun blitzet; auf wen's geschieht, ihr wißt's." Die donnern und die blitzen und zielen mal nichts Schlecht,

Und um den Herren fallen die Seinen links und rechts; Dalitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb.

5. Ausl.

VI.

274

Geschichte.

Dem Derfflinger, dem alten, fast wird es ihm zu warm,

Er ist kein Freund vom Halten mit dem Gewehr im Arm. Und dicht und immer dichter schlägt in die Heeresreih'n

Dort in des Schimmels Nähe der Kugelregen ein. „Uni Gott, Herr Kurfürst, weichet!" Der Kurfürst hört es nicht; Es schaut sein Blick, der gleiche, dem Feind ins Angesicht.

Der Schimmel möcht' es ahnen, wem dieses Feuer gilt; Er steigt und schäumt im Zügel, er hebt sich scheu und wild, Die Herren alle bangen, doch ihm sagt's keiner an; Wär' doch nicht rückwärts gangen, der fürstlich große Mann. Und doch, der Tod ist nahe und mäht um ihn herum,

Und alles zagt und trauert, und alles bleibet stumm. Die Scheibe ist der Schimmel, das merket jeder nun; Doch helfen mag der Himmel, von uns kann's keiner thun! Da reitet zu dem Fürsten Emanuel Froben her. „Herr Kurfürst, Euer Schimmel, er scheut sich vorm Gewehr; Das Tier zeigt seine Launen, Ihr bringt's nicht ins Gefecht; So nehmt nur meinen Braunen, ich reit's indes zurecht." Der Herr schaut ihm herüber: „Es ist mein Lieblingsroß; Doch das verstehst du besser, so reit' es nur zum Troß." Sie wechseln still, dann sprenget rasch ohne Gruß und Wort, Den Zügel lang verhänget, der edle Froben fort. Und weit von seinem Herren hält er zu Rosse nun, Für wenig Augenblicke scheint das Geschütz zu ruhn; Der Kurfürst selber sinnet, warum es jetzt verstummt,

Und „wacker war's geminnet," der alte Derffling brummt. Doch Plötzlich donnert's wieder gewaltig übers Feld; Doch nur nach einem Punkte ward das Geschütz gestellt.

Hoch auf der Schimmel setzet, Herr Froben sinkt zum Saud, Und Roß und Reiter netzet mit seinem Blut das Land. Die Ritter alle schauen gar ernst und treu darein: O Froben dort am Boden, wie glänzt dein Ruhmesschein! Der Kurfürst ruft nur leise: „Ha, war das so gemeint?" Und dann nach Feldherrn Weise: „Nun vorwärts in den Feind!" Minding.

67.

Feldmarschall Derfflinger.

Der Kurfürst saß beim Mahle,

Und Ehre sich erstritten,

Die Becher freisten froh; Es saß an seiner Seite

Des schönsten Ruhmes wert.

Der Held von Rathenow. Er hatte kühn geschwungen Für seinen Herrn daö Schwert

Und öffnet jedes Herz, Und lauter ward die Freude,

Der Wein, der macht beredter

Und freier ward der Scherz.

VI. Doch mancher Höfling schaute, Gereizt von schnödem Neid,

Scheel nach dem kühnen Helden Und grollt' in Bitterkeit. Ein Herr ans Bayerlande, Wohl sechzehn Ahnen schwer, Sprach zierlich und geschliffen Vom Brandenburger Heer Und fragt, verächtlich lächelnd, Gerötet vom Pokal: „Jst's wahr? Ein Schneider wurde Ein großer General?" Drob freute sich verstohlen Die feige Höstingsschar Und reicht dem fremden Grafen Noch einen Becher dar. Sieh, da erhebt sich plötzlich

Mit Stolz der General

Geschichte.

275

Und schlägt an seinen Degen Und spricht laut dm-ch den Saal: „Ihr Herren, den ihr meinet, Der General bin ich! Der Schneider ist behende, Glaubt mir es sicherlich; Denn hier mit meiner Elle Mess' ick die Kreuz und Quer Jedweden Wicht, auch wenn er Von altem Erze wär'!" Der große Kurfürst läcbelt Mit biedrem Angesicht, Reicht freundlich ibni die Rechte Und spricht voll Zuversicht: „Wohl mir und meinem Volke!

Das schönste Rittertum: 3ft unsern! Vaterlan.de Verdienst und eigner Ruhm!" Pcbinann.

68.

Friedrichs des Großen Jugend..

Auf den ersten König von Preußen, Friedrich L, den Sohn und Nachfolger des großen Kurfürsten, war im Jahre 1713 Friedrich Wilhelm I. gefolgt, ein

Fürst von heftiger Gemütsart, der bei großer Frömmigkeit und Herzensgüte und vielen andern trefflichen Eigenschaften doch ein strenger Regent und ein ebenso strenger Vater war. Auf Kunst und Wissenschaften gab er wenig, desto eifri­ ger aber betrieb er die Verbesserung des Ackerbaues, und feine größte Freude hatte er an seinem Kriegsheer und besonders an dem Grenadier-Regiment, für das er aus allen Gegenden Deutschlands die größten und schönsten Leute mit großen Kosten anwerben ließ. Sein ältester Sohn, der nachmalige König Frie­

drich II., der am 24, Januar 1712 zu Berlin geboren war, zeigle schon in früher Jugend einen ganz anderen Sinn. Dieser haßte den Zwang, mit dem man ihn von seinem achten Jahre an zu militärischen Übungen anhielt, und die

Strenge, mit der damals die Soldaten behandelt wurden, umd waren ihm die Vergnügungen seines Vaters, die Jagd und die lungen, die man das Tabaks-Kollegium nannte; dagegen zeigte Eifer für Kunst und Wissenschaften, und schon als Knabe widmete und dem Flötenspiel alle seine Mußestunden.

ebenso verhaßt Abendunterhal­ er den größten er den Büchern

Die Mißhelligkeiten, die durch

diese Verschiedenheit in den Ansichten und Neigungen zwischen Vater und Sohn entstanden, wurden noch durch viele andere Dinge vermehrt. Der König hielt Sparsamkeit und Ordnung für die vorzüglichsten Tugenden eimes Regenten und hatte den Schmerz, seinen Sohn mehrmals Schulden halber mit Arrest bestrafen zu müssen. Er hielt ferner die Uniform für die einzig passende Kleidung eines Prinzen, und zu seinem Verdruß trug der Kronprinz, wo es heimlich geschehen

Geschi chte.

276

VI.

konnte, französische Kleidung.

Einmal überraschte er seinen Sohn, wie dieffer

eben mit seinem Lehrer, dem berühmten Quanz, die Flöte blies. Zwar gelang es einem Freunde des Prinzen, dem Lieutenant Katt, Flöte und Noten beiseite

zu schaffen und sich mit Quanz in einem Kamine zu verbergen; aber der schöme, goldgestickte Schlafrock wurde von dem erzürnten König gefunden und ins Feuer

geworfen, die Bücher, die sich im Zimmer befanden, wurden dem Buchhändler znrückgeschickt, und der Hofchirurg mußte dem Prinzen die schön frisierten Haure abschneiden. Durch solche Vorfälle wuchs die Spannung zwischen Vater und Sohn dermaßen, daß ersterer daran dachte, den Kronprinzen von der Thronfolge auszuschließen und seinen zweiten Sohn zum Thronerben zu ernennen. Als eudlich Friedrich gegen seine Neigung vermählt werden sollte, faßte er den Entschluß, sich mit zwei Freunden, den Lieutenants v. Keith und v. Katt, durch die Flucht

nach England der väterlichen Gewalt zu entziehen. Der Plan sollte ans einer Reise nach dem Rhein zur Ausführung gebracht werden, wurde aber durch einen Brief, der in die Hände des Königs kam, verraten; sogleich ließ dieser den Kronprinzen verhaften und nach Mittenwalde bringen, wo er als Deserteur ge­ richtet werden sollte. Keith hatte vom Kronprinzen noch zu rechter Zeit einen Zettel mit den Worten: „Retten Sie sich; es ist alles entdeckt!" erhalten und

war glücklich nach England entkommen; Katt aber wurde in Berlin verhaftet, als Deserteur zum Tode verurteilt und vor den Augen des Kronprinzen, den man unterdessen nach Küstrin gebracht hatte, enthauptet. Der Zorn des Königs richtete sich jetzt gegen alle, die mit seinem Sohne in Verbindung gestanden halten; ein Minister erhielt seinen Abschied, viele angesehene Männer wurden vom Hofe verwiesen, die unschuldigen Diener des Kronprinzen kamen ins Zuchthaus, und

selbst die Prinzessin Wilhelmine wurde nur durch eine beherzte Kammerfrau vor den Mißhandlungen ihres Vaters gerettet. Friedrich selbst wurde durch ein Kriegsgericht zum Tode verurteilt, und der König war entschlossen, das Urteil vollstrecken zu lassen; da rief der alte General Buddenbrock: „Wenn Ew. Ma­ jestät Blut wollen, so nehmen Sie meins; das des Kronprinzen bekommen Sie nicht, so lange ich noch reden darf." Ebenso sprach der Fürst von Dessau, und der Kaiser ließ dem Könige durch seinen Gesandten sagen, daß er nicht das Recht

habe, seinen Sohn, der nur auf einem Reichstage gerichtet werden könne, zum Tode zu verurteilen. Als der König erwiderte, daß er über seinen Sohn in Königsberg werde Gericht halten lassen, wo niemand über ihm stehe, sagte der Propst Reinbeck: „Niemand als Gott, und dem werden Ew. Majestät über das

Blut Ihres Sohnes Rechenschaft geben müssen." Bei diesen Worten wurde der König nachdenklich und sprach seitdem nicht mehr von der Todesstrafe.

Friedrich blieb jetzt in Küstrin und wurde anfangs so strenge gehalten, daß nicht einmal Licht in seinem Kerker brennen durfte. Die religiösen Gespräche, die er täglich mit dem Feldprediger Müller hielt, machten einen so lebhaften Ein­ druck auf ihn, daß er in einem Brief an seinen Vater sein Unrecht bekannte und in den demütigsten Ausdrücken um Verzeihung bat. Jetzt versprach ihm der König Begnadigung, wenn er eidlich geloben wolle, sich wegen des Vorgefallenen

nie an irgendeinem Menschen zu rächen und künftig in allen Stücken seinem

VI.

Geschichte.

277

Vater gehorsam zu sein. Nachdem Friedrich diesen Eid in Gegenwart mehrerer Minister und Generale abgelegt hatte, erhielt er Orden und Degen zurück, mußte nun aber noch mehrere Jahre in Küstrin als Kriegsrat arbeiten. Erst im No­

vember 1731 fand bei der Vermählung der Prinzessin Wilhelmine die völlige Versöhnung statt, und da der Kronprinz sich seitdem bemühte, seinem Vater stets mit Ehrerbietung und pünktlichem Gehorsam zu begegnen, so hatte bald aller Groll ein Ende. Auch in Bezug auf seine Vermählung mit der braunschweigischen

Prinzessin Elisabeth Ehristine fügte sich Friedrich dem Willen seines Vaters, ob­ gleich seine Neigung dabei nicht befragt worden war. Ein neues, schöneres Leben begann für den lebhaften Prinzen, als ihm sein Vater im Jahre 1734 das Lust­ schloß Nheinsberg kaufte. Hier konnte er ungestört den wissenschaftlichen Beschäf­ tigungen obliegen, zu denen ihn die lebhafteste Neigung hinzog; hier las er mit Bewunderung die Thaten der Helden aller Zeiten, hier nährte er an den klassi­ schen Werken des Altertunls, die er freilich nur in französischen Übersetzungen kennen lernte, seine Begeisterung für alles Große und Schöne; zugleich versam Hielte er viele geistreiche und gebildete Männer an seinem kleinen Hofe, in deren Gesprächen er die schönste Erholung nach den Stunden der Arbeit fand; hier wechselten Witz und Scherz mit lehrreichem Ernst, und auf wissenschaftliche Ver­ handlungen folgten musikalische Genüsse, bei denen auch Friedrich durch sein meisterhaftes Flötenspiel mitwirkte. Dabei wurde jedoch die Kriegskunst nicht ver­ gessen; vielmehr benutzte der wißbegierige Prinz jede Gelegenheit, um sich durch

Gespräche mit gebildeten Offizieren auch in militärischer Beziehung auszubilden. Der 31. Mai des Jahres 1740, der Todestag Friedrich Wilhelms I., rief den viel geprüften Prinzen in seinem 28. Lebensjahre auf den Thron. Freudig jubelte ihm das Volk entgegen, als er am 8. August die Huldigung empfing; er aber blieb nach Beendigung der Feier noch eine halbe Stunde auf dem Balkon des Schlosses stehen und schaute mit festem und nachdenkendem Blick auf die un­ ermeßliche Volksmenge hinab. Er begann seine Negierung mit einer Umsicht und

Thätigkeit, welche alle in Erstaunen setzte.

Um die durch Mißwachs und Teurung

entstandene Not zu lindern, ließ er seine Magazine öffnen und das Korn zu einem billigen Preise verkaufen. Die schon von seinem Großvater gestiftete Ge­ sellschaft der Wissenschaften, die unter seinem Vater ganz in Verfall geraten war, rief er unter dem Namen einer Akademie der Wissenschaften mit neuem Glanz ins Leben. Er ließ ferner den von seinem Vater verbannten Philosophen Wolf nach Halle zurückkommen und erklärte, daß er in Religionssachen die größte Duldung üben werde.

69.

DieUh.

Die Schlacht bei Roßbach.

Bei Koüin stieß Friedrich wieder mit den Östreichern zusammen; er verlor

aber die Schlacht. Das gab seinen Feinden Mut, und nun wollten alle über ihn siegen. Die Russen drangen raubend und plündernd in Ostpreußen ein und schlugen den preußischen General Lewald bei Großjägerndorf; die Schweden be­

setzten Pommern, die Franzosen zogen, 40 000 Mann stark, durch Westfalen

VI.

278

Geschichte.

nach Sachsen; hier vereinigten sich noch über 20 000 Reichstruppen mit ihnen.

Friedrichs Lage schien verzweiflungsvoll; doch er verlor den Mut nicht. Mit 22 000 Preußen trat er den Franzosen beim Dorfe Roßbach unweit Merseburg entgegen; die Feinde, stolz auf ihre dreifache Übermacht, tafelten, spielten und scherzten. Ihr Anführer, Prinz von Soubise, schrieb nach Paris, nächstens würde der König von Preußen als Gefangener dort eintreffen; dabei war er sehr besorgt, Friedrich möchte ihm entwischen. Der König dachte aber an nichts weniger als

an Flucht. Während die Feinde mit klingendem Spiel und mit wehenden Fahnen zum Angriffe herausrücken, hält er mit seinen Generalen ruhig das Mittagsmahl; die Soldaten im Lager kochen, braten und schmausen ebenfalls ohne Sorgen; die Franzosen halten das für dumpfe Verzweiflung; plötzlich aber erschallt das Kom­ mandowort des Königs; die Zelte verschwinden, die Krieger stehen in Reih' und

Glied, die bedeckten Batterieen beginnen ihr schreckliches Spiel. Wie der Blitz stürzt sich Seydlitz mit der Reiterei auf den Feind; zugleich rückt das Fußvolk im Sturmschritt vor.

Die Franzosen halten nur ein dreimaliges Feuern aus;

Verwirrung und Schrecken fährt in ihre Reihen; eilend wie gescheuchtes Wild suchen sie ihr Heil in wilder Flucht. (Lin paar Dragoner nehmen hundert Fran­ zosen gefangen; manche von den Flüchtigen sehen sich nicht eher um, als bis sie die Fluten des Rheins rauschen hören. Noch nicht anderthalb Stunden hatte die Schlacht gedauert, und den Preußen kostete der fröhliche Sieg nur 91 Tote; ihr Ruhm drang durch ganz Europa. Überall sang man:

Und wenn der große Friedrich kommt Und klopft nur auf die Hosen, So läuft die ganze Reichsarmee,

Panduren und Franzosen.

70. Aus dem Leben Friedrichs des Großen. Friedrich der Große hat noch 23 Jahre nach dem Frieden von Hubertsburg regiert und diese Zeit recht eigentlich dazu angewendet, die Wunden zu heilen, die der siebenjährige Krieg seinem Lande geschlagen. Nach weisen Grundsätzen ord­

nete er den Haushalt des Staates und mit weiser Sparsamkeit auch den eignen Haushalt. Mehr als 24 Millionen Thaler betragen die Geschenke, die er den Provinzen und einzelnen Personen aus feiner Privatkasse gespendet. Jedes nütz­ liche Unternehmen fand bei ihm Unterstützung; aber Anlagen, die er für verderb­ lich hielt, hat er niemals gefördert. Einem Kaufmann in Berlin, der zu einer Arrak- und Rumfabrik Unterstützung begehrte, gab er die Antwort: „Ich werde mich hüten, für solche Dinge Geld zu geben; ich wollte, daß das abscheuliche Zeug nicht in der Welt wäre!" An Tadlern und Verleumdern hat es dem Könige auch

nicht gefehlt, und vor allem verstand es ein Franzose, den er mit Wohlthaten und Gnadenbezeigungen überhäufte, der witzige, aber unwürdige Voltaire, sein Privatleben zu verunglimpfen. Hat er irgendworin gefehlt, so war's, daß er den leichtfertigen Franzosen höher stellte als die gediegensten Männer seines Volkes.

Was er sonst menschlich gefehlt, das hat er im Leben auch gebüßt; darum nichts

VI.

Geschichte.

279

Weiler von seinen Irrtümern und Fehlern, sondern lieber einige Züge, in denen seine liebenswürdigen Seiten hervortreten. Zuerst von seiner Herablassung und Freundlichkeit auch gegen den Geringsten. Einmal, als auf der Reise die Pferde gewechselt wurden, drängte sich ein

Mütterchen dicht an den Wagen des Königs. „Was wollt Ihr?" fragte der König sehr gnädig. „Nur ihr Angesicht sehen und nichts weiter," erwiderte die Alte. Der König nahm einige Friedrichsd'or und sagte: „Seht, liebe Frau, auf diesen Dingern da stehe ich viel besser; da könnt Ihr mich ansehen, so lange Ihr

wollt; jetzt habe ich nicht Zeit, mich länger ansehen zu lassen." — Wenn er in Berlin vom Schlosse aus die Breite Straße hiuunterritt, sammelten sich die Kna­ ben in ganzen Scharen um sein Pferd herum, und wem es gelang, den Steig­ bügel zu fassen, der war für den Tag und die ganze folgende Woche ein glück­ licher Mensch. Er litt es nicht, daß man die Jungen auseinandertrieb, aber die Wache am köllnischeu Rathause hatte schon die Weisung, sie mit guter Manier zurückzuhalten. Als sie es einmal, es war ein Sonnabend Nachmittag, zu arg trieben, hob der König drohend den Stock in die Höhe mit den Worten: „Werdet ihr in die Schule gehen, ihr Jungen!" „Seht doch," sagte darauf ein kecker Bube

zu den andern, „seht nur, oer will König sein und weiß nicht, daß Sonnabend Nachmittag keine Schule ist!" Der König soll herzlich gelacht haben, als mau ihm den Einfall erzählte. — Der König hatte es gern, daß man ihm freimütig antwortete; wenn die Antwort nur treffend war, so nahm er auch ein dreistes Wort nicht übel. Einen Soldaten, der bei Kollin mehrere Hiebe über das Ge­

sicht erhalten hatte, fragte er bei der Musterung: „In welcher Schenke hast du die Bierhiebe erhalten?" „Bei Kollin," war die Antwort, „wo Ew. Majestät die Zeche bezahlt haben." Diese Dreistigkeit durfte aber nicht in Unbescheidenheit ausarten, besonders wenn von ernsten Dingen die Rede war. Ein junger Landrat hatte ihm ge­ meldet, es zeigten sich in seinem Kreise ganze Scharen von Heuschrecken; das wollte der König nicht glauben, und der Landrat schickte zum Beweise eine

Schachtel mit lebendigen Heuschrecken, die beim Offnen der Schachtel lustig im Zimmer des Königs umhersprangen. Der König ließ es zwar gut sein; der

Domänen-Kammer aber schrieb er, sie sollten nicht junge Leute zu Landräten machen, sondern Leute von wenigstens 35 Jahren, erfahrene Offiziere, die schon wüßten, was sich schicke, und wie sie ihrem Könige begegnen müßten. — Ver­

dienstvollen Generalen hielt er schon eher etwas zu gute. Dem General Seydlitz, dessen Reiterei die Schlacht bei Roßbach vornehmlich entschieden hatte, sagte er einst bei der Revue: „Mein lieber Seydlitz, ich dächte, Sein Regiment ritt viel länger in den Bügeln als meine übrige Reiterei." „Jhro Majestät," erwiderte Seydlitz, „das Regiment reitet heute noch so wie bei Roßbach," und der König ver­

mied es, ferner Bemerkungen zu machen, die den General hätten kränken können. Geistesgegenwart und Mut besaß Friedrich, wie wenige Menschen. In der Schlacht bei Kollin führte er selbst einen kleinen Haufen gegen eine östreichische Batterie; die Leute flohen entmutigt, sobald sie in den Bereich der feindlichen Kugeln gekommen waren; Friedrich bemerkte es nicht und ritt in Gedanken immer

VI.

280 weiter.

Geschichte.

„Sire!" rief ihm ein Major zu, „wollen Sie denn die Batterie allein

erobern?"

Da bemerkte Friedrich erst seine mißliche Lage.

Er hielt sein Pferd

an, betrachtete die Batterie durch ein Fernglas und ritt dann langsam zu den Seinigen zurück. — Einmal im Felde machte er einen Ritt gegen das östreichische Lager und kam dabei den feindlichen Borposten zu nahe; da legte ein Pandur das Gewehr aus ihn an, und wenn er abdrückte, so hatte er dem siebenjährigen Kriege vor der Zeit ein Ende gemacht. Der König, der es bemerkte, hob den Stock mit einem drohenden „Du, du!" gegen den Panduren. Dies setzte diesen so in Verwirrung, daß er fein Gewehr senkte und den König ruhig davonreiten ließ. — Nach der Schlacht bei Leutheu ließ er sich fast mit Lebensgefahr nach

Lissa leuchten und ritt in schwacher Begleitung gerade dem dortigen Schlosse zu; das war aber noch voll östreichischer Offiziere. Sie kamen ihm mit brennenden Lichtern entgegen und hätten ihn unmittelbar nach dem schönsten Siege gefangen nehmen können; er aber redete sie unbefangen an mit den Worten: „Guten Abend, meine Herren, Sie haben mich hier wohl nicht vermutet? Kann man denn auch noch mit unterkommen?" Mit diesen Worten ging er furchtlos durch die feindlichen Offiziere hindurch, die nichts als ein Ehrfurchtsvolles „Ah!" er­ widern konnten. Bald darauf kamen mehrere Preußen und nahmen die Östreicher sämtlich gefangen. Gleiche Furchtlosigkeit verlangte er aber auch von seinen Offizieren. Einem seiner Pagen, von Pirch, den er sonst sehr liebte, und der im Vertrauen auf die Gunst seines Königs früher manchen Pagenstreich hatte auslaufen lassen, wurde bei der Belagerung von Schweinitz das Pferd unter dem Leibe erschossen, und er selbst erhielt eine bedeutende Ouetschung. Mit Gebärden des Schmerzes wollte

der Page davoneilen, als der König mit ernster Stimme ihm zurief: „Wo will Er hin? Will Er den Sattel wohl mitnehmen!" Der Page mußte den Sattel

abschnallen und mitnehmeu und durfte sich an die Kugeln nicht kehren, die ihn wie den König umsausten. Die Klagen seiner Unterthanen, besonders der Bauern und überhaupt ber^

jenigen, die Geduld an, untersuchen. Verwaltung

man sehr unpassend „gemeine Leute" nennt, hörte er mit großer prüfte ihre Beschwerden oder ließ sie durch seine Behörden genau Zu vielen Klagen gab die französische Regie Veranlassung, d. i. die der Steuern von Kaffee, Tabak und anderen Waren, wozu der Kö­

nig sich ein ganzes Heer französischer Beamten kommen ließ, weil er meinte, die

Leute verstünden das so recht aus dem Grunde. Das mag nun wohl auch ge­ wesen sein; aber sie verstanden's auch, die Leute unnötig zu placken, und wußten

keinen Unterschied zu machen, ob einer mit Absicht den König um die Steuer betrügen wollte, oder ob er bloß aus Unwissenheit gefehlt hatte. Als der König

einmal ausritt, stand eine ganze Beenge von Leuten mit ihren Bittschriften um­ her und unter diesen auch ein Bauer aus Preußen. Der König sagte ihnen: „Gebt eure Suppliken nur ab; ihr sollt alle Bescheid haben;" den Bauer aber fragte er besonders, was er denn wolle. „Ach, Ew. Majestät," sagte der Bauer, „ich wollte Sie bitten, daß Sie doch die Regie abschaffeu möchten, die bringt uns

alle ums Brot."

„Warum nicht gar? Was hat euch denn die Regie gethan?"

VI.

281

Geschichte.

„Ew. Majestät, sie haben mir Wagen und Pferde genommen, weil ich Contre-

bande gefahren habe, und ich habe doch nichts davon gewußt." werdet es wohl gewußt haben." „Wahr- und wahrhaftig nicht! ihnen auch gesagt; aber die Kerls nehmen keine Vernunft an."

„Alter, Ihr Ich habe es

„Nun hört ein­

mal, das ist nur dummes Zeug, daß ich die Regie abschafsen soll; das versteht Ihr nicht. Aber ich will Eure Sache untersuchen lassen, und wenn's angeht, soll Euch geholfen werden." Der König befahl, dem armen Manne alles herauszu­ geben, und schrieb mit eigner Hand unter die Kabinetts-Ordre: „Man muß den

Kerl bald ruhig machen, sonst will er die Regie abgeschafft wissen; wonach man

sich zu achten hat." Ein besonderer Zug in dem Charakter Friedrichs des Großen war seine strenge Gerechtigkeitsliebe und seine unermüdete Sorgfalt für eine unparteiische Rechtspflege. Auf einer Reise nach Preußen fragte er den Präsidenten der pommerschen Regierung (so nannte man damals die Obergerichte), ob er auch Güter­ habe, und ob er sich nicht ankaufen wolle. Der Präsident erwiderte, daß er aus einer armen Familie sei und von seinem Vater nichts weiter als einen ehrlichen Namen geerbt habe. „Das ist gut," sagte der König, „da weiß Er, wie armen Leuten zu Mute ist; beug' Er das Recht nicht." — Allgemein bekannt ist die Geschichte der Windmühle bei Sanssouci, die noch jetzt als ein Denkmal der Ge­ rechtigkeit des großen Königs in nicht gar weiter Entfernung von dem königlichen Schlosse steht. Der König hätte den Rauui, den jene Windmühle einnahm, gar zu gern in die neuen Gartenanlagen bei Sanssouci hineingezogen; vielleicht war

ihm auch das Geräusch der klappernden Mühle zuwider; so ließ er den Müller zu sich kommen und fragte ihn: „Wie teuer haltet Ihr Eure Mühle? Ich will sie Euch abkaufen." „Ew. Majestät," erwiderte der Müller, „die Mühle ist mir

nicht feil, sie ist ein Erbstück von meinem Vater und Großvater." „Aber," sagte der König, „Ihr seht doch, daß ich die Mühle gern haben will, ich will Euch dreimal so viel geben, als sie wert ist," und damit that er ein Gebot, das einen andern schon gereizt hätte; aber der Müller blieb dabei, die Mühle sei ihm nicht feil, sie sei ein Erbstück vom Vater und Großvater. Da wurde der König doch etwas unwillig und fragte: „Wißt Ihr denn wohl, daß ich Euch die Mühle auch wider Euren Willen nehmen kann? Ich lasse sie taxieren und gebe Euch, was sie wert ist." „Ja," sagte der Müller ganz ruhig, „da müßte es in Berlin kein Kammergericht mehr geben." Der König entließ den Müller, zwar

verstimmt über die Hartnäckigkeit, mit der ihm der Kauf der Mühle verweigert ward, im Herzen aber doch erfreut, daß der Müller zu dem Kammergericht ein

so gutes Vertrauen hatte. Eine besondere Langmut bewies der König gegen die Schmähungen übel­

wollender Menschen; auf Schmähschriften, die gegen ihn erschienen, hat er nie­ mals geachtet, und es ist keiner deshalb jemals bestraft worden. Gegen einen Bürger einer kleinen Stadt war angezeigt worden, daß er auf Gott, den König und den Magistrat des Ortes geschmäht habe; da antwortete der König: „Daß der Mensch Gott schmäht, ist ein Zeichen, daß er ihn nicht kennt; daß er mich

geschmäht hat, das verzeihe ich ihm; daß er aber den hochedlen Magistrat ge-

282

VI.

Geschichte

schimpft hat, dafür soll er auf einen Tag nach Spandau." — Zur Zeit der Kaffee-

Megie ritt er einmal, bloß von einem Heiducken begleitet, die Jägerstraße hinab

und fand an dem sogenannten Fürstenhause einen Auflauf.

„Was giebt es denn?"

fragte er den Heiducken. „Sieh doch, was die Leute dort haben." Es war ein Spottbild auf Friedrich und die Kaffee-Negie. „Laßt das Ding doch niedriger hän­ gen," sagte der König, „die Leute müssen sich ja sonst die Hälse ausrecken."

Ein

lauter Jubel folgte dem König, als er langsam davonritt; die Leute aber rissen das Spottbild herunter und vernichteten cs in gerechtem Unwillen. £. ed)ii Iv

71. Die konfiscierten Batzen. (Erzählung eines thüringischen Kandidaten.)

Als ich zum ersten Mal im Jahre 1766 nach Berlin kam, wurden mir bei Visitierung meiner Sachen auf dem Packhofe 400 Reichsthaler in Nürn­ berger Batzen genommen; der König, sagte mau mir, hätte schon etliche Jahre die Batzen ganz und gar verschlagen lassen; sie sollten in seinem Lande nichts gelten, und ich wäre so kühn und brächte die Batzen hieher in die königliche Residenz. „Auf den Packhof! Contrebande! Contrebande!“ Das war ein schöner Willkommen! Ich entschuldigte mich mit der Unwissenheit, käme aus Thüringen viele Meilen Weges her, hätte mit­ hin ja unmöglich wissen können, was Seine Majestät in dero Ländern ver­ bieten lassen. „Das ist keine Entschuldigung,“ hub der Packhofs-Inspektor an; „wenn man in eine solche Residenz reisen und daselbst verbleiben will, so muss man sich nach allem genau erkundigen und wissen, was für Geld­ sorten im Schwünge gehen, damit man nicht durch Einbringung verrufener Münze Gefahr laufe.“ „Aber was soll ich denn anfangen? Sie nehmen mir ja sogar unschuldig die Gelder weg! Wie und wovon soll ich denn leben?“ „Da muss Er zusehen, und ich will Ihn sogleich bedeuten; wenn die Sachen auf dem Packhofe visitiert worden, so müssen solche von der Stelle geschafft werden.“ Es wurde ein Schiebkärrner herbeigerufen, meine Effekten fortzufahren; dieser brachte mich in die Jüdenstrafse, in den weissen Schwan, warf meine Sachen ab und forderte vier Groschen Lohn; die hatte ich nicht. Der Wirt kam herbei, und als er sah, dass ich ein gemachtes Federbett, einen Koffer voll Wäsche, einen Sack voll Bücher und andere Kleinigkeiten hatte, so bezahlte er den Träger und wies mir eine kleine Stube im Hofe an; da könne ich wohnen; Essen und Trinken wolle er mir geben. Und so lebte ich denn in diesem Gasthofe acht Wochen lang ohne einen blutigen Heller in lauter Furcht und Angst. In dem weissen Schwan spannen Fuhrleute aus und logieren da, und so kam denn öfter ein Advokat dahin und hatte sein Werk mit den Fuhrleuten; mit diesem wurde ich bekannt und klagte ihm meine Fata. Er verpflichtete sich, meine Gelder wieder herbeizuschaffen, und ich versprach ihm für seine Bemühung einen Louisd’or. Den Augenblick musste ich mit ihm fort­ gehen, und so kamen wir in ein grosses Haus; da liess er durch einen Be-

VI.

G c s d) i ch t c.

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dienten sich anmelden, und wir kamen in continenti vor den Minister. Der Advokat trug die Sache vor und sagte unter anderm: „Wahr ist es, dass der König die Batzen ganz und gar hat verschlagen lassen: sie sollen in seinem Lande nicht gelten; aber das weiss der Fremde nicht. Ohnehin extendiert sich das Edikt nicht so weit, dass man den Leuten ihre Batzen wegnehmen soll.“ Hierauf fing der Minister an zu reden: „Monsieur, seid Ihr der Mann, der meines Königs Mandate durchlöchern will ? Ich höre, Ihr habt Lust auf die Hausvogtei? Redet weiter, Ihr sollt zu der Ehre gelangen.“ Was thut mein Advokat? Er submittierte sich und ging zum Tempel hinaus, ich hinter ihm her, und als ich auf die Strasse kam, war er über alle Berge; und so hatte er denn meine Sache ausgemacht bis auf die streitigen Punkte. Endlich wurde mir der Rat gegeben, den König supplirando anzu­ treten, das Memorial aber müsse ganz kurz, gleichwohl aber die contenta darinnen sein. Ich konzipierte eins, mundierte es und ging damit mit dem Aufschluss des Thores, ohne nur einen Pfenn g Geld in der Tasche zu haben, in Gottes Namen nach Potsdam, und da war ich auch so glück­ lich, sogleich den König zum ersten Male zu sehen. Er war auf dem Schlossplatz beim Exerzieren seiner Soldaten. Als dieses vorbei war, ging er in den Garten; vier Offiziere aber blieben auf dein Platze und spazier­ ten auf und nieder. Ich wusste vor Angst nicht, was ich machen sollte, und holte die Papiere aus der Tasche. Das war das Memorial, zwei Testimonia und ein gedruckter thüringischer Pass. Das sahen die Offiziere, kamen gerade auf mich zu und fragten, was ich da für Briefe hätte. Ich kommunizierte solche willig und gern. Da sie gelesen hatten, so sagten sie: „Wir wollen Ihm einen guten Rat geben. Der König ist heute extra gnä­ dig und ganz allein in den Garten gegangen. Gehe Er ihm auf dem Fusse nach; Er wird glücklich sein.“ Das wollte ich nicht, die Ehrfurcht war zu gross; da griffen sie zu. Einer nahm mich beim rechten, der andere beim linken Arm. „Fort, fort in den Garten!“ Als wir nun dahin kamen, so suchten sie den König auf. Er war bei einem Gewächse mit den Gärt­ nern, bückte sich und hatte uns den Rücken zugewendet. Hier musste ich stehen, und die Offiziere fingen an in der Stille zu kommandieren: „Den Hut unter den linken Arm! Den rechten Fuss vor! Die Brust heraus! Den Kopf in die Höhe! Die Briefe aus der Tasche! Mit der rechten Hand hoch gehalten! So steht!“ Sie gingen fort und sahen sich immer um, ob ich auch so würde stehen bleiben. Ich merkte wohl, dass sie beliebten, ihren Spass mit mir zu treiben, stand aber wie eine Mauer- voller Furcht. Die Offiziere waren kaum aus dem Garten hinaus, so richtete sich der König auf und sah die Maschine in ungewöhnlicher Positur dastehen. Er that einen Blick auf mich; es war, als wenn mich die Sonne durchstrahlte; er schickte einen Gärtner, die Briefe abzuholen, und als er solche in die Hände bekam, ging er in einen andern Gang, wo ich ihn nicht sehen konnte. Kurz darauf kam er wieder zurück zu dem Gewächse, hatte die Papiere

284

VI.

Geschichte.

in der linken Hand aufgeschlagen und winkte damit, näher zu kommen. Ich hatte das Herz und ging gerade auf ihn zu. 0 wie allerhuldreichst redete mich der grosse Monarch an: „Lieber Thüringer! Er hat zu Berlin durch fleissiges Informieren der Kinder das Brot gesucht, end sie haben Ihm beim Visitieren der Sachen auf dem Packhof sein .nitgebrachtes Thüringer Brot weggenommen. Wahr ist es, die Batzen sollen in meinem Lande nichts gelten; aber man hätte auf dem Packhofe sagen sollen: Ihr seid ein Fremder und wisset das Verbot nicht. Wohlan, w’r wollen den Beutel mit den Batzen versiegeln; gebt solche wieder zurück nach Thü­ ringen und lasset euch andere Sorten schicken, aber nicht wegnehmen. Gebe Er sich zufrieden, Er soll sein Geld cum Interesse zurückerhalten. Aber, lieber Mann, Berlin ist schon ein heisses Pflaster; sie verschenken da nichts; Er ist ein fremder Mensch; ehe Er bekannt wird und Informa­ tion bekommt, so ist das bisschen Geld verzehrt, was dann?“ Ich verstand die Sprache recht gut; die Ehrfurcht war aber zu gross, als dass ich hätte sagen können: „Ew. Majestät haben die allerhöchste Gnade und versor­ gen mich.“ Weil ich aber so einfältig war und um nichts bat, so wollte er mir auch nichts anbieten. Und so ging er denn von mir weg, war aber kaum sechs bis acht Schritte gegangen, so sah er sich nach mir um und gab ein Zeichen, dass ich mit ihm gehen solle. Der König fragte mich nun, wo ich studiert, und welche Professoren ich gehört habe; auch noch andere Fragen that er an mich, die ich ihm beantworten musste. Jetzt schlug die Glocke eins. „Nun muss ich fort,“ sagte der König, „sie war­ ten auf die Suppe.“ Und da wir aus dem Garten kamen, waren die vier Offiziere noch gegenwärtig und auf dem Schlossplätze; die gingen mit dem Könige ins Schloss hinein, und kam keiner wieder zurück. Ich blieb auf dem Schlossplätze stehen, hatte in 27 Stunden nichts genossen, nicht einen Dreier in der Tasche zu Brote und war in einer vehementen Hitze vier Meilen im Sande gewatet; da war’s wohl eine Kunst, das Heulen zu ver­ beissen. In dieser Bangigkeit meines Herzens kam ein Kammerhusar aus dem Schlosse und fragte: „Wo ist der Mann, der mit meinem Könige in dem Garten gewesen?“ Ich antwortete: „Hier!“ Dieser führte mich ins Schloss, in ein grosses Gemach, wo Pagen, Lakaien und Husaren waren. Der Husar brachte mich an einen kleinen Tisch, der war gedeckt, und stand darauf eine Suppe, ein Gericht Rindfleisch, eine Portion Karpfen mit Gar­ tensalat; Brot, Messer, Gabel, Löffel und Salz war alles da. Der Husar präsentierte mir einen Stuhl und sagte: „Die Speisen, die hier auf dem Tische stehen, hat Ihm der König auftragen lassen und befohlen, Er soll sich satt essen, sich an niemand kehren, und ich soll servieren. Nun also frisch daran!“ Ich war sehr betreten und wusste nicht, was zu thun sei; am wenigsten wollte mir’s in den Sinn, dass des Königs Kammerhusar au :h mich bedienen sollte. Ich nötigte ihn, sich zu mir zu setzen; als er sieh weigerte, that ich, wie er gesagt hatte, und ging frisch daran, nahm den Löffel und fuhr tapfer ein. Der Husar nahm das Fleisch vom Tische und

VI.

Geschichte.

285

setzte es auf die Kohlenpfanne; ebenso kontinuierte er mit Fisch und Braten und schenkte Wein und Bier ein. Ich ass und trank mich recht satt. Den Konfekt, dito einen Teller voll grosser, schwarzer Kirschen und einen Teller voll Birnen packte mein Bedienter ins Papier und steckte mir solche in die Tasche, auf dem Rückwege eine Erfrischung zu haben. Und so stand ich denn von meiner königlichen Tafel auf, dankte Gott und dem Könige von Herzen, dass ich so herrlich gespeiset worden. Der Husar räumte auf. Den Augenblick darauf trat ein Secretarius herein und brachte ein verschlossenes Reskript an den Packhof nebst meinen Testimoniis und dem Passe zurück, zählte auf den Tisch fünf Schwanzdukaten und einen Friedrichsd’or; das schicke mir der König, dass ich wieder nach Berlin kommen könne. Hatte mich nun der Husar ins Schloss hineingeführt, so brachte mich der Secretarius wieder bis vor das Schloss hinaus. Und da hielt ein königlicher Proviant wagen mit sechs Pferden bespannt; zu dem brachte er mich und sagte: „Ihr Leute, der König hat befohlen, ihr sollt diesen Fremden mit nach Berlin fahren, aber kein Trinkgeld von ihm nehmen.“ Ich liess mich durch den Secretarium noch einmal unterthänigst bedanken für alle königliche Gnade, setzte mich auf und fuhr davon. Als wir nach Berlin kamen, ging ich sogleich auf den Packhof ge­ rade in die Expeditionsstube und überreichte das königliche Reskript. Der Oberste erbrach es; bei Lesung desselben verfärbte er sich bald bleich, bald rot, schwieg still und gab es dem zweiten; dieser nahm eine Prise Schupftabak, räusperte und schnäuzte sich, setzte eine Brille auf, las es, schwieg still und gab es weiter; der letzte endlich regte sich, ich sollte näher kommen und eine Quittung schreiben, dass ich für meine 400 Reichs­ thaler Batzen ganz so viel an Brandenburger Münz Sorten ohne den min­ desten Abzug erhalten. Meine Summe wurde mir sogleich richtig zuge­ zählt. Darauf wurde der Schaffner gerufen mit der Ordre, er solle mit mir auf die Jüdenstrasse in den weissen Schwan gehen und bezahlen, was ich schuldig wäre und verzehrt hätte; dazu gaben sie ihm 24 Reichsthaler, und wenn das nicht zureiche, solle er kommen und mehr holen. Das war es, das der König sagte: „Er soll seine Gelder cum Interesse wiederbe­ kommen,“ dass der Packhof meine Schulden bezahlen musste; es waren aber nur 10 Thaler 4 Groschen 6 Pfennig, die ich in acht Wochen ver­ zehrt hatte. So hatte denn die betrübte Historie ihr erwünschtes Ende.

72.

Der Choral von Leuthen.

Gesiegt hat Friedrichs kleine Schar. Rasch über Berg und Thal Bon dannen zog das Kaiserheer im Abendsonnenstrahl! Die Preußen stehn aus Leuthens Feld, das heiß noch von der Schlacht;

Des Tages Schreckenswerke rings umschleiert mild die Nacht. Doch dunkel ift’6 hier unten nur, am Himmel Licht an Licht, Die goldnen Sterne ziehn herauf wie Sand am Meer so dicht;

VI.

286

Geschichte.

Sie strahlen so besonders heut, so festlich hehr ihr Lauf: Es ist, als wollten sagen sie: Ihr Sieger, blicket auf! Und nicht umsonst. Der Preuße sühlt's: es war ein großer Tag. Drum still im ganzen Lager ist's, nicht Jubel, noch Gelag, So still, so ernst die Krieger all', kein Lachen und kein Spott;

Auf einmal tönt es durch die Nacht: Nun danket alle Gott! Der Alte, dem's mit Macht entquoll, singt's fort, doch nicht allein, Kam'raden, Grenadier' umher, gleich stimmen sie mit ein; Die Nachbarn treten zu, es wächst lawinengleich der Chor,

Und voller, immer voller steigt der Lobgesang empor. Aus allen Zelten strömt's, es reiht sich singend Schar an Schar, Einfällen jetzt die Jäger, jetzt fällt ein auch der Husar. Auch Musika will feiern nicht; zu reiner Harmonie Lenkt Horn, Hobo' und Klarinett' die heil'ge Melodie. Und stärker noch und lauter noch, es schwillt der Strom zum Meer, Am Ende wie aus einem Mund singt rings das ganze Heer;

Im Echo donnernd wiederhallt's das aufgeweckte Thal: Wie hundert Orgeln braust hinan zum Himmel der Choral. Lefler.

73.

Zorndorf.

Ist der alte Fritz geritten Weit von Olmütz her in Mähren, Neben ihm der alte Zielen

Fragte, wo die Russen wären. Brauchte gar nicht laug' zu fragen,

Hat das ganze Land geschwommen Nur in Thränen, nur im Blute. Fritz hat selber fast geweinet, Der doch sonst nicht weichlich eben; Und die Reiter ha'n gemeinet:

Roch den Brand auf hundert Meilen, Hülfernfen, Jammer, Klagen:

Hier wird kein Pardon gegeben.

Alter Fritz, du mußt dich eilen! Saht ja selber die Kosaken Jüngster Tage noch im Lande, Auf den Kleppern hohe Packen,

Tote Mütter, nackte Kinder:

Eine wahre Räuberbande!

Ist bei Zorndorf angekommen, Hat er gleich den Feind von vorne

Weil sie da als Freunde kamen, Ließ es eher sich verpassen. Wenn sie manches mit sich nahmen,

Aschenhaufen, Schutt und Leichen,

Auf, die Russen zu erreichen, Nur geschwinder, nur geschwinder! Wie der Herr in seinem Zorne

Und im Rücken vorgenommen.

Vorn mit Sehdlitz-Kürassieren,

Denn sie können's halt nicht lassen. Doch wie Fermor bei Küstrin

Da ward kein Pardon gegeben; Hinten mit den Kanonieren,

Es mit Mord und Brand thät treiben, Dieses ist mir nicht verliehn, Es gehörig zu beschreiben.

Und die ließen auch nicht leben.

Als der alte Fritz gekommen, Tief betrübt in seinem Mute,

Hei, das gab ein Hufestampfen, Hei, das gab ein Kugelschwirren,

Hei, das gab ein Pulverdampfen, Schwerterblitzen, Panzerklirren!

VI.

Geschichte.

Endlich muß das Würgen enden; Was nicht tot ist, ist entlaufen, Dort nur mit gebund'nen Händen Noch ein paar Kosakenhaufen. Heulend, zitternd, wimmernd wühlen

Sie im Staube vor dem Helden; Was der König mochte fühlen,

Mögen andre Sänger melden. Er, so reich an Ehrensiegen, Sieht, der Weise, Große, Milde,

287

Überwundne vor sich liegen

Mehr nach Tier als Gottes Bilde.

Lange blickt er auf die Strolchen, Und dann hörte man ihn sagen:

„Seh' Er, Wedelt, nur mit solchen Lumpenkerln muß ich mich schlagen."

Und dann wandte er die blauen Augen zu den Märker Bauern. „Ich will alles wieder bauen, Kinder, höret auf zu trauern!" Mindi'ng.

74.

Die Schlacht bei Kunersdorf.

Das Jahr 1759 war für Friedrich II. ein unglückliches. Die Franzosen wurden zwar vom Herzoge von Braunschweig bei Minden und Krefeld ge­ schlagen, Friedrich selbst verlor aber eine große Schlacht gegen die Ostreicher und Russen. Diese hatten sich vereinigt und standen, 70 000 Mann stark, bei Kuners­ dorf unweit Frankfurt an der Oder aus fest verschanzten Anhöhen; mit einem viel geringeren Heere wagte Friedrich den Angriff. Zuerst warf er sich aus den linken Flügel der Russen. Furchtbar werden seine Krieger empfangen, reihen­ weise streckt sie das russische Geschütz nieder; dennoch trägt die preußische Tapfer­ keit hier den Sieg davon. Allein noch stand der rechte russische Flügel unerschüttert, und noch waren die Ostreicher gar nicht zum Kampfe gekommen. Friedrich erneuert den Angriff trotz der Gegenvorstellungen seiner Generale, trotz der Müdigkeit seiner Truppen, aber er findet den heftigsten Widerstand, und der Sieg geht in völlige Niederlage, in grauenvolle Flucht über. Der König setzt

sich den größten Gefahren aus; seine Uniform wird von Kugeln durchbohrt, zwei Pferde werden ihm unter dem Leibe erschossen, eine Kugel zerschmettert ihm seine goldene Schnupftabaksdose in der Westentasche; mit Gewalt muß man ihn vom Schlachtfelde reißen. „Alles ist verloren, retten Sie die königliche Familie!"

schrieb er gleich nachher an seinen Minister von Finkeustein; und einige Stunden später: „Ich werde des Vaterlandes Sturz nicht überleben; Gott befohlen auf immer!" Er war auch in der That in einer verzweiflungsvollen Lage; nur 5000

Mann sammelten sich am andern Morgen um seine Fahnen; sämtliches Geschütz war verloren. Doch auch die Feinde hatten schrecklich gelitten, so daß der russische Feldherr sagte: „Wenn ich noch einmal solche Schlacht gewinne, so werde ich mit einem Stabe in der Hand die Siegesnachricht allein nach Petersburg bringen müssen!" ^üttnnqhaus.

75. Die Schlacht bei Torgau. Daun hatte seine ganze Macht zusammeugezogen und sich in ein sehr festes

Lager bei Torgau gelegt; Friedrich II. wollte ihn daraus vertreiben, es mochte kosten, was es wolle.

Am 3. November nachmittags griff er mit seinen Grena-

288

VI.

Geschichte.

feieren feie furchtbaren Verschanzungen an, währenfe Zielen feen Feinfe umging, um ihm in feen Rücken zu fallen. Furchtbar werden feie Preußen von feen Östrei­

chern empfangen; reihenweise, wie sie Vordringen, werden sie niedergeschmettert und liegen noch im Tode geordnet. Der König selbst gesteht, daß er ein so ent­ setzliches Krachen nie erlebt habe; er hält mitten int grausen Getümmel, im dich­ testen Kugelregen; von der aufgewühlten Erde ist sein Pferd in steter Bewegung. Jetzt schlägt eine Kanonenkugel dicht bei ihm durch die Trommel eines Tambours; das Pferd eines Trompeters wird scheu und geht mit ihm durch. „Sag' den Östreichern," ruft Friedrich ihm lachend nach, „sie sollen bald anfhören zu schie­

ßen, sonst nehme ich ihnen die Kanonen weg." Der kurze Novembertag ist zu Ende; er hat nichts entschieden; die rabenschwarze Nacht bricht herein; aber sie bringt keinen Frieden. Hier irrt ein Trupp Östreicher umher; sie geraten den

Preußen in feie Hände und werden gefangen; dort geht es einer Abteilung Preu­

ßen nicht besser; Freunde schießen auf Freunde, bis sie

endlich sogar in feer

Dunkelheit einander erkennen.

Jetzt brennen zahlreiche Feuer in dem Torgauer Walde; Freund und Feind folgt dem lockenden Scheine, um der empfindlichen Kälte bei dem wärmenden Feuer zu entgehen. Niemand denkt daran, den andern zu vertreiben; die gemeinschaftliche Not macht sie alle einig.

Da niemand weiß,

wer die Schlacht gewonnen hat, so kommen sie mit einander überein, sich am

Morgen dem Sieger zu übergeben. Schrecklich war der Zustand der Verwundeten; die Nässe dringt ihnen durch feie Kleider, und feer Frost schüttelt ihnen feie zer­ schmetterten Glieder; Unmenschen aus der Umgegend erscheinen, um das Elend der Unglücklichen noch zu vermehren; gierigen Raubtieren gleich durchsuchen sie das

Schlachtfeld nach Beute.

Da hilft kein Angstgeschrei, kein Stöhnen, kein Flehen

um Erbarmen; die hülflosen Unglücklichen werden ihres letzten Kleidungsstückes beraubt und sinken vor Kälte dem Tode in den Arm Während der Nacht sitzt

der König auf den Stufen des Altars in der Kirche des Dorfes Elsnig; der

Kern seiner Truppen liegt auf dem Schlachtfelde, die meisten Anführer sind ge­ fallen; sein Herz ist vor Kummer gebeugt. Als endlich der Morgen graut, be­ steigt er das Pferd und reitet zum Dorfe hinaus; da taucht eine Anzahl Reiter

in weißen Mänteln aus den grauen Nebeln auf und kommt ihm entgegen; es ist Zielen mit seinen Husaren; er sprengt auf den König zu.

„Ew. Majestät, der

Feind ist geschlagen!" In demselben Augenblicke stürzen beide vom Pferde, und der König liegt in Zielens Armen; der graue Feldherr, seiner Gefühle nicht mehr

mächtig, weint wie ein Kind laut auf und kann kein Wort weiter hervorbringen.

Als er sich endlich wieder gefaßt, sprengt er zu den Kriegern zurück und ruft: „Burschen, der Feind ist völlig geschlagen. Es lebe unser großer König!" Und alle stimmen jubelnd ein: „Es lebe unser großer König! Aber unser Vater Zielen, unser Husarenkönig,

auch!"

Diese furchtbare

Schlacht, nächst Zorndorf die

blutigste des ganzen Krieges, war auch zugleich feie letzte; noch zwei Jahre schleppte sich der Krieg zwar hin, brachte aber, wenn auch noch viel Leiden, doch keine

große Thaten mehr. Endlich machte im Jahre 1763 der Hubertsburger Friede feen Drangsalen fees siebenjährigen Blutvergießens ein Enfee; Friedrich behielt,

was er verlangte, Schlesien.

Nach Henning.

VI.

76.

Geschichte.

289

Der alte Zielen.

Joachim Hans von Zieten, Husaren-General,

Der Friede war geschlossen. Doch Kriegeslust und Qual

Dem Feind die Stirne bieten That' er wohl hundertmal. Sie haben's all' erfahren, Wie er die Pelze wusch

Ward von den Durchlebt noch Wie Marschall Und Fritz und

Mit seinen Leibhusaren, Der Zieten aus dem Busch.

Es ward jetzt durchgeplaudert Bei Tisch in Sanssouci. Einst möcht' es ihm nicht schmecken,

Hei! wie den Feind sie bleuten Bei Lowositz und Prag, Bei Roßbach und bei Leuthen Und weiter Schlag auf Schlag! Bei Torgau, Tag der Ehre! Ritt selbst der Fritz nach Haus; Doch Zieten sprach: „Ich kehre Erst noch das Schlachtfeld aus!" Sie stritten nie alleine, Der Zieten und der Fritz; Der Donner war der eine, Der andre war der Blitz. Es wies sich keiner träge,

Drum schlug's auch immer ein; Ob kalt', ob warme Schläge,

Schlachtgenossen manches Mal. Daun gezaudert Zieten nie,

Der alte Zieten schlief; Ein Höfling wollt' ihn wecken, Der König aber rief: „Laßt schlafen mir den Alten!

Er hat in mancher Nacht Für uns sich brav gehalten; Der hat genug gewacht." Und als die Zeit erfüllet Des alten Helden war, Lag einst,, schlicht eingehüllet, Hans Zieten, der Husar. Wie selber er genommen Die Feinde stets im Husch, So war der Tod gekommen, Ein Zieten aus dem Busch.

Sie pflegten gut zu sein.

Fontane.

77. Zieten. Der große König wollte gern sehn, Was seine Gen'rale wüßten; Da ließ er an alle Briefe ergehn. Daß sie gleich ihm schreiben müßten,

Was jeder von ihnen zu thun gedenkt, Wenn der Feind ihn so oder so be­

drängt. Der Vater Zieten, der alte Husar,

Da macht er auf einem Bogen Papier Einen großen Klecks in der Mitten,

Rechts, oben, links, unten, dann Linien

vier, Die all' in dem Kleckse sich schnitten Und jede endete auch in 'nem Klecks. So schickt er den Bogen dem alten Rex. Der schüttelt den Kopf gedankenvoll,

Besah verwundert den Zettel. „Der König hält mich zum Narren wohl

Fragt bei der Revue dann den Alten: „Zum Schwerenot, Zieten, ist Er toll?

gar," So flucht er, „was soll mir der Beitel?

Was soll ich vom Wische da halten?"

Husar, das bin ich, potz Element! Kein Schreiber oder verpfuschter Stu­

bald erklärt, Wenn Eu'r Majestät mir Gehör ge­

währt.

dent." Dielitz n. Heinrichs, deutsch. Lcseb.

Den Bart streicht sich Zielen: „Das ist

5. Aufl.

VI.

290

Geschichte.

Der große Klecks in der Mitte bin ich,

Der Feind dort einer von den vieren; Der kann nun von vorn oder hinten auf mich, Von rechts oder links auch marschieren; Dann rück' ich auf einem der Striche vor Und hau' ihn, wo ich ihn treffe, aufs Ohr."

Da hat der König laut aufgelacht Und bei sich selber gemeinet: Der Zieten ist klüger, als ich es gedacht, Sein Geschmier sagt mehr, als es

scheinet. Das ist mir der beste Reiters mann, Der den Feind schlägt, wo er auch rückt an. Söller.

78.

Gerechtigkeitöliebe Josephs II.

Einst herrschte in Böhmen große Teuerung, so daß viele Einwohner d em bittersten Mangel ausgesetzt waren und nicht Brot genug hatten, um ihren Hiunger zu stillen; aber Joseph 11., der edle Menschenfreund, ließ Korn und andere Lebensmittel in großen Massen nach jenem Lande schaffen, reiste auch selbst dahin ab, um zu sehen, ob wohl die Verteilung so geschähe, wie er sie angeordnet hatte. Ohne sich kenntlich zu machen, kam er in eine kleine Stadt. Hier standen mehrere mit Getreide beladene Wagen und Karren vor der Thür ebnes Amtshauses; die Bauern aber, denen die Wagen gehörten, standen dicht beisam­

Joseph nach der Ursache erkun­ sehr lange und haben noch einen ist die Wahrheit," setzte der an­ warten noch die Einwohner des Orts schon seit mehreren Stunden vergeblich auf die Verteilung des Getreides." Der Kaiser, welcher mit einem einfachen Oberrock bekleidet war, trat nun in das Haus und ließ sich durch den Amtsschreiber bei dem Amtmanne, welcher eben men und sprachen heftig miteinander. Als sich digte, antworteten die Leute: „Wir warten schon Rückweg von acht Stunden zu machen." „Das wesende Amisschreiber hinzu, „und außer ihnen

große Gesellschaft hatte, melden. „Wer sind Sie?" fragte der Amtmann. „Offizier in kaiserlichen Diensten," war die Antwort. „Womit kann ich dienen?" „Damit, daß Sie die armen Leute

unten abfertigen, die schon so lange warten." „Die Bauern können noch länger warten; ich werde mich durch sie nicht in meinem Vergnügen stören lassen." „Aber

die Leute haben noch einen weiten Weg zu machen und schon lange genug ge­ „Was gehen Sie die Bauern an?" „Man muß menschlich sein und die Bauern nicht ohne Not plagen." „Ihre Sittenlehre ist hier am unrechten

wartet."

Orte; ich weiß, was ich zu thun habe." Länger ertrug der Kaiser die Grobheit und Hartherzigkeit des Beamten nicht. „Nun, so muß ich Ihnen eröffnen," sagte er, „daß Sie das Korn und die Aus­

teilung desselben gar nichts mehr angeht. Hören Sie, lieber Freund," fuhr er fort, indem er sich zu dem Amtsschreiber wendete, „fertigen Sie die Leute ab. Sie sind von jetzt ab Amtmann, und Sie" (hier kehrte er sich wieder zu dem Amtmann) „erkennen Sie in mir Ihren Kaiser, der Sie hiermit Ihres Amtes entsetzt." Damit entfernte sich Joseph und überließ den hartherzigen Beamten dem Gefühl seiner Schmach und seines selbstverschuldeten Unglücks.

itrub?.

VI.

79.

Geschichte.

291

Ein gutes Rezept.

In Wien der Kaiser Joseph war ein weiser und wohlthätiger Monarch, wie

jedermann weiß; aber nicht alle Leute wissen, wie er einmal der Doktor gewesen ist und eine arme Frau kuriert hat. Eine arme, kranke Frau sagte zu ihrem Büblein: „Kind, holl mir einen Doktor, sonst kann ich's nimmer aushalten vor Schmerzen."

Das Büblein lief zum ersten Doktor und zum zweiten, aber keiner

wollte kommen; denn in Wien kostet ein Gang zu einem Patienten einen Gul­ den, und der arme Knabe hatte nichts als Thränen, die wohl im Himmel für

gute Münze gelten, aber nicht bei allen Leuten auf der Erde. Als er aber zum dritten Doktor auf dem Wege war, fuhr langsam der Kaiser in einer offenen Kutsche an ihm vorbei. Der Knabe hielt ihn wohl für einen reichen Herrn, ob er gleick nicht wußte, daß es der Kaiser war, und dachte: Ich will's probieren. „Gnädiger Herr," sagte er, „wolltet Ihr mir nicht einen Gulden schenken? Seid so barmherzig!" Der Kaiser dachte: Der faßt's kurz und denkt, wenn ich den Gul­ den auf einmal bekomme, so brauch' ich nicht sechzigmal um den Kreuzer zu bet­ teln. „Thut's ein Käsperlein oder zwei Vierundzwanziger nicht auch?" fragt ihn der Kaiser. Das Büblein sagte: „Nein," und offenbarte ihm, wozu er das Geld benötigt sei. Also gab ihm der Kaiser den Gulden und ließ sich genau von ihm beschreiben, wie seine Mutter heißt, und wo sie wohnt, mit) während das Büblein zum dritten Doktor springt, und die kranke Frau betet daheim, der liebe Gott wolle sie doch nicht verlassen, fährt der Kaiser zu ihrer Wohnung und verhüllt sich ein wenig in seinen Mantel, also daß man ihn nicht recht erkennen konnte, wer ihn nicht expreß darum ansah. Als er aber zu der kranken Frau in ihr

Stüblein kam, und sah recht leer und betrübt darin aus, meint sie, es ist der Doktor, und erzählt ihm ihren Umstand, und wie sie noch so arm dabei sei und sich nicht pflegen könne. Der Kaiser sagte: „Ich will euch jetzt ein Rezept ver­

schreiben," und sie sagte ihm, wo des Bübleins Schreibzeug ist. Also schrieb er das Rezept und belehrte die Frau, in welche Apotheke sie es schicken müsse, wenn das Kind heimkommt, und legte es auf den Tisch. Als er aber kaum eine Mi­

nute fort war, kam der rechte Doktor auch. Die Frau verwunderte sich nicht wenig, als sie hörte, er sei auch der Doktor, und entschuldigte sich, es sei schon so einer dagewesen und hab' ihr etwas verordnet, und sie habe nur auf ihr Büb­

lein gewartet. Als aber der Doktor das Rezept in die Hand nahm und sehen wollte, wer bei ihr gewesen sei, und was für einen Trank oder Pillelein er ihr verordnet hat, erstaunte er auch nicht wenig und sagte zu ihr: „Frau, Ihr seid

einem guten Arzt in die Hände gefallen, denn er hat euch fünfundzwanzig Du­ blonen verordnet, beim Zahlamt zu erheben, und unten dran steht Joseph, wenn Ihr ihn kennt. Ein solches Magenpflaster und Herzsalbe und Augentrost hätte ich Euch nicht verschaffen können." Da that die Frau einen Blick gegen den Himmel und konnte nichts sagen vor Dankbarkeit und Rührung, und das Geld wurde hernach richtig und ohne Anstand von dem Zahlamt ausbezahlt, und der Doktor verordnete ihr eine Mixtur, und durch die gute Arznei und durch die

19*

292

VI.

Geschichte.

gute Pflege, die sie sich jetzt verschaffen konnte, stand sie in wenig Tagen wieder

auf gesunden Beinen. Kaiser die arme.

Also hat der Doktor die kranke Frau kuriert und der Hebei.

80. Der Star. Wer in Bayern gewesen ist, als Max Joseph das Land regierte, oder wer noch jetzt dahin kommt, der wird von diesem Könige vieles vernehmen, woran er

sich freuen kann. Er war aber auch recht die Freude und der Hort seiner Unter­ thanen, und sie liebten ihn, wie Kinder ihren Vater lieben. Auch war er jedem zugänglich, und wer mit Thränen des Kummers bei ihm eintrat, der kam mit

Thränen der Dankbarkeit von ihm heraus; denn auch wo er mit Thaten nicht helfen konnte, half er mit tröstenden Worten, die von dem Munde eines Königs

noch besser zu Herzen gehen als von andern. Früh schon und eh' er hoffen konnte, irgend etwas zu regieren, galt er für den besten Mann im Lande und

gewann die Herzen aller, die ihm nahe kamen. Was aber gar oft geschieht, daß, wenn Stand, Macht und Reichtum wächst, das Herz sich zusammenzieht, und wenn der äußere Mensch sich erhebt, der innere niedersinkt, das widerfuhr dem guten Max Joseph nicht; sein Herz blieb, wie es gewesen war, ehe die Krone sein Haupt schmückte, und der Strom menschlicher Gefühle ergoß sich bei ihm noch reicher als zuvor unter dem königlichen Purpurmantel. Daher war die Be­ stürzung des Volkes so groß, die Trauer so allgemein, als der König unerwartet

eines Morgens in seinem Bette tot gefunden wurde. Einige Zeit nach seinem Tode wurde nebst vielen andern Dingen auch die Menagerie verkauft, die er in Nymphenburg gehalten hatte; viele seltene Tiere

mannigfaltiger Art, auch überseeische Loris, Papageien und deutsche Stare; von den letzteren war nur einer noch übrig, der letzte und von unscheinbarem Äußern; still und mit struppigem Gefieder saß er auf der Stange, als ob er sich noch

über den Tod seines Herrn betrübte. Da nun der alte Vogel unter den Ham­ mer kam, bot niemand auf ihn, und nachdem ihn der Ausrufer drei- oder vier­ mal angeboten hatte und alles schwieg, wurde der Käfig mit dem Stare in eine Ecke beiseite gesetzt und andere Dinge ausgerufen. Auf einmal schallt es aus der Ecke: „Max Joseph! Vater Max!" Alle Köpfe wendeten sich nun nach der Seite hin, woher der Ruf kam.

„Wer ist's? Wer ruft?" fragten viele, und

da einer, der dem Käfig zunächst stand, sagte:

„Es ist der Star, der weggesetzt

worden ist," da riefen alle wie aus einem Munde: „Den Star, den Star her!" So kam der unscheinbare Vogel mit einem Male zu Ehren, weil es eben jedem vorkam, als habe die treue Liebe, die er selbst im Herzen hegte, durch den Vogel eine Stimme bekommen. Der Star selbst aber, da alles um ihn her so lebendig wurde und alle Anwesenden ihn liebkosten und lobten, wurde nun auch ganz munter und rief in einem fort: „Max Joseph! Vater Max!" nicht, wie man zu

sagen pflegt, als ob er dafür bezahlt würde, sondern so recht aus vollem Herzen. Da wollte nun jeder den beredt gewordenen Vogel haben, und die Gebote jagten und überstiegen sich, so daß wohl nie ein Star so teuer bezahlt worden ist.

Und

VI.

Geschichte.

293

der, welcher ihn endlich erhielt, meinte, einen Sieg gewonnen zu haben, und trug ihn im Triumphe nach Hause, und die andern beneideten ihn. Das war denn auch eine Leichenfeier von eigentümlicher Art und gewiß keine der schlechtesten. Jacobs.

81.

Der Preuße in Lissabon.

Ein Bürgersmann von echtem Schrot mnd Korn, Der tapfer noch im vor'gen Krieg, als Kolberg Belagert ward, ein Gr>eis, gestritten hat Und jetzt begraben liegt im kühlen Sande, Der alte, wohlbekannte Nettelbeck, War einst als eines Schiffes Kapitän In Lissabon und in bedrängter Lage. Er wußte keine Ladung für sein Schiff Und sah bekümmert in die Zukunft wohl Und dachte trauernd an die lieben Seinen

Im fernen Preußenland. Geladen nun Zu einem Schmaus bei einem Portugie­ sen, Den kaum er kennt dem Namen nach, geht still Und düstren Sinns er seinen Weg. Am Markt Erblickt er plötzlich, und er glaubt zu

träumen. Traut seinen Augen nicht, den perlenden, Und faßt sich bebend vor Erstaunen an, Erblickt er plötzlich groß vor einem Zelt In voller Pracht zwei preußische Sol­

daten. Zwei Grenadiere waren^s, wie sie damals

Gekleidet gingen, majestätisch, steif; Der Zopf nicht fehlte; wie in Erz ge­

gossen, So standen sie vor jenem Zelte da,

Und auf dem Zelte weht die preußische

Flagge. Er denkt bei sich: Die mußt du rasch begrüßen, Tritt auf sie zu, reicht ihnen froh die Hand

Und sieht, daß es Wachspuppen sind, dock­ schön gebildet.

„Ha!" ruft er aus, „wo solch ein Aus­ hängschild Gewählt ist worden, muß auch mehr noch stecken, Was eines Preußen Herz erlaben kann!" Und zahlt sein Eintrittsgeld und tritt hinein. Und tritt hinein und sieht, o welch' Ent­ zücken! Es war im Jahre siebzehnhundertachtzig, Und sieht auf einem Thron den alten Fritz, Zum Sprechen ähnlich. Und die Sieges­

göttin Und die Gerechtigkeit umschweben ihn.

Ringsum geschart stehn viele Portugiesen Und horchen staunend mit bewegtemAntlitz Den Thaten jenes göttlichen Monarchen, Die ein begeisterter Rhapsode singt.

Gar tief ergriffen scheint der Kreis:

ganze

Da fasset unsern Nettelbeck der Sturm; Ihm pocht das Herz, so drückt er selbst

sich aus, Und hämmert ihm gewaltig in der Brust.

Da stürzt er vor und sinkt dem Bild zu Füßen; Gebrochne Stimme, Auge voll von Thrä­ nen, Gefaltne Hände, liegt er auf dem Boden Und jauchzet auf: „Ja, preiset, preiset ihn, Er ist mein König, ich bin auch ein

Preuße!" Und Jubel tönt durchs Zelt, und jeder drängt Sich näher hin, den Preußen anzuschaun,

Drückt ihm die Hand, beneidet ihm den König. Doch Nettelbeck geht stolz zum Zelthinaus,

294

VI.

Geschichte.

Umdrängt vom Volk, läßt seine Augen leuchten, Arm, wie er ist, im tiefsten Herzen reich,

Und murmelt nur:

„Ja, ich bin auch ein Preuße!"

Und ich gab mein Wortt als Preuße, Keinen Tropfen trink' ickch drüber!" Als nun all' die durst'geen Seelen Schnarchend unterm Tissche liegen,

Will sich Nettelbeck empfehlen; Und es spricht der Wirtt: „Du, bleilbe!

So bewegt in tiefster Seele

Prüfen wollt' ich meine

Kommt er zu dem großen Schmause; Kapitäne vieler Schiffe Trifft er in dem reichen Hause. Alle sind sie eingeladen Zu dem wunderlichen Feste, Und der Wirt bewirtet köstlich Alle seine fremden Gäste. Starke Weine fließen strömend, Heiß wird allen zugetrunken; So ist einer nach dem andern Selig untern Tisch gesunken.

Du nur, Preuße, hast bbestanden; Rüste du dein Schiff ncoch heute! Solche Männer, fest unad tüchtig,

Nur der Neltelbeck steht sicher, Hat sich's heilig vorgenommen. Seine Sinne zu erhalten, Und kein Glas mehr angenommen;

Sagt nur, ob man ihn bestürme, Ihn ein schwächlich Männlein heiße: „Nein, ich habe zur Genüge,

82.

Leute,

Können mir Vertraun cerwecken; Du bekommst die reichst-te Ladung." Und so wurde Nettelbescken Mitten in der Armut Weh Eine volle Ladung Theee Und ein Frachtgebot vovn dreißig-,

Sage dreißigtausend Thyaler. Jener war ein prompterr Zahler; Und der Kapitän lud flileißig, Stach bei Hellem Sonnenschein In die blaue See Hinei in; Aber eh' er fortgezogeu,l, Hat er, wer verdenkt ihhm das? Noch einmal das Zelt l besucht, Wo der alte Fritze saß.. H»ih.

Aus Napoleons Soldatenleben.

Bei der letzten Heerschau, die der Kaiser zu Ende des Januaar 1814 abhielt, ließ er seinen Blick über die Schar der Tapfern streifen, deren viele nicht ahnten,

daß sie heute ihren Kaiser zum letzten Male sahen. Es fällt ihrm ein alter Sol­ dat auf, der keine andern Abzeichen trägt als die eines Sergeantten, ein Gesicht, das die Sonne in zwanzig Feldzügen zu Erz gebräunt hatte, unter buschigen Augenbrauen zwei große, rollende und blitzende Augen, das kriegerische Antlitz zur Hälfte von einem ungeheuren Schnurrbarte bedeckt. Der Ktaiser winkt ihm vorzutreten und heranzukommen; bei diesem Winke wird das eeiferne Herz des Tapfern, der in seinem Leben nie gezagt, von einer Bewegung lergriffen, die er nicht bemeistern kann, und Röte flammt über sein Gesicht. „Disch hab' ich schon

irgendwo gesehen," redete ihn Napoleon teilnehmend au, „es ist - aber schon lange

her. Wie heißest du?" „Noel, Ew. Majestät." „Noel? DesZ Namens kenne ich mehrere; woher bist du?" „Ein Pariser Kind." „Ah, nun iweiß ich, du bist mit mir in Italien gewesen,

nicht wahr?"

„Ja, Sire, ich war- auf der Brücke

bei Arcole." „Richtig, richtig, ich erkenne dich wieder; du bi ist Sergeant ge­ worden, nicht wahr?" „Sergeant bei Marengo." „Und feitbenu?" „Seitdem,"

VI.

Geschichte.

295

wiederholte No-ill und ließ den Kopf traurig sinken, „seitdem, Sire, weiter nichts." „Warum hast du nicht zur Garde gehen wollen?" „O, ich wollte wohl, es war­ mem einziger Wunsch; ich habe bei Austerlitz, bei Wagram, in allen großen

Schlachten mitcgekämpft."

„Das wundert mich von dir nicht; hast du auf den

Listen der Ehrenlegion gestanden?" „Jahr für Jahr, Sire." „Nun, darüber müssen wir sorgleich aufs reine kommen. Geh wieder auf deinen Platz!" Der Kaiser wendete' sich an den Obersten des Regiments; sie sprechen fünf Minuten lang leise mit (einander; von Zeit zu Zeit werfen sie einen Blick auf Noel; man sieht offenbar, daß von ihm die Rede ist. Der Kaiser erfährt die Wahrheit; Noel ist einer von den unschätzbaren, tapfern, besonnenen und pflichtgetreueu Soldaten, die nie den Gehorsam, den Anstand, die Disciplin gebrochen, ein Soldat nach dies Kaisers Herz und Sinn; bei jeder Gelegenheit hat er sich aus­ gezeichnet, aberr aus Bescheidenheit, aus Mangel an Selbstvertrauen nicht ge­ wagt, die Beförderung, die ihm längst gebührte, zu verlangen; es ist seinen Oberen zur Gewohnheit geworden, ihn zu vergessen. Napoleon erkennt, daß hier eiiic große Ungerechtigkeit begangen worden ist; er nimmt sich vor, sie vollständig,

glänzend wiedew gutzumachen. Er ruft den Sergeanten wieder vor. „Nimm das Kreuz, Freeund Noöl!" spricht er zu ihm. „Du hast es längst verdient, du

bist immer ein tapferer Soldat gewesen." Mit diesen Worten nimmt der Kaiser sein eigenes Kneuz von der Brust und heftet es an die Uniform des alten Sol­ daten; auf ein Zeichen, das der Oberst mit dem Degen giebt, schlagen die Tam­ bours einen Wirbel; die ganze Kolonne steht in tiefem erwartungsvollen Schwei­

gen. Der Olverst führt den neu ernannten Ritter der Ehrenlegion vor die Front des Regiments und ruft mit lauttönender Stimme: „Im Namen des Kaisers! Ich 'verkünde euch: der Sergeant Noel ist zum Unterlieutenant in eurem Regimemt ernannt." Die ganze Front präsentiert das Gewehr; die Trompeter blassen eine Fanfare; Noel weiß nicht, wie ihm geschieht, es ist ihm wie ein Trauun. Sein Auge sucht den Kaiser, es drängt ihn, hervorzustürzen und sich ihm zm Füßen zu werfen; aber Napoleons Antlitz ist ruhig, unbewegt,

nicht wie das ediieg Fürsten, der Gnade erweist, sondern wie das eines Richters, der Gerechtigkeit vollzieht. Aufs neue winkt der Kaiser dem Obersten; dieser

schwingt den Degen über dem Haupte, die Trommeln wirbeln abermals, und als sie schweigen, (erhebt er seine Stimme: „Im Namen des Kaisers! Ich mache euch bekannt: wer Unterlieutenant Noel ist zum Lieutenant in eurem Regiment ernannt." Dms war dem alten Pariser Kinde wie ein Donnerschlag, seine Kniee wankten, seine Augen, die im Leben nicht geweint, wurden feucht und trübe;

man sah seine hohe Gestalt schwanken, seine Lippen sich stammelnd bewegen, aber

er war keines Wortes mächtig. Zum dritten Mal wirbelten die Trommeln, und zum dritten Mal erhebt der Oberst seine Stimme: „Im Namen des Kaisers!

Ich mache euch bekannt: der Lieutenant Noel ist zum Kapitän in eurem Regi­ ment ernannt." So lange hatte Napoleon unbeweglich zu Pferde gehalten; jetzt

setzte er sich im Bewegung und fuhr, von seinem glänzenden Gesteralstabe um­ geben, mit der Revue fort, als ob nichts geschehen wäre. Einen letzten, ernsten

VI.

296

Geschichte.

und ruhigen Blick warf er auf den braven Noel, der, von freudigem Schreck und Rührung überwältigt, mit bleichem Antlitz, mit zitternden Lippen Segens­

wünsche für den Kaiser stammelnd, in die Arme seines Obersten gesunken war. Denkwürdigkeiten aus der Geschichte.

83.

Deutschland in seiner Erniedrigung.

Napoleon verstand die Kunst, den Samen der Zwietracht in die Herzen der

deutschen Fürsten zu säen; während er die kleineren derselben schlau an sich zu ziehen und mit sich zu verbinden wußte, gelang es ihm, die größten deutschen Mächte, Preußen und Östreich, von einander fernzuhalten und sie einzeln zu be­ siegen und zu zerstückeln. Zuerst wandte er sich gegen Östreich, das sich mit den Rusten gegen ihn verbündet hatte; am 14. Oktober 1805 traf er mit den Östreichern bei Ulm zusammen. „Es genügt mir nicht, den Feind zu besiegen, ich will ihn vernichten." So sprach er, und danach handelte er; der General Mack mußte sich mit seinem Heere den Franzosen ergeben, die nun rasch auf Wien zu weiterzogen. Um die Mitte des November waren sie in der Kaiser­ stadt; darauf drangen sie bis nach Mähren vor. Hier trafen sie auf ein östrei­ chisches und russisches Heer mit ihren Kaisern an der Spitze; bei dem Dorfe Austerlitz kam' es am 2. Dezember 1805 zu einer sehr blutigen Schlacht, die von Napoleon, dem Sieger, die Drei-Kaiserschlacht genannt wurde. In dem darauf folgenden Frieden von Preßburg verlor Östreich wieder schöne Provinzen; davon

erhielten Bayern, Württemberg und Baden bedeutende Gebietsvergrößerungen;

auch erhob Napoleon die beiden ersten Staaten, sowie späterhin auch Sachsen zu Königreichen. Diese und noch mehrere andere Fürsten des südlichen und westlichen Deutschlands sagten sich nun vom deutschen Reiche los und schlossen

unter sich einen neuen Verein, den Rheinbund; Napoleon erklärte sich darauf zum Protektor (Beschützer) desselben, wobei er sich von den Bundesgliedern ver­ sprechen ließ, ihn in allen seinen Kriegen zu unterstützen. So wußte Napoleon die deutschen Völker auseinanderzureißen und unter das französische Joch zu bringen. Kaiser Franz II. erklärte nun selbst das heilige römische Reich deutscher Nation

für aufgelöst, nachdem es, von der Kaiserkrönung Karls des Großen an ge­

rechnet, 1006^Jahre bestanden hatte, und nannte sich jetzt Franz I., Kaiser von Östreich (1806). Nun kannte Napoleons Übermut keine Grenzen mehr; er ver­

schenkte Länder und Kronen wie feile Waren an seine Verwandten und Generale. Ferdinand, König von Neapel, hatte englische und russische Truppen in seinem Königreiche landen lassen; da erklärte Napoleon mit lakonischer Kürze: Ferdinand hat aufgehört zu regieren.

Sein Machtspruch wurde ausgeführt, und sein Bru­

der Joseph erhielt den Thron von Neapel. Seinen Bruder Ludwig erbaten sich die Holländer zu ihrem Könige; seinen Schwager Murat machte er zum Groß­

herzog von Berg und Kleve, den Marschall Berthier zum Fürsten von Neufchatel. Preußen hatte bis jetzt ruhig zugesehen, wie das deutsche Reich zerstückelt und aufgelöst ^worden war. Der edle König, Friedrich Wilhelm III., 1770 ge­ boren und 1797 zur Regierung gelangt, suchte, so viel an ihm war, mit Na­ poleon Frieden zu halten; das ging aber auf die Dauer nicht; auch Preußen

VI

Geschichte.

297

mußte fallen, weil es der französische Kaiser so wollte. Napoleon hatte den Eng­ ländern Hannover abgenommen und es Preußen zugeteilt, das ihm dafür Anspach, KlevL und Berg abgetreten hatte; nun bot er dasselbe seinen früheren

Besitzern wieder an. Da erklärte der tiefgekränkte König von Preußen dem französischen Kaiser den Krieg. Das war Napoleon recht; rasch und in Eil­ märschen rückte' er mit seiner Armee in Thüringen ein; bei Saalfeld wurde schon am 10. Oktober 1806 die Vorhut der Preußen auseinandergesprengt, wobei Prinz

Ludwig Ferdin,and von Preußen, die Zierde der Ritterschaft und des Hofes, sein Leben verlor. Am 14. Oktober wurde bei Jena und Auerstädt eine Doppel­ schlacht geschlagen; sie fiel sehr unglücklich für Preußen aus; über 50 000 Mann verlor der König an diesem Unglückstage. Beispiellos war die Verwirrung; ganze Heereshaufen wurden gefangen genommen. Der Kurfürst von Sachsen trennte sich gleich nach der Schlacht von Preußen, mit dem er verbündet gewesen war, und ging zum Rheinbünde über; dafür wurde er von Napoleon mit der Königswürde beschenkt. Schon nach 14 Tagen zog der französische Kaiser in Berlin ein, nachm dort weg, was er an Kostbarkeiten fand, sogar den Degen Friedrichs des Großen, und sandte es nach Paris; dann setzte er die Verfolgung des preußischem Heeres fort und hatte bald das ganze Land in Besitz. Die

Trümmer der preußischen Armee sammelten sich langsam hinter der Oder; in ihr herrschte nicht mehr der Geist des alten Fritz; eine unbegreifliche Mutlosig­ keit hatte das Heer erfaßt; unter den Anführern gab es schändliche Verräter. Die besten Festungen wurden ohne Widerstand übergeben; so fielen Erfurt, Magdeburg, Spandau, Stettin und Küstrin. Doch gab es auch noch Männer­ voll echten Preußenmutes und edler Preußentreue; der General Blücher sam­ melte ein mutiges Häuflein, warf sich damit in die Stadt Lübeck und verteidigte sich so lange, bis er der Übermacht erliegen mußte; der General von Thiele übergab Breslau erst, als die Bürger und Truppen nichts mehr vermochten; so handelten auch Don Steensen in Neiße, von Neumaun in Kofel, von Götzen in

Glatz und der wackere Kalkreuth in Danzig. Als man den alten Kommandanten Courbiere von Graudenz mit den Worten zur Übergabe der Festung aufforderte: „Es giebt keinen König von Preußen mehr," antwortete er: „Nun, dann will ich sehen, wie lange ich König von Graudenz sein kann!" Der Oberst Hermann zu Pillau ließ die Besatzung in einen Kreis treten und sprach: „Kameraden, lebendig übergebe ich die Festung nicht; da steht mein Sarg; wer mich überlebt,

lege mich hinein. Wer ein braver Soldat ist, der schwöre: Preußen oder Tod!" Alle schwuren; Pillau wurde nicht genommen. So retteten Gneisenau, Nettelbeck und Schill die Festung Kolberg. Der König von Preußen zog sich bis nach Memel zurück. Endlich kamen die Russen zu Hülfe; zu ihnen stießen die Über­

reste des preußischen Heeres; darauf wurde am 7. und 8. Februar die mörde­ rische Schlacht bei Eylau geschlagen; das Blut floß in Strömen über den ge-

frornen Schnee hin. „O wie schön sehen die roten Blumen auf dem weißen Teppiche aus!" rief Napoleon. Die Schlacht blieb unentschieden. Am 14. Juni

desselben Jahres wurde bei Friedland noch einmal blutig gestritten, aber von Napoleon ein vollkommener Sieg errungen. Da sah sich Friedrich Wilhelm genötigt,

VI.

298

Geschichte.

mit Napoleon den unglücklichen Frieden von Tilsit zu schließen, der ihn der Hälftte seinesLandes beraubte und ihm außerdem noch 30 Millionen Kriegssteuern auferlegtce. An die abgetretenen Unterthanen schrieb der König: „Ich scheide von euch, aber

wie ein Vater von seinen Kindern; euer Andenken wird nie aus meinem urud der Meinigen Herzen vertilgt werden."

Aus Westfalen erhielt er eine Antwor't,

worin der Schluß so lautete: „Leve wohl, olle gode König! God geve, dat de Overreste dines Landes di trouwere Generale und klökere Ministers finden late, als de teeren, de di bedrövden." (Lebe wohl, alter guter König! Gott gebe, darß die Überreste deines Landes dich treuere Generale und klügere Minister finden lassen, als die waren, die dich betrübten.) Dieser freimütige Wunsch der biederen Bewohner des alten Sachsenlandes wurde erfüllt; der König fand einen Frei­

herrn von Stein, einen Scharnhorst und einen Hardenberg.

Mit Hülfe dieser

Männer wurde das Staats- und Heerwesen durchgreifend verbessert und in ter Stille alles zu einem neuen Kampfe für die Befreiung des Vaterlandes vor­ bereitet. Aus den Laudesteilen, die Napoleon zwischen Elbe und Rhein von Preußen abgerissen hatte, sowie aus Hannover, Braunschweig und Hessen-Kassel bildete er das Königreich Westfalen und gab es seinem jüngsten Bruder Hieronymus. So entstand jetzt ein kleines Frankreich im Herzen von Deutschland, und fremde Völ­ ker geboten in dem Lande Hermanns und Wittekinds. Solche Schmach war über uns gekommen, weil wir nicht einig waren, weil der Deutsche in dem Deutschen nicht den Bruder erkannte und zu seiner Rettung herbeieilte, da es galt in den Zeiten der Not. Dieser Zustand war für manche Vaterlandsfreunde unerträg­

lich, und sie unternahmen auf eigene Hand einen Kampf, so die biederen Tyroler, so der edle Schill; letzterer rief seinen Husaren zu, mit denen er am 29. April 1809 aus Berlin entwich: „Besser ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende!" Seine Scharen wuchsen bald zu Tausenden; tapfer schlug er sich mit den Truppen des Königs von Westfalen herum, der einen Preis von 10000 Franken auf seinen Kopf setzte. Von seinen Feinden verfolgt und von allen

Seiten eingeengt, wurde seine Heldenschar in Stralsund, wohin er sich zurückge­ zogen hatte, teils niedergehauen, teils gefangen genommen. Er selbst fiel im Kampfe; elf seiner Offiziere wurden gefangen nach Wesel abgeführt und dort er­ schossen; ein schönes Denkmal ziert jetzt ihr Grab. Glücklicher war der Herzog Wilhelm von Braunschweig-Öls, ein Sohn des bei Auerstädt gefallenen preußi­ schen Feldmarschalls, dem Napoleon sein Land geraubt hatte; mit 1200 seiner

schwarzen Husaren, dem Schrecken Der Franzosen, bahnte er sich einen Weg von 70 Meilen mitten durch die feindlichen Haufen und entkam nach England, wo man ihn mit Staunen und Jubel empfing.

Solche Beispiele des Mutes zeigten,

daß Deutschland noch nicht verloren sei, und daß ein schöner Morgen der langen, schmachvollen Nacht folgen werde.

84.

Lüttringhaus.

Andreas Hofer.

Im Jahre 1805 riß Napoleon Tyrol von Östreich los und teilte es dem neuen Königreiche Bayern zu; damit waren die Tyroler gar nicht zufrieden;

VI

Geschichte.

299

Ostreich hatte ihre uralte Verfassung, ihre Rechte und Freiheiten, ihre Sitten und LandesgeLräuche stets unangetastet gelassen.

Dafür war das biedere Berg­

volk dem angestammten Kaiserhause mit unerschütterlicher Treue zugethan und hing mit rührender Liebe an seinem Kaiser Franz Bayern machte allerlei Ver­ änderungen, legte dem Lande drückende Steuern auf und verwandelte gar den alten Namen Tyrol in Südbayern; dadurch wurden die Tyroler, die mit großer

Vorliebe an dem Altherkömmlichen hielten, tief in ihrem Innersten verletzt, und sie faßten den Plan, das Joch der bayrisch-französischen Fremdherrschaft mit Ge­

walt abzuschütteln. Von Wien aus wurde ihr Unternehmen gebilligt und unter­ stützt; die Häupter des Volksaufstandes waren Andreas Hofer, Joseph Speck­ bacher und Martin Teimar. Hofer hielt ein Wirtshaus am Sande im Passeyer Thale und trieb Pfeidehandel; er war von kräftiger Gestalt und ein schlichter, frommer Mann; ein schöner, schwarzer Bart, der bis zum Gürtel reichte, zierte sein biedres Antlitz. Speckbacher, ein Unterinnthaler, war der beste Schütze weit und breit, verwegen zu jeder großen That und meisterlich klug. Der Aufstand brach los; in der Nacht auf den 9. April 1809 vernahm man unaufhörliche Freudenschüfse aus Mörsern, Böllern und Stutzen; in den Thälern erschollen Sturmglocken, auf den Höhen loderten Wachtfeuer; überall liefen Weiber und Kinder mit Zettelchen umher; woraus die Worte standen: 's ist Zeit! Und als der Morgen anbrach, rollten Felsstücke und Baumstämme von den Bergen herab auf die überraschten Krieger; aus den Klüften, Hecken und Hütten pfiffen die Kugeln, und wenige verfehlten ihren Mann. Innsbruck wurde erstürmt, die

Feste Kufstein belagert, und in einigen Tagen war Tyrol von den Feinden be­ freit. Das dauerte aber nicht lange. Die Östreicher verloren die Schlacht bei Wagram, und die Franzosen drangen in zahllosen Scharen über Salzburg ins Tyrolerland ein; da begann bei dem Berge Jsel ein langer, furchtbarer Kampf; die Tyroler lockten die Feinde in die Schluchten, stürzten Felsblöcke auf sie hinab, und es war, als fielen die Berge über sie, und als bedeckten sie die Hügel. Der

Speckbacher verlegte ihnen den Weg bei Hall; sein zehnjähriges Söhnlein, der Anderl genannt, folgte ihm lustig ins Gefecht, grub mit dem Messer die feindlichen Kugeln aus, wie sie um ihn in den Boden schlugen und brachte sie seinem Vater im Hütlein. Die Franzosen erlitten ungeheuere Verluste, und Tyrol wurde abermals frei. Es half aber alles nichts; denn bald darauf wurde im

Wiener Frieden das Land wieder Bayern zugesprochen, und Kaiser Franz mußte seine braven Tyroler aufgeben; er ließ ihnen durch den Erzherzog Johann sagen,

sie möchten sich ruhig halten und nicht nutzlos aufopfern. Da schrieb Hofer an Speckbacher: Östreich hat uns verlasien, es ist alles aus! Es kam aber noch ärger.

Ein gewisser Kolb, ein Adliger von Geburt, aber ein Schurke von Ge­

sinnung, täuschte Hofer durch allerlei erlogene Nachrichten von den Siegen der Östreicher und verleitete ihn mit Hülfe eines Priesters Douay, seine Getreuen

aufs neue unter die Waffen zu rufen; doch sie unterlagen. Nun wurde Hofer von den Franzosen für vogelfrei erklärt; er hätte leicht aus dem Lande fliehen

können; er wollte aber nicht. Eine einsame Sennhütte, hoch in der Schneewelt der Alpen, verbarg ihn zwei Monate lang; seine Getreuesten brachten ihm Speise

300

VI

Geschichte,

und Trank. Als man ihm sagte, er sei verraten und müsse fliehen, sprach er: „Kein Throler verrät mich;" dennoch wurde der Priester Douay sein Judas. Am

Morgen des 30. Januar 1810, als die Sonne noch nicht am Himmel stand,

klopften die Häscher mit ihren Bajonetten dreimal an die Thür der Hütte; Hofer öffnet und antwortet, als man ihn fragt, wer er sei, frei und stolz: „Ich bin Andreas Hofer, mein Schicksal ist in euren Händen, schonet mein Weib und meine Kinder." Er wurde gebunden nach Mantua abgeführt und auf Befehl Napoleons daselbst am 20. Februar 1810 erschossen. Lttttringhaus.

85.

Andreas Hofer.

Zu Mantua in Banden Der treue Hofer war; In Mantua zum Tode Führt' ihn der Feinde Schar; Es blutete der Brüder Herz, Ganz Deutschland, ach, in Schmach und

Schmerz, Mit ihm sein Land Tyrol!

Die Hände auf dem Rücken, Andreas Hofer ging Mit ruhig festen Schritten,

Ihm schien der Tod gering, Der Tod, den er so manches Mal Bom Jselberg geschickt ins Thal Im heil'gen Land Throl. Doch als aus Kerkergittern Im festen Mantua

Dem Tambour will der Wirbel Nicht unterm Schlägel vor, Als nun Andreas Hofer Schritt durch das finstre Thor.

Andreas, noch in Banden frei, Dort stand er fest auf der Bastei, Ter Mann vom Land Tyrol. Dort soll er niederknieen; Er sprach: „Das thu' ich nit! Will sterben, wie ich stehe, Will sterben, wie ich stritt, So wie ich steh' auf dieser Schanz! Es leb' mein guter Kaiser Franz, Mit ihm das Land Tyrol!" Und von ^er Hand die Bande Nimmt ihm der Korporal;

Andreas Hofer betet Allhier zum letzten Mal; Dann ruft er: „Nun, so trefft mich

Die treuen Waffenbrüder Die Hand' er strecken sah,

Da rief er laut: „Gott sei mit euch,

Mit dem verratnen deutschen Reich Und mit dem Land Tyrol!"

recht! Gebt Feuer! Ach, wie schießt ihr schlecht!

Ade, mein Land Tyrol!" Mosen.

86.

Ein deutscher Bauer.

Als in der schweren Prüfungszeit nach dem Frieden zu Tilsit die preußische Königsfamilie sich in Königsberg und Memel aushielt, zeigte sich in allen Volks­ klassen die innigste Teilnahme, die im stillen Schmerze der Liebe von Herzen kam und zu Herzen ging; jeder beeiferte sich, sein Mitgefühl, so gut er konnte, aus­ zudrücken.

So kam aus der Weichselniederung bei Kulm ein Bauer, der Sekte

der Mennoniten angehörig, mit Namen Abraham Nickel, nebst seiner Frau zum Könige und der Königin. Der ehrliche Mann, treuherzig und bieder, brachte ein Geschenk von dreitausend Stück Friedrichsd'or, und die Frau trug einen Korb mit

VI. Geschichte.

301

frischer Butter. Er sprach schlicht und einfach, wie ihr kirchliches System vor­ schreibt, mit bedecktem Haupte und der Anrede „du", also: „Gnädigster Herr!

Deine getreuen mennoniüschen Unterthanen in Preußen haben mit Schmerz er­ fahren, wie groß die Not ist, die Gott über dich, dein Haus und Land verhängt hat. Das that uns allen leid, und darum sind unsere Gemeinden zusammengetreten und haben gern und willig diese Kleinigkeit zusammengebracht. Bon ihnen geschickt, komme ich in ihrem Namen, unsern lieben König und Herrn zu bitten, diese Gabe aus treuem Herzen wohlwollend anzunehmen, und werden wir nicht aufhören, für dich zu beten." Die Mennonitin aber überreichte ihren Korb voll

frischer Butter der Königin mit den Worten: „Man hat mir gesagt, daß unsre gnädige Frau Königin gute, frische Butter sehr liebt und auch die jungen Prinzchen und Prinzeßchen gern ein gutes Butterbrot essen. Diese Butter ist hier rein und gut, aus meiner eigenen Wirtschaft, und da sie jetzt rar ist, so habe ich ge­ dacht, sie würde wohl angenehm sein. Die gnädige Königin wird auch meine kleine Gabe nicht verachten; du siehst ja so freundlich und gut aus; wie freue ich mich, dich einmal in der Nähe so sehen zu können." Solche Sprache verstand die Königin; mit Thränen der Rührung im Auge drückte sie der Bauernfrau die Hand, nahm das Umschlagetuch, das sie so eben trug, ab und hing es der gut­ mütigen Geberin um mit den Worten: „Zum Andenken an diesen Augenblick!" Auch der König nahm die Gabe treuer Liebe gern an, quittierte aber über den

Empfang, und daß er späterhin reich und königlich vergalt, darf nicht erst ver­ sichert werden. Als mehrere Jahre nachher den Abraham Nickel das Unglück traf, durch Brand sein Wohnhaus nebst Ställen zu verlieren, ließ der König das Ge­ höft des Mennoniten besser, als es vorher gewesen, wiederherstellen. Die gute Gesinnung aber, welche die Mennoniten-Gemeinde in Preußen zu jener Zeit be­ thätigte, hatte auf ihn einen so tiefen, günstigen Eindruck gemacht, daß, so oft von dieser friedlichen und harmlosen Sekte die Rede war, er ihrer immer mit

Eylert.

besonderem Wohlwollen gedachte.

87.

Luise, Königin von Preußen.

Luise war die Gemahlin Friedrich Wilhelms III. und eine Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz. Schon in ihrem 6. Jahre verlor sie ihre Mutter; unter der Leitung und Pflege ihrer Großmutter, der verwitweten Landgräfin von Hessen-

Darmstadt, entfaltete sich ihr liebenswürdiger Charakter in schönster Weise. Ihre Güte und Milde, ihre echte Frömmigkeit und Tugend erwarben ihr schon als Prinzessin allgemeine Liebe; als Königin aber wurde sie ein Gegenstand wahrer Verehrung,

und dem preußischen Volke

wird

sie

ewig unvergeßlich

bleiben.

Einen Teil ihrer Jugend verlebte sie mit ihrer Großmutter auf dem Schlosse Broich bei Mühlheim an der Ruhr, wo man noch jetzt viele schöne Züge ihres menschenfreundlichen Herzens mit wahrer Begeisterung erzählt. Die Vermählung

mit Friedrich Wilhelm III. fand am 24. Dezember 1793 zu Berlin statt.

Ihre

Ehe wurde durch das reinste und dauerndste Glück gekrönt; nichts Schöneres war zu sehen als die in Liebe und Treue glückliche königliche Familie im gar einfachen,

Geschieh te.

VI.

302 stillen, häuslichen Kreise.

Wohin die Königin Luise kam, folgten ihr Friede und

Freude; vom Throne herab verbreitete sie Segen auf Stadt und Land bis in die ärmlichsten Hütten. In allen Leiden, welche sie und ihr Land trafen, bewährte

sie sich als ergebene und fromme Dulderin. Von Memel aus schrieb sie am 17. Juni 1807 an ihren Vater: „Es ist aufs neue ein ungeheures Unglück über uns gekommen (Verlust der Schlacht bei Friedland), und wir stehen auf dem Punkte, das Königreich zu verlassen. Bedenken Sie, wie mir dabei ist; doch glauben Sie ja nicht, daß Zweifel und Kleinmut mein Haupt beugen. Wir sind kein Spiel des Zufalls, sondern wir stehen in Gottes Hand, und die Vorsehung leitet uns, wenngleich durch Finsternis, doch am Ende zum Lichte; und gehen wir unter, so geschieht es mit Ehren. Der König hat es bewiesen, der Welt hat

er es bewiesen, daß er nicht Schande will, sondern Ehre, und er ist besser als

sein Schicksal.

Preußen will nicht freiwillig Sklavenketten tragen.

Noch eins zu

Ihrem Trost: Von unsrer Seite wird nie etwas geschehen, was nicht mit der strengsten Ehre verträglich ist; der König steht mitten im Unglück ehrwürdig und charaktergroß da."

Acht Tage später schrieb sie: „Mein Glaube soll nicht wan­

ken, aber hoffen kann ich nicht mehr.

Auf dem Wege des Rechts leben, sterben

und, wenn es sein muß, Brot und Salz essen; nie werde ich ganz unglücklich fehl; nur hoffen kann ich nicht mehr. Kommt das Gute, o! kein Mensch kann es dankbarer empfinden, als ich es empfinden werde, aber erwarten thue ich es nicht mehr; kommt das Unglück, so wird es mich auf Augenblicke in Verwunde­

rung setzen, aber beugen kann es mich nie, sobald es nicht verdient ist."

Wahr­

haft groß stand Luise am 6. Juli 1807 Napoleon gegenüber; sie war entschlossen,

den gewaltigen Sieger selbst durch Bitten zu einem ehrenvollen Frieden und zur Schonung des Landes und Volkes zu bewegen. In ihrer reinen, hochherzigen Liebe für das Volk scheute sie diese Erniedrigung nicht, aber Napoleon war un­

beweglich; finster, kalt und stolz fragte er die Königin: „Wie konnten Sie es

wagen, mit mir einen Krieg anzufangen?"

Da erwiderte ihm Luise mit edler

Würde: „Es war Preußen erlaubt, ja es war uns erlaubt, uus durch den Ruhm Friedrichs des Großen über die Mittel unserer Macht zu täuschen, wenn wir uns überhaupt getäuscht haben!"

Doch die wahrhaft deutsche Frau hatte sich

nicht getäuscht, als sie auf den Geist des Volkes baute; darin hatte sie sich ge­

täuscht, daß sie von Napoleons Edelmute etwas hoffte.

Sie sollte aber den

Morgen der Freiheit nicht leuchten sehen, den Befreiern des Vaterlandes keine Siegeskränze reichen. Ein heftiges Fieber raffte sie nach einem kurzen Kranken­ lager am 19. Juli 1810 dahin, als sie bei ihrem Vater auf dem Schlosse Hohen­ zieritz bei Strelitz zum Besuch war. Sie liegt in Eharlottenburg bei Berlin

begraben; seit 1840 ruht ihr edler Gemahl, Friedrich Wilhelm der Gerechte, neben ihr. Lüttnnghaus.

88.

Der Freiherr von Stein.

Von ihm heißt es: Er war allem Unrecht ein Eckstein, des Rechtes Grund­

stein, der Deutschen Edelstein.

Er wurde 1757 zu Nassau geboren und in jün-

VI.

Geschichte.

303

fieren Jahren Bergrat zu Wetter in der Grafschaft Mark, dann Oberpräsident der Provinz Westfalen und nach dem Frieden von Tilsit (1807) preußischer Staats­ minister. Von Napoleon geächtet, ging er nach Ostreich und später nach Ruß­ land; hier teilte er dem Kaiser Alexander seinen Haß gegen Napoleon mit, und

die Glut desselben wurde auch jeden Morgen neu, bis das große Werk vollendet war. Stein war ganz deutsch, und die Ehre, Selbständigkeit und Freiheit des Vaterlandes war ihm Sache des Herzens und Aufgabe des Lebens; keiner hat

mehr dafür gedacht, gethan, gelitten als er; er ist und bleibt daher auch einer der merkwürdigsten Männer dieser großen Zeit. Ehre seinem Andenken! Stein starb 1831 auf seinen Gütern in Nassau.

89.

apicvt.

Napoleons Feldzmz liegen Rußland.

Bis zum Jahre 1812 waren Napoleons Unternehmungen fast alle wunder­ bar geglückt; er stand nun auf dem höchsten Gipfel seiner Macht: die meisten europäischen Völker mußten seinen! Winke gehorchen; nur England hatte er nicht zu bezwingen vermocht, und auch Rußland stand noch ungebeugt da. Nach des kühnen Eroberers Willen sollte aber nun auch dieses Reich der Streich der Ver­ nichtung treffen; ein Grund zur Kriegserklärung war bald gefunden. Im Früh­ linge des Jahres 1812 ließ der französische Kaiser ein Heer von 600 000 Mann mit 200000 Pferden und 1300 Geschützen durch Deutschland und Polen nach Rußland marschieren. Ganz Europa geriet in Bewegung; denn fast alle Völker dieses Erdteils mußten Hülfstruppen stellen. Seit der Völkerwanderung und den Kreuzzügen waren solche Heereszüge nicht gesehen worden; mit Stolz nannte

Napoleon dieses auserlesene Heer die große Armee. Am Johannistage überschritt das Hauptheer den Grenzfluß Niemen und wälzte sich wie die Meereswogen,

wenn der Sturmwind rast, durch die Ebenen Rußlands hin auf Moskau zu. Die Russen wichen anfangs überall zurück; bei der Stadt Smolensk am Dniepr entbrannte die erste Schlacht. Die Russen standen wie die Mauern; auf beiden Seiten fielen Tausende. Am Abend ließ Napoleon Granaten in die Stadt

werfen; große Flammensäulen stiegen auf. Schweigend blickte der Kaiser auf das Feuermeer; später sollte er ein noch gräßlicheres Schauspiel sehen. Nacht zogen die Russen ab, die Franzosen rückten weiter vor.

Während der Beim Dorfe

Borodino an der Moskwa kam es abermals zur Schlacht; eine blutigere ist in neuerer Zeit nicht geliefert worden. 1200 Kanonen brüllten den ganzen Tag, und am Abende lagen 70 000 Tote und Verwundete auf dem Schlachtfelde.

Die

Franzosen haben gesiegt, aber stumm und düster blicken die Generale auf den Kaiser, und in seinem Gesicht ist kein Strahl der Freude zu lesen. Der Weg nach Moskau war nun frei; dort hofften die ermatteten Krieger Ruhe und Er­

quickung zu finden nach so vielen Mühseligkeiten. Endlich erreichten sie das Ziel ihrer Sehnsucht; die herrliche Stadt liegt vor ihren Blicken da; die Türme der 300 Kirchen und deren goldene Kuppeln funkeln im Glanze der Sonne, und ein

unendlicher Jubelruf: Moskau! Moskau! durchläuft die Reihen der Hundert­ tausende.

„Da ist sie!" ruft auch Napoleon; „aber," setzte er hinzu, „es war

304

VI.

Geschichte.

auch Zeit!" Am ,14. September stand Napoleon vor den Thcren der alten Czarenstadt; er erwartete, umgeben von seinen Marschällen, einen feierlichen Empfang von den Behörden; sie erschienen nicht. Über der Stadt lag eine schauerliche Grabesstille; die Thore waren unbesetzt.

Der Einzug begann; nir­

gends Widerstand; die Straßen sind leer, die Häuser verschlossen, die Einwohner entflohen. Napoleon nahm seinen Sitz in dem alten Kaiserpalaste, dem Kreml;

die ausgehungerten Soldaten erbrachen die Thüren der leeren Wohnungen, suchten Nahrungsmittel und raubten und plünderten; aber schon in der folgenden Nacht bricht Feuer aus; niemand löscht es; die Flammen greifen weiter um sich, und bald wogt ein ungeheures Feuermeer über die weite Stadt hin. Nun ist das

Löschen zu spät; auch haben die Einwohner alle Löschgeräte mit fortgenommen. Napoleon schläft; endlich weckt ihn der Helle Schein; erschrocken springt er auf und sieht mit Schaudern von einer Terrasse des Kreml das majestätische S chau­ spiel. „Entsetzlicher Anblick!" ruft er aus; „das haben sie selbst gethan! Welche Menschen! Das verkündet uns schweres Unglück!" Er wirft sich rasch auf ein Pferd und entkommt nur mit genauer Not den prasselnden Flammen. So versank Moskau in einen Aschenhaufen. Hunderttausende waren obdach­ los; es fehlte durchaus an allen Vorräten, und ein langer nordischer Winter­ war vor der Thür: da mußte Napoleon endlich seinen stolzen Sinn beugen; er bot dem Kaiser Alexander den Frieden an, erhielt aber nach langem Warten zur

Antwort: „Jetzt geht der Krieg erst recht los." Nun erkannte er mit Schmerz und Grimm, daß ihm zur Rettung nur noch der Rückzug übrig blieb. Er trat ihn an, den 150 Meilen langen Weg, denselben, den er beim Einrücken gemacht,

auf dem er weit und breit alles verheert und verwüstet hat. Die Russen verfol­

gen ihn und drängen ihn von allen Seiten; mit gewohntem Heldenmute kämpft die große Armee um Weg und Steg, aber es brechen noch schlimmere Feinde, Schnee, Frost und Hungersnot gleich Würgengeln über sie herein; da fallen die Rosse zu Tausenden, da wanken die alten Krieger, das Blut in den Adern erstarrt, die Bärte voll Reif, die finstern, narbenvollen Gesichter vom Odem des Todes angehaucht, durch die weiten Schneefelder hin. Nirgends bietet sich ein Obdach gegen den schneidenden Wind; nur ein Plätzchen im Schnee am flackernden Feuer

während der langen Nacht und ein Stück Pferdefleisch bleibt zu hoffen; um die niedergebrannten Wachtfeuer liegen am Morgen Haufen von Erfrorenen; hier und da arbeitet sich noch ein Lebender unter den Leichnamen seiner Brüder empor, um

in der nächsten Nacht seinen Untergang zu finden.

Hunger und Frost machen

manchen wahnsinnig, der nun das Fleisch von seinen schwarzen, erfrorenen Hän­ den nagt und mit den Zähnen Stücke von den Leichnamen seiner Kameraden reißt.

Zu allem diesem Jammer gesellte sich noch die Verfolgung der Russen; Tausende werden von den Lanzen der Kosacken niedergestoßen, Tausende von den Keulen der ergrimmten Bauern erschlagen.

Am gräßlichsten wütete der Tod an der Bere­

sina. Napoleon ließ über diesen Fluß eine Brücke schlagen; er selbst mit einem Teile seiner Garden drängte sich zuerst hinüber; plötzlich wurde ein furchtbares

Hurrageschrei der Kosacken und das Donnern der russischen Kanonen gehört; da stürzt sich alles auf die Brücke zu, jeder will der erste sein; kein Befehl wird

VI.

305

Geschichte.

mehr geachtet, kein Rang mehr anerkannt: jeder kämpft um sein Leben. Unzählige werden erdrückt, zu Boden getreten, unter die Eisschollen hinabgestoßen oder von den Kanonen- oder Kartätschenkugeln der Feinde zerschmettert. Endlich bricht die

Brücke unter d.er furchtbaren Last zusammen, und niemand hat gezählt, wie viele die Fluten verschlangen. Das begab sich gegen das Ende des November. Am 4. Dezember verließ Napoleon sein Heer, eilte über Wilna, Warschau, Dresden und Mainz nach Paris, um aufs neue zu rüsten. Die Trümmer der großen Armee bewegten sich unterdessen langsam vorwärts; Soldaten von allen Regi­ mentern liefen wild durcheinander: alle Zucht und Ordnung hatte aufgehört, das Elend den höch sten Grad erreicht. Vergebens streckte der Hülflose die Hand aus;

niemand bot ihm die seinige; alles Mitgefühl war erstorben. Endlich, endlich war die Grenze erreicht; aber was war aus der großen Armee geworden? Etwa 30 000 Mann vvaren übrig geblieben. Die Straße von Moskau bis zur Grenze Preußens war mit toten Menschen und Pferden wie besäet, und die Russen sollen im folgenden Jahre 243000 erstarrte Menschenleiber verbrannt haben. Der Brand Moskaus war die Morgenröte der deutschen Freiheit. Lumm^us.

90.

Das preußische Volk im Jahre 1813.

Im März 1813 erließ Friedrich Wilhelm III. einen Aufruf an sein Volk; darin sagte er unter andern:: „Wir unterlagen der Übermacht Frankreichs. Der Frieden, der mir die Hälfte meiner Unterthanen entriß, gab uns seine Segnun­ gen nicht; er schlug uns tiefere Wunden als selbst der Krieg. Das Mark des

Landes ward und dadurch ist ein Raub was ihr seit

ausgesogen, der Ackerbau gelähmt, die Freiheit des Handels gehemmt die Quelle des Erwerbes und des Wohlstandes verstopft. Das Land der Verarmung geworden. Brandenburger, Preußen, ihr wisset, sieben Jahren erduldet habt; ihr wisset, was euer trauriges Los

ist, wenn wir den beginnenden Kampf nicht ehrenvoll enden. die Vorzeit, an den großen Kurfürsten, den großen Friedrich!

Erinnert euch an Bleibet eingedenk

der Güter, die unter ihnen unsere Vorfahren blutig erkämpften: Gewissensfreiheit, Ehre, Unabhängigkeit, Handel, Kunstfleiß und Wissenschaft! Gedenket des großen

Beispiels unserer mächtigen Verbündeten, der Russen, gedenket der Spanier, der Portugiesen! Große Opfer werden von allen Ständen gefordert werden, denn unser Beginnen ist groß, und nicht gering sind die Zahl und die Mittel unserer Feinde. Es ist der letzte Kampf, den wir für unsern Namen, für unser Dasein wagen, und unser Losungswort ist ehrender Friede oder rühmlicher Untergang. Auch den letzten dürft ihr nicht scheuen, weil ehrlos der Deutsche nicht zu leben vermag; aber wir hoffen mit Zuversicht, Gott und fester Wille werden uns Sieg verleihen und der Sieg die besseren Tage zurückführen." Mit Jubel wurde dieser Aufruf überall vernommen; es war, als ob ein elektrischer Schlag jedes Herz mit einem zuvor noch nie empfundenen Feuer durchzuckte. Von Memel bis Demmin, von Kolberg bis Glatz war unter den Preußen nur eine Stimme, ein

Gefühl, ejn Zorn und eine Liebe, das Vaterland zu retten, Deutschland zu be­ freien und den französischen Übermut eiuzuschränken. Das ganze Bolk stand Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb. 5. Ausl.

20

306

VI.

Geschichte.

auf wie zu einer Völkerwanderung. Krieg, Gefahr und Tod wollten alle; den Frieden fürchteten sie, weil sie von Napoleon keinen ehrenvollen Frieden hoffen durften. Krieg! Krieg! schallte es von den Karpathen bis zur Ostsee, von dem Riemen bis zur Elbe. Krieg! rief der Edelmann und Landbesitzer, der verarmt

war; Krieg! der Bauer, der sein letztes Pferd unter Vorspann und Fuhren tot trieb; Krieg! der Bürger, den die Einquartierungen und Abgaben erschöpften; Krieg! der Tagelöhner, der keine Arbeit finden konnte; Krieg! die Witwe, die ihren einzigen Sohn ins Feld schickte; Krieg! die Braut, die den Bräutigam zu­ gleich mit Thränen des Stolzes und des Schmerzes entließ. Jünglinge, die kaum wehrhaft waren, Männer mit grauen Haaren und wankenden Knieen, Offiziere, die wegen Wunden und Verstümmelungen lange ehrenvoll entlassen waren, reiche Gutsbesitzer und Beamte, Väter zahlreicher Familien, Verwalter weitläufiger Ge­ schäfte, in dieser Hinsicht jedes Kriegsdienstes entschuldigt, wollten sich selbst nicht entschuldigen; selbst Frauen und Jungfrauen in Männerkleidern, vom Strome der Begeisterung mit fortgerissen, drängten sich zu den Waffen, um für das Vaterland zu streiten und zu sterben. Jede Stadt, jeder Flecken, jedes Dorf erschallte von Kriegslust und Kriegsmusik und war in einen Übungs- und Waffenplatz verwan­

delt; jede Schmiede war eine Waffenwerkstätte. Wer seinen Arm nicht bieten konnte, der bot seine Habe dar; große Geldsummen, Gold und Edelsteine, Fingernnd Ohrringe, Kleidungsstücke, Betten, Leinwand wurden auf den Altar des Va­ terlandes niedergelegt; eine schlesische Jungfrau opferte das einzige, was sie hatte, ihr schönes, goldenes Haar. Das Schönste bei diesem heiligen Eifer war, daß alle Unterschiede von Ständen und Klassen, von Altern und Stufen vergessen und aufgehoben waren, daß jeder sich demütigte und hingab zu dem Geschäfte und Dienste, wo er der brauchbarste war, daß das eine große Gefühl des Vaterlandes und seiner Freiheit und Ehre alle anderen Gefühle verschlang. Die Menschen fühlten es: sie waren gleich geworden durch das lange Unglück; sie wollten auch gleich sein im Dienste und im Gehorsam. Die Begeisterung, welche Preußen be­

wegte, teilte sich auch bald dem übrigen Deutschland mit; überall in dem weiten Vaterlande wiederholte sich derselbe Sinn, dasselbe Streben bei jung und alt, bei jedem Alter und Geschlecht, und bald reichten sich alle deutschen Männer die Bruderhand, um den gemeinsamen Feind mit vereinten Kräften zu bekämpfen. Nach Arndt.

91. Preußens Kronprinz (Friedrich Wilhelm IV.) in der Lützener Schlacht. Wer sprenget auf dem stolzen Roß Bis in die vordren Reihen Und will dem Eisen, dem Geschoß Das muntre Leben weihen? Das ist ein junger Königssohn, Der Erbe von dem Preußenthron. Drob zürnet ihm des Königs Mut

Und straft mit mildem Worte:

„Zurück, du junges Zollernblut, Zum angewies'nen Orte! Du rascher, junger Königssohn, Mußt erben ja den hohen Thron." O reite, junges, edles Wild, Du ritterlicher Degen!

Vom Himmel schaut ein sel'ges Bild Mit Lust nach deinen Wegen;

VI. Die Mutter schützt den Königssohn,

Du erbest doch der Väter Thron. Du wirst uns lang' im Ehrenfeld Mit Blick und Schwert regieren,

Geschichte.

307

In späten Jahren, werter Held, Ein frommes Scepter führen. Du rascher, lieber Königssohn, Wir reiten auch für dich den Thron! Schenkendorf.

92.

Die Schlacht bei Groß-Beeren.

Nicht mindere Siege als die schlesische Armee unter Blücher und die große unter Fürst Schwarzenberg erfocht die Nordarmee, welche in der Mark Branden­ burg unter dem Kommando des Kronprinzen Karl Johann von Schweden auf­ gestellt war; aber dieser Oberbefehlshaber that dabei das wenigste. Die beiden ruhmwürdigen Ereignisse, deren eines wir erzählen werden, verdankt unser König dem selbständigen Entschluß seiner Corpsführer, den Generalen von Bülow und von Tauentzien. Dem französischen Marschall Oudinot hatte sein Kaiser den Befehl gegeben, Berlin um jeden Preis zu gewinnen; demgemäß war der Mar­ schall gleich nach Beendigung des Waffenstillstands in der Mitte August über die preußische Grenze geschritten und allmählich weiter vorgedrungen; schon waren seine vordersten Truppen zwei, drei Meilen von Berlin ab. Der Kronprinz von Schweden konnte sich zu einem entscheidenden Wagstück nicht entschließen; da, als die Feinde am 23. August bei Groß-Beeren, einem Dorfe, zwei Meilen von Ber­ lin, erschienen, ließ der General von Bülow, des Zauderns müde, seinem Ober­ befehlshaber ohne weiteres melden, er greife die Franzosen an, und that es sofort auf eigene Verantwortung. Die Feinde waren beschäftigt, Bivouaks einzurichten, als die Kanonade losbrach; der französische Anführer glaubte an keinen ernstlichen

Angriff und ließ alle Meldungen unbeachtet; in solche Sorglosigkeit hatte das Verfahren des Kronprinzen von Schweden die Feinde eingeschläfert. Der General eine feindliche Batterie wurde am äußersten Ende gefaßt und genommen; im Sturmschritt drangen darauf die Preußen vor; es regnete; die Gewehre konnten nicht abgefcuert werden; man

von Borstell umging ihren rechten Flügel;

schlug sich dann mit Kolben und Bajonetten. Schnell war das Dorf Groß-Beeren den Feinden abgenommen; sie wurden ganz geworfen und ihre Reiterei zer­ sprengt. Noch wollte der französische Marschall die Reserven vorrücken lassen; aber die Preußen stürmten ihnen mit Übermacht entgegen, sobald sie aus dem

Gehölz hervortraten.

Das feindliche Geschütz wurde genommen, und die Fran­

zosen mußten den Kampf abbrechen; sie zogen sich an die Elbe nach Wittenberg und Torgau zurück. Napoleons Plan auf Berlin war schmählich vereitelt. Der General von Bülow hatte seine Siegeslaufbahn nach dem Waffenstillstand begon­

nen.

Dem neunten preußischen Regiment, das schon im Jahre 1807 bei der

Verteidigung Kolbergs Wunder der Tapferkeit und Ausdauer vollführt hatte, diesem „Kolberger" Regimente, wurde der Schlachttag ein neuer glänzender Ehren­

tag.

Dreißig Kanonen, zweitausend Gefangene waren der Gewinn des Sieges. Hahn.

308

VI.

Geschichte.

93. Die Schlacht an der Katzbach. Napoleon stand mit dem Kern seiner Heeresmacht bei Dresden.

Die Trup­

pen der Verbündeten waren in drei große Heere geteilt: eine östreichische Armee unter dem Fürsten Schwarzenberg stand in Böhmen, eine preußische unter Blücher in Schlesien und die sogenannte Nordarmee unter dem Kronprinzen von Schwe­ den inl Brandenburgischen. Zuerst warf sich Napoleon auf das schlesische Heer; Blücher zog sich zurück. Unterdessen rückte Schwarzenberg in der Richtung gegen Sachsen vor; da ließ der französische Kaiser seinen Marschall Macdonald mit 80 000 Mann in Schlesien und kehrte nach Dresden zurück. Nun rückte Blücher wieder vor; ungefähr in der Mitte zwischen den Städten Jauer, Liegnitz und Goldberg stieß er auf die Franzosen, als sie eben eilig aus dem Thale der wütenden Neiße heraufkamen. Es war ein fürchterliches Wetter; schon drei

Tage und dachte lang stürzte der Regen in Strömen vom Himmel; der Erd­ boden war mit Schlamm bedeckt; die Bäche brausten schäumend von den Bergen herab, die Flüsse traten aus ihren Ufern; den Soldaten faulten die Stiefeln, den Pferden die Hufe ab. Schnell ordnete Blücher seine Schar. „Vorwärts, Kinder, vorwärts!" ruft er seinen Kriegern zu; „zeigt, daß ihr brave Preußen seid!" Ein furchtbarer Kampf entbrannte, die Gewehre wollten nicht losgehen; da stürzte sich das Fußvolk mit den Bajonetten und die Reiterei mit geschwungenen Säbeln auf die Franzosen; Mann an Mann, Herz an Herz wird gefochten, mit Mut und Wut, bis die Feinde wanken und fliehen. Zürnend rauschen die hoch angeschwoüeneu Fluten der wütenden Neiße und Katzbach und reißen die Fliehen­ den zu Tausenden hinab. Achtzehntausend wurden gefangen. Der General Macdonald schrieb an seinen Kaiser: „Sire, Ihre Armee am Bober ist nicht mehr!" Schlesien war gerettet. Der König von Preußen erhob den alten

Blücher zum Feldmarschall und später zum Fürsten von Wahlstatt; die preußi­ schen Krieger nannten ihn von nun an bloß ihren „Marschall Vorwärts." SüttiinßVaud

94. Die Schlacht bei Dennewitz. Nachdem den Franzosen die Wege nach Schlesien und Böhmen durch die Schlachten an der Katzbach, bei Dresden und bei Kulm versperrt waren, versuchte

es ihr Kaiser anfangs September noch einmal mit Berlin; er gab von seinen Marschällen, dem er am meisten traute, dem Marschall Ney, 80000 Mann; da­ mit sollte dem Kriege im Norden eine andere Wendung gegeben werden. Wie

sich's der Kaiser ungefähr dachte, zeigte seine Instruktion: Der Marschall Ney soll am 5. September die preußische Grenze überschreiten, am 9., spätestens am 10. Berlin angreifen und nehmen. Das wird leicht gelingen; denn die KosakenSchwärme und die Regimenter schlechter Infanterie und Landwehr werden sicher vor ihm zurückweichen, wenn er entschlossen vorgeht. Er soll rasch manövrieren, damit zugleich von der Verwirrung der verbündeten Hauptarmee in Böhmen Nutzen gezogen werden könne. So lauteten Napoleons Befehle; er hatte sich in allem sehr geirrt. Doch fürs erste voüführte es der Marschall Ney, wie ihm

VI. Geschichte.

309

Napoleon befohlen. Er rückte am 5. September über die preußische Grenze, ver­ trieb aus den nächstliegenden Orten die ersten vereinzelten Vorposten der ver­ bündeten Macht, aus Zahna die Kosaken und die Landwehr unter General von Dobschütz, aus Seyda das Corps des Generals Tauentzien; er war auf dem gera­ den Wege nach Berlin. Beide genannte Generale wichen vor seiner Übermacht auf der Straße nach Jüterbog zurück; der Marschall Ney folgte ihnen auf dem Fuße. Die Heeresteile der Verbündeten standen zu entfernt, um schnell genug vereinigt zu werden; erst Jüterbog war zum Sammelplatz bestimmt. Nichtsdesto­

weniger marschierten die Franzosen am Morgen des 7. September um diese Stadt herum, als die meisten Truppenteile noch weit davon waren. Der General Tauentzien aber erkannte die Wichtigkeit dieses Ortes; wiewohl er wußte, daß seine geringe Macht auf die Länge der Zeit den Franzosen nicht standhalten könne, faßte er doch beim Dorfe Dennewitz, das dicht bei Jüterbog liegt, feste Stellung und griff die vorüberziehenden Franzosen an; sie suchten vergeblich, ihn aus seiner Stellung zu verdrängen. Die preußische Landwehr, die er komman­ dierte, hielt sich vortrefflich; nur begannen allmählich Pulver und Kugeln zu fehlen; fast schien es, altz müßte er vom Kampfe abstehen. Da kam im Augen­ blick der höchsten Not Bülow und mit ihm wieder preußische Landwehr; sie wollte zeigen, ob sie gut oder schlecht sei. Bülows Reiter schlugen die französische In­ fanterie im ersten Angriff zurück; bald aber stellte sich der Kampf wieder ins Gleichgewicht und schien sich allmählich abermals zu Gunsten der Franzosen zu neigen. Sie hatten unterdessen gleichfalls bedeutende Verstärkungen empfangen. Und wirklich waren zum zweiten Mal die Kräfte der Preußen, des Tauentzienschen und des Bülowschen Corps, aufs äußerste erschöpft; sie waren wieder nahe daran,

den Kampf abbrechen zu müssen: da erschien die preußische Brigade des Gene­ rals von Borstell und warf die Feinde mit Macht aus ihrer Stellung. Nun, nachdem die preußische Landwehr den heißen Tag mit Ruhm bestanden hatte, rückte am späten Abend noch der Hauptteil der Nordarmee unter dem Kron­

prinzen von Schweden heran; dieser saumselige Oberbefehlshaber wollte, wenn nicht an der Schlacht selbst, doch wenigstens an ihrem Ruhme Anteil haben. Er hatte leichtes Spiel: ungeheure Massen, 70 Bataillone in mehreren Kolonnen, ließ er im Sturmschritt angreifen; 10 000 Reiter und 150 Kanonen unterstützten ihren Angriff.

Da wurden die Franzosen völlig zurückgeworfen

und in die

wildeste Unordnung gebracht; sie ergriffen die Flucht. Nichts konnte sie darin aufhalten. Bis vor Torgau wurden sie verfolgt; da endlich retteten sich, die nicht umgekommen oder gefangen waren, über die Elbe. Die große Armee war gänzlich ausgelöst; 13000 Gefangene, 80 Kanonen und 400 Kriegswagen waren in die Gewalt der Verbündeten gekommen. Napoleon, im höchsten Unmut über diese Niederlage seiner Truppen, drohte, ihren Befehlshaber, seinen Lieblings­

marschall Ney, in einen Weiberrock zu stecken und zur Schmach durch die Thore von Paris führen zu lassen. Seine Absichten auf Berlin waren abermals an einem Tage gänzlich zu Schanden geworden. Hahn.

310

VI. Geschichte.

98. Die Völkerschlacht bei Leipzig. Ach, ivären wir doch eins, ihr deutschen B'nder, Vor unsrer Brust zerbräche eine Welt. Mosen.

Es war in den ersten Oktobertagen des Jahres 1813; Kaiser Napoleon hatte sein Hauptquartier Dresden verlassen und sich mit seinen Truppen in die große Ebene von Leipzig gezogen; hier war es, wo vom 16. bis 19. Oktober Männer vom Tajo und Ebro, vom Po und dem Tiber, von der Seine und dem Rheine in blutigem Kampfe gegeuüberstanden den Söhnen der Donau, der Elbe, der Oder, der Weichsel, des Don, der Wolga, des weißen und des schwarzen Meeres; hier wüteten 2000 Feuerschlünde 3 Tage lang unter 400 000 Soldaten, von denen die einen voll hoher Begeisterung nnd voll Mut für die

heilige Sache des Vaterlandes, die andern für Ehre und vieljährigen Waffen­ ruhm stritten. Im Süden Leipzigs bei Konnewitz und Liebertwolkwitz beginnt der Kampf; Östreicher und Russen unter Fürst Schwarzenbergs Oberbefehl eröffnen ihn. Bald hört man nicht mehr die einzelnen Schüsse, ein unaufhörliches Rollen er­ schüttert die Luft und macht die Feste der mit Rauchwolken bedeckten Erde er­ beben; im weiten Umkreise klirren die Fenster, und die ältesten Soldaten er­ innern sich solches furchtbaren Geschützdonners nicht. Die Hurras der Angrei­ fenden erschallen in die Schmerzensrufe der Verwundeten und Sterbenden, das Rasseln der Kanonen und Geschützwagen in den Marsch der Vordringenden, die Trommelwirbel, die Horn- und Trompetensignale der Streiter zu Fuß und Roß in das unaufhörliche Knattern der Gewehre. Adjutanten fliegen hin nnd her.

Verwundete kommen blutend oder werden von andern hinter die Angriffslinien gebracht. Tod und Schrecken, Angst, Freude, Mut und Verwirrung auf allen Seiten, in allen pulvergeschwärzten Gesichtern der Streiter! Gewaltige Heeres­

massen im An- und Abzüge, furchtbare Artillerie, mit ihren zahllosen Feuerschlün­ den Kugel- und Kartätschenladungen nach allen Seiten sendend! Da giebt's Blut! Schon werden die Franzosen zurückgedrängt, aber ungeheure Heeresmassen eilen

im Sturmschritte den bedrängten Punkten zu, und die französische Reiterei, von Wachau hervorstürzend, wirft endlich alles vor sich nieder. Es ist nachmittags 3 Uhr. Siegesboten, von Napoleon gesendet, fliegen nach Leipzig, zu künden den Sieg, und in den Donner der Geschütze tönt das Siegesläuten der Glocken von Leipzig. Doch im Buche des Schicksals stand eine andere Lösung! Den kühnen Streitern fehlte der Nachdruck, und Kosaken entrissen ihnen die mit unglaublicher Kühnheit gewonnene Beute an Geschützen. Vergeblich waren alle wiederholten

Anstrengungen der Franzosen; die Schlacht war zum Stehen gekommen. Unter­ dessen hatte der Kampf auch auf der West- und Nordostseite von Leipzig bei Lindenau und Möckern getobt. Mehr als 50 Feuerschlünde sind bei letzterem Dorfe aufgepflanzt und senden unaufhörlich Tod und Verderben in die Reihen der Preußen. Wiederholt wird das lange Dorf vergeblich erstürmt; endlich wirft sich die preußische Reiterei auf die französischen Vierecke und sprengt sie; alle Ba­ taillone rücken ohne Befehl vor, französische Pulverwagen fliegen in die Luft und

VI.

Geschichte.

311

bringen Verwirrung in die Reihen, die von der andern Seite mit Umgehung be­ droht sind; da verlassen die Franzosen mit dem Abende das verteidigte und nun an mehreren Orten in Flammen auflodernde Dorf. Von 20 000 preußischen Kämpfern liegen über 5000 tot auf dem Schlachtfelde. So groß der Verlust auch war, so war dock die Errungenschaft nicht zu teuer erkauft; denn Blüchers Sieg bei Möckern entschied das Geschick der ganzen Schlacht. Überall gewaltige Krieger­

massen, hier um die Wachtfeuer gelagert, dort sich schon dem Schlummer über­ lassend, da noch im Marsche, um neue Stellungen zu beziehen! Überall Ver­ wüstung und Schrecken! In den Dörfern die angsterfüllten Bewohner, die noch nicht in der Ferne und in den Wäldern Schutz fanden! Überall die Plünderung

ihrer Habe und rohe Mißhandlung! Und auf den beiden großen Schlachtfeldern!

Tausende liegen entseelt; ans allen Wunden rinnt das Blut; hier das Wimmern der hülflos verlassenen Verwundeten, dort die Ärzte in blutiger Arbeit, die zer­ schossenen Glieder abzunehmen, weit klaffende Wunden zu verbinden. Vom Kör­ per losgerissene Glieder liegen überall zerstreut, Massen getöteter oder krampfhaft zuckender verwundeter Pferde, Trümmer von Wagen und Kanonen, umgestürztes Fuhrwerk, Herden geraubten Viehes, brüllend durch die Kriegerhaufen rennend, Waffen und anderes Heergeräte, zerstreut in Stücken und ganz umherliegend! Überall das Grauenhafteste, waö je die Phantasie sich denken kann, in trauriger

Wirklichkeit! Und diese Scenen, die mild die Natur mit dem Schleier der Nacht dem menschlichen Auge verbergen will, erleuchten zahllose Wachtfeuer, unter denen die blutroten Feuersäulen vieler brennender Dörfer hoch zur Feuersglut des Himmels emporzüngeln. Und wie auf den Fluren, so in den Straßen von Leip­ zig! Überall Verwundete, Jammer, Not und Elend! Wer möchte sie zählen, alle jene, die in der kalten Herbstnacht hülflos und verlassen vor Hunger, Kälte und

Verblutung ein Jammerleben endeten! So brach der 17. Oktober, ein Sonntag, an. Schwere Nebel lagerten auf der blutigen Erde, und die ermatteten Truppen trafen Vorbereitungen für den folgenden Tag. Düster und trübe war der Morgen deö verhängnisvollen 18. Ok­ tober, als der rollende Kanonendonner in der 8. Stunde den Beginn der Schlacht

auf allen Seiten verkündigte. Mann verbündeter Truppen.

162000 Franzosen kämpften heute gegen 290 000 Bei Konnewitz, wo der Polenfürst Poniatowski

stand, begann der Kampf; jeder Fuß Landes ward mit Strömen Bluts erkauft; rastlos drangen die Verbündeten vorwärts bis an die Hauptstellung der Fran­ zosen bei Propstheida; hier aber, wo Massen gegen Massen stürmen, die einen mit Erbitterung und Siegesfreude, die andern mit Verzweiflung und kalter Todes­

verachtung, hier war der Kampf nicht Schlacht, ein Schlachten war's zu nennen. Angriff auf Angriff! 300 französische Kanonen donnern gegen die Verbündeten, Berge von Leichen und Verwundeten türmen sich an den Dorfeingängen: da ließen die in der Nähe weilenden Monarchen, Zuschauer des furchtbaren Kampfes, diesen endlich einstellen. Desto unglücklicher war die französische Armee bei Abt­ naundorf, Paunsdorf und Stötteritz; ganze Regimenter wurden vernichtet. Der

Kronprinz von Schweden hat beim Vorwerke „Heiterer Blick" den vom Marschall

Ney kommandierten Mittelpunkt der französischen Armee durchbrochen, und furcht-

312

VI.

Geschichte.

bare Heeresmassen drängten die Besiegten vor sich her. Gräßlich war der Kampf um den Besitz von Schönfeld, das von den Russen unter Längeren angegriffen wird; siebenmal rückte man mit Sturmschritt vor, es steht das große, breite Dorf

in Flammen, noch wich der Marschall Marmont nicht; da macht der Abend dem grausigen Würgen ein Ende; es ziehen sich die Franzosen nach Volkmarsdorf und Reudnitz zurück. Um das Unglück voll zu machen, halten zwei Regimenter Württem­ berger und das sächsische Armeecorps die Reihen der Franzosen verlassen, letzteres längst grollend wegen alles Elendes, das die Franzosen über Sachsen gebracht hatten, und ergriffen von Begeisterung für die deutsche Sache. Kanonenschüsse

in ihre Reihen waren der Scheidegruß; aber auch die sächsische Artillerie wendet ihr Geschütz und sendet tausendfach den Tod in jene Scharen, mit denen sie so­ eben noch gestritten. Dies hemmt den Lauf der feindlichen Armee; Verwirrung bricht herein; sie muß weichen und verläßt am andern Morgen selbst Stötteritz und Probstheida. Es war um 8 Uhr abends; da ritt der Feldmarschall Fürst Schwarzenberg nach der Höhe von Meusdorf, von wo aus die verbündeten Fürsten dem Getümmel der Schlacht zugesehen hatten, und verkündigte den voll­ ständigen Sieg: da stiegen sie von ihren Rossen, entblößten die Häupter und sandten fromme Blicke zum Himmel empor. Napoleon aber ging nach Leipzig und diktierte in der Nacht die Anordnungen für den Rückzug. Nachts, schon nach Aufgang des Mondes ward er angetreten; lange Heereszüge, die Garden voran, bewegten sich auf der Straße über Lindenau nach Lützen und Weißenfels zu. Schon hatte der Kampf wieder begonnen, da bestieg Napoleon sein Schlachtpferd,

nahm Abschied von dem Könige von Sachsen, Friedrich August, und begab sich nach dem Ranstädter Thore, das zu passieren ihm endlich nach vielen Mühen durch ein Seitengäßchen gelang. Furchtbar war hier das Gewühl! Da zog Fußvolk und Reiterei in der engen Straße, Geschütz und Pulverwagen, Gesunde, Ver­ wundete und Sterbende, Wagen mit Frauen und Kindern, Marketender und Vieh­ herden, alles im wildesten Getümmel, in endloser Hast, mit Drängen, Stoßen und Geschrei bunt durcheinander. Jeder Aufenthalt auf der engen Straße bringt Stocken in den ganzen Knäuel; wer zu Fall kommt, ist verloren. Umgestürzte Kanonen, verlassenes Fuhrwerk aller Art, Pulverwagen und Gepäck, alles hindert den Zug.

Von der andern Seite drängen, stürmen, schießen die Verbündeten,

und noch sind mehr als 20 000 Franzosen in der Stadt! Da ertönt, es ist mit­ tags 12 Uhr, ein dumpfer Knall! Ein Schrei des bangsten Entsetzens durchzuckte die Reihen der Franzosen, die steinerne Elsterbrücke, die einzig Rettung versprechende, ist durch Übereilung eines Feuerwerkers zu frühzeitig gesprengt! Der Elsterfluß

mit tiefem Bette und hohen Ufern wehrt den Vorwärtsdringenden; man stürzt sich in die kalten Fluten, sie zu durchschwimmen; Tausende, unter ihnen auch der Polenheld Poniatowski, ertrinken, und Menschen und Pferde erheben sich in grauen­ vollen Gruppen über dem blutgefärbteu Gewässer. 15000 müssen sich als Kriegs­

gefangene ergeben. Durch die Grimmaische Straße aber bewegt sich eine Stunde später ein einfacher Zug; Kaiser Alexander und König Friedrich Wilhelm von Preußen siud's, umgeben von den ruhmumstrahlten Helden der blutigen Tage, Schwarzenberg und Blücher, dem greisen, unermüdeten Krieger! Deutschland ju-

VI.

bett über den Sieg bei Leipzig.

313

Gesch ichte.

Das Joch der Fremdherrschaft war abgeworfen,

und Deutschlands Stämme waren wieder, wie einst am großen Tage Hermanns, eins gewesen bei einer großen Sache. Mit Ruhm wird man noch in den fern­ sten Zeiten der Tage von Leipzig gedenken. Die Wiedergeburt Deutschlands, ja Europas beginnt mit den Tagen der Leipziger Völkerschlacht, und manche Ernte

jener blutigen Aussaat reift wohl noch.

96.

Themas.

Gebhard Lebrecht von Blücher. In darren und Kne,a, in Lun-; und Sie§, Bcwnht und spcß, ie ns; ei un-5 vom Feinde les. Goethes Aufschrift auf Blüchers 2tatne.

Blücher war von großer, schlanker Gestalt, von wohlgebildeten, starken Glie­ dern; ein herrlicher Schädel, eine prächtige Stirn, eine stark gekrümmte Rase, scharfe, heftig rollende und doch im Grunde sanft blickende, hellblaue Augen, dunkel gerötete Wangen, ein feiner, aber vom starken, herabhängenden Schnurrbart fast überschatteter Mund, ein wohlgeformtes starkes Kinn: alles dies stimmte zu einem tüchtigen Menschenantlitz überein, dessen ausgearbeitete Züge sogleich einen

bedeutenden Charakter erkennen ließen. Sein ganzes Ansehen trug das Gepräge eines Kriegshelden, eines gebietenden, wie eines vollstreckenden. Mut und Kühn­ heit leuchteten aus seinem ganzen Wesen hervor. Seine Unerschrockenheil in ge­ fährlichen Lagen, seine Ausdauer im Unglück und sein bei allen Schwierigkeiten wachsender Mut gründeten sich auf das Bewußtsein seiner körperlichen Kraft, die er in früheren Feldzügen im Handgemenge oft geübt hatte. So war es bei ihm nach und nach zur Überzeugung geworden, daß es keine militärische Verlegenheit gäbe, aus welcher man sich nicht am Ende durch einen Kampf Mann gegen Mann herausziehen könne. Wenn die Truppen ihre Befehle hatten, so konnte er die Ausführung kaum erwarten, und alle Bewegungen schienen ihm zu langsam; es war nicht ratsam, ihm den Entwurf zu einer Schlacht vorzulegen, deren Dauer-

auf den ganzen Tag und die Entscheidung auf den Abend berechnet war; sein Charakter verlangte schnellere Entscheidung. Die Reiterei war seine Lieblings­ waffe. Von seinem Gleichmute in Gefechten, von seiner Todesverachtung werden viele Züge erzählt. Im größten Kugelregen bei Ligny rauchte er gelassen seine Pfeife, die er an der brennenden Lunte des nächsten Kanoniers angezündet hatte. Seine Umgebungen hatten immer alle Mühe, ihn von der persönlichen Teilnahme

an einzelnen Angriffen zurückzuhalten, besonders wenn ein Gefecht ungünstig aus­ fiel: dann wollte er zuletzt immer persönlich mit der Reiterei alles wieder umlenken, und indem er sagte: „Ich werde sie gleich mal anders fassen!" oder: „Na, ich will schon machen, laßt mich nur erst unter sie kommen," sah er sich eifrigst nach der nächsten Reiterei um, rief die Anführer herbei, denen er das meiste zu­ traute, und war oft kaum zu verhindern, seinen für das Ganze vielleicht schon zwecklosen, für die Truppen aber, selbst im Gelingen, verderblichen Anschlag aus­

zuführen. Aus dem Schlaf aufgerüttelt, um die Meldung zu vernehmen, daß Napoleon eine neue, ebenso unerwartete als kühne Bewegung ausführe, antwortete

314

VI.

Geschichte.

Blücher gähnend: „Da kann er die schönste Schmiere kriegen!" gab einige für den Fall'nötige Befehle und drehte sich gelassen auf die andere Seite zum Wei­ terschlafen. Durch solche Art zu sein und die Dinge zu nehmen hatte Blücher eine unwiderstehliche Wirkung auf das Volk: der gemeine Mann war ihm überall,

wo er sich zeigte, sogleich zugethan; selbst in Frankreich hatte das Bolk eine Art Borliebe für ihn. Ihm war insbesondere die Gabe eigen, mit den Soldaten umzugehen, sie zu ermuntern, zu befeuern; mit dem Schlage weniger Worte, wie sie der Augenblick ihm eingab, durchzuckte er die rohesten Gemüter. Einst wollte er kurz vor einem Sturme seine Truppen anreden; da fiel ihm ihr schmutziges Aussehen auf und sogleich an diesen Eindruck seine Worte anknüpfend, rief er in seiner Kraftsprache: „Kerls, ihr seht ja aus wie die Scbweine; aber ihr habt die Franzosen geschlagen. Damit ist's aber nicht genug; ihr müßt sie heut wieder­ schlagen; denn sonst sind wir alle verloren!" eine Anrede, welche von der größten Redekunst nicht glücklicher ausgedacht und angeordnet werden konnte. Ebenso glücklich trafen oft seine Scherzworte, z. B. wenn er einem Bataillon Pommern,

welches beim Eindringen in Frankreich überaus brav gethan, aber auch sehr ge­ litten hatte und in ernster, fast düsterer Haltung einherzog, vertröstend zurief: „Nun, Kinder, sollt ihr so lang' in Frankreich bleiben, bis ihr alle französisch

könnt!" Das ganze Bataillon war augenblicklich in gute Laune versetzt. Nichts war merkwürdiger, als wenn er von seinen Kriegsereignissen erzählte; am liebsten sprach er von den Borfällen in Schlesien, von dem Gefechte bei Hainau und be­ sonders von der Schlacht an der Katzbach. Wahrhaft groß erscheint Blücher in seiner neidlosen Anerkennung des Berdienstes anderer, sowohl solches, das er selbst nicht teilen konnte, als auch dessen, welches in der Bahn des seinigen lag. Jede

würdige Erscheinung, jede tüchtige Kraft hielt er in Ehren, den Staatsmann und den Schriftsteller, den Kaufmann und den Künstler, sobald sie ihm in der Per­ sönlichkeit oder in dem Namenansehen entgegentraten, die ihren Wert ihm ver­ ständlich machten. Hierher gehört denn auch das große Wort, durch welches Blü­ cher einst die Lobreden, die man ihm zum Überdrusse vorgetragen, ungeduldig unterbrach. „Was ist's, das ihr rühmt?" rief er wie begeistert, „es war meine Verwegenheit, Gneisenaus Besonnenheit und des großen Gottes Barmherzigkeit!" Ein ander Mal in einer großen Versammlung, als bei Tische viele Trinksprüche schon auSgebracht und Sinn und Streben auf Seltenes und Wunderliches gerich­ tet war, verhieß Blücher, alle überbietend, er wolle thun, was ihm kein anderer nachmachen könne: er wolle seinen eigenen Kopf küssen. Das Rätsel blieb nicht lange ungelöst; er stand auf, ging zu Gneisenau hin und küßte ihn mit herzlicher Umarmung. Noch bei vielen Gelegenheiten gab er wiederholt das offene Bekennt­ nis, er selbst sei im Felde nur der ausführende Arm, aber Gneisenau das leitende

Haupt gewesen.

Ihre beiderseitige Freundschaft blieb ungetrübt bis ans Ende,

und kein Augenblick von Eifersucht rief jemals eine Teilung und Sonderung dessen herbei, was durch das Leben selbst vereint worden und nur also vereint in seinem vollen Werte besteht. Varnhagen voll Ense.

VI.

97.

Geschichte.

315

Blücher in den Schlachten bei Ligny und Belle-Alliance.

Napoleon befand sich auf der Insel Elba, und die verbündeten Monarchen glaubten, mit ihm fertig zu sein. Sie begaben sich nach Wien, um die zerrütte­

ten Verhältnisse Europas zu ordnen; damit ging es aber langsam, und noch waren sie nicht fertig, als plötzlich die Kunde erscholl: Napoleon hat Elba verlassen und ist nach Frankreich zurückgekehrt! Diese Nachricht versetzte die Völker Europas in große Aufregung; Worte vermögen kaum zu schildern, was Millionen bewegte; in Deutschland war es Zorn und Wut, Furcht und Entsetzen, in Frankreich unendlicher Jubel. Die Städte öffneten ihrem alten Kaiser die Thore, die Sol­ daten sammelten sich unter seinen Fahnen. Der König von Frankreich, der sich die Liebe seiner Unterthanen nicht zu verschaffen gewußt hatte, schickte ihm ein Heer entgegen, aber es ging zu ihm über, und wie im Triumphe zog Napoleon am 20. März 1815 in Paris ein. Ludwig XVIII. hatte die Flucht ergriffen. Napoleon sprach zu den Verbündeten Worte des Friedens; diese aber riesen ein­ mütig: Napoleon ist ein Verräter, und wir werden ihn bis auf den letzten Mann bekämpfen. Blücher, der nach Beendigung des Krieges einen schlichten Bürger­ rock angezogen hatte, erschien nun unter dem Zujauchzen des Volkes in den Straßen Berlins auf einmal wieder in der Feldmarschaüs-Uniform und trieb zu energischen, kräftigen Rüstungen. Ganz Deutschland wurde aufs neue zu den Waffen gerufen. In vier großen Haufen rückten die Preußen unter Blücher in die Niederlande ein bis dicht an die Grenze Frankreichs; neben ihnen sammelten

sich die Engländer, Niederländer, Hannoveraner und Braunschweiger unter dem englischen Feldherrn Wellington. Blücher hatte sein Hauptquartier zu Namur, Wellington zu Brüffel; beide Heerführer hatten sich gegenseitig schnelle Hülfe zu­

gesagt. Napoleon warf sich zuerst auf Blüchers Heer; bei Ligny standen am 16. Juni 130 000 Franzosen gegen 90000 Preußen. Es war ein schreckliches Ge­ wühl; um die Höhen und Dörfer wurde gekämpft; bald hatten sie die Franzosen, bald die Preußen inne. Blücher wartete vergebens auf die 20 000 Mann Hülfs-

truppen, die ihm Wellington versprochen hatte; seine Krieger waren schon alle üii Feuer gewesen, und Napoleon konnte noch immer neue Scharen einrücken lassen; dennoch hielten die Preußen stand bis gegen Abend. Da ließ Napoleon seine Garden ausmarschieren; diese warfen alles vor sich nieder. Blücher fliegt ihnen mit der Reiterei entgegen; da trifft eine Kugel sein Pferd, es stürzt und wirft sich auf ihn. „Nostiz, ich bin verloren!" ruft der Heldengreis seinem Begleiter zu; dieser kommt ihm aber schleunig zu Hülfe, zieht ihn, als die feindliche Reiterei glücklich an ihnen vorübergebraust ist, unter dem Pferde hervor und bringt ihn in Sicherheit. Die Schlacht ist verloren, aber der Feldherr gerettet, und sein Mut ist ungebeugt geblieben. „Wir haben Schläge gekriegt," ruft er heiter sei­ nem Freunde Gneisenau zu, „aber wir werden die Scharte auswetzen!" Unter heftigen körperlichen Schmerzen liegt er die Nacht schlaflos in einer Bauernhütte;

doch Kopf und Herz sind gesund. Den Bericht an den König ordnet er noch selbst; als er eben damit fertig ist, will ihm ein Wundarzt die gequetschte Stelle einreiben.

Blücher fragt, was er da habe.

„Spirituosa," erhält er zur Antwort.

316

VI.

Geschichte.

„Na," erwidert der Feldherr, „auswendig hilft bas nicht viel. Ich will dem Dinge besser beikommen; bringt mir Champagner!" Darauf trank er mit den Worten dem Kurier zu: „Sagen Sie nur Sr. Majestät, ich hätte kalt nachge-

trunken; es würde schon besser werden." Am Morgen des 17. Juni ließ Wel­ lington bei Blücher anfragen, ob er ihm zu einer Hauptschlacht mit zwei Heeres­ abteilungen zu Hülfe kommen könnte. „Mit meiner ganzen Armee," war Blüchers Antwort, „und wenn uns die Franzosen nicht angreifen, so wollen wir sie an­ greifen." Der Erfüllung dieses Versprechens stellten sich aber bedeutende Hinder­ nisse entgegen; den 17. mußte er infolge seines Sturzes im Bette zubringen, und als er am 18. in der Frühe unmittelbar aus dem Bette aufs Pferd sollte,

hatte man Ursache, sehr besorgt um ihn zu sein. Der Wundarzt wollte ihn zuletzt noch einreiben; er wehrte ihn aber mit beiden Händen ab und versetzte: „Ach, nicht erst noch schmieren; ob ich heute balsamiert oder unbalsamiert in die andere Welt gehe, wird wohl so ziemlich einerlei sein!" Er setzte sich zu Pferde, wie sehr ihn auch die gequetschten Glieder schmerzten, und rief: „Vorwärts, Kinder!" Seine Truppen waren aber noch sehr angegriffen von der vorgestrigen Schlacht; der Weg war weit, der Boden ganz durchweicht, der Regen stürzte in Strömen vom Himmel, und nur mit unsäglicher Mühe konnte das Heer vorrücken. Blü­ cher war überall; den Regen nennt er seinen Bundesgenossen von der Katzbach, wodurch dem Könige wieder viel Pulver erspart werde; er rät, ermahnt, befiehlt, ruft sein bekanntes: Vorwärts, Kinder! Trotz alledem muß er das Gemurmel hören: Es geht nicht! Es ist unmöglich! Da redet er mit tiefster Bewegung und Kraft seine Krieger an: „Kinder, wir müssen vorwärts! Es heißt wohl, es geht nicht, aber es muß gehen, ich habe es ja meinem Bruder Wellington ver­ sprochen! Ich habe es versprochen, hört ihr wohl? Und ihr wollt doch nicht, daß ich wortbrüchig werden soll?" Das wirkte. Doch erst gegen 5 Uhr nachmittags kamen die ersten Züge auf dem Schlachtfelde an; es war die höchste Zeit, denn Wellington wurde hart bedrängt.

Napoleon hatte des Morgens früh ausgerufen:

„Ha, nun habe ich sie, diese Engländer!" 130000 Mann stürzten sich auf 80000. Den ganzen Tag ging's Sturm auf Sturm. Die Engländer fingen endlich an zu wanken. Wellington rief ihnen zu: „Brüder, wir müssen uns tapfer halten, wir dürfen nicht geschlagen werden; was würde man in England sagen?" Und

seine Truppen hielten sich über ihre Kräfte. Er schickte Boten über Boten an Blücher ab; er kam nicht. Seine Reihen wurden immer dünner; schon sind die Straßen nach Brüssel mit Flüchtlingen aus dem englischen Heere bedeckt, und

Napoleon sendet Boten mit der Siegesnachricht nach Paris: da setzt sich Welling­ ton fast in Verzweiflung auf die Erde und spricht: „Hier werde ich bleiben und keinen Fuß breit von dannen weichen." Und gegen 5 Uhr rüst er seufzend: „Ich wollte, es wäre Nacht, oder die Preußen kämen!" Bald darauf hörte er im Rücken und in der rechten Seite der Feinde heftigen Kanonendonner: da springt er begeistert auf und jubelt mit Thränen in den Augen: „Nun, gottlob, da kommt der alte Blücher!" Die Preußen warfen sich auf den siegenden Feind; der Kampf wurde heftiger denn je. Die Franzosen verrichteten Wunder der Tapferkeit; allein ein Haufen nach dem andern wird geworfen; nur der Kern der französischen Armee

VI.

Geschichte.

317

hält noch stand! Ihre Adler sind mit Trauerflor umwunden; erst nach dem Siege

sollen sie entschleiert werden. Doch die treue Schar kämpft den Kampf der Ver­ zweiflung vergebens. Die englische Reiterei ruft ihr zu, sich zu ergeben; darauf erschallt die Antwort: „Die Garde stirbt, sie ergiebt sich nicht!" Und ihre Worte wurden zur blutigsten Wahrheit. Kurz vor 9 Uhr war der Sieg errungen, und die französische Armee löste sich in grauenvolle Flucht auf. Blücher befahl: Der letzte Hauch von Menschen und Pferden muß zur Verfolgung des Feindes aufge­ boten werden; der General Gneisenau vollzog diesen Befehl; der Mond leuchtete ihm. Neunmal wurden die Feinde während der Nacht in den Dörfern und Ge­ treidefeldern aufgescheucht. Zu Jemappe wollte Napoleon ein wenig ausruhen; plötzlich erschallten die preußischen Hörner, und die Sieger brachen in die Stadt ein. Die Angst und Verwirrung war unbeschreiblich; alles floh voll Entsetzen in wilder Eile durch- und übereinander; beinahe wäre Napoleon gefangen worden. Hut und Degen, Kaisermantel und Ordenssterne zurücklassend, stürzte er aus seinem Wagen und entkam auf schnellem Rosse; aber sein Stern war untergegan­ gen. Die Verbündeten nahmen nochmals Paris ein; Napoleon wurde des Thrones für verlustig erklärt. Er ergriff die Flucht, geriet aber den Engländern in die Hände; diese führten ihn als Gefangenen nach der Insel St. Helena, wo er am 5. Mai 1821 am Magenkrebse starb. Seine irdischen Überreste wurden 1840

nach Paris gebracht und dort beigesetzt.

98.

ViittvinßVanö.

Das Lied vom Feldmarschall.

Was blasen die Trompeten? Husaren, heraus! Es reitet der Feldmarschall im fliegenden Saus, Er reitet so freudig sein mutiges Pferd, Er schwinget so schneidig sein blitzendes Schwert. O schauet, wie ihm leuchten die Augen so klar! O schauet, wie ihm wallet sein schneeweißes Haar!

So frisch blüht sein Alter wie greifender Wein, Drum kann er Verwalter des Schlachtfeldes sein.

Der Mann ist er gewesen, als alles versank, Der mutig auf gen Himmel den Degen noch schwang. Da schwur er beim Eisen gar zornig und hart, Den Welschen zu weisen die deutscheste Art. Den Schwur hat er gehalten. Als Kriegsruf erklang, Hei! wie der weiße Jüngling in'n Sattel sich schwang! Da ist er's gewesen, der Kehraus gemacht,

Mit eisernem Besen das Land rein gemacht. Bei Lützen auf der Aue er hielt solchen Strauß, Daß vielen tausend Welschen der Atem ging aus; Viel' Tausende liefen dort hasigen Lauf, Zehntausend entschliefen, die wachen nie auf.

VI.

318

Geschichte.

Am Wasser der Katzbach er's auch hat bewährt, Da hat er den Franzosen das Schwimmen gelehrt. Fahrt wohl, ihr Franzosen, zur Ostsee hinab, Und nehmt, Ohnehosen, den Walfisch zum Grab! Bei Wartburg an der Elbe, wie fuhr er hindurch! Da schirmte die Franzosen nicht Schanze, noch Burg Da mußten sie springen wie Hasen übers Feld, Hinterdrein ließ erklingen sein Hussa! der Held. Bei Leipzig auf dem Plane, o herrliche Schlacht! Da brach er den Franzosen das Glück und die Macht; Da lagen sie sicher nach blutigem Fall, Da ward der Herr Blücher ein Feldmarschall. Drum blaset, ihr Trompeten! Husaren, heraus! Du reite, Herr Feldmarschall, wie Sturmwind im Saus Dem Siege entgegen zum Rhein, übern Rhein, Du tapferer Degen, in Frankreich hinein!

99.

Der Übergang der Preußen über den Alsensund.

Am 18. April 1864 nachmittags 2 Uhr war kein Däne mehr diesseit des Alsensundes. Die zehn Schanzen, die beiden Brückenköpfe waren genommen; die berühmte Düppelstellung gehörte den Preußen. Um 4 Uhr schwieg das Feuer der Geschütze, das noch über den Alsensund hinweg von hüben und drüben ge­ donnert hatte. Die ermüdeten Truppen wurden zurückgezogen; die Garden stellten die Vorposten aus. Ein großer Sieg war errungen, das schleswigsche Festland von den Dänen frei. Seit dem glorreichen 18. Juni 1815 hatte Preußen keinen Tag erlebt wie diesen. Der Dank brach in Thränen und in Gebet aus. Aber es galt noch, einen letzten, voraussichtlich ernsten Strauß zu bestehen;

die Insel Alsen sollte genommen werden. Am 25. Juni stand das I. Corps im Sundewitt; am 26. lief die den Dänen bewilligte Waffenruhe ab, am 29. wurde

Alsen genommen. Die Anordnung des Generals Herwarth von Bittenfeld für den Übergang

war etwa folgende: „Um 12 Uhr nachts steht alles an den angewiesenen Plätzen. Anzug wie am Sturmlage; der Mann 80 Patronen. Brigade Röder als Avantgarde über den Alsensund.

Schlag 2 Uhr setzt die Der Übergang geschieht

mittelst 160 Kähne und durch den Pontontrain von vier den Führern mündlich bezeichneten Punkten aus zwischen dem südlichen Rande des Satrupholzes und

Schnabeckhage." Der Übergang über den Sund wurde von der ersten Heeresabteilung auf folgende Weise ausgeführt. Es war ganz dunkle Nacht; man konnte nicht zehn Schritte weit sehen. Pioniere und Ruderer mußten quer durch das große Holz marschieren; die Dunkel­ heit war unter den Bäumen so groß, daß man in Wahrheit die Hand vor den Augen nicht sehen konnte.

Der Kolonnenweg, den sie passierten, war durch Stroh-

VI.

Geschichte.

319

kränze, welche um die Bäume gebunden waren, bezeichnet, an denen die 15 Schritt vormarschierenden Unteroffiziere sich entlang fühlen mußten, und ohne welche man

sicher den Weg verfehlt hätte. Laternen konnte man selbstverständlich nicht be­ nutzen. Endlich gegen l’A Uhr war man am Ufer angekommen, und die für jedes Boot abgeteilten Schiffer besetzten die an den Vorderkufen derselben be­ festigten Taue, mittelst deren die Kähne in das Waffer gezogen werden sollten. Kurze Zeit nachher erschien auch das erste Bataillon des 24. Regiments und

wurde an die Borde eines jeden Kahnes verteilt. Die Dunkelheit und die Stille, in welcher diese Vorbereitungen ausgeführt werden mußten, waren natürlich ein großes Hindernis. Endlich kam der ersehnte Augenblick. Leise, aber allen vernehmbar ein „Los!" und auf dem knirschenden Sande bewegten sich die Fahrzeuge dem Wasser des Alsensundes zu. Je nach dem Terrain, je nach dem Gewicht der Kähne ging es hier schneller, dort langsamer; meist flogen die Schiffsgefäße über Boden und Rasen hinfort, und die Aufregung des Augenblicks verdoppelte die Kräfte. Die Offiziere griffen selbst mit an, und lustig ging's in das moorige Wasser. Immer noch kein Schuß, während man mit Sicherheit erwartet hatte, durch einen Hagel von Granaten empfangen zu werden. Volle hundert Schritte vom Ufer hatte man erst die Wassertiefe, bei der auch beladene Kähne flott bleiben. Da wurde eingestiegen, gleichzeitig von beiden Seiten. Einige Kähne, bei denen die Mann­ schaften in der Aufregung des Augenblicks dies versäumten, schlugen um; doch hatten die Leute noch Grund, und niemand kam zu Schaden. Die vordersten Kähne waren schon in voller Fahrt, immer noch kein Schuß, obschon die Spitze der Mannschaften jetzt höchstens 6—700 Schritt von dem feindlichen Ufer ent­ fernt sein konnte. Endlich krachte es herüber. Die Abteilung war mit ihrer Spitze in der

Mitte des Sundes. Sie hatte diesen ersten Schuß beinahe ersehnt. Jetzt war es klar, daß nichts dahinter steckte, daß die Dunkelheit und die Geräuschlosigkeit der Bewegungen die Preußen bisher sicher gestellt hatten. Dieser erste Schuß war das Signal zu einem lauten Hurra aus allen Kähnen. Das Feuer aus

den dänischen Verschanzungen wurde lebhaft und fand aus den Fahrzeugen hef­ tige Erwiderung; pfeilschnell flogen dieselben dem feindlichen Ufer zu; die braven

Musketiere faßten mit an; fiel ein Pionier,

er fand sofort einen Ersatzmann.

Die Miniekugeln schlugen massenhaft ein und fügten der ersten Abteilung be­ trächtliche Verluste zu. In dem ersten Boote, welches die preußische Fahne trug, und in welchem sich ausgesuchte Leute befanden, erhielt der Steuermann, PionierLüben, einen Schuß durch die Schläfe, der ihn lautlos niederstreckte. Ebenso lautlos ergriff Lieutnant Petry vom brandenburgischen Pionier-Bataillon das

Steuer, und mit raschen Schlägen ging es der Küste zu.

Viele Boote wurden von Kugeln durchlöchert. Dank den getroffenen Vor­ sichtsmaßregeln aber wurden die meisten durch Verstopfen der Löcher mit vorbe­ reiteten Wergpfropfen über Wasser gehalten. Einige Boote sanken; unter diesen war auch das, in dem sich der Fahnenunteroffizier des ersten Bataillons mit der Bataillonsfahne befand. Hauptmann von Radowitz eilte schwimmend hinzu und

VI.

320

G eschiHte.

rettete Fahne und Unteroffizier. Die Mannschaften der gesunkenen Boote er­ reichten fast ohne Ausnahme das Alsener Ufer. Els Minuten hatte die Fahrt über den Sund gedauert, der an dieser Stelle 850 Schritt breit ist. In dem­ selben Augenblick (2 Uhr 11 Minuten), in dem die ersten Boote landeten, flammten an der Alsenküste hin die Fanale auf. Es war zu spät. Alles sprang bis zur Hüfte ins Wasser, und mit lautem Hurra ging es dem Ufer zu. Lieutnant Petry, derselbe, der das Steuer des vordersten Bootes geführt hatte, war auch der erste, der den Fuß auf den Strand von Alsen setzte. Oberst Graf Haacke, der gleich nach ihm das Ufer erreichte, pflanzte mit eigener Hand die erste preußische Fahne

auf die erstiegene Brustwehr. Das Gehöft Arnkiel wurde trotz des Kartätschfeuers des Feindes im ersten Anlauf genommen. Die Verteidiger wichen in die nahe gelegene Fohlen­ koppel zurück. An dem Rande derselben eroberte Graf Uork v. Wartenburg das erste dänische Geschütz; nächst dem Kapitän der Batterie wurde die ganze Be­ dienungsmannschaft gefangen genommen. Die Preußen hatten festen Fuß auf Alsen gefaßt.

Soutane.

100.

Die Schlacht bei Königgrätz.

Am 3. Juli 1866 wurde die Schlacht bei Königgrätz geschlagen, durch welche eigentlich der Krieg Preußens gegen Östreich in der Hauptsache bereits beendigt

ward; so gewaltig und entscheidend waren die Folgen, welche aus diesem Siege der preußischen Waffen über die östreichische Streitmacht sich ergaben. Wir schildern im Folgenden die Schlacht in ihrem Gesamtverlauf, in ihren großen Zügen. Der Plan des Prinzen Friedrich Karl ging dahin, mit der I. Armee bei Sadowa die Bistritz zu überschreiten, die dahinter gelegene Höhe von Lipa zu er­ stürmen und dadurch das feindliche Centrum zu durchbrechen. Das gleichzeitige Vorgehen der Elb-Armee über Nechanitz, ein Stoß auf den feindlichen linken Flügel, beziehungsweise eine Umgehung desselben, sollten den Hauptstoß im Cen­ trum unterstützen. Als die Schlacht begann, wußte man preußischerseits noch

nicht, daß man die ganze feindliche Armee sich gegenüber habe. nur auf drei Corps und die Sachsen.

Man rechnete

Darauf hin war der Schlachtplan ent­

worfen worden. Der Feind stand den Preußen aber nicht mit seinem halben, sondern mit

seinem ganzen Heere gegenüber. Glücklicherweise war dieser Fall, wenn auch nicht geglaubt, so doch als möglich in die Berechnung gezogen worden. Damit man ganz sicher ginge, war der Kronprinz von Preußen um seine Mitwirkung angegangen worden. Kam er, ohne daß seine Hülfe dringend nötig wurde, so

war nichts verloren; wurde seine Hülfe aber erforderlich, stand man dem ganzen Feinde gegenüber, so hing der Sieg an seinen Fahnen. Man erkannte später, daß das Letztere der Fall war. In den ersten Stunden des Kampfes ging alles gut. Die Bistritz wurde überschritten. Die Vorhut der Elb-Armee nahm Nechanitz; ebenso rückten die

VI. drei Angriiffssäulen im Centrum vor.

321

Geschichte. Es war 10 Uhr vormittags.

Glückte es,

die Höhe von Lipa zu gewinnen, so war die Schlacht gewonnen, noch ehe der Kronprinz kam; aber alle Angriffe auf diese Stellung scheiterten. Immer neue Truppen, pommersche, thüringische, magdeburgische, zuletzt auch brandenburgische Regimenter, wurden gegen die Höhe geführt, aber vergebens. Ein Stocken kam in die Bewegung; einzelne Bataillone mußten zurück; nur mit ungeheuren 23 erlusten hielt man sich im Centrum. Mau sah zunächst nach rechts. Wenn die Elb-Armee, wie man erwartete, vordrang, wenn sie den Gegner überflügelte und seine einzige Rückzugslinie, die nach Königgrätz führende Chaussee, bedrohte, vielleicht wirklich durchschnitt, so war ein Erfolg im Centrum, zu dessen Erringung mau das in Reserve gehaltene brandenburgische Armee-Corps jeden Augenblick vorschicken konnte, immerhin noch möglich; aber dies erwartete rasche Borgehen der Elb-Armee fand, ohne daß diese ein Tadel iträfe, nicht statt. Die Lage auf dem rechten Flügel war ebendieselbe wie im Centrum; die mit Artillerie stark besetzten Höhen boten einen Widerstand, der nicht int ersten Ansturm zu brechen war. In diesen Augenblicken der Bedrängnis, wo von rechts her die Einwirkung nicht kam, auf die man gerechnet hatte, wurde es klar, daß die Entscheidung nur noch von links her kommen könne. Und sie kam. Bon Norden her stieß um die dritte Stunde des Nachmittags die kronprinzliche Armee nach vorhergegangenen leichten Gerechten in die Seite und in den Rücken der östreichischen Stellung. Die beiden Garde-Divisionen, welche Chlum und Lipa im ersten Anlauf nahmen, trieben sich wie ein Keil mitten in die Seite des Gegners hinein. Links neben ihnen rückte gleichzeitig das schlesische Armee-Corps vor und faßte den Feind be­ reits im Rücken. Um das Mißgeschick desselben voll zu machen, flankierte eben jetzt auch die Elb-Armee von Süden her die Stellung; seine einzige Rückzugslinie, die Königgrätzer Chaussee, konnte jeden Augenblick von zwei Seiten her durch­ schnitten werden. Um diesem drohenden Schicksal zu entgehen, das gleichbedeutend gewesen wäre mit Gefangennahme oder Vernichtung der östreichischen Armee, wurde vom General Benedek der schleunigste Rückzug befohlen. Der Rückzug ging über die Elbe. Die Verfolgung unterblieb wegen Einbruchs der Dunkelheit und Er­

schöpfung der preußischen Truppen. Diese rasteten in weitem Umkreis auf dem hart erstrittenen Grunde. Noch ehe der Kampf völlig schwieg, war der Kronprinz Friedrich Wilhelm mit dem Prinzen Friedrich Karl auf der Höhe von Chlum, dem Punkte, der die Entscheidung gab, zusammengetroffen. In stolzer Siegesfreude hatten sich beide beglückwünscht und umarmt. Von hier aus wandte sich der Kronprinz weiter süd­

lich über die Hochfläche hin, um seinen königlichen Vater aufzusuchen. Es währte längere Zert, ehe er ihn fand; überall, wohin der Kronprinz kam, hatte der König die jubelnden Truppenteile schon wieder verlassen. Auch des Kronprinzen Ritt glich einem Triumphzuge; die II. Armee dankte es ihrem General, daß er sie im rechten Augenblicke zum Siege geführt. Endlich ward er des Königs von

weitem gewahr und eilte ihm freudig entgegen. Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Lefeb.

5. Aufl.

Der König streckte dem sieg-

21

322

VI.

Geschichte.

reichen Sohne die Hand entgegen, in seiner Freude keines Wortes mächtig.

Der

Kronprinz erfaßte sie und bedeckte sie mit Küssen, bis der König den Prinzen in seine Arme schloß, an seine Brust drückte und zärtlich küßte. Kein Wort wurde gesprochen, alle Anwesenden blickten mit naffen Augen auf diese Gruppe. End­ lich fand der König Worte — welche, weiß man nicht, aber gewiß Worte der glänzendsten Anerkennung; denn er überreichte dabei dem Kronprinzen den Orden

pour le merite. Die Truppen lagerten so dicht, und die verschiedensten Divisionen waren so nahe aneinandergeschoben, daß die wunderbarsten Erkennungs- und Begrüßungs­ Scenen stattfanden. Freunde, die sich seit dreißig Jahren nicht gesehen hatten, sahen sich an diesem Tage auf diesem blutgetränkten Siegesfelde wieder. Um neun Uhr brannten die Lagerfeuer. Die Musiker bliesen über das Feld hin: „Nun danket alle Gott"; lausend Kehlen und hunderttausend Herzen stimmten mit ein. Montane.

101. Die Schlacht bei Gravelotte. Gerade vier Wochen, nachdem Kaiser Napoleon III. dem Könige Wilhelm die Kriegserklärung zugeschickt hatte, erhielt er von diesem bei der Festung Metz am 18. August 1870 eine Antwort, an der er sich für immer mußte genügeu lassen. Die Nacht vom 17. zum 18. August ist sicherlich für unsern König eine recht schwere und sorgenvolle gewesen, da er es sich nicht verhehlen konnte, daß für den nächsten Tag eine große und enscheidende Schlacht bevorstand. So war

denn auch der König, der die Nacht in Pont ä Mousson zugebracht hatte, bereits um 3 Uhr munter, legte dieselbe Uniform an wie in Gitschin am 3. Juli 1866, steckte den Füsilier-Säbel an die Seite, band diesmal aber die Schärpe um, da er wußte, daß es zur Schlacht kommen würde, während er es 1866 bei Gitschin nicht gewußt oder nicht geglaubt hatte. Die Fahrt nach dem Schlachtfelde ging über mehrere Dörfer nach dem Bergstädtchen Gorze, welches in einer Schlucht zwischen felsigen, zum Teil bewaldeten Anhöhen liegt. Hinter Gorze bestieg der König sein Pferd, diesmal allerdings nicht die „Sadowa", das Leib-Reitpferd von 1866, sondern den „Romeo", einen Braunen, und sprengte sofort auf die Höhe bei dem Weiler Flavignh, so daß er zu seiner Linken das Dorf Vionville, zur Rechten aber das Dorf Rezonville vor sich hatte.

Vor dieser Höhe waren die 18. und 25. Division (9. Armee-Corps) aufmarschiert; Schleswiger also, Holsteiner und Hesien sollten das Gefecht gegen den Wald hinter dem Dorfe Saint Marcel eröffnen. Es war aber bereits 12 Uhr, als der erste Kanonenschuß fiel. Sechs Stunden hatte also der König bereits zu Pferde gesessen, das Schlachtfeld übersehen, Berichte empfangen, Befehle erteilt:

da begann der Kampf. Die genannten beiden Divisionen drangen in den Wald und trieben die Franzosen aus demselben hinaus. Zu gleicher Zeit gingen unsere Rheinländer (8. Armee-Corps) und die Westfalen (7. Armee-Corps) gegen das Dorf Gravelotte vor, welches der Hauptpunkt dieses Schlachttages werden sollte, insofern sich um dasselbe der ganze Kampf drehte. Das 7. Corps, welches zu-

VI.

Geschichte.

323

sammelt mit Teilen des 1. Corps am 14. August das siegreiche Gefecht östlich von Metz bestanden hatte, war in der Frühe des 17. südlich von dieser Festung über die Mosel gegangen; ihm war das 8. Corps gefolgt. Dann hatten beide Corps ihre Richtung auf Gorze genommen, die Höhen daselbst besetzt und stan­

den nun von Süden her dem Feinde gegenüber. Ihnen war der Auftrag ge­ worden, die Franzosen aus den nach vorn hin liegenden Wäldern möglichst lang­ sam zu vertreiben, bis die beabsichtigte Umgehung des französischen rechten Flü­ gels durch die königlich sächsische Armee (12. Corps) und das preußische GardeCorps, denen die Brandenburger (3. Corps) und die Hannoveraner (10. Corps) zur Unterstützung nachfolgten, soweit gelungen wäre, daß auch diese auf den Feind einzustürmen vermöchten. Es gab nun auf dem für den Angriff äußerst schwierigen Erdreich zwischen den Franzosen und dem 7., 8. und 9. Corps ein lebhaftes Gefecht auf den Höhen und in den Thälern, durch Schluchten und durch Hohlwege hindurch, und da unsere Truppen den Befehl erhalten hatten, nicht zu sehr zu drängen, die Franzosen ihrerseits aber angewiesen sein mochten, sich nicht zu sehr drängen zu lassen, so wurde es 4 Uhr, ehe die Umgehung durch das 12. und das GardeCorps soweit vorgeschritten war, daß die Truppen, auf der Höhe von Saint Privat angekommen, sich rechts rückwärts wenden konnten und nun außerordent­ lich heftige und blutige Gefechte bis zum späten Abende zu bestehen hatten. Daß beide Corps hier Wune er von Tapferkeit verrichtet haben, beweisen die schweren Verluste, die sie zu beklagen hatten. Der Verlust an Offizieren beim GardeCorps war entsetzlich, zeugt aber für den Heldenmut dieser herrlichen Regimenter.

Sie rückten kämpfend und langsam siegend gegen das niederschmetternde Feuer der Franzosen bis zu einigen Vorwerken im Norden von Gravelotte vor, welche seltsamer Weise Leipzig und Moskau heißen. Als nun die Meldung anlangte, daß die befohlenen Bewegungen ausgeführt wären, ritt der König von der Höhe bei Flavigny nach einer anderen Höhe bei Nezonville, von der sich der Kampf im Walde vor Gravelotte besser übersehen ließ. Dieser wurde hier furchtbar. Die Preußen hatten zwar auf allen drei Angriffsseiten Terrain gewonnen, aber doch gerade nur so viel, daß sie jetzt erst vor der eigentlichen, zur Verteidigung besonders vorbereiteten Stellung des Feindes angelangt waren. Diese war so

fest, daß schon großer Mut dazu gehörte, die Wegnahme derselben überhaupt für möglich zu halten. Die Hohlwege hatten hier Ränder von 16 m Höhe; die Hochfläche selbst, an deren Abhang sich die große Straße von Metz nach Verdun hinzieht, ist an ihrer niedrigsten Stelle 108, an der höchsten 200 m hoch; der ganze Abhang war mit drei Reihen Schützengräben etagenförmig über­ einander versehen und jeder derselben dicht mit Infanterie besetzt, welche ihre Chasiepot-Gewehre vortrefflich gebrauchte; zum Überfluß war die Chauffee mit

einer großen Zahl von Geschützen bedeckt,

welche sämtlich das weite Thal in

seiner ganzen Ausdehnung bestreichen konnten. Der Feind zog vor der ihm drohenden Umgehung seine Kanonen aus der

ganzen Gefechtslinie zurück, so daß man von 5 bis 7 Uhr fast kein feindliches Geschützfeuer mehr hörte; desto heftiger war der Infanterie-Kampf, in welchen

21*

324

VI.

Geschichte.

nun von Norden her auch das Garde-Corps und das königlich sächsische ArmeeCorps eingriffen. Ehe der Feind sich in seine letzte Stellung auf der beschrie­ benen Höhe zurückzog, leistete er heldenmütigen Widerstand, ging an verschiedenen Punkten zum Angriff vor und gewann auch seinerseits Terrain. Diese Augen­ blicke waren verhängnisvoll; die Verluste waren auf beiden Seiten ebenso groß wie bei Königgrätz in den Wäldern von Benatek, Lipa und Sadowa; der Sieg schwankte lange hin und her. Unterdes war das *2. Armee-Corps herangekommen. Die 3. Division er­ hielt den Befehl, mit gefälltem Bajonett und klingendem Spiel die Höhen zu stürmen, und führte ihn so glänzend ans, daß die Franzosen sich sofort bis in den Bereich der Kanonen von Metz zurückzogen. Der Zweck des Tages war damit erreicht; das französische Heer war in die Festung geworfen, die Verbin­ dung zwischen Metz und Paris abgeschnitten, die ganze erste und zweite Armee um Metz ausgebreitet. Eins blieb noch zu thun übrig, die Zerstörung der Eisen­ bahn von Metz nördlich nach Thionville; und dies führte die Kavallerie des sächsischen Armee-Corps aus, welche trotz der nahen Festung weit genug nach Norden vorgegangen war. Während dieses beispiellos blutigen und erbitterten Angriffs ans die Höhen näherte sich der König denselben und wurde von den Franzosen sofort dermaßen mit Granaten beworfen, daß der Kriegsminister v. Roon den König dringend bat, sich nicht länger der augenscheinlichen Gefahr auszusetzen. Bei dieser Ge­ legenheit wurde das Pferd des Obersten Grafen Perponcher, Hof-Marschalls des Königs, und der Rittmeister Freiherr v. Buddenbrock an der Hand verwundet. Mittlerweile war es überraschend schnell dunkel geworden, so daß man die Granaten wie Feuerwerk in der Luft herumfliegen sah und die letzten feindlichen Kanonenschüsse, ehe die Geschütze hinter den Festungswällen verschwanden, wie bengalisches Feuer am Horizonte aufblitzten. Bis Pont ä Mousson waren von

hier aus beinahe 5 Meilen zurückzulegen; der König befahl deshalb ein Bivouak,

zumal da er in das nahe Bergstädtchen Gorze nicht zurückwollte, um dort nicht einem Verwundeten den Platz wegzunehmen. Endlich wurde ein Haus in dem Dorfe Rezonville gefunden, wo der König sich in einen Raum zurückziehen konnte, dem die schmeichelhafte Benennung eines Zimmers beigelegt wurde. Aus dem königlichen Kranken-Transport-Wagen wurde ein Tragbahrengestell genom­ men, ein paar Sitzkissen des Königs daraufgelegt, und das Bett war fertig! Zum Zudecken gebrauchte der König seinen Mantel. Kaum war der Morgen angebrochen, so war der König auch schon wieder auf. Von allen Seiten kamen die Berichte, welche das vollständige Gelingen des Kampfes bestätigten. Die deutsche Armee hatte sich nun zwischen Paris und die­ jenige französische Armee geschoben, welche allein Paris verteidigen konnte, und noch obenein diese Armee in die Festung Metz hineingeworfen, in der sie sich später kriegsgefangen ergeben mußte. Als endlich alles angeordnet war und die Franzosen keine Miene machten, den Kampf zu erneuern, fuhr der König nach Pont ä Mousson zurück und traf daselbst um 5 72 Uhr ein. Als er auf diesem Wege in Gorze an einem Hause vorüberkam, in welchem verwundete Offiziere

VI.

Geschichte.

325

lagen, trat ein Mann an den Wagen und überreichte ihm im Auftrage eines verwundeten Offiziers eine rote Rose. Leider war bei dem Jubelgeschrei, das von allen Seiten ertönte, der Name des sinnigen Gebers nicht zu verstehen, der noch auf seinem Schmerzenslager in treuer Liebe seines Königs gedachte. Seine körperlichen Leiden können nicht größer gewesen sein als die Seelenleiden des Königs, als er so viele seiner braven Soldaten, seiner besten Osfiziere ver-

HeinlichS.

WUttdet sah.

101a.

Die Trompete von Gravelvtte.

Sie haben Tod und Berd erben gespie'n; Wir haben es nicht gelitten; Zwei Kolonnen Fußvolk, zwei Batterie'«, Wir haben sie niedergeritten. Die Säbel geschwungen, die Zäume verhängt, Tief die Lanzen und hoch die Fahnen,

So haben wir sie zusammengesprengt, Kürassiere wir und Ulanen. Doch ein Blutritt war es, ein Todes­ ritt, Wohl wichen sie unsern Hieben; Doch von zwei Regimentern, was ritt und was stritt, Unser zweiter Manu ist geblieben. Die Brust durchschossen, die Stirn

zerklafft, So lagen sie bleich auf dem Rasen, In der Kraft, in der Jugend dahinge­ rafft, — Nun, Trompeter, zum Sammeln ge­

Und er nahm die Trompet', und er hauchte hinein; Da, die mutig mit schmetterndem Grimme lind geführt in cen herrlichen Kampf hinein, Der Trompete versagte die Stimme! Nur ein klanglos Wimmern, ein Schrei voll Schmerz, (SntqucU dem metallenen Munde. Eine Kngel hatte durchlöchert ihr Erz; Um die Toten klagte die wunde. Um die Tapfern, die Treuen, die Wacht am Rhein, Um die Brüder, die heute gefallen,

Um sie alle, es ging uns durch Mark und Bein, Erhub sie gebrochenes Lallen. Und nun kam die Nacht, wir ritten hindann, Rundum die Wachtfeuer lohten; Die Rosse schnoben, der Regen rann, Und wir dachten der Toten, der Toten!

blasen!

102.

Freitigrath.

Wilhelm 1. bei Sedan.

Wer das nicht mit angesehen hat, wie es am 1. September 1870 bei Sedan

hergegangen ist, der kann sich kaum einen Begriff davon machen und von dem, was am 2. dort vorging, erst recht nicht. Nach den drei blutigen Schlachten bei Metz am 14., 16. und 18. August

sollte sofort weiter auf Paris losgegangen werden. Dazu war erstens nötig, daß einige Armee--Corps der 1. und 2. Armee vor Metz stehen blieben und den darin befindlichen Resten der geschlagenen Armee, die noch aus 93 000 Mann ge­ schätzt wurde, zu verstehen gaben, daß von Herauslassen vor der Hand nicht die

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VI.

Geschichte.

Rede sei. Die 3. Armee unter dem Kommando des Kronprinzen sollte dagegen direkt auf Paris losgehen und auf der Hälfte des Weges dahin eine französische Armee schlagen, welche sich unter dem Befehl des bereits bei Wörth besiegten Marschalls Mac Mahon bei Chalons gesammelt hatte. Um aber auch bei dieser Unternehmung gegen Paris und gegen den Marschall nicht einsam und allein zu sein, wurde neben der kronprinzlichen Armee noch eine 4. gebildet, über welche der Kronprinz von Sachsen den Oberbefehl erhielt. Sie bestand aus dem Garde-, 4. und 12. (königl. sächsischen) Armee-Corps und setzte sich auf den rechten Flügel, während die 3. Armee auf dem linken Flügel nach Westen vorging und das große königliche Hauptquartier im Centrum hinter beiden in Bar le Duc blieb. Alle Armee-Corps freuten sich schon darauf, denselben Marschall, zum Teil auch dieselben Truppen noch einmal sich gegenüber zu haben, welche schon bei Weißenburg und Wörth sich so zuvorkommend gegen uns gezeigt hatten. Unsere bei Chalons versammelten Gegner schienen sich aber nicht in demselben Grade

darauf zu freuen; denn es kam plötzlich die Nachricht, daß sie die Stadt und das berühmte Lager bei Chalons verlassen hätten, um sich nach Norden zu begeben. Das war ein sehr auffälliger Umstand; die französische Armee mußte eine Ab­ sicht bei dieser seltsamen Rückzugslinie haben. Erst dachten wir, sie wollte uns in der Verlängerung unseres rechten Flügels bis Paris begleiten, um noch zu rechter Zeit mit uns zusammen dort anzukommen und unterwegs sich die Gelegen­ heit auszusuchen, um uns auf dem Marsche zu beunruhigen; dann kam vielen Leuten aber auch die Idee, die Chalons-Armee möchte am Ende nach Metz mar­ schieren wollen, um sich dort mit den 93 000 Mann des Marschalls Bazaine zu vereinigen, so daß dann beide zusammen wohl 200000 Mann stark uns im Rücken gestanden hätten. Da nun niemand gern einen Feind im Rücken hat, so war dies wahrscheinlich die Veranlassung, daß man einstweilen von dem weiteren Vor­ marsch gegen Paris abließ und beide Kronprinzen-Armeen dem sich nach Norden zurückziehenden Feinde erst folgten, dann aber sofort auseinandergiugen, um ihm beide Möglichkeiten zu nehmen. Die Armee des Kronprinzen von Sachsen marschierte also über Clermont, so

daß sie zwischen dem Feinde und Metz zu stehen kam, und die Armee unseres Kronprinzen marschierte über St. Menehould, so daß den Franzosen auch der Rückzug nach Paris abgeschnitten wurde. Diese zogen zunächst nach der Maas offenbar in der Absicht, wirklich nach Metz zu gelangen. Nun ging das Einholen los, und wer die hellblauen Bayern und die dunkelblauen Württemberger auf diesen

Märschen nicht gesehen, der hat auch noch keinen Begriff von vem, was gut ge­ schulte Soldaten leisten und fertig bringen können. Der König verlegte sein Haupt­ quartier sofort von Clermont nach Grandpre und begab sich am 30. August früh auf die Höhen von Sommeauth, weil gemeldet worden war, unsere Truppen hätten den Feind erreicht. Von den Höhen von Sommeauth konnte der König ein aus­ gedehntes Terrain übersehen. Die Sache fing gleich damit an, daß eine ganze französische Division in ihrem Bivouak überfallen wurde. Es war die Division des Generals de Faillh, von der einige Tausende nach Deutschland in die Gefangen­ schaft geschickt wurden. Der übrige Tag verlief eben so glücklich; die Franzosen

VI.

Geschi chte.

327

wurden auf allen Punkten von Beaumont bis Mouzon dermaßen zurückgeworfen, daß sie nun ihre östliche Ausweichung aufgaben und wieder nach Westen auswichen, um sich auf die Festungen Sedan und Mezieres zu stützen. Der König verlegte

das Hauptquartier nach Busancy, begab sich aber am Morgen des 31. gleich wieder auf das Schlachtfeld; es kam auch an einzelnen Stellen wieder zu Ge­ fechten; namentlich hatte das I. bayrische Armee-Corps Gelegenheit, sich auszu­ zeichnen; aber ordentlich stehen wollten die Franzosen an diesem Tage nicht, wahr­ scheinlich weil sie mit dem Rückzüge nach Sedan zu thun halten. Sie eilten we­ nigstens so schnell vorwärts, daß der König sein Hauptquartier nach Vendresse nur 2 Meilen von Sedan verlegte. Mittags kam derselbe durch das Städtchen Chemcry, wo unser Kronprinz das Hauptquartier der 3. Armee aufgeschlagen hatte und seinen königlichen Vater erwartete. Unser Kronprinz trug schon das Eiserne Kreuz. Das war ein Anblick, der Herz und Seele erfreute, der Vater das Kreuz von 1814, der Sohn das Kreuz von 1870, und beide in Frankreich! Es giebt Augenblicke und Eindrücke, die man gewiß in seinem ganzen Leben nicht vergißt, und das war so einer. Am andern Morgen, den 1. September, ging es nach Sedan. Schon von weitem hörte man das Donnern der Kanonen, und als man auf der letzten Höhe vor dem reizenden Thale ankam, in welchem Sedan am Maasflusse liegt, konnte man den ganzen, schon auf das heftigste entbrannten Kampf übersehen. Ein eben so schrecklickes wie großartiges Schauspiel! Man sah von der Höhe wie auf ein Schachbretthinunter, auf dem sich die Bataillone, Batterieen und Kavallerie-Re­ gimenter wie Schachsteine bewegten. Durch angestrengte Märsche und geschicktes Manövrieren war es richtig gelungen, den Feind, welcher rings um die Festung Sedan stand, vollständig zu umzingeln und in die ihm gleich anfangs zugedachte Klemme zu nehmen. Nur noch ein einziges Schlupfloch war am Morgen des 1. September offen gewesen, aber auch dieses stopfte ihm unser Kronprinz durch eine Umgehung mit dem 5. und 11. Armee-Corps zu, so daß der Feind nur noch in einem verzweifelten Kampfe seine Rettung sah. Unsere Soldaten hatten schwere Arbeit. Alle französischen Regimenter fochten mit außerordentlicher Tapferkeit und wichen keinen Fuß breit. Namentlich zeichnete sich ihre Kavallerie aus, welche

zwei- und dreimal unsere zusammengeschmolzenen Bataillone angriff und so lange zum Angriff wiederkehrte, bis auch von ihr fast nichts mehr übrig war. Dessen­ ungeachtet stand die Sache am Nachmittage schon so klar, daß weiter kein Miß­ verständnis darüber möglich war, wer den Tag gewinnen würde. Die geschlagenen französischen Regimenter zogen sich in die Festung zurück, und die übrigen fanden alle Luftlöcher zugemacht. Da sich nun bis 5 Uhr bereits 23 000 Mann gefangen gegeben hatten, so wollte unser König weiteres Blutvergießen vermeiden und sandte den Obersten Bronsart vom Generalstabe in die Festung, damit er als Parlamen­ tär den Höchstkommandiereuden frage, ob er sich nicht ergeben wolle, da er doch einsehen müsse, daß keine Rettung mehr möglich sei. Als der Oberst in die Stadt kam, fragte er nach dem Höchst-ommandierenden, erhielt aber zur Antwort, man wisse selbst nicht recht, zu wem man ihn führen solle. Der Kaiser Napoleon hatte das Ober-Kommaudo der Armee dem Marschall Mac Mahon übergeben; dieser

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VI.

Geschichte.

war aber durch einen Granatsplitter schwer verwundet worden und unfähig, das Kommando zu führen. Es mußte also eigentlich der älteste General nach ihm in das Ober-Kommando eintreten, und das war der General v. Wimpffen, der trotz seines deutschen Namens doch ein vollständiger Franzose und am Tage vor­ her erst aus Algier nach Sedan gekommen war, um das Kommando der Division zu übernehmen, welche bis dahin der General de Faitly kommandierte. Nun be­ fand er sich plötzlich durch die Verwundung des Marschalls Mac Mahon an der

Spitze der ganzen Armee. Unter diesen verwickelten Umständen führte man den Oberst Bronsart gleich zum Kaiser. Als nun Oberst Bronsart vor dem Kaiser

stand und ihm seinen Auftrag ausrichtete, stand dieser, auf einen Stock gestützt, von seinem Stuhl auf und gab ihm ein schon fertig geschriebenes, gesiegeltes uiiD adressiertes Schreiben, welches er nur Seiner Majestät dem Könige übergeben sollte, und damit auch gleich Antwort erfolgen könne, sollte der kaiserliche GeneralAdjutant Reille mitgehen. Es war gerade 6 Uhr, als beide Herren die Höhe heraufkameu, ans der der König stand. Der König trat etwas vor, seine gesamte Begleitung zog sich einige Schritte zurück. General Reille näherte sich dem Könige auf etwa 20 Schritt, nahm sein Käppi ab, ging mit entblößtem Haupte auf den König zu und über­ reichte ihm folgendes Schreiben des Kaisers Napoleon: Mein teurer Herr Bruder. Da ich nicht so glücklich gewesen bin, an der Spitze meiner Armee sterben zu können, so lege ich meinen Degen Eurer Majestät zu Füßen. Louis Napoleon. Der König nahm, öffnete und las das Schreiben, sprach einige Worte zu dem Gesandten und trat dann zurück, um in einer Gruppe, welche aus dem Kron­ prinzen, dem Prinzen Karl, dem Großherzog von Weimar und dem Herzog von Koburg, dem Grafen Bismarck und dem General v. Moltke bestand, den Brief vorzulesen. Sodann begab er sich nach dem Hintergründe, schrieb eine kurze Ant­ wort und ließ dieselbe durch den Major v. Alten dem General Reille überreichen,

welcher sie wieder entblößten Hauptes in Empfang nahm, zu Pferde stieg und zur Stadt zurückkehrte. Die Antwort des Königs soll ungefähr so gelautet haben: Ich handlungen Damit General v.

Mein teurer Herr Bruder. nehme Ihren Degen an, kann mich aber nicht eher in weitere Ver­ einlassen, als bis die Armee und die Festung kapituliert haben. war für den 1. September Feierabend. Der König befahl, daß der Moltke und Gras Bismarck die weitere Verhandlung führen sollten,

und kehrte abermals nach dem Haupt-Quartier Vendresse zurück, wohin unterdeffen auch schon diese Nachricht gedrungen war. Ein württembergisches Bivouak hatte

vor dem Eingang des Städtchens Freudenfeuer angezündet, und in Vendresse selbst war der Freude und des Jubels kein Ende. Ursache war genug dazu vor­

handen: der Kaiser gefangen, 23 000 Mann im Felde und 62 000 Mann in der Festung gefangen und eine Festung bekommen, deren Vorräte auch nicht übel waren!

VI.

Geschichte.

329

Schon ganz früh am 2. September war der König wieder bei der Hand und fuhr vorl Vendresse nach Sedan zurück, soll aber zu seiner Umgebung gesagt haben, er glaube nicht recht an die Kapitulation von Sedan, weil die Armee, welche die Festung verteidigen könnte, denn doch noch zu stark sei, und als die Wagen auf der Höhe bei Cheveuge angekommen waren, erschien der General der Infanterie v. Moltke von Sedan her und meldete, daß der französische Ge­ neral Wimpfsen wirklich keine Lust zum Kapitulieren habe. Der König stieg dar­ auf aus dem Wagen, trat auf das Feld neben der Chaussee und hielt dort einen

Kriegsrat ab, der zur Folge hatte, daß die eben auf der Chaussee haltenden Reserve-Batterieen den Befehl erhielten, im Trabe gegen Sedan vorzugehen und sich auch noch den rund um die Festung ausgestellten Batterieen anzuschließen. Dies geschah. Der König kehrte mit seinem Wagen, in welchen seit Chemery der Kronprinz gestiegen war, auf der Chaussee um und fuhr nun links von der Chaussee auf die Höhe über dem Städtchen Donchery, von wo am vorhergehen­ den Tage der Kronprinz kommandiert hatte. Hier erfuhr man nun alle merk­

würdigen Borgänge, welche an diesem Morgen stattgehabt. Ganz früh nämlich um ‘/26 Uhr war der Kaiser Napoleon plötzlich in einem

Wagen aus der Festung herausgekommeu und hatte den Offizier der ersten preu­ ßischen Feldwache in deutscher Sprache gefragt: „Wo ist der König?" Der Offi­ zier wußte das nicht, meinte aber, da Se. Majestät gestern die Schlacht von der Höhe aus kommandiert, so werde er sich wohl in der einzigen größeren Ort­ schaft befinden, welche überhaupt in der Nähe sei, also in Donchery. Dahin

fuhr der Kaiser, neben dem Wagen ritt der General Reille. Als auch dort niemand etwas von dem Aufenthalte des Königs wußte, fuhr der Kaiser wieder­ aus Donchery hinaus und setzte sich bei einem einzeln stehenden Hause der Bor­ stadt vor die Thür desselben. Unterdessen war Graf Bismarck herbeigekommen, und es begann nun eine Unterhaltung, Don welcher wir nichts verraten können, da wir sie nicht mit angehört haben. Auf dem Berge über Donchery stand indessen der König und erwartete den Ablauf der dem General Wimpfsen gegebenen Bedenkzeit. Bei ihm befanden sich der Kronprinz, Prinz Karl von Preußen, der Großherzog von Sachsen-

Weimar, der Herzog von Sachsen-Koburg, der Prinz Luitpold von Bayern, der Prinz Wilhelm von Württemberg und der Erbgroßherzog von MecklenburgSchwerin, sowie alle Generale und Stabs-Offiziere des großen königlichen HauptQuartiers und des Haupt-Quartiers der 111. Armee. Da unten im Thale lag die

Festung Sedan im schönsten Sonnenschein, rings umher die Bivouaks unserer Armee-Corps, links das Städtchen Donchery, daneben die 23000 Mann Gefan­ gene der gestrigen Schlacht, und überall auf den Höhen standen die Batterieen zum Bombardement aufgefahren. Da 81/« Armee-Corps hier um die Festung versammelt waren, so kann sich jeder selbst berechnen, daß über 800 Geschütze

bereit waren, Tod und Berderben auf die unglückliche Stadt zu speien, wenn General Wimpffen keine Bernunft annehmen wollte. Bon der Chaussee herab,

die südlich zur Stadt führt, rasselten unaufhörlich neue Reserve-Batterieen heran,

330

VI.

Geschichte.

und das fortlaufende Getöse dieser Geschütz- und Munitions-Kolonnen machte einen furchtbaren und beklemmenden Eindruck. Wenn man so von der Höhe hinab auf dieses anscheinend friedliche Bild sah und dann dachte, daß vielleicht nach wenigen Minuten scholl das Bombar­ dement mit seinen schrecklichen Folgen beginnen könne, so mußte man die vielen Unglücklichen beklagen, welche das Opfer desselben sein mußten. Glücklicherweise kam es nicht so; denn ungefähr um 12 Uhr wurde dem Könige durch den Geueralstabs-Offizier von Alten die vom General Winlpssen unterzeichnete Kapi­ tulation gebracht. Der König befahl, daß der General-Adjutant von Treskow

den Inhalt derselben allen Versammelten laut vorlesen sollte, was denn auch geschah. Als die Borlesung beendet war, sagte der König zu den Bersammelten: „Sie wissen nun, meine Herren, welch großes geschichtliches Ereignis sich zugetragen hat. Ich verdanke dies den ausgezeichneten Thaten der vereinigten Armeeen, denen ich mich gerade bei dieser Veranlassung gedrungen fühle, meinen königlichen Dank auszusprechen, um so mehr als diese großen Erfolge wohl ge­ eignet sind, den Kitt noch fester zu gestalten, der die Fürsten des Norddeutschen Bundes und meine anderen Verbündeten, deren fürstliche Mitglieder ich in diesem großen Moment zahlreich um mich versammelt sehe, mit uns verbindet, so daß wir hoffen dürfen, einer glücklichen Zukunft entgegenzugehen. Allerdings ist unsere Aufgabe mit dem, was sich unter unsern Augen vollzieht, noch nickt voll­ endet; denn wir wissen nicht, wie das übrige Frankreich es aufnehmen und be­ urteilen wird; darum müssen wir schlagfertig bleiben; aber schon jetzt jedem

meinen Dank, der ein Blatt zum Lorbeer- und Siegeskranze unseres Vaterlandes beigetragen." Nun stieg der König zu Pferde und ritt langsam den wohl über 133 m hohen Berg in der Richtung auf Sedan hinunter. Der Kaiser Napoleon war unterdessen eingeladen worden, von jenem Hause in der Vorstadt von Donchery weg nach dem kleinen Schlosse „le pctit Sedan“ zu fahren, wo die Leib-Küras­ siere, sowie eine Compagnie königlich bayrischer Infanterie sich bereits ausgestellt hatten. Als nun der König hier vorüberritt und hörte, daß sein kaiserlicher Ge­ fangener in diesem Schlößchen sei, trat er in dasselbe ein. Es war dies gewisser­ maßen ein Gegenbesuch; denn durch das Herauskommen des Kaisers auö der Festung auf unzweifelhaft eroberten Boden hatte er ja dem König seinen ersten Besuch schon gemacht und hatte auch auf den Berg kommen wollen, um sich dem Könige vorzustellen; der König hatte das aber abgelehnt, weil der Kaiser krank

war, nicht zu Pferde steigen konnte, und wenn er sich hätte herauffahren lassen, durch einen steilen Abhang und die abschüssige Stellung deö Wagens vielleicht Schmerzen gelitten hätte. Aus diesem Grunde besuchte der König den Kaiser und blieb über eine Viertelstunde allein mit ihm in einem Salon, während der

Kronprinz und Prinz Karl von Preußen die Rückkehr des Königs erwarteten. Vor der Schloßtreppe standen die beiderseitigen Gefolge einander gegenüber, ver­ mutlich mit sehr verschiedenen Gefühlen. Als der König wieder herauskam und

VI.

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Geschichte.

zu Pferde stieg, hörte man, daß der Kaiser nach Kassel auf das Schloß Wil­ helmshöhe gebracht werden würde. Von hier aus besuchte der König die einzelnen Abteilungen der um Sedan versammelten Truppen, überall mit höchstem Jubel begrüßt, und traf erst nachts

1 '/2 Uhr im furchtbarsten Unwetter in Vendresse ein. Sonnabend den 3. gönnte er einen Ruhetag seinen Truppen, welchen während der letzten Woche gewaltige Anstrengungen hatten zugemutet werden müssen, um zu so beispiellosen Ergeb­ nissen zu gelangen. Er selbst versammelte zu Mittag alle höheren Offiziere des Haupt-Quartiers an seiner Tafel. Da die königliche Tafel während des Feld­ zuges immer sehr einfach ist und nur gewöhnlicher Tischwein getrunken werden darf, so befahl der König aus Veranlassung der gestrigen glorreichen Ereignisse Champagner und brachte die folgende Gesundheit aus: „Wir müssen heut aus Dankbarkeit auf das Wohl meiner braven Armee trinken. Sie, Kriegsminister

von Roon, haben unser Schwert geschärft; Sie, General von Moltke, haben es geleitet, und Sie, Graf von Bismarck, haben seit Jahren durch die Leitung der Politik Preußen auf seinen jetzigen Höhepunkt gebracht. Lassen Sie uns auf das Wohl der Armee, der drei von mir Genannten mit) jedes einzelnen unter den Anwesenden trinken, der nach seinen Kräften zu den bisherigen Erfolgen beige­ tragen hat." So faßte der König noch einmal in gnädigster Anerkennung die Summe der Dinge zusammen. Und mit dem nächsten Morgen hieß es nicht mehr: Unser

König bei Sedan, sondern: Unser König auf dem Wege nach Paris! Nach Schneider.

103.

Das große königliche Haupt-Quartier.

Wenn irgendetwas in einem großen Kriege und bei einer großen Armee alle lebhaft interessiert, so ist es das Haupt-Quartier des Höchstkommandierenden, in dem gegenwärtigen Kriege also, ebenso wie 1866, das große königliche HauptQuartier mit seinem so zahlreichen Personal, mit seiner Zusammensetzung aus allen Dienstzweigen des Oberbefehls und der Oberverwaltung, mit seinen Kom­ mandos und Kanzleien, mit seinem Dienst- und Geschäftsbetrieb, mit seinem Zu­ sammenfluß aller Neuigkeiten, Nachrichten und Meldungen, mit seinem Ausfluß von Befehlen, Anordnungen und Bekanntmachungen. Bei der Zusammensetzung des Haupt-Quartiers ist es die nächste Sorge der

damit Beauftragten, so wenig als möglich an Personen und an Geräten mit ins Feld zu nehmen und die Obliegenheiten so zu verteilen, daß der Eifer und die verdoppelte Thätigkeit jedes einzelnen für das erhöhte Bedürfnis eintritt. Geht alles seinen ruhigen Gang, nehmen die Dinge ihren Verlauf, wie im Feldzuge

1866 und im Anfänge des Feldzuges von 1870,

dann reicht eben das meiste

aus, genügt und geht wie ein Uhrwerk. Kommen aber die raschen Bewegungen, die Änderungen in den schon gegebenen, vielleicht auch schon halb ausgeführten

Befehlen, treten außerordentliche Ereignisse ein, dann ist das große Haupt-Quartier schlimmer daran als die Truppe, die, immer in sich selbst abgeschlossen, auch un-

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VI.

Geschichte.

abhängiger von den Rücksichten ist, die für die Bewegung, Unterbringung und

Sicherung eines Haupt-Quartiers zu nehmen sind. Die erste Sorge für ein Haupt-Quartier muß seine Sicherheit und seine Ver­ bindung mit den Truppen sein, so daß ein Überfall, eine Überrumpelung und dadurch eine Gefährdung des obersten Feldherrn unmöglich wird. Dieser Für­ sorge steht jede andere nach. Zwischen dem Feinde und dem Hauptquartiere muß stets ein solcher Zwischenraum und dieser so ausreichend mit Truppen be­ setzt sein, daß sie erst ein Gefecht verloren haben müßten, ehe der Feind sich dem Haupt-Quartiere nähern kaun. Andrerseits muß dies wieder so nahe am Feinde sein, daß der König im Wagen oder zu Pferde das Schlachtfeld in möglichst kurzer Zeit zu erreichen vermag, um gleich nach Überschau des TerrainS seine

Befehle geben zu können.

Zu dieser Sicherung werden nun außer der Stabs­

wache auch noch die zunächst kantonnierenden oder bivouakierenden Truppenteile herangezogen oder verwendet, welche entweder in den Ort einrücken oder in unmittelbarer Nähe desselben verweilen. Bei der Einquartierung des Haupt-Quar­ tiers handelt es sich nicht allein darum, die Personen unterzubringen, sondern auch die Räumlichkeit für die amtliche Thätigkeit derselben zu finden, so z. B. für die Offiziere des großen Generalstabes, für welche in den kleinen Orten gewöhn­ lich die Schulen gewählt werden, für das Kriegs-Ministerium, das Militär-Ka­ binett, das Bundeskanzler-Amt, die Feld-Polizei. Kaum ist man angekommen und bat das Schreibmaterial ausgepackt, so beginnt auch schon für die Beamten die Thätigkeit in einer Anstrengung und Dauer, von der man in Friedensver­ hältnissen keine Ahnung hat. Jedes Schriftstück, welches aus einem Haupt-Quar­ tier kommt, muß doppelt vorsichtig und in aller Form ausgefertigt sein. Oft ist die Arbeit gar nicht zu bewältigen; denn es muß doch auch eingepackt, verladen, weitergefahren werden. Aus tiefster Ruhe plötzlich in die ungewisseste Bewe­ gung: das ist der tägliche Lebenslauf der Kanzlei-Beamten in einem Haupt-Quar­ tier und häufig in einer Stube, wo sechs Personen nicht allein arbeiten, sondern

auch schlafen und essen müssen. Die königlichen General- und Flügel-Adjutanten, der Leibarzt Sr. Majestät, die Chefs und Oberbeamten des Hofhaltes müssen natürlich so nahe wie möglich bei der Wohnung des Königs einquartiert sein, wo es sich thun läßt und die Räumlichkeit sich irgend dazu bietet, in demselben Hause. In kleinen Häusern und kleinen Städten oder Dörfern verbietet sich das von selbst; in größeren wird das Regieruugsgebäude, die Bürgermeisterei, manchmal auch ein großes Wirtshaus dazu gewählt. Der Bewegung des Haupt-Quartiers gehen die Furiere und Quartiermacher entweder schon einen Tag oder oft auch erst wenige Stunden vor dem Ausbruch voraus, die entweder mit Hülse der städtischen Behörden oder, wo dies der feind­ seligen Verhältnisse wegen nicht möglich ist, nach eigenem Ermessen verfahren. Es wird dann mit Kreide an die Hausthüren angeschrieben, welche Personen mit Dienerschaft und Pferden oder welche Kanzlei mit so und so viel Beamten dort einquartiert werden sollen. Daß bei diesem Aussuchen von Wohnungen das Vorhandensein von Stallungen und Unterkunft für die Wagen besonders maß­ gebend ist, versteht^stch von selbst. Von Bequemlichkeiten für Betten und Koch-

VI.

G'e schichte.

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gelegenheit der persönlichen Diener ist in Dörfern und kleinen Orten, nament­ lich wenn alle oder ein Teil der Einwohner geflohen sind, nicht viel die Rede. Jeder muß eben sehen, wie er fertig wird. In der Nähe des Feindes und wenn der Train des Haupt-Quartiers marschierenden Truppen begegnet, deren Be­

wegung unter allen Umständen nicht gehindert werden darf, ist es manchmal ganz unmöglich, alles Gerät und Gepäck zu rechter Zeit heranzuschafsen. So lange die Beförderung des großen königlichen Haupt-Quartiers sich mit der Eisenbahn bewerkstelligen läßt, also bis zum Eintritt in Feindesland oder bis dahin, wo die kriegerischen Operationen beginnen, wird alles, Personen, Pferde und Fahrzeuge, in mehreren Zügen befördert. Im Feldzuge gegen Frank­ reich wurden dazu nicht weniger als 6 große Züge gebraucht, von denen der erste oder königliche Zug alle Personen beförderte, die zur Umgebung und zum Gefolge des Königs und zu den hohen Kommandos gehörten. In diesem Zuge fuhren der König, die königlichen Prinzen, die Fürsten mit ihrem militärischen und anderen Gefolge, die Chefs, Offiziere und Beamten der verschiedenen Ministerien und Verwaltungszweige. Das Personal des großen Haupt-Quartiers ist zahlreich; aber so zahlreich es erscheint, so reicht es doch kaum für den Dienst aus, der die volle Kraft jedes einzelnen in Anspruch nimmt. Manchmal sieht es aus, als könne sich dies un­ glaubliche Gewirr von Quartiersuchenden, Abpackenden, sich Erkundigenden, Mel­

denden, Fragenden gar nickt auseinanderwickeln, und doch ist eine Stunde nach­ her alles in Ordnung. Die Köche kochen, die Pferde sind untergebracht, die Verteilung der Rationen ist erfolgt, die Wachen sind aufgezogen, die Posten ver­ teilt, und nachts 11 Uhr ist so ziemlich alles zur Ruhe gelangt. Nur eine Lampe brennt noch; es ist die Lampe auf dem Arbeitstische des Königs, der oft bis nach Mitternacht noch die eingegangenen Depeschen, Rapporte, Gesuche und Bitt­ schriften liest und nicht eher zur Ruhe geht, als bis alle Geschäfte des Tages abgethan und erledigt sind. Damit sind wir denn auch zur Hauptperson des Haupt-Quartiers gekommen, von welcher alles ausgeht, und zu der alles zurück­

kehrt, zu dem Könige selbst. So lange das Haupt-Quartier auf der Eisenbahn fährt, benutzt der König seinen eigenen Salon-Wagen, der aus niehreren Abteilungen besteht. In diesem fahren nur diejenigen Personen mit, welche dazu besonders befohlen werden, ge­ wöhnlich aber die General-Adjutanten, der Ober-Haus- und Hof Marschall und

der Flügel-Adjutant vom Dienst. Auf langen Strecken läßt sich der König, allein in dem kleinen Salon, von dem Kriegs-Minister und dem Chef des großen Generalstabes Vortrag halten, der beim Anhalten auf den Stationen unterbrochen

wird, um mit der Weiterfahrt wieder fortgesetzt zu werden. Steht eine TruppenAbteilung unter Waffen auf dem Bahnhöfe, so nimmt der König jedesmal den Rapport entgegen und die Honneurs mit Herabgehen an der Front ab. Diese Ehre widerfährt auch wohl Schützengilden, Kriegervereinen und Veteranen früherer Kriege, die sich zur Begrüßung des Königs eingefunden haben. Auf der Reise und während des Feldzuges erscheint der König immer im Überrock und Dienst­

mütze, bei Truppen und auf dem Schlachtfelde im Helm.

Von Orden trägt der

334

VI.

Geschichte.

König nur den Orden pour le merite mit Eichenlaub um den Hals, das Eiserne Kreuz von 1814 und das Band des St. Georgen-Ordens im Knopfloche. Nur wenn königlich bayrische, Württembergische, sächsische Truppen vor ihm erscheinen, legt er auch den Militär-Orden des betreffenden Staates an. Verläßt der König die Eisenbahn, so bedient er sich seines Reisewagens, der vierspännig vom Sattel aus gefahren wird. Mit im Wagen des Königs fährt der Flügel-Adjutant vom Dienst, wenn nicht der Kronprinz oder einer der könig­ lichen Prinzen den Platz einnimmt. Hintenauf sitzt ein Jäger. Der Wagen läßt, da er keinen Kutscherbock hat, vorn eine ganz freie Aussicht, und fährt der König fast immer offen. Es muß schon sehr starkes Regenwetter eintreteu, wenn das Halbverdeck in die Höhe geschlagen wird, wie z. B. in der Nacht vom 2. zum 3. September, wo ein heftiges Gewitter eintrat und nur mit Mühe in tiefster Dunkelheit der Weg durch das niedergebrannte Dorf Bazeille und zur PontonBrücke über die Maas zu finden war. Mit dem Eintritt in Feindes Land beginnt der Dienst für die Kavallerie der Stabswache, welche aus Kürassieren, Dragonern, Husaren und Ulanen aller­

norddeutschen Staaten zusammengesetzt ist. Ein Zug, von einem Offizier ge­ führt, reitet vor, ein anderer hinter dem Wagen. Bei langen Fahrten reiten einzelne Züge meist schon am vorhergehenden Tage voraus, so daß sie bei An­ kunft der Eskorte diese ablösen können. Ist die Ablösung erfolgt, so ruht die abgelöste Abteilung einige Zeit ans und folgt dann im Schritt bis zum Quartier-Ort. Steht ein Zusammentreffen der Vorhut mit dem Feinde in Aussicht, so werden die königlichen Reitpferde in Bereitschaft gehalten und gehen gewöhn lich dem königlichen Haupt-Quarüer voraus. Der große Generalstab bezeichnet den Beamten auf der Karte den Punkt, von wo aus der König sich zu Pferde zu den Truppen begeben kann, und dorthin folgen den königlichen Pferden auch die Pferde aller Generale, welche den König auf das Schlachtfeld zu begleiten haben, ebenso die Reserve-Pferde. Die Wagen bleiben dann entweder da stehen, wo sie verlassen werden, oder fahren gleich auf einen Punkt, wo sie dem ver­ mutlichen Ende des Gefechtes näher sind, halten dann aber, bis sie entweder herangeholt werden oder der König selber zurückkommt. Das Auffinden und Herankommen der Wagen hat manchmal seine Schwierig­ keiten, so am 18. August nach der Schlacht bei Gravelotte, wo der König abends spät so weit von seinem Haupt-Quartier entfernt und in der ganzen Gegend so wenig ein Unterkommen für die Nacht zu finden war, daß er in seinem Wagen schlafen wollte, oder am 2. September, wo das ganze Schlachtfeld im Norden von Sedan beritten worden war, bei Givonne ein heftiges Gewitter eintrat und die Wagen erst in tiefer Dunkelheit bei dem Dorfe Bazeille erreicht werden konnten, während bis dahin ein offener Wagen des Prinzen Albrecht von Preußen aus­ geholfen hatte. Im Wagen trägt übrigens der König meistenteils seinen Mantel

nach Form und Schnitt, wie er zur Zeit seines Vaters, König Friedrich Wil­ helms III., in der Armee für alle Offiziere üblich war. In dem Haupt-Quartier führt der König ganz dieselbe Lebensweise wie in der Heimat. Durchschnittlich steht er um 1 Uhr auf, im Sommer oft sehr viel

VI.

Geschichte.

335

früher, im Winter hin und wieder etwas später. Nie schläft er anders als in seinem eigenen Campagne-Bett, welches aus einem eisernen Gestell besteht, nur 33 cm von dem Boden hoch ist und nur wenig Polsterwerk hat. Bei rauher Jahreszeit deckt sich der König auch wohl noch besonders mit seinem Mantel zu. Nur eine kleine Taschenuhr wird neben dieses einfache Nachtlager an die Wand gehängt, ein liebes Andenken, welches der König schon im Jahre 1814 geschenkt erhalten, als er seinen königlichen Bater aus einer Neise nach Neufchatel und durch die Schweiz begleitete. Zur vorher bestimmten Zeit tritt, wenn der König nicht schon vorher ge­ klingelt hat, der dienstthuende Kammerdiener mit dem Garderobier tu das Schlaf­

zimmer, an Tagen, wo es zur Schlacht geht, schon sehr früh, z. B. bei Königgrätz, wo uni 4 Uhr, und bei Gravelotte, wo um 3 Uhr geweckt wurde, da der König gern schon beim Aufmarsch der Truppen gegenwärtig ist. Kommen De­ peschen, Briefe oder Telegramme während der Nacht an, so werden sie dem dienst­ thuenden Flügel-Adjutanten gebracht, damit dieser beurteilen kann, ob es nötig ist, den König deswegen zu wecken. Ist es nicht nötig, so werden diese Depeschen auf den Tisch gelegt, an welchem der König Kaffee trinkt, so daß dieselben so­ fort in seine Hände kommen. In einem Falle ist auch dies während des Feld­ zuges nicht geschehen, nämlich als die Nachricht von dem Tode der Prinzessin Friedrich der Niederlande, der geliebten jüngsten Schwester des Königs, am 7. De­ zember in Versailles eintraf. Da diese Kunde schon erwartet worden war, so hatte der Kronprinz angeordnet, daß ihm das für den König bestimmte Telegramm gebracht werden sollte, so daß der Sohn dem Bater die Trauernachricht auf die schonendste Weise mitteilen konnte. Der König zieht sich gleich nach dem Aufstehen von Kopf bis zu Fuß an und bleibt den ganzen Tag angezogen, macht es sich nicht weiter bequem, als daß er den Überrock aufknöpft, wenn er allein in seinem Zimmer ist oder nur Per­ sonen seiner Umgebung empfängt. Sobald andere Personen empfangen werden, erscheint der König immer mit zugeknöpftem Überrock; auch wenn er an das

Fenster tritt, um vorbeimarschierende Truppen zu sehen, oder wenn er weiß, daß Militär-Personen ihn sehen können, bleibt der Anzug immer dienstlich. Kommt der König von anstrengenden Truppenbesichtigungen oder aus einem Gefechte zu­

rück, so wechselt er wohl die Wäsche, zieht sich aber gleich wieder vollständig an. Einen Schlafrock, Pantoffeln oder sonst irgendeine häusliche Bequemlichkeit hat der König noch nie benutzt, selbst während eines Unwohlseins oder einer Krank­ heit nicht. Das Anziehen und die Toilette dauert ungefähr eine halbe Stunde; dann tritt der König in sein Arbeitszimmer, wo ein Leibjäger oder ein Leiblakai den Kaffee bereits und zwar auf den Schreibtisch des Königs gestellt und die

cingegangenen Telegramme, Familienbriefe und Depeschen daneben gelegt hat. Der Schreibtisch ist nämlich vom König selbst immer so in Ordnung gehalten,

alle Papiere rechts und links sind so nach ihrem Inhalt oder ihrer Bestimmung übereinandergelegt, daß vor dem Sitz immer ein freier Raum bleibt. Im Winter steht, bis es draußen hell genug zum Lesen wird, eine Arbeitslampe mit grünem Schirm auf dent Tische, bei deren Schein die ersten Telegramme und Briefe er-

336

VI.

Geschichte.

öffnet werden. Das Frühstück besteht aus Kaffee, hin und wirder auch aus Thee mit Zwieback und einem weichen Ei, bleibt auch unabänderlich unter allen Um­ ständen dasselbe. Nach dem Kaffee werden die mit der Post aus der Heimat angelangten Briefe und Berichte hereingebracht und zwar von dem Leibdiener, der das Früh­ stücksgerät hinausträgt. Der König öffnet sämtliche Briefe selbst ohne alle Aus­ nahme und überläßt dies unter keinen Umständen einer anderen Person, es müßte denn bei Krankheitsfällen in seiner Gegenwart geschehen. Nach den verschiedenen Behörden, welchen die eingegangenen Schreiben zum Bericht übergeben werden sollen, legt sie der König nun in verschiedene Mappen oder Fächer. Schon beim ersten Durchleseu macht er Zeichen oder Randbemerkungen auf die Briefe, je nachdem er die Eingabe, den Bericht oder das Gesuch dazu angethan findet. Diese Zeichen haben ihre ganz bestimmte Bedeutung, und die Beamten, in deren Hänoe die so geordneten Schriftstücke nun kommen, wissen danach zu verfahren. Alle für die in Berlin gebliebenen Ministerien bestimmten Schriften gehen nach Berlin zurück, dagegen erhalten die im Haupt-Quartier vertretenen Behörden, was sie zum Vortrage vorzubereiten haben. Die Unterstützungsgesuche, Einreichungen von Kunstwerken und Büchern oder Musikalieu gehen durch den Geheimen Hofrat Borck, welcher täglich morgens bei Sr. Majestät erscheint und die Befehle desselben persönlich in Empfang nimmt. Die Zahl dieser Unterstützungsgesuche und Bitten um Geldgeschenke nimmt auch während des Feldzuges nicht ab; ebenso die Zahl der Gnadengesuche nm Erlaß einer verwirkten Strafe. Jeder Brief, der durch die Post eingeht, kommt un­ fehlbar in die Hände des Königs und wird, nachdem die zuständige Behörde

Vortrag über denselben gehalten, beantwortet. In diesem Geschäftsbetrieb macht auch der Krieg nicht den geringsten Unterschied. Die Geschäfte vermehren sich durch das Hervortreten oder Hinzutreten der Befehle und Obliegenheiten für die Kriegssührung, aber sie ändern sich nicht. Um 9 Uhr meldet sich jeden Morgen der Flügel-Adjutant vom Dienst für den Tag, da täglich ein anderer in Dienst tritt. Alle Meldungen müssen zu­ nächst dem Flügel-Adjutanten gemacht werden, welcher allein das Recht hat, un­ aufgefordert in das Arbeitszimmer des Königs einzutreten; dies geschieht stets mit dem Helm in der Hand in streng dienstlicher Haltung. Wenn der König ausfährt, steigt der Flügel-Adjutant mit in dm Wagen und sitzt links neben dem Könige; er empfängt die fürstlichen Personen, welche den König besuchen, und be­ gleitet sie nach ihrem Range beim Weggehen. Der Flügel-Adjutant hält sich den ganzen Tag, oder bis der König ihn entläßt, im Vorzimmer auf. Er hat

auch ein Journal zu führen, in welches alles eingeschrieben wird, was während seines Diensttages geschehen. Solche Journale sind schon zur Zeit König Frie­ drich Wilhelms III. geführt worden und bieten das zuverlässigste Material für die Geschichte. Hat nun der Flügel-Adjutant um 9 Uhr seine Meldung gemacht, so fährt der König fort, die eingegangenen Briefe oder den Zeitungsbericht zu lesen, der

jeden Tag von einem Ministerial-Beamten aus allen europäischen Zeitungen zu-

VI. sammengestellt wird.

Geschichte.

337

Dann erscheinen die Grafen v. Pückler und v. Perponcher,

um die für den Hofhalt bestimmten Befehle zu empfangen. Der König ordnet hier gewissermaßen seine häuslichen und Familien-Angelegenheiten, sowie alles, was sich auf seine fürstlichen Gäste bezieht. Es werden diejenigen Personen be­ stimmt, welche zur Tafel oder zur Abendgesellschaft eingeladen werden sollen, und es wird überhaupt, soweit sich dies bei unvorhergesehenen Ereignissen während eines Feldzuges bestimmen läßt, der Verlauf des ganzen Tages festgesetzt. Daß daran, selbst wenn ein blutiges Gefecht dazwischenfällt, nichts geändert wird, dafür gab der 21. Oktober ein Beispiel, wo der König das gerade in Versailles

anwesende Offizier-Corps seines eigenen Grenadier-Regiments (2. Westpreußisches Nr. 7) hatte zur Tafel befehlen lassen. Gegen Mittag wurden die Truppen alar­ miert, weil der Feind einen Ausfall gegen Malmaison und Garches begonnen, und die 10. Division (mit ihr das Königs-Grenadier-Regiment) rückte aus, um gegen den Ausfall Stellung zu nehmen. Das Gefecht dauerte bis zum Eintreten der Dunkelheit, und war natürlich die Tafel bis zur Rückkehr des Königs vom Schlachtfelde verschoben worden. Kaum war aber Regiment auf Regiment und Bataillon auf Bataillon in Versailles wieder eingerückt, so erschienen die Offiziere zur Tafel, als ob inzwischen gar nichts vorgefallen wäre, oder als ob solche Unterbrechungen nicht mitzählten. Nun beginnen die eigentlichen Staats- und Regierungs-Geschäfte mit den sogenannten Vorträgen, zu denen die Chefs der verschiedenen Behörden erscheinen. Die Reihenfolge, in welcher diese Vorträge stattfinden, wird an jedem Tage be­ sonders bestimmt, und im Kriege gehen die militärischen Vorträge natürlich allen anderen vor.

Dem Vortrage der Generale, der gewöhnlich um 10 Uhr vormit­

tags stattfindet, der aber in besonderen Fällen auch schon um 8 Uhr früh, auch schon abends spät abgehalten worden ist, wohnt der Kronprinz jedesmal bei, wenn

er im Haupt-Quartier anwesend ist oder sich in der Nähe desselben befindet. Es gehören zu diesem Generals-Vortrage die General-Adjutanten, vom großen Ge­ neralstabe der Armee der Chef desselben, General der Infanterie Graf v. Moltke, und der General-Quartiermeister der Armee v. Podbielski. Dieser GeneralsVortrag findet gewöhnlich im Arbeitszimmer des Königs statt, wo auf besonderen Tischen die Landkarten der Länder und Gegenden ausgebreitet liegen, in welchen

der Krieg geführt wird. Bis die sämtlichen Generale beisammen sind, verweilen sie in dem Zimmer des Flügel-Adjutanten und treten dann gleichzeitig beim Kö­ nige ein. Wie es bei diesem Vortrage zugeht, weiß natürlich niemand, der nicht dabei war; aber wenn man nach den Erfolgen urteilt, welche aus demselben her­ vorgegangen sind, so möchte man wohl einmal, wie ein Mäuslein versteckt, zuge­

hört haben.

Wie die Minister in allen Civil- und Staats-Angelegenheiten, so

sind die zu diesem Vortrage berufenen Generale die höchsten und vertrautesten Räte des Königs in allen Kriegs- und militärischen Angelegenheiten. Wahr­ scheinlich werden erst die Berichte von allen Armeeen, Armee-Corps und selbstän­

digen Kommandos dem Könige vorgetragen und auch die vorgekommenen politi­ schen Begebenheiten erwogen, die Stellung der Truppen auf den Karten ver­

glichen und Vorschläge zu weiteren Operationen gemacht, nach denen dann der Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Lesebuch.

5. Aufl.

22

338

VI.

Geschichte.

König seine Entschlüsse faßt und die nötigen Befehle erteilt. Einige Male ist auch der Kanzler des Norddeutschen Bundes, Graf Bismarck, bei diesen GeneralsVorträgen gegenwärtig gewesen. Während derselben darf niemand angemeldet werden, wovon nur fürstliche Personen eine Ausnahme machen, die aber selbst gewöhnlich wünschen, nicht angemeldet zu werden, wenn sie hören, daß GeneralsVortrag ist. Kommen besonders wichtige Berichte, welche rasche Entschlüsse nötig machen, so läßt der König auch wohl zu außergewöhnlicher Tageszeit die Gene­ rale oder nur einige derselben zusammenberufen, oder es kommt vor, daß der Chef des großen Generalstabes allein zum Könige kommt, um eine ihm zugegan­ gene Nachricht vorzutragen und gleich den sich darauf beziehenden Befehl zu

empfangen. So ist also dieser Generals-Vortrag eigentlich die wichtigste Ange­ legenheit des Haupt-Quartiers, weil alles andere von ihm abhängt; es ist dem­ nach auch ganz in der Ordnung, daß ihm alles andere nachsteht. Von der Thä­ tigkeit und den Leistungen des großen Generalstabes und seiner einzelnen Offiziere ließe sich viel erzählen und zwar noch mehr, als sich ganz Europa schon davon erzählt, weil noch niemand öffentlich mitgeteilt hat, in welcher Art, durch welche Mittel und mit wie rastlosem Eifer und unter wie drängenden Umständen das alles hat geleistet werden können. Gegen 11 oder 12 Uhr nimmt der König etwas kalte Küche und zwar in

der Zeit, wo ein Vortrag geendet hat und der nächste beginnen soll; hat dann die ununterbrochene Arbeit bis 2 oder 3 Uhr gedauert, so fährt der König ent­ weder in die Lazarette, um seine verwundeten Soldaten zu besuchen und ihnen

Trost zuzusprechen, oder er besucht eine Anstalt, eine Kunstsammlung, ein Schloß, eine Merkwürdigkeit der Stadt, auch wohl die Umgegend, um die Stellung der Truppen, ihre Verteidigungsarbeiten oder die feindlichen Werke zu übersehen. An Gefechtstagen wird natürlich die ganze gewohnte Tagesordnung umgeworfen, und der König erfüllt seine Pflichten als Feldherr ebenso gewissenhaft und voll­ ständig wie diejenigen des Regenten. Mit seinen Soldaten teilt er Gefahren und Beschwerden, und, daß er beides nicht scheut, beweisen die sogenannten „hi­ storischen Granaten", wie der König selbst lächelnd diese unhöflichen Gäste zu

nennen pflegt, wenn davon gesprochen wird, daß er unnötig im feindlichen Feuer­ gehalten. An solchen Gefechtstagen ist auch von einem ordentlichen warmen Mit­

tagsessen nicht die Rede. Den ganzen Tag über begnügt sich der König mit etwas kalter Küche, die der Reitknecht bei sich führt, denkt auch manchmal nicht eher ans Essen, als bis alles vorüber und der Feind geschlagen ist. Ersichtliche Freude macht es dem Könige, wenn die Truppen ihn mit ihrem begeisterten Hurra! begrüßen; es folgt ihnen gewöhnlich sein Blick mit freundlichstem Ausdruck. Man muß aber auch gesehen haben, welch einen Eindruck es auf die Truppen macht, wenn sie plötzlich hören oder sehen: Der König ist da! Geht im Haupt-Quartier alles seinen ruhigen Gang, so speist der König gewöhnlich um 4 Uhr zu Mittag. Ist das Haupt-Quartier aber in Bewegung, wird ein Geburts-, ein Jahrestag oder ein Fest gefeiert, so wird auch wohl erst um 7 Uhr zu Tische gegangen. Die Zahl der Personen, welche regelmäßig zur königlichen Tafel gezogen werden, und die der eingeladenen oder befohlenen Gäste

VI.

Geschichte.

339

richtet sich zunächst nach dem Raum, über den verfügt werden kann, und dieser

ist in manchem Haupt-Quartier so beschränkt gewesen, daß die Tafel nur eine sehr kleine sein konnte. Zu den täglichen Tischgenofsen des Königs gehören die Generale seiner unmittelbaren Umgebung und der Flügel-Adjutant vom Dienst. Hin und wieder speist der König auch nicht an der Tafel mit seiner Umgebung; an dem Tage, wo die Nachricht von dem Tode der Prinzessin Friedrich der Nie­ derlande eintraf, speiste er nur mit seinem Bruder, dem Prinzen Karl, zusammen. Es wird von dem sogenannten Campagne-Service, leichten silbernen Tellern, ge­ speist. Große Delikatessen giebt es nicht, da der König in allen seinen Genüssen und Bedürfnissen die Einfachheit liebt. Nur wenn ihm aus der Heimat etwas besonders Appetitliches nachgeschickt wird, giebt es dergleichen auf seiner Tafel, die übrigens nicht lange dauert, und nach welcher der König sich sehr bald in sein Zimmer zurückzieht. Kommt es aber darauf an, ein glänzendes, wahrhaft königliches Diner zu geben, wie z. B. am 18. Dezember den 30 Reichstags-Mit­ gliedern, welche von Berlin nach Versailles gekommen waren, um die Adresse zu überbringen, in welcher der König gebeten wird, den Titel Kaiser anzunehmen, so fehlt es auch daran nicht, und wird bei solchen Gelegenheiten die ganze Pracht des königlichen Hofhaltes entfaltet, nicht weil es dem Könige, sondern weil es seinen Gästen Freude macht.

An der königlichen Tafel herrscht die ungezwungenste Unterhaltung, deren Mittelpunkt natürlich immer der König bleibt; Se. Majestät teilt sehr oft die neuesten Nachrichten mit, welche durch den Telegraphen zuerst an ihn gelangt sind, von denen also noch niemand etwas wissen kann. Für jeden seiner Gäste hat er ein freundliches Wort oder eine Unterhaltung über solche Dinge, die der­ selbe nach seinem Amt und seiner Stellung kennen und verstehen muß, über die er also auch Rede und Antwort geben kann. Sobald der König sich nach Tische in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hat, beginnt er auch sofort wieder zu arbeiten. Von einem Ausruhen ist nicht die Rede. Jetzt liest er die längeren Berichte, die umfangreicheren Schriftstücke und versieht sie mit seinen Randbemerkungen; jetzt studiert er die Karten der ver­ schiedenen Kriegstheater bis in die kleinsten Einzelheiten und vergleicht die Ge­

fechtsberichte mit der Karte; darum ist der König auch ebenso

genau über den

Stand der Dinge auf hundert Stunden Entfernung, wie in seiner unmittelbaren

Nähe unterrichtet, und bringen Offiziere persönliche Berichte, so sind sie gewöhn­ lich nicht wenig erstaunt zu hören, wie vertraut der König mit den Terrain-Ver­ hältnissen auf so weite Entfernungen ist. In der Heimat pflegt der König zur Erholung abends das Theater zu besuchen, einer Vorlesung, einem Konzert bei­ zuwohnen; während des Feldzuges aber gestattet er sich nicht die geringste Er­ holung oder Zerstreuung; dagegen nimmt er abends den Thee in Gesellschaft seiner Umgebung ein, wobei Zeitungsnachrichten vorgelesen, Erfahrenes mitgeteilt und illustrierte Werke besehen werden. Auch jetzt teilt der König den Ver­

sammelten meistenteils die seit dem Mittage eingegangenen Telegramme und Berichte mit, und die daran geknüpfte Unterhaltung ist vollkommen zwanglos. Der König raucht zwar nicht, fordert aber andere oft dazu auf und raucht dann

22*

VII.

340

Natur-, Länder-

und Völkerkunde.

auch wohl einmal selbst mit. Zur Gewohnheit ist weder Rauchen, noch Schnupfen bei ihm geworden; er hat eine so glückliche Natur, daß er alles thun, aber auch eben so leicht alles lassen kann. Jedenfalls hat der König nur eine wirkliche

Gewohnheit: die Arbeit! Der Thee dauert gewöhnlich bis 11 Uhr. Dann hebt der König die Ge­ sellschaft auf und begiebt sich in sein Arbeitszimmer, wo er ganz allein und un­ gestört gewöhnlich bis nach 12 Uhr, oft auch länger an seinem Schreibtische arbeitet. Aus der Zahl der am nächsten Morgen zur Bestellung gegebenen Briefe ersieht man, daß der König während dieser späten Stunde besonders viel schreibt. Nach Schneider.

VH.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

1.

Geschichte eines Wassertropfens.

Im Schoße des weilen Meeres sprangen im Hellen Sonnenschein tausend und aber tausend kleine Tropfen wie lustige Kinder auf dem Schoße ihrer Mutter und ließen sich vom Winde hin und her schaukeln. Ein Söhnchen in der zahl­ reichen Tropfenfamilie war besonders mutwillig und wollte immer am höchsten springen; aber er fiel, so wie seine andern Brüder, immer wieder in den Schoß der Mutter zurück. Wenn er dann aufschaute zum klaren, blauen Himmel, an welchem die strahlende Sonne spazieren ging, so erfaßte ihn eine gewaltige Sehn­ sucht, bis zu den Wolken emporzuschwingen, mit diesen durch das blaue Luftmeer zu schiffen und von oben herab die Erde zu beschauen; da flehete denn der kleine Tropf die Sonne an, sie möchte ihn doch einmal zu sich emporziehen und mit­ nehmen auf ihre große Reise um die Erde herum. Sogleich schickte diese einige von ihren Strahlen ab, die im Nu unten im Meere anlangten und das Tröpf­ chen nebst vielen seiner Brüder mit sich nahmen hoch in die Lust; schon war aber die ganze Reisegesellschaft von der Sonne in unsichtbare Luft verwandelt wor­

den.

Im schnellsten Laufe eilten die Tropfen der Sonne zu; als sie hoch genug

gestiegen waren, kamen sie an einen Luftstrom; in diesen sprangen sie hinein und ließen sich von demselben fortführen in kurzer Zeit weit über das Meer hinweg dem Lande zu.

Wie die Sonne alles schaut, was sich auf Erden begiebt, so hatten auch die Tropfen Helle Äuglein bekommen und ließen's am Schauen nicht fehlen. Alles war ihnen neu; in ihrer großen Verwunderung achteten sie gar nicht darauf, daß die Sonne, immer tiefer am Himmel niedergesunken, eben an der Stelle in das Meer tauchte, von wo sie ihre Reise begonnen hatte. Da schaute

sich der arme Tropf nach einem Obdach um; aber eine Herberge für die Nacht

VII.

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Natur-, Länder-

und Völkerkunde.

auch wohl einmal selbst mit. Zur Gewohnheit ist weder Rauchen, noch Schnupfen bei ihm geworden; er hat eine so glückliche Natur, daß er alles thun, aber auch eben so leicht alles lassen kann. Jedenfalls hat der König nur eine wirkliche

Gewohnheit: die Arbeit! Der Thee dauert gewöhnlich bis 11 Uhr. Dann hebt der König die Ge­ sellschaft auf und begiebt sich in sein Arbeitszimmer, wo er ganz allein und un­ gestört gewöhnlich bis nach 12 Uhr, oft auch länger an seinem Schreibtische arbeitet. Aus der Zahl der am nächsten Morgen zur Bestellung gegebenen Briefe ersieht man, daß der König während dieser späten Stunde besonders viel schreibt. Nach Schneider.

VH.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

1.

Geschichte eines Wassertropfens.

Im Schoße des weilen Meeres sprangen im Hellen Sonnenschein tausend und aber tausend kleine Tropfen wie lustige Kinder auf dem Schoße ihrer Mutter und ließen sich vom Winde hin und her schaukeln. Ein Söhnchen in der zahl­ reichen Tropfenfamilie war besonders mutwillig und wollte immer am höchsten springen; aber er fiel, so wie seine andern Brüder, immer wieder in den Schoß der Mutter zurück. Wenn er dann aufschaute zum klaren, blauen Himmel, an welchem die strahlende Sonne spazieren ging, so erfaßte ihn eine gewaltige Sehn­ sucht, bis zu den Wolken emporzuschwingen, mit diesen durch das blaue Luftmeer zu schiffen und von oben herab die Erde zu beschauen; da flehete denn der kleine Tropf die Sonne an, sie möchte ihn doch einmal zu sich emporziehen und mit­ nehmen auf ihre große Reise um die Erde herum. Sogleich schickte diese einige von ihren Strahlen ab, die im Nu unten im Meere anlangten und das Tröpf­ chen nebst vielen seiner Brüder mit sich nahmen hoch in die Lust; schon war aber die ganze Reisegesellschaft von der Sonne in unsichtbare Luft verwandelt wor­

den.

Im schnellsten Laufe eilten die Tropfen der Sonne zu; als sie hoch genug

gestiegen waren, kamen sie an einen Luftstrom; in diesen sprangen sie hinein und ließen sich von demselben fortführen in kurzer Zeit weit über das Meer hinweg dem Lande zu.

Wie die Sonne alles schaut, was sich auf Erden begiebt, so hatten auch die Tropfen Helle Äuglein bekommen und ließen's am Schauen nicht fehlen. Alles war ihnen neu; in ihrer großen Verwunderung achteten sie gar nicht darauf, daß die Sonne, immer tiefer am Himmel niedergesunken, eben an der Stelle in das Meer tauchte, von wo sie ihre Reise begonnen hatte. Da schaute

sich der arme Tropf nach einem Obdach um; aber eine Herberge für die Nacht

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

341

war in diesen luftigen Gefilden nicht zu entdecken; so faßte er denn den Ent­ schluß, lieber auf der Erde zu übernachten, die ihn mit ihren Wiesen und Bäumen

und Blüten so freundlich angelacht hatte. Gedacht, gethan! Leise und ungesehen schwebte er in die Tiefe hinab. Je tiefer er kam, desto schwerer ward er; er­ fühlte, wie er aus dem unsichtbaren Dunst sich in einen sichtbaren Wassertropfen verwandelte; er fiel immer schneller und schneller und langte endlich auf einem Rosenbusche an. Eine halb erblühete Knospe öffnete ihm gastlich die Thür, und

hurtig schlüpfte er hinein. Als am Morgen im Osten der Himmel sich rötete, setzte sich das Tröpflein munter auf den Rand eines Blumenblattes; hier erwartete es die liebe Sonne, und als sie majestätisch, gleich einer Königin, am Himmel aufstieg, wünschte es ihr einen guten Morgen. Diese spiegelte ihr Antlitz in dem Tröpflein ab, daß

es schöner leuchtete als der Diamant; ihre Strahlen aber zogen ihn schnell zum Himmel empor, und lustig schwebte er wieder fort über Städte und Länder, über Berg und Thal. Doch als der Tag immer heißer und schwüler ward, gingen dem übermütigen Gesellen die Kräfte aus; und seine Brüderchen, die unsichtbar neben ihm schwammen, waren auch müde. Da erbarmte sich die liebe Sonne und schickte einen kühlen Wind, der sie alle zusammentrieb in eine graue Wolke, die desto größer wurde, je mehr Tropfen zusammenkamen; sie drängten und drückten sich aneinander und wußten nicht, wie ihnen geschah, bis sie auf einmal in sichtbare, runde Wassertröpflein sich verwandelt sahen und im schnellsten Laufe der Erde zueilten. Das rauschte und plätscherte, als das kleine Heer auf der Erde unten ankam! Die Menschen aber sprachen: „Es regnet!"

Ein Teil der Tropfen fiel auf einen hohen Berg und unser kleiner Held gleichfalls; doch der hohe Fall that ihm gar nicht wehe; munter und guter Dinge sprang er an dem steilen Felsabhange hinunter und seine Brüderchen hinter ihm drein. Bald war wieder ein ganzes Heer beisammen, und jeder hielt so eng und fest an dem andern, daß sie anwuchsen zu einem schäumenden Waldbache, der keck in dem frohen Übermut der Jugend vorwärts strömte. Kamen sie an einen

spitzen und eckigen Stein, der sich ihnen trotzig in den Weg stellte, so versuchten sie, wer zuerst hinüberspringen konnte, und unser Freund brachte es immer am

höchsten. Als sie so zusammen eine Strecke fortgehüpft waren immer bergab, hörten sie im Thale drunten etwas klappern, und wie sie näher kamen, erblickten sie ein Haus; vor dem lagen zwei große, rund zugehauene Steine und standen

ein paar Esel, die von einem weißbestäubten Manne mit Säcken beladen wurden. An der Hinterseite des Hauses drehte sich ohne Aufhören ein Rad, über welches der Bach hinwegbrauste.

Es war eine Mühle.

Im Innern derselben wurden

durch das drehende Rad große Steine gleich jenen, die vor der Thür lagen, schnell wie im Fluge herumgewirbelt; das waren die Mühlsteine, welche fleißig arbeiteten, das Korn zu weißem Mehl zu zerreiben. Welcher Riese war es aber, der die Kraft besaß, das Mühlrad samt den schweren Steinen so hurtig zu drehen

und zu schwingen?

Niemand anders als unsere kleinen Tröpfe, die zu Tausen­

den über das Rad hinabsprangen und so kräftig auftraten, daß es sich vor ihnen beugte. Wie klein und winzig ist ein Wassertröpflein allein, in Wahrheit

VII.

342

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

ein armer Tropf! Aber wenn die Kleinen sich verbinden, fest wie Brüder anein­ anderhalten, dann gewinnen sie Riesenkraft und sind groß! Das Tröpslein mit

seinen Brüdern hinterdrein machte mutig den halsbrechenden Sprung, und als es hinabstürzte, war es, als müßte es im schäumenden Wasserstrudel unter dem

Rade sein Grab finden; aber bald arbeitete es sich mutig empor und schwamm weiter so ruhig und wohlgemut, als sei ihm nichts geschehen. Sein Weg führte den Tropfen zu einem Teiche, worein der Bach mündete; im Teiche beschloß er eine Zeit lang zu verbleiben. Doch endlich ward es ihm, der aus dem unendlichen Meere stammte, im winzigen Müllerteiche zu eng und zu klein, und er wäre gern wieder zur Sonne aufgestiegen, um mit ihr durch die Lüfte zu segeln nach dem Weltmeere zurück. Schon wollte er der Sonne seinen Wunsch wieder vortragen, da kam eine Frau mit der Gießkanne in der Hand, beugte sich zu dem Teiche hinab, erhaschte das Tröpflein in ihrem Gefäß und spritzte es auf die weiße Leinwand, welche neben dem Teiche zum Bleichen ausgespannt war; da saß er nun auf dem Trocknen, und er wäre schier verschmachtet, hätte nicht die Sonne mit ihren hellblickenden Augen zu rechter Zeit seine Not bemerkt. Rasch zog sie ihn mit seinen Brüder­ chen aufwärts, so daß keine Spur von ihnen auf der Leinwand zurückblieb, und wohlgemut schwamm er wieder im blauen Luftmeere dahin. Die Sonne wollte aber nicht fortwährend von den kleinen Tröpfen belästigt werden, und um eine Zeit lang Ruhe zu haben, schickte sie ihn jetzt über die Ostsee in das weite Flachland der russischen Ebene, wo es sehr kalt und wenig Merkwürdiges zu sehen ist. Als er müde und matt am russischen Himmel an­ langte, war es ihm nicht mehr zu heiß. Ein scharfer Wind wehete vom Nordpol her; der machte die Luft sehr frostig, und es kamen wieder Tausende von Wassertröpfchen zusammen, als wollten sie an einander sich wärmen. Doch mit

dem Erwärmen war es jetzt schlecht bestellt; jedes Wassertröpflein ward zu einem weißen, silberhellen Sterne, geziert mit feinen Nadeln und Härchen, so zart und fein

wie

die Härchen

auf

dem Flügel des

Schmetterlings; und wie weiße

Schmetterlinge schwebten nun die Eissternchen, im bunten Tanze durcheinander­ hüpfend, zur Erde hinab. Da sagten die Menschen: „Es schneit!" Unser kleiner, nun zu Schnee gefrorener Held war aber auf einen Acker niedergefallen und Tausende seiner Brüder mit ihm. Gleich einer warmen Winterdecke legten sie sich über das Feld hin und schützten die im Schoße der Erde keimenden Körner

Sie selber fühlten weder die er­ starrende Winterkälte, noch den rauhen Nordwind, der über die weiße Schnee­

und Würzelchen vor dem strengen Winterfrost.

fläche dahinsauste; sie schliefen den langen Winterschlaf. Die Sonne war weit, weit von ihnen fortgereist, blickte aber doch aus fernem Lande oft gütig auf die

eingeschlafenen kleinen Tröpfe nieder, und diese wurden dann schön wie funkelnde

Edelsteine und strahlten, als wären sie selber leuchtende Sonnen und blinkende Sternlein geworden. Wohl ein halbes Jahr mochten sie so geschlummert haben, da stieg die Sonne wieder höher am Himmel auf und ließ durch warme Frühlingslüfte ihre Ankunft dem ganzen Heere der Wassertropfen melden, die alle in weißer Uniform unbe-

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

343

weglich auf dem Felde in Reih' und Glied lagerten. Munter regten und hurtig bewegten sich alle; sie warfen das Schneekleid ab, und nun konnte man wieder die fließenden, nackten Wassertröpflein schauen. Ein Teil von ihnen senkte sich in die Erde hinab, um den keimenden Körnlein einen Labetrunk zu bringen; ein zweiter Teil stieg gerade zum Himmel an, setzte sich in die großen Wolkenschiffe und segelte

mit diesen nach Süden in die heißen Länder, die auch sehnlichst nach Regen ver­ langten; unser kleiner Held aber stellte sich an die Spitze der dritten Truppe, die jetzt von dem Acker weg zur Thalrinne hinabzog und hier in geschlossenen Reihen thalabwärts sich bewegte. Diese Tropfen hatten sich zu einem mutig dahinbrau­ senden, wildschäumenden Gießbach gebildet und sangenfreudig: „Frisch vorwärts zum Meer, frisch vorwärts zum Meer!" Da schallte ihnen Antwort von tausendmaltauscnd Stimmen entgegen aus einem größeren Bach, der das gleiche Reise­ ziel verfolgte: „Glück auf, ihr Brüder, zur frohen Wanderschaft!" Beide Heere der Wassertropfen flössen jetzt in eins zusammen: das war ein Plaudern, ein Murmeln und Lärmen, als immermehr Tröpflein zusammenkamen und sich frag­ ten und wieder erkannten und des Wiedersehens sreueten! Immer mehr Begleiter fanden sich ein, und wie erstaunten sie, als es Plötzlich in ein breites Flußthal ging, und ein starker, breiter, voller Strom stolz seine Wellen ihnen entgegen­ wälzte. Unser kleiner Wagehals sprang vor Freude auf die Schultern seiner Ka­ meraden und eilte über diese hinweg, um der erste zu sein, den prächtigen Strom zu begrüßen. Dieser war nicht wenig erfreut zu sehen, wie so vieles frisches Volk in allerlei Bächen ihm zuströmte und seine Macht vermehrte; die Tröpflein aber waren nicht wenig stolz darauf, zu einem so großen Flusse zu gehören, durch den sie stark wurden, die größten Lastschiffe zu tragen! Jeden Augenblick sah der gute Tropf etwas Neues, kleine und große Städte, Mühlen, die gleich schwimmenden Inseln mitten im Strome standen, Schleusen, in denen er sich gefangen sah, wenn

er die große Heerstraße verließ, aber aus denen er immer glücklich entwischte; doch das merkwürdigste Schauspiel erwartete ihn, als er an einer großen Handels­ stadt vorbeifuhr und in den Hafen derselben mündete. Da wimmelte es von Schiffen

allerlei Art, breiten und schmalen, hohen und niedrigen; noch nie hatte er so viele schwimmende Häuser beisammen gesehen; es war anzuschauen wie ein lebendiger Wald, aus dem Grunde des Meeres gewachsen: so viele Mastbäume ragten da empor. Und rings in einem großen Halbkreise standen schöne Paläste, so hoch wie die Kirchtürme; da hinein wurden die Warenballen geschafft und an Rollen

aufgewunden bis in die obersten Räume. Das alles betrachtete das Tröpflein, auf dem Steuerruder eines Kauffahrtei­ schiffes sitzend; es hätte Wochen lang da sitzen mögen, und die Zeit wäre ihm

nicht lang geworden. Indessen, als eines Tages die Matrosen eines Schiffes ihr Lied anstimmten: „Morgen da geht's in die wogende See!" da ward der kleine Meeressohn ergriffen von heftiger Sehnsucht, heimzukehren zu der lieben Mutter, von der er schon so lange getrennt war; Ungeduld, als die Segel aufgespannt und auf den obersten Rand des Steuerruders Meere zu. Es dauerte auch nicht lange,

er hüpfte und sprang voll Freude und die Anker gelichtet wurden; er kletterte und segelte mit dem Schiffe lustig dem da schwand zu beiden Seiten das Land,

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VII. Natur-, Länder- und Völkerkunde.

große und starke Wogen stürzten heran.

Nun stürzte sich der Tropfen in das

frohe Getümmel, um den erstaunten Brüdern, die im Meere zurückgeblieben waren,

seine Wanderfahrten zu erzählen: wie weit er gereiset, wo er gewesen, was er gesehen. Das Meer aber freute sich der zurückkehrenden Kinder, öffnete die Arme, und alle sanken an die liebe Mutterbrust. Wenn du einmal an einem heitern, stillen Sommerabend am Strande des

Meeres spazieren gehst und gar kein Lüftchen sich rührt, so hörst du dennoch ein leises Murmeln und geheimnisvolles Rauschen und weißt nicht, von wannen das kommt; siehe, das sind die Tröpflein, die sich wundersame Geschichten er­ zählen von den weiten Reisen, die sie gemacht. Und dann gedenke daran, daß der liebe Vater im Himmel, der alle Tropfen im Meere gezählet hat und sie

behütet, daß keins sich verliert und verloren gehet, auch deine Schritte lenkt und dich sicher geleitet durch die Jrrgänge des Erdenlebens in das Meer der Ewigkeit. Grube.

2.

Die Zugvögel.

Jmmermehr verbreitet sich Stille über die Natur, wenn die zahllosen Scha­ ren der Zugvögel unsere Gegenden verlassen und sich nach dem Süden binwenden. Dort hat der Allmächtige für die Millionen dieser gefiederten Ansiedler Nah­ rung in reicher Fülle bereitet; aber wie wohl sie sich auch bei dieser Fülle in ihrer zweiten Heimat befinden mögen, sie suchen dennoch, von ihrem mächtigen Natur­ triebe aufgeregt und geleitet, die erste und ihr altes Nest wieder auf. Dabei ist es merkwürdig, daß nicht alle gesellig und in Scharen ziehen; einige machen sich ganz einzeln auf den Weg, z. B. die Amseln, Nachtigallen und Wiedehopfe; andere ziehen nur familienweise fort, wie die Wachteln, Weindrosseln, Heidelerchen und Gimpel, oder sie ziehen auch paarweise. Ebenso merkwürdig ist die Zeitordnung, welche dabei von den Zugvögeln genau beobachtet wird, indem sie niemals zu gleicher Zeit aufbrechen, sondern in einer gewissen Aufeinanderfolge. Bei dem Rückzüge kommen auch die fremden Vögel wieder bei uns durch, di» im Herbste aus den nördlichen Gegenden bei uns vorüberzogen, aber nicht in unserm Him­

melsstrich überwintern, z. B. die wilden Enten und Gänse.

Die europäischen Zug­

vögel ziehen meistens nach Asien und Afrika; die Ufer des Dniepr, Natolien, Griechenland, Palästina und besonders das reiche Ägypten sind die Zufluchtsörter

dieser Auswanderer. Ein ganz eigentümlicher Ton, wodurch sie einander zum Aufbruch zusammen­ rufen, ist das Signal zum Wegziehen. Einige, besonders die Schwalben, stellen eine Art von Vorübung mit ihren Jungen an, ehe sie abziehen. In mondhellen Nächten während des September und Oktober hört man das laute Geschrei der Wegziehenden hoch in der Luft, und die Märchen vom wilden Jäger und wüten­

den Heere, welche der Aberglaube ersonnen hat, sind hieraus zu erklären. Sehr verschieden ist die Ordnung, welche sie auf dem Zuge selbst beobachten. Einige bilden eine gerade Linie, andere einen Winkel, dessen Mitte die Luft zuerst durch­ schneiden muß; wieder andere geben ihrem Heereszuge die Gestatt eines Keils,

VII.

Natur-, Länder- uuö Völkerkunde.

345

z. B. die wilden Gänse und Enten, und die voranfliegende, welche die Spitze des

Keils bildet, wird nach einiger Zeit abgelöst; noch andere ziehen in unabsehbaren Reihen hintereinander, wie die Meisen, Bachstelzen und Schwalben. Die wunder­ barste Ordnung beobachten die Stare; diese fliegen in einem Wirbel, und indem sie immer gegen den Mittelpunkt des Kreises, den sie dabei beschreiben zu fliegen

scheinen, treibt sie ihr rascher Flug dennoch vorwärts, so daß es aussieht, als ob sie sich allmählich in der Luft fortwälzen. Auf diese Art scheinen sie sich vor den Raubvögeln schützen zu wollen; denn kein Raubvogel kann es wagen, in diesen

Wirbel einzudringen, weil er mitfortgerissen werden würde. Die Kraniche, welche unter allen Zugvögeln die längste und kühnste Reise unternehmen, ziehen aus den nördlichen Erdstrichen in die gemäßigten und aus diesen tief gegen den Süden bis ins Innere von Afrika. Sie fliegen dicht aneiuandergeschlossen, so daß jeder seinen Schnabel auf dem Schwänze des vor ihm fliegenden ruhen läßt; so bilden sie ein gleichschenkliges Dreieck, indem sie sich immer in einer bedeutenden Höhe der Luft halten. Ist ihnen der Wind entgegen, oder werden sie von einem Raub­ vogel bedroht, so schließen sie augenblicklich einen Kreis. Dabei läßt der Anführer beständig ein Geschrei hören. In den ersten Tagen des Herbstmonats ziehen die Nachtigallen fort, und die

Fliegenfänger kehren aus den nördlichen Gegenden zurück. Um die Mitte des Monats langen die Sing- und Weindrosseln an, jedoch noch nicht zahlreich, bis der erste Schnee die niedern Berge der Alpeu und des Iura beleckt. Dann fal­ len die Singdrosseln, die in den Alpenwäldern genistet haben, in großen Scharen

auf die Ebene, und mit ihnen vereinigen sich diejenigen, welche aus nördlichen Gegenden kommen. Nichts ist regelmäßiger als das tägliche Leben dieser Dros­ seln; mit Sonnenaufgang verlassen sie die Wälder, um sich bis Mittag in den

Reben aufzuhalten; dann ziehen sie wieder nach dem Gehölz, wo sie zwei Stun­ den verweilen; hernach kehren sie abermals in die Reben zurück, welche sie erst nach Sonnenuntergang wieder verlassen. Gegen die Mitte des September kom­ men auch die Wachteln wieder von den Bergen in die Ebene herab, während diejenigen, die in nördliche Länder gezogen waren, zurückkehren, um sich nach

wärmeren Gegenden zu verfügen; diese reisen immerwährend der Nacht. Unter­ dessen reifen die Beeren im Gesträuch und in Hecken; die Amseln verlassen das Gehölz und finden sich scharenweise um die Zäune und Büsche ein, wo es dann

auch von Grasmücken und andern Sängern wimmelt, die sich von Brombeeren, Maulbeeren und Kornelkirschen nähren. Einige Tage nach den Wachteln ziehen die Stare in großen Scharen nach den Gehölzen, während die Wachtelkönige die niedrigen Gesträuche besuchen. Durch die Erscheinung dieser nordischen An­ kömmlinge gleichsam erinnert, schicken sich diejenigen Vögel der gleichen Arten, welche den Sommer über bei uns geblieben sind, an, mit jenen nach dem Süden zu reisen. Eben so sieht man die Rauch- und Hausschwalben um diese Zeit ihren

Rückzug beginnen, vereinigt mit den aus Norden zurückkehrenden Ankömmlingen ihrer Arten. Ihr Zug dauert ungefähr einen Monat. Während dieser Zeit bemerkt man, daß morgens oder abends die Schwalben sich in Menge um den Wipfel irgend eines hohen Baumes versammeln und unter fortwährendem Geschrei

346

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

VII.

Auch bemerkt man andere beträchtliche Scharen, die von

um seine Äste fliegen.

Norden nach Süden ziehen, ohne sich aufzuhalten.

Die kleinen Sänger reisen des

Nachts, man möchte sagen, sie schleichen sich fort von Gebüsch zu Gebüsch, um

ihren Feinden zu entgehen.

Im Oktober endigen diese Züge;

gegen den 10ten

sind alle Haus- und Rauchschwalben und die verschiedenen Sylvien fort;

gegen

den 15ten haben uns die letzten Wachteln und die letzten Stare verlassen, einige Tage später erblickt man auch keinen Wachtelkönig mehr.

Dann sieht man die

Sperber in Trupps von 12 bis 15 miteinander nach wärmeren Himmelsstrichen

in der Mitte

Auch kommen

ziehen.

dieses Monats Flüge der Schlag-, Holz-

und Turteltauben aus den Alpenwäldern, wo sie genistet haben, durch den Schnee

vertrieben, in die Ebene; aber nach wenigen Tagen verlassen sie dieselbe mit den Individuen

ihrer Arten, die

gleichzeitig von Norden hergekommen sind, um in Zu gleicher Zeit beginnt der Zug der Waldschnepfen,

südlichere Länder zu ziehen.

bis zum 25sten November dauert.

der gewöhnlich

Die Wiesen sind dann mit

weidenden Kühen bedeckt, zwischen deren Füßen die gelben Bachstelzen furchtlos

Die Sing- und Weindrosseln,

herumlanfen.

nach

die

der Weinlese

sich

von

Wachholder- und anderen Beeren nähren, ziehen nun auch bald ab und werden durch die Wachholder- oder Misteldrosseln ersetzt; wilder

als

jene

und

diese beiden Drosselarten sind

bringen den Winter im Lande zu.

Im Spätherbst sieht

man zuweilen auch ganze Legionen Krähen von Norden nach Süden ziehen, die oft einen ununterbrochenen Zug von

einem Punkte des Horizonts bis zu dem

Ein solcher Zug gleicht dem Zuge einer Armee;

entgegengesetzten bilden.

sie

scheinen dabei in besondere Haufen geteilt zu sein, welche sämtlich der allgemeinen Bewegung folgen, die Lüfte mit ihrem wiederholten Gekrächze erfüllend.

Erhebt

sich irgendwo auf einer Wiese ein einziger hoher Baum, so nimmt der Vortrab des Zuges seinen Sitz auf den entblätterten Ästen und kündet durch sein Ge­ schrei an, daß er einen Ruheplatz

gesäumt dahin begiebt. kann,

so

gefunden,

worauf die übrige Schar sich un­

Da aber der einzige Baum nicht alle diese Vögel fassen

setzen sich viele auf die Erde und suchen Schnecken und Würmer zu

ihrer Nahrung;

doch nicht lange, so wird das Zeichen zum Aufbruch gegeben;

augenblicklich erhebt sich die

dem Auge entschwunden.

ganze Schar mit lautem Geschrei, und bald ist sie

Dohlen und Nebelkrähen befinden sich bisweilen auch

unter den anderen Krähenarten.

Am Ende des Winters sehen wir unsere Seeen von einer Menge Enten verschiedener Arten bewohnt, welche auf denselben die kalte Jahreszeit zugebracht haben.

Mit

der Annäherung des Frühlings eilen diese Schwimmvögel, welche

die Hitze scheuen, die Meere und Sümpfe des Nordens wieder zu erreichen, die sie im Herbste zu verlassen genötigt waren.

Gleichzeitig aber sehen wir Vögel

der gleichen oder anderer Art durchziehen, die den Winter auf südlicheren Teichen

oder Sümpfen oder an den Küsten des mittelländischen Meeres zugebracht hatten. Zu Ende April und anfangs Mai sieht man über den Seeen eine Menge See­ schwalben herumfliegen.

Es sind besonders zwei Arten, welche unsere Gegenden

besuchen; zuerst langt die rotfüßige Meerschwalbe an; sie erscheint nie sehr zahl­ reich,

und ihr Durchzug

dauert nicht lange; die

schwarzgraue

Meerschwalbe

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

347

erscheint gegen den 6 treu Mai und alsdann in ihrem vollkommen schwarzen Früh-

Sie ist bei weitem häufiger, und oft sieht man Scharen von mehreren Hunderten auf demselben See. Die andern bringen den Sommer in nördlichen

lingskleide.

Ländern zu. Die Möwen sind ebenfalls sehr häufig auf unseren Seeen; es sind zwei Arten, die regelmäßig bei uns erscheinen, nämlich die graue Möve, die sich vornehmlich im Herbst und Winter einfindet, und die Lachmöve, die sich in allen Jahreszeiten sehen lächt, die Brütezeit ausgenommen. Gegen den lOten Juli langen gewöhnlich zienulich beträchtliche Scharen bei uns an, die aus Alten beiderlei

Geschlechts im Herbstklleide und ans Jungen vom Jahre bestehen; während hef­ tiger Nordostwinde verlassen diese Möven die Seeen und versammeln sich auf den nahe gelegenen Wiesen und Brüchen. Wenn sie im Winter zahlreicher bei uns sind, so ist es, weil zu dieser Jahreszeit noch viele aus dem Norden kommen, um in unseren Gegenden zu überwintern. Auch bedecken sich bei der Annäherung des Winters unsere Seeen mit Schwimmvögeln mancher Art, und während das trockene Land sich nalch und nach von seinen gefiederten Bewohnern entvölkert, wird das Wasser beleibt durch eine Menge nordischer Bögel, welche, von der Kälte vertrieben, einen milderen Himmel und Gewässer aufsuchcn, die auch in den strengsten Winterm nicht zufrieren. Zuerst sieht man in der Mitte Septem­ bers Scharen wilder Enten anlangen, zu welchen sich in wenigen Tagen Paare gesellen, die auf unseren Sümpfen gebrütet haben. Mit ihnen erscheinen die Tafelenten und die Hcalbenten. Zu diesen kommen in der Mitte Oktobers neue Scharen von Schell- u.nd Reiherenten. So lange die mit Wasser bedeckten Moore

noch nicht gefroren sind, pflegen alle diese Enten sich des Nachts dahin zu be­ geben, um ihre Nahrumg zu suchen. Mit Tagesanbruch kommen sie auf die

Seeen, wo sie nicht G-efahr lausen, während des Schlafs, dem sie sich bei Tage überlassen, von einem unerwarteten Frost überrascht zu werden. Sind die Moore einnlal gefroren, so verlassen die Enten die Seeen nicht mehr; sie halten sich in bedeutender Menge dicht zusammengedrängt und sind äußerst vorsichtig, so daß es schwer hält, sich ihmen auf Schußweite zu nähern. Mit den Enten kommen die Säger, die gleichfallls in Scharen leben, aber doch minder zahlreich sind. Die

einzige Art derselben, welche in größerer Menge angetroffen wird, ist der lang­ schnäblige Säger. Di-ese Bögel, die in ihrem Betragen den Enten gleichen, sind

lebhafter und muntern* als diese. Man sieht sie stets untertauchen und auf dem Wasser spielen. Ihr schlechtes Fleisch sichert sie vor den Verfolgungen der Jäger. Unter den Wandervögeln werden die Sylvien oder Sänger am wenigsten bei ihrem Wegziehen bemerkt. Die ganze Ordnung, zu welcher sie gehören, die Singvögel, zeigt wenig Geselligkeit.. Es gehören zu dieser Gattung Grasmücken, Blaukehlchen, Wurmfresser, Schilfsänger und Laubsänger, lauter Bögel mit zahlreichen Abarten. Die Züge der Zngvögel sind unglaublich zahlreich; ein Reisender sah einst im April drei Züge vvn Störchen, die aus Ägypten zurückkehrten; jeder dieser

Züge brauchte drei Stunden zum Borüberziehen und nahm eine Strecke von einer halben Areile in der Breite ein. Die Schnelligkeit, mit welcher sie ihre Reise

vollenden, ist erstaunenswürdig; man hat berechnet, daß sie bei einem Fluge von sechs Stunden 200 Meilen zurücklegen, wobei also viel Zwischenzeit am Tage und

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VII.

Natur-, Länder- unb Völkerkunde.

die ganze Nacht zum Ausruhen übrig bleibt; nach dieser Berechnung würden sie

in 8 bis 10 Tagen sehr gut aus unseru Gegenden bis unter die Linie reisen

können.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß vorzüglich das Bedürfnis, in derselben

Temperatur der Luft zu leben, das Wegziehen der Bögel veranlaßt, verbunden mit dem eigentümlichen Bau ihres Körpers; Vögel, die in unserem Klima Zug­

vögel sind, ziehen daher aus dem südlichen Frankreich, aus Italien und Spanien nicht weg, weil die Temperatur im Süden sich mehr gleichbleibt; dagegen sind im höheren Norden, in Schweden und Norwegen, viele Vögel Zugvögel, die bei uns Standvögel sind, also niemals wegziehen, folglich unsern Winter ertragen können. Kommen diese Fremdlinge aus dem Norden zu uns, so bleiben sie selten, sondern ziehen, nachdem sie einmal ihre Heimat verlassen haben und auf der Wanderung sind, noch weiter südlich, wie z. B. die Dohlen. Diese kommen im Herbst in zahlreichen Scharen bei uns an, streifen mit unsern Dohlen eine Zeit

lang herum und ziehen weiter, wenn der Winter eintritt; man hat bemerkt, daß sie die bei uns einheimischen Dohlen zum Mitziehen anlocken, doch ohne Erfolg; diese werden also durch eine natürliche Liebe zu ihrer Heimat zurückgehalten. Das Wandern der Vögel von Norden nach Süden findet auf beiden Halbkugeln der Erde auf gleiche Weise statt, in Amerika wie auf dem alten Kontinent. Mit Sicherheit haben die Naturkundigen uns noch keinen Aufschluß über diese Wan­ derungen geben können; daher wissen wir auch nur von wenigen unserer Zug­ vögel, wo sie überwintern, und ebenso wenig, ob sie die Reise ununterbrochen, d. h. so fortsetzen, daß sie unterwegs nur die nölige Ruhe und Nahrung genießen,

oder ob sie lange verweilen und Streif- und Querzüge machen. Dürfen wir indes aus ähnlichen Erscheinungen, die wir vor Augen haben, einen Schluß ziehen, so mögen die von uns nach Süden gezogenen Vögel sich dort wohl ebenso be­ nehmen wie die Ankömmlinge aus Norden bei uns, die sich als Gäste im Winter bei uns aufhalten. Sie leben unstät, streifen aus einer Gegend in die andere,

schlafen und fressen da, wo es ihnen am besten dünkt, gesellen sich auch wohl zu den einheimischen Vögeln, wie z. B. der Bergfink, besuchen mit ihnen als will­ kommene oder beschwerliche Gäste sehr zudringlich die Bauerhöfe, Landstraßen und Getreidehaufeu und ziehen zurück, wenn eine mildere Luft auf eine uns un­ begreifliche Weise sie wieder nach Norden hinlockt. Zur Zeit der Wanderung

regt sich selbst bei eingesperrten Vögeln der Wandertrieb; sie werden un­ ruhig, flattern besonders des Nachts im Käfig herum und zeigen deutlich, daß die Temperatur der Luft, ob sie gleich in warmen Zimmern und im Überflüsse leben, dennoch unwiderstehlich auf sie einwirkt.

3.

Wilmsen.

Der Walfischfang.

Das unwirtbare, von Eismassen starrende grönländische Meer (so nennt man den zwischen Grönland und Spitzbergen gelegenen Teil des nördlichen Eis­

meers) wird, wenn man die wenigen Schiffe ausnimmt, die der Entdeckungen wegen hierherkommen, nur von Walfischsängern besucht. Jahrhunderte lang gab es im Ozean keine Stelle, welche so reich an Walfischen war wie diese; seit

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

349

einiger Zeit aber scheinen die Tiere durch die ununterbrochenen Angriffe, denen sie hier ausgesetzt sind, verscheucht worden zu sein und sich über andere Teile des Ozeans zerstreut zu haben. Obgleich jedoch ihre Anzahl sichtlich abgenommen hat, so wird das grönländische Meer doch alljährlich noch von mehreren hundert Schiffen befahren, deren einziger Zweck der Walfischfang ist. Sobald ein Schiff die Gegenden erreicht, in denen sich Walfische aufzuhalten

pflegen, muß die Mannschaft jeden Augenblick auf ihrer Hut sein und Tag und Nacht auf das sorgfältigste Wache halten. Sieben Böte sind an den Seiten des Schiffes aufgehängt und so ausgerüstet, daß sie in wenigen Minuten hinabgelassen werden können, und wo es der Zustand der See erlaubt, befindet sich eins von ihnen vollständig bemannt auf den Wellen. Die Böte sind 7 bis 10 m lang, 1,65 bis 2 in breit und so gebaut, daß sie mit Leichtigkeit fortgerudert und gelenkt werden können. Einer der Offiziere sitzt in dem Mastkorbe und überblickt weit­ hin das Meer, und in dem Augenblick, wenn er den Rücken oder den Wasserstrahl eines Walfisches wahrnimmt, ruft er dies der Deckwache zu. Einige von der Mannschaft springen sogleich in ein Boot, welches eiligst hinabgelassen wird, und auf welches sogleich ein zweites folgt. In jedem der Böte befindet sich ein Har­ punierer und eine Menge Tauwerk, welches so zusammengelegt ist, daß es sich schnell zu einer Leine von mehr als 1333 m Länge verbinden läßt; an dem Ende derselben ist die Harpune befestigt, ein Instrument, welches nur dazu dient, in den Körper des Tieres einzudringen, in demselben sitzen zu bleiben und da-durch sein Entrinnen zu verhüten. Eines der Böte rudert nun auf den Walfisch los, indem es jeden, auch den geringsten Lärm zu vermeiden sucht; sobald man nahe genug herangekommen ist, wirft der Harpunierer sein Instrument in den Rücken des Ungeheuers. Dies ist ein gefährlicher Augenblick; denn wenn das mächtige Tier sich getroffen fühlt, werden seine Bewegungen so gewaltig, daß ein Schlag seines Schwanzes hinreicht, ein Boot zu zertrümmern oder hoch in die Luft zu schleudern. Gewöhnlich jedoch taucht der Walfisch, sobald er ver­

wundet ist, mit reißender Schnelligkeit in die Tiefe der See oder unter Eisfelder und schwimmende Eisberge hinab; alsdann muß die größte Behutsamkeit angewandt werden, daß das Tau, an welchem die Harpune befestigt ist, mit Leichtigkeit und ohne irgendein Hindernis mit ihm fortgehen kann; sollte es auch nur für einen Augenblick in Verwirrung geraten, so würde die Kraft des Walfisches das Boot

sogleich unter das Wasser ziehen.

Auf das erste Boot muß schnell ein zweites

folgen, um mehr Tauwerk herbeizuschaffen, wenn das des ersten abgelaufen ist. Bemerkt die Mannschaft eines Bootes, daß seine Vorräte an Tauen nicht aus­ reichen, so werden zwei oder drei Ruder in die Höhe gehalten, um den andern

Böten von dem dringenden Bedürfnis Kunde zu geben.

Zu gleicher Zeit dreht

man auch wohl das Tau ein- oder zweimal um einen Zapfen, um dadurch den Lauf des Tieres etwas zu hemmen. Dies ist jedoch ein sehr gefährliches Mittel, weil nun das Boot durch eine plötzliche Bewegung des Tieres leicht unter das Wasier gezogen werden kann. Während die Schnur um den Zapfen sich dreht, ist die Reibung so heftig, daß der Harpunierer mit Rauch umhüllt wird, und daß

fortwährend Wasser auf den Zapfen gegossen werden muß, um das Feuerfangen

350

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

zu verhüten. Wenn aber trotzdem keine Hülfe herbeikommt und das Tau ganz abgelaufen ist, bleibt der Mannschaft nichts übrig, als es abzuschneiden, und dann ist nicht nur der Walfisch, sondern auch die Harpune und alles Tauwerk verloren.

Sobald der Walfisch getroffen ist und in die Wellen untertaucht, richtet die Bootsmannschaft eine Flagge auf, um der Wache auf dem Verdeck ein Zeichen zu geben. Einen Augenblick später ist das ganze Schiff in Bewegung, und alles eilt in die Böte, um, mit Lanzen bewaffnet, an der Jagd teilzunehmen. Die Zeit, welche ein verwundeter Walfisch unter dem Wasser zubringt, ist verschieden,

beträgt aber nie mehr als eine halbe Stunde, weil dann das Bedürfnis des Atmens ihn zwingt, wieder an die Oberfläche zurückzukehren. Dies geschieht oft in beträchtlicher Entfernung von der Stelle, wo er harpuniert worden ist. Unter­ dessen haben sich die Böte in der Weise verteilt, daß wenigstens eins derselben sich in der Nähe des Punktes befindet, wo der Walfisch in die Höhe kommt, und nun sucht man ihn noch mit einer oder zwei Harpunen zu treffen, während er zugleich von allen Seilen mit Lanzen verwundet wird; sein Blut strömt, mit Thran vermischt, aus den Wunden und aus den Luftlöchern und färbt weithin

die Oberfläche des Meeres. Mit jeder Minute nimmt seine Erschöpfung zu; aber im Augenblick des Verscheidens bereitet er den kühnen Jägern noch große Gefahren, indem er seinen Schwanz hoch in die Luft wirft und mit einem Ge­

räusche dreht, welches meilenweit gehört wird. Endlich legt sich das vom Blut­ verluste erschöpfte Tier auf die Seite oder auf den Rücken und stirbt; die Flagge wird nun abgenommen, und ein dreimaliges Hurra ertönt von allen Böten. Jetzt werden zwei Löcher in den Schwanz gebohrt und Seile durchgezogen, mittelst welcher der Fisch unter lautem Freudengeschrei an die Seite des Schiffes gezogen wird. Das nächste Geschäft besteht im Ausschneiden des Specks und kann, wenn alles rüstig an die Arbeit geht, in ungefähr vier Stunden vollendet werden, ob­ gleich oft viel längere Zeit darauf verwendet wird. Der Speck wird zuerst in große Stücke von ungefähr einer halben Tonne zerteilt; diese werden auf dem Verdeck in kleinere Stücke zerschnitten und diese darauf in Fässer verpackt und im Schiffsraum untergebracht. Sobald der Teil des Fisches, der über dem Wasser liegt, von allem Speck entblößt ist, wird der Fisch durch große Winden ge­

dreht, und in dieser Weise wird so lange fortgefahren, bis aller Speck ausge­ schnitten ist. Nun werden noch die hornartigen Knochen der Kinnbacken, welche das Fischbein liefern, an Bord gebracht, und endlich alles, was von dem Fische noch übrig ist, den Raubvögeln, Füchsen und Eisbären preisgegeben.

Unter den zahllosen Gefahren, die den Walfischfänger bedrohen, sind zuerst

diejenigen zu nennen, die ihm durch den Walfisch selbst bereitet werden. Es ist schon erwähnt, daß dieses gewaltige Tier mit einem Schlage seines Schwanzes ein Boot zu zertrümmern oder hoch in die Lust zu schleudern vermag; bisweilen greift es aber seine Feinde auch mit seinen ungeheuren Kinnbacken an oder bringt ein Schiff durch einen Stoß mit seinem riesenhaften Kopfe zum Sinken. Beides er­ eignete sich auf einer Reise, die das Schiff „Alexander" aus New-Bedford in Massa­ chusetts im Jahre 1850 unternahm.

Zwei Böte desselben, das eine vom Steuer­

mann, das andere vom Kapitän selbst geführt, hatten sich zur Verfolgung eines

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

351

Walfisches aufgemacht, und dem ersteren gelang es, das Tier zu harpunieren.

Als der Walfisch eine kurze Strecke mit der Leine gelaufen war, wandte er sich plötzlich um, schoß mit fürchterlicher Gewalt auf das Boot los, nahm es zwischen feine Kinnbacken und zermalmte es mit einem Biß in kleine Stücke. Der Kapitän eiltte mit dem andern Boot herbei und war so glücklich, die ganze Mannschaft, die' sich noch zu rechter Zeit ins Wasser gestürzt hatte, zu retten. Da man vom Schiffe aus den Vorfall wahrnahm, so schickte man sogleich ein Hülfsboot nach, welches nun den Steuermann und seine Mannschaft aufnahm. Der Kapitän be­ schloß jetzt einen zweiten Angriff auf das Tier, welches inzwischen untergetaucht

wcrr, und beide Böte setzten sich in der Richtung, welche der Walfisch eingeschlagen harte, in Bewegung, indem sie sich, wie dies üblich ist, in einiger Entfernung voneinanderhielten. Als der Walfisch sich zeigte, war das Hülfsboot ganz in seiner Räche; der Harpunierer war eben im Begriff, seine Waffe zu schleudern, als das Tier sich abermals umwandte und mit allen Zeichen der äußersten Wut heran­

stürmte. Diesmal hatte die Mannschaft kaum Zeit, ins Wasser zu springen; das Ungeheuer aber nahm das Boot in seinen Rachen und zermalmte es dermaßen, daß nachher von den Trümmern desselben nichts aufzusinden war. Der Kapitän eilte, obgleich er in Gefahr war, das Schicksal seiner Gefährten zu teilen, mit seinem Boote herbei und hatte wiederum die Freude, die ganze Mannschaft zu retten. Er befahl jetzt, nach dem Schiffe zurückzurudern; das Boot war aber kaum gewendet, als man das Ungeheuer mit weit geöffnetem Rachen heranstürmen sah. Zum Glück schoß es in einiger Entfernung vorbei, und das Boot erreichte ohne weiteren Unfall das Schiff. Da unter diesen Umständen ein weiterer An­ griff mit den Böten nicht ratsam erschien, der Kapitän aber die Beute nicht aufgeben wollte, so wurde beschlossen, die Jagd mit dem Schiffe selbst fortzusetzen. In kurzer Zeit hatte man den Walfisch eingeholt; es wurde ihm ein Speer in den Kopf geworfen, und dann lief das Schiff an ihm vorbei. Rach einiger Zeit wurde gewendet und ein abermaliger Angriff versucht; der Kapitän stand mit

einem Speer in der Hand am vorderen Bug, um dem Walfisch den Todesstoß zu versetzen, wenn er wieder zum Vorschein kommen sollte, als er plötzlich wahr­ nahm, daß dieser mit rasender Geschwindigkeit heranschoß. Einen Augenblick später erfolgte ein Stoß von so fürchterlicher Gewalt, daß das Schiff sich mit lautem Krachen emporhob, als wenn es auf einen Felsen gelaufen wäre; der Ka­ pitän eilte in den untersten Raum hinab und fand hier zu seinem Entsetzen, daß der Walfisch das Schiff etwa 2 Fuß vom Kiel in der Gegend des Fockmastes getroffen und ein großes Loch durch den Boden geschlagen hatte, durch welches das Wasser wie ein rauschender Strom eindrang. Sogleich eilte er aufs Verdeck zurück und befahl dem Steuermann, die Anker abzuschneiden und die Kabeltaue über Bord zu werfen, um das Schiff noch so lange als möglich über Waffer zu halten; es gelang dies indes nur mit einem Anker und Tau, da die übrigen um den Fockmast befestigt waren. Das Schiff sank unterdessen mit reißender Schnel­ ligkeit. In die Kajüte hinabsteigend, fand der Kapitän bereits 1 m Waffer:

er sprang daher auf das Verdeck zurück und befahl, die Böte hinabzulassen und Wasser und Lebensmittel einzunehmen. Als er zum zweiten Mal in die Kajüte

352

VII.

Natur-, Lauder- und Völkerkunde.

Hinabstieg, war das Wasser bereits so hoch gestiegen, daß er nichts mehr mit­ nehmen konnte. Inzwischen hatte sich die ganze Mannschaft in die Böte be­ geben; der Kapitän blieb bis zuletzt auf dem Schiff, sprang dann ins Wasser und schwamm bis zu dem nächsten Boot. Das Schiff hatte sich während dessen so auf die Seite gelegt, daß die Rahen bereits ins Wasser tauchten. Die Böte entfernten sich daher mit der größten Schnelligkeit, da man jeden Augenblick das Unterstufen des Schiffes erwarten mußte; leider hatte man in der Eile nur 12 Liter Wasser und nicht einen Bissen an Lebensmitteln mitnehmen können. Die

Böte enthielten jedes elf Mann; sie waren leck und mußten die ganze Nacht ausgeschöpft werden. Am nächsten Morgen fuhr man zu dem Schiffe zurück, das noch immer nicht untergesunken war. Der Kapitän, der sich allein hinaufwagte, kappte die Masten; das Schiff richtete sich wieder auf, und nun kam auch die übrige Mannschaft herbei und suchte durch Einschlagen des Decks zu den Lebens­ mitteln zu gelangen; ihre Anstrengungen waren vergebens; denn aller Mühe un­ geachtet konnte man sich nur ein Fäßchen mit Weinessig und 10 Kilogramm feuchtes Brot verschaffen. Länger in der Nähe zu verweilen, war nicht ratsam,

da das Schiff jeden Augenblick unterzugehen drohte. Die Mannschaft hatte sich noch nicht weit entfernt, als sie das Schiff vornüberstürzen und dann untersinken sah. Alle überließen sich jetzt den wildesten Ausbrüchen der Verzweiflung; der Tod in seiner schrecklichsten Gestalt stand ihnen vor Augen; denn es fehlte ihnen an allen, auch den nötigsten Lebensbedürfnissen, und sie befanden sich in einem Teil des Meeres, der nur wenig befahren wird; doch ihre Leiden sollten nicht lange währen; schon am folgenden Tage hatten sie die unaussprechliche Freude, ein Schiff wahrzunehmen. Sie machten Notsignale, die von dem Schiffe beant­ wortet wurden, und in kurzer Zeit befand sich die gesamte Mannschaft der beiden

Böte an Bord. Größer und zahlreicher sind die Gefahren, welche den Walfischfängern durch die Eisschollen und durch die Stürme des grönländischen Meeres bereitet werden. So gingen hier vor mehreren Jahren zwanzig große Schiffe zu Grunde, indem sie an einem und demselben Tage durch schwimmende Eismassen zertrümmert wurden. Ein Beispiel von wunderbarer Rettung aus den Gefahren des Eismeers

erzählt ein holländischer Grönlandfahrer, der vor mehreren Jahren, als er eben die Rückfahrt antreten wollte, von zahllosen Eisschollen eingeschlossen wurde. Drei Tage, berichtet er, waren wir bereits von einem heftigen Sturme zwischen den Eismassen umhergeschleudert worden, jeden Augenblick in Gefahr, an einer der zahllosen Klippen, die uns umringten, zu scheitern oder zwischen den schwim­

menden Eisbergen, die ununterbrochen mit lautem Krachen aneinanderstießen, zermalmt zu werden. Endlich erblickten wir vor uns eine Eisscholle von 6 bis

10 in Höhe und etwa einer halben Meile im Umfang, welche auf der uns zu­ gewandten Seite zwei weit ins Meer hinausragende Spitzen hatte, zwischen denen sich ein geräumiges Becken befand. Wenn es uns gelang, in dieses einzulaufen und unser Schiff durch Anker an dem Eisfelde zu befestigen, so waren wir wie in einem Hafen vor jedem Zusammenstoß sicher; doch unsere Versuche waren

vergeblich; denn keiner der Anker haftete an der glatten Fläche, und unsere Böte

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

waren dermaßen beschädigt, daß sie nicht mehr zu brauchen waren.

353 Endlich ent-

schlossen sich einige Matrosen, mit einem Tau nach dem Eisfelde hinzuschwimmen. Es war dies ein gefahrvolles Unternehmen, welches beinahe den Untergang der

mutigen Männer herbeigeführt hätte; zwar litten sie während des Schwimmens weniger von der Kälte, als wenn sie auf dem Schiffe geblieben wären, denn das

Meerwasser war bedeutend wärmer als die Luft; sobald sie aber das Eis er­ reichten und hinaufkletterten, wurden sie, indem das von ihren Kleidern eingesogene Wasser gefror, mit einer Eisrinde überzogen, welche alle ihre Bewegungen hemmte und sie fast erstarren machte. Dessenungeachtet gelang es ihnen, durch das mit­ genommene Seil ein stärkeres Tau auf das Eis zu ziehen und an demselben zu

befestigen; alsdann warfen sie sich wieder ins Meer und erreichten, wiewohl halb leblos, das Schiff, wo man sie mit Mühe wieder zu sich brachte. Jetzt wurde das Schiff in das Becken gezogen und mit starken Tauen an Eisblöcken befestigt.

Die Folgen dieser Maßregel übertrafen noch unsere Erwartungen; wir lagen so ruhig und sicher wie in einem Hafen und durften hoffen, mit dem großen Eisfelde, welches sich mit ziemlicher Schnelligkeit nach Süden hin bewegte, allmählich das offene Meer zu erreichen. So konnten wir uns denn nach dreitägiger fast über­

menschlicher Anstrengung auf einige Zeit der Ruhe überlassen, während um uns her das Toben der Elemente fortwährte und jeden Augenblick mächtige Eisberge laut krachend zusammenbrachen. Unser Schiff befand sich noch nicht lange in dem rettenden Hafen, als sich auf dem Eise ein widriges Geschrei hören ließ, das, dem Bellen heiserer Hunde ähnlich, von Seehunden herrührte. Das Verlangen der Matrosen nach frischem Fleisch war so mächtig, daß sie sich ungeachtet ihrer Ermattung, mit Stöcken bewaffnet, auf das Eis begabeu, um auf die Seehunde Jagd zu machen. Es kam ihnen zunächst nur ein einzelner zu Gesicht, welcher in einiger Entfernung von den übrigen gleichsam Schildwache stand; als sie sich ihm näherten, richtete er seinen Kopf in die Höhe, sprang auf und erhob ein fürchterliches Geheul. Hierauf brach die ganze Herde aus ihren Schlupfwinkeln hervor und stürzte mit solchem Ungestüm nach dem Wasser hin, daß mehrere von unsern Leuten umgerissen und eine Strecke weit fortgeschleudert wurden. Wie­ wohl diesen Tieren keine große Schnellfüßigkeit verliehen ist, so gelang es ihnen

doch, den abgematteten Matrosen zu entkommen, und nur ein Junges, welches langsam und gemächlich hinter den übrigen Herzog und bei dem ersten Stockschlag auf die Nase zu Boden fiel, wurde erbeutet. Kaum hatte man das Tier auf das Verdeck gebracht, so erholte es sich wieder, stand auf und verteidigte sich mit seinen Füßen und seinen Zähnen so tapfer, daß ich endlich meine Flinte herbeiholen uud es niederschießen mußte. Das Fleisch wurde noch an demselben Abend, so gut

es geschehen konnte, zubereitet und gewährte uns, da es sehr schmackhaft und saftig war, eine angenehme Mahlzeit. Diese Seehunde waren übrigens außer einigen Sturmvögeln die einzigen lebenden Wesen, die uns während unseres Aufenthalts im Eise zu Gesicht kamen. Nachdem wir uns durch einen langen, durch nichts gestörten Schlaf erquickt hatten, eilten wir beim Anbruch des Tages auf das Verdeck, um zu sehen, ob unser schwimmender Hafen bereits das offene Meer erreicht hätte. Wer beschreibt Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb. ft. Ausl. 23

354

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

unser Entsetzen, als wir uns rings von endlosen Eismassen umgeben sahen! Der Winter war bereits angebrochen; die Eisschollen hatten sich zu einer festen Masse zusammengefügt, und es war daher mit Sicherheit anzunehmen, daß wir den

acht Monat langen Winter in unserm Gefängnis zubringen würden. Das war eine traurige Aussicht, zumal da wir berechnen konnten, daß unsere Vorräte auf eine so lange Zeit nicht ausreichen würden! Während die Mannschaft sich ihrem Schmerze überließ, versammelte ich die Offiziere, um mit ihnen zu beraten, wie wir uns den langen Winter hindurch gegen die Kälte und den Hunger schützen könnten; um unsere schon sehr zusammengeschmolzenen Vorräte an Brennholz möglichst zu schonen, wurde zuerst der ganzen Mannschaft die Kajüte zur Woh­ nung angewiesen; da ferner die gewöhnlichen Kleidungsstücke gegen die Kälte nicht genug schützten, so gab ich alles bisher erbeutete Pelzwerk her, aus welchem der Segelmacher, von einigen Matrosen unterstützt, vollständige Anzüge nebst Masken und Handschuhen für die ganze Mannschaft anfertigen mußte. Schlimmer stand es mit den Nahrungsmitteln; unser Zwieback war zum größten Teil aufgezehrt; doch hatten wir noch einen ziemlichen Vorrat an Korn, welches auf dem Ofen

gedörrt und dann in Kaffeemühlen zu einem groben Mehl zermahlen werden konnte; auch hoffte ich, daß es uns gelingen würde, im Verlauf des Winters Seehunde, Walrosse und Eisbären zu erlegen und dadurch unsere geringen Fleischvorräte zu vermehren. Die größte Schwierigkeit machte uns die Zubereitung der Lebens­ mittel, da wir aus Mangel an Brennholz alle Speisen in einem Ofen in kleinen blechernen Trinkgeschirren kochen mußten; um gegen Mangel an Wasser gesichert zu sein, wurde jeden Morgen der während der Nacht gefallene Schnee auf dem Verdeck zusammengeschaufelt und sorgfältig in der früheren Matrosenkammer auf­ bewahrt. Als diese Anordnungen getroffen waren, dachten wir daran, wie wir für die Matrosen eine angemessene Thätigkeit schaffen könnten; aber alle unsere Bemühungen, sie der dumpfen Verzweiflung zu entreißen, blieben vergeblich. Alle waren fest überzeugt, daß sie zum Hungertode in der eisigen Einöde verurteilt wären, und auch ich verlor bald allen Mut und alle Hoffnung, da ich mich

immermehr überzeugte, daß nur ein Wunder uns retten könnte. In dieser Weise waren drei Wochen vorübergegangen, ohne daß sich unsere traurige Lage irgendwie geändert hätte; da erheb sich an einem Abend ein heftiger

Sturm aus Nordost, der unser Schiff unfehlbar zertrümmert hätte, wenn es nicht von einer unbeweglichen, zusammenhängenden Eismasse eingeschlossen gewesen wäre. In der Nacht schien es uns, als ob das Schiff sich in Bewegung setze,

und am Morgen verkündete uns ein lautes Krachen, daß die uns umringenden Eisschollen zerbrachen und mit Macht aneinanderstießen. Zwischen Furcht und Hoffnung schwebend, erwarteten wir sehnsüchtig den Anbruch des Tages, der uns vernichten oder retten sollte. Als wir endlich nach langem, peinlichem Harren

den Morgen dämmern sahen, bemerkten wir mit unaussprechlichem Entzücken, daß das Schiff dem Willen des Steuermanns folgte; aber wenn wir nun auch

aus unserem eisigen Gefängnis befreit waren, so umdrohten uns doch noch zahl­ lose Gefahren, denen zu entgehen wir kaum hoffen konnten; mehrere Tage lang waren wir von schwimmenden Eismassen dermaßen eingeschlossen, daß wir uns

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

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nur äußerst langsam fortbewegten; bald mußten große Eisschollen umsegelt, bald zwischen hohen Eisbergen ein gefahrvoller Durchgang ausgesucht werden; bis­ weilen saßen wir fest und mußten eiligst alle Segel einziehen; dann aber schaffte uns der Andrang neuer Massen wieder Luft, indem sie die uns umgebenden Schollen schichtweise übereinanderschoben. Oft nahmen zwei gewaltige Eisschollen unser Schiff in die Mitte und preßten es mit solcher Macht, daß wir jeden Augenblick zerdrückt zu werden fürchteten, und einmal brach ein schwimmender Eisberg, der ganz vom Wasser untergraben sein mußte, dicht neben uns zusam­ men, so daß unser armes Schiff mehrere Minuten lang im Kreise herumgedreht wurde. Doch Gottes Vaterhand führte uns durch alle diese Gefahren hindurch, so daß wir nach fünf Tagen glücklich das offene Meer erreichten und drei Wochen später wohlbehalten und mit reicher Beute beladen in einen schottischen Hafen einliefen. Dielib' einens. Reisebildern.

4.

Das Renntier.

Folgt mir jetzt in ein Land, wo den größten Teil des Jahres hindurch winter­ licher Schnee Berge und Thäler bedeckt, nach Lappland! Hier finden wir das Renntier, das dem Bewohner des Nordens ebenso nützlich ist wie das Kamel

dem Mauren und Araber, ja noch nützlicher; denn es ist sein Ein und Alles. Von einem Hügel aus können wir die Gegend umher überschauen. Auf den Gipfeln der Berge rings um uns her liegt der Schnee; aus dem vor uns sich ausbreitenden Thale hat der Sommer, der freilich hier nicht lange weilt, die weiße Decke hinweggenommen und einen grünen Teppich von Gras und Kräutern dafür hingedeckt. Kleine Waldungen ziehen sich am Fuße der Berge hin; aber Eichbäume und Buchen läßt das kalte Klima in ihnen nicht gedeihen, nur Birken und Tan­

nen gewahren wir. In der Mitte des Thales erheben sich einige Wohnungen der Lappen, kleine niedrige Hütten, leicht aufgeführt aus hölzernen Stangen, deren Zwischenräume mit Erde und Moos ausgestopft sind; mit Renntierhäuten hat

man sie ringsumher bekleidet, um den Regen und die Kälte abzuhalten. Vor diesen Hütten sind einige Leute beschäftigt, kleine Gestalten, vom Kopf bis auf die Füße in Renntierfelle gekleidet; die kleinen Augen liegen schief in dem gelbbrau­ nen Gesichte, und die Backenknochen treten stark hervor. Aber bald wird es leben­

diger im Thale; hinter dem Hügel hervor kommt in munteren Sprüngen eine zahlreiche Herde von Renntieren, die von der Weide heimkehren; Hunde begleiten sie, die dem Hirten sie zusammenhalten halfen und sie vor den Wölfen schützten. Aus den Hütten eilen jetzt Mädchen mit hölzernen Milchgefäßen der Herde ent­

gegen und fangen an sie zu melken. Laßt uns nun das Renntier etwas näher betrachten! Es hat die größte Ähnlichkeit mit dem Hirsche, nur ist es etwas länger und hat kürzere und etwas dickere Beine als dieser; die Füße haben gespaltene Klauen oder zwei Hufe, welche

sehr breit sind, weshalb es leicht über den Schnee wegläuft, ohne tief einzusinken. Der weiche Pelz hat im Sommer eine braune Farbe; im Winter sieht er fast weiß aus.

Männchen und Weibchen sind mit einem langen, breitzackigen Geweih 23*

356

VII.

Natur-, Länder - und Völkerkunde.

versehen, das sie im Frühlinge abwerfen, worauf schnell ein neues wächst, das einige Zacken mehr hat. Zur Nahrung dienen den Renntieren im Sommer Gras

und Kräuter; doch fressen sie lieber Knospen und Blätter der Sträucher und Bäume; im Winter läßt die Natur in jenen Gegenden auch unter dem Schnee eine Art Aftermoos, das Renntiermoos genannt, wachsen; dies ist dann ihre vor­

züglichste Nahrung. Im wilden Zustande leben sie scharenweise und sind der Hauptgegenstand der Jagd der nordischen Völker. Zahm gemacht, hält man sie in großen Herden, die bei Reichen oft 500 bis 1000 Stück zählen; denn sie sind ihnen das nützlichste und einzige Haustier. Man spannt sie vor den Schlitten, der leicht von Holz gebaut und unten mit behaarten Renntierfellen belegt ist, und pfeilschnell fliegt das Fuhrwerk vorwärts. Die überaus fette Milch und das wohlschmeckende Fleisch der Tiere sind die vorzüglichste Nahrung der Lappen, Sa­ mojeden und vieler Völkerschaften in Sibirien und in Nordamerika; auch das Blut, das Mark und die ganz jungen, noch knorpeligen Geweihe werden gegeffen. In das Fell kleidet man sich und benutzt es zu Zelten und Betten; selbst die Ge­ weihe, Knochen, Klauen und Sehnen der Tiere bleiben nicht unbenutzt; aus

ersteren verfertigt man allerlei Gerätschaften und Geschirre; der Sehnen bedient man sich statt des Zwirns. Alles an dem Tiere also ist nützlich und befriedigt die hauptsächlichsten Bedürfnisse des Menschen; denn es schafft ihm Nahrung, Kleidung, Wohnung und Hausgerät. Das Innere jener nordischen Länder, wo

kein Ackerbau mehr möglich ist, könnte ohne das Renntier von Menschen gar nicht bewohnt werden. oitrcgße.

3.

Die Eiche.

Unter unsern einheimischen Waldbäumen gebührt der prächtigen Eiche die erste

Stelle; denn sie vereinigt Schönheit mit Stärke und Nutzen. Sie liefert zum Bau unserer Wohnungen eisenfeste Pfeiler und schmückt unsere Zimmer mit brauchbaren Geräten. Allen Völkern war sie von jeher ehrwürdig und im Alter­ tume sogar den Göttern geweiht. Bei uns giebt es zwei verschiedene Arten von Eichen, die beide in Europa, vorzüglich aber in Deutschland wachsen.

Die Winter­ eiche oder Steineiche hat eine braune, gefurchte Rinde, die aber an den jüngeren Zweigen weißlich und glatt ist; ihre Blüte erscheint erst Ende Mai; die Eicheln wachsen traubenweise an kurzen Stielen, 3 bis 12 Stück neben einander, und

reifen im November; ihr Holz ist etwas rötlich und unter allen europäischen

Hölzern das festeste und dauerhafteste. Eine andere Art ist die Sommereiche; bei dieser erscheinen Blätter und Blüten einige Wochen früher, die Früchte stehen mehr einzeln an längeren Stielen und kommen schon im September und Oktober zur Reife; die Rinde ist auswendig schwärzlich, oft mit weißem Schimmel über­ zogen, das Holz ist Hasser als von jener und wird im Alter etwas schwärzlich. Die Wurzeln der Eichen breiten sich sehr weit in der Erde aus, und diese bekom­

men dadurch einen festen und sichren Stand. Ihr Stamm wächst gerade und erreicht eine ansehnliche Höhe. Die Äste sind gewöhnlich sehr stark und stehen

in großen Winkeln vom Stamm ab. Ihre Blätter sind groß und stark ausge­ schweift, stehen büschelweise zusammen und haben eine dunkelgrüne Farbe, an

VII.

357

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

welcher man die Eichenwälder schon von weitem erkennen kann. Ihre Früchte sind rund und haben einen sehr herben Geschmack. Am besten gedeihen die Eichen in hochgelegenen, nur wenig feuchten Wäldern. Ihre starke Aus­ dünstung macht, daß sie häufig vom Blitze getroffen werden. Sie wachsen sehr langsam, erreichen aber auch ein ungeheures Alter; unter zwei- bis dreihundert Jahren wird ihr vollkommenes Wachstum nicht vollendet; dagegen werden sie

aber auch fünfhundert Jahre alt, ja man hat Beispiele von Eichen, die gewiß wenigstens tausend Jahre alt waren. Den größten Nutzen gewährt die Eiche durch ihr Holz, weil es sehr fest ist und der Fäulnis vorzüglich gut widersteht; so braucht man es mit Borteil zum Bauen, besonders zu solchen Dingen, welche der Einwirkung der Luft und des Wassers sehr ausgesetzt sind, wie zu Brücken­ pfeilern, Mühlwellen und dergleichen; man verfertigt auch davon sehr dauerhaftes

und schönes Hausgerät. Wenn man den Baum, gleich nachdem er gefällt ist, ins Wasser legt und darin drei Jahre lang liegen läßt, so wird das Holz nicht rissig. Die Rinde, welche viele herbe, zusammenziehende Bestandteile enthält, braucht man zum Gerben des Leders; man kann aber dazu mit noch mehr Vor­

teil auch die Sägespäne verwenden. Die Eicheln geben eine gute Mästung für die Schweine. Durch den Stich eines Insekts, der Gallwespe, entstehen an den Zweigen und Blättern Auswüchse, die man Galläpfel nennt und zur Bereitung der Dinte gebraucht. Männer, die sich um das Vaterland sehr verdient gemacht hatten, wurden von den alten Deutschen mit Eichenkränzen belohnt. EKryardt.

6.

Der Heringsfang an der norwegischen Küste.

Kaum giebt es ein wunderbareres Geschöpf als den Hering, dessen Geschichte in den tiefsten Tiefen des großen Salzwassers noch gar nicht so genau erforscht

ist, als man meinen mag. Unter allen kaltblütigen Geschlechtern in beschuppter Haut ist das seine wahrscheinlich das zahlreichste; denn wer zählte die ungeheuren Schwärme, welche jährlich aus den Meerestiefen aufsteigen, an allen Küsten des nördlichen Europas erscheinen, zu Milliarden gefangen werden, zu Milliarden den

Raubfischen erliegen und doch immer wieder in der gleichen zahllosen Fülle zum Vorschein kommen? An der Küste von Norwegen erscheint der Hering jährlich

dreimal; aber der Hauptfang geschieht im Februar; es ist dies die Frühlings­ fischerei. Sie liefert die größte Menge und die fetteste, größte Art des Fisches.

Mit dem Fange sind im Februar wenigstens 2000 Böte beschäftigt.

Die Fischer

begeben sich Ende Januar auf die Inseln hinaus, mieten Hütten und Plätze und

empfangen Vorschüsse für ihren Fang von den Kaufleuten, die sie mit dem, was

sie nötig haben, versorgen. Sie thun sich nun in Gesellschaften zusammen und bestimmen die Teilung, fügen sich den gesetzlichen Anordnungen, lassen sich die Fischplätze anweisen, wo sie ihre Netze auswerfen sollen, treffen Verabredungen

mit dem Empfänger ihrer Ware und erwarten dann die Heringsschwärme, denen sie ungeduldig täglich bis weit ins Meer entgegenfahren, um den lang ersehnten silberblauen Schein zu entdecken, welcher das Nahen der Beute anzeigt. Noch ehe jedoch diese Stunde schlägt, verkündigen schnelle und fürchterliche Wächter den

358

VII.

Natur-, Länder- und Bölterkunde.

Heranzug des Tieres; einzelne Walfische streichen an der Küste hin und werden

mit lautem Jubel begrüßt; denn der Walfisch ist der sicherste Verkündiger des Herings. Es ist, als habe er den Auftrag erhalten, daß er den Menschen die

Aufforderung bringe, sich zum Angriff bereit zu machen. Hat er diese Meldung vollbracht, so jagt er zurück zu seinen Gefährten und hilft ihnen den geängstigten Hering rascher gegen die Küsten treiben, wo sich dieser in die Scheren zwischen den Inseln und Klippen drängt und, um den grimmigen Feinden draußen zu entkommen, andren noch schrecklicheren in die Hände fällt; denn hier erwarten ihn die Fischer mit den Netzen. Jedes Boot hat deren sechsunddreißig, die meisten zwei Faden lang und einen Faden tief; mehrere werden aneinander­ geknüpft und in Reihen aufgestellt, nachdem sie mit Steinen beschwert worden sind. Wären die Netze größer, so würden sie reißen; denn der Hering steht so dicht zusammen, daß, wenn der Fang gut ist, in jeder Masche des Netzes auch ein Fisch steckt; dabei ist seine Menge so ungeheuer, daß er zuweilen eine Wand

bildet, welche bis auf den Grund hinabreicht, und von deren Druck nach oben die Böte dann mehrere Zoll aus dem Wasser gehoben werden. Achtzehn Netze stellt jedes Boot und wirft die andere Hälfte aus, sobald die erste mit dem Fang herausgezogen ist. Und während nun jene sich wieder füllt, rudern die Fischer mit den arnien Opfern ihrer Schlauheit zum Strande, wo der Kaufmann wartet;

dort werden sie gezählt und ihm überliefert.

Schaluppen stehen bereit, in deren

Raum die Fische geworfen werden, und sobald die Fahrzeuge gefüllt sind, eilen sie nach Bergen; dort nun eröffnet sich an der deutschen Brücke ein neues Schau­

spiel. Arbeiter karren den Hering aus den Schiffen unter die weiten Durch­ gänge der Häuser; hier sitzt, von Tonnen umringt, eine gehörige Anzahl Men­ schen, größtenteils alte Frauen, die mit dem Messer in der Hand das Werk des Auskehlens verrichten. Die Karren werden bei ihren Plätzen umgestürzt, so daß sie bald in' Fischbergen begraben sind; sie ergreifen nun den einen nach dem andern, schneiden ihm die Kehle auf und reißen mit einem kunstgemäßen Zug Gedärm und Eingeweide heraus; dann werfen sie ihn in die bereit stehenden

Tubben, und sie haben in dieser Arbeit eine solche Fertigkeit, daß viele tausend Fische täglich dasselbe Verfahren erleiden. Sobald die Tubben gefüllt sind, werden sie von anderen Arbeitern an den Platz des Einsalzens gefahren, dort in die Fässer gepackt, mit der Salzlake begossen, vom Böttcher geschlossen und in

dem Magazin aufgestapelt; nun sind sie zur Ausfuhr fertig und bereit.

Wenn

man bedenkt, daß in den letzten guten Zeiten von Bergen allein jährlich beinahe 30 000 Tonnen Heringe ausgefahren sind, kann man sich wohl einen Begriff von der Größe und Lebendigkeit dieses Handels machen. Alle gewinnen dabei; das

Holz zu den Tonnen kommt aus den Wäldern, und die Eigentümer derselben,

die Bauern, welche es heranfahren, die Handwerker, welche es verarbeiten, die Frauen und Kinder, die den Hering kehlen, die Männer, welche ihn herbeischaffen,

die Fischer und Schiffer, die Bootsleute und Reeder, vor allen aber die Kaufleute teilen sich in den Vorteil. Kehren wir noch einen Augenblick zu den Fischern zurück!

Diese setzen den

Fang ununterbrochen vier Wochen lang und oft länger fort.

Wie viele Fische

VII.

Natur-. Länder- und Völkerkunde.

359

auch täglich in dieser ungeheuren Zahl von Netzen herausgezogen werden, die Maste der übrigbleibenden scheint dadurch nicht vermindert; immer neu drängt

sich das unermeßliche Heer herauf an die Oberfläche und draußen vor den Scheren. Mitten zwischen den Fischerböten liegen oft die Wale wie abgerichtete Schäferhunde und scheuchen die furchtsame Herde zurück, wenn sie Miene macht, sich zu entfernen. Mensch und Walfisch haben einen Bund geschlossen zur Vernichtung des unglücklichen, widerstandslosen Gefangenen, der ihrer Wut allein durch seine unvertilgbare Menge spottet, welche sich zur Schlachtbank drängt. Hunderte von Walen haben das Heringsheer herangetrieben; sie haben es schon weit im Meer erspäht, als es, von unbekannten Ursachen gezwungen, aus den Tiefen emporstieg. Kühnen Wüstenräubern gleich, haben sie dem Zuge aufge­ lauert, ihren gierigen Hunger gestillt, und jetzt liegen sie, riesenhaften Baum­ stämmen gleich, bewegungslos dicht vor dem Fischwalle, der nicht mehr entkommen kann, uno in ihren geöffneten Nachen ziehen sie mit jedem Atemzuge eine Anzahl lebendiger Geschöpfe hinab, deren Blut und Fleischstücke, mit grünlichem, übelriechendeui Wasser vermischt, ihre Naslöcher in hohen Fontänen ausspritzen. Der Walfisch an der norwegischen Küste ist der Heringsjäger; das mächtige Tier schwimmt in seinem Element mit der Geschwindigkeit eines Bogels; trotz seiner unförmlichen Gestalt und seiner scheinbaren Trägheit ist er in allen seinen Be­ wegungen ein Musterbild der Kraft und Gelenkigkeit. Jetzt noch auf der Ober­

fläche des Meeres ruhend, ist er im nächsten Augenblick verschwunden und tief hinabgesunken; im andern sieht man seine hohe Rückenflosse in weiter Ferne wieder emportauchen und durch das Wasser rauschen. Jetzt ist er hier, jetzt dort und immer beschäftigt, den Raub zu verschlingen, der ihm aufstößt. Wie viele Tonnen Heringe täglich von diesen Ungeheuern verbraucht werden, ist leicht zu denken; aber die Fischer machen sie ihnen nicht streitig, sie haben ja doch noch mehr, als sie nehmen können; der Walfisch ist im Gegenteil Gegenstand ihrer

Sorge; niemand darf ihn beleidigen, niemand ihn von seinem Platze vertreiben. Er ist ihr Gefährte, ihr Freund und Diener, den sie lieben, und der Fisch scheint dieses wohl zu wissen; denn so scheu und empfindlich er auch sonst ist, ruhig liegt er hier zwischen den Barken und verspeist, ganz unbekümmert um alles Geschrei

und Gelärm, seinen Anteil au der gemeinsamen Beute. Daher sind denn auch die Fischer einig darüber, daß der Wal ein so kluges, verständiges Geschöpf sei wie irgendeines auf Erden, und sie erzählen viele Beispiele, welche Zeugnis dafür geben; eines darunter ist folgendes. Ein Fischer war vor einigen Jahren bei Skudesnäs mit dem Fange be­

schäftigt; rund umher lagen mehr als 100 Böte in gleicher Arbeit; dicht neben dem seinen aber ruhte ein ungeheurer Wal, der sich nicht im geringsten genierte

und beim Heraufziehen der Netze kein Haar breit aus dem Wege ging. Er ver­ tilgte eine Tonne Heringe zum Frühstück in völliger Gemütsruhe, schlief vielleicht

halb und halb dabei, denn er schüttete seine übelriechenden Fontänen über das Boot aus und kehrte sich nicht einmal daran, daß die Ränder desselben seinen

Rücken streiften. Der Fischer, ein erfahrener Mann, ließ sich dies vorr dem un­ höflichen Tiere in Betracht des Bündnisses und der sonstigen guten Dienste ge-

VII.

360

Natur--, Lander- unb Völkerkunde.

fallen; sein Knabe aber fürchtete sich, die Hände in das Wasser zu stecken und das Netz dicht am aufgesperrten Schlunde des Ungeheuers aufzuziehen; er nahm daher hinter dem Rücken des Vaters den Bootshaken und gab der schwarz aus­

ragenden Insel eine hinterlistige Erinnerung zu verschwinden.

Der Stoß half wie

mit Zaubergewalt; denn kaum war er empfunden, als das Thier mit Blitzesschnelle 500 Ellen weit mitten durch den Fischplatz zwischen Böten und andern Walen

hinschoß; plötzlich aber kehrte es um, nahm denselben Weg zurück, und als wisse es genau, wo und an wem es die Beleidigung zu rächen habe, suchte und fand eS das Boot mit dem verräterischen Knaben und zerschmetterte es mit einem Schlage seines Schwanzes. Solche Beispiele mögen hinzugekommen sein, um den Fischern Achtung vor ihren starken Freunden zu lehren, die eine so ungeheure Kraft besitzen, daß das stärkste Boot davon in Splitter fliegt. Aber der Walfisch ist es nicht allem, der die Beute mit den Fischern teilt; Luft und Wasser beleben sich mit gefräßigen

Räubern, die unermüdlich im Vernichten sind: Delphine, Kabeljaue, Schellfische und Haie umschwärmen in Scharen die Verfolgten und machen wütende Angriffe auf sie; aus der Luft aber stürzen die unzähligen Schwärme wild schreiender Möwen, Seeraben und Fischadler auf sie ein. Endlich im März senken sich die Scharen in die Tiefe, und mit dem Ende dieses Monats verschwinden sie gewöhnlich ganz. Der Fang ist beendet, und die Fischer empfangen, was sie vom Kaufmann zu fordern haben; aber dies ist meist trotz aller Gunst des Schicksals doch nur eine geringe Summe. Man hat vorher geborgt, das Leben ist teuer, der Fisch wohlfeil, und bald pocht das alte Elend

wieder an die schmutzige Hütte des Armen, dessen Hoffnung sich dann auf den nächsten Glücksstern seines Netzes richtet. Nach Mngge.

7. Der Storch. Es ist Frühlingsanfang; die Sonne steht im Frühlingszeichen, im Widder; so meldet es der Kalender. Wenn dieser es aber auch nicht sagte, der liebe Gott thut es durch tausend lebendige, laute und stumme Frühlingsboten kund.

Da

kommt denn auch einer der größten derselben, der Storch, aus dem fernen Pyra­ midenlande; fest vertrauend auf seinen inneren Kalender, verkündet er überall ernst und feierlich, daß es nun wirklich Frühling geworden. Für diese frohe Bot­ schaft hat ihn jeder gern; das weiß er auch, darum kommt er so zutraulich zu uns und nimmt Wohnung bei uns. Seht nur in den Dörfern nach den hohen Dachfirsten! Da hat er sein Nest, da steht er so unerschrocken und furchtlos, als wolle er für die Zeit seines Hier­

seins zu dem Hausgeflügel gezählt werden.

Wie die Hausbewohner den Hühnern

das Nest vorbereiten, so legten sie auch ihm in einem Wagen- oder Pflugrade das Fundament zum Neste und sicherten dies so vorsorglich mit ringsum einge­ schlagenen Pfählen vor Wind und Sturm, daß es hundert Jahre aushalten könnte.

Mit Dornen, Reisholz und Rasenstückchen baut der einziehende Storch

dasselbe aus.

Doch ehe er an diese Arbeit geht, hat das erfahrene Männchen,

VII.

361

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

welches dem Weibchen vorausgeeilt ist, schon die Baulichkeit zu dem Neste geprüft; in demselben stehend, erwartet es gleichsam als ein ausgestecktes Wahrzeichen das nachkommende Weibchen. Mit vereinten Kräften ist nun bald alles für sie und die spätere Nachkommen­ schaft eingerichtet; denn Eile thut Not, damit die junge Brut noch hinlänglich

Zeit gewinne, sich für die erste weite Reise mit den Eltern zu kräftigen.

Hat

das Weibchen 2 bis 5 Eier gelegt, so geht es ohne die geringste Verzögerung ans Ausbrüten derselben; damit das Geschäft keine Unterbrechung erleide, teilen

Weibchen und Männchen sich darin; dafür haben sie aber auch die Freude, schon nach 3 Wochen aus den großen Eiern die Jungen schlüpfen zu sehen. Jene ehe­ liche Liebe, Treue und Sorgfalt, welche sprichwörtlich geworden ist und zu man­ cher Sage und Fabel Veranlassung gegeben hat, findet aber in der Teilung der Arbeit noch nicht ihre Grenzen. Während ein Gatte brütet, leistet der andere getreulich Gesellschaft; steif und fest steht er, wenn er nicht gerade ausgeflogen ist, um Frühstück, Mittag- oder Abendbrot zu besorgen, auf dem Dachfirste mit angezogenem Schnabel und aufgehobenem Beine wie eine leibhaftige Schildwache vor großer Herren Thüren. So lange nicht bei den Jungen der graue Flaum der Deckfedern und der schwarze der Schwungfedern sich vollständig in weiß und

schwarz verwandelt hat, führt ein Familienglied die Aufsicht, und das andere zieht auf Nahrung aus; mit dem ganzen Schlund voll Frösche, Eidechsen, Schlangen oder Maulwürfe und Mäuse kehrt es heim, kramt den Vorrat bis auf den letzten Bissen aus, zerlegt für die Jungen selbst die einzelne Portion,

wenn sie zu groß sein sollte, und hält so gemeinschaftliches Mahl im eigenen Hause. Bei aller Gemütlichkeit wird aber auch das Lernen nicht vergessen. Sind den Jungen die Federn und die Flügel hinlänglich gewachsen, so heißt es: „Heraus aus dem Neste und heran an die Arbeit!" Der erste Übungsplatz ist die Dachfirste. Vor allem wird das Gehen geübt. Die Alten gehen voran und machen vor, die Jungen machen nach. Auch hier ist aller Anfang schwer. Ängst­ lich balancieren die Jungen einher und sind froh, wenn sie nur erst wieder ruhig und sicher ihre Hornschwarzen Schnäbel aus dem Neste hervorstrecken können.

Doch die Ruhe ist von kurzer Dauer; die Alten treiben immer wieder von neuem an die Arbeit, bis die Fertigkeit im Gehen erreicht ist. Nun geht es ans Fliegen; dies geschieht anfangs nur sprungweise geradeaus, vorwärts und rückwärts, aber mit regelrechtem Flügelschlage, dann mit nach hinten ausgestreckten Beinen linksum und rechtsum, in kleinern und größern Kreisen, bis sie sich auch hierin die Zufriedenheit der Alten erworben haben. Die bewiesene Aufmerk­ samkeit und der erprobte Fleiß sollen nun auch nicht unbelohnt bleiben; mit den Eltern geht es ins weite Feld zum nächsten großen Versammlungsorte, wo offene Tafel gehalten wird.

Hier werden die Jungen zum ersten Male in die größere

Gesellschaft eingeführt, und jeder kann sich selbst sein Essen nehmen, aus welcher

Schüssel es ihm gerade gefällt, wobei noch besonders ergötzlich ist, daß die ganze Mahlzeit beim Spazierengehen abgemacht wird. Alt und jung schreitet gravitätisch

durcheinander

hin.

Die

ellenlangen

zinnoberroten Stelzenbeine

haben

zum

362

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

Durchwaten bis über die Fußbeuge keine Federn; die 3 Vorderzehen sind mit einer Haut verbunden und an der Spitze mit abgestumpften Nägeln versehen, da­ mit der Fuß nicht tief in den schlammigen Boden einsinke. Am gebogenen Halse ist der 1*7 bis 23 cm lange, rote und spitze Schnabel stets in Bereitschaft, die auf­

tauchende Beute aufzuspießen und dann zu verschlingen. Die ganze Haltung, wie die Bekleidung giebt den Störchen einen ehrbaren, feierlichen Anstrich; das reine Weiß der Deckfedern und das tiefe Schwarz der Schwungfedern steht ihnen so

gut wie den ländlichen Kirchgängeriunen ihr Festkleid.

Dazu kommt noch ihre

ausgezeichnete Höhe; mißt der Körper in der Länge drei und einen halben Fuß, so ist das Maß der Höhe nicht viel geringer.

Ausfallend ist das stille Wesen des Storches; weiter nichts als ein weithin schallendes Geklapper, hervorgebracht durch das Zusammenschlagen der beweg­ lichen Kiefer, läßt er vernehmen, um dadurch Liebe, Zorn und Freude auszu­

drücken. Diese Schweigsamkeit hat ihren Grund; denn blicken wir in seinen Schnabel, so zeigt sich die Zunge als ein tief im Schlunde liegendes, kurzes Knorpelstückchen. Darüber wird der Storch sich auch nicht sonderlich beklagen;

denn einmal verdankt er der stummen Rolle, die er spielt, verbunden mit seinem bedächtigen, kopfnickenden Gange, den Titel eines Philosophen, sodann aber der kurzen Zunge die Leichtigkeit und Gefahrlosigkeit, Maulwürfe zu spießen und den Schlangen trotz ihrer Giftzähne die Kehle zusammenzudrücken. Diesem Ge­

schäfte geht er täglich nach und bewährt sich, wenn auch nicht so sehr bei uns, doch in wärmeren Ländern als ein nützlicher Vogel. Während er in Ägypten

den von der jährlichen Nilüberschwemmung zurückbleibenden Schlamm von Frö­ schen, Eidechsen und Schlangen säubert, vertilgt er in Kleinasien ganze Scharen von Fledermäusen und macht dadurch hier wie dort dem Landmanne die Ernten

möglich. Kommt Ende August heran, so zieht sich eine ganze Schar Störche aus wei­ tem Umkreise zusammen, und ein großes Manöver beginnt; da geht es in lang anhaltendem Fluge über Berge und Thäler, über Felder und Dörfer, um die Jungen zu dem weiten Marsche ganz taktfest zu machen. Eine entlegene Wald­ wiese dient zuletzt zur stillen, geheimen Versammlungsstätte- Zu den Wolken er­ hebt sich die Schar und zieht unbeirrt, durch ihren wunderbaren Ortssinn geleitet, ohne Kompaß und Wegweiser der neuen Heimat zu. Hohe Gebirgsketten werden wie Klippen umschifft und die tiefsten Einschnitte ausgewählt, eben so die großen Breiten der Meere vermieden und die schmälsten Striche ausgesucht, wo überdies Inselgruppen erwünschte Ruhestätten darbieten. Über Italien, Sicilien und Malta geht es nach Tunis und endlich , nach Ägypten, wo der gütige Erhalter alles

dessen, was lebet, auch den Storch immer wieder seine vollen Fleischtöpfe vor­ finden läßt.

Neuling.

8.

Die Burg Hohenzollern.

Zwei Gebirgskegel treten aus der langen Reihe der schwäbischen Alpenhöhen

weithin sichtbar hervor: am östlichen Ende der Hohenstaufen, auf dessen kahlem

VII.

363

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

Gipfel, freilich nur dem geistigen Auge sichtbar, aber für dieses unzerstörbar, die Burg eines längst verschwundenen Geschlechtes unsterblicher Herrscher thront;

gegen das Westende desselben Gebirges der Hohenzollern, die mit Trümmern ge­ krönte Bergwiege eines blühenden Königsstammes. Dieses letztere, einst sehr feste Bergschloß liegt eine halbe Stunde von He­ chingen, der kleinen Hauptstadt des Fürstentums Hohenzollern-Hechingen, auf einem frei stehenden, kegelförmigen Berge, der gegen 260 m hoch ist. Den Gipfel bildet

ein Kalkfelsen, dessen Seiten überall senkrecht abgeschnitten sind. Zu dieser Spitze, auf welcher das Schloß liegt, führt nur ein einziger, mit Brücken verbundener Zugang; überdies aber war die Burg noch absatzweise durch neun stark mit

Eisen beschlagene Thore verwahrt. Das Schloß selbst bildet ein längliches Biereck und besteht aus einem Haupt­ gebäude und zwei Flügeln, von welchen die südöstliche Seite, deren Flügel längst eingestürzt ist, mit Ausnahme der Kirche offen steht

Rechts hat der Eintretende

hier das Zeughaus, in welchem einiges Geschütz und eine sehenswerte Sammlung von Waffen des Mittelalters aufbewahvt wird; eiserne Panzer, Helme, Morgen­ sterne, Spieße und was sonst von Waffen der veränderte Kriegsgebrauch längst unnütz gemacht hat. Darunter zeichnen sich einige schön von Stahl gefertigte und

mit Zieraten versehene Rüstungen der alten Grafen von Hohenzollern besonders aus. Das Ganze ist in einem alten Saale ausgestellt. Neben diesem Zeughause sind zwei Mühlen nebeneinander von eigentümlichem Mechanismus, von welchen die untere durch Pferde, die obere durch Menschen in Bewegung gesetzt wurde. Jenem Hause gegenüber steht links unansehnlich, aber doch nicht ungeräumig, die

Burgkapelle, der älteste Teil des Schlosses; denn ihre Erbauung fällt gewiß schon ins I I. Jahrhundert. Die Burg hat keinen Brunnen mit lebendigem Wasser; eine große, gemauerte Cisterne, welche die dahin abgeleitete Traufe der Dächer auffing, vertrat für die Bewohner seine Stelle.

Den übrigen Teil des Schlosses

nehmen hohe und geräumige Säle und Zimmer ein, die jedoch nichts Bedeutendes darbieten. Im Hofe stehen einige alte Bäume. Mühevoll in Felsen gehauene Gewölbe ziehen sich unter der Oberfläche des Berges hin. Das Ganze der Burg war schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts dem gänzlichen Verfalle nahe, und ein Schriftsteller dieser Zeit erzählt mit Bedauern, daß dieses berühmte preußische Stammschloß bald zu einem Schutthaufen gewor­ den sein werde; seitdem aber hat sich die hohe Regentenfamilie, welche dieser Burg

entsprossen ist, des Hauses ihrer Väter angenommen, nachdem Friedrich Wil­ helm IV., damals Kronprinz von Preußen, im Sommer 1823 einen Abend auf seinem ahnherrlichen Schlosse verweilt hatte. Die Wohnungen sind erneuert und wieder in wohnlichen Stand gesetzt, und dem Ganzen ist ein hoher, steinerner

Turm hinzugefügt worden, der die sonst wenig sich in die Hohe türmenden Ruinen und die noch erhaltene Gebäulichkeit hebt und eine unermeßliche, überraschende Aussicht über Berge, Thäler und Flächen eröffnet.

Westen, Norden und Nordost

liegen ganz offen da; der Süden zeigt uns die Alpenkette mit einem Kranze der schönsten Wälder, deren Berge sich in amphitheatralischem Halbrund vor dem

gern auf ihnen ausruhenden Auge lagern.

Schwab.

364

VII. Natur-, Länder- und Völkerkunde 9.

Der Hohenstaufen.

In der Mitte des schwäbischen Landes, fast gleich weit vom Rhein, Lech

und dem Bodensee entfernt, erhebt sich der Hohenstaufen, ein kegelförmiger Berg, auf dessen Gipfel einst das Stammhaus der schwäbischen Herzöge und Kaiser gestandene Weithin ist des Berges Haupt sichtbar, und du magst kommen, von

welcher Richtung du willst, so beut es dir seinen kahlen Scheitel entgegen. Es beherrscht ebenso die Gegend und die niederen Berge, wie die mächtige Regenten­ familie, die einst hier hausete, die niederen Geschlechter und die Landschaft umher­ beherrscht hat. Der baumlose Gipfel des Berges gewährt eine herrliche Aussicht. Gegen Süden übersieht man die schwäbische Alp mit ihren begrünten Höhen oder zackigen Felsen; hinter ihr ragen in weiter, bläulicher Ferne, wie die Wolken am Horizont, die Schneeberge Tyrols und Helvetiens hervor. Gegen Westen erblickt man die schönen Gegenden, die der Neckar durchströmt, das reiche Württembergische Unter­ land, das schwarzwalder Gebirge und, dem Auge nur bei dem hellsten Himmel sichtbar, die Berge Lothringens. In einem schönen Halbkreise gelagert von Nord­ west bis Nordost, von der Mündung des Neckars bis zum Ausflusse des Lechs, begrenzen die schwarzen limburgischen und fränkischen Waldungen den Horizont und verhindern die weitere Aussicht. Dies sind die äußersten Linien des Kreises, dessen Mittelpunkt dieser Berg ist; aber innerhalb dieses Kreises, welch eine bunte Landschaft, welch schönes Gemälde! wie abwechselnd Thal und Berg, Wälder, Fluren und Flüsse! welche Menge von Höfen, Dörfern und Städten, die allenthalben, bald mehr, bald minder versteckt, mit ihren Türmen und schimmernden Dächern und Zinnen einen ungemein heitren Anblick gewähren!

Ganz nahe, dem Anscheine nach nur einen

Steinwurf weit, liegt am nördlichen Fuße des Berges die Stadt Gmünd, ehe­ mals ein Eigentum des hohenstaufischen Hauses, die aber nach Konradins un­

glücklichem Tode sich die Reichsfreiheit erwarb. Ebenso nahe, nur auf des Berges südlicher Seite, breitet sich in einem fruchtbaren Thale das schöne, württembergische Städtchen Göppingen aus, das gleichfalls zu dem Besitztume der hohen­ staufischen Familie gehörte. Das frohe Gefühl, in das den Beschauer die leben­

dige Gegenwart versetzt, wird getrübt bei dem Anblicke so vieler in Trümmern liegender naher Bergschlösser, die sich rings über die niedrigen Orter erheben und wie Vasallen um den sie alle überragenden Hohenstaufen herumstehen: Rechberg,

Staufeneck, Helfenstein, Ramsberg, Scharfeneck, Berneck, Drachenstein waren ehemals die Sitze blühender Geschlechter, deren Andenken sogar zum Teil ver­ weht ist. Noch mehr drängt sich der Gedanke an die Vergänglichkeit aller menschlichen Größe auf, wenn du seine nächsten Umgebungen betrachtest; denn von dem

Stammhause der Hohenstaufen ist bis auf ein kleines Stück Mauer auch die letzte Spur verschwunden, und mit Gras und Disteln ist der Schutt überwachsen. Ein­ same Ziegen weiden an den steilen Wänden des Berges, und halbnackte Hirten­ knaben tummeln sich auf der luftigen Höhe, wo einst der mächtige Friedrich seine

VII. Jugend verlebte.

Natur-, Länder - und Völkerkunde.

365

Im Bauernkriege 1525 wurde von dem Schlosse verbrannt,

was verbrennbar war.

Die etwas über 2 m dicke Ringmauer desselben, zwei

feste Türme, der Buben- und Mannsturm genannt, die Thore und der Brunnen

blieben stehen und standen noch 1588.

Seit jener Zeit wurden die Steine von

den benachbarten Bauern geholt, die Türme niedergerissen, der Brunnen ver--

schüttet; sie suchten nach Schätzen und fanden Menschenknochen, die sie verschleu­ derten.

Die Natur selbst scheint hier oben zu trauern über den Abgang der

großen Familie, die hier ihren Wohnsitz hatte.

Menschenleer ist die Gegend, ver­

lassen sieht sich der Wanderer, und nur das Geläute der Herde oder einer nahen Kirchenglocke dringt hin und wieder zu seinem Ohre. Am südlichen Abhange des Berges liegt das Dorf Hohenstaufen. alten Kirche desselben, die schon stand,

In der

als die Staufen Könige der Deutschen

waren, ist eine kleine niedrige Thür gegen den Berg zu; über derselben befindet

sich ein uraltes Wandgemälde, welches den Kaiser Friedrich Barbarossa in eiserner

Rüstung vorstellt; unter dem Bilde sind einige deutsche Reime, welche sagen, daß Friedrich

oft durch diese Thür in die Kirche gegangen sei.

Tiefer unter dem

Dorfe auf der Ebene ist ein dichter, großer Wald, in welchem ein paar alte,

ganz mit Moos überzogene Eichen steheu; von ihnen geht die Sage unter den Landleuten, daß sie aus den glanzvollen Zeiten des hohenstaufischeu Geschlechtes die einzigen noch lebenden Überreste seien. Wenn diese Sage auch nicht wahr ist,

so thut es doch dem Gefühle wohl, sich in die Zeiten zu versetzen, da diese Bäume jung waren, sich jene längst entschwundenen Menschengestalten zu denken, wie sie

in diesem Forste dem Eber auflauerten und den schnellen Hirsch mit ihren Speeren fällten.

Es thut dem Gefühle wohl, nach einem so oft wiederholten Wechsel von

Geschlechtern, Zeilen und Reichen eine Kreatur, einen Eichbaum anzuschauen, der

alle diese Wechsel überlebt hat, der dem stolzen Menschen die Kürze der ihm zu­ gemessenen Zeit vorrückt und ihm zu sagen scheint: „Dein Leben währet siebenzig Jahre und, wenn es hoch kommt, achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist,

so ist es Mühe und Arbeit gewesen; ich hingegen trotze der Zeit, und meine Blätter grünen für und für."

10.

Ehrhardt.

Das Lissaboner Erdbeben.

Eines der schrecklichsten Ereignisse neuerer Zeit ist das Erdbeben, welches am 1. November 1755 die Hauptstadt Portugals plötzlich und ungeahnt in den

Abgrund des Verderbens stürzte.

Um die Größe und den Umfang des Unglücks,

das die Bewohner Lissabons traf, zu ermessen, ist es nötig, einige Blicke auf die Stadt selbst zu werfen, ehe jener Schreckenstag einbrach.

Jedermann weiß, daß Lissabon nebst London, Amsterdam und Hamburg einer der vorzüglichsten Handelsplätze in Europa ist; der Verkehr war einige Tage vor­ dem Ausbruche des Erdbebens noch weit lebhafter als jetzt.

Die Stadt lag am

nördlichen Ufer des Tajo auf sieben Hügeln und gewährte vom Flusse her einen

herrlichen Anblick; die Gebäude wandten sich mit dem Tajo und erhoben sich von

ihm allmählich den Hügel hinan.

Befand man sich in der Stadt, so hatte man

366

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

einen der schönsten Flüsse in der Welt vor sich; von einem Ufer zum andern war

es eine gute halbe deutsche Meile, und dieser Wasserspiegel trug den Reichtum von Schiffen der meisten seefahrenden Völker. Über diesen dichten Wald von Masten hinaus lag eine romantische Landschaft, reich von der Natur begabt und

mit wohlhabenden Städten und Dörfern besetzt. Das damalige Lissabon war beinahe anderthalb deutsche Meilen lang; es hatte eine Mauer mit 77 altfrän­ kischen Türmen, die zwar keinen Feind abhalten konnten, aber der Stadt ein ehr­ würdiges Ansehen gaben; nach dem Flusse zu hatte die Mauer 26 und auf der Landseite 17 Thore. Die Stadt hatte eine Burg, ein starkes, altes Gebäude, das auf einem der höchsten Berge stand und sich teils durch seine Größe, teils durch den arabischen Geschmack auszeichnete, in welchem es gebaut war. Der Adel hatte tresiliche Häuser aus Quadersteinen mit schönen Gärten, die der Stadt zu großer Zierde gereichten; indes machten die gemeinen Häuser nur schlechte Figur. Innerhalb der Stadt zählte man 40 Kirchen außer der Kathedrale, die auf

einem der höchsten Hügel stand und daher in der Ferne prachtvoll aussah, ein alt­ gotisches Gebäude, inwendig höchst kostbar ausgeschmückt. Die Stadt hatte nicht weniger als 25 Klöster für Mönche, 18 für Nonnen und für Laien etwa 130, welche Kapellen und Priester hielten. Für die Armen waren etliche große Ho­ spitäler errichtet. Der königliche Palast gewährte vom Flusse her einen prächtigen Anblick: er hatte eine sehr vorteilhafte Lage, da man aus den Fenstern große Flotten vor Anker und alle Schiffe sehen konnte, die in den großen Hafen ein­ liefen oder aus demselben segelten. Dieser Palast bildete eine Seite von einem Viereck, das Zollhaus, die Fleischbänke, der Kornmarkt die andern Seiten. Auf diesem Platze hielt man die Stiergefechte; auch verbrannte man hier die Unglück­ lichen, welche der Inquisition geopfert wurden, die auf dem Platze Roscio ihre Sitzungen hielt. Die Straßen waren ausnehmend eng und etliche sehr steil. Der vortreffliche Hafen konnte 10000 Schiffe fassen und war so tief, daß die größten Schiffe in 18 Klaftern Wasser gerade vor dem Palaste ganz sicher, mit

ihren Ankern vertäuet,

liegen konnten.

Den Eingang

schützen zwei

Forts,

St. Julian, welches aufs Ufer gebaut ist, und Torre, das auf einem Bollwerke, vom Wasser umringt, steht; allein die größte Verteidigung des Hafens war und ist noch die Barre oder die Sandbank, welche sich quer vor demselben ausstreckt

und allen Schiffen höchst gefährlich wird, die keinen erfahrenen Lotsen haben. Das war Lissabon bis auf den 1. November 1755: frühe noch eine der schön­ sten, reichsten und bevölkertsten Städte und abends ein Schutthaufen, eine dampfende Brandstätte, ein unabsehbares Leichenfeld! An diesem unseligen Mor­

gen war der Himmel heiter und lachend, wie er es fast immer in den glücklichen Kreisen des europäischen Südens ist. Kein Lüftchen regte sich; aber 57 Minuten

auf 10 Uhr hörte man es auf den Straßen rollen, gleich als ob Karossen hinab rollten; zugleich bebte die Erde mit gewaltig wogender Bewegung. Es war gerade der Festtag Allerheiligen, und die Einwohner hatten sich zahlreich in den Kirchen versammelt, als das Unglück losbrach. Die kurze Zeit von 10 Minuten war hinreichend, die schönsten Paläste, die herrlichsten Kirchen und Privatgebäude in bejammernswürdige Trümmer zu verwandeln, unter denen Tausende ihren Tod

VII. fanden.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

367

Gleich bei der ersten Erschütterung stürzte die Casa santa, das Haus

der Inquisition, ein. Dem königlichen Palast ging es nicht besser; er ward mit allen Kostbarkeiten, die er enthielt, von der Erde verschlungen, ein Verlust, den man allein auf 12 Millionen Mark berechnete. Zum Glück befand sich die könig­ liche Familie zu Belem, einem reichen Kloster an der Mündung des Tajo west­ lich von Lissabon. Das prächtige Jesuitenkollegium begrub unter seinen Trüm­ mern alle darin befindlichen Mitglieder der Gesellschaft. Größeres Unglück und ein nicht zu berechnender Verlust brach in der Nähe des Zollhauses aus, wo ein großer Kai war. Auf ihm hatten die köstlichen Flotten von Brasilien, Ostindien

und Afrika Ballen und Kisten und Säcke voll seltener Erzeugnisse für den Ge­ brauch der nördlichen Welt aufgetürmt; hier lagen Millionen in Maren, und um diese Güter schwärmten von Tagesanbruch bis in die Nacht an 600 Reeder, Schiffer, Diener, Beamte, Matrosen aus allen Ländern. Die Erde bebt, und binnen einer Minute versinkt dieser Kai, ohne daß nur eine Seele entkommt; Wasser tritt an die Stelle, und jede Spur des großen Platzes ist verschwunden. Der Schrecken, das Jammern und Wehklagen, das von allen Seiten ertönte, geht über alle Beschreibung. Die Leute liefen in die Straßen und streckten ihre Arme gen Himmel, um Gnade flehend; viele suchten einen der offenen Plätze oder die Landstraße zu erreichen und rannten, zum Teil halb nackt, über die Trümmer hinweg. Greise, Frauen, Kinder, Kranke, die uoch in ihren Betten lagen, wurden erstickt, ohne daß man ihnen Hülfe leisten konnte, oder wurden zerschmettert, verschüttet und so zu dem schmählichsten, schaudervollsten Tode, dem Tode des Hungers, verdammt. Pferde und Rinder waren unhaltbar, zerrissen die Stränge und suchten vergeblich mit ihren Reitern der Zerstörung zu ent­ fliehen, die unvermeidlich schien. Ganze Gruppen, die sich auf der Flucht be­ fanden, wurden vom Hagel der Ziegelsteine und Werkstücke erreicht oder von dem

Falle erschütterter Gebäude zermalmt.

Ein Haufe lief nach der Terra de Passa,

dem Platze am königlichen Palaste, um von hier auf die Schiffe zu eilen; aber

sie stürzten schnell zurück, weil der Tajo sich plötzlich zu einer Höhe von 6 bis 10 m erhob.

Es gehört unter die gräßlichen Wunder dieses Tages, daß dieser Fluß blitz­ ähnlich so anschwoll und dann eben so geschwind zurücktrat; Schiffe, die in 6 Klaftern Tiefe gelegen hatten, wurden auf den nackten Boden gesetzt. Diese

über allen Ausdruck grausenvolle Flut und Ebbe kehrte an diesem Tage vielmal zurück. Etliche Böte wurden gleich verschlungen; aus der königlichen Werste schwemmte diese Sündflut alles Zimmerholz nebst Masten, Fässern und den

sämtlichen ungeheuren Schiffsvorräten hinweg. An der vorher erwähnten Barre am Eingänge des Hafens sah man die See stoßweise sich brechen wie im Sturme, ein Anblick,

der auch den beherzten Seefahrer bange machte.

Das Schloß

Regio geriet in große Gefahr durch dieses Anschwellen des Flusses und feuerte Notsignale ab. In der Stadt stiegen ungeheure Staubsäulen neben den fallenden Häusern auf; die Überlieferung sagt, daß die Sonne einige Augenblicke davon verdunkelt

und daß es so schwarz wie in der finstern Nacht geworden sei: ein neuer Schrecken

368

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde,

unter so vielen grausen Scenen.

Sie berichtet ferner, was man hier leicht hin­

zudenkt, daß beständiges Angstgeschrei überall erschollen sei, und daß jede Brust den Jammer des Todes gefühlt habe, dessen tausendfältige Gestalten man vor sich sah. Auf die Scenen der Zerstörung, welche die unglücklichen Einwohner um­ gaben, folgte eine fürchterliche Pause. Die Staubwolken verschwanden, Gerettete wünschten sich Glück, indem andere den Verlust ihrer Verwandten betrauerten; Kinder, Gatten, Liebende rangen die Hände; Eltern knieten bei ihren entseelten Kindern nieder. Viele waren der Vernichtung wie durch ein Wunder entgangen, krochen aus den Trümmern hervor und fanden sich bei den Lebenden ein. Etliche

hielten sich in einer fürchterlichen Höhe an den Sparren und Balken zertrüm­

merter Häuser und flehten um Hülfe. Verstümmelt, blutend und sterbend füllte eine Menge Unglücklicher die Luft mit Wehklagen, Jammergeschrei und Gebeten. Nach wenigen Minuten folgte ein zweiter Erdstoß. Die wenigen Häuser, welche noch standen, wankten gräßlich hin und her wie der Mast eines Schiffes im Sturme. Diejenigen, welche sich ihrer Rettung gefreut hatten, schrieen nun wieder zum Himmel um Gnade und suchten so schnell als möglich über die Trümmer zu kommen. Als sie an die Kirchen gelangten, fanden sie neuen Anlaß, Gott für ihre wunderbare Erhaltung zu danken; denn sie sahen hier mit Schaudern, daß die Scharen von Menschen, die dorthin geflüchtet waren, unter den herabgestürzten Türmen, Dächern und Werkstätten dieser großen Ge­ bäude größtenteils ihr Grab gefunden hatten. Nicht lange, so fühlte man einen dritten gewaltigen Stoß. Die Fliehenden konnten sich nicht auf den Beinen halten, sie mußten sich niederlegen oder niederknieen. Schrecken, Verwirrung, Angstge­ schrei, Flehen um Hülfe und Rettung vermehrten abermals das Grausenvolle dieser Scene und die Größe des Jammers.

Das Trauerspiel war noch lange nicht zu Ende; denn auch das Feuer sollte den Ruin und den Aufruhr in der Natur vergrößern. Schon nach einigen Stun­ den wurden alle Zugänge vom Feuer gehemmt, welches in mehreren von einander

entfernten Teilen der Stadt ausbrach, und mit angehender Nacht standen alle Trümmer von Lissabon in Flammen. Da niemand da war zu löschen, so brei­

tete sich die Wut des Feuers aus, so weit es Nahrung fand, vollendete die Ver­ nichtung und machte die übrigen Einwohner vollends zu Bettlern; denn das Ent­ setzen ergriff alle Personen so sehr, daß niemand etwas zu retten suchte. Wind wehte stark und trieb das Feuer von einer Straße in die andere.

Der Acht

Tage wütete die Flamme und zwar in den vorzüglichsten und engsten Teilen der Stadt. Die Leute mußten halb entblößt auf die benachbarten Felder fliehen.

Waren, Hausrat, Kleider, alles verbrannte. Das Verhängnis hatte alle gleich gemacht: Hofleute, Volk, Nonnen, Mönche, alle mußten sich ohne Unterschied be­ quemen, auf freiem Felde das Ungemach der Witterung zu leiden und nicht nur

Kälte, sondern auch Hunger auszustehen. Auf diese Weise war eine große, blühende Stadt in wenigen Stunden in einen

Schutthaufen verwandelt.

Unzählige reiche und wohlhabende Familien waren in

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

369

Armut und Elend gestürzt, Kinder ihrer Eltern, Eltern ihrer Kinder beraubt, die innigsten Verhältnisse zerrissen, die süßesten Hoffnungen vernichtet, die reizendsten Freuden in Jammer und Klage verwandelt. Anfangs glaubte man, das Feuer sei aus der Erde gekommen; aber auf genaueres Nachfragen bestätigte sich das nicht; es war teils aus den Feuern der Häuser, teils von den großen brennen­ den Kerzen in den Kirchen entstanden, teils auch vielleicht von Mordbrennern an­ gelegt worden. Sechzehn Tage, nachdem es angefangen hatte, war der Schutt noch so heiß, daß er die Körbe, worin man ihn trug, entzündete. Die königliche Familie mußte die Nacht unter freiem Himmel auf dem Felde in Kutschen zu­

bringen. Der spanische Gesandte wurde von dem Sturze seines Hauses erschla­ gen, als er eben aus dem Thorwege wollte. Diejenigen, welche ihr bares Geld in eisernen Kasten gehabt, bekamen es unversehrt wieder; das übrige gerettete Geld war ganz schwarz, und bei jeder Zahlung, die man unmittelbar nach dem Erdbeben machte, wurde gewöhnlich bestimmt, ob sie in blankem oder schwarzem Gelde geleistet werden sollte. Die völlige Zerstörung der Stadt durch das Feuer wurde lediglich den sehrengen Straßen beigelegt. Gleichzeitige Nachrichten können nicht Worte genug finden, um den fürchterlichen Anblick der Trümmer nach teilt Feuer zu schildern. Beim Hinaufsehen erblickte man furchtbare Pyramiden ausgebrannter Häuser­ fronten, die sich bald hierhin, bald dorthin neigten. An unzähligen Orten wurde man durch tote Körper entsetzt, deren 6 bis 7 übereinander lagen, und die halb im Schutt vergraben, halb verbrannt waren. Von allen öffentlichen Gebäuden war nach dem Erdbeben nur noch die Münze und die Schatzkammer übrig. Die

Erdstöße dauerten einige Zeit häufig fort, ob sie gleich verhältnismäßig von feiner Bedeutung waren.

Ein anhaltender Regen verfolgte die Unglücklichen auch auf

die Anhöhen, wohin sie sich vor der Wut des Erdbebens, der Flammen und der Fluten geflüchtet hatten. Nässe, Erkältung, Krankheit und Hunger brachten hier aller angewandten Sorgfalt ungeachtet unzähligen Menschen den Tod, die ein elendes Leben noch bis dahin gegen die Wut des Erdbebens geborgen hatten. Die Zahl der Umgekommenen belief sich auf 30 bis 40000. Der Verlust an Eigentum war unermeßlich und wurde auf 1710 Millionen Mark berechnet. Da die Raubsucht sich das Eigentum der Überlebenden zuzueignen trachtete, so wur­ den einige Regimenter in die Stadt geschickt, um die Sicherheit wiederherzustellen,

und an einem Tage wurden 36 Straßenränder gehenkt. Gegen 3000 Menschen arbeiteten täglich daran, den Schutt wegzuräumen. Das verwüstete Lissabon stieg allmählich prächtiger als ehedem wieder empor.

Hirschfeld.

11. Die Pest in Marseille. Es war am 1. Juni des Jahres 1720, als der Vicekönig von Sardinien,

d.er Graf Saint Remis, im Schlaf von einem überaus beängstigenden Traume gequält wurde; es kam ihm nämlich vor, als ob die Pest in sein Reich einge­

schleppt worden wäre und unter der Bevölkerung furchtbare Verheerungen an­ richtete. Unmittelbar nach seinem Erwachen trat einer seiner Adjutanten in sein Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb.

5. Aust.

24

370

VII.

Natur-, Länder - unb Völkerkunde.

Schlafzimmer und brachte ihm die Nachricht, daß ein fremdes Handelsschiff vor dem Hafen angelangt sei und um die Erlaubnis bitte, in denselben einlaufen zu

dürfen. Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, wies der Vicekönig das Gesuch mit strengen Worten ab; nach einer halben Stunde aber erschien der Adjutant

noch einmal und fragte, ob die Mannschaft des fremden Fahrzeugs sich wenig-stens im Lazarett ausschifsen dürfe. Der Vicekönig in der gewaltigen Aufregung, in die ihn sein beängstigender Traum versetzt hatte, befahl mit Heftigkeit, dem Kapitän des fremden Schiffes anzukündigen, daß er sich auf der Stelle von der Küste entfernen solle, indem man sonst sein Schiff mit Kanonen beschießen werde. Als dieser Vorfall in Cagliari bekannt wurde, konnten sich die Bewohner der Stadt nicht genug über das ungewöhnlich harte Verfahren des Vicekönigs wun­

dern. Einige meinten, er habe in einer unbegreiflichen Anwandlung von fin­ sterer, tyrannischer Laune so wunderlich gehandelt; andere aber glaubten, es könne mit seinem Verstände nicht ganz richtig sein und spotteten laut über seine Narrheit. Wie groß aber war das Erstaunen der Leute, als sie nach einigen Wochen erfuhren, daß jenes Schiff, dem der Vicekönig das Einlaufen in den Hafen so hartnäckig verweigert hatte, kein anderes gewesen war als das des Ka­ pitän Chataud, welches bald nachher im Hafen von Marseille erschienen war und die Pest, die schon lange an seinem Bord wütete, in diese unglückliche Stadt ge­ bracht hatte. Und so war es in der That. Das lebenslustige Volk von Marseille befand

sich noch in der festlichen Aufregung, in welche es durch den Besuch des Herzogs von Modena und seiner jungen Gemahlin, einer französischen Prinzessin, versetzt worden war, als zwischen den mit Blumen- und Laubgewinden geschmückten und mit Musikchören und fröhlichen Zuschauern bedeckten Schiffen das Fahrzeug des Kapitäns Chataud hindurchsteuerte, welches für einen großen Teil jener freude­ trunkenen Scharen und für viele Tausende ihrer Mitbürger den Keim des nahen Todes mit sich brachte. Sobald das Schiff an dem Landungsplätze vor Anker

gegangen war, übergab der Kapitän den Hafenbeamten das Zeugnis, welches er bei seiner Abfahrt aus einem syrischen Hafen von dem dortigen Konsulat erhalten hatte, und in welchem bezeugt war, daß in ganz Syrien weder von der Pest, noch von einer anderen ansteckenden Krankheit irgendeine Spur zu bemerken sei. Dessenungeachtet erkrankten plötzlich mehrere von den Quarantäne-Dienern, welche die Warenballen geöffnet hatten, um sie dem Zutritt der Luft und dem Dampf ihrer Räucherungen zugänglich zu machen, und mehrere derselben starben schon

nach wenigen Stunden unter sehr bedenklichen Anzeichen. Obgleich die Arzte in ihrer Krankheit keine eigentliche Pest, sondern nur ein bösartiges Fieber erkennen wollten, so fühlten sich doch die Behörden bewogen, das Schiff und alle in dem­ selben verladenen Waren der strengsten Quarantäne zu unterwerfen. Die La­

dung wurde nach einer kleinen unbewohnten Felseninsel gebracht, welche etwa eine Stunde von dem Hafen entfernt war, und diejenigen Gegenstände, welche den Krankheitsstoff vorzugsweise aufzunehmen und zu verbreiten pflegen, daselbst ver­ brannt; die Mannschaft des Schiffes aber wurde, obgleich es gerade damals keinen Kranken unter ihr gab, erst nach 20 Tagen aus der Quarantäne entlassen. D.as

VII. Natur-, Länder- und Völkerkunde.

371

allgemeine Elend, das bald nachher über Marseille und die ganze umliegende

Landschaft kam, hat die Aufmerksamkeit der Berichterstatter so ausschließend be­ schäftigt, daß sie es vergessen haben, uns von dem weiteren Schicksal jener See­ fahrer Nachricht zu geben. Nur so viel wissen wir, daß sie nach Verlauf jener

20 Tage aus der Quarantäne entlassen wurden und sich in die verschiedenen Ge­ genden der Provence zerstreuten. Von ihren Waren kamen viele, obgleich auf ihnen der schwerste Verdacht der vergiftenden Eigenschaft haftete, auf den be­

rühmten Markt, der wie gewöhnlich in der heißesten Zeit des Jahres, nämlich in der zweiten Hälfte des Juli, zu Beaucaire abgehalten wurde. Die zahllosen Käufer, welche dort aus allen Gegenden des südlichen Frankreichs zusammen­ strömten, wußten damals noch nicht, welches furchtbare Elend sie zugleich mit

diesen Waren in ihre Häuser brachten. In Marseille selbst dachte man übrigens schon anders über die Krankheit, deren Heftigkeit mit jedem Tage zunahm. Es war nicht das erste, sondern, so viel man wußte, das achtzehnte Mal, daß die Pest ihren Weg aus dem Orient hierher gefunden hatte, und obgleich nur noch wenige lebten, welche diesen Todes­ engel aus eigener Erfahrung kannten, so wußten es doch viele aus dem Munde ihrer Eltern, daß die Pest 70 Jahre vorher auf das furchtbarste in der Stadt gehaust hatte. Als nun im Monat Juli die Kunde zu den Ohren der Schöffen kam,

daß in einem sehr bevölkerten Stadtteile eine bedenkliche, schnell tötliche Krank­ heit ausgebrochen sei, wurden augenblicklich alle Häuser und Personen, welche von der Seuche ergriffen waren, vom öffentlichen Verkehr abgesperrt. Obgleich man, um keine unnötige und durch ihre Wirkung gefährliche Furcht zu erregen, diese

Maßregel in möglichster Stille und meistens bei Nacht in Ausführung brachte, so kam dennoch das grausenhafte Geheimnis, daß die Pest in der Stadt sei, durch die Unvorsichtigkeit der Ärzte nur zu bald zur öffentlichen Kunde. Vergeb­

lich war das Bemühen der Verständigeren, bei dem Volke die Ansicht zu begrün­ den, daß die Pest nicht ansteckend sei, während die Behörden ihre Maßregeln so nahmen, als ob sie der entgegengesetzten Meinung wären; die Furcht gewann

die Oberhand, und bald flohen alle, welche es vermochten, aus der Stadt, nicht nur diejenigen, denen ihr Reichtum eine unabhängige Stellung gewährte, sondern

auch der größte Teil der Beamten, der Handelsleute, der Handwerker, ja selbst der Beamten und Diener in den Hospitälern und Krankenhäusern. Dadurch, daß die Regierung eine Grenzlinie um das Stadtgebiet zog und das Überschrei­ ten derselben bei Todesstrafe verbot, wurde zwar diesem Unwesen, durch das die Stadt gerade ihrer unentbehrlichsten Bewohner beraubt wurde, Einhalt gethan; dagegen konnte man es nicht verhüten, daß die Not im Innern der Stadt mit

jedem Tage wuchs. Zu der Seuche gesellte sich jetzt der Mangel; denn die Zu­ fuhr von außen war so unzureichend, daß es in den meisten Haushaltungen an

dem nötigen Brot, Fleisch und Holz fehlte. Die vier Schöffen und der Amts­ hauptmann waren, ihrer Pflicht getreu, in der geängstigten Stadt zurückgeblie­ ben; was konnten sie aber auch bei dem besten Willen thun, um dem allgemeinen Elend in kräftiger Weise zu begegnen? In der Stadlkasse fanden sich vielleicht infolge des Aufwandes, den man bei den letzten Festlichkeiten gemacht hatte, nur 24*

372

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

1200 Livres vorrätig, und alle Quellen der Einkünfte waren versiegt, da die meisten Steuerbeamten die Flucht ergriffen hatten. Drückender aber noch als der Mangel an Geld war der an hülfreichen Armen; denn gerade diejenigen Bürger, welche den Schöffen bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung

behülflich sein sollten, hatten zum größten Teil die Stadt verlasien. Statt dieser ruhigen Bürger war dagegen derjenige Teil der Bevölkerung zurückgeblie­ ben, welcher aus Armut, Unwissenheit und Roheit überall der natürliche Feind der gesellschaftlichen Ordnung und des Gesetzes ist, nämlich die zahllosen Scharen der Bettler, der müßigen Landstreicher, der arbeitsscheuen und brotlosen Men­ schen und endlich der Verbrecher. Diese Volksmasse versank in dem Grade, als die Not sich vermehrte, in einen Zustand sittlicher Verwilderung und empörender Verachtung aller göttlichen und menschlichen Gesetze, welche alle Besseren mit

Schauder erfüllte. Andere wieder gaben sich einer Verzweiflung hin, welche in ihren Folgen fast eben so traurig war wie die Verwilderung der rohen Menge. Diesen inneren Feinden, welche fast furchtbarer waren als die Seuche selbst, stellte sich jetzt der Heldenmut einiger weniger edlen Männer entgegen, denen es gelang, die schönsten Siege des festen Gottvertrauens zu erkämpfen. Vor allen anderen waren es die beiden Schöffen Estelle und Moustier, welche durch ihr Beispiel bewiesen, was Mut und Besonnenheit auch der augenscheinlichsten Todes­ gefahr gegenüber vermag. Tag und Nacht waren diese Männer beschäftigt, den Unglücklichen Trost und Hülfe zu bringen; unter Leichnamen und Sterbenden

und mitten in den pestilenzialischen Ausdünstungen der Spitäler und Totengrüfte sah man sie ohne Furcht vor Ansteckung den Weg ihrer schweren Pflicht gehen; wohin sie kamen, brachten sie Ordnung in die ratlose und verzweifelnde Menge und sorgten ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit in aufopfernder Nächsten­ liebe nur für das Wohl ihrer Mitbürger. Bei diesem Werk der Liebe stand den beiden Schöffen ein Mann von gleichem Heldenmut und Gottvertrauen zur Seite, der Chevalier Noze, der durch seine Einsicht und Erfahrung in ganz vorzüglichem Maße zu solcher Hülfeleistung geeignet war. Durch eine augenfällige Fügung

der Vorsehung war er der bedrängten Stadt zur Linderung ihres Elends ge­ sendet worden; denn er traf fast in demselben Augenblick im Hafen von Marseille ein, in welchem das unheilvolle Schiff des Kapitän Chataud im Lazarett seine Papiere abgab. Er hatte in jüngeren Jahren als Kaufmann in Spanien gelebt, hatte dann der französischen Regierung in mehreren Kriegen wichtige Dienste ge­ leistet und war deshalb vom König in den Ritterstand erhoben und später auch zum Konsul in Modon ernannt worden, wo er Gelegenheit gefunden hatte, die

Pest aus

eigener Anschauung

kennenzulernen

und jene übertriebene Furcht ab­

zulegen, welche der Europäer im Vergleich mit dem Orientalen vor dieser Seuche hegt. Endlich erblicken wir noch mitten in dem allgemeinen Elend einen vierten

Mann, der sich besonders als ein Tröster der Sterbenden und Kranken, als ein Bote des Friedens und ein Erwecker des gläubigen Mutes thätig erwies, bqn edlen Bischof Belzunce, einen Mann von hoher ritterlicher Gestalt, dessen Äußeres schon den treuen Diener des göttlichen Wortes verriet.

In dem einfachen Ge­

wände eines Büßenden sah man ihn vom Morgen bis zum Abend an den Betten

VII.

Statuts, Länder- und Völkerkunde.

373

der Sterbenden und Kranken thätig, namentlich da, wo die Schauder der Toteu-

grüfte am weitesten sich aufthaten, in den Lazaretten und in jenen Hütten der Armut, in denen nicht selten der Weg über die unbegraben herumliegenden Leich­ name zu dem Lager eines noch Lebenden führte. Da seine Kraft nicht ausreichte, um überall den Trost zu spenden, nach dem die zahllosen Kranken und Sterben­ den verlangten, und da ein großer Teil der Geistlichen aus der Stadt entflohen

war, so weihte er andere an ihrer Stelle zu dem jetzt so nötigen Dienst der Kirche und der erbarmenden Bruderliebe. Nicht im Gebiet der Religion allein, auch in jenem der Wissenschaft gab sich damals eine große Verschiedenheit des Benehmens gegen die Gefahren der Seuche kund. Von den Ärzten der Stadl war zwar eine ziemliche Zahl zurückgeblieben; statt aber, wie die beiden Schöffen und Roze und Belzunce, den gesunkenen Mut ihrer Mitbürger aufzurichten und zu stärken, trugen sie wesentlich dazu bei, ihn zu vernichten und die allgemeine Furcht zu vermehren. Gleich gespenstischen Wesen

der Nacht sah man sie in Gewändern von schwarzem Wachstafset, mit hohen höl­ zernen Unterlagen an ihren Schuhen, mit verdecktem Munde und verhüllter Nase nicht wie rettende und tröstende Freunde, sondern wie Boten des Todes bei den Kranken erscheinen, die sie nicht einmal zu berühren wagten. Es darf uns nicht verwundern, daß die Mittel, welche sie verordneten, fast immer nur verderblich wirkten, und daß Tausende der Bettler und der Ärmsten unter dem Volke durch die Hülfe der Natur, welche ihre Pestbeulen zur Reise brachte und öffnete, ge­ nasen, während die, welche das Unglück hatten, in die Hände jener Ärzte zu fallen, mit wenigen Ausnahmen starben. Neben dem Gebrauch der inneren Mittel hatte einer dieser elenden Ärzte die Anwendung eines äußeren empfohlen, das sich bald eben so verderblich erwies wie die den Kranken gereichte Arznei. Um nämlich, wie man meinte, die Luft zu reinigen, wurden in der Gluthitze der Sommertage teils rings um die Stadt her, teils auch auf den Plätzen und Gassen und selbst

in den Höfen der Häuser unzählige Feuer angezündet, deren Rauch, mit Staub und Asche vermischt, das Licht der Sonne verdunkelte und sich wie ein dichter, erstickender Giebel auf die unglückliche Stadt lagerte. Sechs Wochen nach dem Ausbruch der Seuche, als die Not den höchsten Gipfel erreicht hatte, erschien endlich eine Schar einsichtsvoller und mutiger Männer in der schwer heimgesuchten Stadt; sie kamen im Auftrage des Mini­ steriums aus der berühmten Schule der Ärzte zu Montpellier. Nicht in Wachs­

taffet verhüllt und verlarvt, sondern mit freiem, offenem Angesicht, der Furcht ihrer Kunstgenossen spottend, besuchten und behandelten sie die Kranken; mit heiterer Miene und ermunterndem Zuspruch setzten sie sich zu dem Kranken auf das Bett,

knüpften eine Unterhaltung mit ihm an, untersuchten gemächlich mit Blick und Hand seinen Körper, verbanden seine Beulen und Wunden und suchten durch die

einfachsten Mittel der Natur zu Hülfe zu kommen. Ihrem Beispiele folgend, kamen Ärzte und Wundärzte aus den verschiedensten Gegenden Frankreichs herbei, so daß es bald keinem der zahllosen Kranken an ärztlicher Hülfe fehlte. Auch die Frauen blieben bei dieser heilsamen und aufopfernden Geschäftigkeit nicht müßig. Mit einem deutschen Arzte war seine Gattin, ein junges, blühendes Weib, nach

374

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

Marseille gekommen, deren Name und Vaterland unbekannt geblieben ist, und aus welcher deshalb der Volksglaube um so leichter ein hülfreiches Wesen aus einer andern Welt machen konnte. Diese schöne, kräftig gestaltete Frau ging ohne Furcht in die am meisten verpesteten Räume der Hospitäler und blieb, während sie täglich zahllosen Kranken die Wunden und Pestbeulen verband, ein Bild der frischesten Gesundheit. Auch von allen den entschlossenen und kühnen Ärzten, welche aus Montpellier und anderen Gegenden der Provence gekommen waren, wurde nur ein einziger von der Krankheit ergriffen und auch dieser wahrschein­

lich nur infolge seiner Tollkühnheit, zeigen, in das Bett eines soeben an wurde von den vier Helden, deren keiner von der Seuche ergriffen; sie

indem er sich, um seine Furchtlosigkeit zu der Pest Verstorbenen gelegt hatte. Ebenso Namen und Thaten wir oben erwähnten, alle überlebten die Zeit der Plage und star­

ben erst, nachdem sie noch viele Jahre mit dem schönen Bewußtsein treulich er­ füllter Pflicht gelebt hatten. Eine nähere Beschreibung der furchtbaren Pest von Marseille, so wie des Jammers, den sie weit umher verbreitete, gehört nicht an diesen Ort. Nicht nur

in den Hospitälern und Wohnhäusern, sondern auch auf allen Plätzen und Gaffen sah man Leichname und Sterbende; in Marseille allein starben 40000 Menschen

und in dem umliegenden Stadtgebiet mehr als 10 000. Toulon zählte, obgleich man daselbst den Schiffen mit Kranken, welche auf Verordnung der Regierung aus Marseille in die Krankenhäuser dieser Nachbarstadt gebracht werden sollten, mit Kanonen das Anlanden verwehrt hatte, mehr als 15000 Tote, Aix gegen 7000 und die kleineren Städte, Marktflecken und Dörfer der Provence etwa 10 000. Der größte Teil der Toten bestand aus Kindern, Frauen und jugend­ lich kräftigen Männern, während hochbetagte und lebensmüde Greise meist von der Seuche verschont wurden. Nicht weniger auffallend war es, daß aus der ärmsten und äußerlich elendesten Klasse des Volks viel weniger Menschen von der

Krankheit befallen wurden als aus den bemittelten Ständen. Wenn man be­ denkt, daß in der Stadt Marseille und ihrem Gebiet etwa 50 000 Menschen in

einer Zeit von kaum drei Monaten an der Pest starben, und daß ebenso viele Menschen von der Seuche befallen wurden, ohne ihr zu erliegen, so kann man sich eine Vorstellung von dem jammervollen Bilde machen, welches die Stadt in Alle Räume, welche sowohl in den Krankenhäusern, als auch außerhalb derselben der öffentlichen Wohlthätigkeit zu Gebote standen, waren mit Kranken, Sterbenden und Leich­

den Monaten Juli, August und September des Jahres 1720 darbot.

namen angefüllt. Hülflose, halbverhungerte Kinder liefen auf den Straßen umher und flehten die Vorübergehenden um Brot und Obdach an, und nicht selten wur­ den ganze Familien, wenn in ihrer Mitte die Krankheit zum Ausbruch kam, von unbarmherzigen Hausbesitzern verstoßen und lagen nun mit ihren wenigen Hab­ seligkeiten auf irgendeinem Platze, bis die Obrigkeit für ihr Unterkommen sorgte.

Da war niemand, der, ohne mit Gewalt dazu gezwungen zu sein, die Toten be­ graben wollte. Wohin das Auge sah, erblickte es Spuren des Todes und der Vet-

wesung; selbst das Wasser der Brunnen und Cisternen schmeckte nach Fäulnis, und auch die Luft, die man einatmete, war von den Ausdünstungen der Kranken

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

und der Leichname vergiftet.

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Zu diesem Gräuel der durch die Krankheit verur­

sachten Verwüstung kamen aber noch die Schrecknisse, welche jene Räuber- und Mörderbanden über die zitternden Bewohner brachten, indem sie in die Häuser einbrachen, die wehrlosen, ihrer natürlichen Beschützer beraubten Bewohner aus­ plünderten und mißhandelten und nicht selten sogar Kranke und Sterbende er­ schlugen, um sie dann zu berauben.

12.

Schubert.

Gruß an den Rhein.

O Rhein, wie klingt dein Name hold Gleich einer Glocke, hell von Gold!

O fließe fort in stolzer Ruh', Taufwaffer deutschen Volkes du! Wie hat Natur hier ausgestreut, Was nur des Menschen Herz erfreut! Die gelben Ährenfelder kräuseln,

Durchwehet leicht vom Windessäuseln; Der grüne Forst zieht um den Rand Ein breites, dunkelnächt'ges Band. Wo heißer sich der Sonne Licht An dem Gestein der Felswand bricht,

Da kocht die Reb' am Herd der Glut Ihr duftend Gold, ihr feurig Blut; Es rasselt das Eisen zu jeder Stund'

In nahen Schachtes tiefem Grund. Es horsten die deutschen Adler hier, Die Edelfalken im Luftrevier;

Es springen die Hirsche vom Niederwald Und schwimmen durch die Fluten kalt! Und in die lichten Wolken hin

Seltsame Luftgestalten ziehn: Hin ziehen die Fürsten mit Kronen wert. Hin ziehen die Ritter mit Schild und Die

Jungfrau'n

mit

Schwert, ihrem goldnen

Haar, Bischof' im wallenden Talar. Es tauchen die Nixen aus kühlem Bad Zum Tanz auf blumigem Gestad'. Es singen die Sänger zur Harfe laut. Was sie im Nebel der Lüfte geschaut! Sie singen fort bis diese Stund',

Noch ist geschlossen nicht ihr Mund; Sie werden singen vom stolzen Rhein, So lang' er fließt in das Meer hinein! Zedlitz.

13.

Das Leben der Geißbuben auf den Alpen.

Der im Gebirge umherstreifende Wanderer trifft häufig Ziegengruppen in

einsamen Alpengegenden bald frei weidend, bald unter Obhut eines wetterbrannen, barfüßigen Jungen. Die Ziegen sind selten scheu, gewöhnlich ganz zutraulich und munter; in manchen Schweizerbergen folgen sie dem Fremden stundenweit, um eine Prise Salz oder ein Stück Brot zu erbetteln. Gewöhnlich ist ein halbes Dutzend der Ziegen einer Ochsen- oder Pferdeherde beigegeben, und ihre Milch ist fast die einzige Nahrung der Hüter; oft finden sich auch einige Ziegen im Ge­ folge einer Kuhherde, oder sie werden auch selbst zu Herden vereinigt und zur

Alp getrieben.

In diesem Falle teilt man sie im Appenzeller Lande in Haufen

von je 12 Stück ab; ärmere Bauern, die keinen ganzen Haufen besitzen, stoßen ihre Ziegen zusammen und hallen gemeinschaftlich einen Geißbuben, der magere Kost und noch geringere Löhnung erhält. Mit großer Kühnheit schweifen die Tiere in den steilsten Gebirgsbänken um­ her, um vereinzelte Grasbüschel oder zarte, leckere Ständchen zu rupfen. Dabei

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VIT.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

geschieht es nicht selten, daß sich die Ziege an eine Stelle versteigt, wo sie sieb weder vor-, noch rückwärts mehr getraut; so bleibt sie denn oft 2 bis 3 Tage ohne Nahrung zwischen Tod und Leben, bis der Geißbub sie entdeckt und zn lösen sucht. Dies thut er mit wunderbarer Verwegenheit; manchmal bindet er sie an ein Seil, um sie die Felswand heraufzuziehen. Es ist in der That merk­ würdig, daß der Mensch sich da zu klettern getraut, wo selbst die leichtfüßige Ziege

den Mut verloren hat; freilich sind die Geißbuben, die den ganzen Sommer über zwischen den Felsen leben, außerordentlich gewandt im Klettern und kennen die Gefahr so wenig, daß sie sich zuweilen erbieten, die jähsten Felsenköpfe und

Gebirgsseiten durch beliebig zu bezeichnende Narben und Falten zu erklimmen, wo weder Hand, noch Fuß im steilen Absturz haften zu können scheint. Selten fallen sich die Ziegen tot, es sei denn, daß sie sich im Hörnerkampfe über den Felsenrand hinausstoßen oder von einem fallenden Steine, einer Lawine oder Geierschwinge ergriffen werden. Die wegen ihrer Steilheit und Abgelegenheit für das große Vieh unzugäng­ lichen Weideplätze werden bis zu einer Höhe von 2330 m gewöhnlich durch Ziegen­ herden abgeweidet. Hier trifft der Wanderer, nachdem er halbe Tage lang in den endlosen Trümmer- und Eislabyrinthen umhergestiegen ist, ohne eine Spur von Menschen oder Vieh zu bemerken, Plötzlich und zu seinem höchsten Er­ staunen eine elende Stein- und Mooshütte, einen verwilderten Buben, den Sonne, Wind und Schmutz um die Wette gebräunt haben, und eine kleine, höchst muntere Ziegenherde, die sich malerisch auf den einzelnen Blöcken, an den Gras­ bändern der Felsen und weit in den Flühen hinan verteilt hat und den frem­ den Besucher mit neugierigen und mutwillig frohen Blicken betrachtet. Gewöhn­

lich bringt eine solche Herde 3 bis 5 Monate in den ödesten und wildesten Ge­ birgslagen zu, ohne irgendeiner anderen Pflege zu genießen, als daß ihnen der Junge von Zeit zu Zeit ein wenig Salz auf einen Felsen streut, um sie bei­ sammen zu halten. Diese Hirtenbuben führen wohl das armseligste Leben, das mitten unter den Im Frühlinge ziehen sie mit ihrer bestimmten Zahl von Tieren ins Gebirge ohne Strümpfe und Schuhe, in der ärmlichsten Bekleidung, mit einem langen Stecken, einem Salztäschchen, oft mit einem Wetterhute und etwas magerem Käse und Brot versehen; das ist ihre

Wohnsitzen gebildeter Menschen gefunden wird.

einzige Speise während des ganzen Sommers; von warmer Nahrung ist keine

Rede.

Ein anderer Junge aus dem Thale bringt ihnen alle 14 Tage, oft

auch nur alle Monate neues Brot und neuen Käse; diese Nahrungsmittel werden in der Zwischenzeit beinahe ungenießbar. Dazu plagt den armen Tropf die

Langeweile, gegen die er jedoch zuweilen in irgendeiner nützlichen Beschäftigung ein Schutzmittel sucht. Bei schlechtem Wetter kauert er wochenlang ohne Feuer, ohne Wort, vor Kälte und Hunger zitternd, in seinem feuchten Loche, aus dem er nur hervorknecht, um seine Tiere zu überblicken, die es, obgleich auch sie schutzlos den Unbilden der Witterung preisgegeben sind, doch verhältnismäßig

weit besser haben als ihr Hirte.

VII.

Natur-, Lander- und Völkerkunde.

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Gegen den Herbst hin rückt die Gesellschaft gegen die milderen Kuhalpen

hinunter, und wenn Frost und Schnee auch hier mächtig werden, treibt der Bube

zu Thal, um einen unglaublich elenden Lohn in Empfang zu nehmen.

Es klingt

fast fabelhaft, wenn versichert wird, daß manche dieser Geißbuben ein solches

Sommerleben so lieb gewonnen haben, daß sie es nicht leicht mit einem andern, menschlicheren vertauschen würden. Tschudi.

14.

Die Gemsenjagd.

Die Gemse bewohnt die hohen Alpeugebirge der Schweiz, Italiens und Deutschlands. Sie ist an Gestalt und Größe der Ziege ähnlich, doch hat sie keinen Bart und etwas höhere Beine; ihre Hörner stehen gerade in die Höhe

und endigen in schwarzen, nach dem Rücken zu gekrümmten Haken. Diese Hörner können zu einer gefährlichen Waffe werden; denn wenn die Gemse verwundet ist, verteidigt sie sich so tapfer, daß sie schon manchen Jäger rötlich verletzt hat; sonst sind die Gemsen scheue, harmlose Tierchen. Im Sommer leben sie auf den höchsten Alpen, welche an die Region des ewigen Schnees grenzen; da sie einer beständigen Verfolgung ausgesetzt sind, so suchen sie sich auch hier noch die unzu­ gänglichsten Orte ans, wo sie vor Menschen und Raubtieren sicher zu sein glau­

ben. Nur morgens und abends wagen sie sich etwas tiefer hinab, um zu grasen; am Tage aber begeben sie sich in wilde und schattige Thäler, und die Nächte bringen sie unter ausgehöhlten Felsen und Felsentrümmern zu. Im Oktober, wenn die Pflanzenwelt der Alpen abstirbt, gehen sie tiefer hinab, halten sich jedoch immer noch so hoch als möglich; erst im Winter steigen sie in die Wälder hinab

und wählen sich hier die am dichtesten bewachsenen Stellen aus. Immer leben sie in Familien oder Rudeln beisammen, die 10, 20, selbst 30 und 40 Stück stark sind. Die Gemsen sind ein Sinnbild der Wachsamkeit; ihre äußerst feinen Sinne zeigen ihnen den Feind schon aus weiter Ferne; sie sehen sich beständig

um, wittern nach allen Seiten, und die erste, welche einen Feind wahruimmt,

stößt einen durchdringend scharfen, pfeifenden Ton durch die Nasenlöcher. Das ist das Zeichen zur allgemeinen Flucht; sie laufen jedoch nicht, sondern machen ungeheure Sätze, oft 6 bis 6,s m lang.

Da ihre Schalen oder Klauen unten

ausgehöhlt sind und scharfe Ränder haben, so spnngen sie mit Sicherheit über die steilsten Klippen. Nur ihre flugähnliche Schnelligkeit und ihre beständige

Wachsamkeit rettet sie vom gänzlichen Untergang; besonders übersteigt ihre Fertig­ keit, über fast senkrechte Felsenwände hinauf- und hinabzuklettern, allen Glauben. Wo nur ein Stein oder irgend ein Vorsprung eine Hand breit vorsteht, da kön­ nen sie ihre Füße hinsetzen; wo man kaum Platz für einen Sperling sieht, da

fußen sie mit Sicherheit.

Immer geht den Rudeln eine der größten Gemsen

voran, welche die übrigen leitet; wird diese weggeschossen, so ist es, als ob die Seele der ganzen Gesellschaft fehlte; die andern zerstreuen ,sich, wissen nicht, wohin sie fliehen sollen, laufen verwirrt umher und fallen dem Jäger in den Schuß. Die Gemse zeigt sür ihr Junges eine außerordentliche Liebe und Sorg­

falt; sie lehrt es über Felsen und Abhänge setzen, macht ihm den Sprung so

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VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

lange vor, bis es denselben versucht, sucht es auf alle Weise dazu aufzumuntern und meckert dabei wie eine Ziege. Wird die Mutter geschossen, so bleibt das Junge, wenn es noch zart und klein ist, ruhig stehen und läßt sich vom Jäger

fangen; ist es aber schon größer, so entflieht es und wird dann von andern Müttern an Kindes Statt angenommen. Jung eingefangene Gemsen lassen sich leicht zähmen; sie folgen dann ihrem Herrn wie der treueste Hund, kommen auf seinen Ruf herbei und springen liebkosend an ihm hinauf.

Zwar sind sie nicht

so munter und lebhaft wie die wilden; doch hat man immer noch vielfältige Ge­ legenheit, ihre Gewandtheit und Schnelligkeit zu bewundern. So kletterte eine

zahme Gemse einst eine 5 m hohe Mauer hinauf und sprang auf der andern Seite einem Mädchen, das mehrere Ellen entfernt im Grase saß, auf den Rücken, ohne es im geringsten zu verletzen. Der kleinste Vorsprung einer Mauer genügt auch der zahmen Gemse, um darauf zu fußen und in etlichen Ansätzen die Höhe wie im Fluge zu erreichen. Wenige Tiere haben so viel Feinde wie die Gemse. Schneelawinen vergra­ ben oft ganze Herden, und Luchse, Wölfe und Bären stellen ihnen ohne Unter­ laß nach; zwar entrinnt ihnen das leichtfüßige Tier in der Regel; oft aber wird es aus einem Hinterhalte überfallen und zerriffen. Noch gefährlicher ist der große Alpengeier und der Adler; beide stürzen mit einem Schlage ihrer gewaltigen Flü­ gel die Gemse in einen Abgrund, wo ihnen das unglückliche Tier, wenn es tot­

gefallen oder verstümmelt ist, ohne Rettung zur Beute wird. Doch der allerge­ fährlichste Feind der Gemsen ist der Mensch, der sie mit wahrer Tollkühnheit verfolgt und keine Gefahr' scheut, sie zu erlegen. Nichts in der Welt kann den Gemsenjäger von seiner Leidenschaft abhalten; sie wird ihm vielmehr um so rei­ zender, je größer die Gefahren sind, mit denen er zu kämpfen hat. Steht ihm auch das schreckliche Beispiel vor Augen, daß Vater und Großvater in Abgründe ge­ stürzt und spurlos verschwunden sind, und weiß er selbst, daß ihm ein ähnliches

Schicksal bevorsteht, so vermag er doch nicht, ein ruhiges Leben dem gefahrvollen Umherstreifen vorzuziehen. Ein berühmter Gemsenjäger aus dem Kanton Wallis,

ein Zimmermann, erlegte aus bloßer Jagdlust gegen 900 Gemsen, büßte aber doch endlich seine Leidenschaft mit dem Tode, indem er in einen Abgrund stürzte. Gleich ihm treiben viele die gefahrvolle Jagd bloß zum Vergnügen; andere dage­ gen machen aus ihr ein armseliges Gewerbe. Wir werden sehen, mit welchen Schwierigkeiten und Gefahren das Schießen einer Gemse verbunden ist, und doch

werden für ein ausgewachsenes Tier nicht mehr als 12 bis 18 Mark bezahlt. Das Fleisch ist nur schmackhaft, wenn die Gemse nicht zu alt ist; besonders wert­ voll ist die Haut, aus der die vortrefflichsten Handschuhe und Beinkleider gemacht

werden, da das Gemsenleder die weiche Feinheit des Sammets mit einer außer­ ordentlichen Festigkeit verbindet. Durch die beständige Verfolgung hat sich die Zahl der Gemsen in den Alpen sehr vermindert; während man sonst nicht selten auf Herden von 40 bis 50 Tieren traf, sind sie jetzt kaum noch halb so zahlreich zu finden. Der Gemsenjäger muß Mut, Geduld und Kaltblütigkeit besitzen und einen

schwindelfreien Kopf, scharfe Augen, eine gute Brust und sichere Füße haben; er

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

379

muß mit Sicherheit über die steilsten Klippen, neben den schrecklichsten Abgründen hingehen können und dabei vom Schwindel nichts wissen; er muß gewohnt sein, stundenlang über Eisfelder und Gletscher zu gehen und über Eisklüfte zu sprin­ gen; er muß dem Sturm und Ungewitter, der Kälte und dem Hunger Trotz bieten, er muß ohne Brustbeschwerden die reine, dünne Luft der höchsten Berge einatmen und ohne Beklemmung bergauf und bergab steigen können. Allein

alles dies hilft ihm nichts, wenn er kein scharfes Auge hat und mit der Büchse nicht gut umzugehen weiß; denn selten kommt er an einem Tage mehr als ein­ mal zum Schuß, und fehlt er, so waren alle Anstrengungen und Gefahren des Tages vergebens. Seine Ausrüstung besteht in einem leichten Kleide, stark bena­ gelten Schuhen, an die er Fußeisen schnallen kann, einem Alpenstock, einer guten Büchse und einem Fernrohr. In der Jagdtasche hat er Brot, Käse und ein

Fläschchen mit Wein oder Branntwein. Sobald die Sonne die Gletscher rötet, durchspäht der Jäger mit scharfem Auge oder mit seinem Fernrohr die höheren Gebirgsregionen. Hat er eine oder mehrere Gemsen erblickt, so sucht er sich ihnen zu nähern, indem er oft mit großen Umwegen gegen den Wind wandert; dann stellt er sich hinter einen Felsen und wartet mit großer Geduld, bis die Gemse sich von ihrem Weideplätze zurückzieht; sobald sie sich ihm so weit genähert hat, daß er die Hörner unterscheiden kann, schießt er. Geht die Gemse mit vor­ rückendem Tage höher hinauf, so sucht er ihr unvermerkt vorzukommen und ihr den Weg abzuschneiden; doch muß er die Gegend genau kennen, wenn er nicht in große Gefahr geraten will. Am schlimmsten ist das Verfolgen für den Jäger, wenn die Gemse auf steile Felsenmassen flüchtet; da versteigt er sich oft so, daß er weder vor-, noch rückwärts kann und froh sein muß, wenn er nach stunden­

langem Bemühen sich rettet. Hat er endlich eine oder gar zwei Gemsen erlegt, so fängt die Last und Not erst an; denn er muß nun mit der schweren Bürde wegsame Gegenden aufsuchen. Zuerst weidet er das Tier aus, bindet die Füße

sie quer überdie Stirn, so daß der Körper des Tieres Jägers hängt. So beladensteigt er, auf den Alpenstock sich lehnend, behutsam hinunter. Oft vereinigen sich 2 bis 3 Jäger, um einer ganzen Herde beizukommen. Sie nähern sich zuerst behutsam solchen Stellen,

zusammen und hängt über dem Rücken des

von denen sie, ohne bemerkt zu werden, eine weite Aussicht haben; einer schleicht

dann auf allen Vieren hinter den vordersten Stein und späht durch sein Fern­ rohr nach allen Seiten. Seine Gefährten verwenden kein Auge von ihm; denn sobald er Wildbret bemerkt, giebt er nach hinten mit ausgestreckter Hand die wohlbekannten Zeichen, wo und wie viel Gemsen er wahrgenommen hat.

Darauf

kriecht er behutsam zu den lauschenden Gefährten zurück und beratschlagt mit ihnen, wie das Wild am sichersten anzugreifen; vor allem wird der Wind beob­

achtet; dann sucht man das Rudel abzuschleichen, ohne daß ihm eine Witterung des nahenden Feindes zukomme. Der beste Schütze kriecht nun von einem Felsen

zum andern, um den Tieren auf Schußweite nahe zu kommen; das erfordert viel Geduld, Mühe, Beharrlichkeit und List. Bald liegt der Jäger halbe Stun­ den lang wie tot auf dem Bauche, weil er gesehen hat, daß die wachsamen Tiere und namentlich die Fuhrgeiß (Anführerin) aufmerksam geworden sind ynh

VII. Natur-, Länder- und Völkerkunde.

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nicht mehr weiden; bald kriecht er auf Händen und Füßen, das Hemd über die Kleider gezogen, um mit der Schneefarbe zu täuschen, auf dem glatten Eise

hin.

Jetzt zieht er seine Schuhe aus, läßt alles zurück und schleicht ein paar

hundert Schritte weiter; jetzt bleibt er in der gezwungensten Stellung mehrere Minuten unbeweglich, weil die Gemsen von neuem Unrat gemerkt haben. End­ lich ist er nach stundenlanger Anstrengung hinter eine Felsenecke gekommen, die dem Trupp nahe genug ist. Behutsam reckt er den Kopf hervor; aber er darf ihn nicht zurückziehen, wenn die Tiere nach ihm Hinblicken, sondern er be­ harrt stockstill, weil bei der geringsten Bewegung das verhängnisvolle Pfeifen ertönen und die ganze Herde entfliehen würde. Doch selbst in ihrer arglosen Unbefangenheit schreiten die Gemsen oftmals weiter, und alle Schleichkünste müssen von vorn angefangen werden. Sobald der Jäger erkennt, daß er sich

dem Rudel nicht weiter nähern kann, ohne es zu verjagen, so wählt er be­ dächtig das größte und fetteste oder in zweifelhafter Entfernung auch nur das nächste der Tiere aus; er schießt, und fast nie verfehlt er sein Ziel. Das ge­ troffene Wild stürzt zu Boden, und der aufgeschreckte Trupp flieht mit unbeschreib­ licher Schnelligkeit über Felsen und Abgründe davon. Die Gemse hat jedoch ein so zähes Leben, daß sie nur daun stürzt, wenn Brust oder Kopf getroffen ist. Öfters fällt ske auch in einen Abgrund, und dann ist der Lohn so vieler

Anstrengungen dahin. Während einer der Jäger die Gemsen beschleicht, halten sich seine Gefährten auf einer andern Seite hinter Felsen versteckt, um eins der fliehenden Tiere zu erlegen. Hierbei geschieht es zuweilen, daß die geängstigten Tiere mit vorgesenkten Hörnern auf den Jäger eindringen, um ihn in den Ab­ grund hinabzustoßen; dann wirft dieser sich platt auf den Bauch und läßt das ganze Rudel über sich wegsetzen. Oft aber zieht das erschreckte Tier den Todes­ sprung vor und stürzt sich über eiuen Felsen hinab in den Abgrund. Ist Hoff­ nung da, des Wildes noch mehr zu erlegen, so wird das geschossene unter irgend­ einen Felsen gethan und die Jagd auf die beschriebene Art fortgesetzt. Oft aber müssen die Jäger auch mehrere Tage mit Lebensgefahr umherklettern, ohne eine Gemse zu schießen, und dann kehren sie mit zerrissenen Kleidern, halb ver­

hungert und vielleicht verstümmelt nach Hause zurück. Fällt einer in eine Eis­ spalte oder in einen nicht zu tiefen Abgrund, so zerschneiden die andern ihre Röcke und Hemden und machen Stricke daraus, um ihren verunglückten Gefährten zu retten. Außerdem bereiten eisige Winde, Schneegestöber, Lawinen und undurch­ dringlicher Nebel den Gemsenjägern Gefahren, denen sie selten auf die Dauer

entgehen; und doch ist bei diesen Menschen die Leidenschaft so stark, daß der auf der Jagd gestürzte Jäger, kaum geheilt, wieder in die Gebirge eilt, um sich neue Wunden oder den Tod zu holen.

Von den vielen Beispielen wunderbarer Errettungen aus großen Gefahren, welche die Jäger sich erzählen, mögen folgende hier ihren Platz finden. Ein Gemsenjäger geleitete einst zwei Reisende über einen großen Gletscher; plötzlich blieb er mit Thränen in den Augen stehen und zeigte ihnen eine mit

Schnee und Eis bedeckte tiefe Spalte, wie sich deren in den Eisfeldern unzählige

finden.

Die Reisenden hörten in der Tiefe das Wasser rauschen und sahen mit

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

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Schaudern in den Abgrund hinab. „Ihr denkt wohl, liebe Herren," begann nach langem Schweigen der Jäger, „daß derjenige ohne Rettung verloren ist, der in

diesen fürchterlichen Schlund stürzt? Nun, ich bin darin gewesen, und doch hat mich Gottes mächtiger Arm herausgezogen. Hört, wie das zuging! Ich jagte mit einem Gefährten den Gemsen nach; das ganze Eisfeld war mit frischem Schnee bedeckt. Wir spürten eine Gemse; als wir aber die Spur zu hitzig ver­ folgten, sank der lockere Schnee auf einmal unter meinen Füßen ein. Schon

war ich tief in den Eisschlund gesunken, als ich, noch meiner Sinne mächtig, die Arme und die Schenkel so weit als möglich ausbreitete und mich dadurch an den beiden Eiswänden festhielt, so daß ich noch über dem Wasser schwebte.

Mein Gefährte hatte mich kaum aus dem Gesicht verloren, als er mir angstvoll zurief, und da er hörte, daß ich noch lebte, versprach er mir, das Mögliche zu meiner Rettung zu thun. Mit der Schnelligkeit einer Gemse lief er fast eine Meile weit zur nächsten Hütte, während ich zwischen Furcht und Hoffnung, auf meine Arme und Schenkel gestützt, über dem Wasser schwebte. Ich sank aber mit der Zeit immer tiefer, schon kam der Strom mir bis an die Kniee; ich war vor Kälte fast erstarrt und erwartete nichts als den Tod. Nach Verlauf einer Stunde kam mein treuer Gefährte in Begleitung eines Mannes atemlos herbei; er hatte in der nächsten Hütte einen Strick gesucht, und da er keinen gefunden, zwei Bett­ decken in Riemen geschnitten, diese zusammengeknüpft und so ein Seil verfertigt. Dieses wurde mir nun heruntergelassen, und ich band es mir mit vieler Mühe um den Leib. Nun zogen mich beide Männer so weit aus der Spalte herauf, daß sie mich beinahe mit den Händen erreichen konnten: aber Plötzlich zerriß der Strick, und ich mit einem Teile desselben um den Leib glitt unaufhaltbar wieder

hinunter, ebenso tief wie vorher. Jetzt war die Not noch viel größer, nicht nur darum, weil der Strick kürzer geworden war, sondern auch, weil ich bei diesem zweiten Fall einen Arm gebrochen hatte und also um so weniger Kraft behielt, selbst etwas zu meiner Rettung beizutragen. Dennoch entfiel uns der Mut nicht;

sie schnitten die Riemen noch einmal voneinander, um den Strick wieder zu ver­ längern, dann warfen sie ihn mir zum zweiten Male hinunter, und noch einmal gelang es mir, ihn um meinen Leib zu knüpfen; und mit diesem noch schwächeren Strick waren meine Freunde endlich so glücklich, mich aus dem offenen Grabe heraus an das helle Tageslicht zu ziehen. Wäre ich nicht ein elender Mensch,liebe Herren,

wenn ich jemals vor dieser Stelle vorbeiginge, ohne Gott für seine gnädige Hülfe

inbrünstig zu danken?"

So erzählte der wackere Jäger den gerührten Reisenden.

Die Gemsenjäger sind vorzugsweise der Gefahr, von Lawinen verschüttet zu werden, ausgesetzt. Wenn Tauwetter eintritt und zugleich ein heftiger Wind sich erhebt, reißen sich an allen Orten von den Firsten der Berge die lockeren Schneelasten los, ballen sich im Hinabrollen zu einer festen Masse, wälzen sich

krachend in die Abhänge des Gebirges, im Sturz zu Bergen anwachsend, und treiben die Luft so heftig vor sich her, daß schon von dem Sturmwind, noch ehe

sie ankommen, ganze Wälder zusammenbrechen; wo sie aber donnernd in die Thäler niederstürzen, da werden Häuser, Scheunen und Ställe mit allem, was darin atmet, erdrückt und zerschmettert.

Und doch wird mancher aus solcher un-

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VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

vermeidlichen Gefahr wie durch ein Wunder gerettet.

Zwei Brüder kletterten in

einiger Entfernung voneinander

einen Bergabhang hinauf, um Gemsen aufzu­ suchen; Plötzlich wurde der eine von dem schrecklichen Sturmwind, der vor der Lawine herzugehen pflegt, ergriffen und wie ein Vogel über den Abgrund hinweg durch die Luft geführt; und als er eben in Gefahr war, in die entsetzliche Tiefe hinabstürzen, da streifte die Lawine an ihm vorbei und warf ihn seitwärts an den Bergabhang zurück. Hier umklammerte er in der Betäubung einen Baum und hielt sich an ihm fest, bis alles vorüber war. So kam er glücklich mit dem Leben davon, vergaß die Schmerzen, welche der unsanfte Fall ihm verursachte, und kletterte, so gut er konnte, den Berg wieder hinauf. Der andere hatte sich während des Sturmes an einem Felsstück festgehalten und war gleichfalls gerettet worden; denn die Lawine war neben ihm vorübergegangen, ohne ihm Schaden zuzufügen, obgleich ein großer Teil des Waldes wie mit einem Besen weggefegt war. Als er zur Besinnung kam, konnte er an dem Tode seines Bruders nicht zweifeln; denn gerade in der Richtung, wo dieser gestanden hatte, war die Lawine vorübergerollt. Voll Betrübnis machte er sich auf, um nach Hause zurückzukehren und den Seinigen die Trauerbotschaft zu überbringen; aber er war noch keine Stunde bergab gestiegen, so erblickte er mit dem freudigsten Erstaunen seinen Bruder. Mit dankerfülltem Herzen kehrten sie zu ihren Angehörigen zurück.

Weniger gefährlich als die Schlaglawinen, wo der Schnee zu festen, un­ geheuren Klumpen sich zusammenballt, sind die Staublawinen, weil sie aus trocknem, lockerem Schnee bestehen, der durch das Übergewicht seiner Massen, durch den Sturmwind oder sonst eine Erschütterung von den steilen Felswänden bergab stürzt; indeffen ist auch das nicht ohne Gefahr, aus der jedoch Kraft und Geistes­ gegenwart retten können. Einst kletterten zwei Gemsenjäger eine steile Felswand hinauf, jeder seinen eigenen Weg verfolgend, doch so, daß sie einander beständig im Gesicht behielten; plötzlich hört der eine den Ruf seines Gefährten: „Fliehe! rette dich!" In demselben Augenblick ergriff ihn auch schon eine Lawine von oben

herab und fuhr mit ihm abwärts in die schwindelnde Tiefe: von den Schneemaffen eingehüllt und überschüttet, war er in demselben Augenblick verschwunden. Der andere stand ein Weilchen und sah bestürzt hinunter; aber zu helfen, zu retten

war hier nicht; darum setzte er betrübt seinen Weg fort mit dem Vorsatz, seinen unglücklichen Freund zur Beerdigung hervorzusuchen, wenn der Schnee im Thale

geschmolzen sein würde. Es kam aber anders, als er dachte; denn während die Lawine tiefer unten an einem Felsen in Trümmer zerstäubte, wurde der Ver­ schüttete wieder frei. Einige Augenblicke darauf fiel er in eine gewaltige Schnee­ masse hinein und wurde von nachrieselndem Schnee überschüttet. Er war eben nicht hart gefallen, und da er auch seine Besonnenheit nicht verlor, so gelang

es ihm nach großer Anstrengung, sich aus dem lockern Schnee hervorzuarbeiten; alsdann schüttelte er den Schnee von seinen Kleidern und eilte nach Hause.

Am andern Tage zog er wieder auf sein gefahrvolles Handwerk aus; er war noch nicht weit gegangen, als er seinem heimkehrenden Gefährten begegnete, der nicht

wenig erstaunt war, den tot geglaubten Freund frisch und munter vor sich zu sehen. Dielitz.

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

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15. Der Bär. In einem großen Teile der schweizerischen Hochgebirge ist heutigen Tages

der Landbär noch ein ständiges, wenn auch ziemlich seltenes Raubtier.

Gewöhn­

lich nehmen die Naturforscher nur eine Art von Landbären an, die im ganzen Norden der alten Welt in den größeren Wäldern, im Süden aber in den Wal­ dungen des Hochgebirges gefunden wird.

In der Schweiz dagegen unterscheidet

man drei verschiedene Arten: den großen schwarzen, den großen grauen und den kleinen braunen Bergbären. Auch in Tyrol sind die Bären noch keine ganz seltene Erscheinung geworden. Jährlich werden ihrer ein Dutzend und mehr er­ legt; im Umfange der östreichischen Monarchie rechnet man eine jährliche Bären­ beute von ‘200 Stück, während Sibirien jährlich 5000 Bärenfälle nach China verhandelt. Die Zottelbären sind eigentlich ziemlich

gutmütige Tiere, namentlich

die

schwarzen, die sich mehr von Pflanzenstoffen als von Fleisch nähren; den Winter über schlafen sie mehr als im Sommer und liegen in ihren Höhlen, oft in ein­ fachen Steinklüsten, oft in Nestern, die aus Reisig und Moos gebaut und von außen ganz zugestopft sind. Bei hoher Kälte schlafen sie dann vielleicht etliche Tage lang ununterbrochen fort, ohne zu erstarren; indessen muß sie bald der Hunger wecken, der sich endlich doch einstellen wird, wenn auch die Bären in den

herberen Wintermonaten weniger fressen als sonst. Sie kommen dann hervor und fressen mit großem Behagen junges, fettes Gras, junges Winterkorn, Ge­ müse, Wurzeln, Vogelbeeren, Staudenfrüchte, sonst auch besonders Erdbeeren und Honig. Um zu Birnen und Trauben zu gelangen, gehen die Bären im Herbste

oft viele Stunden weit in die Thäler hinunter und kehren immer vor Tages­ anbruch wieder zu ihrem Aufenthaltsorte zurück. Überhaupt sagt ihnen die Pflanzennahrung ganz wohl zu; man hat schon Eis- und Landbären ganz mit Hafer ernährt. Oft zerstören sie die großen Ameisenhaufen und fressen die Tier­ chen um ihrer Säure willen, welche sie aber nach Fleisch begierig macht. Un­

gereizt und vom Hunger nicht gequält, greift der große schwarze Bär weder Menschen, noch Vieh an, eher der braune, der manche Ziegenherde versprengt und absichtlich in die Abgründe jagt, in denen er dann das totgefallene Vieh verzehrt.

Man versichert mit Bestimmtheit, der schwarze Landbär sei so fried­

lich, daß er einst einem erdbeersuchenden Mädchen traulich die Beeren aus dem

Korbe geholt habe, ohne das Kind zu verletzen, daß er sich überhaupt von einem schreienden Kinde in die Flucht schlagen lasse. Er macht Wanderungen von

8 bis 10 Stunden und weiter, kehrt aber gern in sein Revier zurück.

Will er

rasch laufen, was aber bergab ziemlich schlecht ausfällt, so geschieht es auf allen Vieren; trägt er etwas seiner Höhle zu, so marschiert er aufrecht; ruht er, so sitzt er auf dem Hinterteile wie die Hunde. Gefährlich ist er nur, wenn er ent­ weder aus dem Schlafe gestört oder schwer verwundet oder recht hungrig ist, oder wenn er die Jungen bedroht sieht. Dann schreitet er hochaufgerichtet auf seinen Feind zu, schlägt die Arme um denselben und sucht ihn zu erdrücken; oft hilft er mit gelindem Beißen nach. Nicht selten geschieht es, daß der ange-

384

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

griffene Bär dem Jäger Spieß oder Flinte aus der Hand schlägt, ihn umarmt und mit ihm bergab kollert, wobei indessen Meister Petz meist den kürzeren zieht. Jagen die Bären Vieh, so lauern sie ihm in der Regel auf dem Anstand bei der Tränke auf.

Kühe werden höchst selten angegriffen, jedenfalls nicht von

vorn; der Bär springt ihnen auf den Rücken, hält sich an ihren Hörnern und beißt sie in den Nacken, bis sie verblutend Zusammenstürzen. Die Ziegen, denen er nicht nachkommt, werden über die Felsen hinuntergetrieben oder nachts aus dem Stalle geholt; wittern diese ihn aber bei Zeiten, so flüchten sie auf die Hütteudächer und wecken durch ihr Geräusch oft die Sennen. Greift er einmal eine weidende Rinderherde an, so geschieht es unvermerkt im Nebel; er zerreißt das Rind und frißt zuerst die Nieren und das Euter; den Rest vergräbt oder verträgt er. Wird er aber von dem übrigen Vieh bemerkt, so sammelt es sich sogleich schnaubend und brüllend um ihn und beobachtet ihn unverrückt; dann greift der Bär nicht mehr an. Auf Pferde geht er selten los, und wenn es ge­ schieht, gerät es ihm oft übel. Da die Bären sehr gut klettern, besteigen sie ge­ wöhnlich einen hohen Baum, ehe sie auf die Jagd gehen, um das Revier zu untersuchen und eine Beute ausfindig zu machen, wobei ihnen ihr feiner Geruch und ihr scharfes Gehör zu Hülfe kommt; angegriffene Weibchen sollen vor dem Kampfe ihre Jungen auf die Bäume flüchten. So schoß ein Jäger eine Bärin, hörte dann ein Geräusch auf der nächsten Tanne und sah dort zwei junge Bären, die er beide glücklich erlegte. Wären die Bären nicht so gefräßig und richteten sie nicht oft, namentlich unter den Schafherden, große Verwüstungen an, so wäre es fast schade, daß man sie so erpicht jagt. Kein anderes Raubtier ist so drollig, von so gemütlicher

Laune, so liebenswürdig wie der gute Dreister Petz; er hat ein offenes, gerades Wesen ohne Tücke und Falsch; seine List und Erfindungsgabe ist ziemlich schwach. Er ist von großer Körperstärke und vertraut auf sie. Man weiß, daß er durch das Stalldach hinaus eine Kuh zu ziehen und über einen tiefen Bach ein Pferd zu schleppen vermag.

Was der Fuchs mit Klugheit, der Adler mit Schnelligkeit

An Plumpheit dem Wolfe ähnlich, ist er doch von ganz anderer Art, nicht so gierig, reißend, häß­ zu erreichen sucht, erstrebt er mit gerader, offener Gewalt.

lich und widerwärtig; er lauert nicht lange, sucht den Jäger nicht zu umgehen und von hinten zu überfallen, verläßt sich nicht in erster Linie auf sein furchtbares

Gebiß, mit dem er alles zerreißt, sondern sucht die Beute erst mit seinen mäch­ tigen Armen zu erwürgen und beißt nur nötigenfalls, ohne daß er am Zerfleischen

eine blutgierige Mordlust bewiese, wie er ja überhaupt als von sanfterer Art ebenso gern Pflanzenstoffe, namentlich süße Kastanien, Milch, Trauben, Mais und Honig frißt.

Seine ganze Erscheinung mit dem langen, feinen, zottigen

Haar, mit der stumpfen Schnauze, den kleinen, braunen, gutmütigen Augen, dem kurzen Schwänze, den breiten Sohlen, dem behaglichen Gange hat etwas Edleres, Zutraulicheres, Menschenfreundlicheres als die des mißfarbigen Wolfes. Er rührt

keine Menschenleiche an, frißt nicht seinesgleichen, streift nicht des Nachts in den Dörfern umher, um ein Kind zu erhaschen, sondern bleibt in Wald, Berg, Alp als seinem eigentlichen Jagdreviere. Der Wolf macht oft, besonders im Herbste

VII. Natur-, Länder- und Völkerkunde.

385

und Winter, Streifzüge von 80 bis 100 Stunden, der Bär dagegen geht selten 20 bis 30 Stunden weit von seiner Höhle. Doch macht man sich öfter vom Bären sowohl in Beziehung auf seine Langsamkeit, als auf seine Gutmütigkeit

unrichtige Vorstellungen; denn er läuft auf ebenem Boden so rasch, daß er einen Menschen leicht zu ereilen vermag, und klettert sehr behende auf die Bäume; nur im Februar, wo sich seine Sohlen häuten, läuft er nicht gut; auch bergab geht's langsam. Alte, schwere Bären klettern auch sehr langsam und vorsichtig

von den Bäumen herunter. Ist das Tier in Gefahr, so verändert sich seine Gut­ mütigkeit bis zur reißendsten Wut. Ein kluger Jäger wird es nie wagen, einen jungen Bären zu schießen, wenn dessen Mutter in der Nähe ist; sie würde ihn mit rasendem Geheule verfolgen und zerfleischen; ebenso gefährlich ist der ver­ wundete Bär. Nur sehr selten flieht er, gewöhnlich wendet er sich um und geht aufrecht auf den Verfolger los, und wäre derselbe noch so gut bewaffnet; er fordert ihn gleichsam zum Zweikampfe heraus, umspannt ihn, wenn er nicht vor­ her einen Dolchstoß ins Herz erhält, mit seinen mächtigen Pranken und ringt männlich mit ihm, bis einer von beiden fällt. Zu Bern werden seit Jahrhunderten in einer mit Quadern ausgelegten Grube im Stadtgraben aus den Zinsen eines alten Vermächtnisses mehrere Bären als lebendiges Sinnbild der Macht Berns gepflegt; dort hat man beob­ achtet, daß die Bärinnen ein, zwei oder drei Junge werfen. Die niedlichen, blin­ den und unbeholfenen Tierchen sind nicht größer als eine Ratte, von fahlgelber Farbe, um den Hals weiß, haben durchaus noch nicht das Aussehen des Bären, wenn auch eine verhältnismäßig starke Stimme. Nach vier Wochen öffnen sich ihre Augen; sie haben dann schon zolllange Wolle und sind doppelt so groß wie bei ihrer Geburt. Die Äuglein liegen tief, die Schnauze ist ganz spitz. Nach vier Monaten sind die Bärchen schon von der Größe eines Pudels, dabei unge­ mein possierlich, geschickt im Klettern, immer mit einander spielend und balgend, aber sehr furchtsam. Ihre gelbliche Farbe verliert sich immer mehr ins Braune und Schwarze. In Bern hatte man 47 Jahr lang einen Bären; sonst weiß man über bekanntlich einige Zeit worauf es

die Lebensdauer des Tieres nichts ganz Genaues. Die Tatzen sind ein Leckerbissen; das übrige Fleisch wird von den Bergbewohnern in frisches Wasser gelegt, um ihm den süßlichen Geschmack zu nehmen, ähnlich wie zartes Schweinefleisch schmeckt. Die Haut ist 12 bis 15

Mark wert.

In mehreren Gegenden wird noch ein bedeutendes Schußgeld für die Er­ legung dieses Raubtiers gegeben; doch wird es noch lange dauern, ehe es in den steilen und einsamen rhätischen Alpen ausgerottet ist, und ehe jene Feuer,

die der Reisende noch so häufig auf den Bergen des Engadins sieht, und welche pon Hirten, die einen Wolf oder Bären spüren, während der Nacht unterhalten

Tschudi.

werden, ganz und auf immer erlöschen.

16. Der braune Bär. Einem armen Bauern aus dem Dorfe Fouly, namens Wilhelm, stahl ein Bär alle Nächte seine Birnen; denn diesen Bestien ist alles recht; gleichwohl Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb.

5. Aust.

25

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VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

wandte er sich vorzugsweise zu einem Baum voll Zuckerbirnen.

Wem soll es

wohl einfallen, daß so ein Tier ordentlich Geschmack hat wie ein Mensch, und daß es in einem Baumgarten just die saftigsten und süßesten Birnen auszusuchen weiß? Nun zog aber unglücklicherweise der Bauer in Fouly auch die Zucker­ birnen allen andern Früchten vor. Erst glaubte er, es wären Kinder, die solchen Schaden in seinem Garten anrichteten; also nahm er seine Flinte, lud sie mit

grobem Küchensalz und stellte sich auf den Anstand. Gegen 11 Uhr erscholl ein Gebrüll im Gebirge. Halt, dachte er, da ist ein Bär in der Nähe. Zehn Mi­ nuten darauf ließ sich ein zweites Gebrüll hören und zwar so gewaltig und so nahe, daß Wilhelm glaubte, er würde nicht mehr die Zeit haben, sein Haus zu erreichen, und sich platt auf die Erde warf, da er nur noch die eine Hoffnung hatte, daß der Bär seiner Birnen und nicht seinetwegen käme. Wirklich erschien auch das Tier an der Gartenecke, in gerader Linie auf den fraglichen Birnbaum

losgehend, strich auf zehn Schritt bei Wilhelm vorbei, stieg leichtfüßig auf den Baum, dessen Äste unter der Last seines Körpers knackten, und fing an, eine solche Mahlzeit zu hatten, daß es einleuchtend war, zwei dergleichen Besuche würden einen dritten unnötig machen. Als der Bär gesättigt war, stieg er langsam her­ unter, als ob es ihm leid gethan hätte, etwas übrig zu lassen, ging nahe bei unserm Jäger vorbei, dem sein mit Salz geladenes Gewehr bei der Gelegenheit nicht von besonderem Nutzen sein konnte, und zog sich ruhig ins Gebirge zurück. Das alles hatte ungefähr eine Stunde gedauert, während welcher dem Manne die Zeit länger vorgekommen war als dem Bären. Gleichwohl war der Mann ein herzhafter Bursche, und leise hatte er zu sich gesagt, da er den Bären davon­ gehen sah: „Gut, geh' du nur; aber so soll dir das nicht hingehen; wir werden

uns schon Wiedersehen." Am andern Morgen fand einer seiner Nachbarn, der ihn besuchte, ihn be­ schäftigt, die starken Zinken einer Mistgabel in Stücke zu sägen. „Was machst du denn da?" sprach er zu lhm. „Ich vertreibe mir die Zeit," sagte Wilhelm. Der Nachbar nahm die Eisenstücke, drehte sie wie ein Mann, der sich darauf versteht, in der Hand hin und her, und nachdem er einen Augenblick nachgedacht,

sagte er: „Höre, Wilhelm, wenn du offen sein willst, so mußt du eingestehen, daß die Eisenschnipsel da bestimmt sind, ein ganz anderes Fell zu durchbohren als das einer Gemse." „Es kann sein," meinte Wilhelm. „Du weißt, daß ich eine gute Haut bin," fing Franz wieder an (das war des Nachbars Name), „also wenn du willst, so teilen wir den Bären. Zwei Mann leisten mehr als einer." „Es kommt darauf an," sagte Wilhelm, und dabei fuhr er fort, seine dritte Eisenstange zu zersägen. „Hör' an," fuhr Franz fort, „ich will dir das Fell allein lassen, und wir wollen nur die Prämie und das Fleisch teilen."

„Ich habe lieber alles," sagte Wilhelm.

„Aber du kannst mich nicht hindern,

des Bären Spur hi den Bergen zu suchen und mich, wenn ich sie finde, in seinem Wege auf den Anstand zu stellen." „Das steht dir frei." Und Wilhelm, der mit dem Zersägen seiner drei Zacken fertig war, fing pfeifend an, eine Pulver­ ladung abzumefien, doppelt so groß, als man gewöhnlich in einen Karabiner thut. „Es scheint, daß du dein Munitionsgewehr nehmen wirst," sprach Franz. „Kann

VII.

Natur-, Länder- u nb Völkerkunde.

sein, und drei Eisenstücke sind sicherer als eine Bleikugel."

387

„Das verdirbt aber

das Fell." „Allein es tötet sicherer." „Und wann gedenkst du deine Jagd zu halten?" „Das will ich dir morgen sagen." „Zum letzten Male, du willst nicht?"

„Nein."

„Ich sage es dir vorher, daß ich die Spur zu suchen gehe."

„Viel

Vergnügen." „Wir teilen; sprich!" „Jeder für sich." „Sei)’ wohl, Wilhelm." „Viel Glück, Nachbar." Und der Nachbar sah, als er fortging, Wilhelm seine doppelte Pulverladung in seine Munitionsflinte thun, seine drei Eisenstücke hinein­ laden und das Gewehr in die Ecke seiner Hütte stellen Des Abends, da er

wieder vor dem Hause vorbeiging, bemerkte er auf der Bank, die vor der Thüre stand, Wilhelm, der dort saß und ruhig seine Pfeife rauchte. Er ging von neuem zu ihm. „Höre," sagte er, „ich bin nicht habsüchtig. Ich habe unseres Tieres Spur gefunden; also brauche ich dich nicht mehr. Gleichwohl komme ich, dir

nochmals vorzuschlagen, daß wir die Sache zusammen abthun." „Jeder für sich," sprach Wilhelm. Um halb 11 Uhr sah ihn seine Frau die Flinte nehmen, einen grauen Leinwandsack unterm Arme zusammenrollen und ausgehen. Sie wagte nicht ihn zu fragen, wohin er ginge; denn Wilhelm war nicht der Mann danach, einer Frau Rede zu stehen. Franz seinerseits hatte wirklich des Bären Spur entdeckt. Er hatte sie bis dahin verfolgt, wo sie sich in Wilhelms Baumgarten verlor, und da er nicht das Recht hatte, sich auf.seines Nachbars Grund und Boden auf den Anstand zu stellen, so begab er sich in den Tannenwald, der mitten zwischen dem Berge und Wil­ helms Garten ist. Da die Nacht ziemlich hell war, so sah er diesen zu seiner Hinterthür hinausgehen. Wilhelm ging bis zum Fuß eines grauen Felsstückes, das vom Gebirge bis in die Mitte seines Gartens herabgerollt war, und das höchstens 20 Schritt von dem Birnbaum ablag, blieb dort stehen, sah um sich her, ob niemand lauschte, wickelte seinen Sack auseinander, kroch hinein, indem er nur Kopf und Arme aus der Öffnung hervorsehen ließ, und, sich an den Fels leh­

nend, verlor er sich bald durch die Farbe seines Sackes und die Unbeweglichkeit seiner Lage so in dem Steine, daß der Nachbar, der doch wußte, daß er dort

war, ihn bald selbst nicht mehr unterscheiden konnte. So ging in Erwartung des Bären eine Viertelstunde hin; endlich kündigte ihn ein langes Gebrüll an, fünf Minuten darauf wurde Franz ihn gewahr.

Indes, sei es aus List, sei es, daß

er den zweiten Jäger gewittert, er verfolgte nicht seinen gewöhnlichen Weg.

Im

Gegenteil hatte er einen Bogen beschrieben, und, anstatt von Wilhelms linker Seite herzukommeu, wie er am Vorabende gethan, ging er diesmal auf seiner rechten Seite vorbei außer dem Bereiche von Franzens Flinte, aber höchstens zehn Schritt von Wilhelms Gewehrmündung entfernt. Wilhelm rührte sich nicht; man hätte meinen sollen, er sähe nicht einmal das wilde Tier, dem er aufzu­ paffen gekommen war. Der Bär, der mit dem Winde kam, schien seinerseits die

Gegenwart eines Feindes nicht zu ahnen und setzte eilends seinen Weg nach dem Birnbaum fort; allein in dem Augenblick, wo er, sich auf die Hinterfüße stellend, mit den Vordertatzen den Stanlm umfassen wollte und so seine Brust bloßgab, welche seine breiten Schultern nicht mehr schützten, schimmerte plötzlich ein flüchtiger

Lichtstreif gegen den Felsen, und das ganze Thal hallte von dem Flintenschuß 25*

388

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

mit doppelter Ladung und dem Geheul wieder, welches das tötlich verwundete Tier auSstieß; es war vielleicht im ganzen Dorfe nicht ein Mensch, der nicht Wilhelms Schuß und des Bären Geheul gehört hätte. Der Bär entfloh, wieder zehn Schritt bei Wilhelm vorbeilaufend, ohne diesen zu bemerken, der Kopf und

Arme in den Sack gesteckt hatte und sich hinter dem Steine verbarg. Der Nach­ bar sah diesem Auftritt zu, auf seine Kniee und seine linke Hand gestützt, sein

Gewehr in die rechte Hand drückend, blaß und den Atem anhaltend; gleichwohl war'ö ein tüchtiger Jägersmann. Der Bär kam jetzt gerade auf ihn los; er be­ kreuzte sich, empfahl seine Seele Gott und sah nach, ob sein Karabiner gut ge­ laden wäre. Der Bär war nur noch 50 Schritte von ihm entfernt, vor Schmerz

heulend und still haltend, um sich auf der Erde zu wälzen und sich an der Stelle seiner Wunde in die Seite zu beißen; dann setzte er seinen Lauf fort. Er kam immer näher; jetzt war er nur 30 Schritte weit; noch zwei Sekunden, und er stieß an den Lauf von des Nachbars Karabiner an: als er plötzlich wieder stehen blieb, schnaubend die Luft einzog, die von der Seite des Dorfes herkam, ein fürchterliches Gebrüll ausstieß und in den Garten zurücklief. „Nimm dich in Acht, Wilhelm! Nimm dich in Acht!" rief Franz, indem er dem Bären nachsetzte, alles vergessend, um nur an seinen Freund zu denken; denn er sah wohl, daß, wenn Wilhelm nicht die Zeit gehabt hatte, seine Flinte wieder zu laden, er verloren war: der Bär hatte ihn gewittert. Noch hatte er nicht zehn Schritte gethan, als er einen Schrei hörte; das war aber der Schrei eines Menschen, ein Schrei des Schreckens und des Todes zu gleicher Zeit, ein Schrei, in dem der, welcher ihn ausstieß, alle Kräfte seiner Brust, alle seine Gebete zu

Gott, alle seine Bitten um Hülfe bei den Menschen zusammengefaßt hatte. Franz lief nicht, er flog; der Abhang beschleunigte seinen Lauf; je näher er kam, desto deutlicher erkannte er auch das ungeheure Tier, das sich im Schatten bewegte, Wilhelms Körper zertretend und in Stücke reißend. Franz war nur noch vier Schritt weit von beiden, aber der Bär war so gierig über seine Beute her, daß

er ihn nicht zu bemerken schien. Franz wagte nicht zu schießen aus Furcht, Wilhelm zu töten, falls er noch nicht tot wäre; auch zitterte er so, daß er seines Schusses nicht mehr sicher war; er hob einen Stein auf und warf ihn nach dem Bären. Dieser wandte sich wütend nach seinem neuen Feinde; sie waren so nahe

bei einander, daß der Bär sich auf den Hintertatzen aufrichtete, um ihn zu er­ Franz fühlte, wie das Tier mit der Brust den Lauf seines Karabiners

drücken.

verstopfte. Mechanisch drückte er den Finger auf den Hahn, und der Schuß ging los; der Bär fiel rücklings über, die Kugel war ihm durch die Brust gegangen und hatte das Rückgrat zerschmettert.

Franz ließ ihn sich heulend auf seinen

Vordertatzen fortschleppen und eilte zu Wilhelm. Da war aber kein Mensch mehr, da war nicht einmal mehr ein Leichnam, da war nur noch zerquetschtes Ge­ bein und Fleisch; der Kopf war fast ganz verschlungen. Als Franz jetzt an der Bewegung der Lichter, die hinter den Fenstern der

nahen Häuser hin- und herwankten,

bemerkte, daß mehrere Dorfbewohner er­

wacht wären, rief er laut um Hülfe, die Stelle bezeichnend, wo er war; einige

Bauern liefen mit Waffen herbei, denn sie hatten das Geschrei und die Schüsse

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

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gehört. Bald war das ganze Dorf in Wilhelms Baumgarten versammelt; seine Frau kam mit den übrigen herbei. Es war ein fürchterlicher Auftritt; alle, die dabei waren, weinten wie die Kinder. Man sammelte im ganzen Rhonethal eine Kollekte für sie, die 700 Franken einbrachte; Franz überließ ihr seine Prämie und

ließ zu ihrem Besten Haut und Fleisch des Bären verkaufen; kurz, jedermann bemühte sich, ihr beizustehen und ihr Hülfe zu bringen.

16a.

Dum.is.

Eine Fahrt in den Dürrenberg bei Hallein.

Früh am Morgen machten wir uns auf, um das Städtchen Hallein am Fuße des Dürrenberges im Salzkammergut zu besuchen. Nach einer Stunde

langten wir bei der aus rotem, unpoliertem Marmor erbauten Kirche und dem Knappschaftsdorfe an. Man führte uns in ein Haus, wo wir mit dem Berg­ mannsgruße „Glück auf!" empfangen wurden und von den Bergleuten leinene

Beinkleider, weit genug, um auch die Schöße unserer Röcke drin zu verbergen, ferner ein leinenes Kamisol, die schwarze, rot verbrämte Bergmannskappe, ein ledernes Schurzfell, hinten umzubinden, und einen dicken ledernen Handschuh für die rechte Hand bekamen. Wir lachten nicht wenig, als wir uns in dieser Ver­ mummung einander gegenüberstellten, und schritten, dem Steiger folgend, dem Eingangsstollen zu. Hier erhielt jeder zweite Mann ein Grubenlicht in einem irdenen Leuchter, welchen er mit der linken Hand halten mußte. Anfangs gingen

wir durch einen langen, wagrecht laufenden Stollen, an dessen beiden Seilen doppelte Röhren parallel gezogen waren. Zwei leiteten Quellwasser in die Salz­ stuben, während in den beiden andern das mit Salz gesättigte Wasser, die Soole, in die Siedehäuser nach Hallein geführt wird, wo man das Wasser ver­

dampfen läßt, um das Salz zu erhalten. In dem engen Stollen schritt einer ganz dicht hinter dem andern vorwärts, der Steiger voran, ein zweiter Berg­ mann am Schluß des Zuges. War ein Balken oder eine Röhre zu übersteigen,

oder eine Stufe zu betreten, so machte der Steiger darauf aufmerksam, und so warnte der Vordermann immer seinen Nachfolger.

Dann kamen wir in einen

Stollen, dessen Wände schon ganz aus Salz bestanden, das teils farbig marmo­ riert die Wände zierte, teils krystallisiert glänzend zu Tage lag. Der Steiger

erklärte uns alle Werkzeuge, die der Bergbau erfordert, und erzählte uns von dem Leben der Bergleute. Endlich gelangten wir zu der Rutschbahn, über welche man 58 Klafter hinabgleitet. Ein glattes, einen Schuh breites Brett, zwischen

zwei runden, glatt gehobelten, parallel gezogenen Baumstämmen läuft abschüssig in die Tiefe. Man setzt sich auf dieses Brett, hat zur Unterlage das Schurz­ fell, ergreift mit der rechten, durch den Handschuh geschützten Hand das von oben bis unten gespannte Tau, legt beide Beine auswärts über die beiden Bäume und gleitet langsam oder geschwind hinab. Will man die Rutschfahrt beschleunigen, biegt man den Oberleib vorwärts; will man sie verzögern, lehnt man sich zurück. Nicht

ohne stille Besorgnis setzte ich mich auf das Rutschbrett, um in den schauerlichen Abgrund des Salzberges einzufahren. Ich hielt den Oberleib viel rückwärts, um langsam in diese sehr beträchtliche Tiefe hinabzugleiten, aber eben dadurch ge-

390

VII.

Natur-, Länder- unb Völkerkunde

wannen meine Vorderleute einen weiten Borsprung vor mir; meine Nachfolger, die so gut wie ich bedenklich waren, blieben noch weit hinter mir zurück, und so

befand ich mich plötzlich ohne Licht allein auf einem großen Raume in der fin­ steren Felsenröhre und mußte meine Rutschfahrt beschleunigen, um nur bald ans Ende zu gelangen und aller Besorgnis überhoben zu sein. Mir war schon leichter

ums Herz, als ich nur wieder Licht im Abgrunde erblickte. Nachdem alle ohne Unfall in der Tiefe angelangt waren, ging es bald durch wagrecht laufende

Schachte, bald über Treppen aufwärts, bald abwärts zu dem zweiten Rutsch­ werke, das 34 Klafter tief, aber viel steiler hinabläuft. Schnell wurde die Fahrt von der Gesellschaft augetreten, und wie ein Pfeil schoß einer hinter dem andern in die schauerliche, durch die fünf Grubeulichter kaum erhellte Tiefe hinab. End­

lich kamen wir in die größte Salzstube, Stöber genannt, welche die Form eines ungeheuren Gewölbes hat. Sie war beleuchtet; an der Decke und an den Wän­ den glänzte das Salz in den mannigfaltigsten Farben; in ihrer Mitte ist ein Teich, der mit einer Gondel befahren werden kann. Derselbe faßt über 600000 Eimer. Drei Wochen lang bleibt das Wasser hier stehn, um das salzhaltige Ge­ stein aufzulösen; die Salzteile schmelzen im Wasser, die Erde sinkt zu Boden, die Scole wird durch Röhren in daö Siedehaus geleitet. Hier, in großen eisernen Pfannen, wird dann die Soole gesotten. Aus 600 000 Eimern gewinnt man 150 000 Centner Salz. Aus der großen Salzstube wurden wir in einen Stollen geleitet, welcher 11000 Klafter lang in gerader Linie, etwas abschüssig durch

Marmorgestein gehauen, ziemlich enge und sehr niedrig ist. Hier bestiegen wir einen Wurstschlitten, den Hund, welcher in einer Holzbahn läuft. Sieben von der Gesellschaft, den Steiger an der Spitze, setzten sich auf den ersten Hund, die übrigen mit dem Bergknappen auf den zweiten. Alle wurden gewarnt, weder Füße, noch Hände auszustrecken, auch den Kopf nicht zu beugen und nicht auf­ zustehn, damit bei dem schnellen Lauf des Hundes kein Anstreifen an die Wände oder an die Decke stattfinden möchte.

Drauf spannten sich vor jeden Schlitten

zwei Bergknappen und liefen nun mit demselben in raschem Trabe vorwärts dem Ausgange zu. Der Stollen hat eine Länge von dreiviertel Wegstunden,

war aber in einer Viertelstunde durchlaufen.

Wie alle Stollen, Schacht- und

Salzstuben, die wir durchwandert hatten, luftig waren, so war in diesen Aus-

gangsstollen ganz besonders viel Luftzug. Als wir über die Mitte desselben hin­ aus waren, erloschen alle Grubenlichter, und wir fuhren in völliger Dunkelheit, aber in gleicher Schnelligkeit weiter. Ein banges Gefühl ergriff uns. Jeder zog Kopf

und Glieder an sich, um nicht irgendwo anzustoßen, und keiner sah den Vordermann. Auf einmal standen die Schlitten still, und der Steiger wies in weiter Ent­ fernung auf einen Lichtpunkt hin, welcher wie ein Stern glänzte. Die Schlitten setzten sich wieder in schnelle Bewegung, der Stern nahm zu an Licht, Glanz und Ausdehnung, je weiter wir vorwärts kamen; die grause Finsternis verschwand

allmählich, das Tageslicht begann zu dämmern, dann zu leuchten, wir näherten uns dem Ausgange, und nach einigen Minuten hatten wir ihn erreicht. Wir holten wieder freien Atem, als die Sonne uns beschien. Die Schlitten­ zieher, junge Bursche, taumelten totenblaß, fast atemlos und in Schweiß gebadet,

VII. hin und her.

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Als wir uns umschauten, sahen wir uns am Fuße des Dürren­

berges, auf dessen flachem Gipfel wir eingefahren waren. Man führte uns in ein Haus, wo wir die Bergmannskleider ablegten und wo unsere Überröcke, Mäntel, Hüte und Stöcke bereit waren. Nachdem wir mit klingender Münze dem Führer unsern Dank abgestaltet batten, setzten wir unsre Reise fort, froh, aus der Unterwelt wieder entronnen zu sein. Keiner von uns hatte Lust bekommen, Berg­ mann zu Werden.

Grube.

17. Die Räuber im Bakony-Wald. Wir waren am Morgen aus Preßburg weggefahren und hatten nach einer Stunde die große Straße erreicht, die von Wien nach Pest führt Die weite, fruchtbare Ebene hatte auf den ersten Augenblick etwas Freundliches, aber bald wurde der Anblick einförmig und ermüdend; man sah alle halbe Meilen weit einen Baum, noch seltener einen Weiler oder ein Dorf; nur an der Donau zogen sich die Uferwälder dicht und dunkel hin und schlossen die Aussicht. Bald bot sich uns auf dem Felde nahe der Straße ein nationaler Anblick dar. Ein großes Ackerfeld wurde umgepflügt; in der Mitte stand der Heiduck, der herrschaftliche Aufseher der Bauern; ein runder Hut mit großer, flacher Krempe bedeckte sein Haupt, ein hellblauer Dolman mit bunten Schnüren, über die Achsel gehängt, ein enges, hellblaues Beinkleid und kleine Stiefel bildeten seinen Anzug; in der Hand hatte er einen langen weißen Stab, das Zeichen

seiner Amtswürde. Um ihn her arbeitete alles; man würde sich aber täuschen, wenn man glaubte, daß der Heiduck eine Art Sklavenaufseher sei; keineswegs; ein gewisser Stolz ist das Erbteil des ungarischen Bauern so gut wie des Edel­ mannes. Aus dem Felde zogen vielleicht 20 Pflüge hintereinander, vor jedem ein Paar der schönen, weißen großgehörnten Ochsen, hinter dem Pfluge ein Treiber

mit großkrempigem Hut, in weißer Jacke, weiten Leinwandhosen und schweren Stiefeln mit Sporen; mit hochgeschwungener Peitsche, rauchend und singend,

schlendert der schnurrbärtige Pflüger hin. Die große Zahl der Pflüger macht ihm und den Tieren die Arbeit leicht. Anstrengung ist überhaupt nicht die Sache

des Ungarn; sein Vieh zu regieren und dieses alles thun zu lassen, was es irgend vermag, das ist althergebrachte Sitte. So verliert er auch lieber einen guten Teil der Körner, indem er die Garben durch Ochsen austreten läßt, als daß er

selbst sich mit dem Ausdreschen bemüht. In der guten Behandlung der Unter­ gebenen folgt der Heiduck dem Beispiel seines Herrn; man darf ihn sich nicht mit geschwungenem Stabe, heftige Worte und Schläge austeilend, denken.

Mit

Würde auf seinen Stab gelehnt, steht er in der Mitte und ruft nur hin und wieder ein Wort. Seine Stellung ist fest und ernst; der leicht übergeworfene Dolman und die kleine Tabakspfeife geben ihm dabei einen graziösen Anstrich. Nicht minder stolz und würdevoll geht der Pflüger einher, indem er zu seinem trefflichen Gespann bald in liebkosenden, bald in heftigen Worten redet; jedes Tier hat und kennt seinen Namen, und der stolze Anstand erstreckt sich beinahe

auf die schönen, hell glänzenden Tiere.

392

VII. Natur-, Länder- unb Völkerkunde. Im schönsten Welter, unter einem köstlich blauen Himmel fuhren wir weiter;

nur streckenweis verdient die große Straße von Preßburg nach Ofen den Namen

einer Chaussee. Die Bauern müssen die Straße unterhalten, von ihrem Eifer hängt also die Beschaffenheit des Weges ab. Nirgends giebt es Chausseehäuser; ein Schlagbaum wäre der ungarischen Freiheit allzusehr zuwider. Keine Allee

faßt den schmalen weißen Strich ein, der die unabsehbaren grünen Flächen durch­ schneidet; nur Bettler liegen an der Straße in unendlicher Zahl, singend und flehend im reichsten Lande der Erde, wo jeder Fußbreit die Mühe des Anbaus dreißigfach vergilt! Ungarn ist das Land der Tabakraucher. Der Bettler, der sich

uns gebeugt naht, raucht dabei weiter, und rauchend fährt uns der Fuhrmann auf der Straße. Nur Essen und Schlafen bewegt den Ungar, das kurze Pfeif­ chen, das er mit großer Geduld wohl zehnmal in einer Stunde füllt, auS der

Hand zu legen. Wie besessen jagt der Fuhrmann, so lange die Pfeife brennt; ist sie zu Ende, so bleibt er im Schritt, bis man ihm wieder die Mittel giebt, weiter zu rauchen; selbst Feuer muß man ihm geben; aber alles das wird durch die Schnelligkeit belohnt, mit der man dahinfliegt. Ich sah bald, daß man nur mit­ telst der Tabakspenden weiterkommt; überdies hatte die in den verschiedensten Tönen wiederkehrende Bitte um Tabak, das Zaghafte im Anfang und endlich die herrische Art zu begehren, als die Bitte immer wieder erfüllt wurde, etwas gar Possierliches und gewährte mir große Unterhaltung. Jeden Augenblick des Nicht­ jagens benutzte unser Fuhrmann, um etwas an den Leinen und dem Riemzeug zu bändeln und zu knüpfen; nur die polnischen Bauern übertreffen die ungarischen noch an solcher Trödelwirtschaft. Sowohl in dem Wirtshause, wo wir zu Mittag aßen, als in dem, wo wir Nachtquartier machten, verlebte ich angenehme Stunden. Überall waren Zigeuner, die mit Hackbrett, Geige, Flöte und Baß eine Musik machten, deren Harmonie und Takt mir völlig neu waren. Die Füße der Zuhörer hoben sich, die Augen

wurden glänzender, die Finger schlugen den Takt, bald nahm alles am Tanze teil. Mich fesselten besonders die Erzählungen der Reisenden; der eine kam aus der Türkei, der andere aus Italien, und von allen diesen Gegenden war die Rede, wie bei uns von den nächsten Orten. Bald drehte sich alles Gespräch um die bald beginnende Weinlese, und da sie vortrefflich auszufallen versprach, so waren alle Gemüter fröhlich gestimmt.

Es ist eine Freude, mit dem Ungarn

zu verkehren; hat man ihn freundlich angeredet, so öffnet sich sein Herz bald, und er thut, was er nur ersinnen kann, um dem Reisenden gefällig zu sein. Zuletzt wurden Räubergeschichten erzählt, die für mich um so interessanter waren, da wir

uns dem verrufenen und gefürchteten Bakony-Wald näherten. Als wir am folgenden Morgen wieder auf der Straße waren, nahm unser Fuhrmann das niedere Verdeck von Matten ab, um, wie er sagte, einem Überfall begegnen zu können; mich freute diese Maßregel des schönen Wetters wegen, das mir eine köstliche Fahrt an den Bergen hin versprach. Bald sahen wir im Osten die bläulichen Weingebirge von Neßmühl aufsteigen; rechts im Südosten stiegen die Berge zu dem berüchtigten Bakonh-Wald auf. Die ganze Gegend hatte einen

milden Charakter, und der große Strom machte sie reizend.

Bald kamen wir in

VII.

Natur-, Länder- ttnd Völkerkunde.

393

entert Kreis aufgeworfener und wieder verfallener Erdhügel, die Überreste eines

türkischen Lagers;

auf dem bedeutendsten Hügel steht eine Stange,

die immer

wieder erneuert wird; dort soll das Zelt des Pascha gestanden haben.

Der

Hügel war rings umwühlt; denn noch immer ermüdet die Phantasie des Volkes nicht, sein Inneres voll Schätze zu wähnen und stets aufs neue danach zu graben. Balo fesselte ein neuer Gegenstand unsere Aufmerksamkeit. Wir kamen in die Maisfelder, welche den ganzen Abhang vom Bakony-Walde bis zur Donau bedecken, so weit das Auge reicht. Die Bestimmung des türkischen Weizens in diesen Gegenden ist recht prosaisch: mit den reifen Körnern füttert man die Schweine, Stengel und Blätter dienen zur Streu für das Hausvieh. Da eben die Zeit der Maisernte war, so weideten große Herden von Truthühnern in den hohen Stoppeln und suchten die ausgefallenen Körner auf, von denen sie über­ aus fett werden. Die ganze Straße war wie am vorigen Tage außerordentlich belebt; Bauer­ fuhren mit raschen Pferden jagten vorüber, andere zogen langsam des Weges, mit großen, weißen Ochsen bespannt; wir sahen Gespanne von 6 bis 8 Ochsen vor einem Bauerwagen. Auch die ungarischen Magnaten haben die Liebhaberei,

sich bei ihren gegenseitigen Besuchen von Ochsen ziehen zu lassen; man richtet die Tiere zum schärfsten Trabe ab und wetteifert, die raschesten vor seinem Wagen zu haben. Zwischen den Bauerfuhren zogen wandernde Juden an uns vorüber; weiterhin begegneten wir einem großen Wagen voll feister Ordensgeistlichen in

schwarzer Tracht mit großkrempigen Hüten, unter denen freundliche Gesichter her­ vornickten. Ihnen folgte ein Trupp Zigeuner; die Männer sahen ernst und wild vor sich hin, die Weiber keiften, die Mädchen tanzten, sangen und bettelten. Je weiter wir kamen, desto mehr nahm die Zahl der Bettler zu. Nun rollte

ein herrschaftlicher Reisewagen vorüber, zu dessen beiden Seiten Flinten hinaus­ ragten; mehr noch die Sitte als die Notwendigkeit verlangt hier, daß man auf Reisen bewaffnet ist, und überdies haben die Jagdfreunde auf der Landstraße

zu manchem schönen Schuß Gelegenheit. Zwar tritt nur selten ein Reh aus den Auen der Donau an die Straße, aber die Trappe zieht mit ruhigem Flügel­ schlag dicht über den Reisenden hin; auch Wachteln kommen nahe heran, und ein immer vorhandenes Ziel bietet wenigstens die Schackelster in ihrem schwarz und weißen Gewände. Jedermann schießt, wann es ihm beliebt; das Jagdgesetz wird nicht streng gehandhabt.

Außer an der Straße sahen wir wenig Dörfer, nur hier und da ein Vor­

werk. Die Hälfte des Landes lag wüst und diente dem Vieh zur Weide; wo aber an den Boden eine Hand gelegt war, da gedieh alles üppig und schön in

dem gesegneten Erdreich. So wenig der ungarische Bauer auch arbeitet, denn Singen, Rauchen, Trinken und Tanzen ist seine Lust, so bringt ihm doch das Land so reichlichen Ertrag, daß die Getreideschober um sein Haus oft die Vor­

räte nicht fassen können. Das Korn läßt er von Pferden und Ochsen austreten, und der Wind muß die Spreu sondern. Bei Komorn führt die Straße dicht am Strome hin. Hier teilen sich die Wege nach Ofen; die Chaussee geht längs der Donau weiter, die nähere Straße

VIL

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Natur-, Länder- unb Völkerkunde.

führt rechts durch den Bakony. Da man die letztere ihrer Unsicherheit wegen nur ungern wählt, so blieben wir auf der großen Straße und kamen bald zu einem einsam liegenden Wirtshause, wie man deren in den ungarischen Ebenen so viele antrifft, und in welchen, wie mein Begleiter sich ausdrückle, die Räuber nisten wie die Wanzen im Bett. Am Tage vorher war in der Nähe dieses Wirtshauses ein Überfall geschehen: doch waren die Räuber durch die Reisenden vertrieben

worden.

Mein Begleiter, ein abgedankter, dicker Wachtmeister, war so in das

Räuberthema gekommen, daß er nun von nichts anderem mehr erzählte. Ich hatte so viel von den Räubern des Bakony-Waldes gehört, daß es mir erwünscht war, Genaueres über diesen merkwürdigen Menschenschlag zu erfahren, der in allen Stücken so sehr von den Ungarn abwich, wie ich sie kennen gelernt hatte. Der Wachtmeister befriedigte meine Neugierde. „Hier auf der großen Straße," sagte er, „haben wir nicht viel zu fürchten; aber wenn mau durch den Bakony muß, da steht's schlimm. Ich habe seit eini­ gen Jahren einen kleinen Handel, der mich auf alle Märkte dieser Gegend führt. Ein alter Soldat, dacht' ich, muß doch auch einmal die Räuber in Augenschein

nehmen; da fand ich unterwegs einen alten Kameraden, der mich aufforderte, mit ihm in den Wald zu gehen; er wolle mir die Räuber zeigen." „Wer sind denn diese Räuber eigentlich?" fragte ich den Wachtmeister; „sind es Landleute, Hirten?" „Gott bewahre!" entgegnete er. „Sehen, Euer Gnaden, man nennt sie die Kanaß; es sind die Schweinhüter im Walde; die leben dort jahraus jahrein bei den

Schweinen.

Der Bakonh-Wald hat so viel Eicheln, daß man nur so in der Mast

watet. Da lassen sie die Tiere fett werden, dann verkaufen sie sie. Also wir gingen zusammen hin; auf einem freien Fleck im Walde fanden wir sie. Als sie uns gewahr wurden, sprangen sie auf und fragten: Wer ist denn der? Was will

denn der hier? Sie lassen keinen Fremden Obrigkeit. Mein Kamerad antwortete, daß die Kanaß beschauen wolle. Nun waren sie ferkel, steckten sie an hölzerne Spieße und

zu sich, denn sie fürchten sich vor der er mich kenne, und daß ich mir gern zufrieden, schlachteten ein paar Span­ brieten sie.

Wein hatten sie vollauf.

So mußten wir mit ihnen essen und trinken, und sie gaben's gern. Als wir gegessen halten, fragte ich nach ihrer Unterhaltung; sie zogen unter ihren Mänteln große Messer hervor, die ganz blank und scharf geschliffen waren, und warfen damit in einen Baum auf 20, 30 Schritt, je nachdem jeder geschickt war, und immer trafen sie aufs Haar; damit werfen sie aber auch nach den Leuten, die

sie berauben wollen.

Wir bedankten uns endlich für die Bewirtung und gingen

heim. Nicht lange darauf war Markt in einem Flecken jenseits des Waldes, und mein Schwager bat mich, mit ihm zu fahren. Ei, sagte ich, da müssen wir ja

gerade durch den Bakony! Narr, antwortete er, wir haben gute Pferde, sie sollen uns nicht kriegen. Ich fuhr also mit ihm. Als wir einige Stunden gefahren waren, kamen wir an einen steilen Berg; ich stieg ab, ging eine Strecke zu Fuß, und ohne daß ich's merkte, führte mich der Fußweg von der Straße ab in den Wald hinein. Plötzlich raschelt's hinter mir, und ich sehe einen Kanaß, der mir nachkommt Ich rufe ihm zu, er solle vorangehen, er aber bleibt stehen und bittet um Tabak. Halt, denke ich, nun ist's gute Zeit: daun will er Brot und zuletzt

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

395

Geld haben. Ich antwortete also, ich hätte keinen Tabak. Ob ick) nicht Brot hätte, fragte er weiter. Nein. Nun, so sollt' ich ihm Geld geben. Da zieh' ich mein Pistol heraus und sage: Jetzt geh', oder ich schieße! Der Kerl springt zu­ rück, greift nach seinem Messer, zieht's heraus und will werfen. Ich drücke los,

treffe ihn so, daß er zusammenstürzt, und springe durch das Gebüsch nach der Landstraße hin und auf den Wagen hinauf. Nun zugefahren! Da denk' ich mein Lebtag dran." „Und was wurde mit dem Kanaß?" fragte ich. „Mit welchem denn?" „Den ihr geschossen habt." „Ach, den werden die andern schon zugedeckt haben; sie lassen keinen liegen." In der That stehen diese Kanaß in ganz Ungarn in Verruf, und man nimmt von vorn herein an, daß jeder von ihnen ein Dieb und Räuber ist. Ihre Zahl

ist sehr bedeutend, und ihr Geschäft bringt es mit sich, daß sie nur in den ber­ gigen und waldigen Teilen des Landes Hausen; da müssen sie notwendig ver­ wildern. Sie kennen alle Wege und Schliche in ihren Bergen, und da sie die

einzigen Bewohner derselben sind und fest Zusammenhalten, so ist ihnen auch durch die Obrigkeit schwer beizukommen; dagegen sind die ebenen Gegenden des Landes jetzt ziemlich sicher, und Überfälle wie der oben erwähnte gehören zu den Selten­ heiten. Wir hatten während jener Erzählung das Gebirge erreicht; es steigt kahl am Ufer der Donau auf, und nur an wenigen Stellen ist Weinbau; drüben aber

jenseit des Stromes liegen dichtgedrängte Gebirge, die unten mit Reben und höher hinauf mit Wald bedeckt sind. Mit zunehmender Dunkelheit nahm der immer gefährlicher werdende Weg unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er windet sich zwischen der hohen Felsenwand und der tief unten strömenden Donau hin; kein Geländer, keine vorliegenden Steine, keine Bäume, um vor dem Hinab­ stürzen zu sichern, dabei immer scharfe Biegungen und das unsinnige Jagen unsers Fuhrmanns gegen Neudorf hinab: ich mußte mich zusammennehmen, um keine Besorgnis blicken zu lassen. Endlich traten die Lichter des Dorfes hinter

der Felsecke hervor, und die großen, hell leuchtenden Häuser spiegelten sich in der Donau, die sich hier wie ein Landsee ausbreitet. Mit den Worten: „Gottlob,

daß wir da sind!"

stieg der dicke Wachtmeister vom Wagen.

Alle Fenster des

Wirtshauses waren mit Eisenstäben vergittert; große Hunde, von jenem gefähr­ lichen Schlage, den man auch in andern Ländern unter dem Namen der unga­ rischen Wolfshunde kennt, streifen wachend um die Höfe, alle Thüren wurden zwei- und dreifach verschlossen; doch das alles ist mehr noch Gebrauch aus älterer Zeit als Notwendigkeit; denn seit lange hat man kein Beispiel, daß in einem Dorfe an dieser vielbesuchten Straße ein Überfall geschehen wäre. Mit grauendem Tage brachen wir auf, um bei guter Zeit in Ofen zu sein.

Der Morgen war überaus schön. Bald verließ die Straße das Ufer der Donau und stieg steil aufwärts zwischen kahlen, zackigen Felshäuptern hin bis auf den Kamm des Gebirges. Kaum aber halten wir ihn überschritten, so sahen wir in ein neues Land, in den üppigsten Reichtum der Natur hinein. Die herrlichste Landschaft breitete sich vor uns aus.

Unten am Strom sauft aufsteigende Mais­

felder, darüber Weinberge mit den prächtigsten Stöcken in langen, dichten, wohl­ gepflanzten Reihen; noch höher grüne Matten, mit Wald bekränzt, aus dem hier

396

VII.

Natur-, Länder- unb Völkerkunde.

und da der nackte Fels hervortritt. Pfeilschnell flogen wir die Berge hinunter bis zur letzten Station vor Ofen; dann ging es zwischen Maisfeldern in der Ebene fort. Alle Stöcke hingen voll langer, schwerer, dunkelroter Trauben, die in voller Reise waren, und in einzelnen Bergen hatte die Lese schon begonnen. Bei der ersten Biegung der Straße zeigte sich uns die Stadt Ofen,

umgeben

von einer köstlichen Natur; rechts senken sich die steilen Abfälle der Weinberge zu ihr hinab, links sieht man sanftere, schön bewaldete Berghänge, dazwischen die weite, grüne Ebene, von dem herrlichen Strome durchflossen — ein paradie­

Pirch.

sischer Anblick!

18.

Sibirien.

Sibirien dehnt sich in einer Länge von 800 deutschen Meilen vom Ural bis zum Meere von Kamtschatka und in einer Breite von 400 deutschen Meilen von den Grenzen Chinas bis zum nördlichen Eismeere aus. Dieses große Land

welches Europa um den vierten Teil seines Flächeninhalts übertrifft, war bis zur Eroberung durch die Russen am Ende des 16. Jahrhunderts der gebildeten Welt völlig unbekannt; seitdem haben mutige Männer die dürren Steppen, die steilen Gebirge und die Schnee- und Eisfelder desselben nach allen Richtungen

durchforscht, und zugleich sind die russischen Ansiedler bis an die äußersten Grenzen vorgedrungen, so daß wir jetzt schon eine ziemlich genaue Kenntnis des Landes besitzen; indessen sind über die trostlose Beschaffenheit desselben noch immer

die übertriebensten Ansichten verbreitet. Allerdings ist der nördliche Teil eine unwirtbare, fast das ganze Jahr hindurch mit Schnee und Eis bedeckte Einöde; dagegen ist der mittlere und südliche Teil nach allen Richtungen von schiffbaren Strömen durchflossen und zum größten Teil mit schön bewaldeten Bergen, frucht­ baren Thälern und lachenden Wiesen bedeckt. Aber auch die rauheren Gegenden sind nicht ohne eine gewisse wilde Schönheit, und wenn in ihnen die Erzeugnisse der Pflanzenwelt zur Ernährung der spärlichen Bevölkerung nicht hinreichen, so haben sie dagegen Überfluß an jagdbaren Tieren, die zum Teil das kostbarste

Pelzwerk der Erde liefern. Die Ureinwohner Sibiriens gehören

sämtlich zum mongolischen Stamme

und beschäftigen sich größtenteils mit der Viehzucht, der Jagd und dem Fischfang. Der erste Volksstamm, zu dem man gelangt, wenn man aus dem europäischen Rußland über den südlichen Ural nach Sibirien geht, sind die Baschkiren, ein

träges und unlenksames Volk, welches den Winter in hölzernen, am Saume der Wälder erbauten Hütten zubringt, im Sommer aber mit seinen Pferden, Rindern und Schafen von einem Weideplatz zum andern zieht.

Die Männer sitzen den

ganzen Tag zu Pferde. Ihre einzige Arbeit besteht in dem Zusammentreiben der Stuten, wenn diese gemolken werden sollen; alle übrigen Arbeiten überlassen sie den Frauen. Obgleich die Weidegründe, in denen sie sich aufhalten, Gras im Überfluß hervorbringen, so sind sie doch zu träge, um es zu sammeln und auf­ zubewahren, und ihre Herden müssen sich daher im Winter ihr spärliches Futter unter dem Schnee hervorsuchen. Die gewöhnliche Nahrung der Baschkiren besteht

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

397

aus Fleisch und einer Art wilder Birnen, aus denen sie Kuchen backen, ihr Ge­ tränk aus gegorener Pferdemilch. Bei der Jagd bedienen sie sich abgerichteter Falken, von denen die kleineren Hasen und Hühner fangen, während die größeren selbst Füchse und Wölfe angreifen. Ihre wichtigste Waffe ist der 2 m lange, sehr wenig gekrümmte Bogen, mit dem sie ihre Pfeile 80 bis 100 Schritte weit schleudern. Nordöstlich von den Baschkiren wohnen die Ostiaken, welche teils vom Fisch­

fang, teils von der Jagd leben. Die endlosen Wälder ihres Gebiets sind reich an Mardern, Füchsen, Wölfen, Bären, Renntieren und Elentieren. Die Marder und Füchse schießen sie, um das Fell derselben nicht zu verletzen, mit Pfeilen, an

deren Spitzen sich bleierne Kugeln befinden; Hermeline, Eichhörnchen und andere kleine Tiere fangen sie in Schlingen und Fallen; Renntiere und Eleutiere er­ schießen sie mit Pfeilen oder fangen sie auch mit großen Netzen; die Bären end­ lich töten sie mit langen Stöcken, an deren Spitzen Messerklingen befestigt sind. Die Ostiaken sind ein gutmütiges und ehrliches Völkchen; sie stehen aber noch auf einer so tiefen Stufe der Bildung, daß sie mit ihren Hunden aus einer Schüssel essen und das Fleisch in der Regel halbroh verzehren. Die Samojeden, welche den Küstenstrich des nördlichen Eismeers bis zum Jenisei hin bewohnen, sind noch geschicktere Jäger als die Ostiaken. Ihr Land ist reich an den kostbarsten Pelztieren, den Zobeln und schwarzen Füchsen, deren Fell, so klein es ist, oft mit 6- bis 800 Rubeln bezahlt wird. Bisweilen dringen die Samojeden auf dem Eise bis Novaja Semlja vor, einer großen, im Eis­ meere gelegenen Insel, die nicht mehr bewohnbar ist, und jagen daselbst Robben, Eisbären Der bewohnt; Körpers,

und Füchse. östliche Teil von Sibirien wird von Tungusen, Jakuten und Tschuktschen unter diesen zeichnen sich die Tschuktschen durch Größe und Kraft des Tapferkeit und Freiheitsliebe aus. Der ansässige Teil derselben, welcher

am Meeresufer wohnt, ist gutmütig und friedfertig und ernährt sich von See­

hunden und Walrossen, welche mit eisernen Lanzen getötet werden; die das Binnen­

land bewohnenden Renntiertschuktschen dagegen, welche mit ihren Renntierherden ein nomadisierendes Leben führen, sind wild und kriegerisch und plündern ohne

Scheu auch die russischen Beamten aus, welche es wagen, ohne starke Bedeckung durch ihr Land zu reisen.

Der östlichste Teil Sibiriens, die Halbinsel Kamtschatka, ist besonders reich Diese Tiere sind bei aller ihrer Kraft und Größe doch so

an schwarzen Bären.

sanft, daß sie nie den Menschen angreifen, und daß selbst die Frauen, welche in den Wäldern Kräuter und Wurzeln suchen, sich vor ihnen nicht fürchten. Da

alle Teile der schwarzen Bären, Fell, Fleisch, Eingeweide und Knochen, für die Kamtschadalen von Nutzen sind, so wird ihnen mit dem größten Eifer nachgestellt;

aber obgleich jährlich viele Tausende derselben getötet werden, so ist ihre Anzahl doch noch unglaublich groß. Das wichtigste Haustier für alle Völker Sibiriens ist der Hund, indem er ihnen nicht allein auf der Jagd von großem Nutzen ist, sondern ihnen auch als

Zugvieh dient.

Unter allen sibirischen Hunden sind die der Kamtschadalen die

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Natur-, Länder- und Völkerkunde.

besten; denn während sie alle übrigen an Schnelligkeit übertreffen, sind sie zu­ gleich so kräftig, daß vier derselben, welche gewöhnlich das Gespann eines Schlit­ tens ausmachen, drei Männer mit ihrem Gepäck mit der größten Leichtigkeit fort­ ziehen und dabei an einem Tage bei schlechtem Wege 5 bis 6, bei gutem Wege aber 10 bis 12 deutsche Meilen zurücklegen.. Will man Hunde zum Ziehen ab­

richten, so wählt man solche Tiere aus, welche hohe Beine, lange Ohren, eine spitze Schnauze und einen kräftigen Körper haben. Wenn die Tiere drei Wochen alt sind, wirft man sie in eine finstere Grube, in der sie so lange eiugeschlossen bleiben, bis sie zum Ziehen eines Schlittens stark genug sind. Man spannt sie

nun mit andern bereits abgerichteten Hunden an einen Schlitten, den sie, durch das Tageslicht und die sie umgebenden unbekannten Gegenstände erschreckt, mit der größten Schnelligkeit fortziehen. Nach einem kurzen Versuche bringt man sie in ihr dunkles Gefängnis zurück und wiederholt diese Übung so lange, bis

sie sich an gleichmäßige Bewegungen gewöhnt und der Stimme ihres Führers folgen gelernt haben. Anfangs gelingt es nur durch List und Überraschung, sie anzuspannen, und während man ihnen das Joch auflegt, strecken sie die Köpfe empor und erheben ein jämmerliches Geheul. Sobald die Reise fortgeht, tritt eine plötzliche Stille ein; aber nun lassen sie ihrer Bosheit freien Lauf und suchen durch wilde Sprünge die Geduld ihres Führers zu ermüden und selbst sein Leben in Gefahr zu bringen, indem sie an gefährlichen Stellen ihren Lauf verdoppeln und den Schlitten in Schluchten und Abgründe hinabstürzen. Sind sie jedoch erst an das Ziehen gewöhnt, so legen sie alle ihre Wildheit ab und

ziehen den Schlitten, indem sie geduldig der Stimme ihres Führers folgen, über die unzugänglichsten Berge und an tiefen Abgründen stcher hin. Auch gewähren sie noch den besonderen Vorteil, daß sie sehr zuverlässige Führer sind, da sie auch in der größten Finsternis und beim heftigsten Schneegestöber den Ort ihrer Be­ stimmung ausfinden und sich fast nie verirren. Wenn eine weite Strecke zu durch­ wandern ist und die Reisenden, wie dies oft geschieht, die Nacht obdachlos mitten in einem Schneefelde zubringen müssen, so dienen ihnen die Hunde als ein Schutz­

mittel gegen die Kälte, indem sie sich im Kreise um sie herumlegen und sie durch ihre natürliche Wärme vor dem Erfrieren schützen.

Sibirien ist so schwach bevölkert, daß im Durchschnitt nur acht Menschen auf einer Quadratmeile leben, während in manchen Gegenden Europas die Qua­ dratmeile 6- bis 8000 Bewohner zählt. Am ödesten sind die östlichen Teile Si­ biriens, und in Kamtschatka und der Provinz Ochotsk ist die Einwohnerzahl so

gering, daß kaum ein Mensch auf die Quadratmeile kommt. Die russische Be­ völkerung Sibiriens besteht zur größeren Hälfte aus solchen, die zur Strafe dort­ hin verwiesen sind, indem die russische Regierung seit etwa hundert Jahren alle

zum Tode oder zu längerer Gefängnisstrafe verurteilten Verbrecher zur Ansiede­ lung oder zur Zwangsarbeit, namentlich in den Bergwerken, dorthin zu schicken pflegt. Man teilt die Verwiesenen in drei Klassen: die erste besteht aus schweren Verbrechern, welche zur Zwangsarbeit in Bergwerken oder Fabriken verurteilt sind; die zweite aus Ansiedlern, welche von der Regierung ein Stück Land und Ackergerät erhalten und in einem Dorfe unter der Aufsicht eines alten Soldaten

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leben; die dritte endlich aus Staatsgefangenen, welchen ein bestimmter Ort zum Aufenthalt angewiesen wird, wo sie keinem weiteren Zwang unterworfen sind, und wo sie sich, wenn sie wohlhabend sind, Bequemlichkeiten und Ver­ gnügungen mannigfacher Art verschaffen können. Tie Zahl der nach Sibirien

Verwiesenen läßt sich nicht mit Sicherheit angeben; doch nimmt man an, daß jährlich im Durchschnitt mehr als 10 000 Menschen dorthin geschickt werden, von denen etwa der dritte Teil wieder nach Europa zurückkehrt. In welcher Abge­ schiedenheit von der gebildeten Welt die meisten dieser Unglücklichen leben, beweisen die französischen Gefangenen, die im Jahre 1812 nach Sibirien geschickt wurden,

und von denen mehrere nach fast dreißigjähriger Gefangenschaft freigelassen wur­ den. Als diese alten Krieger mit ihren langen Bärten, die unter der Last des Unglücks ergraut waren, an den Grenzen Deutschlands erschienen, setzten sie alle, die mit ihnen sprachen, durch ihre Unkenntnis der bekanntesten Ereignisse in Er­ staunen; einige fragten nach Napoleon und weinten, als sie seinen Tod erfuhren, und allen waren auch die wichtigsten Begebenheiten der letzten Jahre, die jedem Kinde bekannt sind, ein Geheimnis.

Aus tw scnenbUbern.

19. Erster Anblick von Ostindien. Unter allen größeren Seereisen ist die nach Ostindien die unangenehmste, da

sie den durch das ewige Einerlei von Himmel und Wasser ermüdeten Reisenden nur äußerst wenige Ruheplätze darbietet. Ich hatte die Überfahrt auf einer eng­ lischen Fregatte gemacht und beeilte mich, als wir nach einer dreimonatlichen Fahrt auf der Reede von Kedgeree vor Anker gingen, mir einen Platz auf dem LotsenSchoner zu erbitten, der den Kapitän mit seinen Depeschen nach Kalkutta brin­ gen sollte. Am Tage nach unserer Ankunft begaben wir uns an Bord des Schoners und fuhren in einen Arm des prächtigen und reißenden Ganges hinein. Der Lotseu-Kapitän, der von Kindheit an zu dieser gefährlichen Küsten­ fahrt erzogen war, hatte ein höfliches und dienstfertiges Wesen, und da weder unser Kapitän noch irgendein andrer von unserer Gesellschaft je in Ostindien ge­ wesen war, so bemühte er sich, uns auf alle Merkwürdigkeiten des Landes auf­

merksam zu machen. Nachdem er uns mehrere gefährliche Stellen im Strom gezeigt hatte, wies er auf eine Sandbank und sagte dann: „Sehen Sie, meine Herren, auf dieser

Bank wäre mein Schiff vor einem Jahre fast zu Grunde gegangen, weil eine junge Dame den Einfall hatte, das Steuer regieren zu wollen.

Sie hatte das

Rad ergriffen, ohne daß der Steuermann sie daran zu verhindern vermochte, und

als ich sie auf die Folgen ihres unbesonnenen Benehmens aufmerksam machte, erwiderte sie wir uns der nötigt, das ehe sie Zeit

lachend, daß sie ebenso gut steuern könne als ich. Unterdes halten Sandbank mit entsetzlicher Schnelligkeit genähert; ich war also ge­ Rad so gewaltig herumzuschwenken, daß ich dem jungen Mädchen, zum Loslassen hatte, beide Hände verrenkte. Alle Passagiere waren

so erzürnt, daß fast eine Meuterei entstand; denn die junge Dame war in Ohn­ macht gesunken; als ich den Herren jedoch zeigte, daß das, was sic meine Un-

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Menschlichkeit nannten, ihnen allen das Leben gerettet hatte, beruhigten sie sich

wieder.

Und in der That war das Schiff kaum 1/3 m von der Bank entfernt

und wäre von der heftigen Flut im Augenblick des Anstoßens unfehlbar umgestürzt worden; dann aber würden die Alligators uns alle in wenigen Minuten verspeist haben. Das ist jedoch nicht nötig; denn Sie sehen, es gieb; Leichname genug, die den Strom auf- und abtreiben." „Woher kommen alle diese Leichen?" fragte einer von der Gesellschaft. „Das Gewässer, auf dem wir fahren," antwortete der Kapitän, „ist ein Arm des heiligen Stroms, des Ganges, und die Eingebornen glauben, daß sie auf ihm ganz sicher in den Himmel kommen; darum werden die Leute hier nicht beerdigt, sondern, so­ bald sie gestorben sind, in den Strom geworfen. Nicht selten werden auch Kranke

von ihren Verwandten an das Ufer gebracht und, wenn ihr Zustand sich nicht bessert, ins Wasser gestürzt, ehe sie noch tot sind. Ja man versichert, daß oft reiche Leute von ihren habsüchtigen Verwandten auf diese Weise bei Seite ge-

schaft werden. Bei der unglaublichen Anzahl von Leichen, die alljährlich in den Ganges geworfen werden, sind die Alligators eine wahre Wohlchat für das Land; denn sie reinigen den Strom und dadurch auch die Luft von den schädlichen Aus­ dünstungen. Was diese Tiere im Wasser thun, das leisten am Lande die zahllosen Geier und Schakals; denn nicht selten bleiben, wenn die Ebbe eintritt, tote Körper am Ufer zurück und werden dann von diesen Raubtieren verzehrt. Ohne Geier und Schakals, ohne Haifische und Alligators könnten wir hier nicht leben; das sind unsere Gassenkehrer. Sehen Sie wohl dort den schwimmenden Leichnam, auf dem ein Rabe sitzt? Das schwarze Ding dicht dabei, das aus dem Wasser hervorragt, ist der Kopf eines Alligators, der auf den Neger Jagd macht." Alle sahen nach der bezeichneten Richtung hin. Der Alligator, der einem schwarzen Holzstamme glich, hatte nach wenigen Augenblicken den Leichnam erreicht; der

obere Teil seines Nachens erhob sich aus dem Flusse, und das Tier verschwand mit seiner Beute in dem schlammigen Wasser. „Jene Landsitze dort," fuhr der Kapitän in seiner Erzählung fort, „gehören zu

einer Insel, die wegen ihrer Tiger und noch mehr wegen ihrer Kinderopfer berühmt ist. Haben Sie davon schon erzählen hören?" „Allerdings," sagten einige aus der Gesellschaft; „aber wenn Sie jemals Augenzeuge eines solchen Opfers gewesen sind, so werden wir Ihnen für eine Schilderung sehr dankbar sein." „Meine Herren, ich habe ein einziges Mal einem Kindesopfer zugeschaut, möchte es aber um keinen Preis in der Welt noch einmal thun. Überdies hat auch die Regierung dem Greuel Einhalt gethan. Sie wissen, daß die Hindus gegenwärtiges oder zu­ künftiges Unglück dadurch abzuwenden glauben, wenn sie ein Kind geloben, um die Gottheit zu versöhnen. An einem gewissen Tage pflegten sie sich, mit Blu­ men geschmückt, in Begleitung ihrer Priester und zahlloser Musikanten in Kähnen bei dieser Insel zu versammeln. Wer ihren fröhlichen Aufzug sah, mußte glau­ ben, daß sie sich zu irgendeinem heiteren Fest und nicht zu einem so blutigen und

grausamen Auftritt begaben.

Die Alligators und die Haie mußten übrigens mit

der Zeit und dem Orte genau bekannt sein; denn an dem Tage versammelten sie sich immer in zahlloser Menge an der Stelle, wo das Opfer stattfand. Es über-

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läuft mich immer noch ein Schauder, wenn ich daran denke. Das Geschrei der Menge, der ermutigende Zuruf der Priester, der betäubende Lärm der Musik, das Hineinschleudern der armen Kleinen in das Wasser, die Kämpfe der gefräßi­ gen Geschöpfe, welche vor den unnatürlichen Eltern die Kinder verschlangen, wäh­

rend die See weithin von Blut gerötet und mit Blumen bestreut war: welch ein Anblick! Mich schaudert bei der Erinnerung daran. Ein Umstand war aber noch entsetzlicher als alles Übrige. Eine der Frauen, die ihr Kind gelobt hatte, war von Muttergefühlen beseelt, die auch der blindeste Aberglaube nicht immer­ zu unterdrücken vermag; sie hatte die Erfüllung ihres Gelübdes von einem Jahr­ aus das andere verschoben, bis das Mädchen das 13. Jahr erreicht hatte. Nun aber kam Unglück über die Familie, und die Priester versicherten, daß die Gott­ heit beleidigt wäre und nur dadurch versöhnt werden könnte, wenn die Tochter­

geopfert würde. Es ist mir, als sähe ich das liebliche Mädchen noch jetzt vor mir. Die verblendeten Eltern nahmen ihr den goldenen Schmuck und das Obergewand, während sie vergeblich auf ihren Knieen um ihr Leben flehete. Das Boot, in welchem sie sich befand, war dem Lande näher als die anderen und in seichtem Wasser. Als man sie über Bord stieß, kam sie aufrecht auf die Füße zu stehen, entrann wie durch ein Wunder, ehe ein Hai oder Alligator sie fassen konnte, und erreichte das Ufer. Ich glaubte, sie wäre gerettet; aber nein, die unnatürlichen Eltern stiegen aus dem Kahn ans Land und stießen sie, während sie um Erbarmen flehte, mit langen Stangen in das Wasser zurück. Ein großer Alligator schwamm auf sie zu, und sie stürzte, sinnlos vor Schrecken, in die Strömung, als er eben im Begriff war, sie zu verschlingen. Ich glaube daher auch nicht, daß das arme Geschöpf von dem Augenblick an noch viel gelitten hat, obgleich ihre vorhergehende Todesangst entsetzlich gewesen sein muß. Dieser eine

Vorfall ergriff mich lebhafter als das Opfer der vielen anderen Kinder, die dem Götzen in den Nachen geworfen wurden." Die schauderhafte Erzählung hatte die ganze Gesellschaft lebhaft ergriffen,

und es verging eine geraume Zeit, ehe die Unterhaltung wieder in Gang kam. Die zahllosen Alligators, die wir im Flusse erblickten, brachten endlich das Ge­ spräch wieder auf diese von den Eingebornen als heilig betrachteten Tiere. „So viele Menschen," erzählte der Kapitän, „auch alljährlich durch diese gefräßigen

Ungeheuer ihren Tod finden, so laffen sich die Hindus doch dadurch nicht abhalten, indem heiligen Flusse zu baden; ja, selbst wenn täglich einer von der Gesellschaft verschwindet, so kehren die übrigen doch am nächsten Morgen zum Flusse zurück. Ich glaube, daß sie alle solche Unglücksfälle, während sie eine Pflicht erfüllen, als

Bestimmungen der Gottheit und als einen sicheren Paß in den Himmel betrachten. Erst vor einem Jahre haben einige Schurken diesen Glauben ihrer Landsleute zu ihrem Vorteile benutzt. Einige Meilen von hier ist eine Stelle, an der die Eingebornen jahrhundertelang ohne alle Gefahr gebadet hatten. Da verschwand plötzlich eine der badenden Frauen unter dem Wasser, und seitdem wiederholte sich dieses Unglück an jedem Tage. Man schob anfangs alles auf einen Alli­

gator; endlich jedoch entdeckte man, daß jene Spitzbuben sich in dem Rohr am andern Ufer des Flusses, der dort gerade sehr tief, aber nicht eben breit ist, mit Dielitz ii. Heinrichs, deutsch. Lesebuch.

5. Aust.

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einem Seil, an welchem ein Haken befestigt war, versteckt hatten. Einige von der Bande mischten sich unter die Badenden, tauchten unter und befestigten das Seil an die Beine einer Fran, die dann von den Spießgesellen am andern Ufer unter das Wasser gezogen wurde. Sie wundern sich vielleicht, weshalb die

Schurken sich so viel Mühe gaben; aber die vornehmen und reichen Frauen dieses Landes tragen außer andern Schmucksachen von großem Wert schwere gol* dene Ringe an den Armen und Beinen, die sie auch im Bade nicht ablegen.

Der vermeinte Alligator raubte daher immer nur reiche Frauen und Mädchen, und dieser Umstand führte endlich die Entdeckung herbei." Unterdes war die Ebbe eingetreten. Wir gingen daher einem großen Dorfe gegenüber vor Anker und fuhren mit einem Boot ans Land; hier verkündete uns das Zusammenströmen der Einwohner und das Geräusch einer lärmenden Musik, daß etwas Ungewöhnliches vorginge. Auf unsere Erkundigung erfuhren wir, daß sich der Rajah des Dorfes vor einigen Tagen nach einem entfernten Tempel be­ geben hätte, um ein Gelübde zu erfüllen, und daß er zur bestimmten Zeit nicht zurückgekehrt wäre. Die Einwohner trafen jetzt die Borbereitungen zu einem Tanz, um die Gottheit zu versöhnen; denn sie fürchteten, daß ihren Rajah irgend­ ein Unglück betroffen hätte. Bald hatten wir den Vorplatz einer Pagode erreicht, wo die Feierlichkeit vor sich gehen sollte. Der Tanz wurde von ungefähr 15 Män­ nern ausgeführt, welche vollkommen nackt waren, und deren langes, schwarzes Haar bis auf die Mitte des Leibes herunterhing. Sie machten mit großer Schnelligkeit die mannigfaltigsten Sprünge, indem sie alle Glieder verdrehten und Arme und Füße gleich Wahnsinnigen umherwarfen. Zuweilen schlossen sie einen Kreis und schüttelten dabei die Köpfe, so daß ihre langen Haare sich in der Mitte begegneten; dann aber sprangen sie wieder auseinander und verdrehten dabei die Köpfe mit einer Geschwindigkeit, daß unsere Augen fast geblendet wurden. Eine lärmende Musik begleitete alle ihre Bewegungen, und ein alter Brahmine mit weißem Bart, der an der Thür der Pagode saß, schlug mit einem Bambusrohr den Takt. Nach einiger Zeit gab er das Zeichen zum Jnnehalten; die Tänzer banden, in Schweiß gebadet, ihre triefenden Haare über der Stirne zusammen

und machten einer andern Schar Raum, welche dieselben Bewegungen wieder­ holte. „Ist das Religion?" fragte einer von unserer Gesellschaft, indem er sich mit Ekel abwendete. „So viel ist gewiß," antwortete ein anderer, „daß diese Leute es mit ihrer Art der Gottesverehrung aufrichtig meinen; sonst würden sie sich nicht so viel Mühe geben." „Es ist auch," sagte der Lotsenkapitän, „noch keineswegs das Unsinnigste von dem, was ihre Religion ihnen anbefiehlt. Ich war hier vor einigen Jahren Zeuge eines Auftritts, der fast ebenso schrecklich

war als das Kindesopfer, von dem ich Ihnen erzählt habe. Sie wissen, daß früher die Witwen der Brahminen sich nicht selten mit dem Leichnam ihrer Män­ ner verbrennen ließen; oft war es aufrichtige Treue und Ergebenheit gegen ihren Gatten, der sie hierzu veranlaßte, nicht selten aber war auch die Aussicht auf eine traurige, freudenlose Zukunft, die ihnen bevorstand, der Grund zu ihrem freiwilligen Tode; denn eine Witwe wird in diesem Lande allgemein verachtet; sie darf kein Geschmeide und keine hellen Kleider tragen; sie muß alle Dienste der

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Natur-, Länder- und Völkerkunde.

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niedrigsten Magd verrichten und aus dem bloßen Erdboden schlafen. Dagegen verhießen die Brahminen jeder sich opfernden Witwe die schönsten Freuden des Paradieses und führten durch dieses Versprechen so viele Frauen auf den Scheiter­ haufen, daß in Kalkutta allein in jedem Jahre gegen 300 Witwen den Feuertod

zu sterben pflegten. Unter Sang und Klang wurde das unglückliche Opfer mit dem prächtigsten Schmuck bekleidet und mit Blumen bekränzt; dann schritt sie in Begleitung aller ihrer Verwandten und Freundinnen einigemal um den Scheiter­

haufen herum, verteilte ihr Geschmeide unter die Umstehenden und bestieg mit freudigem Blick den Holzstoß, der zuvor, um ihren Tod zu beschleunigen, mit ge­ schmolzener Butter begossen war. Die Witwe, deren Verbrennung ich zufällig mit ansah, war eine junge, schöne Frau; neben ihr trug man ein Kind von eini­

gen Monaten, auf das sie bisweilen einen ängstlichen, unruhigen Blick warf. Anfangs verrieten ihre Züge eine erhabene Seelenruhe; während man aber den Holzstoß errichtete, zeigte sich in ihrem Benehmen eine auffallende Veränderung; je mehr sie aus ihrer künstlichen Betäubung erwachte, desto mehr verriet sich ihre

wachsende Angst. Plötzlich begann das Kind zu schreien, und nun riß sich die unglückliche Frau aus den Armen ihrer Freundinnen los, drückte das kleine Wesen mit leidenschaftlicher Heftigkeit an ihr Herz und flehte alle Umstehenden um Ret­ tung an. Die Brahminen sahen wohl, daß sie nicht länger zaudern durften, wenn der Mut der Witwe nicht gänzlich schwinden sollte; sie ließen daher ihr Kind und alle ihre Verwandten entfernen und führten die Unglückliche auf den Scheiterhaufen; sie aber sträubte sich heftig, und die Todesangst gab ihr solche Kraft, daß es den Priestern nur mit Mühe gelang, sie auf den Holzstoß zu brin­ gen. In demselben Augenblick wurde, um ihr Schreien zu übertäuben, mit allen Pauken und Trommeln ein entsetzlicher Lärmen erhoben. Die Unglückliche mußte sich niedersetzen und den Kopf ihres Mannes auf ihren Schoß legen; die Flam­ men loderten von allen Seiten empor und entzogen das arme Weib für immer

Noch einmal versuchte sie in ihrer Todesqual vom Scheiterhaufen hinabzuspringen, aber man hielt sie vermittelst langer Stangen fest. Ihre Leiden waren von kurzer Dauer; denn schon nach wenigen Minuten hatte die Heftigkeit des Feuers ihren Körper zugleich mit dem Leichnam ihres Galten verzehrt. Auch diese unmenschlichen Schauspiele sind jetzt von der englischen Regierung aufs strengste untersagt; doch sollen im Innern des Landes noch immer Beispiele von

unsern Blicken.

freiwilliger Verbrennung vorkommen." Während dieser Erzählung hatten wir unser Boot bestiegen und fuhren zu dem Schoner zurück, um noch vor dem Eintritt der Flut die Anker zu lichten, und indem wir den Strom weiter hinauffuhren, war der Kapitän eifrig be­

müht, uns durch Mitteilungen aller Art zu unterhalten. Unter anderem er­ zählte er uns von den empörenden Bußübungen, welche die Hindus sich in reli­ giöser Schwärmerei aufzulegen pflegen. Am weitesten gehen in ihrem frommen Wahn gewisse Bettelmönche, welche das Gelübde thun, sich nie zu waschen und zu kämmen, welche nie ihr Haar oder ihre Nägel verschneiden, welche jahraus jahrein unter freiem Himmel auf bloßer Erde schlafen und in den entlegensten

Wäldern von Wurzeln leben.

Indem sie so ohne Arbeit und ohne eine nütz-

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Natur-, Länder- und Völkerkunde.

licke Thätigkeit ein tierähnliches Leben führen, glauben sie sich die ewigen Freu­ den des Paradieses zu erwerben. Unausgesetzt nehmen sie die schrecklichsten Kasteiungen mit ihrem Leibe vor; sie bedecken sich mit Wunden aller Art, lassen sich auf Kohlen rösten, wälzen sich tagelang im Kot herum, stehen Monate hin­

durch auf einem Fuße oder schlagen die Hände so lange über dem Kopf zusam­ men, bis es ihnen unmöglich ist, sie wieder herunterzubringen. Einige halten ihre Hände Jahre lang aneinandergedrückt, bis die Nägel durch das Fleisch hin­ durchgewachsen sind; andere lassen sich mit Ketten an Bäumen aufhängen und, in der Luft schwebend, sich von den Vorübergehenden ernähren; noch andere legen sich in ein Grab, das gerade den Umfang ihres Körpers und nur eine kleine Öff­ nung hat, damit fromme Menschen ihnen die notdürftigste Nahrung zustecken können.

Als wir am zweiten Tage unserer Fahrt gelandet waren und am Ufer des Flusses ein Zelt aufschlugen, hatten wir Gelegenheit, einen solchen Büßer zu sehen. Ein dicker, eiserner Spieß, dessen Enden man mit einem schweren, eisernen Ringe zusammengeschmiedet hatte, war durch seine Wangen getrieben. Wir luden ihn ein, in unser Zelt zu treten. Dies that er; aber setzen wollte er sich nicht, da er ein Gelübde gethan hatte, 15 Jahre stehend zuzubringen. Indem er sich, um auszuruhen, gegen eine Zeltstange lehnte, erzählte er uns, daß er nun schon volle 13 Jahre seinem Gelübde getreu geblieben wäre. Anfangs war er genötigt gewesen, sich durch Seile an einen Baum binden zu lassen, wenn der Schlaf ihn überwältigte; auch waren seine Füße heftig angeschwollen und hatten ihm große Schmerzen verursacht; allmählich aber hatte er sich an das beständige Stehen ge­ wöhnt, so daß er jetzt, gegen einen Baum gelehnt, ebenso ruhig schlief wie andere in ihrem Bette. Bei dieser Bußübung hatte er es jedoch nicht bewenden lassen. Er zeigte uns seine zusammengedrückte linke Hand, auf deren Gebrauch er nun

schon seit 12 Jahren hatte verzichten müssen, indem die Nägel durch das Fleisch

und zwischen den Knochen hindurchgewachsen waren; außerdem aber hatte er, wie er versicherte, ein ganzes Jahr lang an dem Aste eines Baumes aufgehängt ge­

lebt. Diese Kasteiung schilderte er als die härteste, die er je erduldet hätte. Wir gaben dem Helden ein kleines Almosen, und er verließ uns, äußerst glücklich durch

unsere Freigebigkeit. Am folgenden Tage erreichten wir Kalkutta, und die Stadt der Paläste lag in all' ihrem Glanze vor uns ausgebreitet. Zuerst segelten wir bei der Festung vorüber, deren mächtige Werke senkrecht aus dem flutenden Strome emporstiegen; weiterhin breiteten sich die Schiffswerfte und ein unübersehbarer Mastenwald aus; dann trat die Esplanade mit ihren prächtigen Palästen und Baumgängen hervor; endlich wurde die ungeheure Häusermasse selbst sichtbar, aus der sich unzählige Türme, Kuppeln, Minaretts und Pagodenspitzen erheben, während der Hintergrund mit üppig grünenden Pflanzungen und weißen, zierlichen Landhäusern bedeckt ist. Ausland.

20.

Die Tigerjagd in Ostindien.

Das größte Vergnügen der Engländer in Ostindien ist die Tigerjagd.

So

groß aber der Nutzen ist, den die Jagd dieses blutdürstigsten und grausamsten

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Natur-, Länder- und Völkerkunde.

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aller Raubtiere den Bewohnern des Landes verschafft, ebenso groß sind auch die

mit demselben verbundenen Gefahren. Wir wollen einige der merkwürdigsten Jagdabenteuer mitteilen, wie sie in glaubwürdigen Berichten erzählt sind. Der Tiger hält sich gewöhnlich in der Nähe großer Flüsse auf, wo ihm die Bambuswälder, welche die Ufer bekleiden, zum Versteck dienen. Hier belauscht uud beschleicht er seine Beute ganz nach Katzenart und würgt sie, wenn er sich ihrer im Sprunge bemächtigt hat, an einem sichern Orte. Auch große Tiere trägt er mit Leichtigkeit im Maule davon; ja man hat gesehen, daß er Pferde und Büffel im schnellsten Laufe fortschleppte. So holte beim Marsch eines englischen Reitertrupps ein Tiger einen Reiter vorn Pferde herab und eilte so schnell mit ihm davon, daß man ihn nicht erreichen konnte. Ein anderer Tiger sprang auf einen Elephanten, packle den im Sattelsessel sitzenden Engländer, warf ihn über seinen Rücken uud entfloh. Alle Gewehre waren zwar auf das Tier gerichtet, aber aus Furcht, daß man den Unglücklichen treffen möchte, überließ man ihn seinem trau­ rigen Schicksal. Einige Minuten war dieser durch den Sturz von dem Elephanten seiner Besinnung beraubt; endlich aber erwachte er, von den Dorngebüschen an den Händen und im Gesicht zerfleischt, auf dem Rücken des fürchterlichen Tieres, erkannte seine schreckliche Lage, zog mit vieler Anstrengung eine seiner Pistolen aus dem Gürtel und feuerte sie auf den Kopf des Ungeheuers ab. Er schoß je­

doch fehl; das Tier biß noch tiefer ein und beschleunigte seine Sprünge. Nachdem er abermals auf einige Augenblicke seine Besinnung verloren hatte, wendete er seine letzte Kraft zu einem zweiten Versuche an, sich aus dem verderblichen Rachen zu befreien; er ergriff die zweite Pistole uud schoß mit besserem Erfolge dem Tiere durch das Schulterblatt ins Herz. Seine Freunde fanden ihn besinnungs­

los neben dem getöteten Tiger; eine unausgesetzte Pflege brachte ihn aber ins Leben zurück, und er bezahlte nur mit einem lahmen Beine die seltene Erfahrung, sich aus dem Rachen des fürchterlichsten aller Raubtiere gerettet zu haben. Ähn­ lich ging es einem jungen Offizier, der gleichfalls durch einen Tiger vom Elephan­ ten herabgerissen und fortgeschleppt wurde. Er hatte die Geistesgegenwart, mit der einen Hand das wilde Tier bei den Ohren zu fassen, während er mit der

andern eine Pistole aus der Tasche zog und sie gegen den Bauch des Tigers ab­ schoß; dennoch schleppte das wütende Tier seine Beute noch gegen 1000 Schritte fort, bis es, durch den Blutverlust erschöpft, dieselbe fallen ließ; jetzt erst kamen Teilnehmer der Jagd ihrem Freunde zu Hülfe und erlegten den Tiger vollends. Der Offizier, obgleich entsetzlich zerfleischt und von den Ärzten aufgegeben, ward

doch wiederhergestellt und zur Belohnung seiner Unerschrockenheit zum Kapitän befördert. Die Wunden, die der Tiger schlägt, sollen oft eine Viertelelle tief gehen und sind in der Regel tätlich, auch wenn das Opfer aus seinen Klauen gerettet wird; daher kommt der Glaube der Hindus, daß die Wunden der Tigerklaueu giftig sind. Wenn den Tiger der Hunger plagt, scheucht ihn auch das Feuer nicht zu­ rück, das die übrigen Raubtiere zu schrecken pflegt. Das beweist das unglückliche Schicksal eines Engländers, der sich mit mehreren Freunden im Schatten eines Gebüsches um ein Feuer gelagert hatte. Plötzlich hörte man das donnerähnliche

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Gebrüll eines Tigers, der in demselben Augenblick den Unglücklichen packte und fortriß. Alle schossen nach dem Tiere, zu dem sich die Tigerin gesellte und er­ legten es glücklich. Der Engländer schleppte sich, in seinem Blute gebadet, zum Feuer zurück; man bestieg eiligst einen Kahn und stieß vom Lande ab. In dem Augenblick erschien die Tigerin in voller Wut, um einen neuen Angriff zu wagen; sie blieb am Ufer stehen, so lange sie das Fahrzeug sehen konnte. Nach 24 Stun­

den starb der Unglückliche aller ärztlichen Hülfe ungeachtet. Ist der Tiger satt gefressen, wozu er etwa ein Schaf oder den sechsten Teil

eines Ochsen nötig hat, so wird er feig; er flieht dann den Menschen und sucht einen abgelegenen Ort auf, um in Ruhe zu verdauen. Ein Reisender erzählt, daß er einst beim Berfolgen eines Hasen in einen Busch getreten sei und dort zu seinem großen Schrecken einen Tiger getroffen habe. Das Tier erwachte in dem­ selben Augenblicke vom Schlafe und sah ihn mit grimmigen Augen an; dann aber erhob es sich, entfernte sich langsam und ging ruhigen Schrittes an mehreren Bedienten vorbei, welche gerade damit beschäftigt waren, die Pferde zu bepacken. Im Busche fand man einen halb aufgezehrten Ochsen. Auf einer andern Jagd wurde auf einen Tiger geschossen, den man im Gebüsch für einen Eber gehalten hatte; er kehrte um, ohne jemanden zu beschädigen. Auch hier fand man die Überreste eines Schafs.

Geistesgegenwart oder ein glücklicher Zufall rettet manchmal den Menschen vor dem Tiger: namentlich soll entschlossenes Ansehen ihn wie den Löwen in die Flucht treiben, da er gleich den meisten Tieren den Blick des Menschen fürchtet. So rettete sich ein Offizier, der ohne Waffen von einem Tiger überrascht wurde, bloß dadurch, daß er das Tier mehrere Stunden lang mutig ansah und es end­ lich zur Flucht brachte. Auch sonderbare, unerwartete Zufälle erschrecken oft den Tiger und jagen ihn in die Flucht. Es ist erwiesen, daß ein Engländer einst bei einer großen Jagd vom Elephanten herab gerade auf den Tiger fiel, der, nicht weniger erschrocken als der Engländer, in größter Eile das Hasenpanier ergriff. Ebenso verbürgt ist die folgende Begebenheit. Als im Mai des Jahres 1833 infolge heftiger Stürme eine große Überschwemmung entstand, gerieten die Be­

sitzungen eines Herrn Campbell in Bengalen in große Gefahr, und von 3000 Menschen, die auf denselben lebten, kamen nur 700 mit den: Leben davon. Diese hatten sich nämlich auf das Dach und den Balkon seines Hauses gerettet. Schon war das Haus gedrückt voll und kaum noch Platz für einen einzigen Men­ schen: da erschien ein ungeheurer Tiger mit niederhängendem Schweife und drängte sich mit allen Zeichen übermäßiger Furcht mit Gewalt unter die Menschenmenge. Als er in das Zimmer gekommen war, in welchem Herr Campbell sich befand, verkroch er sich in einen Winkel und streckte sich gleich einem Hunde nieder. HerrCampbell ergriff sogleich seine Flinte, lud sie ganz gemächlich und schoß das furcht­ same Tier tot. Wie zahlreich die Tiger noch immer in Ostindien sind, kann amtlichen Bericht eines kleinen Bezirks ersehen, nach welchem nicht weniger als 84 Personen ihr Leben durch Tiger verloren kommt es auch noch vor, daß ganze Dörfer, welche nahe an den

man aus einem in einem Jahre haben. Daher Bambuswäldern

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Natur-, 2ander- und Völkerkunde.

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stehen, von den Tigern so heimgesucht werden, daß sie endlich, von den Bewohnern verlassen werden. Wo ein Mensch durch einen Tiger getötet worden ist, wird eine Stange mit einem farbigen Tuche als Warnungszeichen errichtet und dabei eine Hütte gebaut. Die Reisenden versammeln sich hier zum Gebet; wird aber

an derselben Stelle noch einer von einem Tiger getötet, so halten sie ihn für­ einen Sünder und seinen Tod für ein Gottesgericht. Vor fünfzig Jahren mar­ in manchen Gegenden Ostindiens noch die Tigerprobe Sitte. Wenn nämlich zwei Menschen eines Verbrechens gleich verdächtig waren, so warf man beide einem Tiger vor; derjenige, den er zum Verspeisen auswählte, galt dann für schul­ dig. Oft richtet ein einziges dieser Raubtiere entsetzliche Verwüstungen an. So

hatte sich in einem Engpässe eine Tigerin mit zwei Jungen gelagert und würgte täglich mehrere Menschen; da sie auch gegen 12 Postboten zerriß, so hörte meh­ rere Wochen lang jede Verbindung zwischen den beiden zunächst gelegenen Städten auf. Die Straße war an dieser Stelle nur für Fußgänger zu passieren; daher­ wagte es niemand, das Ungeheuer auzugreifen, obgleich ein bedeutender Preis dafür ausgesetzt war. Ein Engländer reiste damals in seinem Palankin, von acht Leuten getragen, auf dieser Straße. Als die Träger die Tigerin von fern sahen, wollten sie natürlich nicht weiter; der Engländer jedoch, der kein Wort von ihrer Sprache verstand, bestand darauf, weiter zu reisen, und so ließen sie ihn endlich samt dem Palankin im Stiche und liefen davon. Der Reisende wäre verloren ge­ wesen, wenn nicht gerade ein Offizier mit 40 Soldaten erschienen wäre. Diese suchten sich der Tigerin zu nähern; sie zog sich jedoch ins Gebüsch zurück und hielt sich hier einige Tage verborgen. Sie setzte darauf ihre Räubereien fort, wurde aber endlich auf einem großen Treibjagen erlegt, nachdem sie gegen 50 Menschen umgebracht hatte. Zur Tigerjagd bedient man sich in der Regel der Elephanten; Pferde sind wegen ihrer Furcht dazu ganz untauglich; der Elephant dagegen ist dem Tiger an Kraft überlegen und besiegt ihn auch in der Regel, wenn man zwischen beiden einen Zweikampf veranstaltet. Er sucht dann seinen Gegner mit dem Rüssel in die Höhe zu schleudern; ist aber der Tiger so glücklich, ihn am Rüssel zu packen, so ist der Elephant verloren. Überdies empfehlen sich diese Thiere auch durch

ihre große Gelehrigkeit zur Jagd auf Raubtiere. Die indischen Fürsten stellen mit ihnen oft große Treibjagden an, zu denen außerdem noch viele Tausend Mann Infanterie und Kavallerie aufgeboten werden. Es wird daun ein großer, mit Gras

und Bambusrohr bewachsener Platz umstellt, und auf Bäumen und hohen Gestellen werden Schießhäuser errichtet. Das Gestrüpp wird nun in Brand gesteckt und die Tiger mit Trommeln und Schießgewehren aufgescheucht. Sie stürzen sich in der

Regel auf die Elephanten und werden mit Flintenkugeln und Lanzenstößen empfan­ gen, während man von den Schießhäusern aus die übrigen zu erlegen sucht. Zwar werden auf diesen kostspieligen Treibjagden oft 20 bis 30 Tiger geschossen; doch hat der Mut einzelner Europäer mehr als sie zur Ausrottung dieser Geißel aller ostindischen Länder beigetragen. So hat ein einzelner Deutscher eine ziem­ lich große Insel von allen Raubtieren gereinigt; man sagt, daß er an einem

Tage fünf Tiger mit seinem nie versagenden Gewehre erschossen hat.

Ein an-

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Na tur-, Länder- und Völkerkunde.

derer Privatmann hat, wie ein glaubwürdiger Reisender versichert, eigenhändig 360 Tiger erlegt. Weiß man den Ort, wo das Tier den Rest einer Mahlzeit verborgen hat, so wird in aller Eile ein Schießhaus dabei errichtet und aus diesem auf den Tiger gefeuert, wenn er zu seinem Raube zurückkehrt. Auch sucht man durch Gruben sich von diesen lästigen Gästen zu befreien. Im nördlichen Ostiudien ist die Sitte, daß man Blätter, die mit Bogelleim bestrichen sind, an

die Stellen streut, die der Tiger aufzusuchen pflegt. Wenn er dann auf die Blätter tritt und sie nicht los werden kann, bewegt er sich immer heftiger und bedeckt sich dabei noch mehr mit Blättern; zuletzt wird er wütend, fängt an, sich zu wälzen, verklebt sich dabei Nase, Augen und Ohren und erhebt ein fürchter­ liches Gebrüll. Die Eingeborenen eilen herbei und erschießen oder erstechen ihn

mit leichter Mühe. Wir wollen noch einige Beispiele von wunderbarer Rettung aus Tigerklauen anführen. Ein Kapitän, der in Bombay stand, jagte eines Tags mit zwei Freun­ den und stieß unvermutet auf einen Tiger; das Tier ruhte am jenseitigen Ufer

eines kleinen, aber tiefen Stromes. Der Schrecken der Jäger wurde durch den Anblick eines gräßlich verstümmelten menschlichen Leichnams vermehrt, welcher dem Tigex zur Seite lag. Plötzlich erhob sich das Ungetüm und stierte den An­ kommenden ins Gesicht, als wollte es sich eine Mahlzeit für den nächsten Tag aussuchen; sogleich feuerten alle, und das verwundete Tier fiel wie tot zur Erde. Der Kapitän zweifelte nicht, daß die Schüsse tätlich gewesen; er lud seine Flinte, da keine Kugel, mehr vorrätig war, mit gehacktem Blei und lief, so schnell er konnte, nach einer Furt, die etwa 40 Schritt entfernt war. Hier watete er durch den Strom und wollte eben die Äste eines Baumes erfassen, um an dem

steilen Ufer bequemer aufsteigen zu können, als der Tiger auf ihn los kam. Er hatte nur eben Zeit genug, seine Flinte noch einmal abzuschießen; dann warf er

sich platt auf den Boden. Obschon das Tier drei Kugeln und eine Ladung ge­ hacktes Blei im Leibe hatte, so zerrte es den Unglücklichen doch einige Minuten lang wie zum Spiele am Boden hin und her; endlich setzte es eine seiner un­

geheuren Tatzen auf den Mund seines Opfers. Der Kapitän ertrug den Druck eine Zeit lang mit großer Standhaftigkeit; als er aber endlich daran verzweifelte, daß der Tiger seine Tatze freiwillig zurückziehen würde, faßte er eine Klaue des Feindes mit den Zähnen und biß hinein, so stark er konnte. Diese kühne List

hatte zwar den erwünschten Erfolg; während aber der Tiger seine Tatze an sich zog, riß er einen Teil der Wange des Offiziers ab und zerbrach ihm das Nasen­

bein. Dann kauerte die Bestie, vielleicht etwas ermüdet, zur Seite nieder und stierte ihre Beute mit unverwandten Blicken an. Der Kapitän, obgleich blutend und heftige Schmerzen leidend, blieb noch eine ganze Weile liegen, ohne ein Glied zu rühren, bis er in geringer Entfernung seine Kameraden erblickte; jetzt raffte er seine ganze Kraft zusammen und schrie laut um Hülfe. Als die feigen Freunde

das Tier erblickten, entflohen sie in größter Eile; der Tiger aber fuhr auf, um den Kapitän bei der Kehle zu packen. Dieser parierte instinktmäßig den tätlichen

Biß, indem er seinen gebogenen Arm dem Feinde in den offenen Rachen steckte. Der Arm war in demselben Augenblick zerfleischt, und doch wußte der Unglück-

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liche auch diesen neuen Schmerz dermaßen zu überwältigen, daß er nicht einmal einen Klagelaut von sich gab. Jetzt ging der Tiger um ihn herum und beschnüffelte

ihn, als wollte er sich überzeugen, ob er noch atmete; dann entfernte er sich etwa 10 Schritte weit, kehrte aber mehrmals wieder, um seiner Sache vollkommen ge­ wiß zu sein. So oft der Tiger nahe war, mußte der Kapitän den Atem zurück­ halten- Endlich nach einer guten Stunde offenbarten sich die Wirkungen der

Kugeln mehr und mehr: der Tiger wankte, bekam Zuckungen und fiel tot zu Boden. Der Kapitän blieb noch ungefähr eine Stunde l-ang liegen; dann erhob er sich und versuchte sich fortzuschleppen, obgleich ihm seine Wunden jede Bewe­ gung fast unmöglich machten. Zum Glück traf er bald auf einige Bauern, die

brachten und aufs beste verpflegten. Er mußte fünf Monate lang unter großen Schmerzen das Bett hüten und genas erst, nachdem

ihn nach ihren Zelten

man lange an seiner Wiederherstellung gezweifelt hatte. Ein anderer brittischer Offizier wurde einst von einem Tiger ergriffen und fortgeschleppt. Zum Glück hatte er noch seine Jagdflinte umgehängt, deren Läufe zwischen den Zähnen des Tigers sich einklemmten und ihn daran hinderten, seine Kinnladen zu schließen. Aus Berdruß darüber ließ der Tiger endlich seine Beute fallen und lief allein weiter. Der Offizier kam mit einer geringen Berletzung davon und bewahrt die Mute als seine Retterin; an deul einen Laufe sieht man die Spur eines eingedrückten Tigerzahns. Ein fast unglaubliches Beispiel von Geistesgegenwart gab vor etwa 30 Jah­ ren ein Oberst in Bengalen, ein Mann, der bei einer Größe von mehr als 2 m ungeheure Körperkräfte besaß. Als er sich eines Tages auf der Jagd von seiner Gesellschaft getrennt hatte, bemerkte er Plötzlich einen Tiger, der sich eben

anschickte, auf ihn loszuspringen. Sogleich warf er seine Flinte fort, da er ver­ gessen hatte, sie wieder zu laden, empfing den Tiger mit ausgebreiteten Armen und drückte ihn im buchstäblichen Sinne des Wortes tot. Rur eine Tatze der Bestie war frei geblieben, und mit dieser hatte sie dem Obersten oas Fleisch von der Wange gerissen. Der Tiger war noch jung, aber doch stark genug, um einen unbewaffneten Menschen bezwingen zu können. Ein junger Offizier hatte einst auf dem Marsche durch eine wilde Gegend Halt gemacht, um zu frühstücken; da erschienen Abgeordnete aus einem der näch­ sten Dörfer und meldeten, daß ein großer Tiger bei Hellem Tage erschienen sei

und bereits mehrere Menschen getötet und gefährlich verwundet habe. Einige der besten Schützen hatten vergeblich nach dem Tiere geschossen, woraus man denn schließen wellte, daß die Kugeln oder das Tier behebt gewesen. Der Offizier

bewaffnete sich sogleich mit zwei Doppelflinten und eilte an den bezeichneten Ort. Bei seiner Ankunft im Dorfe fand er die ganze Gemeinde in einem Zustande großer Aufregung; jedermann sah den Tiger oder wollte ihn sehen, und alle Augenblicke gab es einen falschen Lärm. Die Menschen, die auf Bäume oder Dächer gestiegen waren, deuteten nach den verschiedensten Richtungen, während

andere von allen Seiten schreiend herbeiliefen und behaupteten, der Tiger ver­ folge sie. Endlich gelang es dem Offizier, den Ort zu ermitteln, an welchem der Tiger sich befand. Er entdeckte ihn in der Mitte einer kleinen Baumgruppe,

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Natur-, Länder-

und Völkerkunde.

welche zu dem Garten einer Bauernhütte gehörte.

Da die Hütten der Einge­

borenen von allen Seiten der Luft und dem Tageslicht zugänglich sind, so konnte der Offizier mit leichter Mühe seine Flinte durch das Flechtwerk der Wände stecken, und es gelang ihm, der Bestie eine Kugel in den Hals zu schießen. Vor Zorn und Schmerz laut aufbrüllend, sprang der Tiger auf die Hütte los; da er aber seinen Feind nicht sah, so kehrte er um und eilte einem Wäldchen zu, wäh­ rend die Bauern wie ein zersprengtes Heer nach allen Seilen ausrissen. Jetzt war es nötig, einen erhöhten Standpunkt zu gewinnen; denn das hohe Gras und Gestrüpp verbargen den Tiger. Während der Jäger zu diesem Zwecke auf einen Baum kletterte, kam der Tiger, der seinen Feind erblickt hatte, aus dem Gebüsche hervor. Zum Glück hatte unser Offizier noch Zeit genug, seine Flinte

anzulegen und zu feuern. Der Schuß streckte das furchtbare Tier zu Boden, aber es erhob sich wieder und drehte sich wie rasend im Kreise herum. Jetzt traf den Tiger ein Schuß aus dem zweiten Laufe, doch immer noch nicht tätlich. Die Wut des Tieres stieg immer mehr; allein es war eine blinde Wut, die sick­ erst an Bäumen anstobte und sich dann gegen die Zuschauer kehrte. Letztere standen sehr weit entfernt und nahmen, sowie der Tiger ihnen sein Antlitz zu­ kehrte, augenblicklich Reißaus. Der Offizier konnte von Glück sagen, daß das wütende Tier ihn unbeachtet ließ; denn mit seinen zwei ungeladenen Flinten wäre er in einer bösen Lage gewesen. Obgleich der Tiger zwei Kugeln im Halse und eine im Kopfe hatte, so schien er doch noch bei voller Kraft zu sein; endlich aber lief er in einen Kuhstall, wohin ihm der Offizier mit frisch geladenen Büch­ sen folgte. Während letzterer in die Bambuswand des Stalls ein Loch zu boh­ ren versuchte, stürzte der Tiger mit fürchterlicher Wut gegen die Wand und zwang seinen Feind zu rascher Flucht. Es gelang dem Ungeheuer, Kopf und

Vordertatzen durch die Verzäunung zu zwängen, worauf ihm der Offizier aus einer Entfernung von acht Schritten eine Kugel durch das Ohr schoß. Jetzt riß der Tiger die Hütte ein, sprang unter entsetzlichem Gebrüll heraus, rannte in einen benachbarten Garten und streckte sich im Gebüsch hin. Der unermüdliche Jäger verfolgte ihn auch dorthin und stellte sich zum Schuß hinter einen Baum; als der Tiger ihn bemerkte, fuhr er sogleich wieder empor, sah ihm knurrend ins

Gesicht, stürzte aber, von einer Kugel in den Nachen getroffen, tot zu Boden. Als die Bauern den Tiger erlegt sahen, kamen sie mit Knütteln herbei und schlu­ gen weidlich auf ihn los. Es war dies der größte Tiger, den man in jenem Dorfe je gesehen hatte. Von den fünf Wunden, die er empfangen, konnte jede

Dielitz.

für tätlich gelten.

21. Der Königstiger. Von allen Raubtieren ist der Tiger das fürchterlichste.

lang,

Er ist 2 bis 273 m

1 bis 17s in hoch, und die größte Länge des Schwanzes beträgt Im.

Der Leib ist länger als bei dem Löwen, die Brust ist weniger stark und der ganze Körper schmaler. Die Grundfarbe deS Tigers ist ein schönes Braungelb, das nach dem Bauche hin heller wird und endlich in ein reines Weiß übergeht; rein

VII.

Natu r-, Lauder- und Völkerkunde.

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weiß sind auch die Innenseiten der Füße, ein Fleck über jedem Auge, die Innen­ seiten der Ohren, die Wangen und die Lippen. Über diese Grundfarbe laufen von der dunklen Nückenlinie unregelmäßige, schwarze Querstreifen herab, welche schon an der Nasenwurzel beginnen und endlich am Schwänze Ringel bilden. Der gelblichweiße Schwanz hat 15 schwarze Ringe. Die Pupille des Auges ist rund, die Iris grünlich- oder bräunlichgelb; die Ohren sind abgerundet. Seinen Aufenthalt nimmt der Tiger im Dickicht der Wälder, im Gebüsch, im Schilfe, im hohen Grase, oft ganz in der Nähe menschlicher Wohnungen. Hier liegt er vor­ züglich kurz vor dem Aufgang oder nach dem Untergang der Sonne auf der Lauer. Die Tigerin bekommt je 2 bis 3 Junge, die man zähmen kann. Kaiser Heliogabal ließ zahme Tiger vor seinen Wagen spannen, um den Bacchus besser vorstellen zu können. Ein Richter begab sich, wie glaubwürdige Reisende ver­ sichern, noch vor wenig Jahren täglich nach dem Gerichtspalast in einem von zwei Tigern gezogenen Wagen. Diese Tiere waren so gezähmt, daß man sie wie ein Paar Droschkenpferde leiten konnte. Aus dem 13. Jahrhundert wird von einem Tatarenfürsten berichtet, der zahme Tiger gebrauchte, um wilde Schweine,

Esel, Bären und Hirsche zu fangen. Sie wurden in Käsigen auf Karren geführt, und es war wunderbar, mit welcher Wut und Schnelligkeit sie das Wild er­ griffen. Bei großen Festen lag dem Fürsten ein zahmer Tiger zu den Füßen. In Menagerieen vertragen sich diese Tiere oft auch sehr gut mit Hunden, wie zahlreiche Fälle beweisen. Das Baterland des Tigers umfaßt das südliche Asien vom Indus an und viele Gegenden Mittelasiens vom Kaukasus bis zum großen Ocean. Ist der Tiger auch nicht blutgieriger, nicht mordlustiger als alle anderen Katzenarten, ja, zeigt er auch dieselbe Art zu spielen und zu schmeicheln wie diese: so wird er doch durch seine Größe weit furchtbarer, um so mehr, da er nicht wie der Löwe nur die Ränder der Wüsten, sondern vielmehr zahlreich bewohnte Ge­ genden besucht. Seine Kraft ist ungeheuer, sein Gebrüll fürchterlich, und sein finstrer Blick flößt Entsetzen ein. In weiten Sprüngen stürzt er auf Menschen und Tiere los,

reißt sie nieder und sättigt sich zuerst mit dem Blute der Erwürgten. Die Wun­ den, die er dabei mit den großen scharfen Klauen seinem Opfer schlägt, sind zuweilen gegen 8 cm tief und so gefährlich, daß auch ein den Tatzen dieses Tieres entrissener Mensch nur selten vom Tode errettet, noch seltener aber gänzlich ge­ heilt werden kann. Die Muskelkraft ist so groß, daß er selbst ein Pferd mit

einem einzigen Schlage niederzustrecken und fortzuschleppen und mit einem Men­ schen im Rachen leicht davonzulaufen vermag; er wagt daher, seiner Stärke sich bewußt, Büffel, Pferde, junge Elephanten anzugreifen und selbst mit ausge­ wachsenen Elephanten zu kämpfen, obgleich er letztere nie angreift. Ein ausge­ wachsener Elephant schleudert den Tiger, der ihm etwa auf den Kopf gesprungen

ist, unter seine Füße, kniet auf ihn und zerquetscht ihn, oder er giebt ihm einen Stoß mit dem Fuße, der ihm die Rippen zerbricht und ihn vielleicht 20 Schritt weit fortschleudert.

Antilopen, Affen und andere kleinere Tiere verschmäht der

Tiger aber auch nicht, ebenso wenig den Menschen, indem er oft aus ganzen Scharen seinen Mann herausholt.

412

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

In gesättigtem Zustande ist er träge und feig, und leicht ist er dann in Schrecken zu setzen und von seinem Angriffe abzuhalten. Auch Unerwartetes ver­ jagt ihn. Einst saß eine Gesellschaft Engländer im Schalten eines Gebüsches, als sich ein Tiger zeigte, der durch das Gehölz herbeigeschlichen und schon zum Sprunge bereit war; eine Dame öffnete rasch ihren Sonnenschirm und fuhr ihm damit nach dem Gesicht, und der Tiger wich zurück. Vor der Maus soll der Tiger eine große Furcht haben. Ein Berichterstatter erzählt darüber folgendes. Ein schöner Tiger war in einen Käfig gesperrt, der mitten im Hofe frei stand

und so geräumig wie ein Zimmer von gewöhnlicher Größe war, so daß jener darin Sätze und Sprünge nach Gefallen machen konnte. Er verzehrte täglich ein Schaf, manches Stück Fleisch ungerechnet, welches ihm gelegentlich zugeworfen wurde. Unsere jungen Leute belustigten sich bisweilen damit, den Tiger zu necken; daun stürzte er sich gegen das Gitter seines Käfigs mit einem Gebrüll, daß die Pferde in den nahe gelegenen Ställen vor Schreck zitterten und kläglich wieherten. Die Neckereien, durch die man ihn reizte, waren verschiedener Art: bald stach man ihn mit einem zugespitzten Stocke, bald tautalisierte man ihn, indem man ihm ein Stück Fleisch vorhielt, das mau wieder zurückzog, ehe er es fassen konnte; aber unter allem das Unangenehmste war ihm, wenn man eine Maus in seinen Käfig laufen ließ. Nie kann eine verzärtelte Dame beim Anblick einer Spinne mehr erschrecken, als dieses herrliche Tier bei dem Anblick des kleinen Nagetieres. Am meisten belustigte es, wenn man die Maus mit dem Schwänze an das Ende eines Stockes band und sie ihm so ganz nahe vor die Nase hielt. Sowie er sie bemerkte, war er mit einem Satze auf der entgegengesetzten Seite. Wenn man die Maus auf ihn zutrieb, so kroch er in einen Winkel und drückte sich fest gegen

die Gitlerstäbe an; er zitterte, schrie und schien von so großer Angst gefoltert zu werden, daß er endlich unser Mitleid erregte und wir unser Spiel aufgabeu. Manchmal jedoch wollten wir ihn zwingen, an die Stelle zu gehen, wo die Maus sich befand, die nicht ahnte, welchen Schrecken sie erregte, und ganz unbesorgt umherlief, um Krümchen zu benagen; es kostete stets große Mühe, ihn in Be­ wegung zu setzen, und kaum gelang es uns durch einen in seiner Nähe ange­ zündeten Schwärmer; aber dann machte er, statt geradeaus zu gehen oder auch einen Umweg um den Gegenstand seiner Furcht zu nehmen, einen so hohen Sprung, daß er mit dem Rücken fast die Decke seines Käfigs berührte. Mannigfaltig ist die Art, sich dieser grimmigen Räuber zu bemächtigen. Man stellt Selbstschüsse mit vergifteten Pfeilen auf oder errichtet in der Nähe

von dem Orte, wohin der Tiger den Rest seiner Beute getragen hat, ein Schieß­ zelt, um aus demselben ihn, wenn er bei einbrechender Nacht zurückkehrt, mit

einem Kugelregen zu empfangen. Am seltsamsten ist aber wohl die im vorher­ gehenden Abschnitte beschriebene Weise, den Tiger durch hingestreute Blätter zu sangen, die mit Vogelleim bestrichen sind. Die meisten Tiger aber werden von einzelnen kühnen Schützen und auf großen Treibjagden erlegt. Zu solchen Tiger­

jagden werden von den indischen Fürsten oft viele Tausende von Menschen teils zu Fuße, teils zu Pferde, teils auf Elephanten beordert. In einem be­ stimmten Bezirke werden große, hohe Garne aufgestellt, zwischen welchen in ge-

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

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wissen Entfernungen auf Bäumen oder Pfählen Schießtürmchen angebracht sind;

da hinein begeben sich die besten Schützen, um von hier aus auf Tiger und an­ dere Raubtiere schießen zu können. Dann wird ringsum gegen die Garne hin das dürre Gras und Gebüsch angezündet und zugleich sämtliche Mannschaft um den Ort aufgestellt, welche, in dichten Gliedern vorwärts schreitend, unter dem fürchterlichsten Lärm, schreiend, trommelnd und schießend, das Wild gegen die Garne hintreibt. Nachrichten und Geschichten von Tigern und Tigerjagden sind

in zahlloser Menge vorhanden. In Griechenland hat man erst nach Alexanders des Großen Tode einen Tiger zu sehen bekommen; in Nom hat Pompejus den

ersten zahmen in einem Käfige gezeigt. Am schlimmsten haust er gegenwärtig noch in Vorderindien. Die Einwohner daselbst sind nämlich weder kräftig, noch mutig, und das hat wohl den Tiger so frech gemacht; auch fehlt es ihnen an manchen Orten noch an Feuerwaffen. Die Dornenhecken, welche alle Dorfbewohner dort um ihre Wohnungen zur Schutzwehr pflanzen, reichen nicht immer hin, die hungrigen Bestien zurück­ zuweisen und sich nachts in ihren Dörfern, besonders aber im Freien zu schützen; dazu haben sie weiter nichts als brennende Fackeln, die der Tiger wie alles Feuer allerdings scheuet; daneben flehen die arg bedrängten Menschen ihre Götter um Hülfe an oder bitten den Tiger selbst um Mitleid, indem sie ihn Onkel nennen: wie wenig aber das alles schützt, mag man daraus ersehen, daß die Tiger einst binnen zwei Jahren aus einer einzigen Ortschaft SO Einwohner­ aus der Mitte der Hütten weggeschleppt und verzehrt hatten, und viele Ortschaften ganz von Menschen verlassen und Lager der Tiger geworden waren. Besonders schlimm ergeht es denjenigen Völkerschaften, welche allein vom Ertrage der Wälder­ leben und beim Einsammeln den grimmigen Tigern gar nicht entgehen können; am übelsten sind aber die Hirten daran, die sehr häufig samt ihren Herden ver­ nichtet werden. Die Posten in Indien sind meistenteils durch Fußgänger be­ dient, und diese Briefträger würden ohne ihr Geleit von Lanzenträgern und lärmschlagenden Trommlern, zu denen an den gefährlichsten Stellen noch einige Fackelträger- kommen, nie sicher sein, und dennoch werden sie oft weggeschleppt. Selbst bei nächtlichen Truppenmärschen sind dort die Gefahren ganz eigener Art. So wurden von einem Corps einst in einer Nacht drei Schildwachen von Tigern

gefressen, und unzählige Nachzügler werden stets deren Beute. Hunger spornt sie an, selbst mitten in Reiterhaufen einzufallen. Als einst ein Kavallerietrupp bei Fackelschein ritt, sprang ein Tiger hinzu und streckte eins der Pferde mit einem Schlage zu Boden. Auf dem Marsche eines Linienregiments stürzte ein solches Tier auf ein Kamel und brach ihm gleichfalls mit einem Schlage den

Schenkel, und dem Bedienten eines Reiteroffiziers riß ein Tiger unterwegs das halbe Gesicht weg. Wer deshalb in Indien ein solches Untier erlegt, erhält eine Belohnung von etwa 15 Mark. Ein Herr, namens Johnson, reiste in Gesell­

schaft eines Freundes für einige Tage auf die Jagd; die Diener waren mit vier Ochsen voran und wohlbewaffnet. Plötzlich hörten die beiden Herren ein furcht­ bares Gebrüll, dem ein gellendes Angstgeschrei folgte. Sie spornten ihre Pferde und erreichten die Diener in dem Augenblick, als ein Tiger über eine nahe An-

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Natur-, Lauder- und Völkerkunde.

höhe rannte, einen treuen Diener Johnsons in seinem Rachen fortschleppend. Das Tier war plötzlich hervorgestürzt, hatte den Diener beim Schenkel ergriffen und war mit ihm, den Kopf auf der Erde hinschleifend, davongesprungen, und dies alles war so schnell geschehen, daß kein Widerstand möglich gewesen. John­ son sprengte mit geladener Flinte zu Pferde den Spuren des Tigers nach; diese bestanden aus dem Blute und den Haaren des armen Dieners und führten über eine englische Meile weit. Plötzlich sah er etwas unter einem großen Busche liegen, sprengte hin, fand aber nicht den Tiger, sondern die Überreste des halb aufgezehrten Dieners. In einem Cirkus war mit vielen anderen wilden Tieren auch ein Tiger­

paar zur Schau aufgestellt. Eines Mittags ging der Wärter wie gewöhnlich zum Essen in der Meinung, daß seine vierfüßigen Schauspieler wohlbehalten in ihren Käfigen wären; es war aber nicht so. Der Käfig, welcher den Tiger und die Tigerin enthielt, war in baufälligem Zustande, so daß das wilde Paar aus­ brach. Während ihr Wärter schmause, dachten Herr und Frau Tiger, komme ihnen gleichfalls eine Mahlzeit zu. Demgemäß und da sie frei waren, warfen sie ihre Augen in dem Gebäude umher wie ein Schmarotzer in einer Garküche und ersahen sich ein hübsches Lama zu ihrem Mittagsschmause. Bei Annäherung des Tigerpaars wurde das Lama scheu und grunzte laut auf. Das half nicht. Der eine von der Tigerfamilie sprang ihm an die Gurgel, warf es nieder und zapfte im Augenblick die Halsader an; die beiden Tiere schlürften nun mit großer Behaglichkeit und in herzlicher Eintracht das Blut des armen Lamas, das von diesen beiden katzenartigen Trunkenbolden bald ausgesogen war. Zu gleicher Zeit hatte der Wärter auch sein Mittagsmahl beendigt, sein Gläschen getrunken und rauchte seine Cigarre, als er wieder hereintrat und fand, was hier vorging. An­ fangs war er erschrocken, aber sein Mut verließ ihn nicht. Er wagte sich in den Kreis mit einer Schlinge, die er den beiden Bestien über den Kopf werfen wollte, während sie den letzten Tropfen Bluts noch aus dem Lama sogen. Die Tigerin, welche ihre Mahlzeit eher beendigte als ihr Gemahl, drehte sich herum, als der Wärter gerade im Begriff war, sie zu fangen, und machte Anstalt, auf ihn los­ zuspringen wie die Katze, wenn sie eine Maus erblickt. Der Wärter fühlte das

Gefährliche seiner Lage; aber mit großer Geistesgegenwart zog er sich hinter seinen Elephanten zurück, der von der andern Seite des Schauplatzes dem Auftritt mit Gleichmut zuschaute. Die Tigerin gab ihren Vorsatz nicht auf: sie machte einen Satz nach dem Wärter, als er vor dem Elephanten vorüberging; aber gerade in diesem Augenblick stieß das kluge Tier, welches, wie es schien, die Ge­ fahr seines Wärters bemerkte, seinen Rüssel mit der Schnelligkeit eines Pfeiles aus und schleuderte die Tigerin nach dem andern Ende der Bühne. Ein wunder­ licher Tumult erhob sich plötzlich im Saale. Alle Paviane und Meerkatzen rassel­ ten die Stangen hinan, und allen jagten die zornfunkelnden Augen der erbosten Tigerin Schrecken ein, den Elephanten, welcher seinen Rüffel nach seiner Helden­ that zierlich wieder einzog, und den Löwen ausgenommen, der in seinem Käfig

wie ein Hund auf den Hinterpfoten saß und mit großer Würde und Gemüts­ Der Wärter kam nun hinter dem Elephanten hervor, und

ruhe dreinschaute.

VII. Natur-, Länder- unb Völ kerkund e.

415

indem er sich seinem Rüssel näherte, murmelte er einige Worte, welche das ge­ scheite Tier richtig verstand. Der Elephant entfaltete seinen Rüssel, der Wär­

ter setzte sich darauf und wurde im Augenblick auf den Rücken seines Retters gehoben. Unter der Zeit hatte sich die Tigerin von der Schlappe, die sie erhallen hatte, wieder erholt und machte aufs neue Anstalt, nach dem Wärter zu springen, der auf dem Rücken des Elephanten saß; der Elephant gewahrte es und nahm dagegen seine Maßregeln. Aufs neue machte die Tigerin einen Satz nach dem Manne, und von neuem legte sich der Elephant mit seinem Rüssel ins Mittel und schleuderte die Tigerin zum zweiten Mal bis ans fernste Ende des Cirkus. Dieser Schlag verwundete die Tigerin in der Seite, und da sie fand, daß ein Versuch, des Wärters Pulsader anzuzapfen, vergeblich war, so kroch sie mit dem,

was sie davon getragen, in den Käfig. Während dies vor sich ging, hatte der Tiger angefangen sich umzuschauen, um zu sehen, was für Kurzweil er sich nun machen könne. Indem er den Kopf von dem Lama aufrichtete, war das erste, das ihm in die Augen fiel, der Löwe, der mit Stolz und Gleichmut in seinem Käsig saß. Der Tiger sprang mit großer Wut auf den Käfig zu, indem er eine Klaue durch zwei Stangen durchklemmte; in demselben Augenblick aber

machte der Löwe einen Griff nach des Tigers Vordertatze, packte sie fest mit seinen Zähnen, zog das ganze Bein in den Käfig hinein und hielt ihn, bis der Wärter die Gelegenheit ersah, sich von dem Rücken des Elephanten Herabschwang, mit seiner Schlinge auf den Tiger zulief und ihn in einem Augenblick festband. Nachdem dies geschehen war, ließ der Löwe seinen Fang großmütig los, und der Wächter schleppte den Tiger nach seinem Käsig. So wurde durch eine seltsame Verkettung von Umständen, in welchen der Verstand und der Rüffel des Ele­ phanten nicht weniger als die Zähne und die Gemütsart des Löwen eine wesentliche Rolle spielten, der Wärter aus den Klauen des Tigers und der Tigerin erlöst. Nccch Lenz und Reichenbach.

22

Der Kampf der Riesenschlange mit dem Tiger.

An einem Morgen sah'n wir nach den Palmen wieder; Da war's, als hing' ein Ast vom höchsten Gipfel nieder,

Ein Ast, der wunderbar sich auf- und niederzog, In Schlangenwindungen sich hin- und wiederbog.

Als den Verschlingungen wir zugesehen lange, Erkannten wir, es sei die Königsriesenschlange. An Dicke wie ein Mann und sechzig Fuß an Länge,

So schätzten wir, daß sie von oben niederhänge. In Lüften war der Schweif, verhüllt von Palmenlaub,

Der Rachen erdennah, weit aufgethan zum Raub, Weit aufgethan zum Raub ohnmächt'ger kleiner Tiere, Die ihr Verhängnis trieb zu diesem Jagdreviere. Sie schien, am Zorngebrüll des Tigers war's zu hören, Zu schmälern seine Jagd und sein Geheg zu stören.

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VII.

Natur-, Land er - und Völkerkunde.

Da trat er, wie zum Kampf gerüstet, selbst hervor, Und jene ringelte sich in sich selbst empor. Doch als grad' unter ihr er hob den stolzen Nacken, Schoß sie ihr Haupt herab, von hinten ihn zu packen. Er krampfte sich zurück, als sie mit einem Biß Ein ungeheures Stück vom bunten Fell ihm riß. Daran hielt sie ihn fest, ließ dann von oben nieder

Stets mehr und mehr von sich und schnürt' ihm alle Glieder; In ihrem Nachen ward des seinigen Geheul Erstickt, und atemlos preßt' ihn der Niesenknäul. Zu schwach doch, daß ihr Druck allein den Feind zermalme, Zog sie zur Hülfe bei den Schaft der Kokospalme. Sie zog zum Schaft hinan den Tiger, und ein Krach War hörbar, als sie ihm die eh'rnen Rippen brach. Am Boden lag er nun, sie aber kampfesmatt Zog sich, um auszuruhn, hinauf ins Palmenblatt.

Einwürgend hatte sie den Worüber Nacht es ward, Am dritten Morgen kam Bon Weib und Kind, da

Da Die Sie Zu

Tag vollauf zu thun, und wir sie ließen ruhn. herbeigeströmt die Scharnun vorbei war die Gefahr.

lag die Siegerin, die staxre, schlaffe, matte, an dem Siegesmahl sich übernommen hatte. konnte sich getraun, den Tiger ohne Graun töten, aber nicht, den Toten zu verdaun.

23.

Rückert.

Die Schlangen.

Die Schlangen, welche sich von den übrigen Amphibien durch ihren fußlosen, mit Schuppen bedeckten Körper unterscheiden, sind unter allen Amphibien mit Recht für den Menschen die ekelhaftesten und auch die gefährlichsten.

Außerdem daß es

unter ihnen welche giebt, die große Tiere, z B. Stiere, wie viel mehr Menschen verschlingen können, sind auch viele von ihnen so giftig, daß ihr Biß nach wenigen Minuten tötet. Dieses Gift ist in eigenen Drüsenbläschen oben und hinter den hohlen, gebogenen, wie Katzenkrallen verschiebbaren und zurückziehbaren Gift­ zähnen enthalten. Die Schlangen, besonders die giftigen, haben meist einen häß­ lichen, zum Teil etwas moschusarügen Geruch; manche, besonders die ungiftigen, haben sehr bunte, mannigfaltige Farben. Die Klapperschlange, die sich durch häutige, dürre, gliederweise ineinander­

gefügte Klapperstücke am Schwänze unterscheidet, ist eine der abscheulichsten und furchtbarsten unter allen Schlangen, und es ist gut, daß sie so weit von uns in Amerika und Afrika lebt. Sie wird zuweilen 2 m lang und 50 em im Umfang

gefunden.

Ihre tückischen Augen funkeln wie glühende Kohlen; die schwarze, ge­

spaltene Zunge bewegt sich immer hin und her. Sonst ist die Farbe des Tieres traurig und häßlich grau. Jedes Jahr setzt sich am Schwänze ein neues

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

417

Klapperstück an. Alte Kolonisten in Amerika erinnern sich, daß sie sonst welche mit 41 Klapperstücken gesehen haben; jetzt findet man sie nur noch mit 12. Zum Glück verrät sich die Nähe dieses furchtbaren Tieres, dessen Biß einen Men­ schen in wenig Minuten tötet, teils durch den abscheulichen Geruch, den eine

solche Schlange von sich giebt, noch mehr aber durch das Klappern des Schwanzes bei jeder Bewegung; ist es aber nasses Wetter, dann klappert sie nicht und ist so am gefährlichsten. Zuweilen werden wohl Menschen, die von Klapperschlangen gebissen waren, durch die Anwendung der besten Mittel wieder geheilt; aber sie behalten dann für immer an den gebissenen Teilen Schmerzen, die von Zeit zu Zeit heftig wiederkommen; auch bleibt eine Schwäche zurück. Die Klapperschlangen vermehren sich sehr stark, und die Kolonisten, die zwar manche, besonders wenn sie im Win­ ter scharenweise in ihren Löchern erstarrt liegen, umbringen, würden nicht im­ stande seht, sich ihrer großen Anzahl zu erwehren, wenn nicht wahrscheinlich diese Tiere selbst untereinander oft uneins wären, sich bissen und dadurch gegenseitig vergifteten und töteten, und wenn nicht die Sumpfvögel und andere Tiere, so­ gar das zahme Schwein, viele vertilgen hülfen. ! Nach älteren und neueren Nach­ richten soll diese Schlange wirklich eine gleichsam bezaubernde oder betäubende Eigenschaft gegen kleine Tiere, von denen sie lebt, ausüben, wodurch diese immer näher zu ihr hingezogen und so leicht von ihr verschlungen werden. Die Riesenschlange ist schon viel buntfarbiger, auch nicht giftig wie die Klapperschlange; aber ich möchte doch keine in meinem Hause haben und nock­ weniger eine anbeten, wie manche abgöttische Völker thun, die gerade nur das sklavisch ehren, was sie fürchten müssen, nicht, wie wir, den Gott, der uns liebt, und den wir wieder lieben. Sie wird in den heißen Ländern, in denen ihre Heimat ist, manchmal gegen 10 m lang und so dick, daß Reisende, die durch Grasgegenden kamen, wo eine solche Schlange in der kühlen Zeit der Regen­ monate erstarrt lag, sie für einen Baumstamm hielten, aber freilich erschrocken genug davonflohen, wenn sie bemerkten, daß sich der vermeintliche Baumstamm zu bewegen anfing; denn diese gefräßige Schlange frißt nicht bloß Menschen, sondern auch große Tiere und würgt sie in ihren weiten Rachen hinunter. Wenn sich aber eine solche Schlange recht satt gefressen hat, dann liegt sie einige Zeit ganz still und kann sich wie gelähmt gar nicht bewegen. Dann suchen die Neger oder Indianer sie auf und schlagen sie tot, ziehen ihr das bunte Fell ab und ge­ nießen das Fleisch, das so fett sein und so schmecken soll wie Schweinefleisch. Übrigens lassen sich auch zu andern Zeiten die Neger und Indianer mit der Riesenschlange in siegreiche Kämpfe ein. Die Natter hat am Rücken kleine, am Bauche größere und breite Schuppen, die bis zum After ungeteilt, hinter dem After aber immer in zwei geteilt sind. Von dieser Tiergattung leben besonders in den schönen Palmenländern, wo es so tausendfältige bunte Blumen, herrliche Früchte und kostbare Edelsteine giebt, so viele furchtbar giftige Arten, deren Biß in wenig Minuten tötet, daß einem

schon dies allein jene schönen Länder gar sehr verbittern kann; denn oft, wenn man seine Hand nach einer prächtigen Blume oder Frucht ausstreckt oder sich auf

einen smaragdgrünen Rasen niedersetzen will, schießt eine giftige Schlange heraus Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb.

5. Aufl.

27

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VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

und nimmt alle Freuden samt dem Leben selber weg. Ja nicht einmal in seinem eigenen Hause ist man davor sicher, und jene Schlangen verbergen sich selbst in den Schlafkammern, fahren plötzlich, wenn man eine Thür öffnet, auf einen los

und verstecken sich selbst unter den Bettstellen.

Darum will ich denn doch lieber

in meinem Lande bleiben, wo es zwar keine Palmen- und Bananenfrüchte, aber doch auch nicht so viele giftige Schlangen, Skorpione und Tiger giebt, und es ist doch gut, daß jedes Land seine Freuden, aber auch jedes in demselben Ver­ hältnis seine Plage hat, und daß, wo viel Lust, auch viel Last ist. Freilich ist auch die Furcht vor giftigen Schlangen zu überwinden, und in den Ländern, wo es die vielen giftigen Arten giebt, gewöhnen sich die Menschen am Ende so sehr daran, daß ein Missionär, der auf den Nikobarinseln wohnte, mit seinen dicken Lederstiefeln, einem Stocke mit einem Stachel und einem großen Filzhut bewaffnet, ordentlich auf den Fang der giftigen Schlangen, die er für Naturalien­ liebhaber in Europa sammelte, wie auf eine Lustjagd ausging. Er reizte die

Schlange mit dem Stocke zum hielt er seinen großen Filzhut hinein, und nun riß er ihr die laden stehen und sich in den Filz

Zorn; wenn diese dann auf den Stock lossprang, wie einen Schild hin, die Schlange biß wütend krummen Giftzähne, die ganz locker in den Kinn­ verwickelt hatten, heraus und brachte das Tier um. Schubert.

24. Die Sahara. Das ganze nördliche Afrika ist mit Ausnahme der Küstenländer von einer Sandwüste bedeckt, welche sich fast 700 Meilen in die Länge und 200 Meilen in die Breite erstreckt. Die Sahara heißt bei den Arabern das Meer ohne Wasser; denn sie gleicht einem Sandccean, der wie das Meer seine Wellen und seine Stürme hat. Auch Inseln fehlen ihr nicht; denn hier und da wird die Wüste von Oasen unterbrochen, angebauten, wasserreichen Landstrecken, in denen Quellen und Bäche die Vegetation unterhalten, und welche der Reisende mit eben der Freudigkeit begrüßt, mit der ein vom Sturm verfolgter Schiffer das rettende Eiland auffindet. Das Kamel ist das Schiff der Wüste; denn dieses Tier allein macht es dem Menschen möglich, die unermeßliche Sahara zu durchreisen. Wie der Pirat den weiten Ocean, so durchstreifen räuberische Beduinen die Wüste, um die unglücklichen Reisenden zu überfallen und auszuplündern; daher vereinigen sich diese in der Regel zu großen Gesellschaften oder Karawanen, welche oft aus vielen tausend Kamelen bestehen und ihre Führer, ihre Abteilungen und ihre

durch das Alter geheiligten Gesetze haben. So gilt überall der Grundsatz, daß eine Karawane, die mehrere Tage bei einem Brunnen geruht hat, der später­

kommenden den Lagerplatz räumen muß. Oft kommt aber in solchem Falle das Recht des Stärkeren zur Anwendung, und dann giebt es blutige Kämpfe. Ver­ siegt gar ein Brunnen, der jahrhundertelang geflossen, so gerät die nächste Ka­ rawane in unbeschreibliche Not. Da werden dann die Kamele geschlachtet, damit ihr Blut und der Wasservorrat, den sie im Magen haben, das Leben der Men­ schen friste. Oft verschmachten ganze Karawanen, und täglich geben Menschennnd Tierskelette dem Wanderer Gelegenheit, an den Tod zu denken. Eine andere

VII. Natur-, Länder- und Völkerkunde.

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Gefahr droht dem Reisenden in den Sandstürmen. Ein Engländer, der vor einigen Jahren durch die Wüste reiste, wurde von einem solchen Sturm über­ fallen und entging nur mit Mühe einem qualvollen Tode. „Der feine Sand, der den Boden bedeckte," erzählt er, „erhob sich plötzlich in solchen Massen, daß

die ganze Atmosphäre damit angefüllt war und wir kaum einige Ellen weit sehen konnten; die Sonne war ganz verfinstert, und uns überfiel ein so peinliches Ge­ fühl, als würden wir erstickt oder erdrückt. Kamele und Pferde wollten sich nicht von der Stelle bewegen, und uns selbst quälte ein so brennender Durst, daß wir kein Glied rühren konnten. Mit unsäglicher Anstrengung erreichten wir endlich eine Reihe unregelmäßiger Hügel, die uns wenigstens so weit schützten, daß wir etwas aufatmen konnten; in der Nacht aber erhob sich wieder ein solcher Sturm, daß unser Zelt umgerissen und wir ganz mit Sand bedeckt wurden." Wenn eine Karawane in Bewegung ist, so kann sie sich um diejenigen, welche sich verspäten oder zu schwach sind, um ihr zu folgen, durchaus nicht kümmern. Man stelle sich nun das Los eines Unglücklichen vor, der vor Durst oder Er­ müdung sich nicht mehr bewegen kann, dessen Glieder in Fieberhitze brennen! Er­ hofft, daß ein Augenblick Ruhe seine Kräfte wiederhersteüen wird; er sieht seine Gefährten teilnahmlos vorüberziehen; endlich ermannt er sich, um dem Zuge zu folgen; aber seine schmerzenden Glieder sinken zusammen! Die Karawane ist vor­ übergezogen; er sieht nur noch von ferne eine wandelnde Linie; jetzt ist sie nur noch ein Punkt, und endlich ist auch dieser verschwunden. Seine irrenden Blicke suchen umher und sehen nichts als die endlose Ode. Er legt sich nieder, um zu sterben, und nach einigen Tagen ist von seinem Leichnam, den die Glut des Bo­ dens schnell vertrocknet, nichts mehr übrig als ausgebleichte Gebeine. Aber nicht bloß den verirrten, einsamen Wanderer trifft dieses Los. Oft kommen ganze Ka­ rawanen in der Wüste um, und ungeheure Knochenhaufen zeigen dann späteren Reisenden die Stelle, wo die Unglücklichen verschmachteten; denn wenn sich der Glutwind erhebt, so ist die Wüste ein bewegtes Meer und gefährlicher als der tobende Ocean. In wenig Stunden ist ein Berg aufgetürmt, wo vorher eine Ebene war; doch nicht lange, so wird der Berg wieder durch die Luft zerstreut. Nicht selten folgt auf den glühend heißen Tag eine kalte Nacht, die dem schutzlosen Reisenden ebenso große Qualen bereitet wie die Hitze des Mittags. Auch bittere Täuschungen erfährt man in der Wüste; denn durch eine eigentümliche Luft­ spiegelung glaubt man oft ganz in der Nähe einen See oder einen Fluß zu sehen, der sich dann immer weiter entfernt und endlich ganz verschwindet. Auch er­

scheinen mittags durch die Dünste alle Gegenstände vergrößert. So sieht der müde Reisende in der Ferne einen Baum, in dessen Schatten er auszuruhen und we­ nigstens auf kurze Zeit der brennenden Sonnenglut zu entgehen hofft; sobald er aber näher kommt, erkennt er seine Täuschung; denn was ihm ein Baum zu sein

schien, ist ein kleiner Strauch, der sich kaum über den Boden erhebt. Dielitz.

25.

Wüstenreise.

Der Morgen bricht über die Wüste heran. Die Karawane schreitet in lan­ gem Zuge dahin und fördert ihre Schritte nach dem einförmigen Tone der Pfeife. 27*

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VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

Die Kamele sind mit Ballen beladen und mit Tüchern bedeckt; auf ihnen sitzen die Mauren mit bunten Turbanen und Mänteln, mit Dolch und Säbel bewaff­ net; den Kamelen zur Seite gehen die schwarzen Sklaven; voran reitet ein brau­ ner, hagerer Araber, der gebietende Herr des Zuges. Das bunte Gewimmel ist in eine Wolke von Staub gehüllt. Die Sonne steigt nun empor, und die Kara­ wane wendet sich ihr entgegen zum Gebet. Die Glut der Sonne vermehrt sich; die wunden Sohlen schmerzen, die Glieder ermatten, ein brennender Durst peinigt alle. Kein Strom, kein Grün, kein Strauch weit und breit; auf heißen, schattenlosen Pfaden schreitet die Kara­ wane vorwärts. Da läßt endlich, mitten in der Wüste verborgen, ein Quell seine leise Stimme vernehmen; das Kamel hat ihn aus der Ferne schon gewittert und schreitet rascher voran, ihm nach lustig der ganze Zug. Plötzlich stehen die Tiere still und bäumen sich vor Lust; ein Strahl der Freude glänzt auf allen Ge­ sichtern: man ist an der Stelle. Der ganze Zug wird in einen Kreis gestellt; die Quelle erquickt Menschen und Tiere; man schlägt die Zelte auf und lagert sich für die Nacht. Ein paar trockene Dornbüsche und gesammelter Kameldünger geben Holz und Kohlen zum Feuer. Das Wasser aus den frisch gefüllten Schläuchen schmeckt vortrefflich. Einige Araber backen Brot, indem sie den Teig aus Bohnenmehl in einer hölzernen Schüssel kneten und die dünnen, runden Scheiben in heiß gemachtem Sande gar werden lassen; noch heiß verschlingen sie die Hungrigen und trinken Kamelsmilch dazu. Ein brennendes Not breitet sich plötzlich über den Himmel und die Sand­ fläche aus; die Sonne ist untergegangen. Die kurze Dämmerung verschwindet schnell, und der Mond wirft sein bläuliches Licht über die einsame Landschaft; es ist Nacht unter dem Zelte. Die Pferde wiehern, die Kamele schreien, die Feuer­

rauchen, das Licht der Lampe schimmert durch das gestreifte Zeug des Zeltes. Gedanken an ein ruhiges Leben, an die Heimat, die Familie steigen in der Seele

auf, während man müde das glühende Haupt auf den Sattel niederlegt, der statt des Kopfkissens dient. Um die rotflackernden Feuer lagern sich draußen die braunen Araber in ihren weißen Mänteln; die einen schlafen, die andern erzählen sich Märchen oder selbst erlebte Abenteuer von überfallenen Karawanen oder ge­ plünderten Reisenden. Es wird dem Fremden ganz unheimlich unter diesen Räu­ bern, die indes, wenn sie ihren Lohn für das Geleit erhalten haben, die zuver­ lässigsten Menschen sind. Morgens, während die Pferde aufgezäumt werden, reißen zwei oder drei Araber die Pflöcke des Zeltes aus; sie rütteln an dem Pflocke, welcher als Pfeiler dient, er fällt, und das weit ausgebreitete Tuch, welches eine ganze Familie von

Reisenden bedeckt hat, gleitet und fällt selbst zur Erde herab als ein kleiner Ballen Zeug, den ein Kameltreiber unter den Arm nimmt und an den Sattel seines Tieres hängt. Es bleibt auf dem leeren Platze, auf welchem man soeben

noch wie auf einem Wohnorte sich eingerichtet hatte, nichts übrig als ein kleines verlassenes Feuer, das noch raucht und bald in der Sonne erlischt. Sind als­

dann die ledernen Schläuche frisch gefüllt, die Zelte abgebrochen und die Ladungen

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den Kamelen aufgeschnallt, so ertönt die Pfeife wieder in lustigen Weisen, die Reise geht weiter.

und

Wochen schwinden vorüber. Eine Einöde verliert sich in die andere; heiße Tage folgen auf kalte Nächte. Den Tag über geht der Müde im Schatten des Kamels; es wendet sich gegen ihn und leckt ihm die Hand: in der Nacht er­ wärmt es ihn. Die Schläuche werden leer, die Tage heißer: die Schritte der Reisenden erlahmen. Da wird das treue Kamel der Netter seines Herrn; mit seinem Blute erkauft es das Leben des Gebieters. Das Öffnen einer Ader am Halse giebt dem Tiere den Tod; das herausquellende Blut wird flüssig ge­ trunken oder, durch Kochen verdickt, gegessen. Das krystallhelle Wasser im Magen des geschlachteten Kamels labt die Durstenden, welche nun Kraft genug haben, das grüne Gestade des Sandmeers zu erreichen und ans Ziel ihrer Reise zu gelangen.

L^uckhard.

26.

Gelungene List.

Während des letzten Krieges segelte ein mit Seide und Baumwolle reich be­ ladenes Schiff von Smyrna nach Marseille; unweit der französischen Küste hatte es aber das Unglück, einem englischen Kaper zu begegnen, dem es nicht entkommen konnte. Ohne die Geistesgegenwart des Kapitäns war es verloren. Als dieser sah, daß die Flucht unmöglich war, ließ er die ganze Mannschaft in den Schiffs­ raum hinabsteigen und niemand auf dem Verdecke als einen verschmitzten Ragu-

f ein er, dem er seine Rolle schnell einprägte. Der Engländer näherte sich und feuerte eine Kanone ab, worauf der Ragufeiner ein weißes Tuch als Notzeichen wehen ließ. Jetzt kam der Kaper noch näher und befahl ihm durch das Sprachrohr, die Flagge zu streichen. „Ach Gott, mein Herr!" antwortete der schlaue Matrose, „dazu habe ich die Kraft nicht mehr. Kommt, nehmt das Schiff; ich bin nur ein armer Reisender und ganz allein auf dem Verdecke. Wir kommen von Smyrna; der Kapitän und die halbe Mann­ schaft sind unterwegs gestorben. Unten im Raum liegen noch sechs Pestkranke; Gott weiß, ob sie noch leben. Ich selbst befinde mich schon gar nicht wohl und bitte euch um Gottes willen, mich zu retten!" „Geh zum Teufel!" schrie der

Kaperkapitän; „ich möchte deinem Schiffe nicht zu nahe kommen, und wenn es mit den Schätzen Perus beladen wäre." „Aber ich bin ja nicht euer Feind," er­ widerte der Ragusaner, „die Franzosen sind alle tot oder liegen in den letzten Zügen. Laßt mich um aller Heiligen willen nicht hülflos!" Da setzte der Kaper ein Boot aus, ließ ihm an einer langen Stange einige Flaschen Weinessig reichen

und entfernte sich dann so schnell als möglich. Am andern Tage lief das französische Schiff, auf dessen Verdeck nun wieder Leben war, glücklich in Marseille ein. Aus Dielitz' Skizzenbuch.

27.

Eine Fahrt auf dem Missisippi.

Nach einer günstigen, obwohl etwas langsamen Fahrt erreichten wir am Weihnachstage die Mündung des Missisippi. Der Anblick dieses gewaltigen Stromes, der seine trüben Wassermassen in das tiefe Blau des Golfs von Mexiko ausströmt,

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bewies uns, ehe wir noch irgendeinen Gegenstand an seinen Ufern unterscheiden konnten, daß wir uns dem Lande näherten; daher schauten wir mit Vergnügen auf die trüben Gewässer, die uns jetzt aufnahmen; denn so ungern wir uns von den klaren, blauen Wellen trennten, deren wechselnde Gestalten uns mannigfache Unterhaltungen gewährt hatten, so waren wir doch durch eine siebenwöchentliche Seereise zu sehr ermüdet, als daß wir nicht jedes Zeichen von der Annäherung des Landes freudig begrüßt hätten. Nie habe ich eine so grauenvolle Scene gesehen als diese Einfahrt in den Missisippi; nur ein einziger Gegenstand, der Mastbaum eines Schiffes, welches hier vor langer Zeit gescheitert ist, ragt aus der wogenden Wassermasse hervor, ein ernster Zeuge der Vernichtung, welche hier den unkundigen Schiffer bedroht. Nach und nach erblickten wir Schilfgruppen von ungeheurer Höhe, und zahlreiche Flüge Pelikane standen auf deu laugen, schlammigen Inseln, welche sich nur einige Fuß über die Oberfläche des Wassers erhoben. Schon waren wir den Strom mehrere Meilen hinaufgefahren und hatten noch nichts gesehen als schlammige Ufer, ungeheure Schilfmassen und hie und da ein altes Krokodil, das sich im Sumpfe seines Daseins freute. Jeden Augenblick wurde unsere Fahrt durch die ungeheuren Holzmassen unterbrochen, welche jahr­ aus jahrein den Strom hinabfließen und immer ihren Weg zu einer der Mün­ dungen finden. Es sind dies Bäume vou ungeheurer Länge, welche durch die heftigen Orkane mit allen ihren Zweigen, oft auch mit den vollständigen Wurzeln in den Strom gestürzt werden; nicht selten verwickeln sich mehrere derselben und sammeln zwischen ihren Ästen eine Menge umhertreibenden Gestrüpps, das der ganzen Masse das Ansehen einer schwimmenden, mit Wald bedeckten Insel giebt. So trübe das Bild war, das sich vor uns ausbreitete, so erquickten uns doch die hellen Farben des tropischen Pflanzenwuchses; die Ufer blieben zwar fortwährend flach, indessen erhielt die Scene durch die Landsitze der Pflanzer, durch die Zucker­ plantagen und die Negerhütten bisweilen ein freundliches Ansehen. Auch war uns die Form und die ungewöhnliche Höhe der Bäume und Pflanzen so neu, und wir hatten so lange den Anblick des Landes entbehrt, daß wir jetzt selbst

diese sumpfigen Ufer schön fanden. Am zweiten Tage erreichten wir Neu-Orleans; wir konnten hier nur wenige Stunden verweilen, da uns dringende Geschäfte nach St. Louis riefen. Unter den unzähligen Dampfschiffen, welche in diesem Lande der Seeen und Flüsse die Stelle der Eilwagen vertreten, wählten wir eins der größten und schönsten, „das Belvedere" genannt. Es übertraf alle europäischen Dampfschiffe, die ich kennen gelernt hatte, an Größe und Eleganz; namentlich war das Hauptzimmer, welches

durch eine doppelte Reihe von Fenstern erhellt wurde, auf das geschmackvollste eingerichtet, und ebenso war die Damen-Kajüte auf das schönste verziert und mit allen Bequemlichkeiten versehen. Während unserer Fahrt war das Wetter so

schön, daß wir uns am Tage beständig auf der Gallerie aufhielten, welche rund um die Kajütten läuft. Noch viele Meilen über Neu-Orleans hinaus bleiben die Ufer ununterbrochen flach; überall aber wuchert die zierliche kleine Palme, die dunkle Steineiche, die

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Natur-, Land er- und Völkerkunde.

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strahlende Orange, in deren Anschauen wir nicht ermüdeten. Dann und wann, wenn das Boot anhielt, um Holz einzunehmen, benutzten wir die Gelegenheit, auf einige Minuten ans Land zu gehen, und bisweilen hatten wir selbst Zeit,

die nahe liegenden Zucker- und Baumwollenpflanzungen zu besuchen. An einem oder zwei Punkten wird die ermüdende Waldlinie durch grünende Hügel angenehm unterbrochen; der Strom aber bleibt immer derselbe, eine ungeheure, zuweilen 2 bis 3 Meilen breite Grube, in der sich flüssiger Schlamm 6 Meilen in der Stunde

hinwälzt, mit zahllosen schwimmenden Bäumen und Holzklötzen. Hätten wir nicht hin und wider einige Haufen von hölzernen Häusern gesehen, die man Städte nennt, und denen man gewöhnlich einen pomphaften griechischen oder römischen Namen giebt, wir hätten glauben können, die ersten menschlichen Wesen zu sein, die in dieses Gebiet der Bären und Alligators einzudringen wagten. Hier und da tauchte auch die einsame Hütte eines Holzhauers auf, der trotz der gewissen Aussicht auf einen frühen Tod sich in dieser ungesunden Gegend angesiedelt hatte, um die Dampfschiffe mit Holz zu versorgen. Diese traurigen Wohnungen stehen im Winter fast alle unter Wasser; nur die besseren ruhen auf Pfählen und sichern dadurch ihren armseligen, hohlwangigen Bewohnern einen stets trocknen Zufluchts­ ort. Zu den mancherlei Leiden dieser unglücklichen Menschen gesellt sich noch, wie ich hörte, die Furcht vor den Angriffen der an manchen Stellen des Flusses sehr zahlreichen Krokodile. Man erzählte uns von einem Holzhauer, welcher sick­ dicht am Ufer einen Platz ausgesucht hatte, um sich daselbst eine Hütte zu bauen. Eine solche war auch bald aufgerichtet; denn Liebe zum Branntwein versammelt schnell die armselige Nachbarschaft um den neuen Ankömmling, um ihm Bäume fällen und die Stämme aufrichten zu helfen, bis die Wohnung fertig ist. So war es auch hier. Die Frau und fünf kleine Kinder sahen sich bald im Besitz einer neuen Heimat und schliefen ruhig nach einer langen, ermüdenden Reise. Da ward der Vater gegen Morgen durch einen dumpfen Schrei aufgeweckt, und indem er sich aufrichtete, erblickte er mit Entsetzen die Überreste von dreien seiner

Kinder auf dem Boden umhergestreut, während

ein

ungeheures Krokodil mit

mehreren Jungen beschäftigt war, auch die Reste des schauderhaften Mahles zu verschlingen. Vergebens sah er sich nach einer Waffe um, und überzeugt, daß er ohne eine solche nichts ausrichten könne, erhob er sich vorsichtig von seinem Lager und kroch durch ein Fenster hinaus ins Freie in der Hoffnung, daß sein Weib

und seine zwei übrigen Kinder, die er schlafend verließ, bis zu seiner Zurückkunft von den Ungeheuern unentdeckt bleiben würden. Er eilte zu seinem nächsten Nachbar, flehte um Hülfe, und in weniger als einer halben Stunde kehrte er mit zwei Begleitern wohlbewaffnet zurück; aber zu spät! Weib und Kinder lagen zerrissen auf ihrem blutigen Bette. Die gesättigten Tiere wurden mit leichter Mühe getötet, und als der unglückliche Mann mit seinen Gefährten den Ort näher untersuchte, fanden sie, daß die Hütte dicht neben einer Höhle erbaut war, in welcher das Ungeheuer seine verhaßte Brut aufgezogen hatte. Unter manchen anderen Spuren der Verwüstung, welche diese Gegend dem Auge darbietet, hatten wir fast regelmäßig nach Sonnenuntergang das düstere Schauspiel eines

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Waldbrandes, und oft wogte in schwerem Gewölke der aufsteigende Dampf über

unsere Häupter dahin. Als wir 12 Tage hindurch die ununterbrochen fortlaufende Waldlinie bewun­

dert und die verschiedenen Massen von Holz, die an uns vorüberzogen, unter­ scheiden gelernt hatten, sahen wir mit Sehnsucht dem Tage entgegen, der uns an unsern Bestimmungsort bringen würde; doch sollte unsere Geduld noch eine harte Prüfung erfahren; denn an einem Morgen wurden wir plötzlich durch einen heftigen Stoß erschreckt und erfuhren dann, daß wir auf einer Sandbank festsäßen. Alle Versuche unserer Maschine, das Schiff loszumachen, waren ver­ geblich, und zu zwei Mittags- und zwei Abendmahlzeiten mußten wir uns nieder­ setzen, ehe wir einen Schritt weiterkamen. Mehrere Dampfschiffe zogen unter­ dessen an uns vorüber; aber auch sie waren nicht stark genug, um uns flott zu machen. Endlich näherte sich ein Dampfboot gleich einem Ungeheuer, warf eiserne Haken aus, und in drei Minuten war es geschehen; die Bäume glitten wieder sanft an uns vorüber, und ein allgemeiner Zuruf verkündete die Freude sämt­ licher Passagiere. Am folgenden Tage landeten wir in St. Louis. Während unserer Fahrt und unseres Aufenthalts in St. Louis hörten wir von mehreren Unglückssällen, die sich kurz zuvor auf amerikanischen Dampfschiffen zugetragen hatten. In der That kann man sich in Europa keinen Begriff von der Sorglosigkeit machen, mit der man in Nordamerika auf Eisenbahnen, auf Dampfschiffen und in andern Verhältnissen, wo es sich um das Leben von Hunderten von Menschen handelt, zu verfahren pflegt. So erzählte uns der Kapitän unseres Schiffes folgenden Unglücksfall, der sich vor kurzem auf dem Missisippi zugetragen hatte. Am Sonntage den 6. Mai 1837 sollte der „Ben-Sherwood" von NeuOrleans abgehen. Die Passagiere, die sich an Bord befanden, trafen mancherlei Vorkehrungen zu einer Reise, die von einiger Dauer sein sollte, ohne die ge­ ringste Besorgnis in sich aufkommen zu lassen, Da die Schiffahrt erst seit kurzer Zeit wieder eröffnet war und die meisten Dampfböte ihre Fahrten noch nicht be­

gonnen hatten, so fand des Beu-Sherwood ein, derselbe mit Baumwolle Himmel war heiter und

sich eine bedeutende Anzahl von Passagieren am Bord was sonst schwerlich der Fall gewesen sein würde, da überladen und von schwerfälliger Bauart war. Der wolkenlos, und Hunderte von Zuschauern standen am

Ufer, um ihren Freunden Lebewohl zu sagen oder ihnen Aufträge mitzugeben. Um 10 Uhr setzte sich der Ben-Sherwood in Bewegung, anfangs mit der Lang­ samkeit und Würde des Schwans, dann aber durchschnitt er rasch die trüben Wellen des Missisippi, indem er dichte Rauchwolken zum Himmel aufsendete. Am Dienstag Abend kam ein anderes Dampfboot dem Ben-Sherwood zuvor, weil dieser einige Zeit beim Fort Adams angehalten hatte. Als mehrere Passagiere ihr Bedauern darüber aussprachen, daß jenes früher in der Stadt Natchez an­

kommen würde, erklärte der Kapitän, dies könne er nicht zugeben, und er werde

dasselbe um jeden Preis einzuholen suchen. Sobald die Geschäfte beendigt waren, wegen welcher der Ben-Sherwood bei Fort Adams angehalten hatte, erging an die Schiffsmannschaft der Befehl, das Fener stärker zu schüren und die größt-

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mögliche Kraft anzuwenden. Zur Befeuerung des Eifers wurde den Arbeitern ein Faß Branntwein preisgegeben und ihnen gestattet zu trinken, so viel sie

wollten, woran sie es denn natürlich auch nicht fehlen ließen. So brach die Nacht herein; der Kapitän zog sich in seine Kajüte zurück, und nur ein Offizier blieb auf dem Verdeck, um Wache zu halten. Während das Boot die Eutfernuug

von Fort Adams bis zur Mündung des Homochilta zurücklegte, entzündete sich

das Holz, welches vor den Kesseln aufgeschichtet war, und der Brand wurde nur­ unvollständig gelöscht. Als das Boot rasch längs dem Ufer dahinflog, rief ein Neger herüber, daß das Holz sich entzündet habe. „Schere dich zum Teufel!" war die Antwort. „O, Massa!" entgegnete der Neger, „wenn Sie sich nicht vor­ sehen, werden Sie früher als ich zum Teufel kommen." Indes fuhr das Schiff immer weiter, indem es dichte Rauchsäulen zum Himmel aufschickte und bei jedem Räderschlage in seinen Grundfesten erbebte; denn die Bewegung war äußerst schnell. Es mochte ein Uhr nachts sein, als ein Passagier, der auf dem Verdeck stand, plötzlich aus dem Holzstoße eine Feuersäule hervorbrechen sah. Es wäre damals ein Leichtes gewesen, das Feuer zu löschen; aber was vermochte der gute Wille weniger Besonnenen? In einigen Augenblicken nahm das Feuer mit furcht­ barer Schnelligkeit überhand, und als der Kapitän auf das Verdeck stürzte, stand

es schon in Flammen. In kurzer Zeit verbreitete sich die Nachricht von der drohenden Gefahr. Vergeblich suchte der Steuermann, das Ufer zu gewinnen, denn da die Stricke des Steuers verbrannt waren, so wurde das Schiff vom Strome sortgetragen, bis es auf einer Sandbank sitzen blieb. Im ersten Schreck

hatten sich einige Personen in einen Kahn geflüchtet, welcher hinten angehängt war. Vergeblich bemühte sich ein Passagier, der weniger selbstsüchtig oder mutiger­ war, sie zu bereden, daß sie die Böte den Frauen und Kindern überlassen möchten; statt aller Antwort ergriff einer sein Messer und durchschnitt die Stricke, an denen die Jolle befestigt war; nach wenigen Augenblicken schlugen indes die Wellen über dem Bote zusammen, und keiner von denen, die sich darauf befan­ den, wurde gerettet. Hierauf wurde das zweite Boot hinuntergelassen, aber es füllte sich augenblicklich mit Wasser. Als diese letzte Hoffnung geschwunden war, entstand eine unbeschreibliche Verwirrung. Die einen, und diese bildeten die Mehrzahl, stürzten sich in das Wasser, um dem Feuertode zu entgehen; andere liefen in furchtbarer Aufregung hin und her. Von Zeit zu Zeit verkündete ein dumpfes Geräusch, daß der Fluß wieder ein Opfer ausgenommen habe. Das herzzerreißende Geschrei der Frauen und Kinder, die erstickende Hitze, welche im­ mer weiter um sich griff, das Knarren der Räder, welche nicht gehemmt worden

waren, und das schmerzliche Geheul der Pferde, welche von den Flammen er­ griffen wurden, waren entsetzlich. Ein Passagier schwamm dem Ufer zu, mit einer Mutter und ihrem Kinde beladen; zweimal sank jene, zweimal brachte er sie wieder in die Höhe; aber seine Kräfte schwanden, und er erlag unter dieser doppelten Last. Die Mutter bemerkte es. „Retten Sie mein Kind!" rief sie

ihm zu, und, ihn loslassend, sank sie unter. Ihre Aufopferung begeisterte ihn zu neuen Anstrengungen, und mit Aufbietung aller seiner Kräfte gelangte er mit dem Kinde ans Ufer. Kurz vorher hatte sich das Dampsboot von der Sandbank

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losgemacht und schwamm, einer feurigen Kugel ähnlich, den Strom hinab. Die Unglücklichen, welche dasselbe noch nicht verlassen halten, stürzten sich nun ins Master und verschwanden alsobald. Noch kurze Zeit, und das Geschrei der Er­ trinkenden hatte aufgehört; es folgte eine noch schrecklichere Stille. Der glücklich Gerettete saß am Ufer, in düstere Betrachtungen versunken, als ein anderes Dampfboot sich der Unglücksstätte näherte und ihn wie einige andere Unglückliche

aufnahm. Ein drittes Dampfboot, welches kurz nachher vorbeifuhr, rettete eben­ falls mehrere Menschen. Noch ein viertes Dampfboot steuerte auf das in Flam­ men stehende Schiff zu, und man glaubte, daß es demselben zu Hülfe kommen wolle; nachdem es aber mit dem anderen einige Worte ausgetauscht, erteilte der Kapitän den Befehl, die Fahrt fortzusetzen, und die Wellen, welche unter dem Räderschlage aufrauschten, verschlangen mehr als einen Unglücklichen, der vielleicht noch hätte gerettet werden können. Plötzlich flammte ein heller Schein auf: es folgte eine furchtbare Explosion, und nun trat die tiefste Stille und völlige Dunkel­ heit ein. Das Betragen des Kapitäns, der bei dem brennenden Schiffe, ohne Hülfe zu leisten, vorüberfuhr, liefert einen neuen Beweis, wie wenig Wert man in Nordamerika auf das menschliche Leben legt. Diese Fühllosigkeit findet man in allen Klassen der Gesellschaft; wie weit dieselbe geht, beweist folgender Zug. Auf einem Dampfboote entzündete sich das Holz, welches vor dem Dampfkessel aufge­ schichtet war; einer der Arbeiter schlief unterdessen ganz unbesorgt in seiner Hänge­ matte. „Stehe auf," rief ihm einer seiner Kameraden zu, „das Holz hat Feuer gefaßt." „Ich wußte es, ehe ich mich schlafen legte," antwortete dieser, ohne sich von der Stelle zu rühren. Aus Dielitz' Skizzenbuch.

28.

Die Holzfäller in den Wäldern von Florida.

Die Halbinsel Florida ist zum größten Teil mit Fichtenwäldern bedeckt. Der

Boden ist flach und sandig, in der Regenzeit weit und breit überschwemmt, im Sommer aber von der Sonnenglut versengt, obwohl man auch Sümpfe genug antrifft, in welchen die zahlreichen Viehherden, die wild umherlaufen, ihren Durst löschen. Hier und da trifft der Reisende eine mit Eichen und anderm Laubholz bewachsene Stelle; je näher er ihr kommt, desto frischer und erquickender wird die Luft, die er einatmet. Der Gesang unzähliger Vögel erfreut sein Ohr, das Gras wächst üppiger, die Blumen haben lebendigere Farben; ein balsamischer Duft verbreitet sich rings umher. Mit Entzücken hört der ermattete Wanderer das Murmeln eines klaren Quells, während Reben und Jasmin über seinem Haupte von Baum zu Baum sich hinziehen. Kaum hat er in dem zauberischen Schatten eines solchen Haines seine Mittagsmahlzeit bereitet, so bemerkt er Grup­

pen leicht gekleideter Männer, von denen jeder eine Axt auf seinen Schultern trägt. Sie treten heran, begrüßen einander und machen sich sogleich an die Arbeit; es sind Holzfäller, welche die hohen Eichenstämme umhauen und an den nächsten Fluß schaffen, auf dem man sie dann weiter fährt, um sie zum Schiffsbau zu

verwenden.

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

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„Vor einigen Jahren," erzählt ein Reisender aus Nordamerika, „hatte ich Gelegenheit, die Holzfäller bei ihrer Arbeit zu beobachten. Ich mußte im Auftrage der Regierung Florida durchreisen, um mich von der Menge der noch vorhande­ nen Eichen zu überzeugen, die auf eine bedenkliche Weise abnimmt. Als ich mich

eines Abends am Ufer eines Flusses niedergesetzt hatte und wegen des in Strömen herabfallenden Regens um ein Nachtlager sehr bekümmert war, trat ein Mann an mich heran und lud mich ein, in seine Hütte zu kommen, die, wie er bemerkte, nicht weit ablag. Mit Freuden folgte ich ihm. In seiner kleinen Wohnung fand ich seine Frau, seine Kinder und mehrere Männer, die gleich meinem Wirte Holz­ fäller waren. Das Abendessen war auf einem großen Tische aufgetragen, und man lud mich sogleich zu Gaste. Während der Mahlzeit erzählten mir die Män­ ner von dem Lande und seinen Erzeugnissen; dann Legten wir uns auf Bären­ fellen schlafen und ruhten sanft bis zum Morgen. Ich äußerte den Wunsch, die kühnen Holzfäller bei ihrer Arbeit zu sehen, und verließ mit ihnen das Haus. Wir wanderten etwa eine Meile durch einen Fichtenwald, mit Äxten und Flinten

bewaffnet; als wir an Ort und Stelle waren, fanden wir einen andern Trupp, der unser harrte. Das gemeinsame Frühstück war schon bereitet und bestand aus Rindfleisch, Fischen, Kartoffeln, einigen anderen Gemüsen und Kaffee. Alle diese wackern Leute hatten einen Appetit, der dem Mahle Ehre machte, und dabei unter­ hielten sie sich durch heitere Gespräche. Unterdes stieg die Sonne über die Bäume empor, und nun ging es frisch an die Arbeit. Mein Wirt war der Anführer und Aufseher; er bediente sich seiner Axt nur, um die Bäume zu untersuchen. Die andern, alles gesunde, rührige und handfeste Leute, hieben mit ihren geschärf­ ten Äxten auf zwei gewaltige Eichen und fällten sie nach langer, angestrengter Arbeit. Auf dem Rückwege erzählte mir mein gefälliger Wirt, daß diese Arbei­ ten nur wenige Monate des Jahres währen. Mit dem Anfänge des Sommers verlassen die Holzfäller das einsame Land und kehren in ihre Heimat zurück; so­ bald der Winter herannaht, kommen sie wieder nach Florida. Doch bleiben manche, die ihre Familien mitgebracht und sich größere Häuser erbaut haben. Mein Wirt gehörte zu den letzteren, und ebenso ein anderer Mann, der uns begleitete, und der mich einlud, die nächste Nacht in seiner Hütte zuzubringen. Beim Abend­

essen erzählte er mir folgende Begebenheit, die er 4 Jahre vorher erlebt hatte. „Der Holzfäller hatte eines Tages seine am Ufer erbaute Hütte verlaßen, um sich mit der Axt auf der Schulter auf die Arbeit zu begeben. Es war Win­ ter, und in dieser Jahreszeit bedecken oft so dichte Nebel das Land, daß man kaum 30 Schritte weit sehen kann. Überdies haben die Wälder ein sehr einför­ miges Ansehen, da ein Baum genau wie der andere aussieht; der ganze Boden aber ist mit so hohem Grase bedeckt, daß ein Mann von gewöhnlicher Höhe nicht darüber wegzusehen vermag. Die wenigen Fußpfade, welche die Holzfäller sick­ gebahnt haben, sind schwer zu erkennen, und oft kreuzen sich mehrere solcher Pfade. Da ist denn auch der, welcher mit der Gegend ganz vertraut ist, oft in Gefahr,

in die Irre zu gehen; so ging es auch unserm Holzhauer.

Er war schon mehrere

Stunden gegangen, ohne an sein Ziel zu kommen, und vermutete also, daß er über den Ort seiner Bestimmung hinaus sein müsse. Zu seinem großen Schrecken

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Natur-, Länder- und Völkerkunde.

sah er bald darauf, als der Nebel verschwand, daß die Sonne bereits in die Mittagshöhe getreten, und daß die ganze Gegend umher ihm völlig fremd war. Jung, kraftvoll und wohlgemut, wie unser Holzfäller war, bildete er sich ein, er sei nur etwas zu rasch und zu weit gegangen. Er kehrte also der Sonne den Rücken und schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Unterdes verstrich die Zeit, und die Sonne sank immer tiefer; aber wohin er kam, blieben ihm alle Gegen­ stände völlig fremd. Hundertjährige Bäume kreuzten ihre mächtigen Äste über seinem Haupte; das hohe Gras wurde immer dichter, jede Spur eines Pfades verschwand; kein lebendes Wesen war zu erblicken; alles war in Todesstille ver­ sunken. Er irrte durch diese erstorbene Natur wie eine abgeschiedene, einsame Seele, welche die Grenze des Schattenreichs überschritten hat und keinem Wesen ihrer Art begegnet. In der That kann man sich nichts Schrecklicheres denken als die Lage eines Menschen, der sich in einem amerikanischen Urwalde verirrt hat. Anfangs glaubt man alle Gegenstände zu erkennen, die man erblickt, und während man nach anderen Gegenständen umherschaut, um sich wieder zurecht­ zufinden, gerät man immer mehr in die Irre. Dieses Schicksal hatte auch unser Holzfäller. Die Sonne ging mit jenem rötlichen Glanz unter, der für den fol­ genden Tag große Hitze verheißt; ihre Strahlen erloschen allmählich, und bald war nur noch eine große feurige Scheibe am Horizont zu sehen. Jetzt erfüllten Tausende von Insekten mit ihrem Gesumme die Luft, die Frösche krochen quakend

aus dem schlammigen Wasser, wo sie den Tag über sich versteckt gehalten, das Eichhorn kam aus seinem Loche hervor, und die heisere Stimme des Reihers ver­ kündete seine Rückkehr. Bald ertönte auch der traurige Ruf der Eule, und der Abendwind säuselte durch die Bäume, von denen kalter Tau herabtröpfelte. Ach, es war kein Mond am Himmel, der sein mildes Licht über die schauerliche Scene ausgegossen hätte! Der Verirrte entschloß sich endlich, seine ermatteten Glieder nicht weiterzuschleppen, und nahm auf dem feuchten Boden sein Nachtquartier. Er betete inbrünstig zu Gott, flehte für seine Familie um eine ruhigere Nacht, als diejenige war, die er jetzt zubringen sollte, und erwartete mit fieberhafter in­ nerer Bewegung das Licht des Morgens. Wie schrecklich lang eisige Nacht in einer so schauerlichen Öde geworden sein!

mag ihm diese

„Als der Morgen anbrach, siel der in jenem Lande gewöhnliche Nebel. Der arme Mann erhob sich von dem harten, feuchten Lager und machte sich mit kummervollem Herzen wieder auf den Weg in der schwachen Hoffnung, irgend­ einen bekannten Gegenstand zu entdecken. Keine Spur von Fußweg leitete ihn; dennoch berechnete er, als die Sonne über den Horizont emporstieg, wie viele

Stunden des Tages er vor sich hatte, und eilte, so rasch er konnte, durch die

Baumgruppen vorwärts; aber alle seine Hoffnungen waren eitel. Der ganze Tag verging in fruchtlosen Anstrengungen, den Weg nach seiner Wohnung zu finden, und als die Nacht wieder hereinbrach, hatten Müdigkeit, Hunger und Unruhe den Unglücklichen fast zur Verzweiflung gebracht. Er schlug sich vor die Brust und raufte seine Haare, und nur die frommen Lehren, die seine Eltern ihm frühzeitig eingeflößt, konnten ihn abhalten, seinem Dasein freiwillig ein

Ende zu machen.

Von Hungerqualen gefoltert, warf er sich auf die Erde und

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nährte sich von den Wurzeln, die ringsumher wuchsen. Diese zweite Nacht war noch schrecklicher und angstvoller als die erste. „Ich kannte meinen Zu­ stand," sagte er mir, „und war überzeugt, daß ich in dieser Gegend umkommen müßte, wenn Gott mir nicht durch ein Wunder zu Hülfe käme. Mehr als 12 Meilen hatte ich zurückgelegt, ohne einem Bache zu begegnen, der meinen Durst löschen oder auch nur meine verdorrten Appen erfrischen konnte. Ich wußte, daß ich ohne ein paar Tropfen Wasser unfehlbar sterben müßte. Meine Axt war meine einzige Waffe; vergebens sprangen Rehböcke und anderes Wild wenige Schritte weit an mir vorüber; ich konnte keines dieser Tiere erlegen, um meinen Hunger zu stillen! Lieber Herr, Gott behüte euch, jemals einer solchen Prüfung ausgesetzt zu sein!" Bor lauter Entbehrungen und Leiden hatte der Unglückliche fast alle Erinnerung an das, was ihm begegnet war, verloren. „Einmal," sagte er, „erbarmte sich Gott meiner und schickte mir eine Schildkröte in den Weg. Ich betrachtete sie mit Staunen und Entzücken; obschon ich recht gut wußte, daß sie mich, wenn ich ihr langsam folgte, zu einem lebendigen Wasser führen würde, so erlaubten mir doch mein Hunger und Durst keinen Augenblick des Verzuges. Ich hieb das Tier mit einem Schlage meiner Axt entzwei und verzehrte es dann mit wütender Gier. Nach wenigen Augenblicken war nichts als die nackte Schale übrig. O Herr, wie dankte ich Gott für dieses Labsal! Ich fühlte mich wie neugeboren. Am Fuße einer Fichte sitzend, blickte ich zum Himmel auf; ich gedachte meines armen Weibes und meiner Kinder; ich wieder­ holte meine brünstigen Danksagungen, und mein Vertrauen wurde wieder so lebendig in mir, daß ich fest überzeugt war, ich würde den verlorenen Weg und mein Haus wiederfinden." „Der Verirrte blieb die ganze Nacht über am Fuße des Baumes, unter welchem er seine Mahlzeit gehalten hatte. Von einem tüchtigen Schlaf erquickt, trat er die beschwerliche Wanderung wieder an. Die Sonne zeigte sich in ihrer

ganzen Pracht; der Holzfäller folgte wie an den vorhergehenden Tagen der Richtung deS Schattens; aber auch dieses Mal konnte sein Auge nur fremde Gegenstände erspähen. Schon war er der Verzweiflung wieder nahe, als er plötzlich eine im Grafe kauernde Ratte bemerkte. Mit stürmischer Eile schwang er seine Axt und traf das Tier so gut, daß es augenblicklich verendete; dann verzehrte er es hastig mit Haut und Haaren, und nun ging es wieder rüstiger vorwärts in dem endlosen Labyrinthe. Tage folgten auf Tage, Wochen auf Wochen. Der unglückliche Holzfäller nährte sich bald von Wurzeln, bald von Fröschen und Schlangen; alles, was ihm auf der grauenvollen Wanderung in den Weg kam, fand er von köstlichem Geschmack; allmählich aber wurde er so abgezehrt und elend, daß es ihn große Anstrengung kostete, sich vorwärts zu schleppen. 40 Tage waren nach seiner Rechnung verflossen, als er endlich an das Ufer des Flusses kam. Seine Kleider fielen ihm zerfetzt vom Leibe; seine Axt war verrostet; das Haar hing ihm besudelt und verworren ins Gesicht; der ganze Körper glich einem mit Pergament überzogenen Skelett. Er hatte sich auf

dem Saud am Ufer ausgestreckt, um zu sterben, als er plötzlich in seinen Fieber­ träumen die Ruderschläge eines Fahrzeuges zu hören glaubte. Er lauschte; aber

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dieser trostreiche Laut erstarb in der Ferne. War es nur ein Traum die letzte Täuschung seiner Hoffnung? Der Unglückliche versank wieder Bewußtlosigkeit, als ein neues Plätschern von Rudern, dieses Mal kein spiel seiner Phantasie, ihn erweckte. Er horchte mit solcher Spannung,

gewesen, in halbe Gaukel­ daß der Flug einer Mücke ihm nicht entgangen wäre, und mit Entzücken vernahm er, wie menschliche Stimmen in den Takt der Ruder sich mischten. Das Herz des armen Verirrten hüpfte vor Freude; es gelang ihm, sich aufzurichten. Gottes Auge sah den Unglücklichen, als er an dem breiten, im Sonnenstrahl flimmern­ den Strome kniete, und bald sollten ihn auch Menschenaugen sehen. Das Fahr­ zeug kam, nachdem es ein bewaldetes Vorgebirge umsteuert hatte, wirklich zum Vorschein und ruderte rüstig vorwärts. Der Verirrte stieß, als er es erblickte, einen schwachen Schrei aus, einen Schrei freudigen Schreckens; die Ruderer hielten an und schauten sich um. Ein anderer Schrei dringt zu ihren Ohren, und jetzt erblicken sie den Rufenden. Das Fahrzeug steuert aufs Ufer zu; das Herz des Verirrten klopft lauter; sein Auge wird trübe; der Kopf schwindelt ihm; seine keuchende Brust schwillt hoch an. Das Fahrzeug landet, der Verirrte ist wiedergefunden! „Dies ist keine Erdichtung; ich habe die Thatsache erzählt, wie der wackere Holzfäller sie mir mit Thränen der Rührung berichtet hat. In der Hütte des nämlichen Holzfällers habe ich sie vier Jahre nach dem traurigen Ereignis selbst niedergeschrieben. Sein Weib und seine Kinder waren zugegen, und ich werde nie die Thränen vergessen, die ihren Augen entquollen, als sie diese rüh­ rende Geschichte vielleicht schon zum 20. Male mit anhörten. Ich bemerke nur noch, daß der Wald, in welchen der schwer geprüfte Mann sich begab, kaum 2 Meilen, der Fluß aber, an dessen Ufer man ihn fand, etwa 10 Meilen von seiner Wohnung entfernt ist; er muß also, wie es unter solchen Umständen zu geschehen pflegt, beständig im Kreise umhergelaufen sein. Nur die ungewöhnliche Stärke seiner Konstitution und der erbarmende Beistand Gottes haben es ihm möglich gemacht, eine solche Probe zu bestehen."

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Magazin für ausländische Literatur.

Ein Waldbrand in Nordamerika.

Mit welchem Vergnügen, so erzählt derselbe Reisende, dem wir die vor­ stehende Mitteilung verdanken, mit welchem Vergnügen trat ich immer in eine einsame Waldhütte, wenn ich den Tag über den tiefen Schnee mühselig durch­ wandert hatte und von dem schneidenden Hauch des Nordwindes fast erstarrt war! In welche Hütte ich auch trat, immer wurde ich mit patriarchalischer Gast­ freiheit empfangen. Wenn das einfache, aber reichliche Mahl eingenommen war, plauderte ich mit meinem Wirt, und immer erhielt ich freundliche Belehrung. Zum Schluß langte die Mutter die Bibel vom Simse, und der Vater las ein Kapitel mit lauter Stimme vor; dann wurde ein einfaches, aber herzliches Gebet gesprochen und allen Lieben in der Nähe und Ferne eine glückliche Nacht ge­ wünscht. Ich streckte meine müden Glieder auf einer Büffelhaut aus, und der Pelz eines ungeheuren Bären diente mir als Decke.

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Besonders gedenke ich noch eines Tages, den ich in der Provinz Maine in einer ähnlichen Hütte zubrachte. Ich war abends eingekehrt und rüstete mich nach einer ruhigen Nacht zum Weitergehen; da fiel der Regen in solchen Strö­ men herab, daß ich der Bitte meines Wirtes, noch einen Tag bei ihm zu bleiben, gern Folge leistete. Nachdem wir das Frühstück eingenommen hatten, ging es an die Arbeiten des Tages; die Spinnräder der Frau und der Töchter schnurr­ ten, die Knaben nahmen ihre Lehrbücher zur Hand, mein Wirt aber setzte sich zu mir und erzählte mir von dem glücklichen Leben, das er mit den Seinigen führte. „Packe dich weg von hier, Hinz!" rief die Wirtin; „du hast mir schon gestern Abend den Regen von heute prophezeit, und jetzt fürchte ich, das Spiel deiner Pfote bedeutet noch Schlimmeres." Der Kater gehorchte; er sprang auf ein Bett und kugelte sich zusammen. Ich fragte meinen Wirt, was seine Frau mit den letzten Worten gemeint hatte, und er antwortete: „Meine Frau hat von Zeit zu Zeit gar besondere Jdeeen; denn sie glaubt, daß Tiere weissagen können. Was sie aber jetzt zum Kater gesagt, bezieht sich auf den Brand der Wälder, die uns umgeben. Obschon dies Ereignis mehrere Jahre alt ist, so zittert sie doch noch bei der Erinnerung, als wäre es erst gestern passiert." Ich hatte schon von dem Brande erzählen hören, auf den mein Wirt an­ spielte, und war jetzt neugierig, etwas Näheres über denselben zu erfahren. Mein Wirt war gern bereit, meinen Wunsch zu erfüllen, und begann folgen­

dermaßen: „Es ist nun 20 Jahre her, daß fast alle Lärchenbäume unserer Gegend von grünen, fast 22 cm langen Raupen zerfressen wurden. Dieses Schicksal traf dann auch einen Teil des übrigen Nadelholzes, so daß in wenigen Jahren sämtliche Fichten und Tannen abgestorben niedersielen und die Erde mit ihren verschlungenen Zwei­ gen bedeckten. So lag denn weit und breit das Nadelholz, das wegen seiner harzigen Natur ohnehin leicht entzündlich ist, auf ganzen Schichten von dürrem Laub und vertrockneten Pflanzen. Plötzlich geriet das Holz in Brand. Einige gaben das Unglück den Indianern schuld, die sich entweder an uns Bleichgesichtern, wie sie uns nennen, rächen oder sich das Jagen leichter machen wollten; andere aber, und zu diesen gehöre auch ich, erklären die Sache anders. Das Feuer konnte wohl schon dadurch entstehen, daß ein verdorbener Baumstamm gegen den andern fiel; denn es bedurfte ja nur der Reibung dieser harzigen Körper, um eine Flamme zu erzeugen. Die dürren Blätter am Boden waren leicht entzündet; dann kamen die Zweige und kleinen Äste an die Reihe, und so verbreitete sich die Feuersbrunst

mit einer Wut, der keine menschliche Macht Einhalt thun konnte. Nach wenigen Stunden brannte der Wald schon in einer Ausdehnung von vielen Meilen. Von einem Sturmwinde begünstigt, nahte das zerstörende Element bisweilen den Hütten der Waldbewohner mit so reißender Schnelligkeit, daß Hunderte von Familien ur­ plötzlich fliehen und ihre ganze Habe zurücklassen mußten; ja, einige der erschrockenen Flüchtlinge wurden noch von den Flammen eingeholt und mußten elend verbrennen." Mein Wirt redete noch, als ein Windstoß durch den Kamin eindrang und die Stube auf einen Augenblick stark erhellte. Die Frauen eilten zitternd nach der

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Thür, weil sie sich schon eiubildeten, der Wald habe Feuer gefangen; aber sie erholten sich bald von ihrem Schrecken, weil der gewaltsamen Luftströmung keine zweite folgte. „Die armen Weiber!" sagte der Wirt. „Was ich eben erzählt, hat ihre Befürchtungen wieder geweckt; sie gedenken des Tages, als die große Feuersbrunst uns alle aus unserem Hause trieb." Er hatte meine Neugier so gereizt, daß ich ihn bat, mir die näheren Um­ stände dieser unheilvollen Begebenheit zu erzählen. „Wenn ihr," so sprach er

mit einem Blick auf Frau und Töchter, „mir versprechen wollt, ruhig sitzen zu bleiben, auck wenn wieder solch ein Windstoß den Kamin herunterkäme, so will ich weiter erzählen." Dann fuhr er fort: „Wir waren eine Nacht in unserer Hütte, die etwa eine halbe Stunde von hier entfernt stand, eingeschlafen, als das Wiehern unserer Pferde und das Brüllen unseres Viehs im Walde uns wenige Stunden vor Tagesanbruch weckte. Ich nahm meine Flinte und ging vor die Thür, um zu erfahren, welches Raubtier den Lärm veranlaßte. Meine Pferde sprangen wiehernd hin und her, und die Ochsen und Kühe rannten brüllend nach allen Richtungen. Indem ich um das Haus herumging, hörte ich deutlich das Knistern der brennenden Sträucher und sah, wie die Flamme sich uns entgegen­ wälzte. Ich eilte schnell wieder hinein und hieß meine Frau sich selbst und unser Kind ankleiden, auch unsere geringe Barschaft zu sich stecken, derweilen ich die zwei letzten Pferde anhallen und satteln wollte. Alles dies war bald geschehen; denn wir fühlten, daß die Augenblicke kostbar waren. Schnell saßen wir auf und entfernten uns von den Flammen. Meine Frau, eine vortreffliche Reiterin, folgte dicht hinter mir; ich aber hatte unsere älteste Tochter, damals noch ein ganz kleines Kind, in dem einen Arm. Auf der Flucht sahen wir uns öfter um und bemerkten, daß das entsetzliche Feuer auf unsern Fersen war; es hatte das Haus schon er­ reicht. Zum Glück war ein Waldhorn an meinem Jagdrock befestigt; ich stieß mit aller Kraft meiner Lungen in dasselbe, um unser Vieh und unsere Hunde zusammenzurufen. Das Vieh folgte uns auch wirklich eine Zeit lang nach, aber eö war noch keine Stunde verflossen, als sämtliche Ochsen und Kühe plötzlich wie rasend ins Gehölz rannten; ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört. Selbst meine sonst so gelehrigen Hunde wurden diesmal für meine Stimme taub und stürzten sich auf die Herden von Damhirschen, welche vor uns her flohen, um dem Feuertode zu entrinnen. Von Zeit zu Zeit hörten wir die Hörner unserer Nachbarn und schlossen daraus, daß sie in gleicher Gefahr waren. Dabei kam die Flamme uns immer näher, so schnell unsere Pferde auch liefen. Fest entschlossen, für unsere Rettung alles zu thun, gedachte ich eines großen, etwa eine Meile ent­

fernten Sees, dessen Gewässer den Gang der Flammen aufhalten konnten. Ich bat meine Frau, ihr Pferd mit der Peitsche recht anzutreiben, und so sprengten wir mit verhängten Zügeln davon. Bisweilen mußten wir, wenn allzu bedeutende Hindernisse im Wege lagen, dem Lauf unserer Rosse Einhalt thun; denn von Zeit zu Zeit häuften sich die gefallenen Bäume und die verdorrten Sträucher vor uns, als hätte man sie absichtlich hingeworfen, um den fürchterlichen Feuer­ strom, der uns verfolgte, doppelte Nahrung zu geben. Schon fühlten wir die

Glut; ein heftiger Wind wehte über unsern Häuptern, und der über den ganzen

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Himmel zitternde Flammenschein verdunkelte die Helle des Tages. Ich verspürte große Mattigkeit und sah mit Schrecken die Blässe auf den Lippen meiner Frau, während das Gesicht unserer kleinen Tochter wegen seiner unnatürlichen Röte unsere Bangigkeit noch vermehrte. Zwei Meilen waren auf raschen Pferden bald zurückgelegt; als wir aber zum See gelangten, fühlten wir uns kraftlos und mit Schweiß bedeckt. Der heiße Rauch war kaum noch zu ertragen, und bisweilen rollten Flammenwirbel über uns, die uns mit Entsetzen erfüllten; am Ufer such­ ten wir eine vor dem Winde geschützte Stelle, ließen unsere Pferde laufen, wohin ihr Instinkt sie treiben mochte, tauchten im Röhricht unter und hielten uns bis

an den Hals im Wasser. Immer mehr schwand unsere Hoffnung, von der Flamme verschont zu bleiben: doch das Wasser wirkte erfrischend und beruhigend, so daß wir wieder neuen Mut faßten. Die Feuersbrunst griff unterdes immer weiter um sich und verzehrte alles, was in ihren Bereich kam. Selbst der Him­ mel hatte einen fürchterlichen Anblick; er zeigte unsern Blicken nichts al« eine unermeßliche, rote Wölbung, an welcher schwarze Rauchwolken hin und her fuh­ ren. Unsere Körper labten sich an der Frische des Sees, aber unsere Köpfe waren wie glühend, und das Kind fing an jämmerlich zu weinen, daß uns die Brust zerspringen wollte. Der schreckliche Tag verging, und wir fühlten bittern Hunger. Wild und Raubtiere schwammen in großer Menge an uns vorüber, und andere verweilten in unserer Nähe, ohne sich um unsere Nachbarschaft zu kümmern. Ich hatte eine Flinte bei mir, und es gelang mir trotz meiner Schwäche, ein Stachelschwein zu schießen, dessen Fleisch wir dann zu genießen versuchten. Ich weiß Ihnen nicht zu sagen, wie die Nacht vorüberging. Die Feuersbrunst bedeckte das Land weithin mit ihren rauchenden Trümmern, und viele Bäume brannten eine Zeit lang aufrecht stehend wie Feuersäulen, oder sie fielen, einander kreuzend, nieder. Plötzlich umgab uns ein schwarzer, den Atem beengender Rauch, und gleich darauf fiel ein Regen von Asche auf uns herab. Ich wiederhole es, ich kann diese Nacht nicht beschreiben; sie hat nur eine schreckende Erinnerung in meinem Gedächtnis zurückgelassen." Hier hielt mein Wirt inne und that einen tiefen Atemzug, als hätte die Erzählung ihn sehr angegriffen; seine Frau brachte uns eine Kanne Milch zur Erfrischung; dann gab mir der wackere Mann das Ende seiner Erzählung. „Gegen Morgen," sagte er, „war die Hitze zwar noch nicht vermindert, aber

der Rauch hatte sich wenigstens verdünnt, und frische Luft drang stoßweiße bis zu uns. Als der Tag erschien, war die ganze Natur still, der Rauch verschwand immer mehr und fiel uns nur noch durch seinen abscheulichen Geruch beschwerlich. Die Frische des Wassers wurde jetzt unangenehm; denn wir zitterten wie Fieber­

kranke. Endlich verließen wir den See und näherten uns einem brennenden Fichtenstamm, um uns wieder zu erwärmen. Was sollte aus uns werden? Die­ ser Gedanke war nach unserer Rettung der erste. Mein Weib drückte das Kind an ihren Busen und weinte bttterlich. Auch vom Hunger wurden wir noch ge­ quält, allein wir konnten ihn jetzt leichter stillen. Mehrere in den See geflohene Damhirsche ließen ihre Köpfe sehen; ich schoß einen derselben, und wir brieten sogleich ein Viertel davon, nach dessen Genuß wir uns sehr gestärkt fühlten. Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb. 5. Au ft. 28

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Das Land brannte immer noch an verschiedenen Orten, und es war ein gefähr­ liches Wagnis, zwischen den halb verkohlten Bäumen zu gehen. Indes erlosch der Feuerschein immer mehr in der Ferne, so daß wir uns, nachdem wir ein paar Stunden geruht hatten, auf den Marsch machen konnten. Zwei Tage und zwei Nächte irrten wir über Erde und Felsen umher, immer den Stellen aus­ weichend, wo die Feuersbrunst noch am Boden glühte, bis wir die vom Feuer

verschont gebliebenen Laubwälder erreichten; hier fanden wir bald eine Hütte, wo man uns freundlich aufnahm. Seit jener Zeit habe ich wacker gearbeitet, mein werter Herr, und wie Sie sehen, hat der Himmel mein Werk gesegnet." Magazin für ausländische Litteratur.

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Bärenjagden.

Der alte Rawlin, einer der eifrigsten Jäger in Arkansas, war mit mehreren seiner Freunde ausgezogen, um Hirsche zu jagen. Als die Männer den Wald er­ reicht und sich in zwei Abteilungen geteilt hatten, schritten sie mit der größten Vorsicht weiter, indem sie dann und wann lauschten, ob kein Geräusch zu ver­ nehmen wäre; plötzlich blieb Friedrich stehen, erhob seine Büchse und winkte Rawlin, zur Seite zu schauen. Fünf starke Hirsche mit stattlichen Geweihen weideten kaum 80 Schritt entfernt friedlich nebeneinander und hatten keine Ahnung von der Nähe ihrer Feinde. Friedrich legte die Büchse an und wollte eben den stärksten von ihnen aufs Korn nehmen, als Rawlin ihm ärgerlich zuwinkte, einzuhalten. „Was fällt Euch ein, Mann?" rief er mit leiser Stimme; „Büchseherunter! Ich glaube gar, Ihr wollt nach einem erbärmlichen Hirsche schießen und uns die ganze Jagd verderben. Hört Ihr das Rauschen und Rascheln dort in der Schilfschlucht? Wenn da kein Bär steckt, so giebt es keinen mehr in ganz Arkansas. Aufgepaßt jetzt! Laßt doch die verdammten Hirsche!" rief er ärgerlich, als jener noch einen

sehnsüchtigen Blick hinüberwarf; „hallet die Augen auf den Boden und zertretet kein Holz wieder wie vorhin! Habt auch acht auf die Hunde, daß uns keiner vor­ der Zeit losbricht; denn jetzt giebt's Arbeit, dafür steh' ich Euch!" Während sich die beiden Jäger mit äußerster Vorsicht und sehr langsam vor­ wärts bewegten, wurde das Rascheln, das Rawlins scharfes Gehör weit früher als Friedrich entdeckt hatte, immer stärker. Sie stiegen jetzt einen kleinen mit Eichen bedeckten Abhang hinauf, der gewissermaßen das hohe Ufer des Flusses

bildete und jedenfalls früher das Bett desselben von dem darunterliegenden nie­ drigen Lande getrennt hatte. Der Baumwuchs des Hügels und des Sumpfes

vereinigte sich an dieser Stelle, so daß, was nicht häufig der Fall ist, Kiefern friedlich neben Cypressen und Sumpfeichen gediehen; gleich dahinter aber lag ein

dichtes Gebüsch von jungem Schilf, Sassafrassträuchern und dornigen Schling­ pflanzen, in welchem jetzt die Männer, vorsichtig heranschleichend, einige dunkle Körper sich umherbewegen sahen. „Sind denn hier in der Gegend wild ge­ wordene Schweine?" flüsterte Friedrich seinem Begleiter zu, indem er aufmerk­ sam hinüberschaute. „Ruhig, ums Himmels willen!" entgegnete Rawlin mit kaum hörbarer Stimme; „drei Bären, bei allem, was lebt! Himmel, wären wir

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jetzt alle beisammen!" „Da kommt Dehart herangeschlichen," sagte Friedrich, der den jungen Mann auf dem Bauche herankriechen sah. „Gut, jetzt müssen alle drei unser sein!" beteuerte Rawlin. „Ihr, Friedrich, bleibt hier und nehmt das größere von den beiden Jungen aufs Korn; Dehart mag sich um die Spitze herumschleichen und das andere nehmen, und ich will hier links in dem Grunde hinkriechen und die Alte befördern. Gebt aber nicht eher Feuer, als bis ich geschoffen habe; wir könnten sonst eins der Kleinen bekommen und uns die Alte entwischen lassen." Durch Zeichen, die Dehart schnell begriff, machte er diesen mit der Nähe und der Anzahl des Wildes bekannt und forderte ihn auf, es von der rechten Seite zu beschleichen. „Soll ich nicht lieber hiukriechen und ihm unsern Plan mitteilen?" fragte Friedrich. „Das ist nicht nötig," sagte Rawlin. „Da er jetzt weiß, daß mehr als ein Bär hier ist, so muß er auch verstehen, was wir vorhaben, und Dehart hat schon manchen geschossen." Damit schlich er in Be­ gleitung der Hunde durch das dichte Unterholz, während Dehart wieder rechts in den Gebüschen verschwand, und Friedrich auf der kleinen Anhöhe, das Ganze überschauend, allein zurückblieb. Es war eine alte Bärin mit zwei etwa sechs Monat alten Jungen, und alle drei schienen emsig bemüht, einen halb verfaulten Baumstamm nmzuwälzen, um die daruntersteckenden Würmer und Käfer zu bekommen. Eigentümlich war die Art, mit der sie dabei zu Werke gingen; die Alte stemmte sich aufgerichtet mit dem Rücken gegen den Stamm, faßte ihn dann mit beiden Bordertatzen und ver­ suchte ihn auf diese Art umzudrehen; die Kleinen mußten dabei helfen, und Frie­ drich konnte, da er kaum 300 Schritte von den Tieren entfernt war, deutlich erkennen, wie die Alte eins der Jungen, das sich ruhig neben den Stamm setzte, mit der Vordertatze zerrte und zur Arbeit anhielt. Endlich gab der Klotz ihren vereinten Bemühungen nach, und die Bärin war nun emsig beschäftigt, daö sich findende Gewürm herauszukratzen; die Jungen aber, wahrscheinlich schon gesättigt, spielten umher und näherten sich mehr und mehr der Seite, auf welcher Dehart herbeigekrochen kam. Friedrich hielt es jetzt für Zeit, dem Kampfplatz ein wenig näher zu rücken, und war gerade bemüht, eine starke Eiche zwischen sich und die Alte zu bringen, um hinter dieser unbemerkt ein paar hundert Schritte herankrie­

chen zu können, als eins der Jungen sich auf die Hintertatzen richtete und scharf ins Gebüsch schaute, einen Augenblick in dieser Stellung verharrte, dann an einer Cypresse etwa 2 oder 22/a m hinaufkletterte, um das niedere Gesträuch übersetzen zu können, und den Kopf ganz schlau nach der Seite hinwandte, auf welcher sich Dehart befand. Da krachte dessen Büchse; laut aufschreiend ließ der junge Bür­ den Stamm los und stürzte in die dornigen Büsche zurück. Wie ein Blitz fuhr indessen das andere an einem schwachen Baum in die Höhe; schnaubend, aber mit zurückgelegten Ohren und weit geöffnetem Rachen stürmte die Alte zur Ret­ tung ihres Jungen herbei. Dehart mochte sie wohl kommen hören und die Ge­

fahr, in der er schwebte, erkennen; denn mit wilden Sätzen floh er durch Dorn und Busch dem höheren Lande zu, während die Bärin, noch ehe sie den Platz erreichte, auf dem das klagende und winselnde Tier lag, dem Geräusch und Krachen der Büchse folgte und vor allen Dingen ihr Junges zu rächen und den Feind 28*

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zu bestrafen bemüht war. Durch die neue Gefahr fast betäubt (denn er hörte jetzt die gereizte Bestie in Wut aufbrüllend dicht hinter sich), ließ Dehart die Büchse fallen, lief, Friedrich erblickend, der mit gespanntem Hahn auf den höch­ sten Punkt der Anhöhe gesprungen war, um wo möglich zum Schuß zu kommen, gerade auf diesen zu und rief, an ihm vorbeistürzend: Schießt, schießt! um Gottes willen, schießt!" Auch Friedrich war durch die schnelle Entwickelung der Scene nicht wenig überrascht; er blieb stehen und hob die Büchse, würde aber wahrscheinlich dem wütenden Tiere, das sich ihm jetzt entgegenwarf, zum Opfer gefallen sein; denn

unmöglich konnte er unter solchen Umständen seine Kugel mit Sicherheit absenden, wären nicht in dem Augenblicke Rawlins drei Hunde auf dem Kampfplatz er­ schienen. Diese warfen sich kaum 15 Schritte von dem jungen Jäger mit grim­

miger Wut der Bestie entgegen, die mit emporgesträubten Haaren und fletschen­ den Zähnen den ersten zu Boden schlug und wenig länger als eine halbe Mi­ nute durch die treuen Hunde aufgehalten wurde. Diese Zeit war aber von dem Schützen nicht unbenutzt vorübergelassen; denn gerade in demselben Augenblicke, als die zur äußersten Wut gebrachte Bärin die beiden anderen Hunde von sich wegschleuderte, zerschmetterte ihr seine Kugel das Brustbein und durchwühlte ihre Eingeweide. Von wütendem Schmerz gepeinigt, warf sich die Bestie auf den Stücken und stöhnte wie ein verwundeter Mensch. Friedrich hatte kaum Zeit, sein breites Jagdmesser aus der Scheide zu reißen, als sie noch einmal mit fürch­ terlicher Kraftanstreugung die beiden Hunde von sich schleuderte und wild umher­ blickend auf die Füße sprang, um den Feind zu erspähen und zu vernichten. Der Jäger stand bleichen Angesichts, aber fest mit dem Ausser in der krampfhaft ge­ schlossenen Faust den gewissen Angriff erwartend; da, als gerade der Bärin

rollendes Auge dem seinigen begegnete, als ihre Blicke Feuer zu sprühen schienen, krachte plötzlich ganz in der Nähe ein zweiter Schuß, und mit zerschmettertem Hirne brach das wütende Tier zusammen. In demselben Augenblick trat Thom­ son lachend hinter einem Baume, der ihn verborgen hatte, hervor und rief: „Blitz und Hagel! Ihr sitzt wohl hier zwischen lauter Bären? Das knallt ja in einem fort!" „Hört, Thomson," sagte Friedrich, „ich glaube, Ihr seid dies­

mal gerade zur rechten Zeit gekommen; denn wenn ich die Bestie auch mit dem Messer umgebracht hätte, möchte meine Haut dennoch übel dabei weggekommen sein. Wie bösartig sieht doch ein solches Tier aus, wenn es zum Äußersten ge­ trieben wird!" „Nicht wahr?" schmunzelte Thomson, „wenn man die Ohren nicht mehr sieht und glaubt, daß das ganze Gesicht aus weiter nichts als Zähnen und Zahnfleisch besteht, über dem ein Paar glühende Kugeln sitzen? Hört, Friedrich, Ihr hättet dabei sein sollen, wie wir im vorigen Jahre die alte Bärin dreimal

angeschossen hatten und diese nun schnaubend und blasend auf mich loskam!" „Aber, bester Thomson, wir sind hier noch gar nicht fertig," unterbrach ihn Friedrich; „das andere Junge muß noch auf irgendeinem Baume sitzen." „Den Teufel auch!" rief Thomson; „ja, dasgeht vor. Wo sind aber Dehart und Nawlin? Ich hörte doch Deharts Büchse zuerst." „Gott weiß, wo der jetzt steckt," lachte Friedrich; „wenn er so fortgelaufen ist, wie er hier vorbeikam, so muß er

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jetzt schon eine gehörige Strecke zurückgelegt haben; doch da kommt Rawlin und wahrhaftig Dehart auch!" Die beiden Männer näherten sich in der That; Rawlin aber rief, ohne ein Wort zu verlieren, die Hunde mit sich fort und rannte dem Platze zu, wo er das andere Junge vermutete. Dieses hatte den anfangs erstiegenen Baum ver­ lassen und Fersengeld gegeben; die Hunde kamen aber glücklicherweise auf die noch warme Fährte und folgten kläffend und winselnd, während Rawlin ihnen nacheilte. Friedrich wollte folgen; doch hielt ihn Thomson zurück und sagte: „Laßt das! Wenn das Tierchen nicht älter ist als das, welches ich da unten habe liegen sehen, so wird Rawlin schon allein mit ihm fertig werden. Überdies

müssen Deharts Hunde sich der Hetze angeschlofsen haben." „Sie haben das Tier schon auf einem Baume!" rief Dehart; „ich kenne die Gewohnheit meines alten Jagdhundes; er setzt sich dann nieder und bellt jede halbe Minute einmal recht tief auf." „Wo ist denn Eure Büchse, Dehart?" fragte jetzt Thomson verwundert. „Geht Ihr bloß zu Eurem Vergnügen hier im Walde herum?" „Sie muß hier in der Nähe liegen," entgegnete Dehart verdrießlich; „eine Schlingpflanze riß sie mir, gerade wie ich hier zu Friedrich wollte, aus der Hand." „Ihr müßt in verdammt großer Eile gewesen sein," meinte Thomson, „wenn Ihr Euch nicht einmal Zeit nahmt, Euer Gewehr wieder aufzuheben." Friedrich biß sich auf die Lippen und sah Dehart an. „Nun," meinte dieser halb lachend, halb ärgerlich, „es ist weiter keine große Schande, Fersengeld zu geben, wenn man eine leere Büchse in der Hand und kein langes Fangmesser im Gürtel hat und eine wütende Bärin einem auf den Leib rückt. Aber nicht wahr, Friedrich, ich reiße nicht schlecht aus?" „Das kann ich bezeugen!" rief dieser; „das Gras wuchs Euch nicht unter den Füßen. Ihr lieft wie ein alter Truthahn mit angeschossenem Flügel." „Ja," sagte Dehart, „wenn man von einer solchen Bestie gehetzt wird, läuft man noch einmal so leicht und wird auch gar nicht müde." In dem Augenblick fiel ein Schuß, und gleich darauf hörte man den schwe­ ren Fall eines Körpers. „Aha!" rief Thomson, „Rawlin hat doch jetzt auch seine Büchse losgeschossen. Alles beim Lichte besehen, haben wir, obschon wir keinen

Hirsch mitbringen, doch keine üble Jagd gemacht, und an unserm Lager wird's heut fettige Finger geben." „Das möcht' ich bezweifeln," sagte Friedrich; „denn die alte Bärin sieht mager genug aus; die Jungen sind vielleicht besser. Was wollen wir aber jetzt anfangen; die Nacht hier bleiben und unsere Pferde suchen?"

„Laßt uns nur erst Rawlins Ankunft abwarten," sagte Thomson; indessen den jungen Bären hierherholen und die Alte abstreifen, doch nicht zu gebrauchen sein wird." „Die Keulen nehmen wir Dehart. „Die Bestie hatte so große Lust, mich zu verzehren, daß

„wir können deren Fleisch mit," meinte ich auf jeden

Fall wissen will, wie ihr Fleisch schmeckt; jetzt muß ich aber erst meine Büchse suchen, die wohl nicht weit von hier liegen kann; die Fährte, die der Bär und ich gemacht haben, wird auch kenntlich genug sein." Die Jäger folgten indessen Thomsons Rat, trugen das Junge herbei und streiften die Alte ab, während Rawlin mit dem zweiten Jungen auf der Schulter in Begleitung der Hunde zurückkehrte. Wayborne, ein Pächter in Missouri, ging eines Tages in den Wald, um

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seine Pferde zu holen, die dort weideten.

Er hatte wie gewöhnlich seine Büchse

auf der Schulter, doch war ihm die Munition ausgegangen, so daß er nur noch den einen Schuß hatte, der sich in dem Laufe befand. Als er kurz vor Sonnen­ untergang nach Hause zurückkehrte, sah er einen großen Bären quer über den Weg laufen; er feuerte auf ihn; der Bär fiel, erholte sich aber bald wieder und lief einer tiefen Schlucht zu, die sich in der Nähe befand. Wayborne folgte der Blutspur, so lange er sehen konnte; er mußte aber bald die Verfolgung aufgeben und ging in der Hoffnung, das Tier am andern Morgen tot zu finden, nach Hause. Am andern Morgen bewaffnete er sich mit einer Heugabel und einem Beile und machte sich mit seinem elfjährigen Sohne auf den Weg, um den Bä­ ren aufzusuchen. Die Schlucht, in der sich der Bär verborgen hatte, war gegen 30 m tief und von einem Bach durchflossen, der unter dichtem Gebüsch hinfloß. Nach vielem Suchen sah endlich Wayborne den Bären am andern Ufer des Baches an einem Felsen sitzen; er stieg daher in die Schlucht hinab, ging durch den Bach und näherte sich, indem er an der andern Felswand hinaufging, dem verwundeten Tiere, das ihn, ohne sich zu rühren, erwartete. Als er ihm bis auf drei Schritte nahe gekonnnen war, suchte er ihn mit der Heugabel zu durch­ bohren ; doch in demselben Augenblick fand er sich von den Tatzen des Ungeheuers fest umklammert; beide rollten einen Abhang von 10 m in den Bach hinab, wäh­ rend der Bär den linken Arm und die Brust des Mannes zerfleischte und ihm fast die Gurgel zuschnürte. Wayborne drängte jetzt seinen rechten Arm, so tief er konnte, in den Nachen des wütenden Tieres und suchte es so zu erdrofieln. Da er unterdes weiter in den Bach hineingerollt war, so gelang es ihm, den Kopf des Bären immer wieder unter das Wasser zu drücken. Jetzt sah auch der Knabe, dem die Gebüsche bisher den Anblick des Kampfes verdeckt hatten, in welcher Gefahr sein Vater schwebte; er sprang hinzu und schlug dem Bären mit dem Veil den Hirnschädel ein. Wayborne, obgleich ein überaus kräftiger Mann,

war durch den Blutverlust so ermattet, daß er sich kaum fortschleppen konnte.

Vier Wochen mußte er das Bett hüten, und auch dann dauerte es lange Zeit, ehe die Schulter und der Arm, die der Bär bis auf die Knochen zerfleischt hatte, wieder vollständig geheilt waren. Dessenungeachtet blieb Wayborne ein leidenschaftlicher Jäger, der noch man­ ches gefährliche Abenteuer bestand. Als er einst in den Wald gegangen war, um einen Hirsch zu schießen, erblickte er zwei junge Bären, die sich, sobald sie seiner ansichtig wurden, auf eine Fichte flüchteten. Da er vermutete, daß die alte Bärin auf Raub ausgegangen sei und der Baum gut zu ersteigen war, so beschloß er ohne Zögern, die günstige Zeit zu benutzen, um die beiden jungen

Tiere zu fangen. Er hatte soeben die Fichte mit einiger Mühe erklettert, als die alte Bärin angetrabt kam, auf den Baum zueilte und sich anschickte, ihn zu

ersteigen. Sobald sie den ungebetenen Gast oben bei ihren Jungen sah, stutzte sie einen Augenblick und schien sich zu überlegen, was sie thun solle. Wayborne fand seine Lage durchaus nicht behaglich; allein er war ein beherzter Mann, und sein Entschluß war bald gefaßt. Er stieg auf den untersten Ast hinab, wo er seinen Hirschfänger besser brauchen konnte; denn sein geladenes Gewehr hatte er

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leider unten am Baume stehen lassen, um leichter klettern zu können. Die Bärin stieg jetzt in aller Eile zu ihm empor; als sie mit der Tatze nach ihm langen

wollte, hieb er dieselbe mit einem kräftigen Hiebe ab. Die Bärin glitt am Stamm etwas hinunter, kam aber bald in entsetzlicher Wut zurück und versuchte, den Jäger mit den Zähnen zu fassen. Während sie den Rachen mit gräßlichem Zähnefletschen aufsperrte, stieß ihr Wayborne kaltblütig den Hirschfänger hinein; da fiel sie vom Stamme hinunter und blieb am Fuße desselben mehrere Minuten bewußtlos liegen. Zum Schrecken des Jägers erholte sie sich aber bald wiever

und schickte sich an, von neuem hinaufzuklettern. Glücklicherweise vermochte sie dieses nicht; doch blieb sie aufgerichtet am Stamme stehen. In dieser Stellung verharrte sie mehrere Stunden; dann legte sie sich am Baume nieder. Der Abend war unterdes herangekommen, aber das Tier unten wich und wankte nicht. Der auf dem Aste reitende Bäreufänger verwünschte seinen Einfall; denn seine Lage mitten zwischen den Tieren war nichts weniger als behaglich. Zwar war er für den Angenblick ziemlich sicher, da er von den Jungen nicht viel zu fürchten hatte und die Alte außerstande zu sein schien, ihn anzugreifen; aber die Aussicht, die Nacht in so unbequemer Stellung auf dem Baume zubringen zu müssen, war­ um so unangenehmer, als sich Hunger und Durst einstellteu und der Himmel anfing, sich dicht zu umwölken. Bald wurde es so finster, daß Wayborne unten an der Erde nichts mehr unterscheiden konnte; aber einzelne brummende Töne, die er vernahm, verkündeten ihm, daß seine grimmige Schildwache noch immer auf ihrem Posten war. Mit jeder Minute wurde seine Lage unerträglicher, da nun auch die kleinen Bestien anfingen munter zu werden; seine donnernde Stimme und der Hirsch­ fänger brachten sie jedoch bald wieder zur Ruhe. Der Wind erhob sich nun, es sielen einzelne Tropfen, das Wetter leuchtete, und in der Ferne rollte der Donner. Mit großer Aufmerksamkeit lauschte der Jäger nach unten in der Hoffnung, von seinem Feinde keinen Laut mehr zu vernehmen; aber beim Schein eines Blitzes

entdeckte er, daß die Bärin noch immer da war und unverwandt nach ihm hiuaufsah. So verging die Nacht unter Seufzen und Stöhnen des armen Jägers,

der sich auf seinem unbequemen Sitze drehte und wendete, und dessen einziger Zeitvertreib in der langen Gewitternacht darin bestand, die jungen Bären ini Zaume zu halten, denen das Nachtquartier auch nicht zu gefallen schien. End­ lich dämmerte es im Osten, und Wayborne faßte den Entschluß, lieber mit der furchtbaren Schildwache den Kampf auf Leben und Tod zu wagen, als länger­ sitzen zu bleiben. Während er sich die Sache noch überlegte, hörte er in der

Ferne menschliche Stimmen;

aber sie zogen in ziemlicher Entfernung von ihm

hin, und als er hinblickte, saß die Bärin noch immer da und schaute mit grim­ migen Blicken nach oben. Nach einiger Zeit hörte der Unglückliche seinen Namen rufen; seine Nachbarn, welche sein langes Ausbleiben beunruhigt hatte, waren

ausgezogen, um ihn zu suchen. Die Bärin richtete sich alsbald mit ausgesperrtem Rachen gegen die Ankommenden auf, wurde aber sofort glücklich niedergeschossen. Der befreite Jäger stieg nun herunter, vergaß aber nicht, die beiden jungen

Bären mit sich zu nehme«.

üeiftäifev.

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31. Der graue Bär. Die amerikanische Natur scheint von dem Schöpfer nach einem großartigeren Maßstab gebildet zu sein als die übrigen Erdteile. Die mehr als 600 Meilen langen und oft mehrere Meilen breiten Ströme, die dem Meere ähnlichen Seeen, die ungeheuren Bäume, das baumhohe Gras in den Prärieen, die gewaltigen

Häfen, wie der von San Francisco, wo die vereinigten Flotten der ganzen Welt zu gleicher Zeit vor Anker liegen könnten, alles dies erregt durch seine riesen­ hafte Größe die Bewunderung des Europäers. Nicht minder großartig ist die tierische Welt in vielen ihrer Bildungen. So strotzen zu manchen Zeiten die Flüsse Nordamerikas bis in die kleinsten Bäche hinein von ungeheuren Salmen; die Gewässer vermögen die Menge derselben nicht mehr zu fassen und werfen sie endlich aus ihrem Schoße an das Ufer hinaus, wo umherstreifende Indianer das kostbare Mahl, welches ihnen die Vorsehung sendet, mit den fleischfressenden Tieren der Steppe teilen. Zu anderen Zeiten durchziehen Herden von Büffeln, so zahlreich wie die Salme in den Flüssen, die Prärieen und fliehen vor den In­

dianern, von denen sie verfolgt werden. Und mit welchem reißenden Tiere könnte man wohl in der ganzen Welt den grauen Bären vergleichen! Es giebt keins, das sich ihm an die Seite stellen läßt; denn er ist fast so groß wie der Büffel, und seine Krallen sind so lang und scharf wie die Hauer des Ebers. An Schnelligkeit und Ausdauer wetteifert er mit dem Pferde, an Wildheit mit dem bengalischen Tiger; seine Kraft ist so groß, daß er einen ganzen Büffel in scharfem Trabe fortträgt, und die Kugeln der Jäger prallen von ihm ab wie der Hagel von einem Ziegeldache; ja die Zähigkeit seines Lebens ist so groß, daß er oft noch mehrere Meilen weit läuft, nachdem er Schüsse in die Lunge, den Kopf und selbst in das Herz erhalten hat.

Die Erlegung eines so schrecklichen Kolosses ist daher derjenige Sieg, auf welchen der rote Krieger der Prärieen am meisten stolz ist. Ein Glück ist es, daß die grauen Bären nicht gar häufig sind, sondern nur vereinzelt in den Schluchten und Abhängen des Felsengebirges und den angrenzenden Prärieen erscheinen; dennoch ist einer jener mutigen Jäger, welche allein in der endlosen Wildnis umherstreifen, an einem und demselben Tage mit zweien dieser furchtbaren Tiere zusammengetroffen und beide Male der Gefahr glücklich entgangen. Dieses Abenteuer erzählt er selbst folgendermaßen. Vor einigen Jahren hatte ich mich, als ich vom Felsengebirge nach dem roten Flusse zurückkehrte, in eine öde Gegend verirrt, in der ich mehrere Tage

lang umherstreifte, ohne auch nur die Spur eines Wildes zu sehen. Meine Vor­ räte waren längst aufgezehrt, und der entsetzlichste Hunger peinigte mich, als ich endlich das Ufer des Flusses erreichte, wo ich Wild im Überfluß anzutreffen

hoffte. In der That zeigten sich auch hier und dort Büffel, Hirsche, Rehe und wilde Pferde; aber alle meine Anstrengungen, eins dieser Tiere zu erlegen, waren vergeblich. Nachdem ich mich zwei Tage lang nutzlos abgemüht hatte, setzte ich mich, an meiner Rettung verzweifelnd, nicht weit vom Ufer des Flusses in das hohe Gras. Mein Pferd war glücklicher als ich; denn während ich vergeblich

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Natur-, Länder- unb Välkerkllnde.

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nach einigen wilden Früchten oder Wurzeln suchte, um meinen wütenden Hunger zu stillen, weidete es ruhig das Gras ab, welches hier besonders frisch und saftig war. Plötzlich erblickte ich in einer Entfernung von zwei Büchsenschüssen ein Tier, welches mir seiner Größe nach ein Büffel zu sein schien. Die Dunkelheit fing schon an, sich über die Erde auszubreiten, und ich dankte dem Himmel für den glücklichen Zufall, der mir noch spät am Abend eins der bis jetzt vergeblich verfolgten Tiere zuführte, als ein schreckliches Brummen mich enttäuschte. Ich sprang auf, und nun sah ich zu meinem Schrecken, daß sich der Büffel in einen Bären von kolossaler Größe verwandelte. Durch eine Veränderung, wie sie im

Leben öfter vorkommt, wurde nun der Jäger plötzlich zum Wilde. Bon der Kraft und der Unverwundbarkeil des schrecklichen Beherrschers der Steppe hatte ich schon gehört; jetzt sollte ich auch Gelegenheit bekommen, die Schnelligkeit dieses anscheinend so schwerfälligen Tieres kennen zu lernen. Ich hatte mein Pferd mit einem langen, starken Riemen an einen Baum gebunden und sah, wie es sich bäumte und sich loszureißen suchte. Ich lief daher, so schnell ich es bei meiner Schwäche vermochte, nach ihm hin und schoß, ehe ich mich in den Sattel schwang, meine Büchse auf den Bären ab, der unterdessen schon ganz nahe herangekommen war. Die Kugel, welche an dem zottigen Pelze abprallte, brachte keine andere Wirkung auf das Ungetüm hervor als ein Sporenstoß in die Flanke eines Pferdes; denn sie vermehrte nur seine Wut und seine Schnellig­ keit. Ich hatte gerade noch Zeit, mich auf mein Pferd zu schwingen und den Riemen, mit welchem es angebunden war, zu durchschneiden, und dann wurde der Jäger von dem wilden Tiere gejagt. Der Bär war durch diesen Triumph seiner Eigenliebe keineswegs befriedigt, sondern folgte mir in seinem anscheinend schwerfälligen, in Wirklichkeit aber sehr behenden Trabe mit solcher Schnelligkeit, daß er immer dicht hinter mir war. Bisweilen gewann ich zwar durch einen beschleunigten Galopp meines Pferdes einen solchen Borsprung, daß ich die Bestie aus dem Gesicht verlor; so oft aber die Ermüdung meines Pferdes mich nötigte, langsamer zu reiten, zeigte sich auch der Bär wieder, welcher den gleichmäßigen Trab, den er einmal angefangen hatte, ohne Unterbrechung fortsetzte. Dem Tage war die Nacht gefolgt, und eine Zeit lang war mein erbitterter Verfolger in der Dunkelheit verschwunden, als auf dem weißem, kalkigen Boden der Ebene noch einmal ein ungeheurer schwarzer Körper erschien, dessen gleichmäßiger Gang und

dessen rauhe Stimme nicht zu verkennen war. Es war dies das letzte Mal gewesen, daß ich meinen Feind aus dem Gesicht verlor; denn von nun an befand er sich immer dicht hinter mir gleich einem Stern, welchen man stets an der nämlichen Stelle des Himmels bemerkt, wie groß auch die Schnelligkeit ist, welche

man anwendet, um an ihm vorbeizukommen, oder gleich dem Schatten, der dem fliehenden Körper folgt. Dabei wurde der Raum, welcher uns trennte, immer kleiner; denn der Bär hatte seine Schnelligkeit nicht vermindert, während die meines Pferdes mit jeder Minute abnahm. Schon bedeckte dichter Schaum seine Flanken, sein Atem drängte sich mühsam aus den durch die Furcht erweiterten Nüstern, und seine Schritte wurden immer schwächer und unsicherer. Zwei Stunden vergingen so, zwei Stunden, in denen jede Minute eine Stunde zu

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Natur-, Länder- und Völkerkunde.

sein schien. Schon mischte sich das spöttische Schnüffeln des Bären in das ängst­ liche Schnaufen des Pferdes, bis endlich das edle Tier, von der übermäßigen Anstrengung und vom Schrecken erschöpft, nicht mehr weiter konnte und zusam­

menbrach. Ich hatte diesen Fall vorausgesehen und sprang noch im rechten Augenblick aus dem Sattel, so daß ich, als das Pferd stürzte, neben ihm auf meinen Füßen stand. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß ich nur zwei Schritte von einem Ahorn­ baume entfernt war; diesen erkletterte ich mehr aus Instinkt als aus Überlegung

in der größten Eile, und meine Fersen befanden sich bereits in einiger Entfer­

nung vom Boden als der Bär, welcher offenbar den Menschen dem Tiere vor­ zog, sich auf seine Hinterfüße setzte und mit seinen furchtbaren Fangzähnen, welche ebenso lang und hart wie meine Sporen waren, die letzteren berührte. Als ich mit heiler Haut diesem Angriff entgangen war, gedachte ich plötzlich der Gewandtheit des Bären, die Gipfel der Bäume zu erklettern, um dort nach Honigscheiben zu suchen, und richtete mich daher auf der Gabel eines Haupt­ zweiges so ein, daß ich bei einem zweiten Angriff nicht ganz wehrlos war. Wenn ich freilich die Gewohnheiten des grauen Bären gekannt hätte, so würde ich keine Veranlassung gehabt haben, mich sehr zu ängstigen. Der graue Bär, welcher wegen der wunderbaren Länge seiner scharfen Krallen der letzte Überrest jener gigantischen Höhlenbewohner der Urwelt zu sein scheint, kann nämlich nicht wie die übrigen Arten seines Geschlechts auf die Bäume klettern; so begnügte sich denn auch mein Feind damit, zuerst auf den Reiter und dann auf das ster­ bende Pferd zu blicken, und da er meiner für den Augenblick nicht habhaft wer­ den konnte, so begann er, das Pferd an den Fuß des Baumes zu ziehen und hier zu verzehren. Bei diesem Geschäft entwickelte er dieselbe Thätigkeit und Schnelligkeit wie früher bei der Verfolgung; es hinderte ihn aber nicht, von Zeit Zu Zeit zu mir hinaufzublicken und mir zu verstehen zu geben, daß er das Pferd nur als eine Abschlagszahlung betrachte. Während eines Teils der Nacht hörte

ich das entsetzliche Krachen der Knochen meines unglücklichen Pferdes; dann sah ich, wie eine schwarze, ungeheure Masse sich am Fuße des Baumes niederlegte, und zugleich fühlte ich, daß meine Augenlider vom Schlaf schwer wurden. So oft ich die Augen öffnete, sah ich dasselbe Schauspiel, und endlich band ich mich, da ich die Müdigkeit nicht mehr zu bewältigen vermochte, mit meinem Gürtel an den Bauni, steckte das Faustgelenk in die Quaste des Degens und schlief trotz dem Hunger und der Nähe des schrecklichen Feindes ein. Ich erwachte, als es noch nicht Tag war und schaute zur Erde nieder; da lag noch immer eine schwarze Masse, aber ich konnte nicht unterscheiden, was es war. Als endlich der Morgen graule, sah ich mit freudiger Überraschung, daß

der Bär mit dem Pferde nebst Sattel und Zaum verschwunden war. Die schwarze Masse, die mich geschreckt hatte, war das geronnene Blut meines Pferdes, mit dem der Boden bedeckt war. Ein schrecklicher Tag folgte dieser furchtbaren Nacht;

Hunger und Durst und grausenhafte Erscheinungen von Bären, die mir hinter allen Gebüschen zu liegen schienen, ließen mir keinen Augenblick Ruhe, und dabei war ich bereits dermaßen erschöpft, daß ich mich kaum noch sortzuschleppen ver-

VII. mochte. steigen.

Natur-, Lander- u n d Bölkerkuilde.

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Bei Sonnenuntergang sah ich hinter einem Gebüsch eine Rauchsäule auf­ Obgleich sich mit der größten Wahrscheinlichkeit annehmen ließ, daß der

Rauch aus einem indianischen Lager aufstieg, so zauderte ich doch keinen Augen­ blick, auf dasselbe loszugehen; denn das Schlimmste, was ich dort zu erwarten hatte, war immer noch besser als der Hungertod, dem ich erliegen mußte, wenn

mir nicht bald Hülfe kam. Als ich in das Gebüsch trat, erblickte ich sechs Indianer, welche um ein Feuer herumsaßen, aber ohne eine Spur von irgendeiner Mahlzeit. Betrübt wollte ich mich leise wieder davcnschleichen; aber die Falkenaugen der Wilden halten mich bereits bemerkt, und einer derselben, welcher nach seinem Schmuck

ein Häuptling zu sein schien, forderte mich mit gebieterischen Gebärden aus, zu ihm heranzukommen; ich sah jetzt, daß es Komanchen waren, trat furchtlos an ihr Feuer und legte mich neben demselben nieder. Da ihre Ration für den Augenblick mit den Weißen verbündet war, so nahmen sie mich freundlich auf, fragten in spanischer Sprache nach dem Zweck meiner Reise und versicherten, als ich den Büffelsee nannte, daß dies auch das Ziel ihrer Wanderung sei. Darauf

reichten sie mir eine Pfeife mit Tabak, der mit Sumachblättern vermischt war, und streckten sich wieder behaglich im Grase aus. Während ich, um meinen lee­ ren Magen zu täuschen, den Rauch in mächtigen Wolken fortblies, kam es mir von Zeit zu Zeit vor, als ob ein Duft von gebratenem Fleisch die Atmosphäre um mich her balsamisch durchdrang; es währte auch nicht lange, so erhob sich einer von den Indianern, entfernte sich einige Schritte von der Gruppe und kniete an einer Stelle des Bodens nieder, die erst kürzlich aufgegraben zu sein schien. In der größten Spannung folgte ich allen seinen Bewegungen und sah nun, wie er die Erde mit seinem Messer aufgrub. Jetzt war es keine Einbil­

dung mehr: ein balsamischer Duft, lieblich und durchdringend zugleich, kam aus dem halb geöffneten Boden hervor! In dem Augenblick, als der Indianer eine schwarze, halb verbrannte Masse aus der Erde hervorzog und die verkohlte Hülle abnahm, stieß ich das Geheul eines hungrigen Tieres aus und wurde dann fast ohnmächtig vor Freude bei dem Anblick eines ganzen Berges von Fleisch, wel­ ches so duftig und saftig vor mir lag wie das rosenfarbige Fleisch der Wasser­ melone. Der wilde Küchenmeister legte es in seiner schwärzlichen Schale auf die

Erde nieder, und nun rückten die anderen Männer, welche auch lange Zeit nichts gegessen zu haben schienen, mit ihren Messern heran. Der Büffelrücken, den der Indianer aus dem unterirdischen Ofen herausgenommen, hatte durch

seine Hautumhüllung und dann durch die Erde selbst seinen ganzen Wohlgeschmack behalten und gewährte eine Mahlzeit, wie sie sich kein König besser wünschen kann. Die ganze Gesellschaft ließ es sich auch vortrefflich schmecken und ver­ schlang eine Masse von Fleisch, welche in Europa wenigstens 40 hungrige Men­ schen gesättigt haben würde. Als die Mahlzeit beendet war, legten wir uns im Grase nieder und schliefen ruhig bis zum Anbruch des Tages; dann machten wir uns auf den Weg und kamen gegen Mittag an einen Fluß, an dessen Ufer wir ein aus Büffelhäuten verfertigtes Kanoe fanden, zu dessen Bewachung ein Komanche und ein kanadischer

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Jäger zurückgeblieben waren. Hier schifften wir uns ein; in dem Augenblick aber, als wir abstoßen wollten, sagte der Häuptling zu mir: „Wir nähern uns jetzt dem Jagdgebiet unserer Todfeinde, der Apachen. Bielleicht sind sie schon auf unserer Spur, oder sie haben sich an dem Flusse in den Hinterhalt gelegt. Jeden­ falls ist es ratsam, einige Vorsichtsmaßregeln zu treffen; ich werde hinter diesen Hügeln in einiger Entfernung von einander mehrere Feuer anzündeu lassen. Wenn die Apachen diese Feuer sehen, ohne unterscheiden zu können, ob Krieger um die­ selben gelagert sind, werden sie einige Zeit damit verlieren, um ein Mittel aus­ findig zu machen, wie sie sich ihnen ohne Gefahr nähern können, und unterdessen werden wir einen bedeutenden Vorsprung gewinnen." Dieser Plan wurde ohne Verzug ausgeführt. Die Feuer wurden hinter Gesträuchen und kleinen Hügeln, welche nur den Rauch und den Wiederschein erblicken ließen, die Flamme selbst aber verbargen, angezündet; dann wurde das Kanoe wieder ins Wasser gelassen und die Reise angetreten, indem immer zwei Komanchen abwechselnd ruderten. Ich benutzte diese Zeit, um mich auf dem

Boden des Kanoes auszustrecken und einige Augenblicke zu schlafen; und der Kanadier folgte meinem Beispiel. Aber so müde ich auch war, so keam doch kein Schlaf in meine Augen; vielmehr hielt mich die Ahnung einer unbkannten Ge­ fahr beständig wach. Schon längst waren die zur Täuschung des Feindes an­ gezündeten Feuer in der Ferne verschwunden. Während der Kanadier in tiefem Schlafe lag und zwei von den Indianern schweigend ruderten, saß der Häupt­ ling am Ende des Fahrzeugs und durchspähte nach allen Seiten die Einöde, welche wir durchschifften. Einige Stunden lang war kein anderer Laut zu ver­ nehmen als das Rauschen des Kanoes, wenn es das Schilf am Ufer des Flusses streifte, und das Eintauchen der Ruder in das Wasser; plötzlich aber bewies mir

die Haltung und die Miene des wahrnähme. In der That ließ sich vor welches mitten aus dem Flusse zu Ruderern einen Wink aufzuhören

Häuptlings, daß er etwas Außergewöhnliches uns eine Art dumpfen Brummens vernehmen, kommen schien. Der Häuptling gab den beiden und beugte sich über den Körper des Kanadiers,

der, als er fühlte, daß man seine Schultern berührte, die Augen öffnete und um sich blickte. Er sah, wie die beiden Indianer ihre Ruder regungslos in der Hand hielten, und vermutete mit Recht die Nähe einer noch verborgenen Gefahr. Der Fluß, welcher da, wo er eingeschlafen war, durch eine Ebene floß, war hier, wo er aufwachte, zwischen zwei ziemlich hohen Ufern eingeengt. Auch war es unter­ dessen bereits finster geworden, und verwundert über diesen Wechsel, warf der Kanadier forschende Blicke nach allen Seiten. Da er nichts Verdächtiges sah,

fragte er: „Was giebt's, und warum habt ihr mich geweckt?" Ein längeres Brummen, ähnlich dem Brausen eines Blasebalgs, überhob den Indianer der Antwort und ließ auch mir keinen Zweifel, daß ein grauer Bär in der Nähe

wäre. So sollte ich denn abermals mit dem furchtbaren Feinde zusammentresien, dem ich zwei Tage zuvor nur mit Mühe entronnen war! „Ach!" sagte der Ka­

nadier, „ich brauche nicht weiter zu fragen. Doch was ist am Ende daran ge­ legen? Laßt uns vorüberfahren; ich denke, die Bestie wird uns in Ruhe lassen."

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Natur-, Länder- und Völkerkunde.

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„Wir können ohne ihre Erlaubnis nicht vorbeikommen," antwortete der Häupt­ ling. „Hinter dieser Krümmung ist der Fluß sehr schmal, und das Tier hält eine kleine Insel in der Mitte der Strömung besetzt. Was ich einmal gesehen habe, vergesse ich nicht wieder, und so kenne ich auch die geringste Krümmung

dieses Flusses." Unterdessen war das Boot, sich

im Kreise drehend, von der Strömung

weitergetrieben worden, und da es dringend notwendig war, einen Entschluß zu fassen, bevor man sich in den gefährlichen Engpaß hineinwagte, so befahl der Häuptling den Ruderern, eine Strecke stroman zu fahren. Während dies ge­ schah, sagte ich zu ihm: „Wir dürfen hier von unseren Büchsen keinen Gebrauch machen, sonst könnten wir versuchen, im Borbeifahren dem Feinde eine Kugel in den Kopf zu schießen, wenn er es wagen sollte, uns anzugreisen; aber wie die Sachen stehen, könnte ein einziger Schuß die Apachen herbeirufen. Ich bin also der Meinung, Komanche, daß wir ohne weitere Umstände alle Eitelkeit bei Seite setzen, ans Land steigen und das Kanoe auf die Schulter nehmen, um mit diesem teufelsmäßigen Tiere keinen Streit zu beginnen. Weiterhin können wir den Fluß wieder benutzen." „Die Komanchen haben scharfe Streitäxte und kräftige Arme," erwiderte der Häuptling, „und die beiden weißen Jäger haben ihre langen Messer und ihre Feuerwaffen; auch hat man mir erzählt, daß die Büchse des Kanadiers niemals ihr Ziel verfehlt." „Das ist richtig," sagte der Kanadier; „wenn ich auf festem Beden stehe, ist mein Schuß ziemlich sicher; aber in diesem schwankenden Nachen bin ich meiner Sache nicht ganz gewiß. Wenn Ihr also bestimmt wißt, daß wir dicht bei dem Tiere vorbei müssen, so rate ich selbst dazu, dem Kampfe aus dem Wege zu gehen; denn die Bestie scheint hungrig zu sein. Auch wißt Ihr ja, daß es selten gelingt, einen grauen Bären auf einen Schuß zu töten." Der Häuptling willigte ein, unserem Borschlage zu folgen, und ließ den Kahn an das Ufer treiben; bevor aber die Gesellschaft ausstieg, hielt er es für nötig, die Umgegend zu durchforschen. Er stieg daher das steile Ufer, welches den Fluß einengte, empor und kroch dann vorsichtig durch das hohe Gras, welches die an­

grenzende Ebene bedeckte. Unterdessen horchten wir aufmerksam auf jedes Geräusch, welches aus der

Gegend, in der wir den Bären vermuteten, herübertönte. Es war klar, daß er schon die Annäherung von Menschen witterte; denn mit dem gewaltigen Schnauben seiner Nase vermischte sich von Zeit zu Zeit das Knirschen seiner furchtbaren Zähne und Krallen, welche an den Felsen der Insel scharrten. Plötzlich kam der

Häuptling in großer Eile zurück. „Fort, fort!" sagte er mit leiser Stimme, so­ bald er das Kanoe erreicht hatte; „dort sind berittene Indianer, welche die Prärieen durchstreifen. Ich habe sie zwar nicht erkannt, aber ich zweifle nicht, daß es Apachenhunde sind; sie scheinen von der Seite zu kommen, wo wir unsere Feuer angezündet haben. Vorwärts! Wir müssen jetzt ohne Zögern zu den Streitäxten und den Messern greifen, und dem Bären die Stirn bieten.

Was sich auch

ereignen mag, hier können wir nicht eine Minute länger bleiben. Die Reiter können jeden Augenblick hier sein." Das Kanoe wurde abermals mitten in den Strom getrieben und näherte

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Natur-, Länder- und Völkerkunde.

sich gleich darauf der Insel, auf der sich noch immer das schreckliche Brummen hören ließ. Unter anderen Umständen würden sich die Indianer über das Zu­ sammentreffen mit einem grauen Bären auch trotz der Stärke und Wildheit des Tieres, welches sich ihnen entgegenstellte, nur wenig beunruhigt haben, denn sie waren von Jugend auf daran gewöhnt, die Gefahren der Wildnis zu bekämpfen; diesmal aber wurde ihre Lage durch die Nähe der Apachen bei einem an sich selbst schon so gefährlichen Kampfe sehr bedenklich. Sie wußten, daß in dem Fall, wenn das Tier uns nicht ruhig vorbeifahren ließ, unsere Büchsen von keinem Nutzen waren, und daß der graue Bär wegen seines dicken Pelzes gegen Schläge mit dem Tomahawk und selbst gegen Messerstiche ziemlich unempfindlich ist. Auch mußte sein Brüllen, wenn er verwundet war, die Apachen herbeiziehen, und end­ lich lief das Kanoe Gefahr, bei der geringsten Berührung von seinen scharfen Krallen zerrissen zu werden oder umzuschlagen. So kam es denn, daß alle in der größten Spannung dem Augenblick entgegensahen, der uns in die Nähe des schrecklichen Feindes brachte. Die Komanchen standen mit erhobenen Streitäxten am Vorderteil des Bootes, bereit, den Koloß mit fünffachem Schlage zu treffen, und der Kanadier und ich hatten uns, die Messer in der Hand, hinter ihnen aufgestellt. Die kleine Barke glitt, von zwei kräftigen Ruderern fortgetrieben, schnell und doch geräuschlos dahin, und das dumpfe Brummen drang noch immer aus dem Bette des Flusses zu uns herüber, als ob irgend ein Seeungeheuer auf der Untiefe gescheitert wäre. Bald erschien die Insel auf der düsteren Oberfläche des Stromes, und auf dem sandigen und felsigen Eilande wurde eine ungeheure schwarze Masse sicht­ bar; das Kanoe näherte sich jetzt der Insel. Beim Anblick der Männer, welche in demselben saßen, ließ der Bär ein schreckliches Brummen hören, scharrte mit einer seiner Tatzen den Boden, rollte eine Lawine von Sand in den Fluß und richtete sich langsam auf seinen Hinterfüßen in die Höhe, als ob er sich zum

Sprunge anschickte. Jetzt hatte das Kanoe den verhängnisvollen Engpaß er­ reicht. Die unerschrockenen Indianer stießen mit fester Hand ihre Ruder in das Wasser, um das Fahrzeug schnell vorwärts zu bringen und es dabei so weit als möglich von dem Tiere entfernt zu halten, welches aufrecht dastand und mit dem Beginn des Angriffs zu zögern schien. Jetzt flog die Barke in einer Entfernung von kaum drei Schritten bei dem wilden Beherrscher der kleinen Insel vorüber,

und noch immer schien dieser unentschlossen, ob er sich auf das Kanoe stürzen solle. Schon gab ich mich der Hoffnung hin, die gefährliche Stelle glücklich zu­ rückgelegt zu haben, als einer von den Komanchen, bevor wir seine Absicht

merkten, seine Streitaxt weglegte und in den Leib des Bären einen Pfeil schoß, welcher tief in seine Eingeweide drang. Der Kanadier konnte einen Ausruf des

Zornes nicht unterdrücken; das verwundete Tier aber stürzte mit wütendem Ge­ brüll, während es zugleich seine ungeheuren Kinnladen mit schrecklichem Getöse

zusammenschlug, wie ein Felsblock, der von einem steilen Ufer herabrollt, ins Wasser.

Glücklicherweise waren die beiden Ruderer nicht weniger rasch gewesen

als der Schütze, und zwei kräftige Ruderschläge ließen das Fahrzeug so schnell dahinfliegen, daß der Bär das Boot nicht mehr erreichte, sondern mit seinen

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Natur-. Länder- und Völkerkunde.

furchtbaren Tatzen nur die Oberfläche des Stromes traf.

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Die fünf Indianer

sprangen zwischen den beiden Ruderern hindurch nach dem Hinterteil des Fahr­ zeugs, und in dem Augenblick, als das wütende Tier, heulend und schäumend vor Wut, mit keuchendem Atem und flammenden Augen nur noch einen halben Fuß von dem Kanoe entfernt war, welches in dem durch seine furchtbaren Anstren­ gungen hervorgebrachten Strudel auf- und niedertanzte, erklangen ihre Streit­ äxte auf dem Schädel des Kolosses wie Hammerschläge auf dem Amboß. In diesem Augenblick erleuchtete ein Blitz die von Blut gerötete Oberfläche des Stromes und den keuchenden Bären, und das Geheul des wütenden Tieres vermischte sich mit dem Knall einer Büchse, die in unsern Ohren wie die Po­ saune des jüngsten Gerichts erklang. Unmittelbar darauf ertönte vom Ufer her­ ein Geheul, auf welches die Komanchen trotz der doppelten Gefahr, die sie be­

drohte, mit ihrem Schlachtgeschrei antworteten. Doch war noch keiner der Feinde zu sehen; dagegen schien die Wut des Bären durch die Axtschläge, welche seinen Schädel getroffen hatten, noch vermehrt worden zu sein. „Mut, ihr Männer, Mut!" rief der Kanadier, der mit den Komanchen die beunruhigenden Fortschritte des schwimmenden Tieres betrachtete, welches jeden Augenblick eine Tatze aufhob, um das gebrechliche Fahrzeug in den Grund zu bohren. „Bei Gott, wir sind ihm wieder glücklich entkommen! Nun noch einige tüchtige Nuderschläge, damit wir in ruhiges Wasser kommen, wo wir ihn mit unseren Büchsen begrüßen kön­ nen!" In der That war jetzt kein Grund mehr da, von unseren Feuerwaffen keinen Gebrauch zu machen; die Apachen wußten, daß wir da waren, und wir mußten uns unter allen Umständen den Feind im Flusse vom Halse schaffen, um den Angriff der Feinde in der Ebene aushalten zu können. „Seid Ihr fertig?" fragte mich der Kanadier, indem er seine Büchse anlegte. „Ihr zielt auf.den Rachen des Tieres! Feuer!" Zwei Schüsse tönten zugleich von den Ufern des Flusses zurück; aber das Kanoe schwankte noch immer so heftig auf dem wirbeln­ den Wasser des Flusses, daß die Kugeln den Bären nicht an der bezeichneten Stelle trafen; das Ungeheuer schüttelte nur seinen ungeheuren Kopf, von dem jedoch kein blutiger Tau herabtröpfelte. Einige Augenblicke noch währte dieser nächtliche Kampf zwischen dem rasenden Bären und den Männern im Kanoe, welche beständig seinen Angriffen auszuweichen wußten und bei dem Geheul ihres

Verfolgers das tiefste Stillschweigen beobachteten. Wir halten unterdes unsere Büchsen wieder geladen und gaben zum zweiten Male Feuer; der von dem schäu­

menden Wasser geschüttelte Nachen schwankte aber so heftig, daß unsere Kugeln wiederum keine bedeutende Wirkung hatten. Inzwischen wurde der Raum zwi­ schen unserem Nachen und seinem Verfolger mit jedem Augenblick größer, und es schien, als ob Müdigkeit oder Entmutigung den furchtbaren Schwimmer be­ schlich; die Ruderer verdoppelten nun ihre Anstrengungen, und die Entfernung

vergrößerte sich immer mehr. Das Kanoe befand sich jetzt zwischen zwei niedrigen Ufern, welche trotz der Dunkelheit einen flüchtigen Blick auf die Ebene zu werfen gestatteten; schwarze

Schatten von Pferden und Reitern bewegten

Indessen halten wir keine Zeit,

sich hier in dem hohen Grase.

diesen Gegenstand weiter ins Auge zu fassen;

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Natur-, Länder- unb Völkerkunde.

denn eine andere, viel nähere Gefahr drohte unsere bedenkliche Lage noch miß­ licher zu machen. Der Bär hatte, wie wir glaubten, aus Mattigkeit in seinen Anstrengungen nachgelassen; in der That aber war es nur seine Absicht gewesen, einen anderen Angriffsplan ins Werk zu setzen. „Fahrt schräg ans Land," be­

fahl der Häuptling, als er sah, daß der Bär sich bei einer Krümmung des Flusses dem Ufer näherte. „Das Tier will uns den Weg abschneiden und uns von vorn angreifen." Das Kanoe flog nun ebenfalls in schräger Linie dem Ufer zu, und in dem Augenblick, als der Bär ans Land stieg, sprang auch der Kanadier, seine Büchse in der Hand, ans Ufer. „Bleibt dort!" rief der mutige Jäger; „ich denke, mit der Bestie allein fertig zu werden." Und bei diesen Worten ließ er sich, während sich ihm der Bär in dem seiner Gattung eigentümlichen Trabe näherte, auf ein Knie nieder. Selbst den Indianern erregte diese Ruhe Be­ wunderung; deun das Leben des mutigen Mannes hing von einer falschen Be­ wegung, von einem zu späten Losgehen seiner Büchse und von anderen Umstän­ den ab, die auch der beste Schütze nicht in seiner Gewalt hat. Jetzt legte er den Kolben der Büchse au seine Schulter, drückte seine Wange an den Lauf und wartete unbeweglich auf die Annäherung seines Feindes. Brüllend kam die Bestie immer näher, und schon konnten wir zwischen den blutigen Lippen die schrecklichen weißen Zähne und unter dem dicken Pelze das flammende Auge er­ kennen. Die Büchse des Kanadiers folgte langsam allen seinen Bewegungen, und als die Mündung des Laufes fast die Haarbüschel seines Kopfes berührte, ging der Schuß los. Der Koloß brach zusammen, aber von der Bewegung seines

Laufes fortgerissen, hätte er den Jäger unter seiner Leiche erdrückt, wenn dieser nicht, als er kaum den Drücker berührt hatte, mit staunenswerter Gewandtheit beiseite gesprungen wäre. Der Sieger warf einen stolzen Blick auf seinen in dem blutigen Sande liegenden Feind, schnitt mit der Fertigkeit eines geübten Jägers die ungeheure Tatze des Bären beim ersten Gelenk ab und nahm seinen Platz im Kanoe wieder ein. „Ihr seid ein tapferer Mann," sagte der Häuptling und drückte dem Kanadier die Hand. „Ich kenne viel' wackere Jäger, rote und weiße; aber es ist keiner unter ihnen, der das wagen würde, was Ihr jetzt aus­ geführt habt." „Die Sache mußte ein Ende nehmen," erwiderte ruhig der Ka­ nadier, „und es war auch wirklich die höchste Zeit, daß wir die Bestie los wurden; denn jetzt rückt der andere Feind heran." In der That sprengten in diesem Augenblick die Apachen am Ufer des Flusies hin und schienen uns, wie vor ihnen der graue Bär, den Weg abschneiden zu

wollen; aber plötzlich wurden sie stutzig; sie hielten ihre Pferde an, sprachen einige Augenblicke lebhaft mit einander, kehrten dann um und waren nach we­ nigen Minuten verschwunden. Verwundert blickten wir einander an; denn keiner von uns konnte sich das sonderbare Benehmen des Feindes erklären;

bald aber

erfuhren wir den Grund seines eiligen Rückzugs; denn von dem andern Ufer her ertönte der Jubelruf menschlicher Stimmen, welche uns freudig begrüßten. Es

war eine zahlreiche Abteilung berittener Komanchen, welche uns schon früher be­ merkt halten und nun, da sie auf der anderen Seite die Apachen herankommen sahen, zu unserer Hülfe herbeieilten. Nach Ferry.

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N>1 tur-, Länder- und Völkerkunde.

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Die Tigerhöhle.

Ich hatte vor einigen Jahren in Peru im Auftrage einer Londoner Com­ pagnie die Minen besucht. Ehe ich nach Europa zurückkehrte, wollte ich die un­ geheure Reise längs den Ufern des atlantischen und stillen Meeres nicht ganz unbenutzt für meine Wißbegierde vorübergehen lassen und beschloß daher, mit meinen zwei Gefährten, Wharton und Lincoln, den höchsten und merkwürdigsten Berg von Amerika, den Chimborasso, zu ersteigen. Eines Tages hatten wir in dem letzten indianischen Dorfe übernachtet, und unser Weg schlängelte sich nun um den weiten Fuß dieses Riesen der Berge. Ich bemerkte, daß der Glanz des ewigen Schnees, welcher den Gipfel bedeckte, nach und nach unter einem dichten Nebel verschwand; die Indianer, die uns als Führer dienten, warfen bestürzte Blicke auf diese Dünste und versicherten kopf­ schüttelnd, daß ein heftiges Gewitter über uns ausbrechen werde. Ihre Besorgnis ging rasch in Erfüllung: schnell entfaltete sich der Nebel, und indem er sich über den ganzen Berg ausbreitete, umgab uns bald eine tiefe Finsternis. Die Luft war drückend schwül und doch so feucht, daß der Stahl an unsern Uhren sich mit Rost überzog und das Uhrwerk stille stand. Das Wasser, neben dem wir gingen, ergoß sich mit verdoppelter Gewalt, und wie durch Zauberei stürzten plötzlich von dem Felsen zu unserer Linken unzählige Ströme, welche Baum­ stämme und Gesträuch mit sich fortrissen und selbst eine ungeheure Schlange er­ faßt hatten, die umsonst ihre Kräfte anzustrengen schien, um der Gewalt der Wasser zu entgehen. Der Donner rollte, und der ganze Wiederhall des Berges antwortete ihm auf einmal; blendende Blitze zerrissen die Wolken über und neben uns; es war, als ob wir in einem Flammenmeer standen. Wir flüchteten unter einen großen Baum, während einer unserer Führer ein sicheres Obdach für uns suchte; er kam bald mit der Nachricht zurück, daß er eine geräumige Höhle ent­ deckt habe, wo wir gegen die Heftigkeit der Elemente Schutz finden würden. So­ gleich schlugen wir den Weg dahin ein und erreichten dieselbe, aber nicht ohne viel Mühe und Gefahr. Der Sturm wütete mit einem so entsetzlichen Getöse, daß sich keiner dem andern verständlich machen konnte. Ich hatte mich an den Eingang der Höhle gestellt und beobachtete durch die lange und schmale Öffnung

die Scene außerhalb. Die höchsten Cedern sah ich niederstürzen oder wie ein Rohr sich beugen; Affen und Papageien, durch die abgerissenen Äste getötet, be­ deckten den Boden; die Bäche waren zu Strömen geworden und durchschnitten in allen Richtungen den Berg. Als endlich die Heftigkeit des Sturmes etwas

nachgelassen, gingen unsere Führer hinaus, um zu sehen, ob es möglich sei, unsern Weg fortzusetzen. Die Grotte, in der wir uns befanden, war so dunkel, daß man, wenige Schritte vom Eingänge entfernt, nicht einen Schritt weit sehen konnte. Während wir uns über die Verlegenheit unserer Lage besprachen, wurde unsere Aufmerksamkeit durch Geschrei und wunderliche Klagelaute gefesselt, die aus der Tiefe der Grotte zu uns drangen. Wharton und ich horchten mit einem Gefühl von Entsetzen jenen Tönen; aber Lincoln, unser unbedachter junger Freund, warf sich auf den Bauch und kroch mit einem Jäger, namens Frank, Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb. 5. Aufl. 29

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die Höhle entlang, um den Grund dieses VärniS zu entdecken. Nach einigen Augenblicken stießen sie einen Ruf der Verwunderung aus und kehrten bald zu­ rück, indem jeder von ihnen ein wunderbar geflecktes Tier von der Größe einer kleinen Katze, dessen Kinnladen mit fürchterlichen Schneidezähnen bewaffnet waren,

im Arme trug. Die Augen spielten ins Graue; die Tiere hatten lange Krallen an den Pfoten, und eine blutrote Zunge hing aus ihrem Rachen. Kaum hatte Whartou sie betrachtet, als er ausrief: „Gerechter Himmel! wir sind in der Höhle eines ..." Aber er wurde plötzlich durch die Stimmen unserer Führer unterbrochen, die mit dem Schrei „ein Tiger! ein Tiger!" hinausstürzten und sogleich mit unglaublicher Geschwindigkeit eine hohe Ceder, die neben der Höhle stand, erkletterten und sich in ihren Zweigen verbargen. Der erste Eindruck des Entsetzens und der Überraschung hatte mich beinahe erstarrt, und fast bewußtlos griff ich nach meinem Gewehr. Wharton war schnell gefaßt und rief, wir möchten ihm behülflich sein, die enge Mündung der Höhle mit einem großen Stein zu schließen, der glücklicherweise ganz nahe lag. Das Bewußtsein der immer näher kommenden Gefahr verstärkte unsere Kräfte; denn wir hörten schon deutlich das Brüllen des Tieres und waren verloren, wenn es den Eingang der Höhle er­ reichte, ehe wir dieselbe geschlossen hatten. Noch war unsere Arbeit nicht vollendet, als wir den Tiger draußen in großen Sprüngen ankommen sahen; dieser fürchterliche Anblick verdoppelte unsere An­ strengungen, und gerade im entscheidenden Augenblick lag der Stein vor der Höhle und schützte uns vor den Angriffen des wütenden Tieres. Es blieb jedoch eine kleine Lücke zwischen dem Stein und der Höhe der Öffnung, durch welche

wir sahen, wie es uns mit blitzenden Augen betrachtete.

Sein Brüllen hallte in

den Tiefen der Höhle wieder, und seine Jungen antworteten darauf mit dumpfem Klagegeschrei. Unser furchtbare Feind hatte anfangs versucht, den Stein mit seinen mächtigen Krallen auszuheben und dann mit dem Kopf wegzuschieben; die Nutzlosigkeit dieser Bemühungen vermehrte seine Wut; er stieß einen durchdrin­ genden Schrei aus, und seine Flammenaugen schienen Licht in die Dunkelheit zu werfen. Einen Augenblick war ich fast geneigt, ihn zu bedauern; war es doch das Gefühl der Vaterliebe, das seinen Zorn reizte. „Es ist Zeit, auf ihn zu

schießen," sagte Wharton mit der ihm eigenen Kaltblütigkeit;

„die Kugel wird

durch sein Gehirn gehen, und so haben wir noch Hoffnung, von ihm befreit zu werden." Frank nahm seine Doppelflinte und Lincoln seine Pistolen; beide rich­ teten den Lauf einige Zoll vom Tiger entfernt und drückten zugleich ab. Allein die Gewehre versagten; das Pulver auf beiden Pfannen war naß geworden, und

während Frank und Lincoln dasselbe ausschütteten, bemühte sich Frank mit mir, unsere Pulverhörner zu suchen; es war so dunkel, daß wir auf dem Boden kriechen und umhertappen mußten. Als ich in die Nähe der jungen Tiger kam, hörte ich ein Geräusch, dem Reiben eines Stücks Metall ähnlich, und entdeckte bald, daß die Tiere mit unsern Pulverhörnern spielten. Zum Unglück hatten sie die Pfropfen mit ihren Krallen abgedreht; das Pulver war auf den nassen Boden ausgeschüttet und konnte uns nicht mehr dienen; diese Entdeckung versetzte uns in die größte Bestürzung. Alles schien verloren. Wharton stellte sich an den

VII.

Natur-, Länder- u 11b Völkerkunde.

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Stein, der uns schützte, und heftete seinen kühnen Blick auf die blitzenden Augen unseres Feindes. Der junge Lincoln stieß in seiner Verzweiflung tausend Flüche auS, und Frank, welcher die meiste Kaltblütigkeit besaß, nahm einen Strick, den er in der Tasche trug, und ging, ohne ein Wort zu sagen, in die Tiefe der Höhle. Bald vernahmen wir einen erstickten Schrei, und der Tiger, welcher ihn gehört haben mußte, stutzte darüber in vermehrter Unruhe. Er ging und kam vor die Öffnung der Höhle und sah wütend aus; plötzlich blieb er stehen, wen­

dete seinen Kopf gegen den Wald und erhob ein betäubendes Brüllen. Unsere beiden indianischen Führer benutzten diesen Augenblick, um von der Höhe des Baumes, der sie verbarg, mit Pfeilen auf ihn zu schießen, die ihn zwar trafen, aber an seiner dicken Haut abprallten. Nur einer blieb endlich im Auge stecken; wütend darüber sprang der Tiger an den Baum, und indem er mit seinen Tatzen den Stamm umfaßte und sich an demselben in die Höhe richtete, schien er die Ceder ausreißen zu wollen; erst nachdem es ihm geglückt war, den Pfeil los zu werden, wurde er ruhiger und stellte sich wieder an den Eingang der Grotte. Frank erschien endlich, in jeder Hand einen der jungen Tiger an dem Stricke haltend, mit dem er sie erwürgt hatte. Ehe ich seine Absicht erfahren konnte, hatte er beide dem Tiger durch die Öffnung zugeworfen. Als dieser seine Jungen

erblickte, untersuchte er sie aufmerksam und schweigend, drehte sie behutsam von allen Seiten um, überzeugte sich endlich von ihrem Tode und stieß einen so fürchterlichen Schrei der Verzweiflung aus, daß wir genötigt waren, uns die Ohren zuzuhalten. Ich warf meinem Jäger diese nutzlose Grausamkeit vor, sah aber aus seiner trotzigen Antwort, daß er alle Hoffnung auf Rettung aufgegeben hatte und daher die Verhältnisse des Dieners zum Herrn für aufgelöst hielt. Was mich betraf, so hegte ich noch immer die Zuversicht, daß eine unerwartete Hülfe uns aus dieser entsetzlichen Lage befreien würde. Der Donner hatte aufgehört, und ein kühler, erfrischender Wind war auf den Sturm gefolgt. Der Gesang der Vögel ertönte wieder in dem Walde, und im Strahl der wiederkehrenden Sonne glänzten die Regentropfen auf den Blät­ tern wie tausend Diamanten. Ich sah durch die Öffnung unserer Höhle das Erwachen der Natur, und der Kontrast dieser friedlichen Scene mit unserer Lage machte dieselbe noch fürchterlicher. Der Tiger hatte sich unterdes zu seinen Jun­ gen gelegt; es war ein großes, herrliches Tier, deffen Glieder, in ihrer ganzen Länge ausgestreckt, die Kraft ihrer Muskeln zeigten; aus seinen mit furchtbaren Zähnen bewaffneten Kinnbacken floß der Schaum in großen Flocken. Plötzlich ließ sich in der Ferne ein langes Brüllen hören, worauf der Tiger mit einem klagenden Ächzen antwortete; ein Schrei der Indianer verkündete uns eine neue

Gefahr. Unsere Besorgnis bestätigte sich nach Verlauf von wenigen Minuten; denn wir sahen einen Tiger, kleiner als den ersten, in großen Sprüngen sich uns nähern. Es war die Tigerin. Ihr Brüllen, nachdem sie die Leichname

ihrer Jungen betrachtet, übertraf alles, was wir noch gehört hatten; doch end­ lich hörte ihr Geheul auf und ward zu einem dumpfen Gemurmel; darauf rückte sie ihre schnaubenden Nasenlöcher dicht an die Öffnung, um diejenigen zu ent­

decken, welche ihre Jungen vernichtet hatten.

Als ihre Blicke auf uns fielen-, 29*

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stürzte sie mit einer so ungeheuren Kraft auf den Stein, daß es ihr vielleicht gelungen wäre, ihn fortzuschieben, wenn wir nicht unsere vereinten Anstren­

gungen ihrem Vorhaben entgegengesetzt hätten.

Nach mehreren vergeblichen Ver­

suchen näherte sie sich wieder dem Tiger und schien sich während einiger Augen­ blicke mit ihm zu beraten; darauf entfernten beide sich schnell und entschwanden unsern Blicken. Ihr Gebrüll wurde immer schwächer, und bald hörten wir es

nicht mehr. Jetzt erschienen unsere beiden indianischen Führer am Eingang der Höhle und drangen auf schnelle Flucht als die einzigen Mittel zur Rettung, da die Tiere wahrscheinlich auf der andern Seite des Berges noch einen Eingang zur Höhle kannten. Wir schoben eiligst den Stein, der uns bisher geschützt hatte, hinweg und stiegen aus der Gruft, in der wir lebendig begraben zu sein befürchtet hatten. Von neuem hörten wir jetzt das Gebrüll der Tiger. Eilig folgten wir un­ sern Führern und schlugen einen Seitenpfad ein, der aber durch die Menge Wurzeln und Äste, mit welchen der Sturm den Weg bedeckt hatte, unsere Flucht

langsam und beschwerlich machte; besonders schleppte sich Wharton mühsam fort, und wir mußten oft stille stehen, um ihn nicht aus dem Gesichte zu verlieren. Auf diese Weise waren wir eine Viertelstunde gegangen, als ein Schrei eines unserer Führer uns verkündete, daß die Tiger auf unserer Spur seien. Wir befanden uns gerade vor einer Brücke von Schilfrohr, die über einen Strom geworfen war, und welche gewöhnlich nur Indianer mit ihrem leichten Gang betreten können. Zwi­ schen spitzigen Felsen eingeschlossen, ergoß sich in der Tiefe der Strom mit toben­ der Gewalt. Lincoln, Frank und ich schritten ohne Unfall über die Brücke, aber Wharton war noch auf deren Mitte, als die Tiger aus dem nahen Wald hervor­ drangen und, da sie uns erblickten, ein gräßliches Geheul anstimmten. Wir er­ kletterten die vor uns stehenden Felsen, und Wharton, der endlich ohne Unfall auf die andere Seite des Stromes gelangt war, zog sein Jagdmesser hervor und schnitt die Bänder ab, welche die Brücke an dem einen Ufer befestigten, in der Hoffnung, hierdurch unsern Feinden ein unübersteigliches Hindernis entgegenzu­ setzen. Aber kaum hatte er seine Arbeit vollendet, als die Tigerin gegen den Strom rannte und versuchte, mit einem Sprunge hinüberzusetzen. Die Kraft des Tieres war der Entfernung nicht gewachsen; es sank, und ehe es den Grund des Stro­ mes erreicht hatte, war es an den spitzigen Felsen in tausend Stücke zerrissen. Sein Gefährte, dadurch nicht entmutigt, machte denselben Versuch, und ein kräf­ tiger Sprung trug ihn über die Kluft; allein nur mit seinen Vordertatzen erreichte er das jenseitige Ufer, und über dem Abgrund hängend, bemühte er sich umsonst, festen Fuß zu fassen. Wharton, der ihm ganz nahe war, ging mutig auf ihn zu und stieß ihm sein Jagdmesser in die Brust. Wütend sammelte das Unge­ heuer seine Kräfte, klammerte sich mit den Hinterpfoten an den Felsen und ergriff Wharton am Schenkel; aber dieser behielt seine ganze Kühnheit, umfaßte mit seiner Linken einen Baumstamm und drückte mit Kraft das Messer tiefer in die Brust des Tigers. Dies alles war das Werk eines Augenblicks. Die Indianer, Lincoln, Frank und ich stürzten zu seiner Hülfe herbei. Lincoln hatte die Flinte

von Wharton, welche neben ihm lag, ergriffen und versetzte dem Tiger einen so

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mächtigen Schlag auf den Kopf, daß das betäubte Tier seine Beute losließ und in den Abgrund stürzte. Aber der unglückliche junge Mann hatte die Wucht seines Schlages nicht berechnet; seine Füße glitten aus, und da seine Hände nirgends einen Anhaltspunkt fanden, stürzte er in den Strom, auf dessen Oberfläche wir ihn einen Augenblick sahen, worauf er für immer verschwand. Ein Schrei der Verzweiflung kam aus aller Mund; als ich aus meinet* Betäubung erwachte, lag Wharton ohnmächtig am Abhange der Kluft; seine Wunde, aus welcher das Blut strömte, war tief. Der Abend brach herein, und wir mußten uns entschließen, die Nacht hier zuzubringen. Die Indianer machten ein Feuer an, um die Raubtiere abzuhalten; ich aß einige Früchte und brachte die Nacht schlaflos neben Wharton zu, dessen tiefe Atemzüge mich mit Entsetzen erfüllten. Am dritten Tage erschütterte ein heftiges Zittern seine Glieder; er richtete sich in die Höhe und sprach einige ver­ worrene Worte; darauf sank er nieder und war nicht mehr. Dieses war der Ausgang meiner traurigen Reise auf den Chimborasso. Als ich Wharton die letzte Pflicht erwiesen hatte, beeilte ich mich, eine Gegend zu ver­ lassen, die so schmerzliche Erinnerungen in mir zurückrief, und benutzte die erste Gelegenheit zur Rückkehr nach Europa. Ausland.

33.

Otaheite.

Ein Morgen war's (schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben), an welchem wir die Insel Otaheite in einer Entfernung von zwei Meilen vor uns sahen. Der Ostwind, unser bisheriger Begleiter, hatte sich gelegt; ein vom Lande wehendes Lüftchen führte nns die erfrischendsten und herrlichsten Wohlgerüche entgegen und kräuselte die Fläche der See. Waldgekrönte Berge erhoben ihre stolzen Gipfel in mancherlei majestätischen Gestatten und glühten bereits im ersten Morgeustrahl der Sonne; unterhalb derselben erblickte das Auge Reihen von nie­ drigen, sanft abhängenden Hügeln, die den Bergen gleich mit Waldung bedeckt und mit anmutigem Grün und herbstlichem Braun schattiert waren. Vor ihnen lag die Ebene, von Brotfruchtbäumen und unzählbaren Palmen beschattet, deren königliche Wipfel weit über jene emporragten. Noch erschien alles im tiefsten Schlaf; kaum tagte der Morgen, und stille Schatten schwebten noch auf der Landschaft dahin. Allmählich aber konnte man unter ven Bäumen eine Menge

von Häusern und Kanots unterscheiden, die auf den sandigen Strand hinaufge­ zogen waren. Eine halbe Meile vom Ufer lief eine Reihe niedriger Klippen

parallel mit dem Lande hin, und über diesen brach sich die See in schäumender Brandung; hinter ihnen aber war das Wasser spiegelglatt und versprach den sichersten Ankerplatz. Nunmehr fing die Sonne an, die Ebene zu beleuchten; die Einwohner er­ wachten, und die Gegend begann sich zu beleben. Kaum bemerkte man die großen Schiffe an der Küste, so eilten einige Insulaner unverzüglich nach dem Strande herab, stießen ihre Kanots ins Wasser und ruderten auf uns zu. Es dauerte nicht lange, so waren sie durch die Öffnung des Riffs, und eüi6 kam

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uns so nahe, daß wir es anrufen konnten. Zwei fast ganz nackte Leute mit einer Art von Turban auf dem Kopfe und mit einer Schärpe um die Hüften saßen darin. Sie schwenkten ein großes, grünes Blatt in der Luft und kamen mit einem

oft wiederholten lauten Tayo! heran, einem Ausruf, den wir ohne Mühe und ohne Wörterbuch als einen Freundschaftsgruß auslegen konnten. Die Wilden ruderten dicht unter das Hinterteil des Schiffes, und wir ließen ihnen sogleich ein Geschenk von Glaskorallen, Nägeln und Medaillen hinab; sie hingegen reichten uns einen großen Pisangschoß zu, der bei ihnen ein Sinnbild des Friedens ist, und baten, solchen dergestalt am Schiffe zu befestigen, daß er einem jeden in die Augen fiele; demzufolge ward er an dem Tauwerk des Hauptmastes festgemacht, worauf unsere Freunde sogleich nach dem Lande zurückkehrten. Es währte nicht

lange, so sah man das Ufer mit einer Menge Menschen bedeckt, die nach uns hinguckten, indessen andere voll Zutrauens auf das geschlossene Friedensbündnis ihre Kanots ins Wasser stießen und sie mit ihren Landesprodukten beluden. In weniger als einer Stunde umgaben uns Hunderte von dergleichen Fahrzeugen, in deren jedem sich ein, zwei, drei und zuweilen vier Mann befanden. Ihr Ver­ trauen zu uns ging so weit, daß sie sämtlich unbewaffnet kamen. Von allen Seiten erscholl das willkommene Tayo, und wir erwiderten es mit wahrhaftenl und herzlichem Vergnügen über eine so günstige Veränderung unserer Umstände. Sie brachten uns Kokosnüsse und Pisangs im Überfluß nebst Brotfrucht und

andern Gewächsen, welche sie sehr eifrig gegen Glaskorallen und kleine Nägel vertauschten. Stücke Zeug, Fischaugeln, steinerne Äxte und allerhand Arten von Werkzeugen wurden gleichfalls zum Verkauf ausgeboten und leicht angebracht. Die Menge von Kanots, welche zwischen uns und der Küste ab- und zugingen, stellte ein schönes Schauspiel, gewissermaßen eine neue Art von Messe auf dem Wasser, vor. Ich fing sogleich an, durch die Kajütenfenster um Naturalien zu

handeln, und in einer halben Stunde hatte ich schon zwei bis drei Arten unbe­ kannter Vögel und eine große Anzahl neuer Fische beisammen. Die Farben der letzteren waren, so lange sie lebten, von ausnehmender Schönheit; daher ich gleich diesen Morgen anwandte, sie zu zeichnen und die Hellen Farben anzulegen, ehe sie mit dem Leben verschwanden. Die Leute, welche uns umgaben, hatten ebensoviel Sanftes in ihren Zügen als Gefälliges in ihrem Betragen. Sie waren ungefähr von unserer Größe, blaß­ mahagonibraun, hatten schöne, schwarze Augen und Haare und trugen ein Stück

Zeug von ihrer- eigenen Arbeit mitten um den Leib, ein anderes aber in mancherlei malerischen Farben wie einen Turban um den Kopf gewickelt. Die Kleidung der Frauen bestand in einem Stück Zeug, welches in der Mitte ein Loch hatte, um den Kopf durchzulassen,.und hinten und vorne bis auf die Kniee herabhing; hierüber trugen sie ein anderes Stück Zeug, das so fein wie Nesseltuch und auf mannigfaltige, jedoch zierliche Weise etwas unterhalb der Brust als eine Tunika um den Leib geschlagen war, so daß ein Teil davon zuweilen mit vieler Grazie

über die Schulter hing.

War diese Tracht gleich nicht vollkommen so schön als

die an den griechischen Statuen bewunderten Draperieen, so übertraf sie doch unsere Erwartung gar sehr und dünkte uns der menschlichen Bildung ungleich

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vorteilhafter als jede andere, die wir bis jetzt gesehen. Beide Geschlechter waren durch die von andren Reisenden bereits beschriebenen sonderbaren schwarzen Flecken

geziert oder vielmehr entstellt, die aus dem Punktieren der Haut und durch nach­ heriges Einreiben einer schwarzen Farbe in die Stiche entstehen. Es dauerte nicht lange, so kamen verschiedene dieser guten Leute an Bord.

Das ungewöhnlich sanfte Wesen, welches ein Hauptzug ihres Nationalcharakters ist, leuchtete sogleich aus allen ihren Gebärden und Handlungen hervor und gab einem jeden, der das menschliche Herz studierte, zu Betrachtungen Anlaß. Die äußern Merkmale, durch welche sie ihre Zuneigung zu erkennen geben wollten, waren von verschiedener Art; einige ergriffen unsere Hände, andere lehnten sich auf unsere Schultern, noch andere umarmten uns. Zu gleicher Zeit bewunderten sie die weiße Farbe unserer Haut und schoben uns zuweilen die Kleider von der Brust, als ob sie sich erst überzeugen wollten, daß wir ebenso beschaffen wären wie sie. Da sie merkten, daß wir Lust hätten, ihre Sprache zu lernen, weil wir uns nach den Benennungen der gewöhnlichsten Gegenstände erkundigten oder sie aus den Wörterbüchern voriger Reisenden hersagten, so gaben sie sich viele Mühe, uns zu unterrichten, und freuten sich, wenn wir die rechte Aussprache eines Wortes treffen konnten. Was mich anlangt, so schien mir keine Sprache leichter als diese; alle harten und zischenden Konsonanten sind daraus verbannt, und fast jedes Wort endigt sich mit einem Selbstlauter. Was dazu erfordert ward, war bloß ein scharfes Ohr, um die mannigfaltigen Modifikationen der Selbstlauter zu unterscheiden, welche natürlicherweise in einer Sprache vorkommen müssen, die ans so wenig Mitlauter beschränkt ist, und die, wenn man sie einmal recht gefaßt hat, die Unterredung sehr angenehm und wohlklingend machen. Unter andern Eigen­ schaften der Sprache bemerkten wir sogleich, daß das O und E, womit sich die

meisten Nennwörter und Namen in Herrn Cooks erster Reise anfangen, nichts als Artikel sind, welche in vielen morgenländischen Sprachen vor den Nennwörtern

Forster.

herzugehen pflegen.

34.

Das Meer und seine Schrecken.

Der „Adler", ein amerikanischer Kutter, steuerte vor Philadelphia nach Barbadoes und erfreute sich mehrere Tage und glücklichen Fahrt, während der Westwind frisch in seine und nach aber wurde die Schnelligkeit vermindert, die Segel

einigen Jahren von lang einer schnellen Segel blies. Nach wurden schlaff, und

bald überließ eine völlige Windstille den „Adler" der Gewalt einer Strömung, die ihn mit reißender Schnelligkeit gegen die Klippen trug. An Ankerwerfen zu denken, war unmöglich; die gewaltigen Felsen, die sich senkrecht aus dem Grunde des Meeres erhoben, boten nichts dar als scharfe Zacken, das Schiff zu zerschellen, und einen Abgrund, es zu verschlingen. Indessen trug die Strö­ mung den Kutter immer vorwärts; die Wachen sahen von der Höhe der Masten die Sandbank unter der Flut hell daliegen. Alle Segel waren aufgespannt; dessenungeachtet näherte man sich der Bank mit unwiderstehlicher Gewalt. Plötz­ lich erlitt der Kutter einen heftigen Stoß; er fuhr noch einige Augenblicke, stieß

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aber dann zum zweiten und endlich zum dritten Male auf. Das Vorderteil des Schiffes war durch die Felsen in die Höhe gehoben, während das Hinter­ teil noch im Wasser schwankte. Bei den ersten beiden Stößen des Kutters auf die Sandbank hörte man schon ein banges Flüstern der Mannschaft, aber beim

dritten erscholl ein Schrei, ein einziger Schrei, herzzerreißend und ungeheuer, und übertönte das Getöse der Wogen, die mit Gewalt über den Bord des Schiffes gingen. Der Unglücksfall, der das Schiff getroffen hatte, schien indessen nicht so groß zu sein, als man befürchtete; man bemerkte nämlich nichts von einem Leck; der Kutter hatte nirgends Wasser; das Vorderteil war zwar auf die Spitze des Fel­ sens gestoßen und die äußere Fläche daran zerschellt, aber seine vortreffliche Über­

kleidung hatte den ersten Stößen widerstanden. Dennoch war das Schiff seinem Untergange nahe; denn der Wind, der sich seit kurzem erhoben hatte, blies mit ungeheurer Gewalt, das Meer ging hoch, und der „Adler" schien bei seiner Lage auf dem Felsen jeden Augenblick der Gewalt der Elemente weichen zu müssen. Gegen neun Uhr abends nahm die Heftigkeit des Windes zu; das Meer ging immer höher; Wasserstürze überdeckten die Seiten des Schiffs und schienen es unabwendbar in den Fluten begraben zu müssen. Plötzlich ertönte ein Angstschrei, der Bord sank bis auf den Spiegel des Meeres, und ungeachtet aller Manöver der Mannschaft war das Schiff entmastet und mit Wasser bedeckt. Der Lieutenant Smith stieg gerade auf das Verdeck, und in dem Augenblick, wo er den Fuß auf die letzte Stufe der Treppe setzte, ging der Kutter unter; er sollte nicht mehr flott werden. Die Mannschaft, die aus 21 Mann bestand, befand sich glücklicher­ weise auf dem Verdeck mit Ausnahme zweier Matrosen, die in dem Kutter er­ tranken. Ein Augenblick, und die ganze Mannschaft lag in den Wellen. Das Hülfegeschrei, unterbrochen von den herzzerreißenden Stimmen der Matrosen, welche ertranken, und die Ausbrüche der Wut und der Verzweiflung der übrigen schienen einen Augenblick die Heftigkeit des Sturmes zu beschwichtigen; denn so­ bald der Kutter versunken war, legte sich der Wind, das Meer wurde ruhig, und der Schimmer des Mondes beleuchtete die blassen Gesichter unserer mit dem Ocean ringenden Schiffer. Mittlerweile kam die Schaluppe auf der Oberfläche des Wassers zum Vor­ schein und schien zur Rettung der Mannschaft bestimmt; mit einem Messer zer­ schnitt man den einzigen morschen Strick, den letzten Halt, der die Existenz der

Matrosen an den Kutter band, und nun war jede Verbindung zwischen ihnen und ihrem Schiff ausgehoben. Alle Matrosen schwammen sogleich auf die Scha­ luppe los und warfen sich, alle Klugheit vergessend, mit Heftigkeit auf das kleine Fahrzeug. Nicht mehr die gehorsame, wackere, verständige Mannschaft des „Adler", sondern eine rasende, nichtsnutzige Bande stürzte auf die zerbrechliche Maschine. Natürlich geschah, was man leicht voraussehen konnte: die Schaluppe, durch die Erschütterung aus dem Gleichgewicht gebracht, schlug um, und alles durcheinander fiel ins Meer. Bald hatten die Matrosen die Schaluppe wiedcrgewonnen und

hielten sich, so gut es ging, einige am Vorder-, andere am Hinterteil, daran fest, so daß sie mit den Armen und dem Kopfe außerhalb des Wassers blieben.

VII.

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Der Lieutenant Smith, ein Mann von Mut und Kopf und von großem Einfluß auf die Gemüter der Matrosen, setzte jetzt der Mannschaft auseinander, daß es keinem möglich sei, sich zu retten, wenn man noch länger in dieser Lage beharrte. Er zeigte ihnen die Notwendigkeit, die Schaluppe wiederaufzurichten und zwei Mann hineinsteigen zu lassen, um das Wasser, womit sie angefüllt war, auszu­ schöpfen, während die übrigen, an den Bord sich klammernd, so lange im Meere blieben, bis die Schaluppe zwei Mann mehr einzunehmen vermöchte; so könnten nach Maßgabe der Erleichterung der Schaluppe die Matrosen nach und nach ein­ steigen und durch dies Rettungsmanöver alle der schrecklichen Gefahr, die sie be­ drohte, entrinnen. In der äußersten Gefahr gehorcht man gern der Stimme der Vernunft. Das Geheiß des Lieutenants erging an Menschen, die auf dem Punkt waren, sich nicht länger halten zu können; es wurde ihm also unverzüglich Folge ge­ leistet, und jeder machte sich ans Werk, so daß die Schaluppe alsbald wieder umgedreht war. Zwei Matrosen sprangen sogleich hinein, und vermittelst zweier Hüte begannen sie das Wasser, mit dem das Boot angesüllt war, auszuschöpfen. Bald stiegen zwei andere Matrosen in die Schaluppe, und alle konnten jetzt hoffen, der Reihe nach sich zu retten; denn jeder that pünktlich seine Schuldigkeit, den Weisungen des Lieutenants blind gehorchend, der sie durch Wort und Beispiel anfeuerte. Schon befanden sich 6 Mann in dem kleinen Fahrzeuge, als plötzlich ein Matrose mit Entsetzen schrie, er erblicke die Flossen eines Haifisches. Der Schrecken, welcher die Unglücklichen ergriff, die mitten in der Flut umherwogten, läßt sich nicht beschreiben; von diesem Moment an wurde die Stimme des Lieu­ tenants nicht mehr gehört. Die Matrosen, die sich an Bord der Schaluppe fest­ hielten, eilten, sich dieser neuen Gefahr zu entziehen, schwangen sich mit einer

unwillkürlichen Bewegung, alle auf einmal, in die Schaluppe und warfen sie von neuem um. Gleichwohl ließ sich der gefürchtete Feind nicht sehen, und der Lieu­ tenant trieb die Matrosen noch einmal an, für ihr gemeinsames Heil das einzige Mittel, das in ihrer Gewalt stand, anzuwenden. Er wußte wohl, daß es ihm nicht gelingen würde, den Schrecken der Matrosen durch die Versicherung, daß sich in diesen Breiten nie Haie zeigten, zu beschwichtigen; er befahl daher den Matrosen, die sich wieder an die Schaluppe angeklammert hatten, mit den Füßen im Wasser umherzustoßen und es, so viel sie imstande wären, in Bewegung zu

setzen, um dadurch die Ungeheuer, die ihnen so viel Schrecken verursachten, fern­ zuhalten. Das vom Lieutenant angegebene Manöver wurde nach und nach aus­ geführt, und noch einmal wurde die Hoffnung in den Herzen der Schiffbrüchigen

lebendig. Die Schaluppe enthielt nicht mehr viel Wasser, und vier Mann waren bereits eingestiegen; noch ein wenig Geduld, noch einige Anstrengung, Ordnung, Ruhe, Gehorsam, und die ganze Mannschaft war gerettet. In diesem Augenblick, gerade als die Matrosen, die sich im Wasser befanden, immer schwebend am Bord, ihre Kameraden in der Schaluppe antrieben, uner­ müdlich fortzufahren in ihrer Arbeit, das Fahrzeug trocken zu machen, entstand dicht bei ihnen ein großes Geräusch, und sie erblickten 15 Haifische, die auf die Schaluppe loskamen. Bei diesem Anblick stieg der Schrecken aufs äußerste. Jeder verließ

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seinen Posten, um sich auf das zerbrechliche Fahrzeug zu retten; es schlug um, und die 22 Matrosen waren dem schrecklichsten Tode geweiht. Anfangs schienen die Hai­ fische wenig geneigt, ihre Beute zu ergreifen; denn sie schwammen, auf den Wellen spielend, mitten unter den Matrosen umher und schossen an ihnen vorbei, ohne ihnen ein Leid zuzufügen; doch währte dies nicht lange. Plötzlich verkündigte ein Angstschrei, den einer der Schiffbrüchigen ausstieß, einen entsetzlichen Schmerz und hallte tief wieder im Herzen eines jeden; ein Hai hatte einen Matrosen beim Fuße gefaßt und ihm denselben völlig vom Leibe weggebissen. Sobald die Un­ geheuer Blut gekostet hatten, begann der fürchterliche Angriff; herzzerreißendes Geschrei ertönte von allen Seiten, und bald waren die Wellen um die Schaluppe

herum von Blut gefärbt. Der Lieutenant fuhr selbst in diesem Moment, wo ihn der schaudervollste Tod bedrohte, ununterbrochen fort, mit kaltem Blut und größter Bestimmtheit seine Befehle zu erteilen, und zur Ehre der unglücklichen Mannschaft sei es gesagt, er wurde noch gehört. Die Schaluppe wurde glücklich umgewendet, zwei Mann stiegen unverzüglich hinein, und einige Matrosen, die sich wie früher an den Bord anklammerten, hielten das Boot im Gleichgewicht. Lieutenant Smith selbst hielt sich am Vorderteil fest und bemühte sich, von da aus den Mut seiner Kameraden aufrecht zu erhalten; aber die Haifische ver­ folgten die Schaluppe, und es war sehr unwahrscheinlich, daß sie eine so reiche Beute sollten fahren lassen. Herr Smith ermutigte unaufhörlich die Matrosen in ihrer Anstrengung, die Schaluppe zu leeren, und vergaß dabei einen Augen­ blick, das Wasser mit den Füßen zu erregen: da faßte ein Hai seine beiden Beine und verschlang sie mit seinem weiten Nachen. Ein gräßlicher Schrei, den zu ver­ halten er sich vergebens anstrengte, entfuhr dem Unglücklichen. Der würdige Lieutenant hatte bei den Matrosen immer in der höchsten Achtung gestanden, und alle kannten seine Tapferkeit und seinen Edelmut; sobald sie ihn daher in die Wellen versinken sahen, ergriffen zwei Mann ihren sterbenden Führer und hoben ihn auf den Bord der Schaluppe. Der brave Offizier, obgleich den fürchterlich­ sten Schmerzen zum Raube, schien doch sein eigenes Weh zu vergessen und wollte es noch nicht aufgeben, die Trümmer seiner Mannschaft dem Tode zu entreißen. Mit schwacher Stimme erteilte er den Matrosen seinen Rat, beklagte ihre ent­ setzliche Lage und sagte zuletzt: „Wenn einer von euch diese schreckliche Nacht überlebt und zurückkommt nach Philadelphia, so sage e.r unserem Admiral, daß ich mit der Aufsuchung der Seeräuber beschäftigt war, als dieses Unglück über uns hereinbrach; er sage ihm, daß ich stets meine Pflicht gethan, und daß ich ...." Hier verursachten die Anstrengungen einiger Matrosen, in die Schaluppe zu ge­ langen, eine heftige Erschütterung; die beiden, welche den Lieutenant in ihren Armen hielten, ließen ihn aus Furcht, ins Meer zu fallen, einen Moment los, um das Geländer zu gewinnen; der Unglückliche rollte in die Wellen und ver­ schwand augenblicklich. Seine letzten Worte verloren sich unter dem Geschrei seiner Gefährten, und er kam nicht wieder zum Vorschein. Mil ihrem Führer

verschwand die letzte Hoffnung der Schiffbrüchigen. Welch schreckliches Schauspiel! Diese Menschen, bleich, vom Wasser trie­ fend, mit verwildertem Haar und langen Bärten, in zerrissenen Kleidern, wogten

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hier durcheinander mitten in den Fluten, nicht wissend, wie sie sich der Gefräßig­ keit der Ungeheuer entziehen sollten. Mehrere hatten schon ihr Leben eingebüßt;

diejenigen, welche noch bis dahin den Verfolgungen der Haifische entgangen waren, strengten sich noch einmal an und suchten eine Zuflucht in der Schaluppe — aber das elende Ding schlug von neuem um. Erschöpft und abgemattet und unaufhörlich von den Haien verfolgt, gaben sie jetzt alle Hoffnung auf, sich zu retten, und ertranken oder wurden von den Haien verschlungen mit Ausnahme zweier Matrosen, denen es gelang, auf den Kiel der Schaluppe zu steigen. Der

„Adler" war ungefähr um 8 Uhr versunken, und gegen 10 Uhr war die ganze Mannschaft eine Beute der Haie geworden oder im Meer umgekommen; nur jene beiden Matrosen waren übrig geblieben. Noch wurden diese beiden Unglücklichen

von der Hoffnung auf Rettung aufrecht erhalten; sie nahmen, der eine am Vorder-, der andere am Hinterteil, Platz, und obgleich sie von Müdigkeit abgespannt und ganz mit Wunden bedeckt waren, welche die Schärfe des Meersalzes noch bren­ nender machte, so glaubten sie sich dennoch in einer Art von Sicherheit. Sie singen an, das Wasser aus ihrem Fahrzeug auszuschöpfen, und hatten es bald so weit erleichtert, daß sie nicht mehr zu fürchten brauchten, es noch einmal um­

schlagen zu sehen.

Hierauf versuchten sie, einige Augenblicke der Ruhe zu ge­

nießen; der fürchterlichen Scenen ungeachtet, von denen sie Zeuge gewesen waren, und angesichts der schrecklichen Gefahren, die sie noch immer umdrohten, ver­ sanken sie in einen liefen Schlaf, und es war schon heller Tag, als sie zu ihrer entsetzensvollen Lage wieder erwachten. Die Unglücklichen, die dem Tode durch ein Wunder entgangen waren, wur­ den nun durch verzehrenden Hunger und Durst gequält; denn seit 36 Stunden hatten sie keine Nahrung zu sich genommen. Der Hunger wühlte in ihren Ein­ geweiden, der Durst brannte in ihrem Halse, und sie hatten am Bord der Scha­ luppe weder Wein, noch Zwieback, noch sonst ein anderes Nahrungsmittel; kein Strahl von Hoffnung blieb ihnen mehr übrig. Beide lagen in todesähnlicher Er­ starrung, mit bleicher Stirn und die Verzweiflung im Auge und hefteten die ent­

setzten und schmerzvollen Blicke auf die Wogen, welche die Schaluppe schaukelten. Sie waren mit dem Schrecken vertraut; doch war es der Tod in seiner qualvoll­ sten Gestalt, der vor ihnen stand. Durst, Hunger, Verzweiflung, Hitze zehrten an ihnen, während sie unter einem heiteren, blauen Himmel in der reinsten Luft von einer sanften Strömung fortgetrieben wurden. Es schien ihnen, daß sie weit vom Lande entfernt sein müßten; denn der Wind, der sich erhoben hatte, mußte sie weit von der Stelle entfernt haben, wo der Schiffbruch geschehen war. So waren sie also auch der letzten Hoffnung beraubt, die Schaluppe an die Küste

Amerikas getrieben zu sehen. Plötzlich erhob der Matrose, der sich auf dem Vorderteil des Fahrzeugs be­ fand, und der, die Augen auf den Horizont gerichtet, mit Aufmerksamkeit an

seiner unsicheren und nebligen Linie hing, ein lautes Geschrei; dann aber rief er mit einem Ausdruck der Freude, der sich nicht beschreiben läßt: „Ein Segel! ein Segel!" Die erloschenen Augen seines sterbenden Gefährten belebten sich bei diesem zauberischen Wort; er strengte sich an, sich aufzurichten, und wandte

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seine schwachen Blicke nach dem Flecke hin, den ihm sein Freund bezeichnete.

Ein

heilender Balsam schien auf ihre Wunden zu fließen, ihre Schmerzen zu lin­ dern, ihren Hunger zu stillen. Ein Segel! Dieses Wort wurde wiederholt, ge­ sungen, geschrieen mit einer Freude, einem Taumel, die unaussprechlich waren; denn nach und nach sah man mit größerer Deutlichkeit das Segelwerk einer Fre­ gatte in den Strahlen der Sonne glänzen. Als jede Ungewißheit verschwunden war, stürzten die beiden Matrosen, vom lebhaftesten Dankgefühl durchdrungen, auf ihre Kniee; ihre Augen füllten sich mit Thränen, sie falteten ihre zitternden Hände und dankten Gott für die unerwartete Hülfe, die er ihnen schickte. Die Fregatte kam gerade auf die Schaluppe los, und unsere Matrosen machten alle Arten von Zeichen, überzeugt, daß man sie erblickt hätte, und daß die Fregatte zu ihrer Rettung herbeikäme; aber sie täuschten sich: die Fregatte lavierte nur, und als sie ihren Schlag beendet hatte, wendete sie sich zu einem neuen und setzte so ihren Weg aufs genaueste mit dem Winde fort. Als die Unglücklichen sahen, wie sich das Schiff entfernte, verdoppelten sie ihre Zeichen, warfen ihre Jacken in die Luft und schrieen aus allen Kräften; aber alles war umsonst; nie­ mand hatte sie gesehen, und die Fregatte entfernte sich, indem sie nach und nach von der Höhe verschwand, immer kleiner wurde und schon in Dunst sich ver­ schleierte. Da folgte ein Zustand der äußersten Niedergeschlagenheit auf die Ausbrüche

des Entzückens, welche die Hoffnung in den beiden Unglücklichen erregt hatte; noch konnte man das Segelwerk des Schiffes erblicken, aber in einem Augen­ blick mußte es ganz verschwinden. Der eine Matrose sank alsbald in die äußerste Berzweiflung zurück; aber sein Gefährte, wie beseelt von einer plötzlichen Ein­ gebung, rief aus: „Entweder ich versuch' es, oder wir sind verloren!" „Was willst du versuchen?" fragte ihn sein Kamerad, indem er ihn erstaunt anblickte. „Obgleich es," versetzte der erste, „nach dem, was wir in der verwichenen Rack­ erlebt haben, sehr schwer, wenn nicht unmöglich ist, so muß es doch gewagt wer­ den; denn in einigen Minuten ist uns das Schiff aus dem Gesicht, und dann bleibt uns nichts übrig als der Tod. Ja, ich versuche es, das Schiff durch Schwimmen zu erreichen, und wenn ich so glücklich bin, daß mir's gelingt, so rette ich dich; wenn aber meine Kräfte mich verlassen —" Sein Gefährte wollte sich seinem Borhaben widersetzen; er erinnerte ihn daran, daß das Schiff schon zu

weit entfernt wäre, und daß ja ein anderes sich vielleicht noch sehen ließe; aber der brave Matrose war schon ins Meer gesprungen, und da er mit ungemeiner Fertigkeit schwamm, so schien es, daß er endlich das Schiff erreichen würde, wenn er nicht einem Hai begegnete. Plötzlich erblickte er eins dieser Ungeheuer, das aus ihn los kam; ohne aber den Mut zu verlieren, erregte er mit großem Ge­

töse die Wellen um sich herum und tauchte dann unter. Der Hai ist das ge­ fräßigste, zugleich aber auch das feigste aller Meerungeheuer; er erschrickt vor dem geringsten Geräusch und fällt nur über seine Beute her, wenn sie sich in der vollkommensten Ruhe befindet. Dieser Gefahr also entging unser Matrose; aber er war noch eine sehr große Strecke vom Schiff entfernt, und der Wind, der stärker geworden war, vermehrte die Schnelligkeit der Fregatte. Endlich nach

VII.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

außerordentlichen Anstrengungen glaubte er sich dem hoffen, daß seine Stimme gehört werden könnte; laut auf, aber vergebens; niemand war in diesem und der Steuermann dachte nur an den Lauf des

461

Schiffe nahe genug, um zu so schrie er denn mehrmals Augenblick auf dem Verdeck, Schiffes und vernahm das

Geschrei nicht. Das Schiff entfernte sich immer weiter, und es war nun auch kein einziger Strahl von Hoffnung mehr in der Seele des Matrosen, da er fühlte, daß seine Kräfte aus dem Punkt waren, ihn zu verlassen. Nach der Schaluppe, die er ver­ lassen hatte, zurückzuschwimmen, war ein Ding der Unmöglichkeit; denn sie war gegenwärtig schon zu weit entfernt, und übrigens war auch sein Gefährte in einer ebenso schrecklichen Lage wie er selbst. So sah der Unglückliche seinen Tod vor Augen und schickte sich schon an, sein letztes Gebet zu sprechen, um vor Gott zu erscheinen, als er, seinen Blick noch einmal nach dem Schiff erhebend, einen Menschen auf dem Hinterkastell gewahrte. Sogleich erhob er seine Hände mit Gewalt und schrie und bewegte sich auf alle nur mögliche Weise, um die Auf­ merksamkeit jenes Menschen auf sich zu ziehen. Wie groß war seine Freude und sein Entzücken, als er sah, daß man seiner gewahr geworden.' Denn er bemerkte, wie man ein Fernglas auf ihn hinrichtete, und wie einen Augenblick später zwei Mann in eine Schaluppe sprangen und in vollem Rudern auf ihn los kamen. Bald war er aus seiner schrecklichen Lage befreit, und die Schaluppe eilte sodann zu seinem Gefährten, der unterdes, wie man wohl denken kann, der fürchterlich­ sten Angst zum Raube gewesen war. So wurden diese beiden Matrosen gerettet, die einzigen Überbleibsel von der Mannschaft des „Adler". Magazin für ausländische Literatur.

35.

Der Ninderhirt.

Einst mußte ich während der Regenzeit die Nacht in einer kleinen Herberge Neuhollands zubringen, welche am Abhang einer Hügelreihe lag und in dieser Nacht mehreren Ochsenknechten vor dem strömenden Regen Zuflucht gewährte. Da ich einen langen und ermüdenden Ritt über schlimmen Boden gemacht hatte, so zog ich mich nach dem Abendessen in die fernste Ecke des einzigen Gemachs, das die Hütte enthielt, zurück und wickelte mich in meine Decke. Mit halbge­ schlossenen Augen dampfte ich schweigend meine Pfeife und horchte nur mit hal­ bem Ohre auf das wirre Geplauder der Buschknechte. Zum Glück für meine

Ruhe war des Wirtes Rumvorrat schon seit einiger Zeit erschöpft, und da nach mir weiter kein Reisender gekommen war, so hatte auch das Braten und Rösten aufgehört; aber deshalb wurde es im Zimmer noch keineswegs ruhig; denn die Knechte, ohne Ausnahme frühere Sträflinge, blieben am Feuer sitzen und erzähl­ ten einander ihre Heldenthaten. Zuerst drehte sich die Unterhaltung um die ge­ wöhnlichen Gegenstände, nämlich um die in der alten Welt verübten Bubenstücke und um die Gefahren des Buschlebens, bis endlich ein Stoff an die Reihe kam,

der alle anderen verdrängte; es waren die Heldenthaten eines durch seinen Mui und seine Körperkraft in der ganzen Kolonie berühmten Rinderhirten, namens Dick. „Ja, ja," sagte einer, „ich kenne Dick und kann euch versichern, daß er es

462

VII.

Natur-, Länder- u nb Völkerkun de.

mit uns allen aufnirrunt, wie wir hier sitzen. Hat er doch einmal gegen hundert bewaffnete Schwarze in die Flucht geschlagen." Müde, wie ich war, schlummerte ich endlich ein, hörte aber noch bisweilen, wenn irgend eine neue Heldenthat er­ zählt wurde, die Worte ausrufen: „Bravo, Dick!" „Das ist seine Art!" „Hurra, Dick!" Mehrere Monate lang konnte ich den Gedanken an Dick nicht los werden; in der mit der Errichtung einer neuen Ansiedelung verbundenen Unruhe vergaß ich ihn aber endlich doch und hörte dann auch nicht wieder von ihm sprechen. Etwa ein Jahr später trat ich eine dreitägige Reise an, um mehrere Widder zu kaufen; der Weg führte mich durch eine mir völlig neue Gegend. Am Abend des zweiten Tages traf ich einen Mann mit zerbrochener Muskete, der den rechten Arm in einer Binde trug; er sah tückisch und boshaft aus und wandte, solange ich mit ihm sprach, die Augen nicht von meinem doppelläufigen Pistol. Er bat nm etwas Thee und Zucker; da ich diese Waren nicht entbehren konnte, so warf ich ihm ein Stück Tabak zu. Auf meine Fragen in betreff seines Armes erzählte er mir, daß ihn tags zuvor ein Stier angegriffen, ihn in einen Sumpf gestoßen, ihm den Arm zerbrochen und zugleich den Verlust seines Thee- und Zuckerbeutels veranlaßt habe. Die Stiere in Australien greifen in der Regel den Menschen nicht an; vor einigen Jahren aber war ein Teil des von der australischen Com­ pagnie aus den Hochlanden eingeführten schwarzen Rindviehs in die Berge ge­ flohen und dort ganz verwildert. Aus dieser Herde kamen damals ab und zu einzelne Stiere in die Niederungen herab und machten, indem sie wütend umher­ schweiften, die ganze Gegend unsicher. Als ich hinwegritt, war es mir ganz lieb,

daß meines guten Freundes Arm und Gewehr unbrauchbar war; denn er sah nicht aus wie einer, dem man mitten im dichten Gebüsch gern begegnet. So ritt ich denn in munterem Trabe davon, indem ich von Zeit zu Zeit umherspähte, ob etwa noch mehr solcher Wanderer in der Nähe wären. Nach einiger Zeit erfuhr ich den Namen des Mannes mit dem zerbrochenen Arm, und ein Jahr­ später überzeugte ich mich, daß ich ihn ganz richtig beurteilt hatte; denn da wurde er wegen Straßenraubs zu lebenslänglicher Strafarbeit verurteilt. Mit Sonnenuntergang erreichte ich die Hütte, in der ich zu schlafen gedachte; ich fand sie aber verlassen und so voll Ungeziefer, daß ich es vorzog, im Freien zu übernachten. Ich fesselte daher meinem Grauschimmel die Füße, ließ ihn auf dem besten Grasfleck, den ich finden konnte, weiden und wickelte mich in meinen

Mantel. Als ich am nächsten Morgen nach meinem Pferde sehen wollte, war es nirgends zu finden; offenbar hatte sich das arme Tier, von Durst geplagt, seiner Feffeln entledigt und sich dann aufgemacht, um einen Fluß oder See aufzusuchen. Ich nahm nun den Sattel auf den Kopf und folgte der Spur stundenlang; aber obgleich ich so lange ging, bis meine Füße voller Blasen waren, so gelang es mir doch nicht, dem Tiere näher zu kommen. Auf dem steinigen Boden hatte ich die Spur verloren und war schon im Begriff, das Suchen aufzugeben, als ich endlich in eine sumpfige Ebene kam, m der ich frische Hufabdrücke bemerkte. Einige hundert Schritte weiter wälzte sich der Graue ganz behaglich in dem Schlamm eines fast ausgctrockneten Teiches. Ich legte den Sattel nieder und

VII.

Natur-, Länder- unb Dölkerk unde.

463

rief das Tier bei seinem Namen: da hörte ich plötzlich in dem Buschwerk hinter mir ein lautes Brüllen und Krachen, und einen Augenblick später stürzte ein schwarzer Hochlandsstier in wildem Lauf gerade auf mich zu.

Ich hatte eben

noch Zeit, mich seitwärts platt auf die Erde zu werfen, als er an mir vorüber­ schoß; rasch kroch ich dann nach einer kleinen Baumgruppe hin, in deren Mitte

sich ein großer Stamm erhob. Als der Stier sah, daß er sein Ziel verfehlt hatte, wendete er schnell um und ließ seine Wut zuerst an meinem Sattel aus, indem er ihn mehrmals in die Luft warf, bis er zwischen die Büsche fiel; dann sah er sich nach einem neuen Opfer um, und als er mich ausgewittert hatte, be­ gann er scharrend und brüllend, die Baumgruppe zu umkreisen, in deren Mitte ich mich befand; seine roten Augen und seine langen, spitzen Hörner gaben ihm das Ansehen eines Teufels. Ich war ganz ohne Waffen, da ich mein Messer tags zuvor zerbrochen hatte; meine Pistolen steckten in der Satteltasche, und überdies war ich auf den Tod ermüdet; so blieb mir denn weiter nichts übrig, als, zwischen den Bäumen hin- und herspringend, der Bestie anszuweichen, bis sie des Spiels überdrüssig sein würde. Ein Unglück war es, daß ich meine treuen Hunde zu Hause gelassen hatte; denn sie würden mich mit leichter Mühe von ihr befreit haben. Der Stier schien überaus wild und kampflustig zu sein; denn er stürzte immer aufs neue heran, indem er zuweilen mit solcher Kraft gegen den großen Baum anlief, daß er auf die Kniee niedersiel; oft bog er die jungen Bäume, hinter denen ich stand, dermaßen vor, daß seine Hörner mich fast er­ reichten. Zu meinem Unglück hatte der große Baum keine Zweige, die ich hätte fassen können, um hinaufzuklettern. Wie lange dieses fürchterliche Spiel dauerte, weiß ich nicht; mir schienen es Stunden. Nachdem die erste Aufregung vorüber war, überkam mich wieder das Ge­ fühl der Erschöpfung, und nur der Trieb der Selbsterhaltung konnte mich auf den Beinen halten. Manchmal verließ mich der Stier auf einige Sekunden, in­ dem er brüllend hinwegtrabte; aber immer kam er, ehe ich eine bessere Stellung gewinnen konnte, wieder in vollem Laufe zurück. Die Zunge klebte mir am Gaumen, meine Augen wurden trübe, und die Kniee zitterten mir dermaßen, daß

ich mich kaum aufrecht erhalten konnte. Ich fühlte, daß ich verloren war, und dachte schon daran, mich in mein unabwendbares Schicksal zu ergeben; der Stier aber schien zu wissen, daß ich erschöpft war, und seine Angriffe wurden immer­ wilder und heftiger. Aber gerade, als ich im Begriff war, unter dem großen Baum kraftlos niederzusinken und von dem wütenden Tiere den Todesstoß zu empfangen, hörte ich in den Felsen zu meiner stechten Pferdegelrappel und einen Ruf, der mir wie die Stimme eines Engels klang. Dann ertönte Hundegebell und der laute Knall einer Peitsche; der Stier aber hielt seine teuflischen Augen fest auf mich geheftet und wich nicht von der Stelle. In vollem Laufe sprengte jetzt ein Reiter heran, und seine Peitsche traf das Fell des Stiers mit solcher Gewalt, daß das Blut in einem langen Streifen herausspritzte. Der Stier kehrte

sich wütend um und griff nun den Reiter an; dieser aber schwenkte sein Pferd, so daß es dem Stoße auswich, und dann fiel die Peitsche wieder wie ein langes biegsames Messer auf den Rücken deS rasenden Stiers; dieser ließ sich freilich

464

Vir.

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

mit einer Peitsche nicht in die Flucht treiben, sondern griff immer von neuem an; er hatte jedoch seinen Meister gefunden. Rechts und links, wie es nötig war, wendete sich das Roß und drehte sich bald auf den Hinter-, bald auf den Vorderbeinen, bis endlich der Reiter vom Pferde sprang und sich mit einem langen Messer zwischen den Zähnen dem Stier entgegenstellte. Als die Bestie den Kopf zum Stoße senkte, schien er sie bei den Hörnern zu packen; ein kurzer Kampf erfolgte, von dem ich nicht viel sehen konnte, weil eine dichte Staubwolke die Kämpfenden verhüllte, der aber ein Geräusch verursachte, als ob zwei starke Männer mit einander rangen. Einen Augenblick später lag der Stier auf dem Rücken; ein Blutstrom floß aus seiner Kehle, und seine Glieder zuckten in Todes­ schauern. Der Fremde, mit Schmutz und Staub bedeckt, kam jetzt auf mich zu und sagte so ruhig, als wenn er ein Kalb im Schlachthause getötet hätte: „Der ist tet, junger Mann; der thut keinem mehr etwas zu Leide." Ich that zwei oder drei Schritte nach dem toten Tiere hin: da schwanden meine Sinne, und ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder zur Besinnung kam, stand mein Pferd, ge­ sattelt und gezäumt, an einen Baum gebunden; mein Retter war beschäftigt, dem Stier das Fell abzuziehen. Als ich ihn fragend anschaute, sagte er: „Ich möchte ein Paar Stiefel von dem alten Teufel haben, ehe die Geier sein Fell durch­ fressen." Wir ritten nun aus der Niederung einen sanften Abhang hinauf. Ich war nicht zum Plaudern aufgelegt und sagte nur: „Ihr habt mir das Leben gerettet." Ich mochte ihm gern in irgendeiner Weise meine Dankbarkeit bethätigen; ich zog daher eine silberne Uhr aus der Tasche und gab sie ihm in die Hand; er aber stieß sie barsch zurück und sagte: „Nein, Herr, ich nehme weder Geld, noch Gel­ deswert für eine solche That, obgleich ich späterhin wohl einmal eine Bitte an Sie haben könnte. Übrigens sind Sie mir keinen Dank schuldig; ich hatte dem

schwarzen Satan einen Denkzettel zugedacht, weil er mir unlängst ein Füllen ge­ tötet hatte. Als ich Sie erkannte, freute ich mich, daß ich zu rechter Zeit ge­ kommen war; denn meine Freunde haben mir gesagt, daß Sie ein wackrer Mann sind." „Sie scheinen mich zu kennen," antwortete ich. „Darf ich fragen, wer Sie sind? Ich erinnere mich nicht, Sie je gesehen zu haben." „Ei," erwiderte er, „sie nennen mich hier zu Lande Dick." Die Scene in der Herberge am Wege trat jetzt wieder lebhaft vor meine Seele. Bevor ich jedoch etwas sagen konnte, brachte uns eine scharfe Wendung des Weges an eine Schäferhütte, aus der die Hunde bellend hervorstürzten. Wir riefen und klatschten mit den Peitschen, und der Bewohner der Hütte kam uns mit einem brennenden Stück Holz in der Hand entgegen. „Gott segne und schütze mich! Dick, bist du endlich da? Ich dachte schon, du kämst gar nicht wieder!" rief der Schäfer, ein kleiner Mann, der, auf

seinen Krückstock gestützt, rasch vorwärts hinkte. „He, Frau, Dick ist da!" Diese Worte wurden mit einem lauten, gellenden Ton ausgerufen. Die Frau kam in höchster Eile heraus; voller Freude umarmte sie Dick, der eben vom Pferde ge­ stiegen war, und lachte und weinte durcheinander, während ihr Gatte die Hand des Herdenknechts schüttelte und in herzlichem Tone sagte: „Gott, Dick, waö freue

VII. ich mich, dich zu sehen!"

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

465

Dazu machten die bellenden Hunde und die blökenden

Lämmer einen betäubenden Lärm. Ich führte unterdessen die beiden Pferde nach der andern Seite der Hütte, wo mir ein Schäfer für die ausgehungerten Tiere ein Grasgehege anwies.

Ich fragte ihn, was die Scene zwischen seinem Genossen

und dem großen Herdenknechte bedeute; er aber antwortete: „Was das bedeutet, Fremder? Nun das ist Dick, und mein Genosse ist der kleine Jemmy, den Dick

gerettet hat, als die Schwarzen die ganze übrige Gesellschaft, wohl ein Dutzend

Menschen, totschlugen." Als ich zurückkam, dampfte das Abendessen auf dem Tische, und wir hielten eine ordentliche Buschmahlzeit. Der Herdenknecht erzählte dann mein Abenteuer, und als sie ihre Neuigkeiten ausgetauscht hatten, wurde es mir nicht schwer, den Hüttenbewohner auf den Punkt zu bringen, wo ich ihn haben wollte. Die Schwierigkeit war nur, Mann und Frau abzuhalten, daß sie nicht zugleich erzählten. Endlich brachte ich die folgende Erzählung aus dem Schäfer heraus. „Dick war," sagte er, „als ich ihn kennen lernte, zweiter Herdenknecht bei

Herrn Ronalds, und ich war dort Schäfer; ich fühlte mich in meiner Stellung ganz glücklich, und meine Frau besorgte mir das Hauswesen. Dick und ich wur­ den bald gute Freunde. Während der großen Dürre vor fünf Jahren beschloß Herr Ronalds, eine Anzahl Vieh nach dem Norden zu schicken, wo genug Wasser und Gras vorhanden sein sollte, um dort eine Station zu errichten. Dick wurde zum Herdenknecht ausgewählt, und ein junger Herr, ein Verwandter des Herrn Ronalds, ging als Aufseher mit, ein alberner, eingebildeter junger Mann, der das Buschleben nicht kannte und sich nicht belehren lassen wollte; außerdem gin­ gen noch ein Schmied, namens Jack, zwei Ochsentreiber und acht Holzspalter mit. Auch ich bekam die Erlaubnis mitzugehen, und ich nahm sie mit Freuden an, weil ich gern das Land kennen lernen wollte; ich sollte die Vorräte beauf­ sichtigen und die Feldarbeit verrichten. Wir hatten zwei Karren bei uns und

waren gut bewaffnet. „Etwa vierzehn Tage waren wir unterwegs, ehe wir das neue Land erreichten, und dann zogen wir noch fünf Tage landeinwärts.

Manchmal blieben wir

24 Stunden ohne Wasser, und oft mußten wir die Karren zwei- oder dreimal an einem Tage abladen, wenn uns ein Fluß in den Weg kam. Den fünften Tag sanden wir schönes Land; das Gras ging den Pferden bis an den Hals; das Flußbett bestand aus einer Reihe von Löchern, welche mit hellem Wasser ange­ füllt waren, und die Känguruhs hüpften umher wie Kaninchen in einem Gehege. Wir hatten schon seit einigen Tagen verschiedene Anzeichen der Schwarzen be­

merkt, aber sie selbst nicht zu Gesicht bekommen, wenn ton* auch beim Einbruch der Nacht ihren wilden Ruf deutlich vernehmen konnten; darum hielten wir ordent­ liche Wacht, indem wir stets vier Schildwachen ausstellten, und jeder schlief mit dem Gewehr im Arm. Da Dick dem Vieh folgen mußte, so riet ich ihm, an seiner Büchse den Lauf absägen zu lassen, damit er sie bequemer zu Pferde ge­

brauchen könne. Er nahm meinen Rat an, und Jack führte ihn aus, so daß Dick das Gewehr, wenn es ihm an einer Schnur um den Hals hing, auch zu Pferde

bequem abfeuern konnte. Das war ein Glück, wie sich nachher auswies. Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb. 5. Aufl. 30

Endlich

466

VII.

Natur-, Länder-

und Völkerkunde.

wählte der Aufseher einen Platz für die Station aus. Er hatte vortreffliches Wasser und Gras und, wie der Aufseher sagte, auch eine schöne Aussicht; aber was die Sicherheit betraf, so lag er zu nahe an einem Dickicht, in welchem sich die Wilden in den Hinterhalt legen konnten. Die alten Buschknechte meinten daher, ein vom Wasser umgebener Fleck wäre besser, und daran hatten sie nicht

unrecht. Wir gingen nun an die Arbeit und hatten bald die nötige Anzahl Bäume gefällt; Jack stellte seine Schmiede auf und den Schleifstein, um die Äxte scharf zu halten, und ich blieb bei ihm; Dick trieb das Vieh hinaus, und der Aufseher saß auf einem Klotz und schaute zu.

Am zweiten Tage kam ein

Haufen Schwarzer an das gegenüberliegende Ufer des Flusses herunter; sie sahen sehr wild aus, aber einige unserer Leute gingen ihnen mit grünen Zweigen ent­ gegen und schlossen Frieden mit ihnen. Unser Brot und Zucker schmeckte ihnen, und bald leistete ein Teil von ihnen uns allerlei Dienste; sie fischten für unS, brachten uns wilden Honig und Känguruhs und erhielten dafür allerlei Nahrungsmittel. So wurden wir allmählich sorgloser; nur Dick traute ihnen nicht und hörte nicht auf, uns zu warnen; aber der Aufseher schalt ihn einen Raufbold, der an nichts als an Hader und Kampf dächte. „Eines Tages waren wir alle bei der Arbeit, indem wir Deckbretter für die Hütte zuhieben und sie einsetzten. Die Schwarzen halfen uns wie gewöhnlich; ich drehte den Wetzstein für Jack, und Dick war fortgeritten, um Thee zu holen. Die Gewehre waren alle in einer Ecke aufgestellt; da hörte ich ein Geheul und

darauf ein Geschrei und sah nun, daß wir von bewaffneten Schwarzen umringt waren. Ihr Häuptling hielt eine breite Axt in der Hand, und im nächsten Augenblick hatte er dem Aufseher den Kopf abgehauen; zwei Minuten später lagen alle meine Kameraden am Boden; drei oder vier von den Wilden liefen auf uns los und warfen ihre Spieße nach uns. Ich wehrte diese zwar ab, aber einer fuhr doch tief in meine Hüfte, und ein Stück von ihm steckt noch darin. Jack hatte eine Axt in der Hand und schlug die ersten beiden, welche herankamen,

nieder; aber im Nu war er mit mehr als 20 Wunden bedeckt. Jetzt wollten sie auch mich abfertigen, und ein junger Bursche traf mit dem Tomahawk, den ich

ihm noch tags zuvor scharf gemacht hatte, meinen Kopf, so daß ich zu Boden stürzte. Die anderen Schwarzen hatten unterdessen angefangen, unsere Vorräte zu plündern, und schrieen vor Vergnügen, als sie die vielen für sie so seltenen Waren erblickten; dies hatte zur Folge, daß auch diejenigen, welche mich ange­

griffen hatten, fortliefen, um gleichfalls an der Plünderung teilzunehmen.

In

diesem Augenblick kam Dick aus dem Gebüsch hervor; er sah, was vorging, aber obgleich mehr als hundert schwarze Teufel da waren, alle bewaffnet, bemalt und

laut heulend, so zögerte er doch keinen Augenblick, sondern ritt mitten durch das Lager, schoß unter den dichten Haufen, tötete ihrer zwei und schlug einem dritten mit dem Kolben seines Gewehrs den Schädel ein; dann ergriff er ein Beil,

welches in einem Pfahl steckte, und sah sich nach Freunden um, denen er Bei­ stand leisten konnte. Wohin er sich wandte, überall erblickte er nur Tote; die einen waren von Speeren durchbohrt, die anderen mit Äxten niedergehauen. Jetzt wandte er sich nach uns hin und rief unsere Namen; ich war so schwach,

VII. Natur-, Länder- und Völkerkunde.

467

daß ich nicht antworten konnte, aber ich richtete mich einen Augenblick auf.

Da

kam er heran, bog sich herunter, packte mich beim Wams und zog mich vor sich auf das Pferd. Jetzt kam auch Jack, der unter den Wetzstein gekrochen war, zum Vorschein und rief mit kläglicher Stimme: „Ach, Dick, verlaß mich nicht!"

Sogleich eilten mehrere Wilde herbei; denn sie sahen ein, daß ihre Arbeit erst halb gethan war. Als Dick sich gegen sie wandte, wichen sie zurück und schleu­

derten ihre Speere nach ihm; doch es gelang ihnen nicht, ihn zu verwunden. Dick ritt nun nach dem nächsten Hügel hin, legte mich hier unter einen Busch und sprengte

in

den Haufen

der Feinde zurück, die Axt in der einen,

das

kurze Gewehr in der andern Hand; rechts und links schlug er die Schurken nieder, als ob er Gras mähte, bis er endlich zu Jack gelangte und ihn hinter sich aufs Pferd hob. Während er hiermit beschäftigt war, schlug und biß das

Pferd nach beiden Seiten hin, so daß keiner der Feinde heranzukommen wagte. Nun kehrte Dick zu mir zurück, hob auch mich zu sich empor, und fort ging's wohl eine Meile weit in scharfem Trabe; dann stieg Dick ab und ging zu Fuß, während wir beide neben ihm herritten. Als die Schwarzen die Karren geplün­

dert hatten, machten sie sich auf, um uns zu verfolgen; doch Dick verlor keinen Augenblick den Mut." „Doch, Kamerad, einmal doch!" unterbrach hier Dick den Erzähler. „Ich werde es nie vergessen. Als ich meine letzte Kugel laden wollte, fand ich, daß sie zu groß war." „Heiliger Gott!" rief ich aus; „was thatet ihr da?" „Nun," antwortete Dick, „ich nahm sie in den Mund und kaute sie so lange, bis sie klein genug war, um in den Lauf zu passen; dann lud ich sie in

die Büchse, legte an, ließ die Feinde auf 20 Schritte herankommen und schoß ihren Anführer weg, den schlimmsten Schuft von allen." Dick war nun einmal warm geworden und setzte daher die Erzählung fort. „Wir durften nicht Halt machen; wir mußten den Abend und die ganze Nacht

vorwärts, und da die beiden Verwundeten fortwährend nach Wasser schrieen, so füllte ich, so oft es anging, meinen Hut aus einem Bach oder einem Tümpel

und gab ihnen zu trinken. So legten wir wohl 15 Meilen zurück, ohne mehr als dann und wann auf einige Minuten Halt zu machen. Zuletzt waren die beiden armen Menschen so matt, daß ich sie auf dem Sattel festbinden mußte; auch das Pferd war nahe daran, zusammenzubrechen, und dann hätten wir alle wegen Wassermangels

umkommen müssen: da trafen wir glücklicherweise eine

Schar Reisender. „Jack hatte 18 Wunden; aber er ist, den Verlust von zwei Fingern ausge­

nommen, wieder so gesund, wie vorher; der arme Jemmy dort taugt zu nichts

weiter mehr als zum Hüttenaufseher; ich hatte ein paar unbedeutende Schrammen bekommen, und mein Pferd hatte in dem Kampfe ein Ohr verloren. Nachher ging ich mit einigen Soldaten zu den Schwarzen zurück und brachte meine Rech­ sr«* Dickens.

nung mit ihnen in Ordnung."

36. Kaum hat die

Mut der Matrosen.

Schiffsglocke geläutet oder viermal angeschlagen, so ertönt

des Bootsmanns Pfeife durch den Matrosenraum, und seine heisere Stimme ruft

30*

VII.

468

Natur-, Länder- und Völkerkunde.

die Wache herauf, daß sie ihre Kameraden ablöse; beim zweiten Ruf muß alles auf den Beinen sein und auf dem Berdeck, auf dem Vorderkastell und am Steuer­

ruder ein jeder seinen angewiesenen Posten einnehmen.

Das Ungestüm zweier Elemente, die fast in unaufhörlicher Bewegung sind, dringt mit vereinten Kräften auf sie ein. Um sich warm zu halten, laufen sie beständig auf und ab, bis irgendein Vorfall sie zur Arbeit ruft. Ändert der Wind seine Richtung, so werden die Segel nur anders gestellt; steigt aber seine Heftigkeit, so müssen sie teils eingerefft, teils völlig eingezogen werden. Der An­ blick dieser gefährlichen Verrichtung ist schauderhaft, wenigstens für jeden, der es nicht gewohnt ist, Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen zu sehen. Sobald die

untersten Zipfel des Segels vom Verdeck aus gelöst und aufgezogen worden, brausen die Winde darein und schlagen es an Stange und Mast, daß das ganze Schiff davon erbebt. Mit bewunderungswürdiger Behendigkeit und nicht geringem Mute klettern die Matrosen sogleich bis zur zweiten oder dritten Verlängerung des Mastes hinan. Dort hängen in starken Tauen die Segelstangen oder Rahen quer über dem Schiff; an ihren beiden Enden und in der Mitte befestigt, hängt ein schlotterndes Seil, welches den Füßen des verwegenen Seemanns zum Ruhe­ punkt dient. Auf diesem Seil gehen 6 bis 8 Matrosen hurtig und mit sichrem Tritt zu beiden Seiten bis an die äußersten Enden der Rahe hinaus trotz des Windes, der das flatternde Segel gewaltsam hin- und herschleudert und das Seil unter ihren Füßen erschüttert, trotz der schwankenden Bewegung des Schiffes, welche in jener Höhe ohne Vergleich stärker gefühlt wird als auf dem Verdecke. Ich habe zu gleicher Zeit das Ende der großen Rahe sich in eine türmende Welle

tauchen sehen; der Matrose am Ende einer Segelstange, die gegen 17 m hoch am Maste hängt, wird folglich mit jeder Welle alsdann durch einen Bogen von 17 bis 20 m geschaukelt. Jetzt scheint er ins Meer hinabgeschleudert zu werden, jetzt wieder die Sterne zu berühren; doch ohne sich diese gewaltsamen Bewegun­

gen anfechten zu lassen, biegt er sich über die Segelstange, entreißt dem Winde das Segel, rollt es zusammen, bindet es fest und vollendet diese gefahrvolle Ar­ beit mit seinen Gehülfen in wenigen Minuten. Seine einzige Sorge bei diesem wie bei jedem andern Geschäfte ist dahin gerichtet, daß es ihm keiner an Ge­ schicklichkeit und Mut zuvorthun möge; denn dieser rühmliche Wetteifer liegt tief in seiner Seele und ist die Folge eines gewissen gemeinschaftlichen Gefühls, wel­

ches diesem Stande eigen ist.

Ihm muß es übrigens gleich gelten, ob die Sonne

ihm dazu leuchtet, oder ob er sich in der tiefsten Finsternis der Nacht bloß auf das Tasten seiner harten Hände verlassen darf. Selbst wenn der Sturm ein Segel zerrissen hat und mit den Stücken alles zerpeitscht, scheut kein Matrose

die Gefahr, von einem solchen Schlage getroffen zu werden, und rettet, was zu

retten ist. Wenn in der Nähe Land vermutet wird, sitzt er mehrere Stunden lang un­ beweglich am höchsten Gipfel der Marsstange und blickt aus dieser einsamen, schwindlich machenden Höhe wachsam umher. Er lächelt, wenn unerfahrene Land­

leute oder junge Anfänger jeden heftigen Wind einen Sturm nennen, und ist un­

gern freigebig mit diesem Namen, so lange das Schiff noch mehr als die untern

VIII.

großen Segel führt.

469

Dramatisches.

In offener See hat selbst ein Sturm nichts Schreckliches

für ihn; was kann ihm schaden, sobald alle Segel eingezogen sind und das Schiff,

mit dem Schnabel gegen den Wind beigelegt, mit festgebundenem Steuer dem Drange der Wellen folgt, oder wenn man es, sicher, daß kein Land in der Nähe

sei, mit wenigen Segeln schnell vor dem Sturm hinfliegen läßt, vorausgesetzt daß das Schiff dauerhaft gebaut sei? Nur alsdann wird der Sturm in der That furchtbar, wenn er das Schiff auf eine Küste führt, wo kein Hafen dem See­ fahrer Sicherheit verspricht und die einzige Hoffnung, dem Schiffbruch zu ent­ gehen, auf der Stärke der Segel beruht. Diese Gefahr trifft ihn indes nur selten; Anstrengungen und Unannehmlich­ keiten hingegen sind sein tägliches Los. Der Posten am Steuerruder ist einer der beschwerlichsten; keiner hält es länger als eine Stunde dabei aus, und wenn die See in hohen Wogen geht und der Wind heftig stürmt, müssen zwei Per­ sonen zugleich das Rad regieren, welches sonst für die Kräfte des einzelnen Mannes leicht zu mächtig wird und ihn zuweilen so mit sich fortreißt, daß er in Lebensgefahr ist. Wenn das Schiff nahe am Winde geht und die See etwas ungestüm ist, so schlagen die Wellen oft herein und zwar hauptsächlich da, wo die Wache sich aufhält, die, zuletzt bis auf die Haut durchnäßt, sich lachend über ihr Unglück tröstet. Diese Gleichmütigkeit, die den Sinn für Freude nicht ausschließt, ist ein Hauptzug im Charakter des Seemanns. Die schnellen Veränderungen des Windes und der Witterung, die man zur See so oft erfährt, tragen viel

dazu bei, den Matrosen gegen alles Ungemach zu härten. In Sturm und Re­ gen lebt er der frohen Hoffnung, daß bald wieder Sonnenschein und guter Wind kommen werde; allein auch wenn die Zeit der Prüfung kommt, wo die Hoffnung fehlschlägt, ist das Beispiel des Befehlshabers und der Offiziere hinreichend, den

Mut des getäuschten Seemanns aufrecht zu erhallen.

Forster.

VIII. Dramatisches. 1.

Tobias Witt oder die Schule der Klugheit. Personen. Herr Tobias Witt, ein ältlicher Kaufmann. Herr Flau, ein junger, angehender Kaufmann.

W. 8. w. 8ich.

Herein!

Gehorsamster Diener, Herr Witt! Ei, ergebenster Diener, Herr Flau! I, was bringt Er denn Gutes? Bringen, Herr Witt? Bringen kann ich leider nichts. Suchen möchte Ich habe mehr als ein Anliegen, lieber Herr Witt; und an wen könnte ich

mich besser wenden als an einen so guten und klugen Mann?

VIII.

großen Segel führt.

469

Dramatisches.

In offener See hat selbst ein Sturm nichts Schreckliches

für ihn; was kann ihm schaden, sobald alle Segel eingezogen sind und das Schiff,

mit dem Schnabel gegen den Wind beigelegt, mit festgebundenem Steuer dem Drange der Wellen folgt, oder wenn man es, sicher, daß kein Land in der Nähe

sei, mit wenigen Segeln schnell vor dem Sturm hinfliegen läßt, vorausgesetzt daß das Schiff dauerhaft gebaut sei? Nur alsdann wird der Sturm in der That furchtbar, wenn er das Schiff auf eine Küste führt, wo kein Hafen dem See­ fahrer Sicherheit verspricht und die einzige Hoffnung, dem Schiffbruch zu ent­ gehen, auf der Stärke der Segel beruht. Diese Gefahr trifft ihn indes nur selten; Anstrengungen und Unannehmlich­ keiten hingegen sind sein tägliches Los. Der Posten am Steuerruder ist einer der beschwerlichsten; keiner hält es länger als eine Stunde dabei aus, und wenn die See in hohen Wogen geht und der Wind heftig stürmt, müssen zwei Per­ sonen zugleich das Rad regieren, welches sonst für die Kräfte des einzelnen Mannes leicht zu mächtig wird und ihn zuweilen so mit sich fortreißt, daß er in Lebensgefahr ist. Wenn das Schiff nahe am Winde geht und die See etwas ungestüm ist, so schlagen die Wellen oft herein und zwar hauptsächlich da, wo die Wache sich aufhält, die, zuletzt bis auf die Haut durchnäßt, sich lachend über ihr Unglück tröstet. Diese Gleichmütigkeit, die den Sinn für Freude nicht ausschließt, ist ein Hauptzug im Charakter des Seemanns. Die schnellen Veränderungen des Windes und der Witterung, die man zur See so oft erfährt, tragen viel

dazu bei, den Matrosen gegen alles Ungemach zu härten. In Sturm und Re­ gen lebt er der frohen Hoffnung, daß bald wieder Sonnenschein und guter Wind kommen werde; allein auch wenn die Zeit der Prüfung kommt, wo die Hoffnung fehlschlägt, ist das Beispiel des Befehlshabers und der Offiziere hinreichend, den

Mut des getäuschten Seemanns aufrecht zu erhallen.

Forster.

VIII. Dramatisches. 1.

Tobias Witt oder die Schule der Klugheit. Personen. Herr Tobias Witt, ein ältlicher Kaufmann. Herr Flau, ein junger, angehender Kaufmann.

W. 8. w. 8ich.

Herein!

Gehorsamster Diener, Herr Witt! Ei, ergebenster Diener, Herr Flau! I, was bringt Er denn Gutes? Bringen, Herr Witt? Bringen kann ich leider nichts. Suchen möchte Ich habe mehr als ein Anliegen, lieber Herr Witt; und an wen könnte ich

mich besser wenden als an einen so guten und klugen Mann?

VIII.

470 W.*)

Dramatisches.

Ei, wäre ich denn wirklich so klug?

8w.

Die ganze Welt sagt's, Herr Witt. Und weil ich es auch gern würde — I nun, wenn Er das werden will, das ist leicht. Er muß nur fleißig achtgeben, Herr Flau, wie es die Narren machen.

8w. 8w.

Was? wie es die Narren machen? Ja, ja, Herr Flau, und muß es denn anders machen als die.

Als zum Exempel? Als zum Exempel, Herr Flau: So lebte dahier in meiner Jugend ein alter Arithmetikus, ein altes, grämliches Männchen, Herr Veit mit Namen. Der ging immer herum und murmelte vor sich selbst; in seinem Leben sprach er mit keinem Menschen; und einem ins Gesicht sehen, das that er noch weniger; immer guckt' er ganz finster in sich hinein. Wie meint Er nun wohl, Herr Flau, daß

die Leute den hießen?

8w.

Wie? Einen tiefsinnigen Kopf. Ja, es hat sich wohl! einen Narren! Hui, dacht' ich bei mir selbst, denn der Titel stand mir nicht an, wie der Herr Veit muß man's nicht machen. Das ist nicht fein. In sich selbst hineinsehen, das taugt nicht. Sieh du den Leuten dreist ins Gesicht! Oder gar mit sich selbst sprechen? Pfui, sprich du lieber mit andern! Nun, was dünkt Ihn, Herr Flau? Hatt' ich da recht?

8w.

Ei, ja wohl! allerdings! Aber, ich weiß nicht, so ganz doch wohl nicht. Denn da lief noch ein anderer herum, das war der Tanzmeister, Herr Flink; der guckte aller Welt ins Gesicht und plauderte mit allem, was nur ein Ohr hatte, immer die Reihe herum.

Und den, Herr Flau, wie meint Er wohl, daß die Leute den wieder hießen?

8w.

Einen lustigen Kopf? Beinahe! Sie hießen ihn auch einen Narren. Hui, dachte ich da wie­ der, das ist doch drollig! Wie mußt du's denn machen, um klug zu heißen? Weder ganz wie der Herr Veit, noch ganz wie der Herr Flink. Erst siehst du den Leuten hübsch dreist ins Gesicht wie der eine, und dann siehst du hübsch be-

dächtlich in dich hinein wie der andere; erst sprichst du laut mit den Leuten wie der Herr Flink und dann insgeheim mit dir selbst wie der Herr Veit. Sieht Er, Herr Flau! So hab' ich's gemacht; und das ist das ganze Geheimnis?*)

Nun

*) Statt der vorstehenden dialogischen Einleitung hat Engel die nachfolgende vor­ aufgeschickt: Herr Tobias Witt war aus einer nur mäßigen Stadt gebürtig und nie weit über die nächsten Dörfer gekommen; dennoch hatte er mehr von der Welt gesehen als man­ cher, der sein Erbteil in Paris oder Neapel verzehrt hat. Er erzählte gern allerhand kleine Geschichtchen, die er sich hier und da aus eigener Erfahrung gesammelt hatte. Poetisches Verdienst hatten sie wenig, aber desto mehr praktisches, und das Besonderste an ihnen war, daß ihrer je zwei und zwei zusammengehörten. Einmal lobte ihn ein junger Bekannter, Herr Till, seiner Klugheit wegen. „Ei'." fing der alte Witt an und schmunzelte. Es stellt demnach im Folgenden statt des Namens Flau im Originale der Name Till. **) Statt der folgenden Worte bis „W. Ei was! Er muß das Glück nur suchen, Herr Flau'." heißt es im Originale: Ein ander Mal besuchte ihn ein junger Kaufmann, Herr Flau, der gar sehr über sein Unglück klagte. „Ei was!" fing der alte Witt an und schüttelte ihn.

VIII.

aber, Herr Flau!

Dramatisches.

Er hätte mehr als ein Anliegen, sagt Er.

471 Was ist's denn

nun weiter?

8- Eine Anforderung an Ihre Güte, Herr Witt; ich brauche ein Sümm­ chen Geld zu einer kleinen Spekulation. Ich denke, mir damit wenigstens ein bißchen Luft zu schaffen. Einem andern dürste ich mit dem Klageton gar nicht kommen; aber auf Sie, Herr Witt, hab' ich mein Vertrauen gesetzt. w. Nun, Er soll nicht unberaten fortgehen. Aber was klagt er denn so?

8- Ach, der Himmel weiß, wie mir's geht! Es will gar nicht recht fort; nichts will gelingen, ich mag's anfangen, wie ich will. Zeilen, Menschen, alles trügt einen.

w.

Ei was!

Er muß das Glück nur suchen, Herr Flau, Er muß danach

aus sein!

8- Das bin ich ja' lange; aber was hilft's? Immer kommt ein Streich über den andern. Künftig leg' ich die Hände lieber in den Schoß und bleibe zu Hause.

IV. Ach, nicht doch, nicht doch, Herr Flau! Gehen muß er immer danack aber sich nur hübsch in Acht nehmen, wie Er's Gesicht trägt. 8w.

Was? wie ich's Gesicht trage? Ja, ja, Herr Flau, wie Er 's Gesicht trägt. Ich will's Ihm erklären. Als da mein Nachbar zur Linken sein Haus baute, so lag einst die ganze Straße voll Balken und Steine und Sparren, und da kam unser Bürgermeister gegan­ gen, Herr Trick, damals noch ein blutjunger Ratsherr. Der rannte mit von sich geworfnen Armen ins Gelag hinein und hielt den Nacken so steif, daß die Nase mit den Wolken so ziemlich gleich war. Plump! lag er da und brach das Bein und hinkt noch heutigen Tags davon. Was will ich nun damit sagen, lieber Herr Flau?

8w.

Ei, die alte Lehre: Du sollst die Nase nicht allzuhoch tragen. Ja, sieht Er! aber auch nicht allzu niedrig; denn nicht lange danach kam noch ein anderer gegangen, das war der Stadtpoet, Herr Schall. Der mußte entweder Verse oder Haussorgen im Kopfe haben; denn er schlich ganz

trübsinnig einher und guckte in den Erdboden, als wenn er hineinsinken wollte. Krach! riß ein Seil; der Balken fiel herunter und plötzlich vor ihm nieder. Vor Schrecken fiel der arme Teufel in Ohnmacht, ward krank und mußte ganze Wochen

lang aushalten. Merkt Er nun wohl, was ich meine, Herrr Flau, wie man's Gesicht tragen muß?

8w.

Sie meinen, so hübsch in der Mitte.

Ja freilich, daß man weder zu keck in die Wolken, noch zu scheu in den Erdboden sieht. Wenn man so die Augen fein ruhig nach oben und unten und

nach beiden Seiten umherkehrt, so kommt man in der Welt schön vorwärts, und

mit dem Unglück hat's so leicht nichts zu sagen.*) mir haben.

Aber, Er wollte ja Geld von

*) Statt der folgenden Worte bis „W. Und wie viel meint Er denn wohl, lieber Herr Flau, daß Er braucht?" heißt es im Originale: Noch ein ander Mal besuchte den Herrn Witt ein junger Anfänger, Herr Witts;

472

vni

8

Dramatisches.

Ja, Herr Witt, ich wollte darum bitten.

Wie gesagt, nur zu einer­

kleinen Spekulation. Viel wird dabei nicht herauskommen, das seh' ich vorher. Aber ich will doch die Gelegenheit mitnehmen, es soll der letzte Versuch sein.

TV. F.

Und wie viel meint Er denn wohl, lieber Herr Flau, daß Er braucht?

Ach, nicht viel!

Eine Kleinigkeit!

Ein hundert Thälerchen etwa.

TV. Wenn's nicht mehr ist, die will ich Ihm geben; recht gern! Und damit Er sieht, daß ich Ihm gut bin, so will ich Ihm obendrein noch etwas anderes geben, das unter Brüdern seine lausend Reichsthaler wert ist. Er kann reich damit werden. F. Aber wie, lieber Herr Witt, obendrein? W. Es ist nichts; es ist ein bloßes Histörchen.

Ich hatte hier in meiner

Jugend einen Weinhändler zum Nachbar, ein gar drolliges Männchen, HerrGrell mit Namen, er hatte sich eine einzige Redensart angewöhnt, die bracht' ihn zum Thore hinaus. 8- Ei, das wäre! die hieß?

TV. Wenn man ihn manchmal fragte: „Wie steht's, Herr Grell? Was haben Sie bei dem Handel gewonnen?" „Eine Kleinigkeit," fing er an; „ein fünfzig Thälerchen etwa. Was will das machen?" Oder, wenn man ihn an­ redete: „Nun, Herr Grell! Sie haben ja auch bei dem Bankerott verloren?" „Ach was!" sagte er wieder, „es ist nicht der Rede wert, eine Kleinigkeit von ein Hunderter fünfe." Er saß in schönen Umständen, der Mann; aber wie ge­ sagt, die einzige, verdammte Redensart hob ihn glatt aus dem Sattel. Er mußte zum Thore hinaus. Wie viel war es doch, Herr Flau, das Er wollte? 8 Ich? Ich bat um hundert Reichsthaler, lieber Herr Witt. TV. Ja recht! Mein Gedächtnis verläßt mich. Aber ich hatte da noch einen andern Nachbar, das war der Kornhändler, Herr Tomm; der baute von einer andern Redensart das große Haus auf mit Hintergebäude und Warenlager. Was dünkt Ihn dazu? 8- Ei, ums Himmels willen! die möcht' ich wissen, die hieß? TV. Wenn man ihn manchmal fragte: „Wie steht's, Herr Tomm? Haben Sie bei dem Handel verdient?" „Ach, viel Geld!" fing er an, „viel Geld!" und da sah man, wie ihm das Herz im Leibe lachte, „ganze hundert Reichsthaler!" Oder wenn man ihn anredete: „Was ist Ihnen? Warum so mürrisch, Herr

Tomm?" „Ach," sagte er wieder, „ich habe viel Geld verloren; viel Geld! ganze fünfzig Reichsthaler!" Er hatte klein angefangen, der Mann; aber, wie gesagt, das ganze, große Haus baute er auf mit Hintergebäude und Warenlager. Herr Flau, welche Redensart gefällt Ihm nun besser? 8- Ei, das versteht sich, die letztere!

TV.

Nun,

Aber so ganz war er mir doch nicht recht, der Herr Tomm; denn er

der wollte zu einer kleinen Spekulation Geld von ihm borgen. „Viel," fing er an, „wird dabei nicht herauskommen, das seh' ich vorher; aber es rennt mir so von selbst in die Hände. Da will ich's doch mitnehmen." Dieser Ton stand dem Herrn Witt gar nicht an. Und wie viel meint Er denn wohl, lieber Herr Mills, daß Er braucht?"

VIII.

473

Dramatisches.

sagte auch „viel Geld!", wenn er den Armen oder der Obrigkeit gab, und da hätt' er nur immer sprechen mögen wie der Herr Grell, mein anderer Nachbar.

Ich, Herr Flau, der ich zwischen beiden Redensarten mitteninne wohnte, ich habe mir beide gemerkt, und da sprech' ich nun nach Zeit und Gelegenheit bald wie

der Herr Grell und bald wie der Herr Tomm. F. Nein, bei meiner Seele! ich halt's mit dem Herrn Tomm.

Das Haus

und das Warenlager gefällt mir. w. Er wollte also? Biel Geld, viel Geld, lieber Herr Witt, ganze hundert Reichsthaler!

TV. Sieht Er, Herr Flau? Es wird schon werden! Das war ganz recht. Wenn man von einem Freunde borgt, so muß man sprechen wie der Herr Tomm, und wenn man einem Freunde aus der Not hilft, so muß man sprechen wie der Herr Grell.*) Nun, wart'Er! Da, lieber Herr Flau, sind die hundert Reichs­ thaler! Die Summe ist richtig; die Nolle ist aus der Bank. 8- Dank, herzlichen Dank, lieber Herr Witt, für Ihre Hülfe und besonders für die guten Regeln, die ich nicht vergessen werde. Jetzt will ich mich Ihnen empfehlen und — w. Wart' Er, wir gehen mit einander. Ich habe da auch eben einen not­ wendigen Gang. Nach (Wt.

2. 8ischerknabe.

Fischer, Jäger und Hirt.

Es lächelt der See, er ladet zum Bade, Der Knabe schlief ein am grünen Gestade;

Da hört er ein Klingen, wie Flöten so süß, Wie Stimmen der Engel im Paradies. Und wie er erwachet in seliger Lust, Da spülen die Wasser ihm um die Brust.

Und es ruft aus den Tiefen: Lieb Knabe, bist mein! Hirt.

Ich locke den Schläfer, ich zieh' ihn herein. Ihr Matten, lebt wohl, Ihr sonnigen Weiden!

Der Senne muß scheiden, Der Sommer ist hin. Wir fahren zu Berg, wir kommen wieder, Wenn der Kuckuck ruft, wenn erwachen die Lieder,

Wenn mit Blumen die Erde sich kleidet neu, Wenn die Brünnlein stießen im lieblichen Mai. Ihr Matten, lebt wohl, Ihr sonnigen Weiden!

Der Senne muß scheiden, Der Sommer ist hin. *) Hier endigt die Erzählung Engels.

474

VIII.

Alpenjäger.

Dramatisches.

Es donnern die Höhen, es zittert der Steg, Nicht grauet dem Schützen auf schwindlichtem Weg; Er schreitet verwegen auf Feldern von Eis; Da pranget kein Frühling, da grünet kein Neis.

Und unter den Füßen ein neblichtes Meer, Erkennt er die Städte der Menschen nicht mehr; Durch den Riß nur der Wolken erblickt er die Welt, Tief unter den Wassern das grünende Feld. Xuobi (der Fischer). Mach' hurtig, Jenni! Zieh' die Naue ein! Der graue Thalvogt kommt, dumpf brüllt der Firn, Der Mythenstein zieht seine Haube an, Und kalt her bläst es aus dem Wetterloch: Der Sturm, ich mein', wird da sein, eh' wir's denken.

Rnoni (der Hirt), 's kommt Regen, Fährmann; meine Schafe fressen Mit Begierde Gras, und Wächter scharrt die Erde. Wcrnt (der 5m]ei-). Die Fische springen, und das Wasserhuhn Laucht unter. Ein Gewitter ist im Anzug. Xuoni (jum Puben). Lug', Seppi, ob das Vieh sich nicht verlaufen. Seppi. Die braune Liesel kenn' ich am Geläut. Ruoni. So fehlt uns keine mehr, die geht am weitsten. Xuobi. Ihr habt ein schön Geläute, Meister Hirt. Werni. Und schmuckes Vieh; ist's Euer eignes, Landsmann? Ruoni. Bin nit so reich; 's ist meines gnäd'gen Herrn, Des Attinghäusers, und mir zugezählt. Xuobi. Wie schön der Kuh das Band zu Halse steht! Ruoni.

Das weiß sie auch, daß sie den Reihen führt,

Und, nähm' ich ihr's, sie hörte auf zu fressen. Xuobi. Ihr seid nicht klug. Ein unvernünft'ges Vieh —

werni.

Ist bald gesagt.

Das Tier hat auch Vernunft,

Das wissen wir, die wir die Gemsen jagen;

Die stellen klug, wo sie zur Weide gehn, 'ne Vorhut aus, die spitzt das Ohr und warnet Mit Heller Pfeife, wenn der Jäger naht. Xuobi (zum Hirten).

werni.

Treibt Ihr jetzt heim? Ruoni. Die Alp ist abgeweidet.

Glücksel'ge Heimkehr, Senn'! Ruoni.

Die wünsch' ich Euch;

Von Eurer Fahrt kehrt sich's nicht immer wieder.

3. zronvogr.

Aus Schillers Wilhelm seii.

Der Bau der Feste.

Nicht lang' gefeiert, frisch! Die Mauersteine

Herbei! den Kalk, den Mörtel zugefahren, Wenn der Herr Landvogt kommt, daß er das Werk

475

VHL Dramatisches. Gewachsen sieht! — Das schlendert wie die Schnecken! (Zu zwei Handlangern, welche tragen.)

Gleich das Doppelte! Wie die Tagdiebe ihre Pflicht bestehlen! Erster Gesell. Das ist doch hart, daß wir die Steine selbst Heißt das geladen?

Zu unserm Twing und Kerker sollen fahren! Fronvogt. Was murret Ihr? — Das ist ein schlechtes Bolk,

Zu nichts anstellig, als das Bieh zu melken Und faul herumzuschlendern auf den Bergen. Alter Mann.

Ich kann nicht mehr Fronvogt. Frisch, Mer, an die Arbeit!

Erster Gesell.

Habt Ihr denn gar kein Eingeweid', daß Ihr

Den Greis, der kaum sich selber schleppen kann, Zum harten Frondienst treibt? Meister Steinmetz und Gesellen, 's ist himmelschreiend! Fronvogt. Sorgt Ihr für Euch; ich thu', was meines Amts. Zweiter Gesell. Fronvogt, wie wird die Feste denn sich nennen, Die wir da baun? Fronvogt. Zwing Uri soll sie heißen; Denn unter dieses Joch wird man euch beugen. Gesellen. Zwing Uri! (eie la^en.) Fronvogt. Nun, was giebt's dabei zu lachen? Zweiter Gesell. Mit diesem Häuslein wollt ihr Uri zwingen?

Erster Gesell.

Laß sehn, wie viel man solcher Maulwurfshaufen

Muß über 'nander setzen, bis ein Berg Draus wird wie der geringste nur in Uri! (Fronvogt geht nach dem Hintergrund.)

Meister Steinmetz.

Den Hammer werf' ich in den tiefsten See,

Der mir gedient bei diesem Fluchgebäude! Stauffacher.

O, hätt' ich nie gelebt, um das zu schauen!

Teil. Hier ist nicht gut sein. Laßt uns weiter gehn. Stauffacher. Bin ich zu Uri, in der Freiheit Land? Meister Steinmetz.

O Herr, wenn Ihr die Keller erst gesehn

Unter den Türmen! Ja, wer die bewohnt, Der wird den Hahn nicht fürder krähen hören. Stauffacher. O Gott! Steinmetz. Seht diese Flanken, diese Strebepfeiler,

Die stehn, wie für die Ewigkeit gebaut! Tell.

Was Hände bauten, können Hände stürzen.

(nach den Bergen zeigend.)

Das Haus der Freiheit hat uns Gott gegründet. (Man hört eine Trommel; es kommen Leute, die einen Hut aus einer L lange trageu, ein Ausrufer folgt ihnen, Weiber und Kinder dringen tumultuarisch nach.)

Erster Gesell.

Was will die Trommel? Gebet acht!

Meister Steinmetz. Ein Fastnachtsaufzug, und was soll der Hut?

Was für

476

VIII.

Ausrufer.

Dramatisches.

In des Kaisers Namen! höret!

Gesellen. Still doch! Ausrufer. Ihr sehet diesen Hut, Männer von Uri! Ausrichten wird man ihn auf hoher Säule Mitten in Altors an dem höchsten Ort.

höret!

Und dieses ist des Landvogts und Meinung: Dem Hut soll gleiche Ehre wie ihm selbst geschehn. Man soll ihn mit gebognem Knie und mit

Entblößtem Haupt verehren. Daran will Der König die Gehorsamen erkennen. Verfallen ist mit seinem Leib und Gut Dem Könige, wer das Gebot verachtet. Volk hubt Luit auf, die Trommel wird geriiyil, sie tjel;en vorüber.)

Erster Gesell. Welch neues Unerhörtes hat der Bogt Sich ausgesonnen! Wir 'nen Hut verehren! Sagt! Hat man je vernommen von dergleichen?

Meister Steinmey. Wir unsre Kniee beugen einem Hut? Treibt er sein Spiel mit ernsthaft würd'gen Leuten? Erster Gesell. Wär's noch die kaiserliche Kron'! So ist's Der Hut von Österreich; ich sah ihn hangen Über dem Thron, wo man die Lehen giebt! Meister Steinmetz. Der Hut von Österreich! Gebt acht, es ist Ein Fallstrick, uns an Östreich zu verraten!

Gesellen.

Kein Ehrenmann wird sich der Schmach bequemen.

Meister Steinmetz. Was giebt's? Erster Gesell. Der Schieferdecker ist vom Dach gestürzt. Bertha von Bruneck. Ist er zerschmettert? Rennet, reitet, helft! Wenn Hülfe möglich, rettet; hier ist Gold!

Meister. Mit eurem Golde! Alles ist euch feil Um Gold: wenn ihr den Vater von den Kindern Gerissen und den Mann von seinem Weibe Und Jammer habt gebracht über die Welt, Denkt ihr's, mit Golde zu vergüten. Geht!

Wir waren frohe Menschen, eh' ihr kamt; Mit euch ist die Verzweiflung eingezogen Bertha

(zu dem Frohnvogt, der zurückkommt).

(Fronvogt giebt ein Zeichen des Gegenteils.)

Lebt er?

O UNglÜckfel'gks Schloß, ttllt Flüchen

Erbaut, und Flüche werden dich bewohnen!

4. Walther.

Aus Schillers Wilhelm Teu.

Tell in seiner Familie.

Mit dem Pfeil, dem Bogen

Wie im Reich der Lüfte

Kommt der Schütz gezogen

König ist der Weih — Durch Gebirg und Klüfte

Früh beim Morgenstrahl.

Herrscht der Schütze frei.

Durch Gebirg und Thal

VIII.

Dramatisches.

Ihm gehört das Weite; Was sein Pfeil erreicht, Der Strang ist mir entzwei.

Tell.

Ich nicht.

Das ist seine Beute, Was da kreucht und fleucht. Mach' mir ihn, Vater.

Ein rechter Schütze hilft sich selbst. (Knaben entfernen sich.)

Hedwig.

Die Knaben fangen zeitig an zu schießen.

Teil. Früh übt sich, was ein Meister werden will. Hedwig. Ach, wollte Gott, sie lernten's nie! Teil. Sie sollen alles lernen. Wer durchs Leben Sich frisch will schlagen, muß zu Schutz und Trutz

Gerüstet sein. Hedwig. Ach, es wird keiner seine Ruh'

Zu Hause finden. Teil. Mutter, ich kann's auch nicht. Zum Hirten hat Natur mich nicht gebildet; Rastlos muß ich ein flüchtig Ziel verfolgen. Dann erst genieß' ich meines Lebens recht, Wenn ich mir's jeden Tag aufs neu erbeute. Hedwig. Und an die Angst der Hausfrau denkst du nid)', Die sich indessen, deiner wartend, härmt; Denn mich erfüllt's mit Grausen, was die Knechte Von euren Wagefahrten sich erzählen.

Bei jedem Abschied zittert mir das Herz, Daß du mir nimmer werdest wiederkehren. 3d) sehe dich im wilden Eisgebirg

Verirrt, von einer Klippe zu der andern Den Fehlsprung thun, seh', wie die Gemse did) Rückspringend mit fick) in den Abgrund reißt,

Wie eine Windlawine dich verschüttet,

Wie unter dir der trügerische Firn Einbricht und du hinabsinkst, ein lebendig Begrabner, in die schauerliche Gruft. Ach, den verwegnen Alpenjäger hascht Der Tod in hundert wechselnden Gestalten!

Das ist ein unglückseliges Gewerb', Das halsgefährlich führt am Abgrund hin! Teil. Wer frisch umherspäht mit gesunden Sinnen, Auf Gott vertraut und die gelenke Kraft,

Der ringt sich leicht aus jeder Fahr und Not;

Den schreckt der Berg nicht, der darauf geboren. Jetzt, mein ich, hält das Thor auf Jahr und Tag. Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.

Hedwig.

Wo gehst du hin? Teil.

Nack) Altorf zu dem Vater.

477

VIII.

478 Hedwig. Dell.

Dramatisches.

Sinnst du auch nichts Gefährliches?

Gesteh mir's!

Wie kommst du darauf, Frau?

Hedwig. Es spinnt sich etwas Gegen die Vögte; auf dem Rütli ward Getagt, ich weiß, und du bist auch im Bunde.

Dell. Ich war nicht mit dabei; doch werd' ich mich Dem Lande nicht entziehen, wenn es ruft. Hedwig. Sie werden dich hinstellen, wo Gefahr ist; Das Schwerste wird dein Anteil sein wie immer. Dell. Ein jeder wird besteuert nach Vermögen. Hedwig. Den Unterwaldner hast du auch im Sturme Über den See geschafft. Ein Wunder war's, Daß ihr entkommen. Dachtest du denn gar nicht An Weib und Kind? Dell. Lieb Weib, ich dacht' an euch;

Drum rettet' ich den Vater seinen Kindern. Hedwig. Zu schiffen in dem wüt'gen See! Das heißt Nicht Gott vertrauen! das beißt Gott versuchen! Dell. Wer gar zu viel bedenkt, wird wenig leisten. Hedwig. Ja, du bist gut und hilfreich, dienest allen, Und wenn du selbst in Not kommst, hilft dir keiner. Dell. Verhüt' es Gott, daß ich nicht Hülfe brauche!

Hedwig. Was willst du mit der Armbrust? Laß sie hier! Dell. Mir fehlt der Arm, wenn mir die Waffe fehlt. (Die Knaben kommen zurück.)

Walther.

Vater, wo gehst du hin? Dell.

Zum Ehni; willst du mit? Walther. Hedwig.

Dell.

Nach Altorf, Knabe,

Ja freilich will ich.

Der Landvogt ist jetzt dort; bleib' weg von Altorf.

Er geht noch heute.

Hedwig. Drum laß ihn erst fort sein. Gemahn' ihn nicht an dich; du weißt, er grollt uns. Dell. Mir soll sein böser Wille nicht viel schaden. Ich thue recht und scheue keinen Feind.

Hedwig.

Die recht thun, eben die haßt er am meisten.

Dell. Weil er nicht an sie kommen kann. Mich wird Der Ritter wohl in Frieden lassen, mein' ich.

So, weißt du das? Dell. Es ist nicht lange her, Da ging ich jagen durch die wilden Gründe Hedwig.

Des Schächenthals auf menschenleerer Spur,

Und da ich einsam einen Felsensteig Verfolgte, wo nicht anszuweichen war,

VIII.

479

Dramatisches.

Denn über mir hing schroff die Felswand her, Und unten rauschte fürchterlich der Schachen,' Da kam der Landvogt gegen mich daher, Er ganz allein mit mir, der auch allein war,

Bloß Mensch zu Mensch, und neben uns der Abgrund. Und als der Herre mein ansichtig ward

Und mich erkannte, den er kurz zuvor Um kleiner Ursach willen schwer gebüßt.

Und sah mich mit dem stattlichen Gewehr Dahergeschritten kommen, da verblaßt' er, Die Knie' versagten ihm, ich sah es kommen, Daß er jetzt an die Felswand würde sinken. Da jammerte mich sein, ich trat zu ihm Bescheidentlich und sprach: Ich bin's, Herr Landvogt. Er aber konnte keinen armen Laut Aus seinem Munde geben. Mit der Hand nur Winkt' er mir schweigend, meines Wegs zu gehn; Da ging ich fort und sandt' ihm sein Gefolge. Hedwig. Er hat vor dir gezittert, wehe dir! Daß du ihn schwach gesehn, vergiebt er nie.

Teil.

Drum meid' ich ihn, und er wird mich nicht suchen.

Hedwig. Bleib' heute nur dort weg! Geh lieber jagen! teil. Was fällt dir ein! Hedwig. Mich ängstigt's. Bleibe weg! Teil. Wie kannst du dich so ohne Ursach quälen? Hedwig. Weil's keine Ursach hat, Tell, bleibe hier. Teil. Ich hab's versprochen, liebes Weib, zu kommen. Hedwig. Mußt du, so geh; nur lasse mir den Knaben! Walther. Nein, Mütterchen; ich gehe mit dem Vater.

Hedwig.

Wälty, verlassen willst du deine Mutter?

Ich bring' dir auch was Hübsches mit vom Ehni. Mutter, ich bleibe bei dir!

Walther.

Wilhelm.

Hedwig. Ja, du bist Mein liebes Kind, du bleibst mir noch allein.

3. Frießhardt.

Aus s^iiierü MMm zed.

Der Schuß nach dem Apfel.

Wir passen auf umsonst.

Es will sich niemand

Heranbegeben und dem Hut sein' Reverenz

Erzeigen,

's war doch sonst wie Jahrmarkt hier;

Jetzt ist der ganze Anger wie verödet,

Seitdem der Popanz auf der Stange hängt. Leuthold. Nur schlecht Gesindel läßt sich sehn und schwingt Uns zum Verdrieße die zerlumpten Mützen. Was rechte Leute sind, die machen lieber

VIII.

480

Dramatisches.

Den langen Umweg um den halben Flecken, Eh' sie den Rücken beugten vor dem Hut. Frießhardt. Sie müssen über diesen Platz, wenn sie

Vom Rathaus kommen um die Mittagsstunde; Da meint' ich schon, 'nen guten Fang zu thun, Denn keiner dachte dran, den Hut zu grüßen. Da sieht's der Pfaff, der Rösselmann — kam just Von einem Kranken her — und stellt sich hin Mit dem Hochwürdigen grad' vor die Stange; Der Sigrist mußte mit dem Glöcklein schellen: Da fielen all' aufs Knie, ich selber mit, Und grüßten die Monstranz, doch nicht den Hut. Leuthold. Höre, Gesell, es fängt mir an zu däuchten, Wir stehen hier am Pranger vor dem Hut; 's ist doch ein Schimpf für einen Reitersmann, Schildwach zu stehn vor einem leeren Hut, Und jeder rechte Kerl muß uns verachten.

Die Reverenz zu machen einem Hut, Es ist doch, traun, ein närrischer Befehl! Frießhardt. Warum nicht einem leeren, hohlen Hut?

Bückst du dich doch vor manchem hohlen Schädel. Leuthold. Und du bist auch so ein dienstfert'ger Schurke Und brächtest wackre Leute gern ins Unglück.

Mag, wer da will, am Hut vorübergehn, Ich drück' die Augen zu und seh' nicht hin. Mechthild. Da hängt der Landvogt! Habt Respekt, ihr Buben!

Elsbeth. Woüt's Gott, er ging' und ließ' uns seinen Hut; Es sollte drum nicht schlechter stehn ums Land! Frießhardt. Wollt ihr vom Platz! Verwünschtes Volk der Weiber! Wer fragt nach euch! Schickt eure Männer her, Wenn sie der Mut sticht, dem Befehl zu trotzen. (Weiber

gehen.)

(Teil mit der Armbrust tritt auf, den Knaben an der Hand führend; sie gehen an dem Hut vorbee gegen die vordere Scene, ohne darauf zu achten.)

Walther.

Vater, ist's wahr, daß auf den Bergen dort

Die Bäume bluten, wenn man einen Streich Drauf führte mit der Axt? Teil. Walther.

Wer sagt das, Knabe?

Der Meister Hirt erzählt's.

Die Bäume seien

Gebannt, sagt er, und wer sie schädige, Dem wachse seine Hand heraus zum Grabe. Tell. Die Bäume sind gebannt, das ist die Wahrheit. Siehst du die Firnen dort, die weißen Hörner, Die hoch bis in den Himmel sich verlieren? Walther. Das sind die Gletscher, die des Nachts so donnern

Und uns die Schlaglawinen niedersenden.

VIII.

Dramatisches.

Teil. So ist's, und die Lawinen hätten längst Den Flecken Altorf unter ihrer Last Verschüttet, wenn der Wald dort oben nicht Als eine Landwehr sich dagegenstellte. Walther. Giebt's Länder, Vater, wo nicht Berge sind? Teil. Wenn man hinuntersteigt von unsern Höhen Und immer tiefer steigt den Strömen nach, Gelangt man in ein großes, ebnes Land, Wo die Waldwasser nicht mehr brausend schäumen, Die Flüsse ruhig und gemächlich ziehn; Da sieht man frei nach allen Himmelsräumen, Das Korn wächst dort in laugen, schönen Auen, Und wie ein Garten ist das Land zu schauen. Walther. Ei Vater, warum steigen wir denn nicht Geschwind hinab in dieses schöne Land, Statt daß wir hier uns ängstigen und plagen? Teil. Das Land ist schön und gütig wie der Himmel; Doch, die's bebauen, sie genießen nicht Den Segen, den sie pflanzen. Walther. Wohnen sie Nicht frei wie du auf ihrem eignen Erbe? Teil. Das Feld gehört dem Bischof und dem König. Walther. So dürfen sie doch frei in Wäldern jagen? Teil. Dem Herrn gehört das Wild und das Gefieder. Walther. Sie dürfen doch frei fischen in dem Strom? Teil. Der Strom, das Meer, das Salz gehört dem König. Walther.

Wer ist der König denn, den alle fürchten?

Teil. Es ist der eine, der sie schützt und nährt. Walther. Sie können sich nicht mutig selbst beschützen? Dell. Dort darf der Nachbar nicht dem Nachbar trauen. Walther. Vater, es wird mir eng im weiten Land; Da wohn' ich lieber unter den Lawinen. Teil. Ja wohl ist's besser, Kind, die Gletscherberge Im Rücken haben als die bösen Menschen. Walther. Ei, Vater, sieh den Hut dort auf der Stange. Teil. Was kümmert uns der Hut! Komm, laß uns gehen. Frießhardt. In des Kaisers Namen! Haltet an und steht! TeU. Was wollt Ihr? Warum haltet Ihr mich auf? Frießhardt. Ihr habl's Mandat verletzt; Ihr müßt uns folgen. Leuthold. TeU

Ihr habt dem Hut nicht Reverenz bewiesen.

Freund, laß mich gehen. Frießhardt. Fort, fort ins Gefängnis!

Walther.

Den Vater ins Gefängnis! Hülfe! Hülfe!

Herbei, ihr Männer, gute Leute, helft! Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Lesebuch.

5. Aufl.

481

482

VIII

Dramatisches.

Gewalt! Gewalt! Sie führen ihn gefangen (Rösselmann, der Pfarrer, und Petermann, der Sigrist, kommen herbei mit drei andern Männern.)

Was giebt's? Röffelmann. Was legst du Hand an diesen Mann? Frießhardt. Er ist ein Feind des Kaisers, ein Verräter! Tell. Ein Verräter, ich! Sigrist.

Röffelmann. Du irrst dich, Freund. Das ist Der Tell, ein Ehrenmann und guter Bürger. Walther. Großvater, hilf! Gewalt geschieht dem Vater. Frießhardt. Ins Gefängnis, fort! Walther Surft (herbeieilend). Ich leiste Bürgschaft, haltet! Um Gottes willen, Tell, was ist geschehen? (Melchthal und Stauffacher kommen.)

Frießhardt. Des Landvogts oberherrliche Gewalt Verachtet er und will sie nicht erkennen. Stauffacher. Das hätt' der Tell gethan? Melchthal. Das lügst du, Bube! Leuthold. Er hat dem Hut nicht Reverenz bewiesen. Walther Fürst. Und darum soll er ins Gefängnis? Freund, Nimm meine Bürgschaft an und laß ihn ledig. Frießhardt. Bürg' du für dich und deinen eignen Leib! Wir thun, was unsers Amtes. Fort mit ihm! Melchthal. Nein, das ist schreiende Gewalt! Ertragen wir's, Daß man ihn fortführt frech, vor unsern Augen? Sigrist. Wir sind die Stärkern. Freunde, duldet's nicht!

Wir haben einen Rücken an den andern. Frießhardt. Wer widersetzt sich dem Befehl des Vogts? Noch drei Landleute (herbeieilend). Wir helfen euch. Was giebt's? Schlagt sie Tell.

zu Boden! Ich helfe mir schon selbst. Geht, gute Leute!

Meint ihr, wenn ich die Kraft gebrauchen wollte, Ich würde mich vor ihren Spießen fürchten? Melchthal (zu Frießhardt). Wag's, ihn aus unsrer Mitte wegzuführen!

Walther Fürst und Stauffacher. Gelassen! ruhig! Frießhardt. Aufruhr und Empörung! (Man hört Jagdhörner.)

Weiber.

Da kommt der Landvogt! Frießhardt. Meuterei! Empörung! Stauffacher. Schrei', bis du berstest, Schurke! Röffelmann und Melchthal. Willst du schweigen?

Frießhardt. Zu Hüls', zu Hüls' den Dienern des Gesetzes! Walther Fürst. Da ist der Vogt! Weh uns, was wird das werden! Gehler zu Pferd, Rudolf der Harras, Bertha und Rudenz, ein großes Gefolge von bewaffneten Knechten.

Rudolf der Harras.

Platz, Platz dem Landvogt!

VIIL

Dramatisches.

Geßler. Treibt sie auseinander! Was läuft das Volk zusammen? Wer ruft Hülfe? Wer war's? Ich will es wissen. (zu Frießhardt) Du, tritt Vor! Wer bist du, und was hältst du diesen Mann? Frießhardt. Gestrenger Herr, ich bin dein Waffenknecht Und wohlbestellter Wächter bei dem Hut. Den Mann ergriff ich über frischer That, Wie er dem Hut den Ehrengruß versagte. Verhaften wollt' ich ihn, wie du befahlst, Und mit Gewalt will ihn das Volk entreißen. Geßler. Verachtest du so deinen Kaiser, Tell, Und mich, der hier an seiner Statt gebietet, Daß du die Ehr' versagst dem Hut, den ich Zur Prüfung des Gehorsams aufgehangen? Dein böses Trachten hast du mir verraten. Teil Verzeiht mir, lieber Herr! Aus Unbedacht, Nicht aus Verachtung Euer ist's geschehn. Wär' ich besonnen, hieß' ich nicht der Tell, Ich bitt' um Gnad', es soll nicht mehr begegnen. Geßler. Du bist ein Meister auf der Armbrust, Tell; Man sagt, du nehmst es auf mit jedem Schützen. Walther. Und das muß wahr sein, Herr, 'nen Apfel schießt Der Vater dir vom Baum auf hundert Schritte. Geßler. Ist das dein Knabe, Tell? Tell. Ja, lieber Herr. Geßler. Hast du der Kinder mehr? Tell. Zwei Knaben, Herr. Geßler. Und welcher ist's, den du am meisten liebst? €dl. Herr, beide sind sie mir gleich liebe Kinder. Geßler. Nun, Tell; weil du den Apfel triffst vom Baume Auf hundert Schritt, so wirst du deine Kunst Vor mir bewähren müssen. Nimm die Armbrust — Du hast sie gleich zur Hand — und mach' dich fertig,

Den Apfel von des Knaben Kopf zu schießen; Doch will ich raten, ziele gut, daß du Den Apfel treffest auf den ersten Schuß; Denn fehlst du ihn, so ist dein Kopf verloren.

Tell. Herr, welches Ungeheure sinnet Ihr Mir an? Ich soll vom Haupte meines Kindes — Nein, nein doch, lieber Herr, das kommt Euch nicht Zu Sinn. Verhüt's der gnäd'ge Gott! Das könnt Ihr Im Ernst von einem Vater nicht begehren! Geßler. Du wirst den Apfel schießen von dem Kopf

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484

VIII.

Dramatisch es.

Des Knaben, ich begehr's und will's. Lell. Ich soll Mit meiner Armbrust auf das liebe Haupt Des eignen Kindes zielen? Eher sterb' ich! Geßler. Du schießest oder stirbst mit deinem Knaben. Teil. Ich soll der Mörder werden meines Kind's!

Herr, Ihr habt keine Kinder, wisset nicht, Was sich bewegt in eines Vaters Herzen. Geßler. Ei, Dell, du bist ja plötzlich so besonnen! Man sagte mir, daß du ein Träumer seist Und dich entfernst von andrer Menschen Weise. Du liebst das Seltsame; drum hab' ich jetzt Ein eigen Wagstück für dich ausgesucht. Ein andrer wohl bedächte sich; du drückst Die Augen zu und greifst es herzhaft an. Man mache Raum! Er nehme seine Weite, Wie's Brauch ist; achtzig Schritte geb' ich ihm, Nicht weniger, noch mehr. Er rühmte sich, Auf ihrer hundert seinen Mann zu treffen. Jetzt, Schütze, triff, und fehle nicht das Ziel! Öffnet die Gasse! Frisch, was zauderst du? Dein Leben ist verwirkt, ich kann dich töten; Und, sieh, ich lege gnädig dein Geschick In deine eigne, kunstgeübte Hand. Der kann nicht klagen über harten Spruch, Den man zum Meister seines Schicksals macht. Du rühmst dich deines sichern Blicks. Wohlan! Hier gilt es, Schütze, deine Kunst zu zeigen; Das Ziel ist würdig, und der Preis ist groß!

Das Schwarze treffen in der Scheibe, das Kann auch ein andrer; der ist mir der Meister, Der seiner Kunst gewiß ist überall, Dem's Herz nicht in die Hand tritt, noch ins Auge. Walther Fürst. Herr Landvogt, wir erkennen Eure Hoheit;

Doch lasset Gnad' für Recht ergehen, nehmt Die Hälfte meiner Habe, nehmt sie ganz! Nur dieses Gräßliche erlasset einem Vater!

Walther Lell. Großvater, knie' nicht vor dem falschen Mann! Sagt, wo ich hinstehn soll. Ich fürcht' mich nicht. Der Vater trifft den Vogel ja im Flug, Er wird nicht fehlen auf das Herz des Kindes. Stauffacher. Herr Landvogt, rührt Euch nicht des Kindes Unschuld? Rösselmann. O denket, daß ein Gott im Himmel ist, Dem Ihr müßt Rede stehn für Eure Thaten.

VIII.

Gehler

(zeigt auf den Knaben).

485

Dramatisches.

Man bind' ihn an die Linde dort! Walther Lell.

Mich binden?

Nein, ich will nicht gebunden sein. Ich will Stiühalten wie ein Lamm und auch nicht atmen. Wenn ihr mich bindet, nein, so kann ich's nicht,

So werd' ich toben gegen meine Bande. Rudolf der Harras. Die Augen nur laß dir verbinden, Knabe! Walther Tell. Warum die Augen? Denket Ihr, ich fürchte Den Pfeil von Vaters Hand? Ich will ihn fest

Erwarten und nicht zucken mit den Wimpern. Frisch, Vater, zeig's, daß du ein Schütze bist! Er glaubt dir's nicht, er denkt, uns zu verderben.

Dem Wüt'rich zum Verdrusse schieß und triff! (Er geht an die Linde, man legt ihm den Apfel auf.)

Melchthal (ZU den Landleuten). Was? Sell der Frevel sich vor unsern Augen Vollenden? Wozu haben wir geschworen? Stauffacher. Es ist umsonst, wir haben keine Waffen; Ihr seht den Wald von Lanzen um uns her. Melchthal. O hätten wir's mit frischer That vollendet! Verzeih's Gott denen, die zum Aufschub rieten! Gehler. Ans Werk! Man führt die Waffen nicht vergebens. Gefährlich ist's, ein Mordgewehr zu tragen, Und auf den Schützen springt der Pfeil zurück. Dies stolze Recht, das sich der Bauer nimmt, Beleidiget den höchsten Herrn des Landes. Gewaffnet sei niemand, als wer gebietet. Freut's Euch, den Pfeil zu führen und den Bogen, Wohl, so will ich das Ziel Euch dazu geben. Lell (spannt die Armbrust und legt den Pfeil auf). Öffnet die Gaffe! Platz!

Stauffacher. Was, Tell? Ihr wolltet — Nimmermehr! Ihr zittert, Die Hand erbebt Euch, Eure Kniee wanken. Teil (läßt die Armbrust sinken). Mir schwimmt es vor den Augen!

Weiber. Tell. Erlasset mir den Schuß. Hier ist mein Herz! Ruft Eure Reisigen und stoßt mich nieder! Gehler. Ich will dein Leben nicht, ich will den Schuß. Du kannst ja alles, Tell! An nichts verzagst du;

Gott im Himmel!

Das Steuerruder führst du wie den Bogen; Dich schreckt kein Sturm, wenn es zu retten gilt. Jetzt, Retter, hilf dir selbst; du rettest alle! (Tell steht in fürchterlichem Kampf, mit den Händen zuckend und die rollenden Augen bald auf den Landvogt, bald zum Himmel gerichtet. Plötzlich greift er in seinen Köcher, nimmt einen zweiten Pfeil heraus und steckt ihn in seinen Koller. Der Landvogt bemerkt alle diese Bewegungen.)

Walther Tell.

Vater, schieß zu!

Ich fürcht' mich nicht. Tell. Es muß!

(Er legt an.)

486 Rüden,.

VIII.

Dramatisches.

Herr Landvogt, weiter werdet Jhr's nicht treiben,

Ihr werdet nicht. Es war nur eine Prüfung; Den Zweck habt Ihr erreicht. Zu weit getrieben Verfehlt die Strenge ihres weisen Zwecks, Und allzustraff gespannt, zerspringt der Bogen. Geßler. Ihr schweigt, bis man Euch aufruft. Rudenz. Ich will reden! Ich dars's! Des Königs Ehre ist mir heilig!

Doch solches Regiment muß Haß erwerben. Das ist des Königs Wille nicht, ich darf's Behaupten. Solche Grausamkeit verdient Mein Volk nicht; dazu habt Ihr keine Vollmacht. Geßler. Ha, Ihr erkühnt Euch! Rüden,. Ich hab' stillgeschwiegen Zu allen schweren Thaten, die ich sah; Mein sehend Auge hab' ich zugeschlossen, Mein überschwellend und empörtes Herz Hab' ich hinabgedrückt in meinen Busen; Doch länger schweigen wär' Verrat zugleich An meinem Vaterland und an dem Kaiser. Mein Volk verließ ich, meinen Blutsverwandten Entsagt' ich, alle Bande der Natur Zerriß ich, um an Euch mich anzuschließen; Das Beste aller glaubt' ick zu befördern, Da ich des Kaisers Macht befestigte. Die Binde fällt von meinen Augen. Schaudernd Seh' ich an einen Abgrund mich geführt. Mein freies Urteil habt Ihr irr' geleitet, Mein redlich Herz verführt. Ich war daran, Mein Volk in bester Meinung zu verderben. Geßler. Verwegner, diese Sprache deinem Herrn? Rüden,. Der Kaiser ist mein Herr, nicht Ihr. Frei bin ich Wie Ihr geboren, und ich messe mich Mit Euch in jeder ritterlichen Tugend; Und ständet Ihr nicht hier in Kaisers Namen, Den ich verehre, selbst wo man ihn. schändet, Den Handschuh würf' ich vor Euch hin, Ihr solltet Nach ritterlichem Brauch mir Antwort geben. Ja, winkt nur Euren Reisigen. Ich stehe Nicht wehrlos da wie die — (auf das Volk zeigend.)

Ich hab' ein Schwert, Und, wer mir naht — Stauffacher. Der Apfel ist gefallen! Röffelmann. Der Knabe lebt!

VIII.

Geßler. Bertha.

Dramatisches.

Viele Stimmen. Der Apfel ist getroffen! Er hat geschossen? Wie? Der Rasende! Der Knabe lebt! Kommt zu Euch, guter Vater!

Walther Tell. Vater, hier ist der Apfel. Du würdest deinen Knaben nicht verletzen.

Bertha.

487

SBußf ich's ja,

O güt'ger Himmel! Walther Fürst. Kinder! meine Kinder!

Gott sei gelobt! Leuthold. Das war ein Schuß! Wird man noch reden in den spätsten Zeiten. Stauffacher.

Davon

Rudolf der Harras. Erzählen wird man von dem Schützen Dell, So lang die Berge stehn auf ihrem Grunde. Geßler. Bei Gott, der Apfel mittendurch geschossen! Es war ein Meisterschuß, ich muß ihn loben. Röffelmann. Der Schuß war gut; doch wehe dem, der ihn Dazu getrieben, daß er Gott versuchte. Stauffacher. Kommt zu Euch, Tell, steht auf; Ihr habt Euch männlich Gelöst, und frei könnt Ihr nach Hause gehen. Rösselmann. Kommt, kommt und bringt der Mutter ihren Sohn. Geßler. Tell, höre! Tell. Was befehlt Ihr, Herr? Geßler. Du stecktest Noch einen zweiten Pfeil zu dir. Ja, ja, Ich sah es wohl. Was meintest du damit? Tell. Herr, das ist also bräuchlich bei den Schützen. Geßler. Nein, Tell, die Antwort lass' ich dir nicht gelten;

Es wird was andres wohl bedeutet haben. Sag' mir die Wahrheit frisch und fröhlich, Tell; Was es auch sei, dein Leben sichr' ich dir.

Wozu der zweite Pfeil? Tell. Wohlan, o Herr, Weil Ihr mich meines Lebens habt gesichert, So will ich Euch die Wahrheit gründlich sagen: Mit diesem Pfeil durchschoß ich Euch, Wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte, Und Euer, wahrlich, hätt' ich nicht gefehlt. Geßler. Wohl, Tell! Des Lebens hab' ich dich gesichert; Ich gab mein Ritterwort, das will ich halten. Doch weil ich deinen bösen Sinn erkannt, Will ich dich führen lassen und verwahren, Wo weder Mond, noch Sonne dich bescheint, Damit ich sicher sei vor deinen Pfeilen. Ergreift ihn, Knechte! Bindet ihn! Stauffacher. Wie, Herr?

(Tetl wird gebunden.)

VIII.

488

Dramatisches.

So könntet Ihr an einem Manne handeln, An dem sich Gottes Hand sichtbar verkündigt? Geßlcr. Laß sehn, ob sie ihn zweimal retten wird.

Man bring' ihn auf mein Schiff! Ich folge nach Sogleich, ich selbst will ihn nach Küßnacht führen. Stauffacher. O nun ist alles, alles hin! Mit Euch Sind wir gefesselt alle und gebunden! Landleute (umringen den Teil). Mit Euch geht unser letzter Trost dahin!

Leuthold.

Tell, es erbarmt mich.

Doch ich muß gehorchen.

Dell Lebt wohl! Walther Tell. O Vater! Vater! lieber Vater! Dell. Dort droben ist dein Vater! Den ruf' an! Stauffacher. Tell, sag' ich Eurem Weibe nichts von Euch? Dell. Der Knab' ist unverletzt; mir wird Gott helfen. Aus Schillers Wilhelm Tell.

6.

Kampfbegier.

Götz (vor der Thur unter der Linde). Wo meine Knechte bleiben! Auf und ab muß ich gehen, sonst übermannt mich der Schlaf. Fünf Tag' und Nächte schon auf der Lauer. Es wird einem sauer gemacht das bißchen Leben und Freiheit. Dafür, wenn ich dich habe, Weislingen, will ich mir's wohl sein lassen. Georg! Georg! Schickt ihr nur euren gefälligen Weislingen herum zu Vettern und Gevattern, laßt mich anschwärzen! Nur immer zu! Ich bin wach. Du warst mir entwischt, Bischof! So mag denn dein lieber Weislingen die Zeche bezahlen. — Georg! Hört'der Junge nicht? Georg! Georg!

Der Bube (int Panzer eines Erwachsenen). Gestrenger Herr? Götz Wo steckst du! Hast du geschlafen? Was, zum Henker! treibst du für Mummerei? Komm her! du siehst gut aus. Schäm' dich nicht, Junge. Du bist brav! Ja, wenn du ihn ausfülltest! Es ist Hansens Küraß? Georg. Er wollt' ein wenig schlafen und schnallt' ihn aus. Göy. Er ist bequemer als sein Herr. Georg. Zürnt nicht! Ich nahm ihn leise weg und legt' ihn an und holte meines Vaters altes Schwert von der Wand, lief auf die Wiese und zog's aus. Götz. Und hiebst um dich herum! Da wird's den Hecken und Dornen gut gegangen sein. Schläft Hans? Georg. Auf Euer Rufen sprang er auf und schrie mir, daß Ihr rieft. Ich wollt' den Harnisch ausschnallen, da hört' ich Euch zwei-, dreimal. Götz. Geh, bring' ihm seinen Panzer wieder und sag' ihm, er soll bereit

sein, soll nach den Pferden sehen. Georg. Die hab' ich recht ausgefüttert und wieder aufgezäumt. Ihr könnt aufsitzen, wann Ihr wollt. Götz. Bring' mir einen Krug Wein, gieb Hansen auch ein Glas, sag' ihm, er soll munter sein, es gilt. Ich hoffe jeden Augenblick, meine Kundschafter sollen

zurückkommen.

VIII.

Dramatisches.

489

Georg. Ach, gestrenger Herr! Götz. Was hast du? Georg. Darf ich nicht mit? Götz. Ein ander Mal, Georg, wann wir Kaufleute fangen und Fuhren

wegnehmen. Georg. Ein ander Mal, das habt Ihr schon oft gesagt. O diesmal! dies­ mal! Ich will nur hintendreinlaufen, nur auf der Seite lauern. Ich will Euch die verschossenen Bolzen wiederholen. Götz. Das nächste Mal, Georg. Du sollst erst ein Wams haben, eine Blechkaube und einen Spieß. Georg. Nehmt mich mit! Wär' ich letzt dabei gewesen, Ihr hättet die Arm­ brust nicht verloren. Götz. Weißt du das? Georg. Ihr warft sie dem Feind an den Kopf, und einer von den Fuß­ knechten hob sie auf; weg war sie! Gelt, ich weiß? Götz. Erzählen dir das meine Knechte? Georg. Wohl! Dafür pfeif' ich ihnen auch, wann wir die Pferde striegeln, allerlei Weisen und lehre ihnen allerlei lustige Lieder. Göy. Du bist ein braver Junge. Georg. Nehmt mich mit, daß ich's zeigen kann. Göy. Das nächste Mal, auf mein Wort. Unbewaffnet, wie du bist, sollst du nicht in den Streit. Die künftigen Zeiten brauchen auch Männer. Ich sage dir, Knabe, es wird eine Zeit werden: Fürsten werden ihre Schätze bieten um einen Mann, den sie jetzt hassen. Geh, Georg, gieb Hansen seinen Küraß wie­ der UNd bring Nlir Wein. AuZ Goethes Götz von Berlichingen.

7.

Des Helden Sohn.

Rarl. Ich bitte dich, liebe Tante, erzähl' mir das noch einmal vom from­ men Kind; 's ist gar zu schön.

Maria. Erzähl' du mir's, kleiner Schelm; da will ich hören, ob du ächt­ giebst. Rarl. Wart e biß, ich will mich bedenken. Es war einmal — ja — es war einmal ein Kind, und sein' Mutter war krank, da ging das Kind hin — Maria. Nicht doch. Da sagte die Mutter: Liebes Kind —

Rarl. Ich bin krank — Maria. Und kann nicht ausgehen — Rarl. Und gab ihm Geld und sagte: Geh hin und hol' dir ein Frühstück.

Da kam ein armer Mann — Maria. Das Kind ging; da begegnet' ihm ein alter Mann, der war — nun, Karl? Rarl. Der war alt — Maria. Freilich! der kaum mehr gehen konnte, und sagte: Liebes Kind —

VIII. Drama tisches.

490

Karl. Schenk' mir was! ich hab' kein Brot gessen gestern und heut. gab ihm 's Kind das Geld —

Da

Maria. Das für ein Frühstück sein sollte. Karl. Da sagte der alte Mann — Maria. Da nahm der alte Mann das Kind — Karl. Bei der Hand und sagte — und ward ein schöner, glänzender Hei­ liger und sagte: Liebes Kind — Mana. Für deine Wohlthätigkeit belohnt dich die Mutter Gottes durch mich: welchen Kranken du anrührst —

Karl. Mit der Hand — es war die rechte, glaub' ich — Maria. Ja. Karl. Der wird gleich gesund. Maria. Da lief das Kind nach Haus und konnt' vor Freuden nichts reden. Karl. Und fiel seiner Mutter um den Hals und weinte für Freuden — Maria. Da rief die Mutter: wie ist mir! und war — nun, Karl? Karl. Und war — und war — Maria. Du giebst schon nicht acht! und war gesund. Und das Kind ku­ rierte König und Kaiser und wurde so reich, daß es ein großes Kloster bauete. Elisabeth. Ich kann nicht begreifen, wo mein Herr bleibt. Schon fünf Tag' und Nächte, daß er weg ist, und er hoffte, so bald seinen Streich auszu­ führen. Maria. Mich ängstigt's lang. Wenn ich so einen Mann haben sollte, der sich immer Gefahren aussetzte, ich stürbe im ersten Jahr. Elisabeth. Dafür dank' ich Gott, daß er mich härter zusammengesetzt hat. Karl. Aber muß denn der Vater ausreiten, wenn's so gefährlich ist? Maria. Es ist sein guter Wille so. Elisabeth. Wohl muß er, lieber Karl.

Karl. Warum? Elisabeth. Weißt du noch, wie er das letzte Mal ausritt, da er dir Weck mitbrachte? Karl. Bringt er wieder mit? Elisabeth. Ich glaub' wohl. Siehst du, da war ein Schneider von Stutt­ gart, der war ein trefflicher Bogenschütz und hatte zu Köln aufm Schießen das Beste gewonnen. Karl. War's viel? Elisabeth. Hundert Thaler. Und danach wollten sie's ihm nicht geben. Maria. Gelt, das ist garstig, Karl? Karl. Garstige Leut'! Elisabeth. Da kam der Schneider zu deinem Vater und bat ihn, er möchte ihm zu seinem Gelde verhelfen. Und da ritt er aus und nahm den Kölnern ein paar Kaufleute weg und plagte sie so lang, bis sie das Geld Herausgaben. Wärst

du nicht auch ausgeritten? Karl. Nein! da muß man durch einen dicken, dicken Wald, sind Zigeuner und Hexen drin.

VIII.

491

Dramati sches.

Elisabeth. Ist ein rechter Bursch, fürchtet sich vor Hexen. Mana. Du thust bester, Karl; leb' du einmal auf deinem Schloß als ein frommer, christlicher Ritter. Auf seinen eigenen Gütern findet man zum Wohl­ thun Gelegenheit genug. Die rechtschaffensten Ritter begehen mehr Ungerechtig­

keit als Gerechtigkeit auf ihren Zügen. Rarl. Der Vater! Der Vater! Der Türmer bläst's Liedel: Heisa, mach's Thor auf! Elisabeth.

Da kommt er mit Beute. Ein Reiter kommt.

Reiter.

Wir haben gejagt! wir haben gefangen!

Gott grüß' euch, edle

Frauen. Elisabeth. Habt ihr den Weislingen? Reiter. Ihn und drei Reiter. Elisabeth. Wie ging's zu, daß ihr so lang' ausbleibt? Reiter. Wir lauerten auf ihn zwischen Nürnberg und Bamberg; er wollte nicht kommen, und wir wußten doch, er war auf dem Wege. Endlich kundschaf­ teten wir ihn aus, er war seitwärts gezogen und saß geruhig beim Grafen von

Schwarzenberg. Elisabeth. Den möchten sie auch gern meinem Mann feind haben. Reiter. Ich sagt's gleich dem Herrn. Auf! und wir ritten in den Haslacher Wald. Und da war's kurios: wie wir so in die Nacht reiten, hütet just ein Schäfer da, und fallen fünf Wölf' in die Herd' und packten weidlich an. Da

lachte unser Herr und sagte: Glück zu, liebe Gesellen! Glück überall und uns auch! Und es freuet' uns all' das gute Zeichen. Indem so kommt der Weislingen hergeritten mit vier Knechten. Maria. Das Herz zittert mir im Leibe. Reiter. Ich und mein Kamerad, wie's der Herr befohlen hatte, nistelten uns an ihn, als wären wir zusammengewachsen, daß er sich nicht regen, noch rühren konnte, und der Herr und der Hans fielen über die Knechte her und nahmen sie in Pflicht. Einer ist entwischt. Elisabeth. Ich bin neugierig, ihn zu sehen. Kommen sie bald? Reiter. Sie reiten das Thal herauf; in einer Viertelstund' sind sie hier.

Maria. Er wird niedergeschlagen sein. Reiter. Finster genug sieht er aus. Maria. Sein Anblick wird im Herzen weh thun. Elisabeth. Ach, ich will gleich das Essen zurecht machen. ihr doch alle sein.

Hungrig werdet

Reiter. Rechtschaffen. Elisabeth. Nimm den Kellerschlüffel und hol' vom besten Wein! Sie haben ihn verdient. (Ab.) Rarl. Ich will mit, Tante. Maria. Komm, Bursch. (Ab.) Reiter.

Der wird nicht sein Vater, sonst ging er mit in den Stall! AuS Goethes Götz von Berlichingen.

492

VIII.

8.

Dramatisches.

Götz unter den Seinen.

Götz. So bringt uns die Gefahr zusammen. Laßt's euch schmecken, meine Freunde! Vergeßt das Trinken nicht! Die Flasche ist leer. Noch eine, liebe Frau. ((Elisabeth zuckt die Achsel.) Ist feine mehr da? Elisabeth. Noch eine; ich hab' sie für dich beiseite gesetzt. Götz. Nicht doch, Liebe! Gieb sie heraus. Sie brauchen Stärkung, nicht ich; es ist ja meine Sache.

Elisabeth. Holt sie draußen im Schrank! Götz. Es ist die letzte. Und mir ist's, als ob wir nicht zu sparen Ursach batten. Ich bin lange nicht so vergnügt gewesen. (Schenkt em.) Es lebe der Kaiser! Alle. Er lebe! Götz. Das soll unser vorletztes Wort sein, wenn wir sterben! Ich lieb' ihn; denn wir haben einerlei Schicksal. Und ich bin noch glücklicher als er. Er muß den Neichsstäuden die Mäuse fangen, inzwischen die Natten seine Besitztümer annagen. Ich weiß, er wünscht sich manchmal lieber tot, als länger die Seele eines so krüppligen Körpers zu sein. (Schenkt ein.) Es geht just noch einmal herum. Und wenn unser Blut anfängt, auf die Neige zu gehen, wie der Wein in dieser Flasche erst schwach, dann tropfenweise rinnl, was soll unser letztes Wort sein? Georg. Es lebe die Freiheit! Götz. Es lebe die Freiheit! Alle. Es lebe die Freiheit! Götz. Und wenn die uns überlebt, können wir ruhig sterben; denn wir sehen im Geist unsere Enkel glücklich und die Kaiser unserer Enkel glücklich. Wenn die Diener den Fürsten so edel und frei dienen, wie ihr mir, wenn die Fürsten dem Kaiser dienen, wie ich ihm dienen möchte — Georg. Da müßt's viel anders werden. Götz. So viel nicht, als es scheinen möchte. Hab' ich nicht unter den Fürsten treffliche Menschen gekannt, und sollte das Geschlecht ausgestorben sein? Gute Menschen, die in sich und ihren Unterthanen glücklich waren, die einen edlen, freien Nachbar neben sich leiden konnten und ihn weder fürchteten, noch benei­ deten, denen das Herz aufging, wenn sie viel' ihresgleichen bei sich zu Tisch sahen und nicht erst die Ritter zu Hofschranzen umzuschaffen brauchten, um mit ihnen zu leben. Georg. Habt Ihr solche Herren gekannt? Götz. Wohl! Ich erinnere mich zeitlebens, wie der Landgraf von Hanau eine Jagd gab und die Fürsten und Herren, die zugegen waren, unter freiem Himmel speisten und das Landvolk all' herbeilief, sie zu sehen. Das war keine Maskerade, die er sich selbst zu Ehren augestellt hatte. Aber die vollen, runden Köpfe der Bursche und Mädel, die roten Backen alle und die wohlhädigen Männer und stattlichen Greise, und alles fröhliche Gesichter, und wie sie teilnahmen an der Herrlichkeit ihres Herrn, der auf Gottes Boden unter ihnen sich ergötzte! Georg. Das war ein Herr vollkommen wie Ihr.

VIII. Götz.

Dramatisches.

493

Sollten wir nicht hoffen, daß mehr solcher Fürsten auf einmal herr­

schen können? daß Verehrung des Kaisers, Fried' und Freundschaft der Nachbarn und Lieb' der Unterthanen der kostbarste Familienschatz sein wird, der auf Enkel und Urenkel erbt? Jeder würde das Seinige erhalten und in sich selbst vermehren, statt daß sie jetzo nicht zuzunehmen glauben, wenn sie nicht andere verderben.

Georg. Würden wir hernach auch reiten.? Götz. Wollte Gott, es gäbe keine unruhigen Köpfe in ganz Deutschland! Wir würden noch immer zu thun genug finden. Wir wollten die Gebirge von Wölfen säubern, wollten unserm ruhig ackernden Nachbar einen Braten aus dem Wald holen und dafür die Suppe mit ihm essen. Wär' uns das nicht genug, wir wollten uns mit unsern Brüdern wie Cherubim mit flammenden Schwertern vor die Grenzen des Reichs gegen die Wölfe, die Türken, gegen die Füchse, die Franzosen, lagern und zugleich unsers teuren Kaisers sehr ausgesetzte Länder und die Ruhe des Reichs beschützen. Das wäre ein Leben, Georg, wenn man seine

Haut für die allgemeine Glückseligkeit dransetzte! c^ecrn ümnat auf.) Wo willst du hin? Georg. Ach, ich vergaß, daß wir eingesperrt sind! Und der Kaiser hat uns eingesperrt! Und unsre Haut davonzubringen, setzen wir unsre Haut dran. Götz.

Sei gutes Muts!

9. Götz.

Aus Goethes Götz von Berlichin^n.

Götz vor dem Gerichte zu Heilbronn.

Gott grüß' euch, ihr Herren! Was wollt ihr mit mir?

Rat. Zuerst, daß Ihr bedenkt, wo Ihr seid und vor wem. Götz. Bei meinem Eid, ich verkenn' euch nicht, meine Herren. Rat. Ihr thut Eure Schuldigkeit. Götz. Von ganzem Herzen. Rat. Setzt Euch. Götz. Da unten hin? Ich kann stehn. Das Stühlchen riecht so nach armen Sündern, wie überhaupt die ganze Stube. Rat. Götz. Rat. Göy. Rat. Götz.

So steht! Zur Sache, wenn's gefällig ist. Wir werden in der Ordnung verfahren. Bin's wohl zufrieden; wollt', es wär' von jeher geschehen. Ihr wißt, wie Ihr auf Gnad' und Ungnad' in unsre Hände kamt. Was gebt Ihr mir, wenn ich's vergesse?

Rat.

Wenn ich Euch Bescheidenheit geben könnte, würd' ich Eure Sache gut

machen. Götz.

Gut machen! Wenn Ihr das könntet! Dazu gehört freilich mehr als

zum verderben.

Schreiber. Soll ich das alles protokollieren? Rat. Was zur Handlung gehört. Götz. Meinetwegen dürft Jhr's drucken lassen. Rat. Ihr wart in der Gewalt des Kaisers, dessen väterliche Gnade an den

494

VIII.

Dramatisches.

Platz der majestätischen Gerechtigkeit trat, Euch anstatt eines Kerkers Heilbronn, eine seiner geliebten Städte, zum Aufenthalt anwies. Ihr verspracht mit einem Eid, Euch, wie es einem Ritter geziemt, zu stellen und das Weitere demütig zu

erwarten. Götz.

Wohl, und ich bin hier und warte.

Rar. Und wir sind hier, Euch Jhro Kaiserlichen Majestät Gnade und Huld zu verkündigen. Sie verzeiht Euch Eure Übertretungen, spricht Euch von der

Acht und aller wohlverdienten Strafe los, welches Ihr mit unterthänigem Dank erkennen und dagegen die Urfehde abschwören werdet, welche Euch hiermit vor­ gelesen werden soll. Götz. Ich bin Jhro Majestät treuer Knecht wie immer. Noch ein Wort, eh' Ihr weiter geht: Meine Leute, wo sind die? Was soll mit ihnen werden? Rat. Das geht Euch nichts an. Götz. So wende der Kaiser sein Angesicht von Euch, wenn Ihr in Not steckt! Sie waren meine Gesellen und sind's. Wo habt Ihr sie hingebracht? Rat. Wir sind Euch davon keine Rechnung schuldig. Götz. Ah! Ich dachte nicht, daß Ihr nicht einmal zu dem verbunden seid, was Ihr versprecht, geschweige — Rat. Unsre Kommission ist, Euch die Urfehde vorzulegen. Unterwerft Euch dem Kaiser, und Ihr werdet einen Weg finden, um Eurer Gesellen Leben und Freiheit zu flehen. Götz. Euren Zettel! Rat. Schreiber, leset! Schreiber. Ich, Götz von Berlichingen, bekenne öffentlich durch diesen Brief, daß, da ich mich neulich gegen Kaiser und Reich rebellischer Weise aufgelehnt — Götz. Das ist nicht wahr. Ich bin kein Rebell, habe gegen Jhro Kaiser­ liche Majestät nichts verbrochen, und das Reich geht mich nichts an. Rat. Mäßigt Euch und hört weiter. Götz. Ich will nichts weiter hören. Tret' einer auf und zeuge. Hab' ich wider den Kaiser, wider das Haus Österreich nur einen Schritt gethan? Hab'

ich nicht von jeher durch alle Handlungen bewiesen, daß ich besser als einer fühle, was Deutschland seinen Regenten schuldig ist, und besonders was die Kleinen, die Ritter und Freien, ihrem Kaiser schuldig sind? Ich müßte ein Schurke sein,

wenn ich mich könnte bereden lasten, das zu unterschreiben. Rat. Und doch haben wir gemessene Ordre, Euch in der Güte zu über­ reden oder im Entstehungsfall Euch in den Turm zu werfen. Götz. In den Turm? mich? Rat. Und daselbst könnt Ihr Euer Schicksal von der Gerechtigkeit erwarten,

wenn Ihr es nicht aus den Händen der Gnade empfangen wollt. Götz. In den Turm! Ihr mißbraucht die kaiserliche Gewalt. In den Turm! Das ist sein Befehl nicht. Was! mir erst, die Verräter! eine Falle zu stellen und ihren Eid, ihr ritterlich Wort zum Speck drin aufzuhängen! Mir dann ritter­

lich Gefängnis zusagen und die Zusage wieder brechen! Rat. Einem Räuber sind wir keine Treue schuldig.

VIII.

Dramatisches.

495

Götz. Trügst du nicht das Ebenbild des Kaisers, das ich in dem gesudeltsten Konterfei verehre, du solltest mir den Räuber fressen oder dran erwürgen. Ich bin in einer ehrlichen Fehd' begriffen. Du könntest Gott danken und dich vor der Welt groß machen, wenn du in deinem Leben eine so edle That gethan hättest, wie die ist, um welcher willen ich gefangen sitze. Nicht um des leidigen Gewin­ stes willen, nicht um Land und Leute unbewehrten Kleinen wegzukapern, bin ich

ausgezogen. Meinen Jungen zu befreien und mich meiner Haut zu wehren! Seht Ihr was Unrechts dran? Kaiser und Reich hätten unsre Not nicht in ihren Kopfkissen gefühlt. Ich habe, Gott sei Dank! noch eine Hand und habe wohl gethan, sie zu gebrauchen. (Burger treten herein, Stangen in der Hand, Wehren an der Seite.)

Götz.

Was soll das?

Rat. Ihr wollt nicht hören. Fangt ihn! Götz. Ist das die Meinung? Wer kein ungarischer Ochs ist, komm' mir nicht zu nah! Er soll von dieser meiner rechten eisernen Hand eine solche Ohrfeige kriegen, die ihm Kopfweh, Zahnweh und alles Weh der Erden aus dem Grund kurieren soll. Kommt! Kommt! Es wäre mir angenehm, den tapfersten unter euch kennen zu lernen. Rat. Gebt Euch! Götz. Mit dem Schwert in der Hand! Wißt Ihr, daß es jetzt nur an mir läge, mich durch alle diese Hasenjäger durchzuschlagen und das weite Feld zu ge­ winnen? Aber ich will Euch lehren, wie man Wort hält. Versprecht mir ritter­ lich Gefängnis, und ich gebe mein Schwert weg und bin wie vorher Euer Ge­ fangener. Rat. Mit dem Schwert in der Hand wollt Ihr mit dem Kaiser rechten? Götz. Behüte Gott! nur mit Euch und Eurer edlen Compagnie. Ihr könnt nach Hause gehn, gute Leute. Für die Versäumnis kriegt ihr nichts, und zu holen ist hier nichts als Beulen. Rat. Greift ihn. Giebt euch eure Liebe zu eurem Kaiser nicht mehr Mut? Götz. Nicht mehr, als ihnen der Kaiser Pflaster giebt, die Wunden zu heilen, die sich ihr Mut holen könnte.

Gerichtsdicner (eintretend). Eben ruft der Türmer: Es zieht ein Trupp von mehr als zweihunderten nach der Stadt zu. Unversehens sind sie hinter der Weinhöhe hervorgedrungen und drohen unsern Mauern.

Ratsherr. Weh uns! Was ist das? wache (eintretend). Franz von Sickingen hält vor dem Schlag und läßt Euch sagen: Er habe gehört, wie unwürdig man an seinem Schwager bundbrüchig ge­ worden sei, wie die Herren von Heilbronn allen Vorschub thäten. Er verlange Rechenschaft, sonst wolle er binnen einer Stunde die Stadt an vier Ecken anzün­

den und sie der Plünderung preisgeben. Götz. Braver Schwager! Rat. Tretet ab, Götz! — Was ist zu thun? Ratsherr. Habt Mitleiden mit uns und unserer Bürgerschaft! ist unbändig in seinem Zorn, er ist Mann, es zu halten.

Sickingen

VTIT. Dramatisches.

496 Rat.

Sollen wir uns und dem Kaiser die Gerechtsame vergeben?

Hauptmann. Wenn wir nur Leute hätten, sie zu behaupten. ten wir umkommen, und die Sache wäre nur desto schlimmer.

So aber körvnnWir gewinnmen

im Nachgeben.

Ratsherr. Wir wollen Götzen ansprechen, für uns ein gut Wort einzulegtgen. Mir ist's, als wenn ich die Stadt schon in Flammen sähe. Rat. Laßt Götzen herein! Götz. Was soll's?

Rat. Du würdest wohl thun, deinen Schwager von seinem rebellischen V6orhaben abzumahnen. Anstatt dich vom Verderben zu retten, stürzt er dich tieiefer hinein, indem er sich zu deinem Falle gesellt. Götz (ficht Elisabeth an der Thür, heimlich zu ihr). Geh hin! Sag' ihm' Er soll VUn­ verzüglich hereinbrechen, soll hieher kommen, nur der Stadt kein Leids thyun. Wenn sich die Schurken hier widersetzen, soll er Gewalt brauchen. Es liegt nmir nichts dran umzukommen, wenn sie nur alle mit erstochen werden. Aus Goethes Götz von Berlictu'lnzen.

10.

Das Armbrustschießen.

Soest (Krämer). Nun schießt nur hin, daß es alle wird! Ihr nehmt mnir's doch nicht! Drei Ringe schwarz, die habt ihr euer Tage nicht geschossen. Und) so wär' ich für dies Jahr Meister. Ietter (Schneider). Meister und König dazu. Wer mißgönnt's Euch? Ihr slsollt dafür auch die Zeche doppelt bezahlen; Ihr sollt Eure Geschicklichkeit bezahlilen, wie's recht ist. Buyck (Soldat unter Egmout). Soest, den Schuß Handl' ich Euch ab, teile tben Gewinst, traktiere die Herren; ich bin so schon lange hier und für viele Höflilichkeit Schuldner. Fehl' ich, so ist's, als wenn Ihr geschossen hättet. Soest. Ich sollte drein reden; denn eigentlich verlier' ich dabei. Dooch, Buyck, nur immerhin. Vuyck (schießt). Nun, Pritschmeister, Reverenz! — Eins! zwei! drei! vner!

Soest. Vier Ringe! Es sei! Alle. Vivat, Herr König, hoch! und abermal hoch! Buvck. Danke, ihr Herren. Wäre Meister zu viel!

Danke für die Ehhre!

3etter. Die habt Ihr Euch selbst zu danken. Ruysum (Invalide und taub). Daß ich euch sage! Soest. Wie ist's, Alter? Ruysum. Daß ich euch sage! Er schießt wie sein Herr, er schießt wie Egmcont. Buvck. Gegen ihn bin ich nur ein armer Schlucker. Mit der Büchse trrifft er erst wie keiner in der Welt. Nicht etwa, wenn er Glück oder gute Laune HM; nein! wie er anlegt, immer rein schwarz geschossen. Gelernt habe ich von ilhm. Das wäre auch ein Kerl, der bei ihm diente und nichts von ihm lernte. — Micht zu vergeffen, meine Herren! Königs Rechnung Wein her!

Ein König nährt seine Leute; und so, auf

des

VIII.

Dramatisch es.

497

Jctter.

Es ist unter uns ausgemacht, daß jeder —

Buyck.

Ich bin fremd und König und achte eure Gesetze und Herkommen

nicht.

Jetter. Du bist ja ärger als der Spanier; der hat sie uns doch bisher­ lassen müssen. Ruysum. Was? Soest (laut). Er will und gastieren; er will nicht haben, daß wir Zusammen­ legen und der König nur das Doppelte zahlt. Ruysum. Laßt ihn! doch ohne Präjudiz! das ist auch seines Herrn Art, splendid zu sein und es laufen zu lassen, wo es gedeiht.

Alle. Jhro Majestät Wohl! Hoch! Ietter (ZU Buyck). Versteht sich, Eure Majestät. Buyck. Danke von Herzen, wenn's doch so sein soll. Soest. Wohl! Denn unserer spanischen Majestät Gesundheit trinkt nicht leicht

ein Niederländer von Herzen. Ruysum. Wer? Soest ((aut). Philipps des Zweiten, Königs von Spanien. Ruysum. Unser allergnädigster König und Herr! Gott geb' ihm langes Leben! Soest. Hattet Ihr seinen Herrn Vater, Karl den Fünften, nicht lieber? Ruysum. Gott tröst' ihn! Das war ein Herr! Er hatte die Hand über den ganzen Erdboden und war euch alles in allem; und wenn er euch begegnete, so grüßt' er euch, wie ein Nachbar den andern; und wenn ihr erschrocken wart, wußt' er mit so guter Manier — Ja, versteht mich — Er ging aus, ritt aus, wie's ihm einkam, gar mit wenig Leuten. Haben wir doch alle geweint, wie er seinem Sohn das Regiment hier abtrat — sagt' ich, versteht mich — der ist schon anders, der ist majestätischer. Ietter. Er ließ sich nicht sehen, da er hier war, als in Prunk und könig­ lichem Staate. Er spricht wenig, sagen die Leute. Soest. Er ist kein Herr für uns Niederländer. Unsre Fürsten müssen froh und frei sein wie wir, leben und leben lassen. Wir wollen nicht verachtet, noch

gedrückt sein, so gutherzige Narren wir auch sind. Ietter. Der König, denk' ich, wäre wohl ein gnädiger Herr, wenn er nurbessere Ratgeber hätte. Soest. Nein! nein! Er hat kein Gemüt für uns Niederländer, sein Herz ist dem Volke nicht geneigt, er liebt uns nicht; wie können wir ihn wieder lieben?

Warum ist alle Welt dem Grafen Egmont so hold? Warum trügen wir ihn alle auf den Händen? Weil man ihm ansieht, daß er uns wohl will; weil ihm die Fröhlichkeit, das freie Leben, die gute Meinung aus den Augen sieht; weil er nichts besitzt, das er dem Dürftigen nicht mitteilte, auch dem, der's nicht bedarf. Laßt den Grafen Egmont leben! Buyck, an Euch ist's, die erste Gesundheit zu

bringen! Bringt Eures Herrn Gesundheit aus.

Buyck. Von ganzer Seele denn: Graf Egmont hoch! Ruysum. Überwinder bei St. Quentin! Dielitz u. Heinrichs, deutsch. Leseb.

5. Aufl.

VIII. Dramati sch es.

498 Buyck.

Dem Helden von Gravelingen!

Alle. Hoch! Ruvsum. St. Quentin war meine letzte Schlacht. Ich konnte kaum mehr fort, kaum die schwere Büchse mehr schleppen. Hab' ich doch den Franzosen noch eins auf den Pelz gebrennt, und da kriegt' ich zum Abschied noch einen Streif­ schuß ans rechte Bein. Buvck. Gravelingen! Freuude! da ging's frisch! Den Sieg haben wir allein. Brannten und sengten die welschen Hunde nicht durch ganz Flandern? Aber ich mein', wir trafen sie! Ihre alten, handfesten Kerle hielten lange wider, und wir drängten und schossen und hieben, daß sie die Mäuler verzerrten und ihre Linien zuckten. Da ward Egmont das Pferd unter dem Leibe niedergeschossen, und wir stritten lange hinüber herüber, Mann für Mann, Pferd gegen Pferd, Haufe mit Hause, auf dem breiten, flachen Sand an der See hin. Auf einmal kam's, wie vom Himmel herunter, von der Mündung des Flusses, bav, bau! immer mit Ka­ nonen in die Franzosen drein. Es waren Engländer, die unter dem Admiral Malin von ungefähr von Dünkirchen her vorbeifuhren. Zwar viel halfen sie uns nicht; sie konnten nur mit den kleinsten Schiffen herbei, und das nicht nah' genug; schossen auch wohl unter uns — es that doch gut! Es brach die Welschen und hob unsern Mut. Da gings rief! rack! herüber hinüber. Alles totgeschlagen, alles ins Wasser gesprengt. Und die Kerle ersoffen, wie sie das Wasser schmeck­ ten; und was wir Holländer waren, gerad' hinterdrein. Uns, die wir beidlebig sind, ward erst wohl im Wasser wie den Fröschen; und immer die Feinde im Fluß zusammengehauen, weggeschossen wie die Enten. Was nun noch durchbrach, schlugen euch auf der Flucht die Bauerweiber mit Hacken und Mistgabeln tot. Mußte doch die welsche Majestät gleich das Pfötchen reichen und Friede machen. Und den Frieden seid ihr uns schuldig, dem großen Egmont schuldig. Alle. Hoch! dem großen Egmont hoch! und abermal hoch! und abermal hoch!

Jetter. Hätte man uns den statt der Margarete von Parma zum Regenten gesetzt! Soest. Nicht so! wahr bleibt wahr! Ich lasse mir Margareten nicht schellen. Nun ist's an mir. Es lebe unsre gnäd'ge Frau! Alle.. Sie lebe! Soest. Wahrlich, treffliche Weiber sind in dem Hause.

Die Regentin lebe!

Jetter. Klug ist sie und mäßig in allem, was sie thut; hielte sie's nur nicht so steif und fest mit den Pfaffen. Sie ist doch auch mit schuld, daß wir die vier­ zehn neuen Bischofsmützen im Lande haben. Wozu die nur sollen? Nicht wahr, daß man Fremde in die guten Stellen einschieben kann, wo sonst Äbte aus den Kapiteln gewählt wurden? Und wir sollen glauben, es sei um der Religion willen.

Ja, es hat sich. An drei Bischöfen hatten wir genug: da ging's ehrlich und or­ dentlich zu. Nun muß doch auch jeder thun, als ob er nötig wäre, und da setzt's alle Augenblick Verdruß und Händel. Und je mehr ihr das Ding rüttelt und schüttelt, desto trüber wird's. Soest. Das war nun des Königs Wille; sie kann nichts davon, noch dazu thun.

VIII. fetter.

Dramatisches.

499

Da sollen wir nun die neuen Psalmen nicht singen! Sie sind wahr­

lich gar schön in Reime gesetzt und haben recht erbauliche Weisen. Die sollen wir nicht singen, aber Schelmenlieder, so viel wir wollen. Und warum? Es seien Ketzereien drin, sagen sie, und Sachen, Gott weiß. Ich hab ihrer doch auch gesungen; es ist jetzt was Neues, ich hab' nichts drin gesehen. Luyck. Ich wollte sie fragen! In unserer Provinz singen wir, was wir

wollen. Das macht, daß Graf Egmont unser Statthalter ist; der fragt nach so etwas nicht. In Gent, Npern, durch ganz Flandern singt sie, wer Belieben hat. (laut.) Es ist ja wohl nichts unschuldiger als ein geistlich Lied? Nicht wahr, Vater? Ruysum. Ei wohl! Es ist ja ein Gottesdienst, eine Erbauung. netter. Sie sagen aber, es sei nicht auf die rechte Art, nicht auf ihre Art; und gefährlich ist's doch immer, da läßt man's lieber sein. Die Jnquisitionsdiener schleichen herum und passen auf; mancher ehrliche Mann ist schon unglücklich geworden. Der Gewissenszwang fehlte noch! Da ich nicht thun darf, was ich möchte, können sie mich doch denken und singen lassen, was ich will. Soest. Die Inquisition kommt nicht auf. Wir sind nicht gemacht wie die Spanier, unser Gewissen tyrannisieren zu lassen, und der Adel muß auch bei Zeiten suchen, ihr die Flügel zu beschneiden. netter. Es ist sehr fatal. Wenn's den lieben Leuten einsällt, in mein Haus zu stürmen, und ich sitz' an meiner Arbeit und summe just einen französischen Psalm und denke nichts dabei, weder Gutes, noch Böses, ich summe ihn aber, weil er mir in der Kehle ist, gleich bin ich ein Ketzer und werde eingesteckt. Oder­ ich gehe über Land und bleibe bei einem Haufen Volks stehen, das einem neuen Prediger zuhört, einem von denen, die aus Deutschland gekommen sind, auf der Stelle heiß' ich ein Rebell und komme in Gefahr, meinen Kopf zu verlieren. Habt ihr je einen predigen hören? Soest. Wackre Leute. Neulich hört' ich einen auf dem Felde vor tausend und tausend Menschen sprechen. Das war ein ander Geköch, als wenn unsre auf der Kanzel herumtrommeln und die Leute mit lateinischen Brocken erwürgen. Der sprach von der Leber weg, sagte, wie sie uns bisher hätten bei der Nase herumgeführt, uns in der Dummheit erhallen, und wie wir mehr Erleuchtung

haben könnten. Und das bewies er euch alles aus der Bibel. netter. Da mag doch auch was dran sein. Ich sagt's immer selbst und grübelte so über die Sache nach. Mir ist's lang im Kopf herumgegangen. Luvck. Es läuft ihnen auch alles Volk nach. Soest. Das glaub' ich, wo man was Gutes hören kann und was Neues, netter. Und was ist's denn nun? Man kann ja einen jeden predigen lassen nach seiner Weise. Luyck. Frisch, ihr Herren! Über dem Schwätzen vergeßt ihr den Wein und Oranien.

netter. Den nicht zu vergessen. Das ist ein rechter Wall. Wenn man nur an ihn denkt, meint man gleich, man könne sich hinter ihm ver-

32*

VIII. Dramatisches.

500 stecken,

und

der

Teufel

brächte

einen nicht

hervor.

Hoch!

Wilhelm von

Dramen hoch! Alle. Hoch! hoch! Soest. Nun, Alter, bring' auch deine Gesundheit.

Ruysum. Alte Soldaten! Alle Soldaten! Es lebe der Krieg! 25 uv et Bravo, Alter! Alle Soldaten! Es lebe der Krieg! Jetter. Krieg! Krieg! Wißt ihr auch, was ihr ruft? Daß es euch leicht vom Munde gehe, ist wohl natürlich; wie lumpig aber unser einem dabei zu Mute ist, kann ich nicht sagen. Das ganze Jahr das Getrommel zu hören und nichts zu hören, als wie da ein Haufen gezogen kommt und dort ein anderer, wie sie über einen Hügel kamen und bei einer Mühle hielten, wie viel da geblieben sind, wie viel dort, und wie sie sich drängen und einer gewinnt, der andere verliert, ohne daß man sein Tage begreift, wer was gewinnt oder verliert; wie eine Stadt eingenommen wird, die Bürger ermordet werden, und wie's den armen Weibern, den unschuldigen Kindern ergeht: das ist eine Not und Angst, man denkt jeden Augenblick: Da kommen sie! Es geht uns auch so! Soest. Drum muß auch ein Bürger immer in Waffen geübt sein. Ietter. Ja, es übt sich, wer Frau und Kinder hat. Und doch hör' ich nock­ lieber von Soldaten, als ich sie sehe. Buvck. Das sollt' ich übel nehmen. Ietter. Auf Euch ist's nicht gesagt, Landsmann. Wie wir die spanischen

Besatzungen los waren, holten wir wieder Atem. Buvck. Nun da ihr von uns nichts hören wollt, nun bringt auch eure Ge­ sundheit aus, eine bürgerliche Gesundheit. Hetter. Dazu sind wir bereit! Sicherheit und Ruhe! Soest. Ordnung und Freiheit! Buyck. Brav, das sind auch wir zufrieden. Alle.

Sicherheit und Ruhe! Ordnung und Freiheit! Aus Goethes (xßinont.

11. Zimmermeister.

Egmont.

Sagt' ich's nicht voraus?

Noch vor acht Tagen auf der

Zunft sagt' ich, es würde Händel geben. fetter. Jst's denn wahr, daß sie die Kirchen in Flandern geplündert haben? Zimmermeister. Ganz und gar zu Grunde gerichtet haben sie Kirchen und Kapellen. Nichts als die vier nackten Wände haben sie stehen lassen. LauterLumpengesindel! Und das macht unsre gute Sache schlimm. Wir hätten eher in der Ordnung und standhaft unsere Gerechtsame der Regentin vortragen und drauf halten sollen. Reden wir jetzt, versammeln wir uns jetzt, so heißt es, wir ge­ sellen uns zu den Aufwieglern. netter. Ja, so denkt jeder zuerst: Was sollst du mit deiner Nase voran?

Hängt doch der Hals gar nah' damit zusammen. Zimmermeister. Mir ist's bange, wenn's einmal unter dem Pack zu lärmen

VIII.

Dramatisches.

501

anfängt, unter dem Volk, das nichts zu verlieren hat.

Die brauchen das zum

Vorwande, worauf wir uns auch berufen müssen, und bringen das Land in Unglück. Soest. Guten Tag, ihr Herren! Was giebt's neues? Jst’s wahr, daß die

Bilderstürmer gerade hierher ihren Lauf nehmen? Zimmermeister. Hier sollen sie nichts anrühren. Soest. Es trat ein Soldat bei mir ein, Tabak zu kaufen; den fragt’ ich aus. Die Regentin, so eine wackre und kluge Frau sie bleibt, diesmal ist sie außer Fassung. Es muß sehr arg fein, daß sie sich so geradezu hinter ihre Wache versteckt. Die Burg ist scharf besetzt. Man meint sogar, sie wolle aus der Stadt flüchten. Zimmermeister. Hinaus soll sie nicht! Ihre Gegenwart beschützt uns, und wir wollen ihr mehr Sicherheit verschaffen als ihre Stutzbärte. Und wenn sie uns unsere Rechte und Freiheiten aufrecht erhält, so wollen wir sie auf den Hän­ den tragen. Seifenfieder.

schief aus!

Garstige Händel!

Üble Händel!

Es wird unruhig und geht

Hütet euch, daß ihr stille bleibt, daß man euch nicht auch für Auf­

wiegler hält. Soest. Da kommen die sieben Weisen aus Griechenland! Seifensieder. Ich weiß, da sind viele, die es heimlich mit den Calvinisten halten, die auf die Bischöfe lästern, die den König nicht scheuen. Aber ein treuer

Unterthan ein aufrichtiger Katholike! Pansen. Gott grüß' euch Herren! Was neues? Zimmermeister. Gebt euch mit dem nicht ab; das ist ein schlechter Kerl. Ietter. Ist es nicht der Schreiber beim Doktor Wiets? Zimmermeister. Er hat schon viele Herren gehabt. Erst war er Schreiber, und wie ihn ein Patron nach dem andern fortjagte Schelmstreiche halber, pfuscht er jetzt Notaren und Advokaten ins Handwerk und ist ein Branntweinzapf. Pansen. Ihr seid auch versammelt, steckt die Köpfe zusammen. Es ist immer

redenswert. Soest. Ich denk' auch. Pansen. Wenn jetzt einer oder der andere Herz hätte und einer oder der andre den Kopf dazu, wir könnten die spanischen Ketten auf einmal sprengen. Soest.

Herre!

So müßt Ihr nicht reden.

Wir haben dem König ge­

schworen. Pansen. Und der König uns. Merkt das! Ietter. Das läßt sich hören! Sagt Eure Meinung. Einige andere. Horch, der versteht's! Der hat Pfiffe. Pansen. Ich hatte einen alten Patron, der besaß Pergamente und Briefe von uralten Stiftungen, Kontrakten und Gerechtigkeiten; er hielt auf die rarsten Bücher. In einem stand unsere ganze Verfassung: wie uns Niederländer zuerst einzelne Fürsten regierten, alles nach hergebrachten Rechten, Privilegien und Ge­ wohnheiten; wie unsere Vorfahren alle Ehrfurcht für ihren Fürsten gehabt, wenn er sie regiert, wie er sollte; und wie sie sich gleich vorsahen, wenn er über die

502

VIII.

Dramatisches.

Schnur hauen wollte. Die Staaten waren gleich hinterdrein; denn jede Provinz, so klein sie war, hatte ihre Staaten, ihre Landstände. Zimmermeister. Haltet Euer Maul! Das weiß man lange! Ein jeder recht­ schaffene Bürger ist, so viel er braucht, von der Verfassung unterrichtet. Jetter. Laßt ihn reden; man erfährt immer etwas mehr. Soest. Er hat ganz recht. Mehrere.

Erzählt!

erzählt!

So was hört man nicht alle Tage.

Vanfen. So seid ihr Bürgersleute! Ihr lebt nur so in den Tag hin; und wie ihr euer Gewerb von euren Eltern bekommen habt, so laßt ihr auch das Regiment über euch schalten und walten, wie es kann und mag. Ihr fragt nicht nach dem Herkommen, nach der Historie, nach dem Recht eines Regenten; und über das Versäumnis haben euch die Spanier das Netz über die Ohren ge­

zogen. Soest. Wer denkt daran? Wenn einer nur das tägliche Brot hat. netter. Verflucht! Warum tritt auch keiner in Zeiten auf und sagt einem so etwas? Vanfen. Ich sag' es euch jetzt. Der König in Spanien, der die Provinzen durch gut Glück zusammen besitzt, darf noch nicht drin schalten und walten anders als die kleinen Fürsten, die sie ehemals einzeln besaßen. Begreift ihr das? 3cttcr. Erklärt's uns. Vanfcn. Es ist so klar wie die Sonne. Müßt ihr nicht nach euren Land­ rechten gerichtet werden? Woher käme denn das?

Ein Bürger. Wahrlich! Vanfen. Hat der Brüsseler nicht ein ander Recht als der Antwerper? der Antwerper als der Genter? Woher käme denn das?

Andere Bürger. Bei Gott! Vanfen. Aber wenn ihr's so fortlaufen laßt, wird man's euch bald anders weisen. Pfui! Was Karl der Kühne, Friedrich der Krieger, Karl der Fünfte nicht konnten, das thut nun Philipp durch ein Weib. Soest. Ja, ja! Die alten Fürsten haben's auch schon probiert. Vanfen. Freilich! Unsre Vorfahren paßten auf. Wenn sie einem Herrn gram

wurden, fingen sie ihm etwa seinen Sohn und Erben weg, hielten ihn bei sich und gaben ihn nur auf die besten Bedingungen herausUnsere Väter waren Leute! Die wußten, was ihnen nütz war! Die wußten etwas zu fassen und festzusetzen! Rechte Männer! Dafür aber sind auch unsere Privilegien so deutlich, unsere Freiheiten so versichert. Seifensieder. Was sprecht ihr von Freiheiten? Das Volk. Von unsern Freiheiten, von unsern Privilegien!

Erzählt noch

was von unsern Privilegien! Vanfen. Wir Brabanter besonders, obgleich alle Provinzen ihre Vorteile haben, wir sind am herrlichsten versehen. Soest. Sagt an. netter. Laßt hören.

Ein Bürger.

Ich bitt' euch.

Ich habe alles gelesen.

VIII. Pansen.

503

Dramatisches.

Erstlich steht geschrieben:

Der Herzog von Brabant soll uns ein

guter und getreuer Herr sein. Soest. Gut! Steht das so? Ietter. Getreu? Ist das wahr? Pansen. Wie ich euch sage. Er ist uns verpflichtet, wie wir ihm. Zweitens: Er soll keine Macht oder eigenen Willen an uns beweisen, merken lassen oder gedenken zu gestatten auf keinerlei Weise. Jetter. Schön! schön! nicht beweisen. Soest. Nicht merken lassen. Ein anderer. Und nicht gedenken zu gestatten!

DaS ist der Hauptpunkt. Niemandem gestalten auf keinerlei Weise. Pansen. Mit ausdrücklichen Worten. Jetter. Schasst uns das Buch! Ein Bürger. Ja, wir müssen's haben. Andere. Das Buch! das Buck! Ein anderer. Wir wollen zu der Negentin mit dem Buche. Ein anderer. Ihr sollt das Wort führen, Herr Doktor. Seifensieder. O die Tröpfe! Andere. Noch etwas aus dem Buch ! Seifensieder. Ich schlage ihm die Zähne in den Hals, wenn er noch ein

Wort sagt. Das Pols. Wir wollen sehen, wer ihm etwas thut. Sagt uns waS von den Privilegien! Haben wir noch mehr Privilegien? Pansen. Mancherlei und sehr gute, sehr heilsame. Da steht auch: Der Landesherr soll den geistlichen Stand nicht verbessern oder mehren ohne Berwillizung des Adels und der Stände! Merkt das! Auch den Staat des Landes nicht verändern. Soest. Ist das so? Pansen. Ich will's euch geschrieben zeigen von zwei-, dreihundert Jahren her.

Bürger. Und wir leiden die neuen Bischöfe? wir fangen Händel an! Andere.

Der Adel muß uns schützen,

Und wir lassen uns von der Inquisition ins Bockshorn jagen?

Pansen. Das ist eure Schuld. Das Polt Wir haben noch Egmont! noch Oranien! Die sorgen für unser Best.'s. Pansen. Eure Brüder in Flandern haben das gute Werk angefangen.

Seifensieder. Du Hund! (Er schlagt ihn.) Andere (widersetzen sich und rufen). Bist du auch ein Spanier? Ein anderer. Was? Den Ehrenmann? Ein anderer. Den Gelahrten? (Sie fallen den Seifensieder an.) Zimmermeister. Ums Himmels willen, ruht! Bürger, was soll das? (Buben pfeifen, werfen mit Steinen, hetzen Hunde an, Bürger stehen und gaffen, Volk lauft zu, an­ dere gehen gelassen auf und ab, andere treiben allerlei Schalkspossen, schreien und jubilieren.)

Andere.

Freiheit und Privilegien! Privilegien und Freiheit!

VIII.

504 Egmont (auftretend). ander. Zimmermeister.

Dramati sches.

Ruhig! ruhig, Leute! Was giebt's? Bringt sie ausein­

Gnädiger Herr, Ihr kommt wie ein Engel des Himmels.

Stille! Seht ihr nichts? Graf Egmont! Dem Grafen Egmont Reverenz! Egmont. Auch hier? Was fangt ihr an? Bürger gegen Bürger! Hält so­ gar die Nähe unsrer königlichen Regentin diesen Unsinn nicht zurück? Geht aus­ einander, geht an euer Gewerbe! Es ist ein übles Zeichen, wenn ihr an Werk­ tagen feiert. Was war's? Zimmermeistcr. Sie schlagen sich um ihre Privilegien. Egmont. Die sie noch mutwillig zertrümmern werden!

Und wer seid ihr?

Ihr scheint mir rechtliche Leute. Zimmermeister. Das ist unser Bestreben. Egmont. Eures Zeichens? Zimmermeister. Zimmermeister und Zunftmeister. Egmont. Und Ihr? Soest. Krämer. Egmont. Ihr? Jetter. Schneider. Egmont. Ich erinnere mich, Ihr habt mit an den Livreen für meine Leute gearbeitet. Euer Name ist Jetter. jetter. Gnade, daß Ihr Euch dessen erinnert. Egmont. Ich vergesse niemanden leicht, den ich einmal gesehen und gesprochen habe. Was an euch ist, Ruhe zu erhalten, Leute, das thut; ihr seid übel genug angeschrieben. Reizt den König nicht mehr; er hat zuletzt doch die Gewalt in Händen. Ein ordentlicher Bürger, der sich ehrlich und fleißig nährt, hat überall so viel Freiheit, als er braucht. Zimmermeister. Ach wohl! Das ist eben unsre 9?ot! Die Tagdiebe, die Söffer, die Faulenzer, die scharren aus Hunger nach Privilegien und lügen den Neugierigen und Leichtgläubigen was vor, und um eine Kanne Bier bezahlt zu kriegen, fangen sie Händel an, die viel Tausend Menschen unglücklich machen. Das ist ihnen eben recht. Wir hallen unsre Häuser und Kasten zu gut ver­ wahrt; da möchten sie gern uns mit Feuerbränden davontreiben. Egmont. Allen Beistand sollt ihr finden; es sind Maßregeln genommen, dem Übel kräftig zu begegnen. Steht fest gegen die fremde Lehre und glaubt nicht, durch Aufruhr befestige man Privilegien.

sich auf den Straßen rotten.

Bleibt zu Hause, leidet nicht, daß sie

Vernünftige Leute können viel thun.

Zimmermeistcr. Danken Euer Excellenz, danken für die gute Meinung! Alles, was an uns liegt! (Egmont ab.) Ein gnädiger Herr! Der echte Niederländer! Gar

so nichts Spanisches. Jetter. Hätten wir ihn nur zum Regenten! Man folgt ihm gerne. Soest. Das läßt der König wohl sein. Den Platz besetzt er immer mit den Seinigen. jetter.

Hast du das Kleid gesehen? Das war nach der neuesten Art, nach

spanischem Schnitt.

VIII.

505

Dramatisches.

Zimmermeister. Ein schöner Herr! Jetter. Sein Hals toär’ ein rechtes Fressen für einen Scharfrichter. Soest. Bist du toll? Was kommt dir ein! Jetter. Dumm genug, daß einem so etwas einfällt. Es ist mir nun so. Wenn ich einen schönen, langen Hals sehe, muß ich gleich wider Willen denken:

Der ist gut köpfen. Die verfluchten Exekutionen! Man kriegt sie nicht aus dem Sinne. Wenn die Bursche schwimmen, und ich seh' einen nackten Buckel, gleich fallen sie mir zu Dutzenden ein, die ich habe mit Ruten streichen sehen. Be­

gegnet mir ein rechter Wanst, mein' ich, den seh' ich schon am Pfahl braten. Des Nachts im Traume zwickt mich's an allen Gliedern; man wird eben keine Stunde froh. Jede Lustbarkeit, jeden Spaß hab' ich bald vergessen; die fürchter­ lichen Gestalten sind mir wie vor die Stirn gebrannt. Alls Goethes Gement.

12. Zrinhs Tod. (Der Schlonhof von Szigcth.) Graf vcn ?, rin y, Oberster von S^igeth; s.!( 1 a p t und Paprutvwit s ch, ungarische Hanptlente; Goa, Zrinys Gemahlin, mit einer brennenden Fackel; die Ungarn (ihre Reichs­ panier weht in der Mitte).

Zrinv. Zum letzten Mal sprech' ich zu meinen Freunden. Erst Dank euch allen für die Heldentreue, Mit der ihr diesen Kampf bestanden habt; Mit frohem, freiem Herzen darf ich's sagen: Verräter gab es nie in meinem Volk. Wir alle haben treu den Schwur gehalten, Die meisten gingen kühn im Tod voraus Und warten dort auf ihres Siegs Genossen. Kein einz'ges Herz ist hier im ganzen Kreis, Das ist mein Stolz, das nicht mit frohem Mut Das letzte Leben für sein Vaterland, Den Kaiser und den heil'gen Glauben wagte. Dafür auch Dank! Gott wird es dort belohnen; Denn diesmal gilt's zu sterben! Feindes Macht, Die hundertfach uns überleg'ne Macht, Wir haben sie mit Glück zurückgeschmettert, Wir haben sie zu Tausenden geschlachtet

Und blut'gen Tod auf ihren Stolz gewälzt. An zwanzigtausend seiner besten Krieger Läßt Soliman vor dieser Jnselburg, Und seiner Fürsten wurden viel begraben; Doch andre Feinde kämpfen gegen uns, Wo Männerkraft nicht ausreicht, um zu siegen. Sie wühlten Minen in des Berges Schoß, Die Treue unsrer Mauern ist erschüttert,

VIII.

506

Dramatisches.

Der Pechkranz flog verderbend auf das Schloß, Es kämpft das Element mit unserm Mute! Am fürchterlichsten aber stürmt der HungerAuf die geschwächten Haufen: kaum den Tag Reicht unser Vorrat aus; wir müssen sterben; Denn an Ergebung denkt der Ungar nicht, Der seinen Kaiser liebt und seine Ehre! Ihr denkt's auch nicht, das weiß ich, also sterbt! Hinaus, hinaus, wo ihre Trommeln rufen! Soll'n wir verbrennen? foQ’n wir hier verhungern? Nein! laßt uns sterben, wie es Männern ziemt! Zeigt euerm Feind das Weiße in dem Auge, Ringt mit dem Tod, bezahlt den Tropfen Blut, Den letzten, noch mit eines Feindes Leben! Nur unter Leichen bettet sich der Held,

Die Wer Wer Der Und Und

er vorausgesandt als Todesopfer! so wie wir den großen Schwur gelöst, so für Gott und Vaterland gefallen, lebt im Herzen seines Volkes fort kämpft sich oben in das ew'ge Leben gehet ein in Gottes Herrlichkeit!

Alle.

So führ' uns, Herr! führ' uns, wir sind bereit! (Hauptmann 3 ur»mitsch tritt ein.)

Zriny.

Wo ist Helene?

Iuranitsch. In der Heimat, Kränze Mit güt'gen Engeln flechtend, uns zu krönen! Laß sie nicht warten! 's war ihr letztes Wort. Der Todesengel knüpfte unsre Hände! Hinaus, hinaus! laß mich zu ihr! Zriny. Wohlan! — Weib, deinen Abschiedskuß! Wie willst du scheiden?

Eva.

Dort auf der Zinne wart' ich auf den Sturm;

Ein großes Totenopfer zu bereiten, Haucht Gott auch seine Kräfte in den Wurm!

Zriny. Und wenn sie über den Gefaü'nen schreiten? Eva. So fliegt die Fackel in den Pulverturm! Zerschmettert nur sei Szigeth übergeben! Zriny. Stirb, Heldenweib! der Tod heißt ewig leben! (Sturmgetöse der Türken von außen.)

Zriny. Horch! wie sie schmettern, wie die Wirbel jauchzen! Willkommen, Tod! ich kenne deinen Ruf! Nun, Brüder, gilt's! Hier, Lorenz, nimm die Fahne! Du stürmst voraus, du mußt der erste sein. Es harrt die Braut, laß sie nicht lange warten!

VIII.

507

Dramatisches.

Ich schmettere nach, dann du (zu Paprntowitsch) und du, Alapi. Wie? Thränen, alter Freund? Alapi. '6 sind Freudenthränen,

Mit solchen Helden solchen Tod zu sterben. Um keine schönre Krone möcht' ich werben! Iuranitsch. Die Fahne fliegt! Zrinv. Der Adler siegt! Welt, gute Nacht! (3u ew) Leb' wohl! (Zu. «tiapt und Pnprutowitsch) Lebt wohl, ihr Brüder!

Gebt mir zum letzten Trompeten, schmettert Mir nach! mir nach! Stirb, wackres Volk! Alle. Dir nach!

Male eure Hand! eure Siegeslieder! Dort finden wir uns wieder! für Gott und Vaterland! dir nach! für Gott und Vaterland! .Renicv-3 Znny.