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German Pages 51 [64] Year 1959
DEUTSCH-JAPANISCHE STUDIEN · HEFT 1
Deutsch-Japanische Studien Herausgegeben von der Deutsch-Japanischen Gesellschaft Nordwestdeutschland e.V. Heft 1
CRAM · DE G R U Y T E R & CO · H A M B U R G
Dem Andenken an RICHARD
FOERSTER
Admiral a. D. Präsident der D E U T S C H - J A P A N I S C H E N G E S E L L S C H A F T E. V. BERLIN
in Dankbarkeit gewidmet
© Copyright 1959 by Cram, de Gruyter & Co., Hamburg · Alle Rechte, einschließlich der Übersetzung in fremde Sprachen, W i e d e r g a b e in Rundfunk und Fernsehen und Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten · Gesamtherstellung: Poeschel & Schulz=Sdiomburgk, Eschwege · Printed in Germany
GELEITWORT Als langjähriger Freund des Präsidenten der Berliner Deutsch-Japanischen Gesellschaft, Admiral a.D. Richard Foerster, habe ich mit Interesse in Berlin die Entwicklung und Pflege der deutsch-japanischen Freundschaft beobachten können. Es ist mir deshalb eine aufrichtige Genugtuung, daß diese Bestrebungen nunmehr von der alten Marinestadt Kiel aus weiter verfolgt werden, denn die Marine war stets aufs engste mit dieser Pflege der Freundschaft verbunden. Ich bin deshalb gern in das Ehrenpräsidium der Gesellschaft eingetreten, um die Tradition fortzuführen. Ich wünsche sehr, daß unsere Deutsch -Japanische Gesellschaft Nordwestdeutschland audi fernerhin nach besten Kräften an dieser schönen und wichtigen Aufgabe erfolgreich wirken möge. Gottfried Hansen Admiral a. D.
ZUM GELEIT Das erste Heft der »Deutsch-Japanischen Studien« liegt nunmehr vor, und es ist mir eine große Freude, diesem Heft ein Wort der Genugtuung und ein Wort der Ermunterung mit auf den Weg geben zu dürfen. Ein Wort der Genugtuung gegenüber dem Herausgeber, der DeutschJapanischen Gesellschaft Nortwestdeutschland e. V. und hier insbesondere Herrn Dr. Kerst, die sich schon sehr um das Verständnis zwischen Deutschland und Japan verdient gemacht haben und unter großen Anstrengungen die Schwierigkeiten, welche sich der Herausgabe dieser Schrift entgegenstellten, in Zusammenarbeit mit dem Verlag meistern konnten. Ein Wort der Genugtuung auch gegenüber den Autoren und deren Bemühen um das Verständnis japanischen Lebens und japanischen Geistes; ein Bemühen, das nicht nur darstellen will, sondern audi fragt und um die objektive Klärung und Erhellung gerade f ü r den Europäer so verwickelt erscheinender Tatbestände und Probleme bestrebt ist. Ein Wort der Ermunterung aber auch zur Weiterführung dieses Beginnens, denn eine Brücke des Verständnisses wie diese Schrift ist nötig in einer immer komplizierter werdenden Welt. In dieser sich immer intensiver verflechtenden Welt muß es von elementarem Interesse sein, das Verstehen der inneren Zusammenhänge und die Einsichten zu fördern, soll nicht lebensnotwendige technische, wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit durch ein Zurückbleiben dieses inneren Verstehens auf die Dauer gestört werden. Besonders das der westlichen Welt verpflichtete Japan ist darauf angewiesen, sowohl seine geschichtlich-kulturell gewordenen Besonderheiten als auch die Besonderheiten seiner politisch-wirtschaftlichen Lage in denZentren dieser westlichen Welt verstanden zu wissen, wobei es besonders auf das deutsche Verständnis hofft, ein Verständnis aus einer traditionellen Freundschaft zwischen den beiden Völkern heraus. Den »Deutsch-Japanischen Studien« als einem wesentlichen Beitrag zur Vertiefung der gegenseitigen Beziehungen wünsche ich daher einen vollen Erfolg. S. Nakagawa Generalkonsul von Japan in Hamburg
ZUR E I N F Ü H R U N G Nach langjährigem, erfolgreichem Wirken durch Vorträge und sonstige Veranstaltungen tritt die Deutsch -Japanische Gesellschaft Nordwestdeutschland nunmehr mit Aufsätzen hervor. Ihre Verfasser haben in ihren Fachkreisen einen guten Ruf. W i r hoffen, daß ihre Aufsätze auch in diesem Rahmen günstige Aufnahme finden. Als wir vor Jahren dem Rufe unseres treuen Freundes, des damaligen Generalkonsuls, derzeitigen Gesandten Taro Tokunaga, zur Gründung unserer Gesellschaft folgten, waren wir uns der Schwere unserer Aufgabe auf Grund langjähriger Erfahrung in der Pflege und Förderung der deutschjapanischen Freundschaft wohl bewußt. Bewährte Überlieferung sollte mit Tageserfordernissen vereint werden. W i r sind Herrn Admiral a. D. Gottfried Hansen dankbar, daß er als Freund des verstorbenen Präsidenten der Deutsch-Japanischen Gesellschaft, Admiral a. D. Richard Foerster, mit an die Spitze unserer Gesellschaft trat. Unsere öffentlichen Veranstaltungen standen unter der Frage: »Wie ist Japan?« Wir strebten danach, jedem Einzelnen die Möglichkeit zu bieten, sich selbst um die Beantwortung dieser Frage zu bemühen. W i r konnten somit nur Wegweiser sein. Zu unserer Befriedigung stellten wir regen und wachsenden Widerhall in weitesten Kreisen fest. Dem gleichen Ziel sollen die Aufsätze dieser Schrift dienen. Eine echte, alte und bewährte Freundschaft verbindet das japanische Volk mit dem deutschen Volk. Es ist deshalb dem deutschen Volke eine sehr wichtige Aufgabe im Rahmen der allgemeinen Förderung internationaler Verständigung gestellt. Seit der Gründung der Japanisch-Deutschen Gesellschaft in Tokyo am 30. Oktober 1911 ist es das unveränderte Bestreben dieser Gesellschaften, in beiden Nationen diese Freundschaft zu fördern und zu pflegen. Es bleibt unser Bemühen, uns dieser Vorbilder würdig zu erweisen. W i r danken auch an dieser Stelle den Regierungen beider Nationen und den mit der Wahrnehmung dieser Aufgaben betrauten Behörden, allen Förderern und Freunden für ihr Wohlwollen und ihre verständnisvolle Unterstützung und bitten sie, uns dies auch fernerhin zu gewähren. Dr. Georg Kerst Vorsitzender des Vorstandes
Die Drucklegung der vorliegenden Arbeiten wurde durch Subskriptionen weiter Kreise unterstützt. Besondere Förderung gewährten: D E R LANDESBEAUFTRAGTE FÜR DIE STAATSBÜRGERLICHE BILDUNGSARBEIT IN SCHLESWIG-HOLSTEIN D R . E . HESSENAUER DEUTSCHE O S T A S I E N - M I S S I O N INTER N A T I O N E S
Der Druck wurde ferner durch wertvolle Zuschüsse u. a. von den folgenden Seiten ermöglicht: JAPANISCHES GENERALKONSULAT GENERALKONSUL S U S U M U N A K A G A W A ZERSSEN &
Co.
KONSUL T H O M A S E N T Z ELECTROACUSTIC G . M. B. H . KIELER N A C H R I C H T E N G . Μ. Β. H .
Allen diesen Förderern unserer gemeinnützigen und ausschließlich öffentlichen Interessen dienenden Arbeiten sei herzlidist gedankt.
GÖTTERGLAUBE U N D GOTTESGLAUBE I N JAPAN D. Gerhard Rosenkranz Was geht in Japan vor? Ich meine nicht: politisch, geistig, wirtschaftlich und sozial. Darüber wird an anderer Stelle noch zu berichten sein. Unsere Frage bezieht sich auf das religiöse Leben. Was wir darüber erfahren, ist so bruchstückhaft und klingt zumeist so fremd, daß wir es mit unseren Vorstellungen von Japan als einem modernen nationalen Einheitsstaat nicht in Einklang zu bringen vermögen. Was bedeutet es, wenn schon vor ein paar Jahren auf Plakaten in Tokyo der Aufruf erschien: »Laßt die acht Millionen Götter Japans wieder auferstehen!« ? Was bedeutet es, wenn der Tenno wichtige Entscheidungen, die das Leben der Nation betreffen, seiner Ahnherrin, der Sonnengöttin, im Staatsheiligtum zu Ise meldet? Was bedeutet es, daß der Kronprinz im Jahre 1952 ihr seine Einsetzung als Kronprinz ebenfalls mitteilte; was, daß der derzeitige Ministerpräsident Hatoyama über seinen Amtsantritt im Jahre 1955 gleichfalls in Ise Bericht erstattete? Es sei bemerkt, daß Hatoyama als Methodist getauft wurde und früher eifrig den Gottesdienst besuchte. Was bedeutet es, daß in den Jahren 1945 bis 1952 die Zahl der buddhistischen Sekten von 28 auf 260, die der Shintö-Sekten von 13 auf 258 angewachsen ist und außerdem noch 120 neue religiöse Organisationen entstanden, die zumeist das Wort eines göttlichen Wesens als absolutes Gesetz verehren? Wir wollen versuchen, diese Vorgänge in ihren inneren Zusammenhängen zu überschauen, und, soweit uns das als Abendländern möglich sein wird, zu verstehen. I. Japans Nationalreligion ist der Shinto (sinojapanisch) oder Kami-nomichi (japanisch). Wir wollen sie nicht im Sinne einer dogmatisch festgelegten, statistisch genau erfaßbaren Religion ansehen, vielmehr als eine mythisch-magische Seinsordnung, die auch eine Fremdreligion wie den Buddhismus als zugehörig behandelt. Kami-no-michi heißt ins Deutsche übersetzt »Weg der Götter«. Eis ist dabei zu beachten, daß »Kami« alles Außergewöhnliche, sich der menschlichen Kontrolle Entziehende, alles Numinose, alles, was räumlich, zeitlich und gesellschaftlich supra (oben) ist, als Gott und göttlich ganz allgemein bezeichnet. Dies bezieht auch die Ahnengeister und Naturgottheiten im weitesten Sinne mit ein. Es gibt daher in Japan nichts, 1
was nicht »Kami«, also göttlich ist. Bäume und Berge, Flüsse und Meer, Steine und Schwerter, Küchengeräte und Papier, Tiere und Menschen. Sie alle besitzen die »Kami«-Eigenschaft. Man fürchtet sie, man erweist ihnen Ehrfurcht in kultischer Verehrung. Wir sehen ein großes, mächtiges und modernes Volk in einer nahezu ungebrochenen mythischen Weltschau leben, ein Volk, das mit besorgniserregender Schnelligkeit wächst und trotz seiner Niederlage seine Weltgeltung erhalten konnte. Dieses bedeutende Volk lebt im Zusammenhang mit seiner Weltschau in einer nahezu ungebrochenen magischen Weltbeziehung. Man errichtet den »Kami« Altäre, sucht ihre Gunst zu gewinnen, ihre Ungunst abzuwehren. Am besten nennen wir diese Form des Shinto den Volks-Shinto. Dieser Volks-Shintö durchdringt das ganze Volk, in den Großstädten wie auf dem Lande. In ihn eingebettet besteht der Sekten-Shinto. Ursprünglich waren es 13 Sekten, die schon im vorigen Jahrhundert von der Regierung als selbständige religiöse Organisationen anerkannt wurden. Sie haben Stifter, die sie göttlich verehren. Sie haben Glaubenssätze und Bekenntnisse und treiben mit Vorliebe Krankenheilungen und Propaganda. Kräfte des Volks-Shintö haben bei ihnen individuell-persönliche Gestalt gewonnen. Die bedeutendste unter diesen Shintö-Sekten ist im Abendland unter dem Namen Tenrikyo bekannt geworden. Die dritte Form des Shinto ist uns sicherlich noch aus der Zeit vor dem Jahre 1945 bekannt, sie ist als Staats-Shintö bezeichnet worden. Vielleicht trifft die Bezeichnung Reidis-Shinto ihr Wesen besser. Wir wollen »Reich« im Sinne der sehr alten Selbstbestimmung Japans verstehen, wie sie sich in den folgenden Auffassungen ausdrückt: »Unser Nippon-Land ist das sogenannte Gottheitsreich (shimmyo-koku = Reich der leuchtenden Gottheit)« oder »Unser Reich ist shinkoku (Gottesreich)«. Japan ist Shinkoku nicht nur, weil es als Götterland unter dem besonderen Schutz der Götter steht — nein, weil es sein Shinkoku-Sein als seine Bestimmung in sich trägt. Dieser Glaube des japanischen Volkes an sich selbst und seine Weltsendung hat im ReichsShintö absolute Geltung gefunden. Sie verpflichtet jeden Japaner. Dieser Glaube wurzelt audi im Volks-Shinto. Er wurde von der Regierung gefordert und gefördert. Im Jahre 1882 erklärte sie ihn zur Nicht-Religion. Hierdurch erwartete die Regierung, daß jeder Staatsbüger, welcher Religion er immer angehörte, seine staatsbürgerliche Loyalität dadurch bewies, daß er seine Forderungen erfüllte. Es ist an dieser Stelle unmöglich, die japanische Nationalreligion in ihrem Gesamtumfange darzustellen. Wir dürfen uns auch beschränken, denn in den drei Formen des Shinto liegen Tendenzen, die aufeinander zulaufen und in ihrem Brennpunkt seine Mitte erkennen lassen. Das ist 1. ein schon in den ältesten Schriften des Shintö festzustellendes Bestreben, 2
aus der Vielgestaltigkeit des Götterglaubens zur Einheit eines Gottesglaubens zu kommen. Dieses Streben trat in den letzten 150 Jahren immer stärker hervor; 2. eine unlösbare Verbindung von Religion und Staatsführung, wie sie sich in den Aussagen »Matsurigoto« (Kultisches und politisches Handeln sind ein und dasselbe) und »Sai-sei-itchi« (Shinto und japanischer Staat sind identisch) ausdrücken; 3. die Vorstellung vom Tenno als Menschwerdung des Göttlichen. Im Brennpunkt der drei Tendenzen steht als die hervorragendste Gestalt des japanischen Götterglaubens »Amaterasu-Omikami«, die Sonnengöttin und die Urahne des Tenno. Sie ist in wörtlicher Übersetzung ihres Namens »Die am Himmel erschienene große erhabene Gottheit«. Nach dem Mythos war sie die Tochter des Himmelsvaters Izanagi und der Erdmutter Izanami, das erlauchteste unter ihren Abermillionen Kindern. Nach einer anderen Überlieferung entstand sie aus dem linken Auge Izanagis, als dieser sich nach seiner Rüdekehr aus der Unterwelt vom Schmutze säuberte. Aus Izanagis rechtem Auge entstand damals der Mondgott Tsukiyomi-no-Mikoto, aus dem Schnauben seiner Nase beim Waschen der Gott des Regensturms SusanoWo-no-Mikoto. Jeder der drei Gottheiten wies Izanagi ihr Herrschaftsgebiet zu: der Sonnengöttin den gesamten Himmel bei Tage, dem Mondgott den Himmel bei Nacht und dem Gott des Regensturms das Meer mit seinem aufsteigenden, Regen bildenden Nebel. Zwischen Amaterasu und Susano-Wo kam es zu heftigem Streit, so daß sich die erzürnte Göttin schließlich in ihrer Felsenwohnung verbarg. Nun war es finster in der Welt. Darauf herrschte unter den Göttern große Not, und viele Versuche wurden angestellt, um die Beleidigte wieder hervorzulocken und der Welt das Licht zurückzugeben. Schließlich gelang es durch eine List. Dann wurde Susano-Wo zur Strafe auf die Erde verbannt. Auf der japanischen Hauptinsel Honshu, in der Landschaft Izumo, lebten er und seine Nachkommen in Feindschaft wider die Himmelsgötter. Als es Amaterasu endlich gelungen war, sie zur Anerkennung ihrer Herrschaft zu bringen, sandte sie ihren Enkel Ninigi mit dem Auftrag auf die japanischen Iseln hinab, Japan zu regieren. Ninigis Urenkel, Jimmu Tenno, brachte dann ganz Japan unter seine Botmäßigkeit. Er ist es, mit dem die offizielle Geschichtsschreibung im Jahre 660 v. Chr. die »ununterbrochene« und »in Ewigkeit« fortdauernde Linie der GottKaiser-Herrschaft, des Tennotums, beginnen läßt. Im Jahre 1940 beging Japan die 2400-Jahrfeier seines Geschichtsbeginnes. Die Tatsache, daß dieses Datum den Untersuchungen der Geschichtswissenschaft nicht standhält, durfte damals nicht geäußert werden. Dieser Beginn ist Jahrhunderte später anzusetzen. Das ist also, in groben Zügen gezeichnet, der Mythos der Amaterasu, wie er uns in den ältesten Schriften des Shinto, im Kojiki und Nihongi, überliefert 3
worden ist. Es ist ein Sonnenmythos. Amaterasu ist die japanische Sonnengöttin. Sie wird, wie ihr Bruder Mondgott, noch heute in Japan angebetet die Sonne in der Stunde ihres Aufgangs, der Mond vor allem in den Nächten seines vollen Glanzes. Und Naturgottheit, wie sie beide, ist auch ihr Bruder Susano-Wo. Mit dem Mythos von ihm und seiner Schwester haben sich Erinnerungen an die Frühgeschichte Japans verbunden. Im Zwist der beiden Geschwister liegt die Erinnerung an die Kämpfe zwischen zwei Stämmen, von denen der eine in Izumo siedelte, der andere erobernd von der Insel Kyüshü her vordrang. Amaterasu unterscheidet sich audi darin nicht von den anderen Göttern, daß sie sich nach Menschenweise bewegt, denkt, redet und handelt. In ihrer Güte, Geschicklichkeit und Frömmigkeit erscheint sie geradezu als das Muster einer vollkommenen Hausfrau, und ihre Art, die Waffen zu meistern und die Versammlungen der Götter zu leiten, macht sie zum Vorbild einer Führerin in Krieg und Frieden. Das alles tritt in der Schwarz-Weiß-Zeichnung, in der Susano-Wo als ein rechter Tunichtgut erscheint, noch deutlicher hervor. Die Sonnengöttin in der Gestalt der mater familias - man kann wahrlich seine Freude an solcher »Dichtung« des Mythos haben. So erzählt jeder echte Mythos. Und hier läßt er zudem erkennen, welche hohe Stellung Japan, im Gegensatz zu späteren Zeiten, der Frau im Gefüge seines sozialen Lebens zuerkannte. Das also ist Amaterasu, die nach der offiziellen national-religiösen und nationalpolitischen Auffassung Japans die Ahnherrin und Sdhutzpatronin des Tenno, des ganzen Volkes ist. Viele Adels- und Priesterfamilien Japans wählten Kami der Urzeit als ihre Ahngötter, d. h. sie leiten von ihnen die Herkunft ihres Geschlechtes ab und beten sie an. Anders verfuhr man mit Amaterasu als der Urahne des Tennö-Geschlechters. Dies ist in zweierlei Hinsicht beachtlich. Zum ersten fand in der Verehrung der alle anderen Kami überragenden Amaterasu der Wille, aus der Vielgestaltigkeit des Götterglaubens zur Einheit eines Gottglaubens zu kommen, seinen sichtbarsten Ausdruck. Zum anderen aber sollte Amaterasu, zumal seit Japan mit dem Westen in Berührung getreten war, von jeglicher Bindung an den Mythos gelöst werden. Dadurch wurde sie der Möglichkeit historischer Kritik entzogen. Weiter sollte der Eindruck vermieden werden, als ob die Verehrung Amaterasus, und mit ihr die des Tennö, eine religiöse Angelegenheit sei. Diese Verehrung aber wurde jedem Japaner ohne Unterschied des Geschlechtes, Alters, Standes und der Religion als staatsbürgerliche Pflicht auferlegt. So wurde der Reichs-Shinto zur »NichtReligion« erklärt ud Amaterasu zur wirklichen, geschichtlichen Ahnfrau des Tenno, - denn der Kult Amaterasu bildet das Herzstück des Reichs-Shinto. Überdies gewährleistete die Reichsverfasung jedem Japaner die Freiheit seiner Religion. Zwar wird noch von Amaterasu als der Sonnengöttin gesprochen, vor allem in Gesprächen mit Ausländern, aber im Grunde ist dies verpönt. In der Erziehung des Volkes, besonders seiner Jugend, geschah 4
Jahre hindurch alles, um die Vorstellung von Amaterasu als der Urahnin des Tenno, die wirklich einmal auf Erden lebte, ganz ausschließlich zu machen. Dem diente (und dient wohl auch heute noch) der Moralunterricht der Volksschulen. Seine Lehrbücher bieten eine Fülle Beispiele dafür. Danach ist folgendes Bild von ihr als der Schutzherrin Japans gültig geworden: »In fernster Vergangenheit der japanischen Geschichte erschien Amaterasu unter den Menschen, selbst ein Mensch von Fleisch und Blut und von ungewöhnlich gütigem Wesen. Dem Volk, das sie regierte, brachte sie großen Segen. Die Anfänge des japanischen Staates, der ewig auf dem Grundgesetz der Gott-Kaiser-Herrschaft ruht, gehen auf ihren ausdrücklichen Befehl zurück. Ihr Geist ist im Großen Kaiserlichen Schrein zu Ise eingeschreint. Dieser Große Schrein verdient die besondere Ehrerbietung eines jeden vaterlandsliebenden Japaners. Eine Wallfahrt nach Ise sollte jeder wenigstens einmal in seinem Leben unternehmen. Er sollte dort Gebet und Anbetung darbringen, besonders aber für das Gedeihen des Tenno-Hauses bitten. Das höchste Vorbild für solche Verehrung durch die Nation bietet der Tennö-Hof mit seiner Anbetung der Amaterasu. In dieser Einzigartigkeit seines völkischen Lebens, wie es in der ununterbrochenen, in den Gestalten der großen Eltern Izanagi und Izanami und ihres erlauchten Kindes Amaterasu beginnenden Tennö-Linie seinen Mittelpunkt hat, steht Japan unter allen Nationen auf Erden einzig da. Der japanische Staat ist älter und gesicherter als jede andere moderne Nation. Durch eine allgemeine Blutsverwandtschaft ihres herrschenden Stammes mit der nie unterbrochenen Tennö-Dynastie von göttlicher Abkunft weist er keine rassischen und sozialen Unterschiede auf. Alle echten Japaner sind Kinder der Götter.« (D. G. Holtom, The national faith of Japan, S. 137) Es fragt sich, ob aus dieser genealogisch-dynastischen Deutung der Amaterasu heraus ihre Gestalt nicht zum Mittelpunkt eines neuen, modern gehaltenen Staatsmythos geworden ist. Ja, mehr noch: Ist der Kult, wie er bis 1945 von der Regierung gefordert wurde, nicht doch audi Religion? Beide Fragen haben mich, als ich kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu religionskundlichen Studien in Japan weilte, sehr beschäftigt. Ich habe sie führenden Shinto-Gelehrten, wie dem im Abendland durch seine Veröffentlichungen bekannt gewordenen Professor Katö Genchi (geb. 1873) vorgelegt. Ohne Zögern wurden sie bejaht. Die Verehrung der Amaterasu unterscheidet sich in nichts von der Verehrung anderer Menschen-Kami, an denen der Shinto so reich ist. Zu ihnen gehören auch die im letzten Krieg im YasukuniSchrein zu Tokyo eingeschreinten gefallenen Soldaten. Ihre göttliche Verehrung ist längst in aller Öffentlichkeit wieder aufgenommen. In Ise und vor dem Tennö-Palast in Tokyo stehen die Anbetenden noch immer in der gleichen kultischen Haltung wie in den Kulträumen des Sekten-Shintö und in den 5
buddhistischen Tempeln. Die Priester des Reichs-Shintö sind zwar keine Kultbeamten mehr wie vor 1945, auch werden ihre Schreine nicht mehr vom Staat subventioniert, dafür steht ihre Tätigkeit nicht mehr wie damals im Widerspruch zur Erklärung der Regierung, ihre Funktionen seien nicht religiöser Art. Sie verkaufen weiter Talismane und Amulette, sie vollziehen Weihehandlungen, und ihre Töchter tanzen als Schreinjungfrauen heilige Tänze. II. Die Frage, ob der Reichs-Shintö nicht doch, entgegen den staatlichen Versicherungen, eine Religion sei, hat der japanischen Christenheit viel zu schaffen gemacht. Von der japanischen Christenheit kann man sagen, daß sie ihre Anhänger vorwiegend in den führenden Schichten des Volkes hat, nicht aber in der breiten Masse. Diese japanischen Christenheit hat eine Geschichte, wie kaum die Christenheit eines abendländischen Volkes. Ich meine jene Zeit um 1600 n. Chr. Sie ist als das »Christliche Jahrhundert« Japans bekannt geworden. Von den Jesuiten getragen, ging damals die christliche Verkündigung wie ein Feuer durch das Land. Die junge Kirche zählte zu jener Zeit Hunderttausende von Anhängern. Als dann die Zeit der Verfolgungen anbrach, haben viele ihre Glaubenstreue mit dem Tode besiegelt. Nach der Wiederzulassung des Christentums im vorigen Jahrhundert stand die japanische Christenheit vor einer ernsten Frage: Wie verhält sich der Glaube und das Bekenntnis zur einmaligen und ein für allemaligen Offenbarung Gottes zur Verehrung der Amaterasu und ihres Nachkommen, des Tennö, als menschgewordener Gott? Wurde die japanische Christenheit durch diese Verehrung nicht zu einer Entscheidung auf Leben und Tod gerufen? Anders als wir Abendländer ist der Ostasiate aus seinen Wesen heraus geneigt, jeder Entscheidung aus dem Wege zu gehen. Man hat es mir im Osten gelegentlich vorgehalten, daß gerade wir Deutschen in unserm Denken zu grundsätzlich und unnachgiebig seien. Kurzum, die japanische Christenheit erfüllte die Forderungen des Reichs-Shintö. Kleine fundamentalistische Kreise standen abseits. Die Congregation de propaganda fide in Rom hatte den Katholiken die Billigung gewährt. Die Protestanten suchten ihr Verhalten vor sich selbst zu rechtfertigen. Die Billigung Roms erkannte kritiklos an: der Reichs-Shintö sei nach einem Regierungserlaß keine Religion, überdies sichere die japanische Reichsverfassung jedem japanischen Christen Religionsfreiheit zu. Uneinheitlicher waren die Versuche der Protestanten, aus diesem Zwiespalt herauszukommen. Sie empfanden einen solchen und beschwichtigten ihn zum Teil auch mit dem Hinweis auf die staatliche Erklärung, d. h. sie erkannten die genealogisch-dynastische Deutung des Amaterasu-Mythos und ihre Folgerungen im Tennö-Kult an. Zum anderen Teil 6
suchte man in edit ostasiatischer Art eine Synthese. Man suchte aus ernstem Verantwortungsbewußtsein gegenüber dem eigenen Volke und dem eigenen Glauben zu einer Lösung zu kommen, deren innere Rechtfertigung möglich zu sein schien. Wäre es nicht möglich, so argumentierte man, den Tennö als vierte Person in die Dreieinigkeit aufzunehmen? Diese Frage legte mir ein Neutestamentier in einem christlichen College vor. Oder könnten wir uns nicht, so fragten andere, mit der Verehrung des Jesus der Synoptiker begnügen und den Christus des Johannes und Paulus zurückstellen? Dann, so meinten sie, verpflichtet uns die Gottesoffenbarung in Jesus nicht gar zu sehr. Dann behalten wir noch Raum, die Menschwerdung Gottes im Tenno anzuerkennen. Wir würden solche Haltung abendländisch mißverstehen, wenn wir sie als religiöse Indifferenz verurteilten. Das gilt audi für die Versuche, eine Synthese im Ansdiluß an eine Deutung des Amaterasu- und TennoMythos zu gewinnen. Man könnte sie religiös-philosophisch nennen, im Unterschied zu genealogisch-dynastischen. Sie ist aus einem Verständnis des Shinto herausgewachsen, das seinem Wesen angemessen und im Volke weit verbreitet ist. Die drei großen Erneuerer des Shinto: Kamono-Mabudii (1697-1769), Motoori Norinaga (1730-1801) und der große politische Kämpfer unter den Gelehrten der Kokugaku Hirata Atsutane (1776-1843) waren seine bedeutenden Verkünder. Diese japanische Deutung nimmt ihren Ausgang von den ersten beiden Sätzen des Kojiki. Danach standen drei Kami am Anfang der Welt: »Ame-no-Minaka-Nushi-no-Kami« (Herr der hehren Himmelsmitte), »Taka-Mimusubi-no-Kami« (Hoher, hehrer Erzeuger) und »Kami-Musubi-no-Kami« (Göttlicher Erzeuger). Der erste wird als das Urprinzip des Göttlichen verstanden, das vor der Entstehung jeglichen Lebens keimhaft vorhanden war und die Einheit alles Seienden darstellt. Die beiden anderen werden als die aus diesem Letzten, Absoluten, wirkenden Impulse gedeutet. Sie bewirkten alles geistige und kreatürliche Leben in der Welt. Nach dieser Auffassung ist die Kami-Dreiheit aus einer Trias zu einer Trinität geworden. Audi hier zeigt sidi wieder das starke Streben, zu einer Einheit des Gottesglaubens zu gelangen. Die übrigen achtzig Millionen oder Myriaden Kami, von denen der Shintö spricht, werden jedoch nicht verneint. Wir haben es somit nicht mit Monotheismus zu tun. Nun fährt die Deutung fort: Die persönliche Gestaltung jener primären Kami-Trinität ist am Himmel Amaterasu. Dafür beruft man sich auf ihre im Mythos oft erwähnte Zusammenarbeit mit Taka-Mimusubi, dem Schöpfungs-Kami des geistigen Lebens: die Leben spendende Sonne und der schöpferische Geist wirken zusammen. Beider Abkömmling ist Ninigi, der als erster mit der Herrschaft über Japan betraut wurde. Durch ihn wiederum ist jeder Tenno Abkömmling der Amaterasu. Und wie durch sie die vollkommene Einheit alles Geistigen, Stofflichen und Politischen verkörpert 7
wird, so schließt der Tenno in sich das Volk zu der Einheit zusammen. Der ursprüngliche japanische Titel lautet: »Sumera Mikoto«, d. h. »Der alles in sich einende Göttliche«. Wie Amaterasu höchster Kami am Himmel sei, so sei der Tennö höchster Kami auf Erden. Nur aus dem im Tenno zur Einheit zusammengeschlossenen Volk vermöge der Einzelne zu leben. In einer vom Kriegsministerium in Tokyo im Jahre 1938 herausgegebenen Schrift über die »Pflege des Soldatengeistes in der Kaiserlich Japanischen Armee« heißt es in der deutschen Fassung: »Der Tenno macht es sich zur Aufgabe, sein göttliches Amt zu entfalten und damit die Welt zu erleuchten. . . Um der göttlichen Aufgabe des Kaisers den Weg zu bereiten, müssen diejenigen, die nicht dieselbe Gottheit verehren, bekehrt werden, die Gottheit zu verehren, so wie man zuerst das Unkraut ausrottet, um einen Acker mit gutem Samen zu besäen.« Das Ergebnis audi dieser Deutung ist also: Bekenntnis zu Amaterasu und dem Tenno, zu der Einzigartigkeit beider Kami und zu der Einzigartigkeit der Sendung, die Japan in der Welt zu erfüllen hat. Der starke Absolutheitsanspruch des Reichs-Shinto tritt hier sehr deutlich heraus. Wie schon angedeutet wurde, haben christliche Kreise zumal dann, wenn ihr Glaube sie als unzuverlässige Staatsbürger erscheinen ließ, gern auf diese religiös-philosophische Deutung des Reichs-Shinto zurückgegriffen. Dabei leitet sie die Vorstellung von einem japanischen Urmonotheismus, der angeblich im ursprünglichen Shintö zu finden sei: der »Herr der hehren Himmelsmitte« sei mit dem Schöpfergott des Christentums, mit dem Jahwe des Alten Testaments, und jene Kami-Trias sei mit der christlichen Trinität identisch. Also sei es derselbe Gott, dem einst die Ahnen des Tenno dienten, dem heute die japanischen Christen dienen, ja, derselbe Gott, dem ganz Japan als »unbekanntem Gott« seine Verehrung darbringe. Solche Auffassungen werden von nicht wenigen Christen leidenschaftlich und mit einer oft beschämenden Primitivität in der Auslegung des christlichen Glaubens und der biblischen Texte vertreten. Demgegenüber ist mit Nachdruck zu sagen, daß sie von Ehrfurchtslosigkeit sowohl gegenüber dem Geist des Shinto wie gegenüber der Botschaft von Christus zeugen. Der Japaner soll ganz gewiß auch dann Japaner bleiben, wenn er Christ geworden ist. Er soll voll Liebe und Treue zu seinem Volk und Herrscher stehen. Aber es ist dem japanischen Christen durch seine Entscheidung für Christus eine Grenze gesetzt, über die er nicht zurück kann. Über diese Grenze kann er sich auf die Dauer durch keinen ostasiatischen Kompromiß hinwegtäuschen. Ihre Anerkennung mag ihm Schmerzen bereiten, ihn aber auch zum höchsten Dienst an seinem Volke frei machen. Noch aber steht Japan in einer ungebrochenen mythischen Schau der Welt. Es steht in einer ursprünglichen, chthonisdi-dämonischen, heidnischen Seinsordnung. Daran hat auch seine Aufgeschlossenheit gegenüber der modernen Welt nichts geändert. Wissenschaft und Technik vermögen die 8
mythisch-magische Seinsordnung eines Volkes wohl zu profanieren, nicht aber zu brechen. Ich fasse zusammen: Shinto ist, nach einem Wort Wilhelm Gunderts, eines der besten Kenner der japanischen Religionsgeschichte in Deutschland, »der Glaube des japanischen Volkes an sich selbst, betätigt in den Formen einer primitiven Naturreligion«. Er ist audi in vollem Umfange dort Religion, wo die japanische Regierung meinte, ihm organisatorisch als ReichsShintö eine Sonderstellung geben zu müssen, d. h. wo sie ihn zur Nicht-Religion erklärte und als nationalen Kult für jeden Japaner verpflichtend machte. Zwei Züge kennzeichnen ihn heute in dieser Gestalt. Das eine ist ein starker Zug zur Vereinheitlichung und Kami-Auffassung. Alles in der Welt ist Kami, alles in der Welt der Menschen und der Natur. Das ist der pan-kamistische Hintergrund und Quellgrund der Gottesauffassung des Shintö. Die alle Individuationen umschließende Ureinheit, aus der alle Lebensgestaltungen aufzucken wie Protuberanzen aus der Sonne, ist in »Ame-no-MinakaNushi« gegeben, sie ist in Amaterasu am Himmel verkörpert, im Tenno auf Erden sichtbar. Der Verehrung dieser drei Kami liegt eine Einheitlichkeit des religiösen Empfindens zugrunde, die berechtigt, in ihr einen Kult henotheistischer ( = Absolutsetzung einer Gottheit) Gottesverehrung zu sehen. Nur müssen wir beachten: mit solcher Feststellung und Einordnung haben wir zwar unserem abendländischen Verlangen nach logischer Systematisierung Genüge getan - aber der Japaner würde darüber lächeln. Uns treibt unsere Ratio zu möglichster Klarheit, auch in religiösen Fragen, ihn hält sein Gefühl gerade in religiösen Fragen in bejahter Unklarheit. Seine religiöse Terminologie ist so grenzenlos, so fließend und gleitend, daß es kaum Aussichtsloseres und Quälenderes gibt als Religionsgespräche eines Europäers mit japanischen Priestern. Wir müssen daher auch die Frage auf sich beruhen lassen: Wie ist die Doppelstellung des Tenno zu erklären - auf der einen Seite ist er »menschgewordener Gott«, von seinem Volke als soldier verehrt, auf der anderen Seite ist er der Hohepriester seines Volkes, der jeden Morgen im Allerheiligsten seines Palastes, im Kashiko Dokoro, vor allen anderen Göttern und Ahnen der Amaterasu seine Anbetung darbringt. Für einen Japaner ist dies keine Frage, sondern eine Gegebenheit, die ihm das Allerheiligste des Palastes zugleich zum Allerheiligsten des Reiches werden läßt. Der zweite Zug, der den Reichs-Shintö als »Glauben des japanischen Volkes an sich selbst« kennzeichnet, ist die Gewißheit, daß Japan als Shinkoku (Gottheitsreich) auserwähltes Volk ist und einen Auftrag an die Welt hat. Ich gebe die folgenden Sätze aus einer Schrift wieder, die vor dem Kriege ausländische Besucher unter dem Titel »What is Kokutai Nippon?« in die Grundlagen des Kokutai, d. h. der mythischen Ordnung Japans einführen wollte: »Es ist kein Wort darüber zu verlieren, daß Japan als ein Land, das von 9
den Göttern gegründet wurde, ein göttliches Land ist. . . Bei der Verwaltung des Landes, das wir von den Göttern empfangen haben, gilt es in erster Linie, sie anzubeten. Wir haben ein Land, das von den Göttern gegründet wurde. Also müssen sie in allem das Subjekt sein. Die Tenno, die Fortsetzer der Götter, tragen als Götter in Menschengestalt den Geist der Götter in sich, sie sind Erben der Aufgabe der Götter. Sie bewahren das Land als Eigentum der Götter. Ist es nötig, solche unsauberen Dinge wie chinesische Gedanken oder ausländische Theorien nach Nippon zu bringen und damit die ausgezeichnete Grundlage des Staates zu verunstalten? . . . Den Thron hat Jimmu Tenno nicht selbst geschaffen, sondern geerbt. Die Erbreihe begann bei der Sonnengöttin und verlief von Generation zu Generation durch das Götterzeitalter . . . Der Meiji Tenno war wirklich eine Erscheinung Gottes . . . Warum wurde der japanische Staat auf dieser Erde gegründet? Um die ganze Welt zu einigen. Jeder Gott, jeder Buddha, jeder Heilige, der einst gelebt hat, ist ein Ausleger und Erklärer des Nippon Kokutai. Wenn die ganze übrige Welt einsieht, was Nippon bedeutet, als ein Land, das beauftragt ist, »absoluten Frieden« zu verwirklichen, dann werden wir mit unserer Aufgabe beginnen, den Frieden zu sichern. Dies Werk hat zwei Teile: 1. geistige Durchdringung, d, h. positive Kulturarbeit in der Ausführung der Himmlischen Aufgabe, die Menschen durch Kokutai-Gerechtigkeit zu erleuchten, 2. militärische Befriedung, d. h. negative Machtbezeugung in der Kontrolle der gesetzlosen und ungehorsamen Menschen in 3er Welt durch die heilige Tapferkeit von Göttern und Weisen. Die Erfüllung dieser Aufgabe ist die Vollendung des Himmlischen Auftrags.« III. Als Japan im August 1945 der Übermacht Amerikas erlag und danach von dem amerikanischen General MacArthur der Reichs-Shinto als organisierter, von der bisherigen japanischen Regierung gepflegter Kult verboten wurde, glaubten im Abendlande viele, daß der Mythos Japans endgültig überwunden worden sei. Es wurde angenommen, daß die Stunde des Christentums in Japan gekommen sei. Damals erschienen in Amerika und Europa Aufrufe mit der Überschrift: »Japan braucht 100000 Missionare!« Diese Beurteilung der Lage hat sich längst als Täuschung erwiesen. Sie war es von Anfang an. Ich erinnere nur an ein Wort von Nohara Komakichi: »Die Tugenden des Japaners sind in der Dreieinigkeit Scho - Tijiku - Bai = 10
Kiefer - Bambus - Aprikose symbolisiert.. . Die Geschmeidigkeit des Bambus läßt uns die Stürme überstehen, die unsere Nation von Zeit zu Zeit überbrausen. So wie der Bambus, schmal und scheinbar zerbrechlich, sich immer wieder nach den schlimmsten Stößen aufrichtet, so heben audi wir immer wieder den Kopf. Die Lehre, die der Fremde daraus gewinnen mag, ist die, niemals nach dem Äußeren zu urteilen.« Japan hat sich tief gebeugt und bald wieder aufgerichtet. Wir würden auch diesen Vorgang der Wiederaufrichtung als Abendländer völlig falsch verstehen, wenn wir ihn mit den uns sehr geläufigen Vokabeln »Opportunismus« oder »politische Reaktion« bezeichneten. Hier sind tiefste, urtümliche Kräfte des japanischen Volkes am Werk, jene Kräfte einer mythischen Seinsordnung, von denen wir gesprochen haben. Nach der bekannten Kundgebung des Tenno vom Neujahrstag 1946 - er sei nicht göttlich, und das japanische Volk sei anderen Rassen nicht überlegen und nicht zur Weltherrschaft bestimmt - gab das Kaiserliche Kabinett alsbald eine Erklärung zur neuen Verfassung heraus. In ihr heißt es, Kokutai bedeute die unveränderliche und feierliche Tatsache, daß das japanische Volk auf den Tennö wie auf den Mittelpunkt seiner Anbetung blicke, tief im Herzen mit ihm verbunden. Dadurch sei die ganze Nation eins. Dies bilde die Grundlage der Existenz Japans. Bereits im Februar des Jahres 1955 erklärte der Erziehungsminister, er wolle in den Volksschulen Tennö-Kurse einführen. Zwar solle damit nicht die Vorkriegskonzeption des TennöSystems wiederholt werden, aber die Kinder müßten frühzeitig lernen, daß nach der Reichsverfassung der Tenno das »Symbol des Staates« sei. Wenn neuerdings Bestrebungen sich abzeichnen, die auf eine Revision der Verfassung hindrängen, so ist ein Grund dafür, daß man die Bezeichnung des Tennö als Symbol des Staates nicht für ausreichend hält. Es entsteht deshalb die Frage, wie weit die japanische Christenheit darauf vorbereitet sei, mit den wieder vor ihr auftauchenden Problemen fertig zu werden. Wollen wir uns wundern, daß die japanische Christenheit gegenüber einer so fest in sich geschlossenen mythischen Ordung, wie wir sie vorstehend kennengelernt haben, klein und schwach geblieben ist? Überdies hat diese mythische Ordnung im Buddhismus einen mächtigen Bundesgenossen. Nach fast 100 Jahren christlicher Verkündigung in Japan zählt die Christenheit dort nicht mehr als 322135 Protestanten, 227 063 Katholiken und 34391 Orthodoxe, also insgesamt 583589 Christen. Was will dies aber bedeuten bei rund 90 Millionen Japanern? Die christlichen Kreise in Japan berichten von beachtlichen Fortschritten und Erfolgen. Sie entsprechen jedoch zahlenmäßig nicht im geringsten der Bevölkerungszunahme und dem Aufwand an Kraft und Mitteln. Im Unterhaus des japanischen Parlaments beträgt die Zahl der christlichen Abgeordneten heute 15, das sind 3,2°/o der insgesamt 467 Abgeordneten - während die Christen kaum 0,5% der Bell
völkerung ausmachen. Unter diesen Abgeordneten befindet sich ein Katholik; von den 14 protestantischen Abgeordneten gehören 10 dem Kyodan an, der »Kirche Christi in Japan«. Der Kyodan umfaßt 63% aller evangelischen Christen in Japan. Dr. Kagawa baute sein soziales Werk als sichtbaren Beweis christlicher Nächstenliebe auf. Es fand die Achtung weiter Volkskreise und auch die Anerkennung der Regierung. Aber es besteht die Gefahr, daß auf diese Weise ein Bezirk christlichen Lebens geschaffen wird, in dem allerhand christliche Ideen begeistert kultiviert werden, in dem Fortschritte und Erfolge statistisch nachweisbar sind. Im Grunde aber fallen keine Entscheidungen, ja, Entscheidungen brauchen nicht einmal gewagt zu werden. Es fehlt in Japan nicht an Sympathie mit dem Christentum, aber sie erreicht nicht die erforderliche Tiefe. Nur in dieser Tiefe fallen endgültige Entscheidungen des christlichen Glaubens. Das Bekenntnis zu Christus duldet keine Neutralität und läßt keine ostasiatischen Kompromisse zu. Die heutige Situation ist ihrem Wesen nach die alte. Deshalb erwachsen den jungen Kirchen Aufgaben, die nur sie allein erfüllen können. Im Jahre 1951 ordnete das Erziehungsministerium an, daß bei Anlässen, die in besonderer Weise die ganze Nation beträfen - ζ. B. Unterzeichnung des Friedensvertrages in San Franzisko und Tod der Mutter des Tenno das »Mokuto« in den höheren Schulen eingeführt werden solle. Mokuto ist der im Shinto verwurzelte Brauch, sidi in stiller Verehrung der Geister der Toten zu sammeln. Aus den Kreisen der Missionare erhob sich Protest. Die Einspruch Erhebenden sahen in seiner Einführung eine Verletzung der von der Verfassung zugesicherten Religionsfreiheit. Bezeichnenderweise war der Protest aus den Kreisen der japanischen christlichen Kirchen schwächer. Das Ministerium erklärte demgegenüber, daß »Mokuto« zwar ein religiöses Wort sei, aber nicht auf eine spezifische Religion sich beschränke, sondern weit genug sei, alle Religionen einzuschließen. Die japanische Öffentlichkeit nahm diese Erklärung als ausreichend entgegen. Die Christen hingegen wiesen mit Recht darauf hin, daß dies dieselbe L a g e sei wie vor dem Kriege. Damals habe die Regierung von jedem Japaner die Verbeugung vor den Staats-Schreinen mit der Begründung gefordert, das sei keine religiöse, sondern eine rein nationale Handlung. Es bestehe jetzt nur der Unterschied, daß die Regierung nicht mehr zwischen Religion und Nicht-Religion unterscheide, sondern zwischen »Religion im besonderen Sinn« und »Religion im allgemeinen Sinn«. »Religion im allgemeinen Sinn« ist das, was wir als mythischmagische Seinsordnung bezeichnet haben. Als sich christlicher Protest gegen die Wallfahrt des Ministerpräsidenten Hatoyama nach Ise erhob, erschienen in der Presse Gegenstimmen. Sie wiesen auf die Unaufgebbarkeit des Shinto hin und begründeten diese Auffassung »im Namen der ganzen Nation« mit dem bezeichnenden Hinweis, »daß die japanische Kultur auf dem Shinto beruhe«. Als im Jahre 1954 der Wiederaufbau des Ise-Schreins zu seinem 12
Abschluß kam, wurde die Teilnahme an dieser Feier für die Schulen verbindlich gemacht. Dagegen erhoben die christlichen Lehrer- und Elternvereinigungen Einspruch. Am Rande darf wohl vermerkt werden, daß dieser Schrein alle zwanzig Jahre erneuert wird. Der Abbruch und Wiederaufbau war durch den Krieg verzögert worden. Jeder Japaner, der solchen Protest erhebt, schließt sich aus der Volksgemeinschaft aus. Dies gilt für den Bauern, der sich dem Besuch des DorfSchreins entzieht, wie sich jedes Familienmitglied, das den Ahnenkult verweigert, aus der Sippengemeinschaft ausschließt. Man kann deshalb wohl mit einigem Recht sagen, daß auch heute wie zur Zeit der Christenverfolgungen im siebzehnten Jahrhundert, das Wort gilt: das Kokutai sei dem Gott der Christen zuwider. Wie vor ein paar Jahrzehnten ist das von Kato Genchi geprägte Gleichnis gültig, daß Japaner sein und Shintöist sein so identisch seien wie die Winkelsumme eines Dreiecks gleich seiner zwei Rechten sei. Es ist die mythisch-magische Seinsordnung, die der Christenheit in Japan gegenübersteht. Die japanische Christenheit mag die Möglichkeiten sehen, die ihr in den Bemühen japanischer Religion, zu einer einheitlichen Gotteserkenntnis zu gelangen, und in dem brennenden Nationalbewußtsein, das in ihr lebendig ist, gegeben sind. Wir können ihr Mut machen, diese Möglichkeiten aufzugreifen. Wir müssen sie aber zugleich immer wieder warnen, daß mit der Übernahme scheinbar monotheistischer Gedanken und mit einem oberflächlichen Einbau nationalreligiöser Vorstellungen nichts getan ist. Die christliche Kirche in Japan wird sidi das Große, das sie als eine aus dem Innersten der Christusbotschaft christliche und aus der Tiefe ihres Volkes japanische Kirche ihrem Volk geben kann, in inneren und äußeren Kämpfen selbst erringen müssen. Wir aber können ihr zeigen, daß wir willens und fähig sind, an der Lösung von Fragen mitzuarbeiten, die zwar in anderer Gestalt, aber doch mit gleicher Unerbittlichkeit und mit derselben entscheidungsvollen Bedeutung audi uns bedrängen.
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DIE JAPANISCHE SOZIALVERSICHERUNG Von Dr. Peter Quante Bevor wir uns mit dem eigentlichen Thema der japanischen Sozialversicherung befassen, müssen wir einen kurzen Blick auf die japanische Bevölkerung und ihre Berufsgliederung werfen, damit wir uns ein Bild davon machen können, in welchem Umfang überhaupt eine Sozialversicherung oder allgemeiner, eine soziale Sicherung in Frage kommen kann. Nach den neuesten vorliegenden Zahlen (von Mitte 1956) leben in Japan 89,9 Millionen Einwohner (gegenüber 50,6 Mill, in der Bundesrepublik Deutschland), das bedeutet dort 243 Menschen auf den qkm, bei uns 206 Menschen. Von der gesamten japanischen Bevölkerung sind 43,6 Mill, männlich und 45,7 Mill, weiblich, ferner 42,54 Mill. Erwerbspersonen = 48 vH der Gesamtbevölkerung; bei uns sind es 49 vH. Von der männlichen Bevölkerung Japans sind 24,54 Mill, oder 56 vH erwerbstätig (bei uns 66 vH), von der weiblichen Bevölkerung 18,1 Mill, oder 40 vH (bei uns 34 vH). Während also im Vergleich beider Länder der Anteil der Erwerbspersonen überhaupt ziemlich gleich ist, gibt es bei uns unter den Männern mehr und unter den Frauen weniger Erwerbspersonen als in Japan. Erheblich größer aber sind die Unterschiede hinsichtlich der einzelnen Wirtschaftsabteilungen und sozialen Schichten. So gehören in Japan von allen Erwerbspersonen immer noch 44 vH zur Land- und Forstwirtschaft, Jagd und Fischerei, bei uns nur 23,2 vH, umgekehrt dort nur 17,2 vH zur Verarbeitenden Industrie, bei uns 30,8 vH, dort 13,1 vH zum Handel, bei uns nur 9,6 vH. Und schließlich sind von allen Erwerbspersonen in Japan 16,32 Mill. = 38,2 vH Lohn- und Gehaltsempfänger, bei uns 15,63 Mill. = 70,7 vH. Von den männlichen Erwerbspersonen sind in Japan 46,5 vH, von den weiblichen 27,2 vH Lohn- und Gehaltsempfänger, bei uns sind die entsprechenden Anteile 76,6 und 60,5 vH. Insofern ist also die Entwicklung in Japan noch nicht so weit gediehen wie bei uns und im übrigen Westen, sondern dort ist, wie ersichtlich, sowohl der Anteil der Landwirtschaft usw. wie vor allem der Anteil der selbständigen Personen und der mithelfenden Familienangehörigen noch erheblich größer als bei uns, wo allerdings vor etwa hundert Jahren nodi ganz ähnliche Verhältnisse geherrscht haben. Über die Entwicklung der modernen japanischen Wirtschaft können wir in einem neu erschienenen Werk »Wirtschaftssysteme des Westens«, Studien zur Ökonomik der Gegenwart, hrsg. von den Professoren v. Beckerath und 15
Salin (Basel und Tübingen 1957, S. 128 ff.) aus der Feder des Japaners GenΙάά-Abe folgendes nachlesen: Er spricht über Wettbewerb und Monopol in der japanischen Wirtschaft und führt aus: »Der japanische Kapitalismus hat sich von Anfang an anders entwickelt als der Kapitalismus westeuropäischer Prägung. Der Druck der fortgeschrittenen europäischen und amerikanischen Mächte hatte Japan gezwungen, der kapitalistischen Wirtschaft beizutreten. Die innere Reife für die Umwandlung einer feudalen in eine moderne Gesellschaft fehlte indessen weitgehend. Die Meiji-Regierung (1868-1912 Kaiser Mutsuhito, bekannt als MeijiTennö, als Kaiser der »erleuchteten Regierung« - unter seiner Regierung verwandelte sich Japan in einen modernen Rechtsstaat und stieg zur Großmacht auf -) unternahm sogleich Anstrengungen, die moderne Industrie im Lande zu etablieren, um die Unabhängigkeit des Staats aufrechtzuerhalten. . . . Der japanische Kapitalismus entwickelte sich eher in der Form des Staatskapitalismus als des freien Kapitalismus. Die japanische Wirtschaft verzeichnet seit der Meiji-Ära ein im Vergleich zu anderen Ländern sehr rasches Wachstum, und zwar im Zeichen staatlicher Führung und nicht unter einem Regime freien Wettbewerbs. . . . Auf der einen Seite standen gigantische Staatsunternehmungen, die sich dank der Regierungshilfe stark entwickeln konnten, sowie große monopolistische Unternehmen, die hauptsächlich in den Händen von »zaibatsu« konzentriert waren; auf der anderen Seite gab es eine Unzahl von äußerst kleinen Bauernhöfen und kleinen, nicht modernisierten Unternehmungen. . . . Im Gefolge der Kapitulation im Zweiten Weltkriege erlegten die Alliierten der japanischen Wirtschaft im Rahmen ihrer Demokratisierungspolitik eine Landwirtschaftsreform und die Auflösung der zaibatsu auf. Der Bevölkerungsdruck hat sich jedoch seit Kriegsende verstärkt, und die hieraus resultierende Armut konnte noch nicht überwunden werden. Der wirtschaftliche Wiederaufbau in der Nachkriegszeit wurde mit Hilfe von staatlichen Investitionen, hauptsächlich in Großunternehmen, durchgeführt, so daß die wirtschaftliche Macht sich wiederum bei den ehemaligen zaibatsu konzentriert. . . . « Hier noch einige Zahlen zur Kennzeichnung der neuesten Entwicklung, die ich der Schrift »The Steel Industry of Japan« (hrsg. von der Japan Iron and Steel Federation) entnehme: Die japanische Eisen- und Stahlproduktion betrug in der Zeit 1942/43 16,7 Mill, t, sank bis 1946 auf 1,2 Mill, t ab und stieg dann wieder 1950 auf 10,6 und 1956 auf 25,7 Mill, t an. Die Entwicklung der »Arbeitsproduktivität« - je Beschäftigten - ergibt sich aus der folgenden Gegegenüberstellung: Setzt man jeweils die Zahlen von 1950 gleich 100, so haben sich für die Jahre 1953 und 1956 und für den Mai 1957 nacheinander diese Verhältniszahlen herausgebildet: Die Eisen16
und Stahlproduktion ist auf 121,0 - 177,6 - 224,0 gestiegen, die Beschäftigung nur auf 102,8 - 99,5 (leichtes Absinken!) - 109,5, die Produktivität je Beschäftigten demnach auf 117,7 - 178,5 - 204,5. Das heißt also, ein Arbeiter der Eisen- und Stahlindustrie schafft an seinem Platz jetzt durchschnittlich gut das Doppelte wie vor sieben Jahren! Dabei soll hier nicht die Frage erörtert werden, welchen weiteren mitwirkenden Faktoren diese Produktivitätssteigerung zu verdanken ist. Ich hoffe, mit diesen Angaben die Tendenzen der japanischen Wirtschaftsentwicklung einigermaßen objektiv charakterisiert zu haben. Vor diesem Hintergrunde ist es verständlich, daß Japan erst wesentlich später mit einer Sozialversicherung beginnt als Deutschland, das bekanntlich in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts die wichtigsten Zweige der Sozialversicherung schuf. J a p a n ist eigentlich erst mit dem Ende des 19. J a h r hunderts in das Zeitalter des industriellen Aufschwungs eingetreten, wie auch Katsuj6 Kuge, der Chef der Sozialversicherungsabteilung im Ministerium für soziale Wohlfahrt Japans, im »Bulletin der internationalen Vereinigung f ü r soziale Sicherheit« 1 feststellt. Immerhin hat es dann als erstes Land Asiens seine Sozialversicherung mit dem Gesetz über die Krankenversicherung der Arbeiter von 1922 begonnen. Dieses Gesetz ist allerdings wegen des großen Erdbebens von 1923 erst Mitte 1926 in Kraft getreten. Professor Saburo Shirasugi von der Universität Kobe bezeichnet (in der »Deutschen Versicherungszeitschrift f ü r Sozialversicherung und Privatversicherung« 2 ), das dortige Sozialversicherungswesen ausdrücklich als »ein Produkt der Staatspolitik, das in Anlehnung an das europäische Vorbild geschaffen wurde«. Und zwar tauchte nach ihm die Frage des Arbeitsschutzes und damit der Sozialversicherung erst nach dem Japanisch-Russischen Kriege (1905) auf, also in der Zeit, in der das kapitalistische Wirtschaftssystem in J a p a n eine große Verbreitung erlangte. 1911 wurde in diesem Zusammenhang das »Fabrikgesetz« erlassen, das zum ersten Mal die Unternehmerhaftpflicht für Betriebsunfälle vorschreibt. Die eigentliche staatliche Zwangsversicherung entwickelt sich dann erst als Folge der schweren wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse nach dem I. Weltkriege. Besonders aber nach der Niederlage Japans im II. Weltkriege wurde die Sozialversicherung zu einem der erfolgreichsten Schutzmittel der Bevölkerung, vor allem der Arbeitnehmer und ihrer Angehörigen, gegen die Folgen der zerrütteten Wirtschaftslage. So entstanden zwischen 1922 und 1953 nach der Krankenversicherung eine soziale Unfallversicherung, eine Volkskrankenversicherung, eine Arbeiterrentenversicherung und eine A r beitslosenversicherung; daneben sind Unterstützungseinrichtungen f ü r Beamte zu nennen, wie ζ. B. der Lehrerhilfsverein mit 643 000 Mitgliedern. Auch hier also begann zwar die Sozialversicherung nur mit den Berg- und 1
7. Jg. 1954, Wien
* 8. Jg. 1954, Berlin, Bielefeld, Mündien 17
Fabrikarbeitern, wurde aber später auf weitere Volkssdiiditen erweitert. Die Zahl der einbezogenen Personen schwankt - nach Angaben für 1953 je nach dem Versicherungszweig zwischen 63 und 71 vH der beschäftigten Personen bzw. der Volksangehörigen, die in der betreffenden Versicherung in Frage kommen; bei der Volkskrankenversicherung ist der Anteil allerdings nur 53 vH. Für August 1956 wurden durch eine besondere Untersuchung des »Rates der Sozialen Sicherheit« (vergl. The Oriental Economist, August 1957, Tokyo) folgende absolute und Verhältniszahlen festgestellt: Millionen vH der Beschäftigten Krankenversicherung 12,5 73 Arbeitslosenversicherung 11,9 70 Rentenversicherung 11,5 67 Unfallversicherung 13,6 80 Nimmt man bei der Krankenversicherung die Familienangehörigen der Versicherten und die Mitglieder der Volks-Krankenversicherung hinzu, so ergeben sich insgesamt 61 Millionen = 68 vH der japanischen Bevölkerung; nicht geschützt gegen Krankheit sind also 29 Millionen = 32 vH. Von den Beschäftigten selbst sind nicht geschützt 4 Millionen in Betrieben mit weniger als 5 Beschäftigten. Wenn wir nunmehr zu den Einzelheiten der japanischen Sozialversicherung übergehen, so ist zunächst die Krankenversicherung zu behandeln, soweit sie Pflichtversicherung für Arbeiter und Angestellte ist. Sie umfaßte Ende 1953 rund 8 Millionen Versicherte. Die Träger der Krankenversicherung sind entweder Einrichtungen der Regierung oder besonders zugelassene Krankenversicherungsgesellschaften - etwa entsprechend unseren Ersatzkassen. Die Leistungen bestehen genau wie bei uns aus Sachleistungen und Barleistungen. Die Krankenpflege umfaßt medizinische Hilfe jeder Art einschließlich Krankenhauspflege, Zahnhilfe und Gewährung von Arznei und anderen Heilmitteln. Die Barleistungen umfassen das Krankengeld (ursprünglich auch bei Unfällen), den Ersatz der Entbindungskosten, Wochengeld, Stillgeld, audi Ausgaben für die Familienhilfe. In die Beiträge teilen sich Versicherte und Arbeitgeber je zur Hälfte. Der Normalsatz ist jetzt 6 vH des Lohnes; außerdem gibt es Staatszuschüsse. Sonderregelungen bestehen für die Seeleute und für die Tagelöhner, die sich je in einer eigenen Pflichtversicherung befinden, die bei den Tagelöhnern 352 000 Versicherte umfaßt. Für sie sind die Sachleistungen fast die gleichen wie bei der allgemeinen Krankenversicherung, es gibt aber für sie keine Barleistungen. Historisch ist daran zu erinnern, daß schon im 16. Jahrhundert in einigen Bergbaubetrieben Maßnahmen üblich waren ähnlich den heutigen Vereinen auf Gegenseitigkeit, die sich vor allem im 19. Jahrhundert entwickelt haben. Zwischen 1890 und 1911 gab es dann schon besondere Regelungen in der 18
Form eines Regulativs für Bergbaubetriebe, eines Fabrikgesetzes, einer Fürsorgeordnung f ü r Staatsbedienstete. Nach einem eingehenden Studium besonders der deutschen Krankenversicherung erging dann das bereits erwähnte Gesetz von 1922; es galt (seit 1927) in allen einschlägigen Betrieben mit mindestens 10, jetzt mit mindestens 5 Betriebsangehörigen und ist bis zum März 1954 24mal geändert worden, vor allem zwecks Angleichung und Erweiterung der Leistungen. 1947 ist die Unfallversicherung ganz aus der Krankenversicherung herausgenommen worden. Die Krankenversicherung gilt grundsätzlich f ü r die Versicherten und ihre unterhaltsberechtigten Angehörigen (»Familienhilfe« im Sinne unserer Bezeichnung). Sie will auch den Gesundheitszustand und die hygienischen Verhältnisse dieses Personenkreises durch geeignete Mittel verbessern, also durch vorbeugende und »Rehabilitations«-Maßnahmen. Seit 1943 sind in die Krankenversicherungspflicht auch die Angestellten einbezogen, andrerseits unterliegen ihr nicht unständig Beschäftigte und Saisonarbeiter. Die in den nicht versicherungspflichtigen Betrieben Beschäftigten haben das Recht auf eine freiwillige Versicherung mit Genehmigung des Provinzgouverneurs und bei Einverständnis von mindestens der halben Belegschaft. Eine freiwillige Weiterversicherung ist möglich nach 2 Monaten Pflichtversicherung f ü r 6 Monate, mit Zustimmung des Bezirksgouverneurs; diese Bestimmung ist besonders wichtig in Fällen von Arbeitsplatzwechsel. Seit 1927 stiegen bis 1953 die versicherten Arbeitsstätten - die der Regierungsversicherung unterliegen - von 43500 auf 193 000, die Versicherungsgesellschaften von 316 auf 820, die Versicherten von 1,9 auf 7,5 Millionen. Die Leistungen der Krankenversicherung ähneln übrigens weithin den bei uns üblichen: Es herrscht freie Arztwahl, der Versicherte hat bei der ersten Untersuchung einen geringen eigenen Betrag zu entrichten. Dabei umfaßt die medizinische Hilfe die ärztliche Untersuchung, die Gewährung von Arzneien und sonstigen Heilmitteln, die ärztliche Behandlung, chirurgische Eingriffe und sonstige Heilpflege wie Massage usw., Krankenhauspflege, Ernährung und Fahrtkosten. Die Leistungsdauer beträgt 3 Jahre. Das Arzthonorar war ursprünglich pauschal festgesetzt, seit 1943 gilt ein Punktsystem nach Tarifen des Sozialministeriums. Seit 1949 besteht endgültig eine - geringe - Kostenbeteiligung der Versicherten. Als Krankengeld werden vom 4. Tage der Arbeitsunfähigkeit ab 60 v H des täglichen Normallohnes gewährt, bei Krankenhauspflege für Alleinstehende nur 40 vH; dies auf die Dauer von 6 Monaten, bei Tbc von 18 Monaten. In der gleichen Höhe wird Wochengeld gezahlt auf die Dauer von höchstens 84 Tagen bei Arbeitseinstellung infolge der Niederkunft. Das Entbindungsgeld beträgt 50 v H des Normalmonatslohns, aber in Krankenhäusern, Kliniken usw. nur 25 vH, das Stillgeld 200 Yen monatlich 6 Monate hindurch. Ein 19
Sterbegeld in Höhe eines Normal-Monatslohnes wird an den Verwandten (oder audi einen Fremden) gezahlt, der den Verstorbenen bestattet oder einäschern läßt. Als Familienhilfe erhalten Verwandte in gerader Linie, Ehegatten (audi eine Frau, die nicht formell verheiratet ist), Kinder und andere Mitglieder der Hausgemeinschaft, die der Versicherte überwiegend unterhält, gleiche Sachleistungen der Krankenhilfe wie der Versicherte selbst, müssen aber die halben Kosten tragen. In bestimmten Fällen sind hier auch Barleistungen zulässig. Audi Sterbegeld, Entbindungs- und Stillgeld ist für Angehörige von Versicherten seit den 40er Jahren zuständig. Bei Verlust der Versicherten-Eigenschaft (ζ. B. durch Aufgabe der Beschäftigung) laufen die Leistungen trotzdem aus, wenn die Pflichtversicherung mindestens 6 Monate gedauert hat. Über die genannten hinaus sind Mehrleistungen möglich. Bei selbstverschuldeter Erkrankung, kriminellen Handlungen usw. wird keine Leistung gewährt. Die vom Bezirksgouverneur auf ihren Antrag bestellten Versicherungsärzte, -Zahnärzte und -Apotheker haben die Aufgabe, die Leistungen der medizinischen Hilfe im Dienste der Krankenkenversicherung entsprechend den genannten Vorschriften zu erbringen. Sie können ihren Dienst jederzeit mit einmonatiger Kündigung niederlegen; bei Nichterfüllung ihrer Aufgaben können sie des Dienstes enthoben werden. Zu Ende des Jahres 1952 entfielen 992 Einwohner auf einen Arzt, bei uns (1955) 740 Einwohner. Zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Krankenversicherung und Ärzteschaft wurde 1948 die »Japanische Sozialversicherungskasse zur Bezahlung der Honorare für medizinische Hilfe« gegründet. Neben der geschilderten Krankenversicherung der Arbeiter und Angestellten besteht in Japan noch eine »Allgemeine Krankenversicherung«, auch »Volkskrankenversicherung« genannt, die für die allgemeine Bevölkerung gedacht ist ohne Rücksicht auf ein bestehendes Arbeitsverhältnis. Das Bedürfnis für diesen Versicherungszweig trat Ende der 20er Jahre auf, als durch die Weltwirtschaftskrise die Landwirte und die Fischer, aber auch die mittleren und kleinen Kaufleute und Gewerbetreibenden in den Städten in ernste wirtschaftliche Schwierigkeiten gerieten. Um auch diesen Personenkreisen im Krankheitsfalle Hilfe gewähren zu können, wurde das Gesetz Nr. 60 über die allgemeine Krankenversicherung verabschiedet, das am 1. Juli 1938 in Kraft trat. Im Jahre 1942 wurde das Gesetz dahin geändert, daß der Bezirksgouverneur unter bestimmten Voraussetzungen die Errichtung eines Versicherungsträgers anordnen und die Mitglieder der Organisationskommission aus dem im Gesetz genannten Personenkreise nach freiem Ermessen bestimmen konnte. Wenn mehr als die Hälfte der Einwohner eines Bezirks dem Versicherungsträger beigetreten war, bestand für den Rest Beitrittspflicht. Hierdurch stieg die Zahl der Versicherungsträger bis 1945 auf 10347 mit einem Versichertenbestand von 40,76 Millionen. Infolge 20
der sozialen Unsicherheit und der Inflation nach dem II. Weltkriege gerieten viele dieser Versicherungsträger in finanzielle Schwierigkeiten und mußten weithin ihre Tätigkeit einstellen, so daß ein völliger Zerfall des Systems drohte. Durch neuere Bestimmungen wurde dann das System dahin geändert, daß die Verwaltung in Zukunft grundsätzlich den Ortsbehörden (Stadt-, Markt- und Dorfgemeinden) obliegt. Als Versicherungsträger können auch Volkskrankenversicherungsvereine, landwirtschaftliche Genossenschaften, Fischervereine und sonstige gemeinnützige juristische Personen dienen. Hier tritt also der territoriale Charakter dieser Einrichtung stark in den Vordergrund. Wenn jetzt eine solche Gemeinde die Einführung des Systems beschließt, besteht für alle Haushaltungsvorstände und ihre Familienangehörigen Beitrittspflicht, soweit diser Personenkreis nicht bereits in der staatlichen Krankenversicherung oder in einem Beamtenhilfsverein versichert ist. Die Zahl der Versicherten, die 1939 nur eine halbe Million betrug, ist inzwischen bis 1952 wieder auf 24 Millionen angewachsen. Pflichtleistungen sind hier Sachleistungen wie ärztliche Behandlung, Hebammenhilfe usw. mit Selbstbeteiligung, die zwischen 30 und 70 vH liegen kann, freiwillige Leistungen Wochenhilfe und Bestattung, Mehrleistungen Kranken·, Wochen- und Sterbegeld (also die Barleistungen). Alle Leistungen müssen durch Verordnungen oder Erlasse genau bestimmt und vorgeschrieben sein. Die ärztliche Hilfe ist in der Regel durch Einzel- oder Gesamtverträge zwischen den Versicherungsträgern und den Ärzten oder Ärzteverbänden geregelt. Dabei haben die Versicherten einen Kostenanteil zu tragen, dessen Höhe vom Versicherungsträger festgesetzt wird. Die Haushaltungsvorstände haben Beiträge zur Deckung des Gesamtaufwands aufzubringen, die sich nach der Einkommenshöhe richten (durchschnittlich jährlich 2000 Yen). Ein staatlicher Zuschuß deckte 1953 ungefähr 20 vH des Leistungsaufwands. Daneben gewähren die örtlichen Körperschaften ebenfalls einen Zuschuß zum System. Im übrigen werden die Arzthonorare von einer Kommission laufend überprüft und festgesetzt. Sonderregelungen bestehen in der Krankenversicherung, wie schon erwähnt, bei den Tagelöhnern und bei den Seeleuten. Für die Tagelöhner gilt das Gesetz Nr. 207 vom 14. August 1953. Einbezogen sind in die Tagelöhnerversicherung alle Personen, die unständig beschäftigt sind, sei es nun von Tag zu Tag, oder auch für etwas längere Zeiträume, ζ. B. als Saisonarbeiter bis zu 4 Monaten oder in einem provisorischen Betrieb bis zu 6 Monaten. Diese Tagelöhner sind versicherungspflichtig, wenn sie in einem Betrieb mit mindestens 5 Beschäftigten arbeiten, der an sich krankenversicherungspflichtig ist, oder in einem öffentlichen Betrieb oder bei Notstandsarbeiten für Arbeitslose beschäftigt sind. Ich weise noch einmal darauf hin, daß die Sachleistungen für den Versicherten und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen ungefähr die gleichen sind wie in der staatlichen Kran21
kenversicherung, aber Barleistungen nicht gewährt werden. Voraussetzung der Leistungsgewährung ist eine Beitragsleistung f ü r mindestens 28 Tage innerhalb der letzten zwei Monate vor der Inanspruchnahme; die Dauer der Leistungen beträgt hier 3 Monate, finanziert werden sie durch Beiträge beider Sozialpartner und durch Staatszuschüsse. Die Krankenversicherung der Seeleute - wobei auch die Regierung Versicherungsträger ist - ähnelt der zuerst behandelten Krankenversicherung. Einbezogen sind alle von einem Reeder als Seeleute Beschäftigten einschließlich des Kapitäns; ausgeschlossen sind die Besatzungen der Schiffe von weniger als 5 BRT, der Schiffe, die ausschließlich auf Binnenseen, Flüssen und innerhalb der Seehäfen eingesetzt sind, und der Fischereifahrzeuge von weniger als 30 t. W e r zwischen 7V2 und 15 Jahren versichert war, kann auf Antrag zur Weiterversicherüng zugelassen werden. Die Leistung im Krankheitsfall wird als Sachleistung im gleichen Ausmaß wie in der Krankenversicherung gewährt, nötigenfalls auch außerhalb des Wohnortes des Patienten; seit 1954 hat der Reeder auch an Bord seiner Schiffe medizinische Hilfe bereitzustellen. Die Leistungsdauer beträgt 3 Jahre, bei Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen ist sie allerdings unbegrenzt. Für den Versicherten selbst besteht keine Kostenbeteiligung, die unterhaltsberechtigten Angehörigen haben 50 v H der Kosten der ärztlichen Hilfe usw. zu tragen. Bei Arbeitsunfähigkeit (mit Ausnahme von Unfall oder Berufskrankheit) erhält der Versicherte ein Krankengeld in Höhe von 60 v H des Normallohns auf die Dauer von 3 Jahren. Die japanische Unfallversicherung war ursprünglich ein Teil der Krankenversicherung, ist dann aber durch ein besonderes Gesetz vom 7. April 1947 selbständig geregelt worden, ähnlich der englisch-amerikanischen »Workmen's Compensation Insurance«, was einer Entschädigung von Betriebs- oder Arbeitsunfällen entspricht. Träger der Versicherung sind auch hier Regierungsstellen. Einbezogen sind alle Betriebe zur Bearbeitung oder Verarbeitung von Gegenständen, alle Betriebe von Berg-, Erd- oder Steinarbeiten, alle Betriebe zur Beförderung von Personen oder Gütern, in denen regelmäßig mehr als 5 Arbeiter beschäftigt sind, ferner die Bauunternehmungen und andere Betriebe, wie Forstwirtschaft usw., in denen regelmäßig Arbeiter beschäftigt sind oder innerhalb eines Jahres die Gesamtzahl der Beschäftigten mindestens 300 beträgt, schließlich noch andere gewerbsmäßige Betriebe, die in den Ausführungsbestimmungen ausdrücklich bezeichnet sind. Außerdem können sich der Versicherung freiwillig unterstellen Betriebe und Büros, die der Versicherungspflicht nicht unterliegen, ζ. B. solche der Viehzucht, des Bankwesens und der Versicherung, des Unterrichts- und Gesundheitswesens; ausgeschlossen von der Versicherung sind Staatsbetriebe und Behörden. Versicherungsleistungen sind angebracht bei Unfall-, Krankheit, Inva22
lidität, Tod, wenn ein kausaler Zusammenhang zwischen Betrieb und Unfall besteht (nach der deutschen Definition »Einwirkung eines äußeren Tatbestandes, die mit dem Betrieb zeitlich, örtlich und ursächlich im Zusammenhang steht«, bzw. Berufskrankheiten). Die Leistungen selbst sind grundsätzlich Barleistungen, und zwar: Erstattung der Kosten der ärztlichen Behandlung, ein Tagegeld in Höhe von 60 vH des durchschnittlichen Tageslohnes vom 8. Tage an für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit, ein Invalidengeld, das nach dem Grade der Invalidität (in 14 Klassen) gestaffelt ist und sich nach dem bisherigen durchschnittlichen Tageslohn richtet — der Mindestbetrag ist das 50fache, der Höchstbetrag das 134 Of ache dieses Tageslohns - , weiter ein Hinterbliebenengeld in Höhe des lOOOfachen des Tageslohns beim Tode des Versicherten, dazu die Vergütung der Bestattungskosten in Höhe des 60fadien durchschnittlichen Tageslohns; schließlich kann noch ein Abfindungskapital gewährt werden in Höhe des 1200fachen Tageslohns, wenn seit Inangriffnahme des Heilverfahrens 3 Jahre vergangen sind, ohne daß die Verletzung oder Krankheit geheilt ist. Da es sich bei der Unfallversicherung um den Grundsatz der Unternehmerhaftpflicht handelt - genau wie bei uns - , werden auch in Japan die gesamten Kosten der Unfallversicherung durch die Unternehmerbeiträge bestritten. Die Beiträge errechnen sich aus dem Gesamtentgelt, das den Arbeitern in einem Betriebe bezahlt wird, sowie nach dem »Gefahrentarif«; dabei gibt es je nach dem Grade der Unfallgefahr 23 »Gefahrenklassen«, die insgesamt 81 Betriebsarten umfassen. Der Beitragssatz wird nach dem Unfallsatz in der Betriebsgruppe in den letzten 5 Jahren bemessen, also praktisch auch in einer Art »Umlageverfahren« wie bei uns. Dabei schwankt der Beitragssatz tatsächlich zwischen 1 und 52 vom Tausend. Möglich sind noch gewisse Zuschläge oder Nachlässe, je nach der Unfallhäufigkeit des betreifenden Betriebes selbst. Bei der Sonderversicherung der Seeleute erhält der Versicherte, der infolge einer Berufskrankheit oder eines Arbeitsunfalles arbeitsunfähig wird, in den ersten vier Monaten den täglichen Normallohn in voller Höhe; bei abgelaufener Versicherung wird die Leistung in Höhe des im letzten Monat der Tätigkeit bezogenen Normallohns gewährt. Nach diesen 4 Monaten wird die Leistung bis zur völligen Heilung auf 60 vH des monatlichen Normallohnes herabgesetzt; diese Leistung wird auch noch einen weiteren Monat nach Abschluß der ärztlichen Behandlung gewährt. Steht der Unfall - oder auch eine Krankheit - bei Seeleuten nicht im Zusammenhang mit der Berufsausübung, dann ist das Krankengeld auf 60 vH des Normallohnes beschränkt, und zwar auf die Dauer von 3 Jahren. Auch die vorhin behandelte »Volkskrankenversicherung« ist für Unfälle in ihrem Bereich nach den gleichen Grundsätzen wie im Krankheitsfall zuständig. Für den Fall des Alters und der Invalidität (Berufsunfähigkeit bzw. Er23
werbsunfähigkeit nach der Fassung der deutschen Rentenreform) besteht in Japan seit dem Gesetz Nr. 60 vom März 1941 eine Rentenversicherung der sozialen Wohlfahrt; die Bestimmungen dieses Gesetzes sind durch das Gesetz Nr. 115 vom 19. Mai 1954 grundlegend geändert worden. Das Rentenversicherungsgesetz will den Lohn- und Gehaltsempfängern sowie ihren Hinterbliebenen eine »Mindestlebenshaltung« sichern und sieht deshalb Altersrenten und Altersbeihilfen, Invalidenrenten und Invalidenbeihilfen sowie Hinterbliebenenrenten vor. Versicherungsträger sind wieder Regierungsstellen. Pflichtversichert sind in der Rentenversicherung alle Personen, die in einer Arbeitsstätte (Fabrik, Bergwerk, Bank, Kaufhaus usw.) beschäftigt sind, in der mindestens 5 Personen regelmäßig arbeiten; auch in anderen Arbeitsstätten beschäftigte Personen können von ihrem Arbeitgeber zur Versicherung angemeldet werden, wenn der zuständige Bezirksgouverneur seine Zustimmung erteilt. Der Kreis der Versicherungspflichtigen ist hier also im wesentlichen derselbe wie in der Krankenversicherung. Darüber hinaus besteht audi hier die Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung, insofern als audi Arbeitnehmer außerhalb der genannten Arbeitsstätten für sich persönlich der Versicherung beitreten können, wobei audi in diesem Fall die Zustimmung des Bezirksgouverneurs nötig ist. Wer volle 10 Jahre oder länger versichert war, jedoch die für den Anspruch auf eine Rente erforderliche »Wartezeit« noch nicht zurückgelegt hat und damit seinen Versicherungsanspruch verloren hätte, kann beim Bezirksgouverneur um Zulassung zur freiwilligen Weiterversicherung bis zur Vollendung der notwendigen Wartezeit einkommen. Die Gewährung der Leistungen ist im allgemeinen — wie bei uns - an die Erreichung eines bestimmten Alters bzw. die Erfüllung einer bestimmten Wartezeit geknüpft. Danach erhält eine Altersrente der versicherte Arbeiter (und Angestellte) vom 60. Lebensjahr an (Bergarbeiter und Frauen schon mit 55 Jahren), wenn er mindestens 20 Beitragsjahre (Bergarbeiter 15 Jahre) zurückgelegt hat. Unter Umständen bestehen noch gewisse Erleichterungen bezüglich des Alters und der Wartezeit. Die Altersrente setzt sich zusammen aus einem festen Grundbetrag - nach den Angaben von Katsuje Kuge - in Höhe von 24000 Yen jährlich und einem Steigerungsbetrag, der sich durch Multiplikation von 0,5 vH des durchschnittlichen monatlichen Normallohnes mit der Zahl der Versicherungsmonate ergibt. Die Mindestaltersrente wurde 1954 mit 27 600 Yen = 323.- DM jährlich festgesetzt. Nach 20 Versicherungsjahren beträgt dieRentebei einem Normallohn von 10000 Yen = 1 1 7 DM monatlich 36 000 Yen = 422.- DM im Jahr. Neben der so berechneten »Grundrente« wird noch eine Zusatzrente für die Ehefrau und jedes Kind unter 18 Jahren (bei Arbeitsunfähigkeit ohne Altersgrenze) gewährt, und zwar je Person 4800 Yen = rd. 56.- DM jährlich, soweit diese Personen im Augenblick des Rentenanspruchs von dem Versicherten unterhalten wur24
den. Eine Alters beihilf e wird gewährt, wenn eine Frau nach mindestens 3 Jahren der Versicherungspflicht ihren Versicherungsstatus verloren hat oder wenn ein Versicherter nach mindestens 5 Versidierungsjähren bei Erreichung des Alters von 55 Jahren ebenfalls den Versicherungsstatus verloren hat; diese Altersbeihilfe wird durch Multiplikation des durchschnittlichen monatlichen Normallohnes mit einem festen Satz ermittelt, der sich nach der Versicherungsdauer richtet. Für die Invalidenrente gibt es drei Grade der Invalidität, erstens Arbeitsunfähigkeit und Hilflosigkeit, zweitens gewöhnliche Arbeitsunfähigkeit, drittens geminderte Arbeitsfähigkeit; danach wird die Rente in drei Klassen eingeteilt. Die Rente wird gewährt, wenn der Versicherte nach einer Versicherungsdauer von mindestens 6 Monaten infolge Krankheit oder Unfalls innerhalb von drei Jahren nach der ersten ärztlichen Feststellung dieser Krankheit usw. invalide wird. Die Rente wird entsprechend dem Invaliditätsgrad abgestuft; nach den Angaben von Kuge beträgt sie in der 1. Klasse neben Grundrente und Zusatzrente noch 12 000 Yen jährlich, in der 2. Klasse wird nur Grundrente und Zusatzrente gewährt, in der 3. Klasse 70 vH der Grundrente. Hinterbliebenenrenten werden gewährt an Ehegatten, Kinder, Eltern, Enkel und Großeltern, wenn sie von dem Versicherten (oder früher Versicherten) im Zeitpunkt seines Todes unterhalten wurden; dabei muß die Gattin mindestens 55 Jahre alt sein oder mindestens ein Kind unter 18 Jahren unterhalten oder selbst invalide sein (ähnliche Bedingungen bei uns vor der Rentenreform!). Ebenso gibt es Witwenrenten. Die Hinterbliebenenrente ist halb so hoch wie die Altersrente. Die Invaiidenbeikilfe beträgt 140 vH der Altersrente, während früher der zehnfache Normalmonatslohn gewährt wurde. Dabei wird der Invaliditätsgrad, der der Bemessung der Beihilfe zugrunde gelegt wird, nach anderen Gesichtspunkten ermittelt als der Invaliditätsgrad für die Bemessung der eigentlichen Invalidenrente. Für die Bemessung der Leistungen und der Beiträge bestehen neuerdings 12 gegenüber bisher 6 Lohnklassen; dabei ist der höchste Monatslohn mit 18000 Yen festgesetzt (zu dieser Zeit war 1 USA-$ = 365 Yen, so daß der Betrag von 18000Yenziemlichgenau49,3USA-$oderrd.210DMentspridit. Der Beitrag selbst hat bisher für männliche und weibliche Versicherte je 3 vH ausgemacht, ebenso für freiwillig Versicherte und Weiterversicherte, für Bergarbeiter unter Tage dagegen 3,5 vH. Mit diesen Sätzen können aber die jetzigen Leistungen bei weitem nicht gedeckt werden, so daß neuerdings die Beitragssätze erhöht worden sind auf 9,4 vH für männliche Versicherte, 5,5 vH für weibliche Versicherte und 12,3 vH für Bergarbeiter. Die Beiträge werden zu gleichen Teilen vom Versicherten und vom Unternehmer entrichtet. Daneben trägt der Staat die Verwaltungskosten sowie 10 vH der Kosten der Versicherungsleistungen, für Bergarbeiter sogar 20 vH. 25
Einen wichtigen Sonderzweig der Sozialversicherung stellt die bereits wiederholt erwähnte Versicherung der Seeleute dar, die als solche die einzelnen Versicherungsgruppen zusammenfaßt. Ursprünglich waren die Bestimmungen über den Schutz der Seeleute gegen Krankheit, Unfall und andere Risiken im Arbeitsgesetz, dann im Gesetz über die Seeleute enthalten. Schon nach diesen Bestimmungen war der Reeder zur Unterstützung der Seeleute verpflichtet; so hatte er die Kosten der ärztlichen Hilfe für drei Monate und die Begräbniskosten zu ersetzen. Einige große Reedereien errichteten dann für ihre Seeleute Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit, die im allgemeinen die Leistungen aufbrachten, die der Reeder seinen Seeleuten bei Sdiiffbrudi zu gewähren hatte; damit war aber ein vollkommener Risikenschutz für die Seeleute noch nicht gegeben. Die schon seit längerem geplante Sonderversicherung konnte erst durch das Gesetz Nr. 73 über die Versicherung der Seeleute von 1939 verwirklicht werden, das dann 1940 in Kraft trat. Dieses Gesetz war vor allem notwendig geworden durch die Verhältnisse in der Seefahrt, die durch den chinesisch-japanischen Krieg von 1937 entstanden waren. Das Gesetz hat seitdem mindestens 20 Novellen erfahren - zur Erweiterung des geschützten Personenkreises und zur Erhöhung der Leistungen. Im Jahre 1947 wurde das Gesetz noch ergänzt durch Bestimmungen über Unfallleistungen und über Leistungen bei Arbeitslosigkeit; seit 1954 ist auch ärztliche Hilfe an Bord des Schiffes für bestimmte Fälle vorgesehen. Ausdrücklich ist noch zu erwähnen, daß auch die Mutterschaftsleistungen für selbstversicherte Frauen und Ehefrauen von versicherten Seeleuten hierin einbezogen sind. Bei den Alters- und Invalidenrenten der Seeleute finden sich gewisse Modifikationen gegenüber den Leistungen der allgemeinen Rentenversicherung. So genügen hier als »Wartezeit« für die Altersrente 15 Jahre, in der Seefischerei 11 Jahre und 3 Monate. Die Altersrente beträgt dann jährlich 24 000 Yen zuzüglich eines Hundertundfünfzigstels des monatlichen Normallohns, multipliziert mit der Zahl der Versicherungsmonate. Bei Invalidität ist anstelle einer laufenden Rente eine »Invalidenbeihilfe« in Form einer einmaligen Abfindung möglich. Die (jährliche) Invalidenrente ist bei »außerberuflicher Invalidität« gleich dem vierfachen Monatsdurchschnitt des Normallohns, bei Invalidität »durch betriebliche Ursachen« gleich dem Fünfbis Achtfachen des Monatsdurchschnitts. Dazu kommt unter Umständen bei mehr als 15 Jahren Arbeitszeit - noch ein Steigerungsbetrag hinzu in Höhe des Sechsfachen des täglichen Einheitslohnes bis zu einem bestimmten Maximum. Auch hier sind Witwen-, Witwer- und Waisenrenten vorgesehen, und zwar in verschiedener Höhe je nach der Dauer der Arbeitszeit des Versicherten, ferner Sterbegelder; und zwar erhalten die Hinterbliebenen ein Sterbegeld in Höhe des doppelten monatlichen Normallohnes des Versicherten, andrerseits der Versicherte beim Tode eines unterhaltsberech26
tigten Angehörigen ein Sterbegeld in Höhe eines monatlichen Normallohnes. Die Mittel für die Versicherung der Seeleute werden aus Beiträgen und Staatszuschüssen aufgebracht. Die Beiträge werden aus dem monatlichen Normallohn des Versicherten berechnet und haben sich seit der Begründung dieses Versicherungszweiges wiederholt geändert. Ursprünglich (zu Beginn der 40er Jahre) war der Beitragssatz - ohne Arbeitslosenversicherung 8,2 vH, wovon Reeder und Versicherte je die Hälfte trugen; im Mai 1954 war der Satz 14,5 vH, wovon der Reeder 10,4, der Versicherte nur 4,1 vH trug - zwischendurch hatte er noch stark herüber und hinüber gewechselt. Neuerdings ist der Satz auf 19,4 vH erhöht, wovon der Reder 12,0 und der Versicherte 7,4 vH trägt. Damit sind dann die Kosten für alle bisher behandelten Versicherungsgruppen aufgebracht - abgesehen von den Staatszuschüssen. Dazu kommt dann noch der Beitrag für die Arbeitslosenversicherung, in den sich Reeder und Versicherte gleichmäßig teilen; dieser Beitrag lag ursprünglich bei 2,2 vH, im Mai 1954 bei 1,6 vH und jetzt bei 2,0 vH. Der Geiamibeitrag für die Schiffsmannschaften macht also jetzt 21,4 vH aus, wovon der Reeder 13,0 und der Versicherte 8,4 vH trägt. Durch den Staatszuschuß werden die Verwaltungskosten gedeckt, ferner ein Fünftel der Kosten der langfristigen Leistungen und ein Drittel des Aufwands für das Arbeitslosengeld. Die Leistungen zur Entschädigung bei Arbeitsunfällen werden auch hier nur vom Arbeitgeber (Reeder) getragen. 1953 waren in der Seemanns-Versicherung 7 315 Reeder und 143 803 Versicherte. Als letzter Zweig der japanischen Sozialversicherung ist die Arbeitslosenversicherung zu nennen. Sie ist 1947 eingeführt worden. Versicherungsträger sind auch hier Regierungsstellen. Der Versicherungspflicht unterliegen alle Arbeitnehmer in den Betrieben, die mehr als 5 Personen (einschl. der Tagesarbeiter) beschäftigen; dabei sind allerdings gewisse Beschäftigungen, wie Land- und Forstwirtschaft, Viehzucht, Gewinnung von Wasserprodukten, Unterricht und Forschung, Krankenpflege und Gesundheitswesen sowie soziale Fürsorge ausgeschlossen. Ferner sind einbezogen die Arbeitnehmer in den Staats-, Bezirks- und Gemeindebetrieben, es sei denn, daß ihnen über die Leistungen der Arbeitslosenversicherung hinausgehende Ruhegehälter in Aussicht gestellt sind. Die Arbeitnehmer in den übrigen Betrieben dürfen sich sämtlich freiwillig versichern, vorausgesetzt, daß mehr als die Hälfte der Belegschaft zustimmt. Von der Versicherung ausgeschlossen sind Saisonarbeiter, auf Probe Beschäftigte, unständig Beschäftigte, Arbeiter in den »freizügigen« Betrieben (außer Bauarbeit), außerdem die Versicherten der Seemannsversicherung, weil diese ja schon in ihrer SpezialVersicherung auch gegen Arbeitslosigkeit geschützt sind. Tagesarbeiter unterliegen unter gewissen Voraussetzungen ebenfalls der Versicherungspflicht. Die Arbeitslosenunterstützung oder besser das Arbeitslosengeld wird 27
nur bei gewissen Vorleistungen gewährt. Zunächst ist erforderlich, daß der Arbeitslose unfreiwillig seine Beschäftigung beendigt hat, aber weiterhin arbeitsfähig und arbeitswillig ist, aber trotzdem keine neue Beschäftigung findet — das entspricht ziemlich genau den deutschen Voraussetzungen! Ferner muß die »Anwartschaft« erfüllt sein, d. h. der arbeitslos gewordene Arbeiter oder Angestellte muß innerhalb eines Jahres wenigstens 6 Monate gearbeitet haben, und er muß von dem öffentlichen Arbeitsnachweis als arbeitslos anerkannt sein. Das Arbeitslosengeld wird aber erst nadi einer »Wartezeit« von 6 Tagen gewährt. Außerdem muß sich der Arbeitslose grundsätzlich zweimal in der Woche als Arbeitsuchender beim Arbeitsamt melden. Das Arbeitslosengeld beträgt normal 60 vH des täglichen Arbeitsentgelts des Versicherten. Für die Festsetzung der Höhe des Arbeitslosengeldes sind 30 Lohnklassen gebildet worden auf Grund des täglichen Arbeitsentgelts, und zwar ist maßgebend das im Durchschnitt der letzten 180 Tage vor der Arbeitslos-Meldung bezogene Entgelt. Das Arbeitslosengeld bewegt sich zwischen 20 und 460 Yen täglich. Dabei unterliegt diese Leistung dem »Arbeitslohnindex« nach einem gleitenden System, sie wird also geändert, wenn der Durchschnittslohn der aktiven Fabrikarbeiter mehr als 20 vH zu- oder abnimmt. Das Arbeitslosengeld wird für 180 Tage innerhalb eines Jahres gewährt; es wird gekürzt, wenn der Arbeitslose über einen bestimmten Betrag hinaus eine Einnahme aus eigener (Neben·) Arbeit bezieht. Das Arbeitslosengeld kann bis zu einem Monat versagt werden, wenn der Arbeitslose eine zugewiesene Arbeit oder eine neue Berufsberatung unberechtigt ablehnt, ferner für einen bis zwei Monate, wenn der Arbeitslose seine Entlassung durch eigene grobe Schuld verursacht hat oder ohne berechtigte Gründe freiwillig aus der Beschäftigung ausgeschieden ist. Das Arbeitslosengeld wird einmal in der Woche für die vergangenen 7 Tage ausgezahlt. Für »Tagesarbeiter« gilt eine Sonderregelung. Als solcher gilt, wer täglich oder innerhalb eines Monats für eine Periode bis zu 30 Tagen beschäftigt wird, es sei denn, daß er in jedem der letzten beiden Monate mehr als 18 Tage oder innerhalb der letzten 6 Monate mehr als 60 Tage bei demselben Arbeitgeber gearbeitet hat. Ein solcher Tagesarbeiter hat ebenfalls Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn er in den letzten beiden Kalendermonaten mindestens 20 Beitragstage aufzuweisen hat. Er muß sich aber täglich beim Arbeitsamt melden. Die Leistung macht hier je Tag 90 bis 140 Yen aus und gilt für 13 arbeitslose Tage innerhalb eines Monats nach 28 Beitragstagen. Als Empfänger von Arbeitslosengeld wurden für 1950: 367 000, für 1952: 599000 (im Monat) genannt. Von den Kosten der Arbeitslosenversicherung trägt der Staat ein Drittel, dazu die Verwaltungskosten. Der Beitragssatz ist 1,6 vH, wovon Versicherte und Arbeitgeber je die Hälfte tragen; für die Berechnung bestehen 30 Lohn28
klassen. Bei den Tagesarbeitern gelten Beiträge von 5 bis 6 Yen täglich, wovon der Versicherte 3 Yen, der Arbeitgeber den Rest trägt. Für die Arbeitslosenversicherung der Seeleute gelten ganz ähnliche Bestimmungen; audi für sie dauert die Anwartschaftszeit 6 Monate innerhalb eines Jahres, die Wartezeit bis zur Gewährung des Arbeitslosengeldes allerdings 7 Tage. Audi hier werden täglich 60 v H des durchschnittlichen Einheitslohnes gezahlt, der in 21 Klassen von 130 bis 1200 Yen täglich aufgeteilt ist. Ebenso gilt für die Seeleute eine Unterstützungsdauer von 180 Tagen innerhalb eines Jahres. Als weitere wichtige Einrichtungen der japanischen Sozialversicherung sind noch folgende zu nennen: In der Krankenversicherung gibt es einen »Sozialversicherungsrat«, der als beratendes Organ dem Ministerium für soziale Wohlfahrt zugeteilt und mit der Untersuchung wichtiger betriebstechnischer Fragen der Krankenversicherung betraut ist. Er setzt sich zusammen aus 27 Mitgliedern, und zwar je 9 der drei Gruppen, die die Interessen der öffentlichen Hand, der Versicherungsträger und der Versicherten vertreten. An sich werden diesem Sozialversicherungsrat die Aufgaben vom Minister für soziale Wohlfahrt zugewiesen, doch kann er seine Meinung auch spontan zum Ausdruck bringen, also eigene Anträge stellen. Ferner bestehen Schiedsgerichte und eine Berufungskommission der Sozialversicherung, und zwar wurde das System der Schiedsrichter im November 1947 eingeführt. Diese Organe haben im Berufungsverfahren über die Zuerkennung von Versicherungsleistungen und über die Beitragshöhe Erhebungen durchzuführen und Entscheidungen zu treffen. In jeder Bezirksverwaltung amtiert ein Schiedsrichter. Die Berufungskommission, die sich aus drei vom Ministerpräsidenten ernannten Mitgliedern zusammensetzt, hat ihren Sitz im Ministerium für soziale Wohlfahrt. Der Berufungsweg geht jeweils über das örtliche Schiedsgericht an die Berufungskommission im Ministerium, und zwar für alle Zweige der Sozialversicherung. Damit entspricht diese Einrichtung etwa der deutschen Sozialgerichtsbarkeit. W i e man ohne weiteres aus der bisherigen Darstellung entnehmen kann, ist das System der japanischen Sozialversicherung bis jetzt weitgehend unserem deutschen Versicherungssystem angeglichen. Diese Ähnlichkeit zeigt sich vor allem auch in der Abstufung der Leistungen entsprechend den »Vorleistungen« oder Beiträgen. Bekanntlich gibt es in Europa Länder, in denen die Renten in einheitlicher Höhe gezahlt werden, ohne Rücksicht auf die bisherigen Lohn- und Gehaltseinkünfte, wie ζ. B. die »Volkspension« der nordischen Länder. Aber auch in Japan trägt man sich mit ähnlichen Plänen. Nach der Darstellung von Professor Shirasugi besteht ein neuer Plan der »sozialen Sicherheit«, der die bei uns noch streng geschiedenen Zweige der Versicherung, der Fürsorge und der Versorgung vereinheitlichen will. Dieser Plan sieht im wesentlichen so aus: Nach wie vor soll die Sozialversiche29
rung die Hauptrolle spielen. Innerhalb ihrer Zweige soll aber eine neue Systematisierung und Vereinheitlichung durchgeführt werden, wobei auch die Beamtenhilfsvereine und die Staatspensionen einbezogen werden sollen. Man will dann kurz- und langfristige Versicherungen unterscheiden: als kurzfristige diejenigen für Krankheit, Mutterschaft und Bestattung, als langfristige diejenigen f ü r Alter, Invalidität und Hinterbliebene. Andrerseits sollen die Zweige eingeteilt werden in solche für beschäftigte Personen und solche für andere Volksangehörige; nur beschäftigte Personen sollen die A r beitslosen- und die Unfallversicherung umfassen. Die Staatsfürsorge soll ähnlich wie bei uns den Bedürftigen das Existenzminimum sicherstellen, und zwar nach Prüfung der Bedürftigkeit. Die gewährten Leistungen sind Unterhalts-, Erziehungs-, Wohnungsfürsorge-, Kranken-, Wochen- und Bestattungshilfe. Das bisherige System wird dabei im wesentlichen übernommen. Die »soziale Wohlfahrt« soll Beschädigtenund Krüppelhilfe, Säuglings- und Kinderschutz, Jugendwohlfahrt, Arbeitsbeschaffung, Wohnungshilfe und Unterbringung der Altersinvaliden umfassen. Die zentrale Verwaltung übernimmt das Ministerium für soziale Sicherheit. Unter ihm arbeiten die Lokalbehörden. Weitaus das Vorherrschende bleibt die staatliche Versicherungsbehörde; nur in der Krankenversicherung soll der Versicherungsträger in der Form der Genossenschaft oder des Gegenseitigkeitsvereins zulässig sein. Bezüglich der Mittelaufbringung soll nach wie vor der Staat die Verwaltungskosten decken, während die Kosten der Versicherungsleistungen durch Beiträge und Mittel des Staates, der Provinzen und der Gemeinden gedeckt werden. In der Sozialversicherung selbst soll der Kreis der Versicherten erweitert werden, sie soll also auch Selbständige und Nicht-Erwerbstätige einbeziehen (Gedanke der »Volksversicherung«). Die Leistungen sollen, mit Ausnahme der Unfall- und der Arbeitslosenversicherung, grundsätzlich einheitlich sein und nicht mehr dem verschiedenen Arbeitsentgelt usw. entsprechen. Dagegen soll der Beitrag nach dem Arbeitsentgelt oder den sonstigen Einnahmen bemessen werden und als Zwecksteuer - ähnlich wie in den Vereinigten Staaten - umgelegt und erhoben werden. Die Volksrentenversicherung wird dann sozusagen eine »Staatsbürgerversorgung«. Während bisher noch außer dem Wohlfahrtsministerium auch das Arbeits- und das Verkehrsministerium zuständig sind, soll in Zukunft nur das eine Ministerium (für soziale Sicherheit) zuständig sein. Kostenmäßig rechnet man für die soziale Sicherheit mit Ausgaben in Höhe von 8 v H des Volkseinkommens. In der Bundesrepublik Deutschland war der Anteil sämtlicher Sozialleistungen einschl. der Versorgung der Kriegsbeschädigten usw. in der ersten Hälfte der 50er Jahre rund 12,5 v H des Bruttosozialprodukts.
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PROBLEME DES MODERNEN JAPANISCHEN THEATERS Von Dr. Tatsuji Iwabudii 1. Die Besonderheit des modernen japanischen Theaters beruht auf vielen verschiedenen Faktoren. Die sozial-historischen, theatergeschichtlichen, philologischen und ökonomischen Faktoren machen es fast unmöglich, das moderne japanische Theater mit den Theaterverhältnissen aller anderen Länder zu vergleichen. Manchem deutschen Theaterliebhaber sind No-Spiel, Kabuki-Theater und vielleicht auch das japanische Puppenspiel etwas bekannt geworden. Darüber gibt es auch Literatur in deutscher Sprache, wie ζ. B. Rumpf, Glaser u. a.1 Gelegentlich werden auch einige Einflüsse erwähnt, die das japanische Theater auf die deutsche Bühnenform ausübte. Es gibt zahlreiche Beschreibungen der japanischen theatralischen Bedeutung, so daß darüber große Kenntnisse vorhanden sind. Die dringenden Fragen sind indessen: Welches sind die Probleme des modernen japanischen Theaters? Woher kommen sie? Erst die Kenntnis der Mannigfaltigkeit des japanischen Theaterlebens in seinen verschiedenen Fächern und Spielgattungen und seine scheinbar große Tätigkeit führt zu diesen Problemen. 2.
Es gibt zur Zeit noch mehrere Genre und Spielgattungen, die ganz heterogen sind und getrennt nebeneinander bestehen. Nur das B u g a k u steht noch unter staatlicher Aufsicht. Dieses uralte Hofballett wird seit dem 7. Jahrhundert stets von dem Hofministerium gepflegt. Ν 6 ist ein Spiel. Es erreichte schon im 14. Jahrhundert seine endgültige Form und behielt sie unverändert über nahezu 600 Jahre hindurch aufrecht. K a b u k i hingegen ist ein Theater. Es wurde im 17. Jahrhundert als eine Art Zeitstück begründet und 1
Rumpf, F., »Zur Geschichte des Theaters in Japan« in »Japanisches Theater«, herausgegeben von C. Glaser, Berlin 1930. Glaser ,C., »Japanisches Theater«, Berlin 1930 Piper, M., »Die Schaukunst der Japaner«, Berlin 1927 Bohner, Hermann, »Gestalten und Quellen des Nö«, Tokyo-Osaka 1955 Benl, O., »Seami Motokiyo und der Geist des No-Sdiauspiels«, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Klasse der Literaten, Jahrgang 1952 Nr. 5
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entwickelte sich während der feudalen Tokugawa-Zeit mit gewissen, durch die soziale Struktur bedingten Einengungen. Die Schönheit seines äußeren Stils konnte es sich bis heute erhalten. Das S h i n g e k i ist das japanische Theater nach europäischer Art. Auch europäische klassische Stücke werden im Shingeki aufgeführt. Daneben gibt es noch zahlreiche andere Theatergattungen: B u n r a k u ist das traditionelle Puppenspiel. Es ist etwa 350 Jahre alt und hat mit dem Kabuki vieles gemeinsam. Ν ό - K y o g e n sind possenhafte Zwischenstücke im No. S h i m p a wurde als neue Schule in der Mitte des 19. Jahrhunderts geboren. Es steht zwischen dem Kabuki und dem Shingeki. S h i n k o k u g e k i ist ein neueres Volkstheater. Aufgeführt werden auch Variete, Revue usw. Oper, Ballett und Puppentheater europäischer Art sind gleichfalls vertreten. 3. Diese verschiedenen Formen und die divergenten Abarten lassen Japan fast als ein Theatermuseum erscheinen1. Friedrich Dürrenmatt wies einmal darauf hin, daß das heutige Theater vielfach den Charakter eines Museums zeige. Vielleicht soll damit die Bewegung der Renovation verschiedener alter Theater gemeint sein. Dies trifft indessen für Japan nicht zu. In Japan braucht nichts erneuert zu werden, weil die alten Theater noch fast unverändert bestehen. Nö ist zeitlich älter als die Meistersingerbühne und blieb seitdem bis heute fast unverändert. Auch jetzt hat die Νδ-Welt einen Aufbau wie damals in Deutschland die Zünfte. Auch bei dem Kabuki handelt es sich zum Teil um die Haupt- und Staatsaktionen in ihrer damaligen Form. Wenn es einerseits erstaunlich ist, daß sich die alten Theater so unverändert erhielten, so liegen aber hierin die Probleme des modernen japanischen Theaters. 4. Die Texte der Νό-Spiele sind sozusagen in Mittelhochjapanisch geschrieben, in einer Sprachform, die heute niemand in Japan spricht. Sie ist daher schwer verständlich. Würde ein Νό-Stück in eine europäische Sprache übersetzt werden, könnten höchstens 6 bis 7 Schreibmaschinenseiten daraus werden. Da aber die Ausdrudesweise sehr ausgedehnt und das Zeitmaß stilisiert langsam ist, braucht eine Aufführung wenigstens zwei Stunden. Wahrscheinlich bildet die Νό-Spielart in der Theatergeschichte der Welt den extremen Gegensatz zu dem Trampolinstil der commedia dell'arte. Beim No muß der Zuschauer einige Vorkenntnisse der fixierten Gesten haben. Es bedeutet stets »Weinen«, wenn der Schauspieler seine Hand vor das Gesicht hält. Unter den 250 Stücken, die im Spielplan erscheinen können, sind rund 100 1
Friedrich Dürrenmatt, »Theaterprobleme«, Züridi 1955
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von S e a m i Motokiyo (1363-1443) geschrieben. Fast alle anderen Stücke sind von Dichtern der gleichen Periode geschaffen. Seit jenem 14. Jahrhundert haben zunächst vier, später fünf No-Sdhulen diese Νό-Spiele gewissermaßen wie in einem Gewächshaus bis auf die heutige Zeit isoliert erhalten. Um die Bedeutung dieser Konservierung ganz zu ermessen, darf die Frage gestellt werden, könnte man den Mut haben »uralt Lebendiges aufs neue lebendig zu machen?«, wenn das Jedermann-, das Marien-, das Osterspiel in Muri oder wie sie immer heißen mögen, in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten geblieben wären 1 *? Das No-Spiel an sich ist von großer Bedeutung und ein interessantes Phänomen in der Theatergeschichte. Aber es wurde in seiner Absonderung 600 Jahre lang nur im engen Kreis des Adels und der Samurai gepflegt. Es ging nicht mit der Zeit mit. Unter der Kontrolle der Samurai geriet es zum Teil in eine Art Starrheit. Deshalb ist es sehr schwierig, um neue Kunst aus ihm entstehen zu lassen, einen Ansatzpunkt zwischen dem No-Spiel und dem modernen Theater zu finden. Höchstens das possenhafte Zwischenspiel »Nö-Kyogen« wäre begrenzt dem Publikum zugänglich. Es enthält mehr mimische Elemente. In der allerneuesten Zeit konnten Experimente bemerkt werden, moderne Νό-Spiele zu schaffen. Noch blieben diese Dichtungen Experimente, deren Folgen noch nicht abzusehen sind. 5. Ganz anders erging es dem Kabuki-Theater. Es lebte stets im Volke und lebte seine Freuden und Schmerzen mit. Daher steckt im Kabuki viel echtes Volkstum und Theatralisches. Was den Bühnenbau betrifft, so hatte das Kabuki viele neuen Entdeckungen gemacht, die das No-Spiel nicht kannte und kennen wollte. Das Νό-Spiel hat seine Spielzeit bei Tageslicht. Erst das Kabuki deckte den Zuschauerraum zu, brachte die Benutzung des Vorhanges und schuf dadurch die Guckkastenbühne (seit 1664). Der wirkungsvolle Blumensteg quer durch den Zuschauerraum entstand etwa 1660. Die Versenkung und Hebung des Bühnenbodens ist seit 1753 bekannt, ihre Drehung etwa fünf Jahre später, seit 1758. Erst das Kabuki schmückte die Bühne. In Deutschland ist die Drehbühne bekanntlich im Jahre 1896 von dem Münchener Lautenschläger erfunden worden, also 130 Jahre später als in Japan. In seinem berühmten Werke »Nippon« vom Jahre 1851 schrieb Philipp Franz von Siebold über seinen Eindruck vom Kabuki-Theater in Osaka im Jahre 1826: »Man kennt das Verschieben der Kulissen nicht, dagegen kann der Boden der Bühne auf einer Drehscheibe horizontal gewechselt werden, wodurch eine sehr schnelle Veränderung der Dekoration erzielt wird.« Sie1
Hofmannsthal, Hugo von, »Festspiel in Salzburg«, S. Fischer Verlag 1952, S. 7 Bis heute besteht das Oberammergauer Passionsspiel seit seiner Begründung im Jahre 1634. Aber es steht außerhalb der Theaterwelt.
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bold schrieb »Drehscheibe«. Damals kannte man wahrscheinlich in Deutschland noch nicht das Wort »Drehbühne«. Der Gedanke des japanischen Blumensteges wurde von Max Reinhardt im Großen Schauspielhaus zu Berlin übernommen. Die Rampe und der Zuschauerraum sollten dadurch miteinander verbunden werden. Als Theater ist das Kabuki Ausländern leichter zugänglich als das NoSpiel. Allein seine theatralischen Elemente besitzen Kraft genug, um die Zuschauer zu fesseln. Die merkwürdigste Eigenschaft des Kabuki ist die sogenannte Oyama-Rolle. Sie erhielt sich seit dem 17. Jahrhundert bis heute. Unter Oyama versteht man das Spiel von Frauenrollen durch männliche Schauspieler. Diese ungewöhnliche Spielweise entstand eigenartigerweise durch Zufall. In seiner Frühzeit hatte das Kabuki-Theater auch Schauspielerinnen. Es heißt, daß die Begründerin des Theaters die Tempeltänzerin Okuni gewesen sei. Das Gerücht erhielt sich, daß die Kabuki-Tänzerinnen damals auch oft ihre Gunst verkauften. Um Sittenverderbnis zu begegnen, untersagte die damalige Regierung im Jahre 1629 Frauen das Auftreten als Schauspielerinnen. Die Bevölkerung gewöhnte sich an diese Spielweise und dann blieb es dabei. Auf der Bühne spielt auch heute der Schauspieler für Frauenrollen sehr weiblich die geschichtliche alt-japanische Frau. Eine solche Haltung wird von der modernen gleichberechtigten Frau nicht mehr erwartet. Die Stücke behandeln meistens nur die Zeit bis zur Meiji-Zeit, also bis 1867. Dieser politisch-geschichtliche Zeitpunkt ist auch theatergeschichtlich für Japan sehr bedeutungsvoll, denn durch die Wiedereingliederung in den Weltverkehr wurde das Kabuki-Theater mit dem abendländischen Theaterleben bekannt. Von dieser Zeit an etwa ging das Kabuki nicht mehr mit der Zeit, obwohl es noch lange seine Vorherrschaft als leitendes Theater in Japan behielt. 6.
1887 begann die erste Bewegung. Es entstand das »Moderne Theater« S h i m p a g e k i . Es sollte angelsächsische, französische und russische Geisteswelt der »Alten Schule Kabuki« gegenübergestellt werden. Schauspielerinnen betraten die Bühne. Diese Bewegung verebbte wieder. Vielleicht war es eine Modeangelegenheit, vielleicht aber auch mangelte es an künstlerisch hochwertigen Stücken und Darstellern, die denen des Kabuki gleichwertig waren. Auch weitgehendes Auslandsstudium der Schauspieler konnte diesem Mangel nicht abhelfen. 7. Die Bewegung des ersten modernen Theaters in Japan begann am Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Bruch der Uberlieferung. Das Theater sollte 34
wie das abendländische sein. Das Hauptproblem zu jener Zeit war, so schnell wie möglich ein abendländisches Theater in Japan zu errichten. Es sollte völlig frei vom Kabuki sein. So ist es zu verstehen, daß es sich bei dem modernen japanischen Theater um diese Theaterart des S h i n g e k i handelt. In diesem Sinne galten alle Stücke der europäischen Klassik als modern. Dies war die Einstellung der zwei großen Theaterleiter Shyoyo T s u b o u c h i (1859-1934) und Kaoru O s a n a i (1881-1927). Professor Tsubouchi war der erste Shakespeareübersetzer. Er übertrug Shakespeares sämtliche Werke. Bereits im Jahre 1894 schrieb er für das Kabuki ein historisches Drama unter dem Einfluß Shakespeares. Dann begann er die praktische Bewegung des Shingeki. Im Jahre 1906 gründete er den Theaterverein und seine Schauspielschule. An dieser Schule studierte die erste moderne Schauspielerin die »Nora«-Rolle Ibsens ein. In diesem Zusammenhang darf wohl auf die Bedeutung Mori Ogais für das japanische Theater hingewiesen werden. Ihm ist es zu verdanken, daß auch die deutsche Kunst über die Bühne zum japanischen Volke sprechen konnte. Erstmalig übersetzte Mori klassische deutsche Werke und auch moderne deutsche Dichtung. Der andere Reformator war Osanai. Er war anfangs mit Kabukischauspielern verbunden. Osanai versuchte, die geschulten Schauspieler zunächst wieder zu Laien zu machen, um sie alsdann zu modernen Schauspielern zu erziehen. Im Jahre 1909 begründete er mit einigen Kabukischauspielern eine Studiobühne und benannte sie nach Otto Brahm »Freie Bühne«. Aber er merkte nach und nach, daß die Diktion und Spielart der Kabukischauspieler zu verschieden war, um sie auf europäische Dramen anwenden zu können. Die Spielarten der Kabuki-Sdiauspieler entsprachen nicht den Erfordernissen der gegenwärtigen Umgangssprache. Deshalb trennte er sich von ihnen und strebte an, Laien zu Schauspielern für das moderne Theater zu erziehen. In dieser ersten Periode des japanischen modernen Theaters, ungefähr von 1906 bis 1920, wurden abendländische Stücke ohne Prinzip nach dem Gutdünken der Theaterleiter aufgeführt: Shakespeare, Ibsen, Wedekind, Hauptmann, Sudermann, Meyerförster, Maeterlinck, Shaw, Tschechow, Horki, Andrejew u. s. w. Vom heutigen Standpunkt aus gesehen war diese Bewegung nichts als die oberflächliche Nachahmung der europäischen Theaterbewegungen am Ende des 19. Jahrhunderts. Während aber solche Bewegungen in Europa ihre Notwendigkeiten hatten, fehlte damals in Japan noch der Boden, um die Bedeutung des modernen Dramas wirklich aufzufassen. Es fehlte aber darüber hinaus an reifen erfahrenen Schauspielern, an organisatorischer Festigkeit und auch an geschäftlicher Erfahrung. So konnten diese Bewegungen der japanischen Literaturwelt nur Anregungen geben, um ein eigenständiges japanisches Drama zu schaffen. Aber hierzu braucht es viel Zeit. Viel Zeit braucht ein Drama, das die japanischen Probleme behandelt. Die Bedeutung dieser Bewegung beschränkt sich nur auf die Einführung der europäischen 35
Dramen, der europäischen Bühnentechnik, des Wiederauftritts von Schauspielerinnen, vor allem aber in der Popularisierung der neuen Spielgattung. 8. In der Zeit der merkwürdigen Gegensätze vor dem ersten Weltkrieg und kurz nach ihm begann die zweite Periode des modernen japanischen Theaters. Nach den Enttäuschungen über den bisherigen Mißerfolg seiner Tätigkeit wollte Osanai von neuem mit jüngeren Leuten den zweiten Versuch wagen. Unter tatkräftiger Mitwirkung des Grafen Yoshi Hijikata gelang es nach dem großen Erdbeben vom September 1923, das Tsukiji shogekijö (Kammerspiele) zu begründen. Es wurde das erste stehende Theater für das moderne Drama und hielt sich trotz aller Schwierigkeiten. Leider brannte das Gebäude im zweiten Weltkrieg aus. Es hat das Verdienst, als Grundstein des heutigen Shingeki zu gelten. Osanai nannte es »das Laboratorium des Theaters«. Er meinte, daß es in Japan bis dahin noch keine Dramaturgie im europäischen Sinne gäbe, deshalb wolle er eine Weile nur gute ausländische Stücke aufführen. Für die organische Entwicklung des Theaterwesens in Japan war es bedauerlich, daß diese Erklärung oder audi Provokation vor allem den Bestrebungen der moderneren japanischen Schriftsteller entgegengesetzt war. Deshalb nahmen die meisten Autoren diesem Theater gegenüber eine kühle Haltung ein. Osanai erklärte zugleich, daß er sich ganz vom Kabuki-Theaterspiel trennen wolle. Er rief seinen Schauspieiern zu: »Schweige einstweilen die Tradition tot!« »Sprich lebendig auf der Bühne, deklamiere nicht!« »Bewege dich auf ihr lebhaft, spiele nicht mehr wie bisher!« Wenn die stilisierte Art des traditionellen Spiels bedacht wird und audi das damalige Niveau der japanischen Dramen, so kann dieser damaligen Auffassung zum guten Teil recht gegeben werden. Osanai hatte kurz zuvor in Europa die Probleme des Naturalismus und Realismus kennengelernt und war besonders von der Spielkunst im Moskauer Künstlertheater begeistert. Die Kluft zwischen dem überlieferten Kabuki und dem Shingeki wurde offenbar. Aber diese Kluft gab es audi in der neuen Bewegung selbst. Bekanntlich begann das Shingeki mit der Kopierung der europäischen Bühnen. Vor allem wollte Osanai Schauspieler von Fleisch und Blut auf der Bühne sehen. Dabei stützte er sich auf die realistisch-psychologische Methodik des Russen Stanislawsky. Neben Osanai wirkte ein anderer Regisseur namens Hijikata. Nach seiner Rüdekehr aus Europa war er stark vom Expressionismus und von der mechanischen Spielart des Russen Meyerhold beeinflußt. Die Laienschauspieler kamen durch diese zwei extremen Methoden der beiden Regisseure leicht in Verwirrung. Im Juli 1924 fing das Kammerspiel nun mit der Aufführung an. Es wurde die »Seeschlacht« des deutschen Expres36
sionisten Göring und das »Schwanenlied« von Tschechow dargeboten. Der Anakoluth 1 war bereits jetzt klar erkennbar. Seitdem mußte sich das Kammerspiel überanstrengen, um solchen Anforderungen nachkommen zu können. In kürzester Zeit mußten die europäischen Stücke von Shakespeare bis zur neuesten Strömung nachgeholt werden. Von 1924 bis 1927 brachte das Kammerspiel über 50 westliche Theaterstücke auf die Bühne, eine wahrhaft erstaunliche Leistung. Aber am Ende dieser Bewegung wurden doch wieder einige japanische Stücke in den Spielplan aufgenommen. Es ist fraglich, ob solche originalen japanischen Stücke die Folge einer echten Befruchtung durch eingeführte Stücke waren. In seinen späteren Lebensjahren - er starb 1927 - wandte sich Osanai noch einmal dem Kabuki zu. Seine Untersuchungen verliefen durchaus günstig. In einem Vortrag in Moskau sprach er von der Bedeutung des Kabuki für das zukünftige japanische Nationaltheater. Wieweit aber Kabuki und Shingeki von einander entfernt waren, ergab sich aus der Unfähigkeit seiner Schauspieler, das Kabukistück im Kabukistil spielen zu können. So ergab sich damals in den Kammerspielen eine eigentümliche Aufführung des Stückes »Faithful« des Engländers John Masefield. Dieses Stück ist die englische Bearbeitung des berühmten Kabukistückes »Die 47 Getreuen«. Daß diese berühmte Begebenheit in einem englischen Stück auf der japanischen Kammerspielbühne aufgeführt wurde, bedeutet sozusagen »rückimportiertes Kabuki«. Es war noch merkwürdiger, daß sich bei der Aufführung die Schauspieler in den traditionellen japanischen Trachten nicht einmal so gut auskannten wie in den europäischen. Durch den frühen Tod Osanais versanken seine vielen neuen Pläne. Außer seinen gesammelten Werken »Osanai Kaoru zenshü« in 8 Bänden, die von Shunyodö, Tokyo, im Jahre 1929 herausgebracht wurden, hinterließ Osanai einige Bearbeitungen von Kabukistücken, aber sein eigentliches Werk, das Experiment, blieb Experiment. 9. Aus dem Vorstehenden dürfte sich deutlich ergeben, daß das moderne Theater in Japan, das Shingeki, dem traditionellen Theater ganz heterogen gegenübersteht. Das in Europa Gewöhnliche, daß ein Schauspieler heute eine Rolle in einem klassischen Stück, am nächsten Tage hingegen eine Rolle in einem modernen Stück spielt, ist in Japan wegen der heterogenen Grundlagen undenkbar. Die Schauspieler für das moderne Theater, das Shingeki, genauer gesagt, die Schauspieler im europäischen Sinne, die Schauspieler für das Kabuki-Theater und die für das No-Spiel sind streng voneinander getrennt. Es gibt daher kaum Beziehungen zwischen ihnen. Weiter ist Anakoluth (grdi.), das: Die veränderte Fortsetzung oder Unterbrechung eines Satzgefüges.
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zu bemerken, daß jede Theaterart ihr eigenes Publikum hat. In dieser strengen Trennung der Theater liegt die unvergleichliche Besonderheit der japanischen Theaterwelt. In Europa begann eine Theaterreform stets mit der Ablehnung des bisherigen Theaterstils. Das moderne Drama behauptete sich dem Theater gegenüber. Die genaue Darstellung des Details im Naturalismus war vielleicht zum Teil die Reaktion gegen die Routine auf der Bühne. Die übertriebene Schauspielkunst wurde einmal von der realistischen verneint. Aber dies alles bedeutet keine völlige Umschaltung. Die realistische Schauspielkunst wird immer von der pathetischen in der Klassik unterstützt. Ganz anders steht es in Japan. Japan gilt als das Land der Tradition, auch in der Theaterkunst. Aber dies bezieht sich nicht auf das moderne Theater, hierin hat es keine Tradition. Bezüglich seiner Schauspielkunst hatte es keine Routine, keine Diktion. Plötzlich fing es mit dem Kopieren der neueren europäischen Dramen und Spielarten an, ohne ihren Hintergrund zu kennen. Und auch auf dem Gebiete des modernen Dramas mußte es immer der neuen Reform in Europa nachlaufen, sei es Naturalismus, sei es Symbolismus, sei es Expressionismus. Diese Neigung ist noch heute in Japan festzustellen. Noch heutzutage ist in Tokyo Shakespeare nach der Regie des »Old Vic Theater«, Moliere a la comedie franjaise, Tschechow und Gorki im Stil des Moskauer Künstlertheaters oder Brecht nach dem Rezept des Schiffbauerdamm-Theaters zu sehen. Es könnten sogar »Othello« nach Stanislawsky, »Nachtasyl« nach Pitoeff oder »Krieg und Frieden« nach Piscator zur Aufführung gelangen. Leider ist es etwas schwierig, das Eigene der modernen japanischen Theaterkunst zu ermitteln. Indessen ist es erforderlich, daß Japan auch hier sein Eigenes schafft. Lessing hat einmal mit Recht die Deutschen darob getadelt, daß sie alles, was »von jenseits des. Rheins komme« verehrten. Diese sicherlich auch heute gültige Ermahnung, das Eigene hoch zu verehren, gilt sinngemäß für das japanische moderne Theater. Auch in Japan herrscht zur Zeit die Verehrung ausländischer Stücke vor. Doch darf wohl gesagt werden, daß diese ungünstige Neigung zur Zeit etwas eingeschränkt worden ist. Die Ensembles von heute bemühen sich, möglichst viele japanische Stücke auf die Bühne zu bringen. Bevor es aber gelingt, das Shingeki als das echte japanische Nationaltheater anerkannt zu sehen, muß zuvor ein schwieriges Problem gelöst werden. Es muß geklärt werden, wie es sich mit den traditionellen und volkstümlichen Elementen im Kabuki verhält. Im europäischen Theater kann für die bedeutungsvolle Frage keine maßgebliche Antwort gefunden werden, da es dort diese Heterogenität nicht gibt. Wie es scheint, stehen die Chinesen vor einem ähnlichen Problem. Das Verhältnis zwischen dem klassischen Drama (Chingchü, sog. Pekinger Oper) und dem modernen Drama (Huachü, wörtlich Sprechdrama) könnte dem japanischen ähneln. Zum Zweck des Vergleichs der Proble38
matik wurden in den letzten Jahren in Japan einige moderne chinesische Stücke aufgeführt. 10.
Hinzu treten in Japan Schwierigkeiten, die durch die Betriebsformen der Theater bedingt sind. Die ökonomische Basis der Theater ist in Japan im allgemeinen sehr schwach. Kein Theater kann vom Staat oder einer Stadt Subventionen erwarten. Erst jetzt gewinnt der Plan, ein Staatstheater zu gründen, an Boden. Der Gedanke, ein solches Kulturinstitut zu errichten, reicht mehrere Jahrzehnte zurück. Im Jahre 1906 fanden sich einige führende Finanz- und Wirschaftsleute bereit, den Plan eines Nationaltheaters zu unterstützen und sich auch finanziell an der Durchführung zu beteiligen. Das öffentliche Interesse indessen erwachte erst im Jahre 1921, und dann dauerte es bis zum Jahre 1937, bis die Regierung eine entsprechende Vorlage günstig erledigen konnte. Der Ausbruch der chinesisch-japanischen Auseinandersetzungen verhinderte die Weiterführung. Bereits im Jahre 1947 tauchte der Plan vorübergehend wieder auf, aber erst im Juli 1955 nahm er festere Gestalt an. Als beratendes Organ für die Kommission zur Erhaltung des japanischen Kulturbesitzes bildete sich der »Art Facilities Research and Deliberation Council«. Im Jahre 1956 entstand ein »Vorbereitungskommittee für die Errichtung eines Nationaltheaters«. Das Finanzministerium bewilligte erstmalig im Rechnungsjahr 1957 eine kleine Summe von umgerechnet ungefähr 160000 DM. Geplant sind vier Saalbauten, ein Saal mit 2000 Plätzen für klassische japanische Tanzaufführungen, ein zweiter mit 1300 Plätzen für den modernen Tanz, ein dritter f ü r die Vorführung von Nö-Spielen mit 600 Sitzplätzen und endlich ein vierter für das moderne Ballett, die moderne Oper und Konzerte. Die Kosten würden etwa 3,4 Milliarden Yen betragen (etwa 4 Millioen DM). Es ist vorgesehen, mit den Bauarbeiten im April 1961 zu beginnen und sie zwei Jahre später abzuschließen. Das No-Spiel wird heutzutage zumeist von einer Gemeinde der NoUnterstützer getragen. Noch heute gibt es 5 Schulen. Sie sind ähnlich wie die früheren deutschen Zünfte aufgebaut. Jeder No-Spieler gehört zu einer dieser Schulen, und das Recht der Zugehörigkeit kann nur innerhalb der eigenen Familie vererbt werden. Es gibt einige Familien, die über 25 Schauspielergenerationen aufweisen. Ähnlich ist es beim Kabuki. Eine solche Schule hat die absolute Autorität. Sie wählt die Stücke aus und bringt mehrere Vorstellungen im Monat. Aber eine Vorstellung wird nicht wiederholt, weil die Zahl der Besucher sehr begrenzt ist. Da aber in Japan der Gesang und der Tanz des Nö-Spiels oft aus Gründen der Bildung erlernt wird, bestehen die Zuschauer meistens aus solchen Schülern. Leider lebt das N6Spiel sozusagen in Autarkie. In Tokyo bestehen etwa ein Dutzend solcher No-Bühnen. 39
Ganz anders steht es beim Kabuki-Theater. Von einem Ensemble in Tokyo abgesehen, gehören alle wichtigen Kabuki-Theater der ShodiikuAktiengesellschaft oder der Toho-Aktiengesellsdiaft, und damit unterstehen ihnen alle Schauspielergruppen. Die Gesellschaften betreiben das KabukiTheater als ein Geschäft und stellen alle Kabuki-Sdiauspieler an. Außer diesen Anstellungsverhältnissen bestehen kaum persönliche Beziehungen zwischen den Gesellschaften und den Schauspielern. Die Gesellschaften zwingen die angestellten Schauspieler oft, fast Unmögliches zu leisten. Das Kabuki-Theater gibt gewöhnlich jeden Tag zwei Vorstellungen, eine Matinee und eine Abendvorstellung. Die Matinee beginnt um 11 Uhr und dauert bis 4 Uhr. Um 4.30 Uhr beginnt dann bereits die Abendsvorstellung, die bis 10 Uhr dauert. In einer Vorstellung werden 3 oder 4 Stücke gegeben. Dadurch wird ein berühmter Schauspieler genötigt, 6 oder 7 Rollen an ein und demselben Tag zu spielen. Dies ist der Gang der privilegierten Schauspieler einer angesehenen alten Schauspielerfamilie. Die Schauspieler hingegen, die nicht aus einer solchen Schauspielerfamilie stammen, haben es noch schwerer. Die Tür zu einer guten Rolle ist ihnen fast verschlossen. Sie müssen sich damit begnügen, meist ihr ganzes Leben lang Komparsen zu bleiben. Solche Schauspieler schlagen ζ. B. jeden Tag Purzelbaum oder sie werden oft auf der Bühne niedergeschlagen. Dafür erhalten sie als Gage ein paar hundert Mark im Monat. Solche Aktiengesellschaften besitzen heute in Tokyo drei große Theater mit über 2000 Plätzen. Da das Kabuki unter dem Schutze von bedeutenden Firmen steht, ist es ohne finanzielle Sorgen. Aber dies schadet in vielerlei Hinsicht den Möglichkeiten, einen neuen Versuch zur Weiterentwicklung zu unternehmen. Das moderne Theater (Shingeki) ist selbständig, aber dadurch ist seine finanzielle Lage ziemlich schwach. Selbst in Deutschland kann der Betrieb eines nichtsubventionierten Theaters ziemlich schwierig sein, geschweige denn in Japan, wo das moderne Theater noch nicht genug Besucher hat. Die Vergnügungssteuer wird mit dem Kauf der Eintrittskarte erhoben. Sie ist enorm hoch. Diese Steuer wurde im Kriege als eine besondere Maßnahme eingeführt, aber um der günstigen Einnahme von jährlich 180 Millionen DM willen bisher noch nicht aufgehoben. Durch diese Umstände verdienen die Schauspieler des modernen Theaters sehr wenig und sind genötigt, für die drei F, Film, Funk und Fernsehen, zu arbeiten, um zu leben und unter Umständen die Verluste einer schwach besuchten Vorstellung selber decken zu können. Die Tournee ist in Japan ebenfalls ein Teil des unvermeidlichen Theaterbetriebes, aber nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch zur Aufklärung. Nur in Tokyo, Osaka und Kyoto gibt es moderne Theater. Zur Zeit gibt es in Tokyo drei große Ensembles und über 40 kleinere 40
Schauspielgruppen. Dies bedeutet aber nicht, daß es in Tokyo an einem beliebigen Abend 40 Vorstellungen gibt. Es gibt zwar viele Ensembles, aber nur ein einziges Theater für das moderne Drama. Dieses Theater hat 400 Plätze und wurde im Jahre 1954 von den Beiträgen der Schauspieler, des Besucherkreises und der Schriftsteller erbaut. Wenn ein Ensemble etwas aufführen will, muß es einen Saal mit einer Bühne für eine bestimmte Zeit mieten. Solche Säle gehören oft einer Gesellschaft, einer großen Zeitung oder großen Warenhäusern oder Rathäusern der Städte oder sonstigen öffentlichen Körperschaften. Es gibt darunter audi einige Säle, die über alle theatralischen Einrichtungen und über 1000 Plätze verfügen. Das Aussehen der anderen Säle ist aber fast dem des Börsensaales in Frankfurt am Main vergleichbar, wenn dieser als Ersatztheater dienen würde. Aus diesen Gründen ist es zur Zeit fast unmöglich, daß ein modernes Theater in Japan jeden Abend ein anderes Stück aus seinem Repertoire darbietet. Deshalb gibt ein Ensemble während einer gewissen Zeit, ζ. B. 20 Tagen, stets das gleiche Stück. Aber diese Aufführungen machen sich oft nicht bezahlt. So muß das Ensemble nach seinen Aufführungen eine geraume W e i l e durch die drei F oder durch eine Tournee die nötigen Gelder verdienen und daneben ein neues Stück einstudieren. Dann gibt es wiederum für eine längere Zeit das neueinstudierte Stüde. Selbst die drei großen Ensembles können durchschnittlich nur 100 bis 120 Vorstellungen im Jahr geben. Dies ergibt aber nur höchstens zehn neue Stücke. Die Reprise kommt nur ausnahmsweise. Die kleineren Gruppen können indessen nur 30 bis 40 Vorstellungen im Jahr geben. Dies ergibt dann vier bis fünf Stücke. 11. Mit den bisherigen Darlegungen sind die besonderen Bedingungen des Theaterwesens in Japan ungefähr aufgezeigt. Die weiteren Ausführungen sollen sich mit den Problemen des modernen Theaters befassen. Es entsteht zuerst die Frage, welche Stücke im modernen japanischen Theater gespielt werden. Während der letzten 13 Jahre, also in der Zeit nach dem Kriege, wurden in Tokyo 200 ausländische Stücke von etwa 90 Autoren und 250 moderne japanische Stücke von etwa 100 Autoren gegeben. Es sind dies die Autoren: aus D e u t s c h l a n d : Lessing, Goethe, Schiller, Kleist, Hebbel, Gerhart Hauptmann, Wolf, Brecht, Bordiert, Weisenborn, Eich, Frisch, Dürrenmatt, Friedrich Förster; aus F r a n k r e i c h : Racine, Moliere, Beaumarchais, Musset, Riehe, Ostand, Merimee, Renard, Pagnol, Romain Rolland, Martin du Gard, Ayme, Courtline, Achard, Tristan Bernard, Gantion, Husson, Roussan, Giraudoux, Anouilh, Cocteau, Sartre, Camus, Saracrou, Vaien; aus den U . S . A . : O'Neill, Wilder, Τ. Williams, Odets, Arthur Miller, Saroyan, Kingsley, Cordwell, Maxwell Anderson, Lilian Hermann, Paul Os41
born, Inge, Herbert, Druten, Kesseling, Steinbeck, Hall und nicht zuletzt Goodrich und Hackett als Autoren des Tagebuchs der Anne Frank; aus G r o ß b r i t a n n i e n : Shakespeare, J. M. Barrie, Coward, Huxley; aus I r l a n d : Synge, O'Casey, Oregory; aus R u ß l a n d : Ostrowsky, Tschechow, Gorki, Tolstoi, Gogol, Siemonow, Kirschon, Belawdenjow, Leonow. Die zwei großen N o r d l ä n d e r Ibsen und Strindberg wurden natürlich auch oft gespielt. Der I t a l i e n e r Pirandello, der S p a n i e r Lorca, der H o l l ä n d e r Heyermanns, die U n g a r n Molnar und Hay, der P o l e Kurzkovsky und der T ü r k e Hikmet erlebten einige Vorstellungen. Aristophanes wurde auch nach dem Kriege aufgeführt. Merkwürdig ist es, daß erst nach dem Kriege einige moderne c h i n e s i s c h e Autoren debütierten, weil sie heute vor einer ähnlichen Problematik wie die Japaner stehen. Einige wichtige europäische Autoren, die ohne Zweifel für Japan von Interesse sein würden, sind aber noch nicht aufgeführt worden, weil dies die ziemlich schwierigen U r heberrechtsbedingungen meist nicht zulassen. Die Einführung ausländischer Stücke ist immer eine schwierige Sache. Soweit dies Japan betrifft, kann nicht gesagt werden, daß alle eingeführten Stücke auch die am meisten geeigneten wären. Jedoch stieg hierdurch in Japan das Niveau und schärfte sich das kritische Auge der Besucher. Es kann wohl angenommen werden, daß diese Tendenz immer stärker werden wird. 12.
Es wird einen Deutschen vielleicht sehr eigenartig berühren, Japaner mit ihrer etwas anderen Physiognomie auf der Bühne ζ. B. als Deutschen in deutschen Stücken spielen zu sehen. Soweit dies sich nur auf die Technik bezieht, und auf sie kommt es in Japan j a vor allem an, ist die Übernahme sicher oft gut gelungen 1 . Dessen ungeachtet muß der Schaffensprozeß der japanischen Schauspieler noch intensiver erforscht werden, damit die Übernahme nicht leer und oberflächlich bleibt. Es gab in Japan eine Zeit, in der die Arbeitsmethode des russischen Schauspielers Stanislawsky als goldene Regel galt und fast alle seine Schriften ins Japanische übersetzt und auch gierig gelesen wurden. Aber eigentlich ist es für die japanischen Schauspieler erforderlich, ausreichende Kenntnis der eigenen Arbeitsweisen zu haben. Obwohl die Ausdrucksweise der Japaner unter dem Einfluß der abendländischen Filme ein wenig dieser angenähert wurde, so fehlen doch im täglichen Leben in Japan einige bestimmte Gesten, wie ζ. B. das Achselzucken oder das Händeringen. Schon aus diesem Grunde brauchen die japanischen Schauspieler eine ihnen eigene Ausdruckstechnik. Es ist des1 Es darf hierfür auf die Beridite eines deutschen Geistlichen über die Aufführungen Hebbels in Tökyö verwiesen werden. Rheinischer Merkur vom 29. März 1957 - Hebbeljahrbudi 1957
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halb sehr zu begrüßen, daß ein japanischer Regisseur namens Koreya S e η d a im Jahre 1950 sein zweibändiges Werk der modernen japanischen Schauspielkunst veröffentlichte 1 . 13. Neben der Erforschung der Schauspielkunst ist es auch unbedingt erforderlich, daß gute moderne japanische Stücke geschrieben werden. Das moderne japanische Drama hatte vor dem Kriege, etwa in der Zeit zwischen 1930 und 1940 bereits eine annehmbare Höhe erreicht. Damals gab es zwei Hauptrichtungen. Die eine dieser Richtungen versuchte unter der Bezeichnung »sozialistischer Realismus« Zeitstücke und geschichtliche Stücke zu schaffen. Es darf wohl in diesem Zusammenhang bemerkt werden, daß in Japan die Bezeichnung »Realismus« häufig gebraucht wird, indessen seine Erklärung ziemlich unklar und umstritten geblieben ist. Die andere Hauptrichtung bemühte sich, unter dem Einfluß französischer Gesellschaftsstücke das moderne Zwiegespräch einzuführen. Kunio Kishida (1890-1954) gab eine Zeitschrift für Dramen dieser Richtung heraus. Aus dieser sogenannten Kishida-Schule gingen einige der heutigen Dramatiker hervor. Unter dem überwiegenden Einfluß der Auseinandersetzungen mit China auf die sozialistischen oder vielleicht auch liberalen Neigungen der Theaterweit im Jahre 1940 übte die damalige Regierung einen starken Drude aus. Es war sicherlich symbolisch, daß in diesem gleichen Jahre Georg Kaiser in der Schweiz sein antimilitärisches Stück über Japan unter der Bezeichnung »Soldat Tanaka« schrieb. Dieser Einfluß der Regierung führte zu einem Stillstand f ü r das moderne Theater. Einen besonderen Schaden brachte diese Unterbrechung der Entwicklung den modernen Schriftstellern. Im Gegensatz zu dem modernen Theater hatte das Kabuki-Theater während der folgenden Kriegszeit fast keine Reibungen mit der japanischen Regierung. Der Umschwung kam nach dem Kriege durch die Besatzung. Das Kabuki-Theater bekam den gutgemeinten Rat, einige »feudale« Stücke, besonders Racheaktionen, aus dem Spielplan zu streichen. Das berühmteste Kabukistück »Die 47 Getreuen« wurde gestrichen und kam erst 1950 wieder auf die Bühne. Es erlebte somit ein ähnliches Schicksal wie in Deutschland Kleists »Prinz von Homburg« und Lessings »Minna von Barnhelm«. Das moderne Theater hingegen wurde von der amerikanischen Besatzung gefördert. Dringend gefragt waren neben ausländischen Stücken neue japanische. 1
Koreya Senda, Regisseur und Schauspieler. Intendant des »Haiyuza-Theaters in Tokyo. Er war in den 20er Jahren in Berlin und soll, wie es heißt, einmal die Rolle des Japaners in Kaisers »Nebeneinander« auf der deutschen Bühne gespielt haben. Vor dem Kriege spielte er mit großem Erfolg den Mephisto in Goethes »Faust«, den Hamlet usw. Er inszenierte viele japanische, deutsche und audi russische Stücke. In dem berühmten Film »Höllentor« spielt Senda die Rolle eines Glatzkopfes.
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14. Zur Zeit gibt es einige japanische Dramatiker, die durchweg als gute Autoren angesprochen werden können. Wegen der großen sprachlichen Übersetzungsschwierigkeiten gelangen sie nur sehr selten auf deutsche Bühnen. In deutschen Theatern debütierten bis jetzt nur zwei von ihnen. Jyunji K i n o s h i t a (geb. 1914) schrieb aus der Volkssage das Stück »Kranichsfedern«. Es wurde von Prof. Eckardt unmittelbar aus dem Japanischen ins Deutsche übertragen und im Juli 1957 in Bielefeld uraufgeführt. Leider erlebte es bislang noch keine Reprise. Es wird für deutsche Verhältnisse als zu matt angesehen, obwohl es den auch in Deutschland bekannten Gegensatz zwischen der Liebe und dem Gold in dramatischer Form behandelt. Dieses Stück wurde auch von einem japanischen Komponisten vertont und von dem Stadttheater Zürich im gleichen Jahre 1957 als Oper auf die Bühne gebracht. Yukio M i s h i m a (geb. 1925) schrieb 5 Nö-Stücke in moderner Fassung. Es ist vielleicht angängig, sie als einen ähnlichen Versuch im Westen anzusehen, antike Dramen zu modernisieren. Von diesen fünf Stükken wurden drei auf mehreren westdeutschen Bühnen gleichzeitig in unterschiedlicher Auswahl herausgebracht. Diesen Versuch wagten die Bühnen in Kiel, Hamburg, Bremen, Göttingen, Heidelberg und Saarbrücken. Wie es scheint, ist Mishimas Debüt auf deutschen Bühnen ziemlich geglückt. Über andere moderne japanische Dramatiker kann gleichfalls kurz berichtet werden. Sakae K u b o (1901-1958) war nicht nur als Dramatiker bekannt geworden, sondern auch als Regisseur und Übersetzer von Hans Sachs, Johann Wolfgang von Goethe, Gerhart Hauptmann und Karl Sternheim. Unter der Bezeichnung eines sozialistischen Realismus schrieb Kubo sozialhistorische Stücke und auch problematische Zeitstüdke, die sich aber schon zu einer gewissen dichterischen Höhe erheben. Das beste seiner Dramen, »Das Land aus Lavaguß« (1938), behandelt die Widersprüche in der landwirtschaftlichen Organisation auf einer unkultivierten japanischen Insel. In seinem historischen Schauspiel »Bund in der Goryo-Festung« (1936) betrachtete er die staatliche Umformung im Jahre 1868 als einen Kompromiß innerhalb der oberen japanischen Führungsschichten. Das Hauptgewicht legt er auf den historischen Wert einer niederen Samuraikaste. Er sieht in ihr eine Mittelschicht zwischen dem japanischen Volk und den regierenden Kreisen in einer ähnlichen Stellung, wie er sie in der der deutschen Ritter im deutschen spätmittelalterlichen Bauernkrieg zu sehen vermeint. In seinem »Tagebuch im Apfelgarten« (1946) schildert Kubo den Gewissenskonflikt eines Schriftstellers während der langen Kriegszeit. Sein Zeitstück »Das japanische Klima« (1954) ist die Geschichte eines Meteorologen, der in der staatlichen Wetterwarte, also einem Zweig der Bürokratie, arbeitet. Ungefähr in der gleichen Richtung arbeiten: Eijiro H i s a i t a (geb. 1898) 44
und Jyuro M i y o s h i (geb. 1902). Miyoshi zeigt in seinen Werken eine zähe Verfolgung des Wesens des Mensdien bei einem wortgetreuen Realismus. Er schrieb »Abgrund« (1947), »Den kennt niemand« (1948). Dies letztere Stück ist eine Konfrontierung mit dem »Absoluten«. Mit seinem biographischen Stück über den bekannten Maler van Gogh unter dem Titel »Der Feurige« (1950) hatte Miyoshi in Japan großen Erfolg. Tomoyoshi M u r a y a m a (geb. 1901) schrieb radikale Tendenzstücke, wie ζ. B. »Das tote Meer« als Protest gegen die amerikanische Besatzung. Er gilt als kommunistischer Dramatiker. Zugleich ist er Regisseur. Erwähnt sei audi die Rückkehr eines älteren Dramatikers, Shunjiro A o e mit seinem preisgekrönten Stüde »Horyuji-Tempel« (1958). Aus der schon erwähnten Richtung der Dialog-Stücke sind einige Autoren zu nennen. Kaoru M o r i m o t o (1912-1946) schrieb im Krieg das Stück »Rykscha-Boy«. Es wurde später verfilmt. Dieser Film erhielt in Venedig im Jahre 1958 den »Goldenen Löwen«. Einige Gesellschaftsstücke, wie »Ein grandioses Geschlecht«, »Die langweiligen Stunden« und »Das Leben einer Frau« haben eine legere Heiterkeit oder soignierte Dialoge, die er vor allem dem Engländer Coward verdankt. Dialektdramatiker Takeo T a g u c h i und Yuji K o y a m a (geb. 1906) gehören auch zu dieser Richtung. Koyamas poetisches Dialektstück »Inselstadt, wo Krebse wohnen« (1956) und das Künstlerdrama »Ball zu zweit« (1957) haben besonderen dichterischen Flug und Klang. Naoya U c h i m u r a (geb. 1909) schrieb das Familiendrama »Das ferne Siegeslied« (1956) und »Der Besuch am Abend« (1952). Dies letztere Stück ist die Bearbeitung des »Inspector comes« von Priestley. Abseits aller Schulen steht Yutaka M a f u n e (geb. 1902). Er schreibt immer ursprünglich. Seine ersten bäuerlichen Einakter »Wiesel«, »Hackbeil«, »Wasserdieb« usw. wurden in den 30er Jahren in Japan viel gespielt. Mit seinem Zeitstüdc »Allegro« zog Mafune die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. »Allegro« ist die Geschichte eines Glücksritters in seinen späteren Lebensjahren. Es spielt vor dem Hintergrund der chinesisch-japanischen Auseinandersetzungen um die Zeit etwa von 1930. Unter seinen Nachkriegsdramen sind zu nennen: »Familie Nakahashi« (1946), die Geschichte einer großen Familie japanischer Auswanderer in China nach der japanischen Kapitulation vom Jahre 1945. In seinem Drama »Das gelbe Zimmer« (1948) zeigt Mafune die Kluft auf zwischen zwei aufeinanderfolgenden Generationen. So laufen die Handlungen des alten und des jungen Ehepaares in den beiden getrennten Zimmer rechts und links auf der Bühne unberührt nebeneinander her. »Rote Lampe« (1953) schildert das Leben eines militärischen Terroristen, von dem es heißt, daß er wirklich gelebt haben soll. Der erste Autor von Unterhaltungsstücken ist Tadasu I i z a w a (geb. 1909). Er schreibt belustigende Boulevardstücke mit vielen Sdierzen, Witzen und Spitzen, wie »Konkubine Nr. 2« (1955) und »Palmen und Frauen« (1956). 45
Seiichi Y a s h i r o (geb. 1926) schreibt ungefähr in der gleichen Richtung. Audi Frauen treten als Autoren hervor. Die beiden Dramatikerinnen Matsuyo A k i m o t o (geb. 1906) und Sumie T a n a k a (geb. 1908) schreiben oft Stücke mit Frauenproblemen. Tanaka bevorzugt die Schilderung des Milieus des Kleinbürgers und der Psychologie der Frauen. Beachtlich ist ihre Bearbeitung des Kabukistüdkes »Frau mit Handtrommel« (1957). Ihr Mann Chikao T a n a k a (geb. 1905) begann als Kishida-Schüler und schrieb schon vor dem Kriege den oft gespielten Einakter mit Dialog »Mutter«. Genannt wird audi sein Drama »Äffin«, die Geschichte einer egozentrischen Frau. Nach dem Kriege fand sein Einakter »Jenseits der Wolken« (1948) allgemein Beachtung. Er behandelt den anomalen Heimkehrer aus dem Kriege, außerdem hat das Stüde existenzialistische Züge. Sein preisgekrönter Einakter »Erziehung« (1954) zeigt den inneren Konflikt zwischen beiden Geschlechtern, ein sehr spannendes, dramatisches Stück. Das historische Schauspiel »Chronik von Nagasaki« (1956) ist ein Fünfakter mit Prolog und Epilog, in dem die Gespräche zwischen den Hügeln Nagasakis stattfinden. Es handelt sich um die Geschichte der Verfolgung des katholischen Christentums vor 150 Jahren 1 und läßt die Besucher die angedeutete Tragödie der Atombombe in Nagasaki im Jahre 1945 ahnen. Tsuneari F u k u d a (geb. 1912) ist Übersetzer der »Cocktailparty« Eliots. Er schrieb anfangs satyrische Komödien. Sein Erstlingseinakter »Die Eroberung einer festen Burg« (1949) ist ein eindrucksvolles Zwiegespräch zwischen zwei Personen, einem Schriftsteller und seinem Verehrer. Der Stellung nach ist es dem neuen Einakter Dürrenmatts ähnlich, aber das Endergebnis ist ganz gegensätzlich. Dann folgen seine beiden Stücke »Taifun Kitty« (1949), eine Zeitsatyre in vier Akten und die psychiatrische Komödie »Der Mann, der den Drachen streichelt« (1950) - alle Figuren in diesem Stüde sind irgendwie verrückt. Der einzige normale Mann sagt am Schluß: »Ich sehe den Drachen und liebkose ihn!« Eine ironisch-intellektuelle Tragikomödie des heutigen Unternehmers ist das Stüde »Held von heute« (1951). Andererseits versucht Fukuda, den Rhythmus des Versmaßes in die japanische Umgangssprache einzuführen und eine moderne Metrik zu schaffen. Das Ergebnis seines Versuchs ist eine Familientragödie der Gegenwart »Hell und 1 Allgemein wurden die Christen in Japan bis etwa 1650 verfolgt. Aber die Verfolgung, die dieses Stück behandelt, geschah ungefähr um 1800 herum. Trotz des Verbotes der Regierung wurde das Christentum heimlich weiter gepflegt und so geschah es, daß die Verfolgung im Kleinen immer wieder auflebte. Anfang des 19. Jahrhunderts trieb der Bakufu keine feste Realpolitik. Die Maßnahmen gegen fremde Religionen änderten sich je nadi der Ansicht der regierenden Personen. Diese Verfolgung ist besonders tragisch deshalb, weil sie kurz vor der Freiheit des Glaubens eintrat. Die Märtyrer waren die Opfer der veränderlichen Politik. Die Regierung erlaubte die Mission der katholischen Priester um 1800 herum wieder, aber andererseits verfolgte sie die japanischen Christen, die seit Generationen sich ihren Glauben erhalten hatten.
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dunkel« (1956). Seine Bearbeitung des Kabukistückes »Akechi Mitsuhide« (1957) mit dem Macbeth-Motiv wurde im Jahre 1957 in Zusammenarbeit von modernen Schauspielern mit Kabuki-Sdiauspielern erfolgreich auf die Bühne gebracht. Kimifusa A b e (geb. 1925) ist ein junger Arzt, ein bitterer Satiriker voller Einfalle. Diese Einfalle scheinen sehr exzentrisch zu sein, sie sind aber kein Unsinn, denn hinter ihnen steckt eine scharfe, j a prickelnde Kritik der Gegenwart. So ist Abe kein Avantgardist. Er wurde anfangs ein wenig vom magischen Realismus Kafkas und von dem Verfremdungseffekt Brechts beeinflußt. Seine Erstlingswerke sind »Uniform« (1955) und »Klipper« (1957). Das letztere Stüde hat einen ähnlichen Vorwurf wie Georg Kaisers »Gatz«. Das dritte Stüde »Sklavenjagd« (1956) hatte großen Erfolg. Es hat folgenden Inhalt: Ein angeblicher Abenteurer gibt vor, er habe im Großen Ozean auf einer Insel eine menschenartige,gehorsameHerrasse entdeckt, die vielleicht unter Umständen als Sklaven Militärdienste leisten könnte. Bis zur Enthüllung seines Schwindels gibt es viel Unruhe und Aufregung. Abes neueste Komödie heißt »Hier sind Gespenster«. Es soll 1958 bei seiner Uraufführung in Tokyo großen Erfolg gehabt haben. Ein Heimkehrer aus dem letzten Krieg sieht den Schatten eines durch seine Schuld gestorbenen Kameraden immer neben sich. Er fällt in die Hände eines Hochstaplers. Dieser benutzt die Vision des Heimkehrers, um alle Einwohner seiner Heimatstadt glauben zu machen, daß die Welt der Schatten wirklich auf Erden bestünde. Der Geisterseher verliert plötzlich seine Vision und damit seine Kraft, als er wahrnimmt, daß der totgeglaubte Kamerad wirklich lebt. Dann folgt eine allgemeine Verwirrung. Jyunji K i n o s h i t a (geb. 1914) wurde bereits an anderer Stelle erwähnt. Er schreibt seine Stücke in zwei Stilarten. Einmal versucht er Volksstücke, die er der Sage oder dem Märchen entnimmt. Dann prüft er, ob es möglich ist, ein neues prosaisches Versdrama in der gewöhnlichen Umgangssprache lebendig und sie zur modernen Bühnensprache zu machen. Den größten Erfolg hatte sein »Kranichsfedern« (1947). Es behandelt in sublimierter Form die Geschichte des Geistes eines Kranichs und den Gegensatz von Liebe und Gold, wie bereits an anderer Stelle erwähnt. Ferner schrieb Kinoshita eine Serie anderer Volksstücke: »Geschichte des klugen Jungen Hikoichi«, »Fuchs und Priester«, »Warten auf den Mond der 22. Nacht«, »Der drei Jahre lang schlafende Junge« usw. Einige seiner Stücke wurden audi vom KabukiTheater gespielt. Der Gedanke, solche Volksstücke zu schreiben, entstand, als er erfuhr, daß in Europa die antiken Dramen modernisiert würden. Andererseits brachte er einige sozial-historische Stücke mit guter Problemstellung heraus. Das beste davon ist »Sturm und Brandung« (1946). Es behandelt die Leiden eines Nachkömmlings einer Samuraifamilie um das J a h r 1870 zwischen den geistigen und materiellen Fronten der gerade eindringenden euro47
päisdien Zivilisation und der radikalen und anachronistischen Bewegung der damaligen Jugend. Sein Stüde »Himmelfahrt eines Frosches« (1951) spielt im Land der Frösche und behandelt in gleichnishafter Form das Problem des Krieges und des Friedens. Sein Zeitstück »Der dunkle Funke« (1950) ist das Problem der kleineren Unternehmer, die nicht mehr mit den großen Kapitalisten konkurrieren können. Yukio M i s h i m a (geb. 1925) ist sicherlich ein genialer Autor von großer Vielseitigkeit. Bereits im Jahre 1946 veröffentlichte dieser frühreife Dramatiker seine Novellensammlung unter dem Titel »Der Wald in der Blütezeit« und verblüffte alle Kritiker. Sein Debüt erinnert an das Auftreten von LorisHofmannsthal. Mishima entstammt einer Adelsfamilie. Sein klassischer, ästhetischer Stil läßt nicht seine Jugend erkennen. Er brachte seitdem eine große Zahl von Romanen, Novellen und Reisebeschreibungen heraus. Sein bemerkenswerter idyllischer Roman »Brandung« erschien bereits in deutscher Übersetzung1. Seit dem Jahre 1949 schreibt er Theaterstücke. Seine beiden Einakter »Das tägliche Leben in der lichterlohen Flamme« und »Leuchtturm« werden viel gespielt. Als Dramatiker ist er eigentlich mehr konservativ als modern. Er liebt die strenge Form der französischen Klassik. Sein mit einem Literaturpreis gekröntes Stüde »Das Nest der Ameisen« (1954) hat einen vieraktigen Bau und ist mit vier Personen besetzt. Es befolgt streng die Dreieinheiten. Aber die geistige Struktur seiner Personen ist durchaus modern. Sein historisches Intrigenstück »Ball in dem RokumeiSaal« (1955) gilt als ein Muster des gut gelungenen Stücks, obwohl es in seiner Raffiniertheit mehr als ein Piece bien fait ist. Andere Dramen »Umsonst ist am teuersten« (1955) und »Sonnenblume in der Nacht« hatten audi als Unterhaltungsstücke großen Erfolg. Die meisterhaften Zwiegespräche und die geschickt zusammengeflochtenen Situationen sind sehr wirkungsvoll. Überall ist die Wirkung einer Psychoanalyse spürbar. In seinem einzigen Zeitstück im engen Sinne »Jugend, steh auf« (1953) zeigt Mishima viele Typen von japanischen Studenten vor der japanischen Kapitulation. Mishima schreibt nicht nur für das Shingeki, sondern audi für das Kabuki. Seine Kenntnisse des traditionellen Theaters sind sehr groß. Er bearbeitete für seinen Lieblingsschauspieler für Frauenrollen im Kabuki eine moderne Novelle des Rashomon-Autors Akutagawa. Auch gibt es eine Kabuki-Bearbeitung von Racines »Phädra« aus seiner Feder und eine Posse. Sein Versuch, »Moderne Νό-Spiele« zu schreiben, kann man als eine Brücke zwischen dem japanischen Gestern und dem abendländischen Heute ansehen. Seine 5 No-Stücke haben sowohl der modernen Theaterwelt als auch der alten viele Anregungen gegeben, neue Experimente zu wagen. 1
Mishima, Yukio »Brandung«, 1959, Rowohlt-Tasdienbuchverlag GmbH, Hamburg, übersetzt von Gerda von Uslar und Oscar Benl.
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15. Es bleibt nun noch die Frage, wieweit das moderne Theater, das Shingeki, fähig ist, das Traditionelle in sich aufzunehmen, beziehungsweise sich mit ihm zu verbinden. Zuvor soll über Versuche gesprochen werden, innerhalb des traditionellen Theaters zu modernisieren, im Zusammenhang mit dem modernen Theater. Fünf Punkte sind bei diesen Versuchen zu unterscheiden. Erstens: Die Aufführung der modernen Stücke auf dem Nö-Theater und die moderne Bewegung innerhalb des No-Spiels. Vor dem Kriege gab es schon einige Aufführungen moderner Stücke. Sie waren aber meistens nur im Rahmen des Nö-Spiels, also unter Beachtung herkömmlicher Nö-Regeln geschrieben. Die wirklichen Experimente begannen erst im Jahre 1951, als einige No-Spieler einen bahnbrechenden Versuch mit dem Stüde von Kinoshita »Kranichsfedern« wagten. Was bedeutete aber schon bahnbrechend für die Νό-Welt? Nichts anderes, als daß bei diesem eigentlichen Tageslichtspiel zum ersten Male auch künstliche Beleuchtung verwandt wurde. Zum anderen fand diese Aufführung nicht auf der üblichen Nö-Bühne, sondern in einem Saal mit moderner Bühne statt. Und zum letzten wurde nicht Altjapanisch, sondern die gegenwärtige japanische Umgangssprache gesprochen. Aus diesen drei Veränderungen ergibt sich die Konservativität im No-Spiel - im guten, bewahrenden Sinne und im schlechten, die Entwicklung hemmenden. Dem Stoff nach ist auch die Aufführung der »Auferstehung Christi« in der strengen No-Form ein Wagnis. Dieses Experiment wurde im Jahre 1957 unternommen. Der zweite Punkt betrifft die Zusammenarbeit der No-Spieler und der Schauspieler für das Shingeki. Die Aufführung eines der 5 modernen NoStücke von Mishima, »Damasttrommel« im »Round Theatre« mit Schauspielern beider Gattungen ereignete sich im Jahre 1954. Bis dahin war dieses Stüde nur von Shingeki-Schauspielern aufgeführt worden. Die Meinungen über die Aufführung im »Round Theatre« waren recht geteilt. Punkt drei behandelt die neue Bewegung in der Kabukiwelt. Die oben erwähnten beiden Νό-Versudie wagte ein Spielleiter namens Takechi, der vorher nur Theaterliebhaber gewesen war. Er wollte das Kabuki reformieren, wozu ihn seine Forschungen über die traditionellen Theaterstile führten. Auf eigene Kosten schulte er einige junge Kabukischauspieler in Osaka nach seiner eigenen Methode. So lehnte er die herkömmlichen formellen Sdiauspielübungen, wie auch die Ansicht ab, daß das Wesen des Kabuki nur in der ästhetischen Wirkung des Stiles liege. Er behauptete, das Wesen und das Lebensgesetz des Kabuki können erst in der Überwindung des besonderen Stiles des Kabuki ermittelt werden. Ihm zufolge ist die Schönheit des Kabuki, geschichtlich gesehen, in dem von den regierenden Kreisen ausgeübten Zwange herbeigeführt worden. Indessen war es den 49
Schauspielern verwehrt, die Wahrheit darzubieten, ζ. B. die Ungerechtigkeit in den feudalen Verhältnissen. Sie konnten audi nicht die Stimme des Volkes ausdrücken, sondern nur mit vieler Mühe außerhalb des Stiles versuchen, ein wenig Wahrheit aufleuchten zu lassen. Seit der staatlichen Umwälzung aber soll das Kabuki dieses Streben vergessen und sich nur darauf beschränkt haben, die äußere Form zu erhalten. So ergaben die Forschungen Takechis, daß das Kabuki einmal als »Spiegel der Zeit« eine gewisse Rolle gespielt hat. Takechis Studioaufführung im Jahre 1949 in Osaka zeigte das Kabuki in einer anderen Sicht. Allerdings fand diese Aufführung außerhalb des Betriebes einer gewinnsüchtigen Gesellschaft statt. Der Erfolg seiner Bemühungen, zu dem von ihm ermittelten Sinne des Kabukis zurückzukehren, war bemerkenswert, obwohl auch viele Gegner anwesend waren. Dieses Wiederauffinden der volkstümlichen Elemente in der Klassik erinnert irgendwie an Jean Vilar in Frankreich. Aber Takechis Versuche blieben nicht unangefochten. Die auf Profit gerichtete Shodiiku Aktiengesellschaft vereitelte weitere Versuche. Zur Zeit ist dadurch Takechi genötigt, seine Bemühungen einzustellen. Nachdem er sein Betätigungsfeld verloren hatte, wandte sich Takechi der Νό-Welt zu. Viertens kann bereits eine gewisse Zusammenarbeit von Kabuki-Schauspielern mit Schauspielern des Shingeki festgestellt werden. Im Sommer 1957 beteiligten sich mehrere Kabuki-Sdiauspieler an einer Aufführung im Shingeki-Theater. Dies ist allerdings ein Anfang eines Zeitabschnittes innerhalb der Entwicklung der japanischen Theater. Der bereits erwähnte Autor Fukuda bearbeitete mit dem Motiv aus Macbeth ein altes Kabukistüdc. Leider war aber aus der Aufführung zu ersehen, daß der Unterschied der beiden Spielarten noch beträchtlich ist. Der Gegensatz der japanischen Spielarten mit und ohne Routine und Ausdrucksweise war unverkennbar. Die Skepsis gegenüber solchen »voreiligen« Experimenten ist deshalb wohl begründet. Kinoshita sagte zu diesen Versuchen: »Der ideale Fall des japanischen Theaters ist es, daß ein Schauspieler das traditionelle Stüde und zugleich das moderne wird spielen können. Aber ob dies unter diesen außergewöhnlichen Theaterumständen in Japan zur Zeit möglich ist, kann jetzt schwerlich übersehen werden. Wahrscheinlich wird dies erst nach einigen Generationen und nach sehr vielen Experimenten zu ermitteln sein. Deshalb ist es gegenwärtig nötig und dringend, daß man einerseits dem Kabuki Lebensraum gibt und andererseits das moderne Theater auf feste Füße stellt. Wenn dagegen ein flüchtiger Kompromiß oder unbegründete falsche Einflüsse zwischen beiden Theaterarten entständen, dann könnte das japanische Theater nur gefährdet sein.«1 In diesem Sinne ist es als Punkt 5 auch bemerkenswert, daß sich der erste Spielleiter des Shingeki, Senda, jetzt mit Vorbehalt ans Werk begibt, tradi1
Kinoshita, Jyunji, »No, Kabuki und Bunraku«, Tokyo 1953, S. 18
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tionelle Stücke aufzunehmen. Im Februar des Jahres 1958 gab sein Theater die Bearbeitung eines Kabukistückes »Frau mit Handtrommel«. Dieses Stück ist von dem berühmten Kabukiautor Chikamatsu (1653-1724) geschrieben und behandelt den Ehebruch eines Samurais. Im allgemeinen ist die moderne Bearbeitung eines Kabukistückes sehr schwierig. Es müssen dabei mehrere Faktoren berücksichtigt werden: die Modernisierung der Sprache, die feste Motivierung, weil das Kabukistück mit zu viel Theatereffekt belastet ist und auch keinen roten Faden hat, und zum letzten die Beseitigung der starken lyrischen und epischen (erzählenden) Elemente. Aus der Kritik ist zu ersehen, daß in diesem Fall die zu psychoanalytische Motivierung dem theatralischen Charme des Originals geschadet hat. Die Problematik des modernen japanischen Theaters liegt vor allem in der Frage, ob es gelingt, zu einer organischen Entwicklung in einer klaren und eindeutigen Richtung zu gelangen. Daß ein so verwickeltes Problem nur langfristig zu lösen sein dürfte, steht außer Frage. Es kann aber erwartet werden, daß die Kraft der Japaner, Fremdes einzuschmelzen, sich auch bei dieser Aufgabe bewähren wird. Das uralte Hofballett des Bugaku wurde im 6. Jahrhundert über Korea von den Chinesen übernommen und im Laufe der Jahrhunderte eingeschmolzen und bis auf den heutigen Tag bewahrt. In China ist dieses Ballett der Tang-Zeit fast verschwunden. In Japan aber wird das Bugaku als reines und einheimisches Theater empfunden. Wenn dereinst das westliche Theater völlig in das japanische Leben eingeschmolzen sein wird, dann darf vielleicht auch eine günstige Befruchtung beider Theaterarten und die Entstehung eines echten japanischen Nationaltheaters erwartet werden.
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INHALTSÜBERSICHT GÖTTERGLAUBE UND GOTTESGLAUBE IN JAPAN Von D. Gerhard Rosenkranz - Seite 1 DIE JAPANISCHE SOZIALVERSICHERUNG Von Dr. Peter Quante - Seite 15 PROBLEME DES M O D E R N E N J A P A N I S C H E N THEATERS Von Dr. Tatsuji Iwabudti - Seite 31 -
ALFRED LORENZEN
Die Gedichte Hitomaros aus dem Manyöshü in Text und Ubersetzung mit Erläuterungen Oktav. 96 Seiten. 1927. Kart. 8.10 (Veröffentlichungen des Seminars für Sprache und Kultur Japans an der Hamburgisdien Universität Nr. 1) RICHARD HUCH
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Wörterbuch zur altjapanischen Liedersammlung Kokinshü Quart. IX und 215 Seiten. 1925. Kart. 21.60 (Abhandlungen aus dem Gebiet der Auslandskunde Band 18) Wie die Japaner dem Kokinshü, das etwa 900 n. Chr. entstand, von jeher besondere Aufmerksamkeit gezollt haben, so muß audi der europäische Japanologe das Studium dieser Sammlung zu einer der Grundlagen seiner philologischen Bildung machen. Der Förderung dieses Zweckes soll diese Arbeit dienen. OSCAR BENL
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