371 85 52MB
German Pages 481 [520] Year 1990
FRÜHMITTELALTERLICHE
STUDIEN
FRÜHMITTELALTERLICHE
STUDIEN
J a h r b u c h des Instituts f ü r Frühmittelalterforschung der Universität M ü n s t e r
in Zusammenarbeit mit
Hans Belting, Hugo Borger, Dietrich Hofmann, Karl Josef Narr, Friedrich Ohly, Karl Schmid und Ruth Schmidt-Wiegand
unter Mitwirkung von
Karl Hauck
herausgegeben von
H A G E N K E L L E R und J O A C H I M W O L L A S C H
24. Band
w G_ DE
1990
WALTER DE G R U Y T E R • B E R L I N • NEW YORK
Redaktion: Dr. Mechthild Sandmann Institut für Frühmittelalterforschung der Universität Münster Salzstraße 41 D-4400 Münster
ISSN 0071-9706 ISBN 3 11 012724 5 © Copyright 1990 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin 30 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer G m b H , Berlin 61
Inhaltsverzeichnis O . G . OEXLE,
Das Bild der Moderne vom Mittelalter und die moderne Mittelalterfor-
schung H.
KELLER,
A.
JOCKENHÖVEL,
M. J.
1
Vom Hof Karls des Großen zur 'höfischen' Welt des Rittertums. Ein Blick auf das Werk von Josef Fleckenstein aus Anlaß seines 70. Geburtstags . .
23
Winter im Jahre 406/407 bis Herbst im Jahre 799. Archäologische Quellen zur Frühgeschichte der deutschen Mittelgebirgszone
36
E N R I G H T , The Goddess Who Weaves. Some Iconographic Aspects of Bracteates of the Fürstenberg Type (Taf. I)
54
und M . AXBOE, Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XLVI) (Taf. I I - I I I )
71
K . HAUCK
P. O.
THOMSEN, Die neuen Goldblech-Figurenpaare (Doppelgubben) von Lundeborg, Amt Svendborg, Fünen (Taf. I V - V I I ) 121
T.
Der Begriff und das Motiv des Freundes in der Geschichte der deutschen Sprache und älteren Literatur
126
Colloquium Jamiliare — Colloquium secretum — Colloquium publicum. tung im politischen Leben des früheren Mittelalters
145
G.
NOLTE,
ALTHOFF,
Impetrate felicia 313 (Taf. VIII)
A . DECKER,
Bera-
/ nobis dare conuiuia. Ein Caritas-Lied im Vat. Ottobon. lat. 168
J. W.
B U S C H , Barnabas, Apostel der Mailänder. Überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung einer stadtgeschichtlichen Tradition (Taf. IX) 178
M.
KLAES,
Die 'Summa' des Magister Bernardus. Zu Uberlieferung und Textgeschichte einer zentralen Ars dictandi des 12. Jahrhunderts 198
M.
BORGOLTE,
Stiftergedenken in Kloster Dießen. Ein Beitrag zur Kritik bayerischer Traditionsbücher (Taf. X - X I I ) 235
H . MEYER,
Zum Verhältnis von Enzyklopädik und Allegorese im Mittelalter
K.
SCHREINER,
U.
LUDWIG,
290
Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit. Bildungs- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zur Auslegung und Darstellung von 'Mariä Verkündigung' (Taf. XIII-XXII) 314 Spätkarolingische Königshöfe in Friaul. Cordenons, nicht Duino als Itinerarort Karls III. (D 110) und die Lokalisierung der curtes Navum et Sagum (Annales Fuldenses ad 888) (Taf. XXIII) 369
Mittelalterforschung in Münster in der Nachfolge des Sonderforschungsbereichs 7 . . 380 Der Münsterer Sonderforschungsbereich 231 'Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter'. Bericht Graduiertenkolleg 'Schriftkultur und Gesellschaft im Mittelalter'
430 460
Orts-, Personen- und Sachregister, bearbeitet von T. S C H Ü R M A N N und T. BALZER . . . 463
Alphabetisches Verzeichnis der Mitarbeiter dieses Bandes Prof. Dr. Gerd A L T H O F F , Historisches Institut — Mittelalter — der Universität Gießen, Otto-Behagel-Straße 10 C 2, 6300 Gießen, S. 145 Morten
AXBOE
M.
Prof. Dr. Michael Dr. Jörg W . S. 1 7 8
Bredevej 87, 2830 Virum, Dänemark, S. 71
A.,
BORGOLTE,
BUSCH,
Gumpensteige 12, 7800 Freiburg, S. 235
Sonderforschungsbereich
231,
Salzstraße
41, 4400
Münster,
Andrea DECKER M . A., Historisches Seminar der Universität Freiburg, Werthmannplatz, 7800 Freiburg, S. 168 Prof. Dr. Michael J. E N R I G H T , Department of History, East Carolina University, Greenville, North Carolina 27858-4353, USA, S. 54 Prof. Dr. Karl
HAUCK,
Habichtshöhe
21, 4400
Münster,
S. 71
Prof. Dr. Albrecht JOCKENHÖVEL, Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität Münster, Domplatz 20 — 22, 4400 Münster, S. 36 Prof. Dr. Hagen K E L L E R , Historisches Seminar der Universität Münster, Domplatz 2 0 - 2 2 , 4400 Münster, S. 23 Dr. Monika S. 1 9 8
KLAES,
Sonderforschungsbereich
231,
Salzstraße
41, 4400
Münster,
Dr. Uwe L U D W I G , Fachbereich 1 der Universität Duisburg — Gesamthochschule, Lotharstraße 65, 4100 Duisburg, S. 369 Dr. Heinz S. 290
MEYER,
Sonderforschungsbereich 231, Salzstraße 41, 4400 Münster,
Priv.-Doz. Dr. Theodor
NOLTE,
Kübelestraße
18, 7 8 3 0
Emmendingen
16, S. 126
Prof. Dr. Otto Gerhard OEXLE, Max-Planck-Institut für Geschichte, HermannFöge-Weg 11, 3400 Göttingen, S. 1 Prof. Dr. Klaus SCHREINER, Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld, Postfach 8640, 4800 Bielefeld, S. 314 Cand. phil. Per O. THOMSEN, Arkaeolog, Svendborg og Omegns Museum, Grubbemollevej 13, 5700 Svendborg, Dänemark, S. 121
OTTO GERHARD OEXLE
Das Bild der Moderne vom Mittelalter und die moderne Mittelalterfor schung * Karl Schmid in Dankbarkeit und Verbundenheit
gewidmet
I
Die sogenannte Moderne als geschichtliche Epoche wird von Historikern definiert durch die tiefgreifenden geistigen und politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorgänge des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, die man mit den Begriffen der Aufklärung, der Revolution und der Industrialisierung bezeichnet und die einen fundamentalen Wandel aller Denkformen und Lebensformen nach sich gezogen haben. Gerade dieser tiefgreifende Wandel ist es, der ein weiteres Merkmal dieser historischen Epoche, in der wir leben, konstituiert hat: die Erkenntnis der Veränderlichkeit und der historischen Gewordenheit alles dessen, was ist. Auch diese 'Historismus' genannte Denkweise einer umfassenden Historisierung ist ein Kennzeichen der Moderne, das diese Epoche von allen vorausgegangenen Epochen und den ihnen spezifischen Formen des Denkens über Geschichte unterscheidet 1 . Zugleich hat dieser Historismus die Geschichtswissenschaft als die Leitwissenschaft des 19. Jahrhunderts hervorgebracht. Aus der durchgehenden Historisierung als einem charakteristischen Element der Moderne ergibt sich als ein weiteres Moment, daß die Selbstdeutung dieser Epoche offensichtlich und in herausragender Weise als Zeit-Deutung in Erscheinung tritt. Der jüngste Ausdruck dieses Sachverhalts sind die derzeit mancherorts intensiv geführten Erörterungen über 'Postmoderne', der dauerhafteste aber ist die schon mit dem Beginn der Moderne einsetzende, ja diesen Beginn unmittelbar bezeichnende Erörterung über das Mittelalter 2 . Die Reflexion über das Mittelalter und die Selbstdeutung der Moderne sind in einer eigentümlichen und singulären * Vortrag, gehalten bei der Festveranstaltung des Historischen Seminars der Universität Freiburg i. Br. anläßlich des 65. Geburtstags v o n Prof. Dr. Karl Schmid am 24. September 1988. 1
OTTO G E R H A R D OEXLE, „ H i s t o r i s m u s " .
Überlegungen
zur Geschichte des P h ä n o m e n s
und
des
Begriffs, in: Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft. Jahrbuch 1986, Göttingen 1986, S. 119-155. 2
A u s der neuesten Literatur sei genannt: PETER WAPNEWSKI (Hg.), Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion, Stuttgart 1986; die Akten einer Tagung über 'II sogno del Medioevo. II revival del Medioevo nelle culture contemporanee' in: Quaderni medievali 2 1 , 1986, S. 7—200; HORST FUHRMANN, Das Interesse am Mittelalter in heutiger Zeit. Beobachtungen und Vermutungen, in: DERS., Einladung i n s M i t t e l a l t e r , M ü n c h e n 1 9 8 7 , S . 2 6 2 — 2 8 0 ; HARTMUT BOOCKMANN, D i e G e g e n w a r t d e s M i t t e l a l t e r s ,
Berlin 1988; REINHARD ELZE—PIERANGELO SCHIERA (Hgg.), Das Mittelalter. Ansichten, Stereotypen und Mythen zweier Völker im neunzehnten Jahrhundert: Deutschland und Italien (Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient. Beiträge 1) Bologna—Berlin 1988.
2
Otto Gerhard Oexle
Weise miteinander verknüpft. Reinhart Koselleck hat unlängst gezeigt, warum dies so ist. Der erste Schritt nämlich dahin, „aus den historischen Ereignissen selbst" eine Gliederung der Geschichte zu gewinnen, eine Gliederung der Geschichte also, die nicht aus naturalen Begründungen oder aus religiösen und theologischen Überlegungen resultierte, sondern sich „aus der Erkenntnis der Geschichte selbst" ableiten ließ, dieser erste Schritt bestand, so Koselleck, in der „Erfindung des Mittelalters" 3 . Die Einführung des Mittelalters als Periodenbegriff hat zwar bekanntlich nicht erst im 18. Jahrhundert begonnen 4 , aber sie kam im 18. Jahrhundert zum Abschluß und erreichte darin zugleich eine neue Reflexionsstufe. Diese neue Stufe wird sichtbar „an der Verwendung zweier zentraler Zeitkategorien", die jetzt eng verknüpft wurden und es blieben: dem Begriff der „neuen Zeit" und dem Begriff des „Fortschritts". Die Entdeckung des Mittelalters, die Entdeckung der Geschichtlichkeit der Welt und die Entdeckung des Fortschritts sind miteinander verknüpft 5 . Mit den Worten von Koselleck: „Die historische und die fortschrittliche Weltsicht sind gemeinsamen Ursprungs." 6 Die Einsicht in diesen Zusammenhang erlaubt die historische Deutung der Tatsache, daß das Mittelalter in den Reflexionen der Moderne in herausragender und singulärer Weise gegenwärtig ist. Die Singularität dieser Gegenwart des Mittelalters im Denken der Moderne ergibt sich deutlich im Vergleich etwa zur Gegenwart anderer Epochen, der Antike z. B. 7 Sie ist vor allem darin zu erkennen, daß das Mittelalter in doppelter Weise gegenwärtig ist 8 : in einer negativen und einer positiven Sicht. Man nennt die negative oft 'aufklärerisch', die positive 'romantisch', was aber nicht ganz trifft. Denn einerseits übersieht man dabei nur zu leicht, in welchem Maße die Aufklärung die geschichtliche Erkenntnis gerade des Mittelalters gefördert hat 9 . Und man läßt dabei andererseits auch außer Acht, daß 'romantische' Auffassungen des Mittelalters keineswegs bloß an die geistige Bewegung der Romantik gebunden waren, sondern ein Grundelement des modernen Denkens im Ganzen darstellen. Die beiden konträren Auffassungen und Deutungen des Mittelalters ziehen sich durch die ganze Moderne, und zwar in steter Gemengelage.
3
R E I N H A R T K O S E L L E C K , M o d e r n e S o z i a l g e s c h i c h t e u n d h i s t o r i s c h e Z e i t e n , i n : PIETRO ROSSI
(Hg.),
Theorie der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1987, S. 173 — 190, hier S. 178. Vgl. DERS., D a s achtzehnte J a h r h u n d e r t
a l s B e g i n n d e r N e u z e i t , i n : R E I N H A R T HERZOG — R E I N H A R T
KOSELLECK (Hgg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (Poetik und Hermeneutik 12) München 1987, S. 2 6 9 - 2 8 2 . 4
Vgl. LIONEL GOSSMAN, Medievalism and the Ideologies of the Enlightenment, Baltimore 1968; JÜRGEN VOSS, Das Mittelalter im historischen Denken Frankreichs (Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Universität Mannheim 3) München 1972.
5
Das spiegelt sich auch in der Geschichte des neuzeitlichen Fortschrittsbegriffs: REINHART KOSELLECK,
Art.
'Fortschritt',
in:
OTTO
BRUNNER—WERNER
CONZE — R E I N H A R T
KOSELLECK
(Hgg.),
Geschichtliche Grundbegriffe 2, Stuttgart 1975, S. 3 5 1 - 4 2 3 , hier S. 371 ff., 4 0 7 ff. 6
KOSELLECK, Moderne Sozialgeschichte (wie Anm. 3) S. 1 7 8 f.
7
Vgl. NIKOLAUS HIMMELMANN, Utopische Vergangenheit. Archäologie und moderne Kultur, Berlin 1976.
8
OTTO GERHARD OEXLE, Die Gegenwart des Mittelalters — Gedanken zu einem Stadtjubiläum, in: 650 Jahre Stadt Rheine, Emsdetten 1977, S. 4 0 - 4 8 .
9
Dabei sei in erster Linie an Montesquieu erinnert, vgl. ERNST CASSIRER, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 3 1973, S. 280 ff.
Das Bild der Moderne v o m Mittelalter und die moderne Mittelalterforschung
3
Dem entspricht, daß beide Auffassungen über das Mittelalter bei aller Gegensätzlichkeit zugleich auch in einem entscheidenden Punkt übereinstimmen, darin nämlich, daß sie vom Mittelalter behaupten, daß es in jedem Falle „anders" war 10 . Eben weil Übereinstimmung besteht über das grundsätzliche „Anderssein" des Mittelalters, kann sich der Streit der Moderne über das Mittelalter immer wieder aufs neue daran entzünden, ob denn nun die Überwindung des Mittelalters einen Fortschritt darstellt oder ob nicht vielmehr der Fortschritt der Moderne, gemessen am Mittelalter, sich als Unglück erweisen muß. Eine umfassende Darstellung der Geschichte dieser konträren Deutungen des Mittelalters in der Duplizität ihrer konkurrierenden Bilder fehlt. Es kann deshalb nur im Vorbeigehen darauf hingewiesen werden, daß schon bei einem oberflächlichen Blick auf diese modernen Auseinandersetzungen der Zusammenhang mit der Erörterung der Kernthemen des modernen Denkens und mit den entscheidenden Phasen der Geschichte der Moderne selbst offensichtlich ist. Ich erinnere an die Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Antike und Christentum und damit zugleich über die Bedeutung von Religion und Kirche in der europäischen Gesellschaft bei Voltaire, bei Gibbon, bei Novalis, bei Nietzsche 11 . Ich erinnere an jene Deutung von Mittelalter und von Moderne, die hinter dem in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts von Ferdinand Tönnies erarbeiteten soziologischen Theorem des Gegensatzes von Gemeinschaft und Gesellschaft steckt. In ihr spiegelt sich überaus deutlich der Verlust des Fortschrittsoptimismus im deutschen Bildungsbürgertum, der die Organisationsformen der modernen Kultur, im Gegensatz zu den 'organischen' Formen der mittelalterlichen, als bloß 'mechanische', als pathologische Zerfallsprodukte erscheinen läßt 12 . In vergleichbarer Weise hat Emile Dürkheim die 'Arbeitsteilung' (d. h. die soziale Differenzierung) in der Kultur der Moderne als 'Anomie' diagnostiziert und zur Wiedergewinnung gesellschaftlicher Solidarität die Bildung von 'Korporationen' nach mittelalterlichem Vorbild empfohlen 13 . Georg Simmel wiederum hat seit den 1890er Jahren seine geldtheoretischen Reflexionen über Differenzierung, Spezialisierung und Individualisierung als Kennzeichen der modernen Kultur mit vielen Hinweisen auf die andersgeartete mittelalterliche Gesellschaft grundiert 14 . Erinnert sei ferner an die ausgiebigen MittelalterErörterungen in der deutschen Theologie, Philosophie und Soziologie unmittelbar vor dem Zusammenbruch von 1918 und in den zwanziger Jahren unseres Jahrhun-
10
Vgl. HANS ROBERT JAUSS, Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur, gedruckt in dem gleichnamigen Band mit 'Gesammelten Aufsätzen' der Jahre 1956 — 1976, München 1977, S. 9—48, mit dem Vorschlag, „die Modernität mittelalterlicher Literatur in ihrer Alterität zu entdecken" (S. 25).
11
Vgl. WALTHER REHM, Der Untergang Roms im abendländischen Denken (1930), Neudruck Darm-
12
FERDINAND TÖNNIES, Gemeinschaft und Gesellschaft, Nachdruck Darmstadt 1972. Dazu bes. HEINZ-
stadt 1966. JÜRGEN DAHME, Der Verlust des Fortschrittsglaubens und die Verwissenschaftlichung der Soziologie. Ein Vergleich v o n G e o r g Simmel, Ferdinand Tönnies und Max Weber, in: OTTHEIN RAMMSTEDT (Hg.), Simmel und die frühen Soziologen, Frankfurt a. M. 1988, S. 2 2 2 - 2 7 4 , hier S. 234 ff. 13
EMILE DÜRKHEIM, De la division du travail social (1893), und bes. das V o r w o r t zur zweiten Auflage von 1 9 0 2 („Quelques remarques sur les groupements professioneis"), Paris " 1 9 8 6 , S. I — X X X V I .
14
GEORG SIMMEL, Philosophie des Geldes (1908) (Gesammelte Werke 1) Berlin 7 1 9 7 7 , S. 297 ff., 387 ff., 4 8 0 ff. D a z u DAHME (wie A n m .
1 2 ) S. 2 3 8 f f .
4
Otto Gerhard Oexle
derts, 2. B. in Ernst Troeltschs Reflexionen über die Krise der Gesellschaft und den Wertrelativismus, den er mit einer neuen historischen und objektiv begründeten Kultursynthese zu bekämpfen suchte 15 ; das Mittelalter als einer der „tragenden Grundpfeiler" der modernen Welt hatte für ihn dabei eine zentrale Bedeutung, galt es Troeltsch doch schlechthin als „der eigentliche Mutterschoß unseres ganzen Wesens". Im Blick auf unsere Gegenwart schließlich sei an den Essay 'Auf dem Wege zu einem Neuen Mittelalter' erinnert, den Umberto Eco 1972 veröffentlichte 16 und der in geradezu idealtypischer Weise jenes Gemenge von Abscheu und Sehnsucht zum Ausdruck bringt, das für das Nachdenken über das Mittelalter in der Moderne vielfach so charakteristisch ist, eine Mentalität, die von demselben Autor dann in seinem berühmten Roman dramatisch inszeniert wurde 17 und die auch den ungeheuren Erfolg dieses Buches in unseren Tagen bewirkt hat 18 .
II
Auch die historische Forschung spielt in der Geschichte dieser modernen Bewußtseinslagen ihren Part, teils mehr, als ihr bewußt ist, und gewiß mehr, als ihr erwünscht sein kann. Wie anders könnte man es sich sonst erklären, daß der Verfasser einer herausragenden Monographie über Adolf Hitler den von ihm so bezeichneten „Grundwiderspruch des Nationalsozialismus", nämlich die „Verbindung von intellektueller Sachlichkeit und Irrationalität" auf den Begriff bringt, es handele sich hierbei um eine Verbindung von „Modernität und Mittelalter" 19 ? Auf derselben Linie liegt der neuerdings gemachte Vorschlag, Hitlers Herrschaft in innen- und außenpolitischer Perspektive als „feudal" oder „feudalistisch" zu definieren 20 . Ganz anderer Art, aber wegen ihrer anhaltenden Wirkungen in allen historischen Wissenschaften bis 15
OEXLE ( w i e A n m .
1 ) S. 1 3 2 f f . D a s f o l g e n d e Z i t a t bei ERNST TROELTSCH, D e r H i s t o r i s m u s
und
seine Probleme (1922) (Gesammelte Schriften 3) Aalen 2 1977, S. 767. 16
UMBERTO Eco, A u f dem Wege zu einem Neuen Mittelalter, in: DERS., Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, München —Wien 2 1985, S. 7—33. Hier auch der Hinweis auf das gleichartige Buch des italienischen Mathematikers ROBERTO VACCA, The Coming Dark Age, New York u. a. 1974.
17
UMBERTO ECO, II nome della rosa, Milano 1980.
18
Den Publikumserfolg spiegelt auch die Hingabe, mit der die Mittelalterforschung, auch die historische Mediävistik, den Roman unverzüglich kommentierte und glossierte, also ihrerseits zu einem Gegenstand wissenschaftlicher und historischer Forschung machte, vgl. u. a. JÜRGEN PETERSOHN, ECOS Echo — ein „Anstoß" für Mittelalterhistoriker?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 3 7 , 1 9 8 6 , S. 7 6 1 — 7 6 6 ; FUHRMANN ( w i e A n m . 2 ) S . 2 7 3 f f . ; BURKHART KROEBER, Z e i c h e n i n U m b e r t o
Ecos Roman 'Der Name der Rose', München —Wien 1987; ALFRED HAVERKAMP —ALFRED HEIT (Hgg.), Ecos Rosenroman. Ein Kolloquium, München 1987; MAX KERNER (Hg.), „... eine finstere und fast unglaubliche Geschichte"? Mediävistische Notizen zu Umberto Ecos Mönchsroman 'Der Name der Rose', Darmstadt 3 1988. 19
JOACHIM C. FEST, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt a. M. u. a. 1973, S. 943.
20
LOTHAR KETTENACKER, S o z i a l p s y c h o l o g i s c h e A s p e k t e d e r F ü h r e r - H e r r s c h a f t , in: G E R H A R D HIRSCH-
FELD—LOTHAR KETTENACKER (Hgg.), Der „Führerstaat": Mythos und Realität (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 8) Stuttgart 1 9 8 1 , S. 98 — 132, hier S. 1 2 7 ff. Zustimmend KLAUS HILDEBRAND, Nationalsozialismus ohne Hitler?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 31, 1980, S. 289 — 304, hier S. 295 f. („erwägenswerter Vorschlag"), mit der Bemerkung,
Das Bild der Moderne v o m Mittelalter und die moderne Mittelalterforschung
5
heute nicht weniger bemerkenswert ist auch Jacob Burckhardts 1860 formulierte Unterscheidung von Mittelalter und Renaissance gemäß dem Verhältnis zwischen Individuum einerseits, Stand und Gruppe andererseits: Im Mittelalter die absolute Bindung des Individuums an Stand und Gruppe aufgrund der „Befangenheit" des mittelalterlichen Menschen in „Glauben" und „Wahn", die den Menschen nur „in irgend einer Form des Allgemeinen" sich erkennen ließen, niemals aber als Individuum 21 . In der Kunstgeschichte zum Beispiel wird, vielstimmig, bis heute an der These festgehalten, daß die mittelalterliche Kunst den Menschen nicht als Individuum, sondern nur als Typus habe darstellen wollen und können 22 . Auch in der Mittelalterforschung unserer Tage erscheint diese Auffassung, und zwar in unterschiedlichen Ausformungen zugleich. Eine neue, eindrucksvolle Darstellung über das 'Weltbild des mittelalterlichen Menschen' formuliert immer wieder aufs neue die These, das Individuum sei im Mittelalter „durch die Gesellschaft" unterdrückt worden, der Mensch habe sich im Mittelalter „nur im Rahmen des Kollektivs" und der Gruppe „finden und erkennen" können, das „Innenleben des Individuums" habe „keine selbständige Ganzheit" gebildet, sogar „in seiner eigenen Darstellung" sei der Mensch im Mittelalter nur „in Form eines Aggregats mit unkoordinierten Zügen" aufgetreten, und er sei auch von anderen nicht als Individuum, sondern nur als Typus wahrgenommen worden 23 . Gewiß sind jedem Mediävisten zahlreiche Bilddarstellungen und auch Texte gegenwärtig, die in einem einfachen empirischen Sinn das Gegenteil dieser These beweisen. Es überrascht also die Hartnäckigkeit dieses Urteils. Außerdem begegnet dieses Urteil auch in zeitlich differenzierenden Varianten. So hat man von einem statischen und „archaischen" Frühmittelalter gesprochen und diesem eine quasi moderne Aufbruchsepoche der sozialen Mobilität seit dem 11. Jahrhundert gegenübergestellt 24 , oder man hat die Grenze zwischen archaischer Statik und quasi moderner Dynamik in der mittelalterlichen Gesellschaft weiter zum Spätmittelalter hin verschoben 25 . Oder man hat, im Hinblick auf beobachtetes freies Handeln von Menschen in der Bildung von Gemeinden und Kommunen während des Spätmittelalters, im 14. und 15. Jahrhundert, diese Epoche eben wegen dieser Sachverhalte vom eigentlichen Mittelalter überhaupt abgetrennt und zu einer Zwischen-Epoche erklärt, einer Zeit, die, wie es bezeichnenderweise heißt, „zwischen Mittelalter und Moderne" stehe 26 . daß „auf jeden Fall (!) ... der nationalsozialistische Imperialismus ... einen Rückfall in vormoderne Denk- und Handlungsweisen" darstelle. 21
JACOB BURCKHARDT, Die K u l t u r der Renaissance in Italien (1860) (Gesammelte Werke 3) Darmstadt
22
D a z u OTTO GERHARD OEXLE, M e m o r i a u n d M e m o r i a l b i l d , in: K A R L SCHMID —JOACHIM WOLLASCH
1955, S. 89. (Hgg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter (Münstersche Mittelalter-Schriften 48) München 1984, S. 3 8 4 - 4 4 0 , hier S. 436 ff. 23
AARON J . GURJEWITSCH, Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München 1980, S. 340, 344, 339
ff.
24
KARL BOSL, Die Grundlagen der modernen Gesellschaft im Mittelalter, 1 (Monographien zur
25
WALTER ULLMANN, Individuum und Gesellschaft im Mittelalter, Göttingen 1974.
Geschichte des Mittelalters 4/1) Stuttgart 1972, S. 61 ff., 161 ff. 26
PETER BLICKLE, Der Kommunalismus als Gestaltungsprinzip zwischen Mittelalter und Moderne, in: NICOLAI BERNARD—QUIRINUS REICHEN (Hgg.), Gesellschaft und Gesellschaften, Bern 1982, S. 9 5 - 1 1 3 , hier S.
110.
6
Otto Gerhard Oexle III
Wenn wir nun fragen, worauf sich dieses moderne und offenbar zum Teil sogar von der Mediävistik geteilte Bild von Mensch und Gesellschaft im Mittelalter im einzelnen bezieht, so wird man in erster Linie auf die Wahrnehmung der mittelalterlichen Gesellschaft als einer Stände-Gesellschaft, als einer ständisch gegliederten Gesellschaft stoßen. Ständische Gesellschaften sind, nach der klassischen modernen Definition (Max Weber), konstituiert durch die „soziale Einschätzung der 'Ehre' . . . , die sich an irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler knüpft" 2 7 . Aus den Reflexionen antiker wie mittelalterlicher Autoren, z. B. von Augustinus, in seiner Schrift 'De ordine', ist aber zu lernen, daß diese Definition zwar nicht falsch, daß sie aber auch nicht ausreichend ist. Denn nach mittelalterlicher Auffassung sind Stände (ordines), also Adel, Ritter, Bauern, Kaufleute, Klerus, Mönche, Laien usw., in ihrer Vielheit Teile einer in Stufen geordneten und so von Gott gewollten und geschaffenen Welt. Eine Ständegesellschaft ist also eine transzendent begründete, gestufte und somit ungleiche Ordnung, in der aber zugleich alle Elemente in Harmonie zu einem Ganzen gefügt sind. Dies ist es, was alle die vielen Deutungsschemata und Sozialmetaphern des Mittelalters ausdrücken: die Annahme einer von Gott geschaffenen Harmonie in der Ungleichheit 28 . Es ist unmittelbar zu erkennen, was hieran dem modernen Denken seit dem 18. Jahrhundert, im allmählichen Übergang vom Ständebegriff zum ökonomisch bestimmten Klassenbegriff 29 , in der generellen egalitären Ständekritik und schließlich in der Negation aller Stände mit dem Grundsatz der politischen Gleichheit störend erscheinen mußte und was seitdem immer wieder aufs neue störend erscheint: eben die Behauptung gesellschaftlicher Harmonie durch Ungleichheit und deren transzendente Begründung. Demgegenüber hat dann bekanntlich die Staats- und Gesellschaftslehre der politischen Romantik (und haben alle, die ihr folgten) am Begriff des Standes und seiner transzendenten Begründung festgehalten 30 . Beide Positionen haben dann, wiederum in Gemengelage, die Wahrnehmung des Mittelalters tiefgehend geprägt. So wurde einerseits das Mittelalter als exemplarische Zeit sozialer Harmonie verklärt 31 , andererseits MAX WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, Tübingen 5 1972, S. 534. 28 OTTO GERHARD OEXLE, Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelal27
ter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens, in: FRANTISEK GRAUS (Hg.), Mentalitäten im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 35) Sigmaringen 1987, S. 65 — 117, bes. S. 76ff. 29
Dazu WERNER CONZE, Art. 'Stand, Klasse (Neuzeit)', in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 5) 6, im Druck, Abschnitte VII.7 f. und I X .
30
Ebd. Abschnitt X.7. Vgl. auch RALPH H. BOWEN, German Theories o f the Corporative State with Special Reference to the Period 1870—1919, New York —London 1947; KURT SONTHEIMER, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1978; MATTHEW H. ELBOW, French Corporative Theory, 1 7 8 9 - 1 9 4 8 , New York 1953.
31
Aus der Zeit nach 1918 u. a.: HERMAN SCHMALENBACH, Das Mittelalter. Sein Begriff und Wesen, Leipzig 1926; PAUL LUDWIG LANDSBERG, Die Welt des Mittelalters und wir. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über den Sinn eines Zeitalters, Bonn 1922; ALFRED VON MARTIN, Das Problem der mittelalterlichen Weltanschauung, in: Deutsche Vierteljahrschrift 3, 1925, S. 485 — 500; THEODOR STEINBÜCHEL, C h r i s t l i c h e s Mittelalter, L e i p z i g 1 9 3 5 . N a c h 1 9 4 5 u. a. ROMANO GUARDINI,
Das Ende der Neuzeit, Würzburg 1950; MICHAEL SEIDLMAYER, Das Mittelalter, Göttingen WOLFRAM VON DEN STEINEN, Der Kosmos des Mittelalters, Bern—München 1959.
2
1967;
Das Bild der Moderne v o m Mittelalter und die moderne Mittelalterforschung
7
fühlte man sich aufgerufen, die Selbst-Deutungen der mittelalterlichen Gesellschaft ideologiekritisch in Frage zu stellen. So liest man auch in einer neueren und keineswegs marxistischen Publikation über Spätmittelalter und frühe Neuzeit: „Die ... Ständeordnung empfand sich als ein System sozialer Harmonie und des Ausgleichs ständischer Interessen, war aber nichts anderes als ein System sozialer Ungleichheit, das die steigenden sozialen Konflikte verdeckte ..." 3 2 . In eben dieser Weise befassen sich auch viele Mediävisten und keineswegs bloß marxistische mit den ständischen Deutungsschemata des Mittelalters und wollen deren ideologischen und manipulierenden Charakter nachweisen 33 . Wenn nun die mittelalterliche Gesellschaft, als Ständegesellschaft betrachtet, wie eine andere Welt erscheint, die mit unserer Gegenwart jedenfalls nichts zu tun hat, so wäre zu fragen, welches Bild der mittelalterlichen Gesellschaft sich ergeben könnte, wenn man sie nicht bloß unter dem Gesichtspunkt ihrer ständischen Struktur, sondern, komplementär dazu, unter dem Gesichtspunkt ihrer Zusammensetzung aus sozialen Gruppen verschiedenster Art betrachtet. Über eine solche Betrachtungsweise in Freiburg zu sprechen, ist um so mehr Anlaß, als die Erforschung sozialer Gruppen nach dem Zweiten Weltkrieg hier in Freiburg, in dem von Gerd Teilenbach geleiteten Kreis begonnen hat 34 und in der Folge namentlich von Karl Schmid entscheidend vorangebracht wurde: zunächst in seinen Forschungen über 'Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Dynastie beim mittelalterlichen Adel' (1957) 35 sowie in zahlreichen einzelnen Untersuchungen über adlige Familien und Geschlechter, vor allem über die Weifen, die Salier und die Staufer, aber auch über die 'Liudgeriden' oder die Nachfahren Widukinds 36 ; dann in der Erforschung von Gruppen, die sich in ihrem religiös begründeten Gruppenbewußtsein, in der liturgischen Memoria und deren schriftlichen Zeugnissen manifestierten 37 ; außerdem in der umfassenden und exemplarischen Erforschung 32
RICHARD VAN DÜLMEN, Entstehung des frühneuzeitlichen Europa 1550 — 1648 (Fischer Weltgeschichte 24) Frankfurt a. M. 1982, S. 103.
33
D a z u OEXLE ( w i e A n m . 2 8 ) bes. S. 7 6 ff.
34
Dazu KARL SCHMID, Der 'Freiburger Arbeitskreis'. Gerd Tellenbach zum 70. Geburtstag, in:
35
KARL SCHMID, Zur Problematik v o n Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Dynastie beim
Zeitschrift f ü r die Geschichte des Oberrheins 121, 1974, S. 3 3 1 - 3 4 7 . mittelalterlichen Adel (1957), wieder abgedruckt in: DERS., Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge, Sigmaringen 1983, S. 183—244. — Zur Würdigung des gesamten bisherigen Œuvres von Karl Schmid jüngst PAOLA GUGLIELMOTTI, Esperienze di ricerca e problemi di metodo negli studi di Karl Schmid sulla nobiltà medievale, in: Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento 13, 1987, S. 209 — 269. 36
Vgl. die Abhandlungen über 'Die Nachfahren Widukinds' (1964), 'Weifisches Selbstverständnis' (1968), '„De regia stirpe Waiblingensium". Bemerkungen zum Selbstverständnis der Staufer' (1976), 'Die „Liudgeriden". Erscheinung und Problematik einer Adelsfamilie' (1978), wieder abgedruckt in: SCHMID, Gebetsgedenken (wie Anm. 35) S. 59 ff., 424 ff., 454 ff., 305 ff. Außerdem DERS., Die Sorge der Salier um ihre Memoria. Zeugnisse, Erwägungen und Fragen, in: SCHMID—WOLLASCH (wie Anm. 22) S. 6 6 6 - 7 6 2 .
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Dazu die Abhandlungen 'Religiöses und sippengebundenes Gemeinschaftsbewußtsein in frühmittelalterlichen Gedenkbucheinträgen' (1965) und 'Das liturgische Gebetsgedenken in seiner historischen Relevanz am Beispiel der Verbrüderungsbewegung des früheren Mittelalters' (1979), wieder abgedruckt in: SCHMID, Gebetsgedenken (wie A n m . 35) S. 532 ff. und 620 ff. Außerdem DERS., Ein karolingischer Königseintrag im Gedenkbuch von Remiremont, in: Frühmittelalterliche Studien 2,
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monastischer Kommunitäten 38 und der Gruppenbildungen des Klerus 39 ; und jüngst in den ganz neue Einblicke in Politik und Gesellschaft des Frühmittelalters eröffnenden Forschungen über Freundschaftsbünde {pacta amicitiae)m• Schon in seiner Münsterer Antrittsvorlesung 'Über das Verhältnis von Person und Gemeinschaft im früheren Mittelalter' von 1966 hat Karl Schmid im Hinblick auf Klosterkonvente und Adelsgeschlechter die Bedeutung dieser „sozialen Kernbildungen" herausgehoben. So bekannt es auch sei, sagte Schmid damals, „daß 'das Mönchtum' und 'der Adel' das kulturelle, geistige, politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben des früheren Mittelalters in hervorragendem Maße trugen", so wenig sei man sich „dessen bewußt, daß 'das Mönchtum' und 'der Adel' im Frühmittelalter in Gestalt 'monastischer' und 'adeliger' Gemeinschaften in Erscheinung traten" und nur von daher „in ihrer geschichtlichen Eigenart und in ihrem geschichtlichen Werdegang recht zu begreifen" seien 41 . Aus der Vielfalt sozialer Gruppen sind unter dem Gesichtspunkt unserer Fragestellung vielleicht jene besonders interessant, in denen sich die Menschen nicht, wie in Haus, Familie und Geschlecht, durch ihre Geburt vorfinden, sondern in denen sie sich aus eigenem Willen zusammenschließen, um ihre selbst gesetzten Ziele im sozialen, d. h. auf das Verhalten anderer bezogenen Handeln zu verwirklichen, wo die Menschen also nicht einem Typus folgen, den sie darstellen sollen, sondern dem, was sie sich vorgenommen haben. Gruppen dieser Art werden 'gemacht', sie entstehen und bestehen durch Konsens, durch Vertrag, und sie werden deshalb durch ein förmliches Versprechen oder gar durch einen Eid konstituiert. Besondere geschichtliche Wirkungen erreichten hier jene Gruppen, die auf der Gleichheit derer beruhen, die ihnen angehören, und die sich deshalb im Gedanken der Brüderlichkeit finden, zu der sich alle verpflichten. Mittelalterliche
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1968, S. 96 — 134; DERS., Bemerkungen zu Synodalverbrüderungen der Karolingerzeit, in: Sprache und Recht. Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand zum 60. Geburtstag, Berlin —New York 1986, S. 693 — 710 und die unten Anm. 84 genannte Abhandlung über 'Mönchtum und Verbrüderung'. Die Grundlegung zu diesem Forschungsvorhaben bieten die zus. mit JOACHIM WOLLASCH veröffentlichten Abhandlungen 'Die Gemeinschaft der Lebenden und Verstorbenen in Zeugnissen des Mittelalters', in: Frühmittelalterliche Studien 1, 1967, S. 365 — 405, und 'Societas et fraternitas. Begründung eines kommentierten Quellenwerkes zur Erforschung der Personen und Personengruppen des Mittelalters', ebd. 9, 1975, S. 1 - 4 8 . Hier ist vor allem das sog. 'Fulda-Werk' zu nennen: KARL SCHMID (Hg.), Die Klostergemeinschaft von Fulda im früheren Mittelalter, 5 Bde. (Münstersche Mittelalter-Schriften 8/1—3) München 1978. KARL SCHMID, Bemerkungen zum Konstanzer Klerus der Karolingerzeit. Mit einem Hinweis auf religiöse Bruderschaften in seinem Umkreis, in: Freiburger Diözesan-Archiv 100, 1980, S. 26—58. KARL SCHMID, Unerforschte Quellen aus quellenarmer Zeit (I): Zur amicitia zwischen Heinrich I. und dem westfränkischen König Robert im Jahre 923, in: Francia 12, 1985, S. 1 1 9 - 1 4 7 ; (II): Wer waren die 'fratres' von Halberstadt aus der Zeit König Heinrichs I.?, in: Festschrift für Berent Schwineköper, Sigmaringen 1982, S. 117 — 140; DERS., Das Problem der 'Unteilbarkeit des Reiches', in: DERS. (Hg.), Reich und Kirche vor dem Investiturstreit. Vorträge beim wissenschaftlichen Kolloquium aus Anlaß des achtzigsten Geburtstags von Gerd Tellenbach, Sigmaringen 1985, S. 1 - 1 5 , hier S. 5 ff. KARL SCHMID, Über das Verhältnis von Person und Gemeinschaft im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 1, 1967, S. 225—249, hier S. 248. Vgl. auch die Freiburger Antrittsvorlesung von 1973: DERS., Programmatisches zur Erforschung der mittelalterlichen Personen und P e r s o n e n g r u p p e n , e b d . 8, 1 9 7 4 , S.
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Gruppenbildungen dieser Art treten zumal in zwei Formen in Erscheinung, denen das Interesse Karl Schmids kontinuierlich galt. Einmal in der Form der monastischen und der nach ihrem Vorbild geformten geistlichen oder klerikalen Kommunität. Zum anderen in der mittelalterlichen Form der Genossenschaft, der Assoziation, der Einung, die oft durch einen gegenseitig geleisteten Versprechenseid als Schwureinung (coniuratio) begründet wurde und die uns als Gilde und Zunft, als Universität und Bruderschaft, als bäuerliche und städtische Kommune entgegentritt. Es geht also im folgenden um das Bild der mittelalterlichen Gesellschaft, so wie es sich im Hinblick auf diese beiden Typen mittelalterlicher Gruppenbildung abzeichnet.
IV
Die geschichtlichen Wirkungen des christlichen Mönchtums auf allen Gebieten der menschlichen Kultur, von der Seelsorge und Mission über Bildung, Erziehung, Wissenschaft, Kunst und Architektur bis zur Ökonomie, sind von Historikern umfassend erforscht worden. Weniger evident ist indessen oft die Antwort auf die Frage, was diese fast unerschöpflich erscheinenden geschichtlichen Wirkungen des Mönchtums begründet hat. Natürlich ist das Grundmotiv mönchischer Existenz die individuelle Berufung, der Entschluß des Einzelnen zur conversio, sein Blick auf das ewige Leben und die Wiederkunft Christi. Aber daraus sind die historischen Wirkungen des zoenobitischen Mönchtums nicht zu erklären, sind diese doch nicht aus solchen individuellen, sondern nur aus gruppengebundenen und gruppenspezifischen Motiven zu begreifen. Diese hat man mit der Askese näher zu fassen versucht. „Die Anfänge des christlichen Mönchtums stecken in der christlichen Askese" 42 , so lautet eine oft wiederholte These. Wie problematisch sie ist, hat indessen schon am Anfang unseres Jahrhunderts der Kirchenhistoriker Adolf von Hamack in seiner Abhandlung über 'Das Mönchtum, seine Ideale und seine Geschichte' unwillentlich demonstriert, indem er das Mönchtum vom Ideal der Weltflucht her definierte. Wenn aber Weltflucht das Ideal des Mönchtums sei, so Hamack, wie kann das Mönchtum dann überhaupt eine Geschichte haben? „Ist nicht Weltentsagung zugleich Verzicht auf alle Entwicklung und alle Geschichte?" so fragte Hamack 4 3 . Und ist also nicht, wenn das Mönchtum eine Geschichte gehabt haben sollte, diese „Geschichte der Ideale des Mönchtums schon ein Protest gegen den Gedanken des Mönchtums überhaupt"? Nun hat aber doch das Mönchtum unbestreitbar „eine wirkliche Geschichte gehabt", und es hat darüber hinaus „Geschichte gemacht", wie auch Harnack feststellen mußte. Lassen die ureigensten Ideale des Mönchtums solche Wirkungen zu, oder „hat das Mönchtum dieses alles nur leisten können, indem es seine Ideale verließ"? Dies war in der Tat die
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KARL SUSO FRANK, Geschichte des christlichen Mönchtums, Darmstadt 1988, S. 1. Ebenso u. a. RUDOLF LORENZ, Das vierte bis sechste Jahrhundert (Westen) (Die Kirche in ihrer Geschichte 1, Lief. C 1) Göttingen 1970, S. 52 f.; C. H. LAWRENCE, Medieval Monasticism, London —New York 1984, S. 1
43
ff.
ADOLF VON HARNACK, Das Mönchtum, seine Ideale und seine Geschichte, Gießen Die folgenden Zitate ebd. S. 7, 35, 64.
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1 9 2 1 , S. 6.
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Auffassung Harnacks: die Ideale, die ursprünglichen Ziele des Mönchtums seien „in ihr Gegenteil umgeschlagen", und zwar eigentlich von allem Anfang an. So geriet ihm die mehr als ein Jahrtausend umfassende Geschichte des Mönchtums bis zur Reformation zur Geschichte einer Entfremdung und Veruneigentlichung. So sehr dieses Urteil den protestantischen Theologen Harnack befriedigen mochte, dem Historiker bleibt es unverständlich, weil es die durch Religion begründeten gesellschaftlichen Wirkungen des Mönchtums als Wirkungen eines Mißverständnisses oder einer Entfremdung betrachtet, was nicht überzeugen kann. Die Anfänge des Mönchtums stecken denn auch nicht in der Askese 44 . Sie sind vielmehr begründet durch jene gemeinschaftliche Lebensform, die von allem Anfang an im Mittelpunkt stand und die man alsbald als 'vita communis' oder Vita apostolica' bezeichnete 45 . Diese Lebensform ist zwar antiker Herkunft, blieb aber in der antiken Gesellschaft eine Randerscheinung 46 . Weltgeschichtliche Bedeutung erlangte sie erst durch das Christentum, in der Orientierung nämlich an jenen Texten der neutestamentlichen Apostelgeschichte, welche die Lebensform der ältesten christlichen Gemeinde in Jerusalem schildern wollten (Apg. 2 und 4). Diese Lebensform war gekennzeichnet durch 'brüderliche Gemeinschaft' (koinonia)*1 und durch Gütergemeinschaft: ,sie hatten alles gemeinsam', habebant omnia communia (2,44; 4,32); und: ,jedem wurde so viel gegeben, wie er nötig hatte' (2,45; 4,35). Dazu kam die Gleichstellung der Personen: erantpariter (Apg. 2,44). Gütergemeinschaft als ökonomische Grundlage und zugleich ökonomischer Ausdruck einer Gesinnungsgemeinschaft, die jedem das Seine, die jedem nach seinen Bedürfnissen zuteilt, verbunden mit der Gewinnung des Lebensunterhalts durch Arbeit 48 , das ist die Grundlage der historischen Wirkungen des Mönchtums, die vor allem solche des mittelalterlichen Mönchtums sind, wie an dieser Stelle nicht ausführlich dargestellt werden muß. Sogleich wird man aber auch hinzufügen müssen, daß zu diesen Wirkungen auch solche gehören, die den Bereich des Mittelalters und den Bereich des Mönchtums weit überschreiten.
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Es kann 'Askese' ja auch nicht als etwas genuin Christliches gelten; sie ist vielmehr das große Thema der gesamten Spiritualität der Spätantike und ihrer Religionen. MANFRED WACHT, Art. 'Gütergemeinschaft', in: Reallexikon für Antike und Christentum 13, 1986, Sp. 1—59, bes. Sp. 26 ff. Den Begriff 'vita communis' prägte definitiv Augustinus: ADOLAR ZUMKELLER, Das Mönchtum des heiligen Augustinus (Cassiciacum 11) Würzburg 1968, S. 74 und 182 ff. Dazu und auch zur vor-augustinischen Geschichte des Begriffs HANS-JÜRGEN DERDA, Vita communis, Diss. phil. Hannover 1990. Über den Zusammenhang von 'koinonia', Gütergemeinschaft und 'vita apostolica' schon im pachomianischen Mönchtum vgl. M.-H. VICAIRE, Limitation des apotres. Moines, chanoines, mendiants, Paris 1963, S. 25 ff. und HEINRICH BACHT, Das Vermächtnis des Ursprungs. Studien zum frühen Mönchtum I, Würzburg 1972, S. 233 ff. WACHT (wie A n m . 4 5 ) Sp. 1 f f . ; HANS-JOSEF KLAUCK, G ü t e r g e m e i n s c h a f t in der klassischen A n t i k e ,
in Qumran und im Neuen Testament, in: Revue de Qumran 11, 1982, S. 47—79. Apg. 2,42: Erant autem perseverantes in doctrina apostolorum et communicatione fractionis panis et orationibus\ ebd. 4,32: Multitudinis autem credentium erat cor unum et anima una. Auf das Problem der seit langem umstrittenen und mit den Mitteln der Exegese nicht lösbaren Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt der beiden lukanischen Summarien in Apg. 2 und 4 kann hier nicht eingegangen werden. Uber die Anfänge im pachomianischen Mönchtum vgl. die oben Anm. 45 genannten Titel sowie PHILIP ROUSSEAU, Pachomius. The Making of a Community in Fourth-Century Egypt, Berkeley u. a. 1985.
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Denn zu den geschichtlichen Wirkungen der Lebensform der Vita communis' seit dem 16. Jahrhundert gehört einerseits die im Täufertum des 16. Jahrhunderts beginnende neuzeitliche Geschichte des (nur unzulänglich so benannten) 'Sektenkommunismus', die Geschichte jener Gruppenbildungen, die, ebenfalls mit religiöser Begründung, sich in Gütergemeinschaft und Gemeinwirtschaft organisierten, allen voran die sog. Hutterer 49 . Diese bezeichneten sich selbst als „Gemeinschafter" oder „Gemeinschaftler" und wurden von ihren Gegnern aus dem Täufertum seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert als 'communistae' geschmäht 50 . Ihnen folgten in den nächsten Jahrhunderten viele religiöse Gruppen, bei denen stets die Gütergemeinschaft und die damit geschaffene Gleichheit — nach dem Vorbild von Apg. 2 und 4 — zugleich Grundlage des gemeinschaftlichen Lebens und äußeres Zeichen der Gesinnung brüderlicher Liebe war 51 , so bei den Shakern, den Harmonisten, den Separatisten des 18. und 19. Jahrhunderts und bei vielen anderen 52 . Ihnen wiederum folgten im Lauf des 19. Jahrhunderts die rein profan motivierten 'kommunistischen' Siedlungsgemeinschaften, deren Ursprung auf die Ideen und das Wirken von R. Owen, Ch. Fourier und E. Cabet zurückging 53 . Nicht weniger folgenreich war, ebenfalls im frühen 16. Jahrhundert, die Transponierung der Lebensform der Vita communis' in das dadurch entstehende neue Feld des utopischen Denkens 54 . Die berühmte Utopie-Schrift des Thomas Morus von 1516 schildert die Lebensweise von Menschen in einem ausgegrenzten Raum und nennt sie Vita communis'. Ausdrücklich und an entscheidender Stelle seines Werks hat Morus den Zusammenhang zwischen der Lebensweise der Utopier im ganzen wie in allen Einzelheiten mit diesem Prinzip der Vita communis' herausgestellt: diese ist die ,Grundlage ihrer (sc. der Utopier) ganzen Verfassung' 55 .
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Die Gütergemeinschaft bei den Täufern des 16. Jahrhunderts, Göppingen 1972, S. 38ff., bes. S. 72ff. Vgl. C L A U S - P E T E R C L A S E N , Anabaptism. A Social History 1 5 2 5 - 1 6 1 8 , Ithaca—London 1972, S. 210 ff. Aufschlußreich ist die Beschreibung der noch heute weitgehend unveränderten Lebensformen der Hutterer bei M I C H A E L H O L Z A C H , Das vergessene Volk. Ein Jahr bei den deutschen Hutterern in Kanada, Hamburg 1980. Zur Reflexion über die Gütergemeinschaft bei den Täufern in der Schweiz und in Münster PLUMPER, S. 23 ff. und 160 ff. Einen Uberblick über die neuzeitliche Geschichte des Phänomens geben die Beiträge in: H A N S - J Ü R G E N G O E R T Z (Hg.), Alles gehört allen. Das Experiment Gütergemeinschaft vom 16. Jahrhundert bis heute, München 1984. W O L F G A N G S C H I E D E R , Art. 'Kommunismus', in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 5 ) 3 , 1 9 8 2 , S . 4 5 5 - 5 2 9 , hier S . 4 5 7 ff. M . H O L L O W A Y , Heavens on Earth. Utopian Communities in America 1 6 8 0 — 1 8 8 0 , London 1 9 5 1 ; W . H. G. A R M Y T A G E , Heavens Below. Utopian Experiments in England 1 5 6 0 — 1 9 6 0 , London 1 9 6 1 ; H E R M A N N S C H E M P P , Gemeinschaftssiedlungen auf religiöser und weltanschaulicher Grundlage, Tübingen 1 9 6 9 ; J O H N M C K E L V I E W H I T W O R T H , God's Blueprints. A Sociological Study of Three Utopian Sects, London—Boston 1975. H A N S - D I E T E R PLUMPER,
HOLLOWAY ( w i e A n m . S.
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55
5 1 ) S . 8 8 f f . ; SCHEMPP ( w i e A n m .
5 1 ) S. 3 8 ff.; WHITWORTH ( w i e A n m .
51)
13ff.
H O L L O W A Y (wie Anm. 51) S . 101 ff., 1 1 6 f f . , 133 ff., 197 ff.; SCHEMPP (wie Anm. 51) S . 88 ff. Zum folgenden O T T O G E R H A R D O E X L E , Utopisches Denken im Mittelalter: Pierre Dubois, in: Historische Zeitschrift 224, 1977, S. 2 9 3 - 3 3 9 , hier S. 2 9 3 - 3 2 0 , bes. S. 3 1 6 f f . Die 'Utopia' des Thomas Morus wird im folgenden nach der Edition von E D W A R D S U R T Z und J A C K H . H E X T E R (The Complete Works of St. Thomas More, 4, New Haven —London 1965) zitiert. Das genannte Zitat hier S. 244: máxime, quod maximum totius institutions fundamentum est uita scilicet,
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Mit dem Lebensprinzip 'omnia communia' stellte Morus die ideale Gesellschaft der Utopier dem im Europa der Zeit um 1500 geltenden Grundsatz des Privateigentums (privatae possessionis) und der daraus sich ergebenden Unordnung, den daraus sich ergebenden Mißständen gegenüber 56 . Auch bei der Zustimmung der Utopier zu der Lehre des Christentums sei ,von erheblichem Gewicht' gewesen, daß sie gehört hatten, Christus habe die gemeinschaftliche Lebensweise' (uictus communis) der Seinen gutgeheißen, und auch, daß diese Lebensweise gerade ,in den wahrsten Gruppen von Christen' (apudgermanissimos Christianorum conuentus) noch heute üblich sei 57 . Und wie in den vorangegangenen realen Gruppen, die nach diesem Prinzip lebten oder zumindest leben wollten, ist auch in der utopischen Gesellschaft das ökonomische Prinzip mit einer Vielzahl sozialer und spiritueller Lebensnormen verknüpft. Sei es doch der Sinn dieser Lebensform, des ,Nächsten Not ... nach Kräften zu erleichtern', ,den Kummer der Mitmenschen zu lindern, ihre Traurigkeit aufzuheitern und ihrem Leben die Freude ... wiederzuschenken'; es gehe um gegenseitige Hilfe bei dem Versuch, das Leben fröhlicher zu leben' (ad hilarioris uitae mutuum subsidium)s%. Es ist gewiß kein Zufall, wenn sich diese Transponierung der Lebensform der Vita communis' in ein neues Feld des Denkens, das dadurch geschaffen wurde, in eben jenem historischen Moment vollzog, in dem Erasmus von Rotterdam das christliche Mönchtum in einer Gegenüberstellung des Ideals der Vita apostolica' mit der weniger erfreulichen Wirklichkeit seiner Zeit dem Gelächter preisgab 59 und in dem Martin Luther es theologisch zu widerlegen versuchte 60 . Aus der Utopieschrift von 1516 aber gelangten die Lebensnormen der Vita communis', also: Gesinnungsgemeinschaft, begründet auf Gütergemeinschaft und in dieser sich ausdrückend, über mancherlei Vermittlungsstufen auch ihrerseits in die Grundannahmen des sogenannten utopischen Sozialismus des 18. und 19. Jahrhunderts 61 und finden sich deshalb auch als Grundelement des modernen Begriffs des Kommunismus, so wie er 1840 in Frankreich zum ersten Mal definiert wurde: er enthalte, so wird damals festgestellt, „le sentiment de l'Égalité et de la solidarité humaine, le sentiment de la Fraternité", und: die auch hier der egalitären Gesellschaftsordnung entsprechende Güterordnung 62 . Mit den Worten Lorenz von Steins von 1842: es gehe hier um „Gütergemeinschaft" und „Gleichstellung aller Person" 63 .
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uictuque communi, sine ullo pecmiae commercio, qua una re funditus euertitur omnis nobilitas, magntficentia, splendor, maiestas, uera ut publica est opinio decora atque ornamenta Reipublicae... Zur zentralen Bedeutung dieses Motivs und zur Bedeutung dieser Textstelle JACK H. HEXTER, Das 'dritte Moment' der Utopia und seine Bedeutung, in: WILHELM VOSSKAMP (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, 2, Frankfurt a. M. 1985, S. 1 5 1 - 1 6 7 , hier S. 160 f. Dazu die grundsätzlichen Erörterungen am Ende von Buch I der 'Utopia' (wie Anm. 55) S. 100 ff. Ebd. S. 218. Ebd. S. 162, 164. Erasmus von Rotterdam, Laus stultitiae c. 54 (WERNER WELZIG [Hg.], Ausgewählte Schriften 2, Darmstadt 1975) S. 142 ff. Martin Luther, De votis monasticis (Weimarer Ausgabe 8, 1889) S. 573 ff. S. unten Anm. 63 sowie WOLFGANG SCHIEDER, Art. 'Sozialismus', in: Geschichtliche Grundbegriffe ( w i e A n m . 5) 5, 1 9 8 4 , S. 9 2 3 - 9 9 6 , bes. S. 9 3 4 f f .
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So Th. Thoré, La vérité sur le parti démocratique (1840), zit. nach SCHIEDER (wie Anm. 50) S. 473. LORENZ VON STEIN, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, Leipzig 1842, S. 356. Vgl. SCHIEDER (wie Anm. 50) S. 475 ff.
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Die im 19. Jahrhundert noch vorhandene Einsicht in den Zusammenhang aller dieser spätantiken, mittelalterlichen, frühneuzeitlichen und modernen Lebensnormen und Lebensformen scheint der Forschung im 20. Jahrhundert eher wieder verlorengegangen zu sein. Vielleicht liegt ein Grund dafür auch in einer verdinglichten Auffassung der Epochenschwellen von 1500 und von 1800, welche die historische Erkenntnis so oft behindert. Von der Utopieschrift des Thomas Morus wurde wiederholt festgestellt, sie sei „eines der großen und ursprünglichen Zeugnisse, in denen der neuzeitliche Geist ... in Erscheinung tritt", denn im Mittelalter habe es solches Denken über den Menschen, über die Ordnung des Lebens und der Gesellschaft nicht geben können, eben weil das mittelalterliche Denken archaisch gewesen sei64. Diese Feststellung trifft richtige Momente der Diskontinuität und des Neuen, die in der 'Utopia' des Thomas Morus unbestreitbar zutage treten, sie läßt aber das ebenso evidente und zentrale Moment der Kontinuität außer acht, so wie es in dem vom Autor selbst herausgestellten Stichwort und den für den zeitgenössischen Leser damit evozierten Lebensnormen sichtbar wurde. Auch die umfangreiche neuere, interdisziplinäre und vergleichende Utopieforschung ist sich über diesen Grundgedanken der Schrift des Morus weitgehend im unklaren und erkennt ihre deutlichen und fundamentalen Verweise auf die mittelalterliche Lebensform der Vita communis' offenbar nicht 65 . In ähnlicher Weise wird die Epochenschwelle von 1800 absolut aufgefaßt, nämlich im Hinblick auf die Geschichte der Begriffe 'Kommunismus' und 'kommunistisch'. Man hat jüngst die These vertreten, daß der moderne Begriff des 'Kommunismus', als solcher, wie bereits angedeutet, ein Neologismus des 19. Jahrhunderts 66 , als ein „zukunftsorientierter Bewegungsbegriff' sich vom vormodernen Begriff des 'Kommunistischen' als einem „rückwärtsgewandten Sozialbegriff" fundamental
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N I P P E R D E Y , Die Utopia des Thomas Morus und der Beginn der Neuzeit, in: D E R S . , Reformation, Revolution, Utopie, Göttingen 1975, S. 1 1 3 - 1 4 6 , hier S. 113, 124f. N O R B E R T E L I A S , Thomas Morus' Staatskritik. Mit Überlegungen zur Bestimmung des Begriffs Utopie, in: VOSSKAMP (Hg.), Utopieforschung (wie Anm. 5 5 ) S. 1 0 1 — 1 5 0 , hier S. 1 3 3 f. stellt die Frage, was Morus veranlaßte, „seinem idealen Staat eine kommunistische Besitzverteilung zuzuschreiben", und beantwortet sie mit dem Hinweis auf das im 16. Jahrhundert gar nicht seltene „Gegenbild zu den krassen Gegensätzen von Armut und Reichtum, die im Zusammenhang mit der Auflösung der mittelalterlichen Korporation, mit der zunehmenden Kommerzialisierung und der damit eng verbundenen verstärkten staatlichen Zentralisierung schärfer hervortraten. Die Bewegungen in dieser Richtung gingen Hand in Hand mit einer wachsenden Individualisierung. Der einzelne trat in erhöhtem Maße aus den sich auflösenden Verbänden als ein auf sich gestelltes Individuum heraus" usw. (S. 133 f.). Hier wird also wieder mit der in vielerlei Zusammenhängen als Erklärungsmuster verwendeten Gegenüberstellung 'typisch mittelalterlicher' und 'typisch neuzeitlicher' oder 'moderner' Momente gearbeitet (s. oben S. 5 und unten S. 1 9 f.). W I L H E L M VOSSKAMP, Thomas Morus' Utopia \ Zur Konstituierung eines gattungsgeschichtlichen Prototyps (in: DERS. [Hg.], Utopieforschung, S. 183 — 196) sieht die „prototypischen Funktionen der Utopia" allein „im Zusammenhang des gesellschaftlichen Gesamtsystems des frühen 16. Jahrhunderts", in der „rationalen Konstruktion eines politischen Rechts- und Verfassungssystems ohne (zusätzliche) theologische Legitimierung. Dies hat (trotz der Anklänge an christliche und monastische Traditionen im einzelnen) strenge Säkularisierung zur Folge in dem Sinn, daß Fragen der Ökonomie (Eigentumsordnung, Arbeit) und des Rechts (Gleichheit, religiöse Toleranz) in den Mittelpunkt rücken und das Moment des Funktionalen eindeutig dominiert" (S. 188 ff.).
THOMAS
SCHIEDER ( w i e A n m . 5 0 ) S . 4 5 5 , 4 7 0 ff.
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unterscheide und daß es vom einen zum anderen „keine allmähliche Bedeutungsveränderung" gebe, sondern „eher einen Bedeutungssprung", der in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts einsetze67. Zwar wird hier auf ältere Begriffsbildungen hingewiesen, so auf die bereits erwähnte Bezeichnung der Hutterer als 'Kommunisten' (communistae) im 16. und 17. Jahrhundert oder auf die agrarischen 'Kommunisten' des 18. Jahrhunderts, d. h. die Anhänger und Nutznießer des bäuerlichen Gemeinbesitzes68. Doch wird dies nicht als Element einer „begriffsgeschichtlichen Kontinuität" gedeutet oder gar vertieft, sondern im Sinne des Vorhandenseins von „mehreren, miteinander nicht im Zusammenhang stehenden Vorgeschichten" interpretiert: „Es führt kein Weg von den älteren 'communistae' zu den modernen 'Kommunisten.' " 6 9 Auch diesen Erörterungen liegt wiederum die Annahme des Gegensatzes zwischen einer statischen und traditionsgebundenen Vormoderne und einer (am Ende des 18. Jahrhunderts sich allmählich ausformenden) dynamischen Moderne zugrunde. Nun ist gewiß unbestreitbar, daß der Begriff des 'Kommunismus' im 19. Jahrhundert als ein „zukunftsorientierter Bewegungsbegriff' in Erscheinung trat, spiegelt sich doch auch darin die aus anderen Zusammenhängen bekannte 'Verzeitlichung' der politisch-sozialen Begriffe im Übergang zur Moderne 70 . Der Einwand richtet sich vielmehr darauf, ob die Durchsetzung dieses „Bewegungsbegriffs" wirklich das einzige entscheidende Moment ist, das die Begriffsgeschichte des 'Kommunistischen' im Übergang zur Moderne bestimmt hat. Diese Annahme wird in der Tat dann fragwürdig, wenn man sich nicht mit der bloßen Beobachtung der Wortgeschichte von 'Kommunismus' und 'Kommunist' begnügt, sondern diese mit begriffsgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Überlegungen verknüpft, welche das geschichtliche Phänomen der 'vita communis' in die Betrachtung einbeziehen 71 , die doch in inhaltlicher Hinsicht ganz unbestreitbar den modernen Begriff des 'Kommunismus' bestimmt hat, — so wie das ja auch gerade in der Frühgeschichte dieses Begriffs während der 1840er Jahre festgestellt wurde 72 .
67
Ebd. S. 468. Demnach hat erstmals Restif de la Bretonne den 'Kommunismus' als System einer allgemeinen Gütergemeinschaft und des totalen Kollektiveigentums auf eine künftige Gesellschaftsordnung projiziert (ebd. S. 470).
68
Ebd. S. 457 ff. und 462 ff. Vgl. oben A n m . 49 und unten A n m . 102.
69
SCHIEDER ( w i e A n m . 5 0 ) S. 4 5 6 , 4 6 2 .
70
REINHART KOSELLECK, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M .
71
Analoges gilt für Begriff und Sache der 'Kommune', worauf hier jedoch nicht eingegangen werden
72
FRIEDRICH ENGELS hat in seiner 1845 veröffentlichten 'Beschreibung der in neuerer Zeit entstande-
1979,
S. 3 2 1 ff., 3 3 9 ff.
kann. nen und noch bestehenden kommunistischen Ansiedlungen' diese (auf der Idee der 'vita communis' beruhenden) Siedlungen u. a. der Shaker mit dem modernen Kommunismus verknüpft (KARL MARX—FRIEDRICH ENGELS, Werke 2, Berlin 1958, S. 521—535). Er wollte nachweisen, daß „der Kommunismus", nämlich „das soziale Leben und Wirken in Gemeinschaft der Güter" einschließlich der damit verbundenen Gleichheit, an vielen Orten bereits Wirklichkeit geworden sei, „und das mit dem besten Erfolge"; ja, wenn sich dies bei „allerhand religiösen Sekten" bewährt habe, um „wieviel eher" müsse es dort gedeihen, w o man sich von solchen „religiösen Flausen" befreit habe (S. 521 f.). Dieser zentrale Text für die Frühgeschichte des Kommunismus-Begriffs ist bei SCHIEDER (wie Anm. 50) nicht erörtert.
Das Bild der Moderne v o m Mittelalter und die moderne Mittelalterforschung
15
Betont man also in diesem Sinne die Kontinuität zwischen Vormoderne und Moderne, so zeigt sich der Befund einer Wertvorstellung über das Zusammenleben der Menschen, einer Wertvorstellung von großer Intensität und Wirksamkeit, einer als ideal empfundenen Lebensweise, deren Grundsätze in der Spätantike, im Mittelalter, in der Frühen Neuzeit ebenso ideal empfunden wurden wie noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es bleibt dann allerdings zu fragen, wie diese Kontinuität näher charakterisiert werden muß und wie sie mit den unbestreitbaren Elementen der Diskontinuität verknüpft werden kann. Wie also kann die inhaltliche Kontinuität vermittelt werden mit der Diskontinuität zwischen traditionsgebundenem „Sozialbegriff' und „zukunftsorientiertem Bewegungsbegriff"? Eine Antwort auf diese Frage könnte darin liegen, daß diese Lebensnormen in der Vormoderne grundsätzlich solche von Gruppen sind, daß es sich um gruppengebundene und gruppenspezifische Normen handelt, die nun, im Übergang zur Moderne, als allgemeine und universal gültige Lebensnormen proklamiert und propagiert werden. Daraus ergibt sich dann die weitere Frage, welches die geschichtlichen Umstände waren, durch die in dieser Weise ein gruppenbezogener und gruppenspezifischer „Sozialbegriff zu einem für die gesamte Gesellschaft reklamierten Gesinnungsbegriff und „Bewegungsbegriff' werden konnte, wie es also zu dieser Universalisierung der Normen partikularer Gruppen kommen konnte. V
Dieser Frage begegnen wir noch einmal, wenn wir nun nach dem Bild jener anderen Form der Gruppenbildung fragen, die mit dem Stichwort der 'Kommune' soeben bereits evoziert wurde: Der Typus der Einung, des freien Zusammenschlusses einzelner, um durch Verpflichtung zu gegenseitiger Hilfe umfassende soziale Sicherung in allen Bereichen zu gewinnen und die intendierten Ziele zu verwirklichen, seien diese nun religiös, politisch oder ökonomisch oder dies alles zugleich. Grundlage des Handelns ist also ein Vertrag, ein pactum, das in einem wechselseitigen Eid oder in anderen Formen des feierlichen, den Einzelnen an andere bindenden Versprechens seine Grundlagen hatte. Es handelt sich hier um Genossenschaften, insofern durch solche Eide und andere Formen des gegenseitigen Sich-Bindens gleichheitliche, paritätische Rechts- und Sozialbindungen geschaffen wurden 73 . Dem entspricht, daß als leitende Devise des Denkens und Handelns auch hier stets die Brüderlichkeit, die fraternitas galt. Aus dieser Verknüpfung von gegenseitigem Eid oder Versprechen und Verbrüderung ergibt sich die politische und verfassungsrechtliche Bedeutung und Wirkung solcher Gruppen, vor allem der geschworenen Einungen (coniurationes). Sie sind aus sich selbst statuierte Rechts- und Friedensbereiche, also rechtliche Sondergemeinden mit selbstgesetztem Willkürrecht und eigener Gerichtsbarkeit und mit einer typischen Form der Verfassung, die gekennzeichnet ist durch die Ausbildung autonomer Verfahrensregelungen, durch Kooptation sowie durch die Wahl der Amtsträger auf jeweils begrenzte Zeit. Sie sind auch
73
GERHARD DILCHER, Zur Geschichte und Aufgabe des Begriffs Genossenschaft, in: DERS. — BERNHARD DIESTELKAMP (Hgg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Symposion f ü r Adalbert Erler, Berlin 1986, S. 1 1 4 - 1 2 3 .
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Otto Gerhard Oexle
religiöse Sondergemeinden, die sich der kirchlichen Pfarrei nicht entziehen, wohl aber neben ihr bestehen, was bedeutsam genug ist 74 . Zur Bezeichnung dieser Vereinigung finden wir in den Quellen eine Vielzahl von Wörtern: societas, fraternitas, confratria, consortium, collegium, universitas, gilda, amicitia, adunatio, coniuratio usw. 75 . Die Fülle dieser wechselnden Bezeichnungen hat oft die Zusammengehörigkeit und den gemeinsamen Charakter dieser Gruppen verstellt, da man allzu leicht übersah, daß das Sozialvokabular des Mittelalters — im Gegensatz zur Begrifflichkeit der modernen Forschung — nicht spezifisch, sondern gewissermaßen gattungsgemäß ist, so daß die Unterschiede in der Bezeichnung keineswegs auf Unterschiede der Sache deuten 76 . Es handelt sich um Heteronyme, die jeweils einen Aspekt solcher Gruppen benennen 77 : die konstitutierende Rechtshandlung des Eides, oder die Gesinnungsgemeinschaft der Brüderlichkeit, oder das Vertragshandeln, das zu einer Satzung führt, so wie das auch in den Bezeichnungen 'Einung', 'Zunft' und 'Zeche' zum Ausdruck kommt. Auch hier sind Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte aufs engste verknüpft. Das gilt auch im Blick auf die Haltung der kirchlichen und staatlichen Obrigkeit, die solchen Gruppenbildungen in der Regel eher ablehnend, wenn nicht sogar feindlich gegenüberstanden, ihre Tätigkeit jedenfalls einzugrenzen oder zu unterdrücken suchten, vor allem wenn es sich um geschworene Einungen handelte. Besonders eindrucksvoll ist die Kontinuität kirchlicher Bemühungen, die freien Vereinigungen von Laien und Klerikern in kirchlich veranstaltete und somit kontrollierte Vereinigungen umzuformen 78 . Ähnliches gilt auch für die städtische Obrigkeit im Spätmittelalter. In der Zeit der spätmittelalterlichen Krise, im 14. und 15. Jahrhundert, begannen die Handwerksgesellen nach dem Vorbild der Gilden ihre eigenen Gruppen zu bilden; sie entstanden zu gemeinsamer religiöser Betätigung, zur Organisation der sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit, Unfall und Krankheit, aber auch zur Organisation des Arbeitskampfes in Streik und Boykott 79 . In den Quellen werden diese Gruppen als societates und als fraternitates bezeichnet. Dies bedeutet natürlich nicht, daß die Gesellen gewissermaßen „Doppelgenossenschaften" bilde-
74
75
76
77
OTTO GERHARD OEXLE, Die mittelalterlichen Gilden: ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur Formung sozialer Strukturen, in: Miscellanea Mediaevalia 12/1, Berlin—New York 1979, S. 203 — 226; DERS., Conjuratio und Gilde im frühen Mittelalter. Ein Beitrag zum Problem der sozialgeschichtlichen Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter, in: BERENT SCHWINEKÖPER (Hg.), Gilden und Zünfte (Vorträge und Forschungen 29) Sigmaringen 1985, S. 151—214. OTTO GERHARD OEXLE, G i l d e n als soziale G r u p p e n in d e r K a r o l i n g e r z e i t , in: HERBERT JANKUHN
u. a. (Hg.), Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, 1 (Abhandlungen der Akad. der Wiss. in Göttingen, Phil.-hist. Kl., Dritte Folge Nr. 122) Göttingen 1981, S. 2 8 4 - 3 5 4 , hier S. 291 f. PIERRE MICHAUD-QUANTIN, Universitas. Expressions du mouvement communautaire dans le MoyenAge latin (L'Eglise et l'Etat au Moyen-Age 13) Paris 1970. RUTH SCHMIDT-WIEGAND, Die Bezeichnungen Zunft und Gilde in ihrem historischen und wortgeographischen Zusammenhang, in: SCHWINEKÖPER (Hg.), Gilden und Zünfte (wie Anm. 74) S. 31 — 52.
78
Dazu OEXLE (wie A n m . 7 5 ) S. 3 2 1 f f .
79
WILFRIED REININGHAUS, Die Entstehung der Gesellengilden im Spätmittelalter (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 71) Wiesbaden 1981.
Das Bild der Moderne vom Mittelalter und die moderne Mittelalterforschung
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ten, wie man annimmt 80 . Es bedeutet vielmehr, daß die städtische Obrigkeit jene Aspekte solcher Gesellengruppen, die profaner Art waren, unter dem Gesichtspunkt 'societas' zusammenfaßte, die religiösen Betätigungen unter dem Aspekt 'fraternitas\ 'Fraternitas' wurde toleriert, 'societas' aber war unerwünscht und wurde verboten 81 . Dem Hinweis auf die Gruppenbildungen der Handwerksgesellen müßten andere an die Seite gestellt werden: Hinweise auf die vielen oft rein personalen, oft aber auch lokal oder regional radizierten Gruppen; viele umfaßten den an einem bestimmten Ort lebenden Personenkreis, andere hatten eine berufsspezifische oder schichtenspezifische Zusammensetzung. Das Beispiel der spätmittelalterlichen Gesellengilden weist außerdem darauf hin, daß man eine Geschichte solcher Gruppen auch unter epochenspezifischen Fragestellungen schreiben kann. Denn fast jede Phase der mittelalterlichen Geschichte brachte ihre spezifischen Formen solcher Genossenschaften hervor. Ein Blick auf das 11. und 12. Jahrhundert zum Beispiel zeigt, wie in den Kaufmannsgilden, in den Handwerkerzünften und in den Schwureinungen der Magister und der Studierenden sich die typischen prägenden Elemente dieser Zeit darstellen, und man kann in diesen Gruppen zugleich Mittel der geschichtlichen Durchsetzung dieser Elemente erkennen. Die Entstehung einer Stadt und Land umfassenden Verkehrswirtschaft im hochmittelalterlichen Europa drückte sich in der Entstehung der Kaufleute- und Handwerkergilden aus und wurde durch diese zugleich vorangetrieben. Dasselbe gilt für die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert und für die Entstehung der Universitäten 82 . Ein epochenspezifisches Phänomen sind auch jene politischen Gruppenbildungen, Freundschaftsbünde, pacta amicitiae, des beginnenden 10. Jahrhunderts, die Karl Schmid jüngst entdeckt hat und von denen er zeigen konnte, daß sie eine für diese Zeit kennzeichnende Form der Willensbildung und des politischen Handelns darstellen, so daß man von ihnen her „den außergewöhnlichen Erfolg" der Königsherrschaft Heinrichs I. überhaupt „erst eigentlich versteht" 83 . Auf ein besonders interessantes Feld sozialgeschichtlicher Forschung machte wiederum Karl Schmid aufmerksam mit seinen Hinweisen auf die frühmittelalterlichen Klerikervereinigungen und die in ihrem Umkreis festzustellenden Personen-
80
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83
So GEORG SCHANZ, Zur Geschichte der deutschen Gesellenverbände, Leipzig 1877, S. 93 ff., und neuerdings wieder KNUT SCHULZ, Handwerksgesellen und Lohnarbeiter, Sigmaringen 1985, S. 1 6 4 ff. Dazu WILFRIED REININGHAUS, Zur Methodik der Handwerksgeschichte des 14.— 17. Jahrhunderts. Anmerkungen zu neuer Forschung, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 72, 1985, S. 3 6 9 - 3 7 8 , hier S. 374ff. V g l . OTTO G E R H A R D OEXLE, D i e K a u f m a n n s g i l d e v o n
T i e l , i n : HERBERT J A N K U H N — E L S E EBEL
(Hgg.), Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittelund Nordeuropa, Teil VI: Organisationsformen der Kaufmannsvereinigungen in der Spätantike und im frühen Mittelalter (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Klasse. Dritte Folge, Nr. 183) Göttingen 1989, S. 173 — 196; DERS., Alteuropäische Voraussetzungen des Bildungsbürgertums — Universitäten, Gelehrte und Studierte, in: WERNER CONZE—JÜRGEN KOCKA (Hgg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, 1 (Industrielle Welt 38) Stuttgart 1985, S. 2 9 - 7 8 , bes. S. 30 ff. SCHMID, Das Problem der 'Unteilbarkeit des Reiches' (wie Anm. 40) S. 6.
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Otto Gerhard Oexle
gruppierungen mit bruderschaftlichem oder gildeartigem Charakter 84 . Das Vereinigungswesen des mittelalterlichen Klerus ist im ganzen noch wenig erforscht, wenn man einmal von eher deskriptiven Arbeiten absieht, die es im wesentlichen in die Vorgeschichte der kirchlichen Vereine stellen und unter der Perspektive des modernen Kirchenrechts beleuchten 85 . Neuere, regional angelegte Arbeiten zeigen sowohl beim städtischen Klerus wie beim Klerus auf dem Land indessen eine überraschende Vielfalt der Gruppenbildungen, und sie zeigen zugleich die für das Mittelalter so kennzeichnende Verschränkung der Welt des Klerus mit jener der Laien, mit Adel und städtischem Bürgertum 86 . Eine solche Vielfalt von Gruppenbildungen gerade im Klerus überrascht angesichts der zahlreichen Verbote und Einschränkungen derartiger Gruppen im kirchlichen Recht. Diese Vielfalt bezeugt aber gerade deshalb die bedenkenswerte Tatsache, daß das Christentum von Anfang an eine gruppenfreundliche, d. h. die Gruppenbildung stimulierende Religion gewesen ist, eine Religion, die immer „mehr genossenschaftsfördernd als genossenschaftshemmend" wirkte 87 . Im Hinblick auf die bekanntermaßen sehr rigide Einstellung des römischen Staates gegenüber den Vereinigungen, gegenüber Coniurationes und Kollegien 88 , könnte man sagen, daß der Gegensatz zwischen den kirchenrechtlichen Einschränkungen des freien Vereinigungswesens und der faktischen Vielzahl solcher Vereinigungen zugleich die polare Spannung zwischen einem antiken, von der Kirche übernommenen, und einem genuin christlichen Erbe in der mittelalterlichen Gesellschaft darstellt. Was von alledem bestimmt aber nun das moderne Bild vom Mittelalter und die historische Forschung im ganzen? Daß die Stadt als Stadtkommune eine spezifische Hervorbringung des Mittelalters ist, ist natürlich unbestritten. Als allgemein akzeptiert gelten darf wohl auch, daß das spezifische Profil der okzidentalen Stadt des Mittelalters nicht nur auf ihrem genossenschaftlichen Charakter im ganzen, auf der genossenschaftlichen Struktur der Bürgergemeinde beruht, sondern ebenso auf der Vielzahl genossenschaftlicher Einungen innerhalb der Städte, in Gilden, Zünften, Bruderschaften und Sondergemeinden 89 . Erst im Zusammenspiel beider Ebenen des Genossenschaftlichen wird das spezifische Moment erkennbar, das die Stadt des Mittelalters von der antiken und ebenso vom Städtewesen anderer Kulturen unterscheidet 84
SCHMID (wie A n m .
39). Vgl. auch KARL
SCHMID, M ö n c h t u m
und Verbrüderung,
in:
RAYMUND
KOTTJE —HELMUT MAURER (Hgg.), Monastische Reformen im 9. und 10. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen 38) Sigmaringen 1989, S. 1 1 7 — 146. 85
GILLES GERARD MEERSSEMAN, O r d o fraternitatis. Confraternite e pietà dei laici nel Medioevo, 3
86
LUDWIG REMLING, Bruderschaften in Franken. Kirchen- und sozialgeschichtliche Untersuchungen
Bde. (Italia Sacra 24 - 26) Roma 1977. zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bruderschaftswesen (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 35) Würzburg 1986. 87
BERNHARD KÖTTING, in: A r t . 'Genossenschaft', in: Reallexikon für Antike und Christentum 10,
88
FRANK M. AUSBÜTTEL, Untersuchungen zu den Vereinen im Westen des Römischen Reiches (Frank-
1978, Sp. 151. furter Althistorische Studien 11) Kallmünz 1982; OEXLE, Conjuratio und Gilde (wie Anm. 74) S. 195 ff. 89
G E R H A R D D I L C H E R , D i e g e n o s s e n s c h a f t l i c h e S t r u k t u r v o n G i l d e n u n d Z ü n f t e n , in: SCHWINEKÖPER
(Hg.), Gilden und Zünfte (wie A n m . 74) S. 7 1 - 1 1 1 , bes. S. 108 ff.
Das Bild der Moderne v o m Mittelalter und die moderne Mittelalterforschung
19
und das ihre geschichtlichen Wirkungen bedingt hat 90 . Daß auch die europäische Universität im Gegensatz zu anderen Institutionen der höheren Bildung und Ausbildung, zum Beispiel den Hochschulen der Antike, den mittelalterlichen Kathedralschulen, den islamischen Moscheeschulen, als Schwureinung entstand und daß sie bis heute ihre wesentlichen Strukturelemente, nämlich Satzungsautonomie und Kooptationsrecht, eben dieser Genese verdankt und daß schließlich darin auch die Bedingungen der universalen Ausbreitung dieser Institution, ihres weltgeschichtlichen Erfolgs, zu suchen sind 91 , — auch dies wird nicht als zweifelhaft gelten. Um so merkwürdiger erscheint dann aber die in der sozialgeschichtlichen Erforschung der Moderne oft zugrundegelegte These vom scharfen Gegensatz zwischen „alter" und „moderner" Welt in der Unterscheidung von mittelalterlicher Korporation und moderner Assoziation. Die moderne Assoziation, das moderne Vereinswesen, wird dabei zu einem Novum erklärt, das für die Entstehung der Moderne typisch und konstitutiv zugleich sei. Es stehe in schärfstem Gegensatz zur „alten Welt" der Vormoderne, insbesondere des Mittelalters, die „herrschaftlich" und „korporativ organisiert" gewesen sei und in der das „Assoziationsprinzip", die „freie Initiative der Glieder, keine oder kaum eine Rolle" gespielt habe, weil der Einzelne in Haus, Korporation, Nachbarschaft, Kirchengemeinde lebte, kurzum in einer Welt, die von Tradition bestimmt war und in der für die Verbindung zu frei gesetzten Zwecken kein Raum gewesen sei 92 . Dieselben Deutungsschemata treten zutage, wenn man neue begriffsgeschichtliche Untersuchungen über die Begriffe 'Gleichheit' und 'Brüderlichkeit' heranzieht. Auch wenn natürlich eingeräumt wird, daß Gleichheitsvorstellungen in der mittelalterlichen Gesellschaft „nicht unbekannt" waren, daß der Gedanke einer naturrechtlich oder spirituell oder eschatologisch begründeten Gleichheit aller Menschen im Mittelalter „nicht vergessen" war, so wird doch als wesentliches Kennzeichen der mittelalterlichen Gesellschaft die „strukturelle Ungleichheit", die „ständisch geprägte Ungleichheit" herausgestellt, und zwar in der Realität der mittelalterlichen Ständegesellschaft ebensowohl wie in der Reflexion über den hierarchischen Aufbau dieser Gesellschaft 93 . Die gruppenspezifischen Formen von Gleichheit werden in ihren wirklichen Dimensionen nicht wahrgenommen, passen sie doch nicht in das Bild von der mittelalterlichen Ständegesellschaft als einem
90
Darüber bes. MAX WEBER, Die Stadt. Eine soziologische Untersuchung, in: Archiv für Sozialwissen-
91
V g l . OEXLE ( w i e A n m . 8 2 ) S. 3 0 ff.
92
THOMAS NIPPERDEY, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19.
schaft und Sozialpolitik 47, 1920/21, S. 6 2 1 - 7 7 2 .
Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I, in: DERS., Gesellschaft, Kultur, Theorie (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 18) Göttingen 1976, S. 174 — 205, hier S. 177, 179. Zur Kritik an dieser These OTTO GERHARD OEXLE, Die mittelalterliche Zunft als Forschungsproblem. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Moderne, in: Blätter f ü r deutsche Landesgeschichte 1 1 8 , 1982, S. 1—44, hier S. 40 ff., und DERS., Otto von Gierkes 'Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft'. Ein Versuch wissenschaftsgeschichtlicher Rekapitulation, in: NOTKER HAMMERSTEIN (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 1 9 3 - 2 1 7 , hier S. 2 1 5 ff. 93
OTTO DANN, Gleichheit und Gleichberechtigung. Das Gleichheitspostulat in der alteuropäischen Tradition und in Deutschland bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert (Historische Forschungen 16) Berlin 1980, die Zitate ebd. S. 65, 67 und 61.
20
Otto Gerhard Oexle
Gegenbild zur Moderne 94 . Keineswegs aber sollen nun die Unterschiede zwischen Mittelalter und Moderne geleugnet werden. Deshalb tut man gut daran, die den Einungen des Mittelalters zugrundeliegende Idee von 'Gleichheit' als 'Parität' zu bezeichnen, um sie von der modernen Gleichheit als 'Egalität' zu unterscheiden 95 . Gleichwohl aber bleibt die Frage, wie sich das eine zum anderen historisch verhält, wie dieses mit jenem verknüpft ist. Und dieser Zusammenhang wird gerade dann unabweislich, wenn man mit der neueren Forschung die konstitutive Bedeutung der seit dem 18. Jahrhundert sich verbreitenden Vereine und Assoziationen mit ihrem „Prinzip vereinsinterner Gleichheit" für die Durchsetzung der Idee einer allgemeinen 'Gleichheit' als „Prinzip einer Gesellschaftsbildung neuer Art" anerkennt 96 . Man könnte an dieser Stelle auch eine gleichartige Kritik zur Begriffsgeschichte von 'Brüderlichkeit' ausführlicher vortragen. Hier gilt ja die These, daß der im Christentum „als Gesinnungsbegriff entstandene Bruderbegriff sich zunächst nicht als solcher entfaltete, sondern ... gleichsam institutionell" geronnen sei 97 . In Mönchskonventen, Gebetsverbrüderungen und Bruderschaften des Mittelalters sei, so wird gesagt, der Bruderbegriff und der Begriff der Brüderlichkeit einer „institutionellen Einbindung" erlegen — im Gegensatz zum „modernen Begriff der Brüderlichkeit" als einem „politischen, sozialen oder religiösen Gesinnungsbegriff', der mit seiner „Spitze gegen jede Art von Herrschaft oder Recht" das „Ergebnis einer modernen Entwicklung" sei und nichts als dieses 98 . Wer jedoch die Bedeutung des Begriffs der 'fraternitas' in der mittelalterlichen Gesellschaft und wer die Vielheit mittelalterlicher 'fraternitates' kennt, kann diese Deutung der Geschichte des Begriffs der Brüderlichkeit nicht plausibel finden. Er wird vielmehr mit der Gegenthese antworten, daß die Verbreitung des modernen Brüderlichkeitsbegriffs als eines universalen Gesinnungsbegriffs seit dem Beginn der Moderne undenkbar ist ohne die in allen Jahrhunderten der Vormoderne anzutreffende gruppengebundene Brüderlichkeit als Lebensnorm für Gesinnung, Verhalten und soziales Handeln und daß das eine im anderen wohl unbestreitbar seine geschichtliche Voraussetzung hat. Damit stellt sich abermals die Frage, wie es am Beginn der Moderne zu dieser Umwandlung eines wesentlich gruppenbezogenen Gesinnungsbegriffs zu einem universalen, für die gesamte Gesellschaft propagierten Begriff gekommen ist 99 . Alle diese Phänomene des Übertritts gruppengebundener und gruppenspezifischer Normen ins Universelle, der Universalisierung von Wertvorstellungen partikularer Gruppen, verweisen einerseits auf die Gruppenkultur des vormodernen
94
Bemerkenswert ist, daß die beiden v o n GÜNTER BIRTSCH herausgegebenen Bände über 'Grundund Freiheitsrechte im Wandel v o n Gesellschaft und Geschichte' (Göttingen 1 9 8 1 ) und über 'Grundund Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft' (Göttingen 1987) — abgesehen v o n einem Beitrag über den 'Schutz der Persönlichkeit in mittelalterlichen Rechten' — das Mittelalter völlig außerhalb der Betrachtung lassen.
95
DILCHER ( w i e A n m . 8 9 ) S. 7 4 .
96
DANN ( w i e A n m . 9 3 ) S.
97
WOLFGANG SCHIEDER, Art. 'Brüderlichkeit', in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 5) 1, 1972,
98
Ebd. S. 552.
99
S. oben S. 14 f.
S. 5 5 2 - 5 8 1 , hier S. 554.
103.
Das Bild der Moderne v o m Mittelalter und die moderne Mittelalterforschung
21
Europa. Sie deuten zum andern zugleich aber auch auf bestimmte Vorgänge des Übergangs zur Moderne selbst, vor allem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Denn zu diesen Vorgängen gehört nicht nur die bereits erwähnte Ablösung des StändeBegriffs als eines Leitbegriffs der politisch-sozialen Kultur 100 , dazu gehört auch ein anderes, im ganzen noch wenig untersuchtes Phänomen, das in den hier erörterten Vorgängen maßgebende Wirkungen gehabt haben dürfte 101 . Es sind dies die Auseinandersetzungen über die ökonomische und soziale Rolle und die Legitimität 'partikularer' Gruppen in Staat und Gesellschaft, es sind die damit verbundenen Versuche, diese Gruppen im Zuge der sog. 'Dekorporierung' aufzulösen. Der Verlauf und die Dimensionen dieses Prozesses sind noch wenig erforscht, vor allem nicht die Verflechtung der verschiedenen Ebenen der politisch-sozialen Theoriebildung bei J. J. Rousseau, der ökonomisch-praktischen Erwägungen bei den Physiokraten und Adam Smith, des pragmatischen Vorgehens (z. B. gegen die Zünfte) 102 , — bis hin zu der in der Revolution vollendeten Auflösung der Zünfte und anderer Vereinigungen und ihrer Begründung mit den Menschenrechten. Eben daraus aber entfaltete sich zugleich der Widerstand, eben daraus erstand die moderne Forderung nach 'Koalitionsfreiheit', deren Geltendmachung und Durchsetzung wiederum die folgenden Jahrzehnte mit bestimmten, so daß die Elemente der modernen Gruppenkultur jenen der älteren, vormodernen nicht in scharfer Unterscheidung gegenüberstehen 103 , sondern daß beide in vielfaltigen Verschränkungen und Verflechtungen in Erscheinung treten 104 . Ein Element in diesem Prozeß dürfte auch die Universalisierung der älteren partikularen Gruppennormen gewesen sein. Nur auf Grund solcher Verschränkungen ist die Tatsache verständlich, daß wesentliche Elemente der vormodernen und mittelalterlichen Einungen wie z. B. das Prinzip der Freiwilligkeit, die soziale Egalisierung, die Ausbildung autonomer Verfahrensregelungen (Funktionsdifferenzierung, Kooptation) in den modernen Vereinen und Assoziationen wieder in Erscheinung treten 105 . Und nur so ist verständlich, warum gerade wesentliche Erscheinungsformen der alteuropäischen Gruppenkultur im 19. Jahrhundert eine ganz neue Bedeutung erlangten, nämlich in der politisch-sozialen Reflexion über die Ordnung der Gesellschaft und in den seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sich daran anschließenden Wissenschaften: in 100
S. oben A n m . 29.
101
Dazu OEXLE, Die mittelalterliche Zunft (wie A n m . 92) S. 1 7 ff. und 22 ff.; ANTONY BLACK, Guilds and Civil Society in European Political Thought f r o m the Twelfth Century to the Present, Ithaca — New York 1984, S. 153 ff., 167 ff. u. ö.
102
Zur gleichen Zeit erfolgte die Auseinandersetzung über die 'communaux', die in den 1760er Jahren ebenfalls mit politischen, juristischen und ökonomischen Argumenten geführt wurde und seit 1767 in gesetzgeberische und administrative Einschränkungen einmündete. Auch die 'communaux' wurden bekämpft, weil sie angeblich der 'natürlichen Freiheit' entgegenstanden und die Produktivität behinderten. Dazu MARC BLOCH, La lutte pour l'individualisme agraire dans la France du XVIII* siècle, in: Annales d'histoire économique et sociale 2, 1930, S. 329—381 und 5 1 1 — 556.
103
So die These von Th. Nipperdey (s. oben A n m . 92) und anderen, vgl. OEXLE (wie Anm. 92).
104
Dazu WILLIAM H. SEWELL, W o r k and revolution in France. The language of labor f r o m the old regime to 1848, Cambridge u. a. 1980, und, in anderen Hinsichten, HANS-PETER SCHNEIDER, Der Bürger zwischen Stadt und Staat im 19. Jahrhundert, in: Res publica. Bürgerschaft in Stadt und Staat (Beiheft zu 'Der Staat' 8) Berlin 1988, S. 1 4 3 - 1 6 0 .
105
Vgl. OEXLE, Die mittelalterliche Zunft (wie A n m . 92) S. 43 f.
22
Otto Gerhard Oexle
der Staats-, Rechts- und Sozialphilosophie bei Hegel, Tocqueville und Friedrich Julius Stahl 106 , in der Verknüpfung von Gewerkschaftsbewegung und Gildewesen bei Lujo Brentano (1871/72), in den historischen, zugleich aber auch politischsozialen und auf die Gegenwart bezogenen Darlegungen von Otto Gierke über 'Assoziation', 'Korporation' und 'freie Einung' 107 , in dem Nachdenken über 'Gemeinschaft' und 'Korporation' bei F. Tönnies und E. Dürkheim 108 , in Georg Simmeis großem Thema des Verhältnisses von Individuum, Gruppe und Gesellschaft und der Formen der Vergesellschaftung 109 , in Dürkheims späten und wissenschaftsgeschichtlich so überaus folgenreichen Arbeiten über Gruppen und die ihnen eigentümlichen Mentalitäten 110 , in Max Webers Forschungen über das Haus und die monastische Kommunität, über die Stadt, über Verbrüderung und Schwureinung, über den Gegensatz von 'Anstalt' und 'Verein' 111 . Mit diesem Ausblick schließt sich der Kreis unserer Überlegungen. Dem allen kann man entnehmen, daß das Verhältnis von Moderne und Vormoderne, von Moderne und Mittelalter sehr viel komplexer und das heißt auch: sehr viel interessanter ist, als es das von bestimmten Bewußtseinslagen der Moderne so stark geprägte und diese immer wieder aufs neue fixierende Bild vom Mittelalter zuläßt. Man kann aus alledem auch erkennen, daß die Historiker bei der Verwirklichung ihres verständlichen Wunsches und ihrer ernsten Absicht, zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen", immer begrenzt sind von vorgegebenen Denkformen und Auffassungen, die sich ihrerseits als geschichtlich geworden und geschichtlich vermittelt erweisen. Niemand kann sich davon ausnehmen. Die Erfahrung solcher Grenzen lädt indessen auch immer wieder dazu ein, sie zu überschreiten und dadurch neue Spielräume für die Erkenntnis zu gewinnen. Und wenn die Geschichtswissenschaft, wie jede Wissenschaft, von geschichtlichen Bedingtheiten dieser Art schließlich niemals wird frei sein können, so erweist sich auch dies im ganzen gewiß nicht als Mangel, sondern als ein Vorzug, nämlich als die Bedingung dafür, daß die Wissenschaft nicht auf sich selbst beschränkt bleibt, sondern Teil hat an der Geschichte und am Leben. Und nur so hat sie etwas zu sagen, wenn sie spricht.
106
Darüber BLACK (wie Anm. 101) S. 187 ff., 202 ff.; OEXLE, Die mittelalterliche Zunft (wie A n m . 92)
107
OEXLE, Die mittelalterliche Zunft (wie A n m . 92) S. 25 ff.; DERS., Gierke (wie A n m . 92).
S. 20 ff. 108
S. oben A n m . 12 und A n m . 13.
109
D a z u DAHME (wie A n m .
110
Dieses Thema erscheint v o r allem in Dürkheims letztem Werk: EMILE DÜRKHEIM, Les formes
1 2 ) S. 2 3 8 ff.
élémentaires de la vie religieuse (1912), Paris
6 1979.
Zu den Folgen dieses Interesses in der
Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts: SABINE JOCKEL, „Histoire nouvelle" und Literaturwissenschaft, 2 Bde., Rheinfelden 2 1 9 8 5 . 1,1
Die Darlegungen Max Webers über Formen der Gruppenbildung und ihre historischen Realisierungen bedürfen einer neuen Untersuchung, auch im vergleichenden Blick auf G. Simmel, F. Tönnies und E. Dürkheim. Darüber ist eine Arbeit in Vorbereitung.
HAGEN KELLER
Vom Hof Karls des Großen zur "höfischen' Welt des Rittertums Ein Blick auf das Werk von Josef Fleckenstein aus Anlaß seines 70. Geburtstags* Seit dreieinhalb Jahrzehnten bereichern und befruchten Arbeiten von Josef Fleckenstein die historische Wissenschaft 1 . Der Mittelalterforschung hat er wichtige Bereiche neu oder doch erst voll erschlossen; unser Fach verdankt ihm grundlegende Untersuchungen und bleibende Standardwerke, wofür die zweibändige Monographie über die Hofkapelle der deutschen Könige stehen mag; es verdankt ihm aber nicht minder weitreichende Perspektiven und weiterführende Anregungen, wofür als Beispiel die Forschungen über das Rittertum angeführt seien, die für den langjährigen Direktor während seines Wirkens am Max-Planck-Institut für Geschichte im Vordergrund des eigenen wissenschaftlichen Interesses standen — man muß, da vom bereits Vorgelegten vieles auf noch weiterzielende Pläne und noch tieferdringendes Fragen verweist, wohl sagen: die Arbeit an der Geschichte des Rittertums als einer Grundform der Lebensordnung und des Weltverständnisses im hohen und späten Mittelalter. Diesem wissenschaftlichen Anliegen entsprangen Fragen, die hier am Ort Vertreter aller mediävistischen Disziplinen zu fruchtbarer Diskussion zusammenführten: Die letzten Kolloquien über das ritterliche Turnier im Mittelalter 2 und über die Curialitas als Leitbild ritterlichen Verhaltens und ritterlicher Existenz 3 sind vielen Anwesenden noch gegenwärtig als Ereignisse von hohem wissenschaftlichem Rang. Gut sieben Lustren überspannt das bisherige Werk Josef Fleckensteins, und das Veröffentlichte strukturiert mit bereits deutlichen Konturen mindestens schon ein nächstes Schaffensjahrfünft vor. Wer sich auf den Versuch einläßt, zur Feier des 70. Geburtstags die Arbeit eines so vielseitigen und produktiven Gelehrten
* Vortrag, gehalten am 18. Februar 1989 im Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen. Für die Veröffentlichung wurden die unmittelbare persönliche Anrede an den, der an diesem Tage seinen 70. Geburtstag beging, und die Ansprache der anwesenden Gäste in der Regel durch Passagen in objektiver Rede ersetzt. 1
Vgl. das Schriftenverzeichnis in: JOSEF FLECKENSTEIN, Ordnungen und formende K r ä f t e des Mittelalters. Ausgewählte Beiträge, Göttingen 1989, S. 574—587; ein Verzeichnis der Veröffentlichungen bis 1983 auch in: Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift f ü r Josef F l e c k e n s t e i n , h g . v o n L U T Z F E N S K E — W E R N E R RÖSENER — T H O M A S Z O T Z , S i g m a r i n g e n 1 9 8 4 , S . 7 4 7 — 752.
2
JOSEF FLECKENSTEIN (Hg.), Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 80) Göttingen 1985 (Nachdruck 1986).
3
JOSEF FLECKENSTEIN (Hg.), Curialitas. Beiträge zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts f ü r Geschichte, in Vorbereitung).
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Hagen Keller
unter einem thematisch eingegrenzten Gesichtspunkt zu würdigen, übernimmt eine Aufgabe, die nur schwer in einer Weise zu lösen ist, welche die Anwesenden, die den zu Ehrenden und seine Veröffentlichungen kennen, zufriedenstellen und zugleich dem Autor all dessen, worüber gesprochen wird, etwas geben kann. Denn je leichter sich ein große Teile des Werkes zusammenführender Gesichtspunkt finden läßt und je besser der benannte Aspekt einem wissenschaftlichen Anliegen des Gelehrten entspricht, desto deutlicher wird, daß zu gerade diesem Thema im Grunde niemand kompetenter reden kann als der Jubilar selbst. Kann ich es dennoch wagen, vor dem Autor so vieler einschlägiger Studien über das Thema „Vom Hof Karls des Großen zur 'höfischen' Welt des Rittertums" zu sprechen? Eine Überlegung hat es mir — neben dem Wunsch, Dank zu artikulieren — erleichtert, inmitten eines Freundeskreises, dessen Zeugenschaft angesprochen ist, zur Feier dieses Tages etwas vom Werk Josef Fleckensteins und von seinem Wirken für die Wissenschaft vom Mittelalter zu vergegenwärtigen. Wie ich aus langer Bekanntschaft weiß, wären es, wenn er selbst auf seinen wissenschaftlichen Weg zurückblickte, nicht die Veröffentlichungen als solche, nicht die jeweils erreichten Ergebnisse, mit denen er in eine Art Zwiegespräch treten wollte und würde. Lebendig bleiben als fordernde, aufmunternde und widersprechende Partner die Fragen, die sich in der Lebensarbeit mit jedem neuen Schritt ergeben, die neu ins Blickfeld rückenden Probleme, deren spezifischer Ort, deren Relevanz sich zwar präzisiert mit den in neuen Untersuchungen hinzugewonnenen Wissensräumen und mit dem in der zusammenfassenden Einordnung sich weitenden Horizont, die aber zugleich in komplexere Zusammenhänge hinausführen und einen neuen Kreis des Fragens eröffnen. Einem menschlichen Hang zum Verweilen wirkt dies entgegen und öffnet die bisherige Lebensarbeit in neue Projekte. Nicht zuletzt durch die Feiern, die ein runder Geburtstag mit sich bringt, ist dabei eine Lebensetappe wie die heute erreichte — mag man Zahlen und Jahrestage auch als etwas Äußerliches betrachten — wohl stets ein Moment der Selbstvergewisserung, der Besinnung zwischen Rückblick und Vorausschau, eines stillen Gesprächs mit sich selbst inmitten aller Festlichkeit. Die Hoffnung, daß meine Überlegungen etwas beitragen können zu diesem inneren Diskurs, verehrter und lieber Herr Fleckenstein, sogar da, wo ich vielleicht etwas Wesentliches nicht richtig verstanden habe, diese Hoffnung, dieser Wunsch gibt mir den Mut, vor Menschen, die Ihre Arbeit ebensogut kennen wie ich, über Ihr wissenschaftliches Werk und ein von ihm vorgezeichnetes Thema zu sprechen. In seinem Werk kommt Josef Fleckenstein einem Festredner, der nach einem roten Faden, nach einem übergreifenden Gesichtspunkt sucht, weit entgegen. Nicht alle Arbeiten lassen sich unter dem gewählten Thema ansprechen, auch ganz Gewichtiges bleibt unberührt, wofür ich um Verständnis bitte. Die Stichworte zu meinem Thema aber hat Josef Fleckenstein selbst gegeben; sie führen ins Zentrum seiner Forschertätigkeit, und sie verbinden den Erstling der Dissertation von 1952 4 mit den neuesten und mit noch geplanten Arbeiten in einer Weise, die einen
4
Die Bildungsreform Karls des Großen als Verwirklichung der norma rectitudinis, Bigge/Ruhr 1953 ( = Diss. phil. Freiburg 1952 [Masch.]).
Vom Hof Karls des Großen zur 'höfischen' ^Pelt des Rittertums
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wesentlichen Teil des bisherigen Lebenswerks als immer neue Bereiche erfassendes, aber kohärentes Fortschreiten wissenschaftlichen Fragens erscheinen läßt. Das zweibändige Werk über die Hofkapelle der deutschen Könige 5 , dessen erster, der Karolingerzeit gewidmeter Band 1958 Grundlage der Habilitation an der Universität Freiburg war, habe ich bereits erwähnt, ebenso das der „Curialitas" gewidmete Kolloquium, zu dem der Initiator selbst einen Vortrag über den Hof als Zentrum der ritterlich-höfischen Lebensformen beigesteuert hat — einen Vortrag, der mir in bester Erinnerung geblieben ist. „Karl der Große und sein H o f lautet der Beitrag zum monumentalen Karlswerk von 1965, der, wenn ich recht sehe, in der Zeit des Frankfurter Ordinariats entstand, und so ließen sich weitere Titel mit dem einschlägigen Stichwort nennen, welche die wissenschaftliche Karriere des heutigen Jubilars begleiteten: von Freiburg nach Frankfurt, wieder nach Freiburg auf den Lehrstuhl unseres gemeinsamen Lehrers Gerd Teilenbach und von dort schließlich nach Göttingen an dieses Institut. Viele der Anwesenden wissen natürlich, daß der Hof in jeweils zeitspezifischer Gestalt, Funktion und Bedeutung auch in Arbeiten, die dies im Titel direkt nicht ausweisen, angesprochen ist, ja das eigentliche Thema darstellt. Ziehen wir sie heran und berücksichtigen den in ihrem Titel signalisierten Kontext, tritt der innere Zusammenhang erst hervor, dem mein Vortrag gilt. Der „ H o f in den jeweils zeitspezifischen Erscheinungsformen ist für Josef Fleckenstein unter wechselnden Aspekten immer wieder Gegenstand tiefdringender Untersuchung und grundsätzlichen Nachdenkens gewesen und ist dies auch heute noch in unverminderter Intensität. Doch als Historiker hat Josef Fleckenstein nicht etwa versucht, das Thema Hof sozusagen monographisch vom frühen bis zum späten Mittelalter aufzuarbeiten. Ein solcher Ansatz hätte bei dem ungünstigen Verhältnis zwischen der Weite und Grundsätzlichkeit der Problemstellung und dem lückenhaften Stand der Vorstudien bzw. der ungeheuren Zersplitterung einschlägiger Untersuchungen leicht zu einer Verengung des Fragens und einer der Vielfalt geschichtlichen Lebens nicht mehr angemessenen Schematisierung des Fragerasters führen können. Vermutlich ist der Hof als historische Erscheinung zu komplex, zu vielfaltig mit anderen Bereichen menschlicher Lebensgestaltung — gesellschaftlichen, institutionellen und ideellen — in ihrer jeweiligen Zeitbedingtheit verflochten, als daß eine solche längsschnitthafte Erfassung des Phänomens überhaupt in befriedigender Weise zu leisten wäre — es sei denn, man nähme die sich wandelnde Erscheinungsform des Hofes als Spiegel für gesamtgesellschaftliche Veränderungen, in dem man aber dann nur bestimmte Ansichten sowohl des Hofes wie der Gesellschaft in den Blick bekäme. Wenn ich recht sehe, ist Herr Fleckenstein gar nie in Versuchung gekommen, mit einem derartigen Ansatz das Globalthema des Hofes im Mittelalter anzugehen und, es in Einzelaspekte untergliedernd, abzuhandeln. Er hat sich vielmehr einzelnen Epochen, den Lebenszusammenhängen ganz bestimmter Zeiten, zugewandt, um auf einem konkreten, begrenzten Untersuchungsfeld ein Zeitalter in einem für dieses wesentlichen Aspekt zu erfassen: die Bildungsreform im Bezug auf das Herrschaftsprogramm Karls des Großen, die Struktur des Hofes im Rahmen der karolingischen Reichsorganisation; oder die
5
Die Hofkapelle der deutschen Könige, 2 Bde. (Schriften der MGH 16) Stuttgart 1959/66.
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Hagen Keller
Hofkapelle, deren Entwicklung und Stellung Wesentliches vom Charakter ottonisch-salischer Königsherrschaft, von der Gestalt des ottonischen Reiches und von der Rolle der Hochkirchen in diesem Reich erschließt; oder das Rittertum, zunächst von der Stauferzeit her betrachtet, als eine durch ihre Mehrdeutigkeit besonders aufschlußreiche Kategorie der Ständeordnung und als legitimierende Grundform adliger Existenz in der hochmittelalterlichen Gesellschaft. Solcher Art, d. h. zunächst epochenbezogen und auf einen Lebenszusammenhang orientiert, sind die Zugänge, die Josef Fleckenstein gewählt hat, und daß hierin ein Grundanliegen des Historikers zum Ausdruck kommt, wird durch ein Zweites unterstrichen: Mit dem biographisch orientierten Bändchen über Karl den Großen 6 , mit der Darstellung der Ottonenzeit im Gebhardt 7 , mit dem Band „Grundlagen und Beginn der deutschen Geschichte" 8 und mit anderen, kürzeren Zusammenfassungen und Wertungen 9 hat er immer wieder auch die Gesamtdarstellung einer Epoche in Angriff genommen, von der er wichtige Aspekte als Forscher ins Licht gerückt hatte. Wer den Gelehrten kennt, weiß, daß dies für ihn nie 'Nebentätigkeit' war, sondern Ausdruck eines tiefen Bedürfnisses, dem er mit Freude nachgegeben hat. Das opus maximum, die Geschichte des Rittertums, ist noch nicht vollendet, aber auf dem Weg zu ihm, in der Arbeit an ihm hat Josef Fleckenstein immer wieder perspektivische Resümees vorgelegt, die verdeutlichen, daß auch hier die Erforschung eines Teilphänomens untrennbar mit dem Willen verbunden ist, im Rittertum etwas für das Hochmittelalter Wesentliches, für die europäische Kulturentwicklung Grundlegendes zu erforschen — als Gesamtphänomen, aber stets auf den jeweils zeitspezifischen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext bezogen. Wenn der Hof als etwas erscheint, was grundlegende Arbeiten des Gelehrten thematisch verbindet, so liegt dem also nicht ein früh gefaßter, konsequent verfolgter Plan zugrunde. Vielmehr ergibt sich die Linie erst daraus, daß die Probleme, denen sich Josef Fleckenstein aus forschender Neugier und sicher oft mit dem 6
Karl der G r o ß e (Persönlichkeit und Geschichte 28) Göttingen —Berlin —Frankfurt 1962,
2 1967.
Übersetzung: Karel de Grote. Vertaald uit het Duits door WYBE JAPPE ALBERTS, 's-Gravenhage 1965. 7
Das Reich der Ottonen im 10. Jahrhundert, in: BRUNO GEBHARDT, Handbuch der deutschen G e s c h i c h t e 1 , h g . v o n HERBERT GRUNDMANN, S t u t t g a r t ' 1 9 7 0 , S . 2 1 7 — 2 8 3 ; a u c h a l s : JOSEF FLECKENSTEIN—MARIE
LUISE BULST-THIELE,
Begründung
und
Aufstieg
des
Deutschen
Reiches
GEBHARDT, Handbuch der deutschen Geschichte 3 = dtv-Taschenbuch 4203) München 8
(BRUNO
51980.
Grundlagen und Beginn der deutschen Geschichte (Deutsche Geschichte, hg. von JOACHIM LEUSCHNER, 1) Göttingen 1974, 2 1980. Übersetzung: Early Medieval Germany. Translation f r o m the German by BERNARD S. SMITH (Europe in the Middle Ages 16) Amsterdam—New York —Oxford 1978.
9
Otto der G r o ß e in seinem Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 9, 1975, S. 2 5 3 — 2 6 7 ; Das Großfränkische Reich: Möglichkeiten und Grenzen der Großreichsbildung im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 233, 1 9 8 1 , S. 2 6 5 - 2 9 4 ( = Ordnungen [wie Anm. 1] S. 1 - 2 7 ) ; Das Bild der Staufer in der Geschichte. Bemerkungen über Möglichkeiten und Grenzen nationaler Geschichtsbetrachtung (Göttinger Universitätsreden 72) Göttingen 1984 ( = Ordnungen, S . 4 5 5 — 4 6 8 ) ; K a r l der Große, 768 — 814, in: Kaisergestalten des Mittelalters, hg. v o n HELMUT BEUMANN, München 1984, S. 9 —27; Heinrich der Löwe, Wegbereiter deutscher Zukunft, in: Evangeliar Heinrichs des Löwen. Dokumentation zur autorisierten Faksimileausgabe im Insel-Verlag, Frankfurt a. M. 1985, S. 8 — 17; Die Grundlegung der europäischen Einheit im Mittelalter, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1986, S. 5—27 ( = Ordnungen, S. 127 —145); Über die Anfange der deutschen Geschichte (Gerda Henkel Vorlesung) Opladen 1987 ( = Ordnungen, S. 147 — 167).
Vom Hof Karls des Großen zur 'höfischen' Welt des Rittertums
27
Willen, ein anderes wichtiges Thema in Angriff zu nehmen, zugewandt hat, ihn auch — ich betone das „auch" — wieder zum Phänomen des Hofes zurückgeführt haben. Dieses hat er dann jeweils von einer anderen Seite her, unter neuen Gesichtspunkten betrachtet. So wird man im Werk Josef Fleckensteins jeweils nur Aspekte für eine Geschichte des Hofes und des Höfischen finden, aber sie sind, wie ich meine, allemal wesentlich. „Die Bildungsreform Karls des Großen" lautet das Thema der Dissertation, die 1953 im Druck erschienen ist 10 . Da die Bildungsreform vom Hofe ausging, wurde dieser zum zentralen Punkt des Fragens, zumal sich ein neuer Versuch adäquaten Verständnisses auseinandersetzen mußte mit dem Klischee eines Musenhofes, den man von der sogenannten 'Akademie' her als der Stätte einer sich mit antikisierender Dichtung schmückenden, den Herrscher einbeziehenden Geselligkeit zu charakterisieren suchte. Wie der vollständige Titel „Die Bildungsreform Karls des Großen als Verwirklichung der norma rectitudinis" zeigt, wird der bildungs- und literaturgeschichtliche Aspekt in die dienende Funktion zurückgestellt, die den diesbezüglichen Maßnahmen und Anstößen im Rahmen der Herrschaftsziele Karls des Großen, in der mit aller Strenge übernommenen, religiös begriffenen Verpflichtung des Königsamtes zukamen. Es war Karl der Große, der den Hofkreis in seiner Zusammensetzung formte, der a u c h Gelehrte um sich sammelte, um etwas zu verwirklichen, was er für seine Aufgabe hielt und was nicht mit Blick auf den Hof, sondern auf das Reich ins Werk gesetzt wurde, aus der Verantwortung des Herrschers vor Gott für Volk, Kirche und Regnum Francorum. Die academici waren nicht so etwas wie eine abgehobene Gruppe von Schöngeistern, sondern Mitglieder eines Kreises von Beratern, die dem Herrscher bei der Suche nach der Richtschnur für sein Handeln und bei der normgemäßen Einrichtung von Reich und Kirche helfen sollten. Ihre Rolle wird erst ganz verständlich, wenn man den Hof auch als Institution in seiner Bedeutung für die Reichsorganisation erfaßt. So war es nur konsequent, wenn Josef Fleckenstein in weiteren Studien die Struktur des Karlshofes als Ganzes in den Blick nahm 11 und zugleich nach einem seiner institutionellen Pfeiler, der Hofkapelle, fragte 12 . Daß der Hof vor allem etwas
10
Wie A n m . 4. Vgl. auch: Einhard, seine Gründung und sein Vermächtnis in Seligenstadt, in: Das Einhardkreuz, hg. v o n KARL HAUCK (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Folge 3,87) Göttingen 1974, S. 6 1 — 7 1 ( = Ordnungen [wie Anm. 1] S. 8 4 - 1 1 1 ) ; Über Hrabanus Maurus: Marginalien zum Verhältnis von Gelehrsamkeit und Tradition im 9. Jahrhundert, in: Tradition als historische K r a f t . Karl Hauck zum 2 1 . 1 2 . 1 9 8 1 gewidmet, hg. von NORBERT K A M P JOACHIM WOLLASCH, Berlin—New York 1982, S. 2 0 4 — 2 1 3 ; Hrabanus Maurus. Diener seiner Zeit und Vermittler zwischen den Zeiten, in: Hrabanus Maurus, Lehrer, A b t und Bischof, hg. von RAYMUND KOTTJE — H A R A L D ZIMMERMANN ( A b h a n d l u n g e n d e r A k a d e m i e d e r W i s s e n s c h a f t e n
und
der Literatur Mainz, Einzelveröffentlichung 4) Wiesbaden 1982, S. 1 9 4 — 2 0 8 ( = Ordnungen, S. 112— 126). 11
Karl der G r o ß e und sein Hof, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, hg. von WOLFGANG BRAUNFELS, 1: Persönlichkeit und Geschichte, hg. v o n HELMUT BEUMANN, Düsseldorf 1965, S. 24— 50 ( = Ordnungen [wie A n m . 1] S . 2 8 — 66); vgl. Einhard (wie Anm. 10); Über das Aachener Marienstift als Pfalzkapelle Karls des Großen. Zugleich als Besprechung einer neuen Untersuchung über die Entstehung des Marienstifts, in: Festschrift für Berent Schwineköper zu seinem 70. Geburtstag, h g . v o n HELMUT M A U R E R — H A N S PATZE, S i g m a r i n g e n 1 9 8 2 , S. 1 9 — 2 8 .
12
Wie A n m . 5, Bd. 1.
28
Hagen Keller
Personales war, d. h. im wesentlichen aus der Interaktion von Menschen lebte, die der Herrscher als Helfer und Ratgeber um sich versammelte, war auch vorher nicht übersehen worden. Doch hier werden der Charakter des Personenkreises und das Ziel seines vom Herrscher gelenkten Zusammenwirkens erfaßt als etwas historisch Einmaliges, das zwar von der Persönlichkeit Karls des Großen nicht ablösbar ist, aber doch nur verstanden werden kann in der Orientierung an überpersönlichen Normen und aus dem herrscherlichen Willen, diese zu verwirklichen. Nur dadurch konnte der Karlshof seine epochenüberdauernde, kulturprägende Wirkung entfalten. In einer 1976 erschienenen Studie über die Struktur des Hofes Karls des Großen, die gegenüber dem personalen nun bewußt den institutionellen Aspekt in den Vordergrund stellt, hat Josef Fleckenstein, wiederum auf eine Fernwirkung der karolingischen Gestaltung hinweisend, diesen Hof als „Schöpfung von typenschaffender Kraft" bezeichnet 13 . Obwohl er damals bereits mitten in den Forschungen über das Rittertum stand und es zu seiner Überzeugung gehört, daß gerade im Hinblick auf das Rittertum Leitbilder, auch in ihrer Überhöhung, als Bestandteil des Selbstverständnisses Teil der Wirklichkeit sind, hat er nicht versucht, Verbindungslinien zwischen dem historischen Hof Karls des Großen und dessen Vorbildhaftigkeit in der Karlsepik oder allgemein der Tatsache zu ziehen, daß für die weltliche, meist volkssprachige Dichtung der Königshof Inbegriff und Modell des Hofes und des Höfischen wurde. Karl der Große und seine Paladine, König Artus und seine Tafelrunde, die Königshöfe der Dichter haben in der Verbindung von subtiler Anspielung auf Elemente der Wirklichkeit und gewollter Gegenbildlichkeit zur real erlebten Welt die Königs- und Fürstenhöfe des 12. und 13. Jahrhunderts zum Hintergrund. Doch den fiktionalen Hof der hochmittelalterlichen Dichtung in unmittelbarem Sprung mit dem von Karl dem Großen geprägten Typus zu verbinden, dürfte kaum möglich sein. Der Historiker könnte, wenn er dies denn für ein lohnendes Thema hielte, vielleicht versuchen, Entwicklungslinien oder Vergleiche zu ziehen zwischen dem Karlshof und den Höfen aus der Zeit des Rittertums. Doch, wie schon gesagt, sieht Josef Fleckenstein historische Erscheinungen in ihrer Zeitgebundenheit, ihrem spezifischen Lebenszusammenhang, und wo er — wie vor allem in seinen vortragsartigen Entwürfen zur Geschichte des Rittertums, aber etwa auch im zusammenfassenden Blick auf die „Reichskirche" — Phänomene über einen längeren Zeitraum verfolgt, scheint er mir lieber von „Wandlungen" als von „Entwicklungen" zu sprechen, also einen Begriff zu verwenden, welcher geschichtliche Veränderungen in ihrem zeitbedingten Kontext begreift, gewissermaßen stets von innen und von außen betrachtet, und so jedem Erscheinungsstadium etwas von der Rankeschen „Unmittelbarkeit zu Gott" beläßt. So kann der Autor in seinen Studien zum Karlshof von „höfischem" Leben oder Lebensstil, von „höfischer" Dichtung und Geselligkeit sprechen, ohne daß damit simplifizierende Verbindungslinien zur 'höfischen' Welt des Rittertums suggeriert werden — denn jedem Leser bleibt deutlich, daß es hier um eine zeitspezifische
13
Die Struktur des Hofes Karls des Großen im Spiegel v o n Hinkmars De ordine palatii, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 83, 1976, S. 5—22 ( = Ordnungen [wie A n m . 1] S. 67 — 83).
Vom Hof Karls des Großen zur 'höfischen' Welt des Rittertums
29
Ausprägung des Hofes und um einen nur für den Karlshof geltenden Begriff des „Höfischen" geht. Den Schritt zur Beschäftigung mit der 'höfischen' Welt des hohen Mittelalters hat der Forscher nicht von hier aus getan. Aus den Studien zur Bildungsreform Karls des Großen wuchsen — wenn ich die Arbeiten zur Geschichte des fränkischen Adels hier überspringen darf — zunächst die langjährigen Forschungen über einen Personenkreis heraus, der zum Hof im engsten Sinne gehörte und in dem zugleich das am deutlichsten erkennbare, am besten belegte institutionelle Element des Hofes der Karolinger und ihrer Nachfolger faßbar ist 14 . Die Untersuchungen zur Geschichte der Hofkapelle der deutschen Könige können hier nicht als Ganzes gewürdigt werden. Wie schon der Gegenstand deutlich macht, führen sie jedoch wiederum ins Zentrum des Hofes; der Wandel, der in der Zusammensetzung der Hofkapelle, in Herkunft und Funktion der Kapelläne und in einer neuen institutionellen Verbindung zwischen Hofkapelle und Reichskirchen aufgezeigt wird, ist untrennbar verbunden mit gesteigerten Auffassungen von der Sakralität des Königtums und mit der Ausweitung liturgischer Herrschaftsdarstellung 15 , worin sich abermals eine bestimmte Auffassung vom Königsamt Geltung verschafft. Zugleich verdeutlicht der Wandel neue Formen der Präsenz führender Familien in der unmittelbaren Umgebung des Königs sowie der Gegenwart des Königtums im Reich 16 . Die Ergebnisse aus der Perspektive meiner Forschungen resümierend, möchte ich meinen, daß sich hierin ein Wandel im Verhältnis von Königtum und Reich ankündigt, der über Hofkapelle und Reichskirchen hinausreicht; doch bin ich mir nicht ganz sicher, wie weit ich die Auffassungen eines meiner geistigen Mentoren in eine solche Verallgemeinerung hineinnehmen darf. Daß in dem neuen Verhältnis von Königtum und Reichskirchen eine entscheidende Veränderung für das Reich liegt und daß der Wandel in der Hofkapelle — nicht zuletzt durch die Stellung, welche die ehemaligen, als Reichsbischöfe wirkenden Kapelläne beim 14
Wie A n m . 5.
15
Die Bezugnahme auf die Forschungen von Ernst H. Kantorowicz und Percy Ernst Schramm ist f ü r diese Zusammenhänge aufschlußreich: Ernst Kantorowicz zum Gedächtnis (Frankfurter Universitätsreden 34) Frankfurt 1964, S. 1 1 - 2 7 ( = Ordnungen [wie A n m . 1] S. 5 0 8 - 5 2 1 ) ; Rex canonicus (wie Anm. 16); Rezension: Ernst H. Kantorowicz, Selected Studies, 1965, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 222, 1970, S. 146 — 155; Kleines Plädoyer f ü r ein großes Spätwerk: "The King's t w o Bodies" von Ernst H. Kantorowicz, in: A p r o p o s Artemis. Ein Werkstattbuch aus dem Artemis Verlag. Festschrift für Bruno Mariacher, Z ü r i c h - M ü n c h e n 1982, S. 1 5 9 - 1 6 2 ; A b y Warburg als Kunst- und Kulturhistoriker, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 236, 1984, S. 250 —262.
16
Vgl. auch: Königshof und Bischofsschule unter Otto d. Gr., in: Archiv f ü r Kulturgeschichte 38, 1956, S. 38—62 ( = Ordnungen [wie A n m . 1] S. 168—192); Rex canonicus. Über Entstehung und Bedeutung des mittelalterlichen Königskanonikates, in: Festschrift Percy Ernst Schramm zu seinem 70. Geburtstag, 1, Wiesbaden 1964, S. 5 7 - 7 1 ( = Ordnungen, S. 1 9 3 - 2 1 0 ) ; Heinrich IV. und der deutsche Episkopat in den Anfängen des Investiturstreites. Ein Beitrag zur Problematik von Worms, Tribur und Canossa, in: Adel und Kirche. Gerd Teilenbach zum 65. Geburtstag, hg. von JOSEF FLECKENSTEIN —KARL SCHMID, Freiburg — Basel — Wien 1968, S. 2 2 1 — 2 3 6 ; Bemerkungen zum Verhältnis v o n Königspfalz und Bischofskirche im Herzogtum Schwaben unter den Ottonen, in: Gedächtnisschrift f ü r Martin Wellmer =
Schau-ins-Land 90, 1972, S. 5 1 - 5 9 ; Hofkapelle und
Reichsepiskopat unter Heinrich IV., in: Investiturstreit und Reichsverfassung, hg. von JOSEF FLEKKENSTEIN (Vorträge und Forschungen 17) Sigmaringen 1973, S. 1 1 7 —140 ( = Ordnungen, S . 2 4 3 — 268).
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Hagen Keller
König weiterhin einnehmen — auf den Charakter des Hofes zurückwirkt, hat Josef Fleckenstein jedoch mit aller Deutlichkeit dargelegt 17 . Dabei hat er auch auf die Wirkungen des Hofdienstes und eines Wetteifer und Konkurrenz einschließenden Gruppengeistes im Reichsepiskopat hingewiesen. Er ist aber — wie ich meine: mit gutem Grund — nicht im Detail der Frage nachgegangen, wie in der Ausbildung des geistlichen Fürstentums das Modell des Königshofs eingewirkt hat auf den zu einem herrschaftlichen Zentrum werdenden Bischofshof — die Frage nach der Ausbildung der Fürstenhöfe könnte bei einer Beschränkung auf das geistliche Fürstentum wohl nur zu einseitigen, wichtige Faktoren vernachlässigenden Teilantworten führen. Zur 'höfischen' Welt gelangte Josef Fleckenstein nicht vom Problem des Hofes her, sondern von der Geschichte des Rittertums. Ich bin nicht sicher, welche Rolle bei der Annäherung an diese Thematik das Verhältnis von Ritter und Bürger in den Quellen zur Freiburger Stadtgeschichte gespielt hat, dem die zuerst erschienene Studie zum Problemkomplex galt 18 . Um das Verhältnis von Rittertum und ständischer Ordnung, das als grundsätzliches Problem 1972 in den Mitteilungen der MaxPlanck-Gesellschaft angesprochen wurde 1 9 , gruppieren sich die frühen Studien zum größten Teil: Rittertum und Bürgertum, Ministerialität und Stadt, Abschließung des Ritterstandes, Abgrenzung von Bauer und Ritter, niederer Adel und Rittertum — Sie alle kennen die Stichworte als Titel einschlägiger Publikationen des Jubilars 20 . Das Kolloquium „Herrschaft und Stand", 1975 an diesem Ort abgehalten, zog hier gleichsam eine Zwischenbilanz 21 . Doch schon in der Festschrift für 17
18
Zum Begriff der ottonisch-salischen Reichskirche, in: Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft. Festschrift für Clemens Bauer zum 7 5 . Geburtstag, hg. von E R I C H H A S S I N G E R — J . H E I N Z M Ü L L E R — H U G O O T T , Berlin 1 9 7 4 , S . 6 1 - 7 1 ( = Ordnungen [wie Anm. 1 ] S . 2 1 1 - 2 2 1 ) ; Problematik und Gestalt der ottonisch-salischen Reichskirche, in: Reich und Kirche vor dem Investiturstreit. Vorträge beim wissenschaftlichen Kolloquium aus Anlaß des 8 0 . Geburtstages von Gerd Teilenbach, hg. von K A R L S C H M I D , Sigmaringen 1 9 8 5 , S . 8 3 - 9 8 ( = Ordnungen, S . 2 2 2 - 2 4 3 ) . Bürgertum und Rittertum in der Geschichte des mittelalterlichen Freiburg, in: Freiburg im Mittelalter, hg. von W O L F G A N G M Ü L L E R (Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts 2 9 ) Bühl/Baden 1970, S. 7 7 - 9 5 .
19
20
21
Rittertum und ständische Ordnung, in: Mitteilungen aus der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1972, S. 1 5 7 - 1 7 0 . Die Problematik von Ministerialität und Stadt im Spiegel Freiburger und Straßburger Quellen, in: Stadt und Ministerialität, hg. von E R I C H M A S C H K E — J Ü R G E N SYDOW (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B,76) Stuttgart 1973, S. 1— 15; Zum Problem der Abschließung des Ritterstandes, in: Historische Forschungen für Walter Schlesinger, hg. von H E L M U T B E U M A N N , Köln—Wien 1974, S. 252—271 ( = Ordnungen [wie Anm. 1] S. 357 —376); Zur Frage der Abgrenzung von Bauer und Ritter, in: Wort und Begriff „Bauer", hg. von R E I N H A R D W E N S K U S — H E R B E R T J A N K U H N — K L A U S G R I N D A (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Folge 3,89) Göttingen 1975, S. 2 4 6 - 2 5 3 ( = Ordnungen, S . 3 0 7 314); Die Entstehung des niederen Adels und das Rittertum, in: Herrschaft und Stand (wie Anm. 21) S. 17—39; Ministerialität und Stadtherrschaft. Ein Beitrag zu ihrem Verhältnis am Beispiel von Hildesheim und Braunschweig, in: Festschrift für Helmut Beumann zum 65. Geburtstag, hg. von K U R T - U L R I C H J Ä S C H K E — R E I N H A R D W E N S K U S , Sigmaringen 1977, S. 349—364; Vom Stadtadel im spätmittelalterlichen Deutschland, in: Zeitschrift für siebenbürgische Landeskunde 74, 1980, S. 1 — 13. J O S E F FLECKENSTEIN (Hg.), Herrschaft und Stand. Untersuchungen zur Sozialgeschichte im 1 3 . Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 5 1 ) Göttingen 1 9 7 7 , 2 1 9 7 9 .
Vom Hof Karls des Großen zur 'höfischen' Welt des Rittertums
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den, dessen Fehlen beim heutigen Akt den frischen Verlust schmerzlich in Erinnerung ruft, in der Festschrift für Hermann Heimpel, ist in einem Beitrag zum Rittertum der Hof unter einem neuen Aspekt, als ein Mittelpunkt des gesellschaftlichen bzw. des die Gesellschaft formenden Lebens, wieder angesprochen. Der Titel: „Friedrich Barbarossa und das Rittertum. Zur Bedeutung der großen Mainzer Hoftage von 1184 und 1188"22. Bezeichnenderweise ist es nun nicht mehr der Hof als vom Herrscher im Hinblick auf die Erfüllung seines Amtes versammelter Personenkreis und als Institution der Reichsregierung, dem das Interesse gilt, auch nicht ein innerer Kernbereich des Hofes wie die capella regis. Es geht vielmehr um das Hoffest, in welchem „Rittertum" — Herrscher, Fürsten, Adel und Ministerialität aus Burg und Stadt vereinend — sich selbst darstellen will. Gewiß stehen auch beim Hoffest König, Königin und Königssöhne im Mittelpunkt, ist es auch hier der Herrscher, der die Versammelten gerufen hat — aber was hier zusammenkam, waren nicht ausgesuchte Männer, denen der Kaiser bestimmte Funktionen im Rahmen seiner umfassenden Herrscheraufgabe zugedacht hatte, war auch nicht der weitere Beraterkreis des normalen Hoftages, auf dem die Großen mit dem Herrscher an der Regierung des Reiches teilnahmen. Der Ruf zu kommen war nicht ad personam ausgesprochen, sondern an den weitestmöglichen, wenngleich immer an einen sozial exklusiven Personenkreis, der Akteur und Publikum in einem sein sollte. Es ist die ritterliche Gesellschaft, die sich hier, vom König großzügig geladen, mit der zugehörigen „Ausstattung" präsentierte. Und obschon für die Kronvasallen das Erscheinen auch zu den Lehenspflichten gehörte, denen sie schon im Hinblick auf den gleichzeitigen Hoftag zu folgen hatten, so haben doch gerade sie die Anwesenheit beim Hoffest auch aus eigenem Antrieb gesucht, um sich, andere möglichst übertrumpfend, als Fürsten und Ritter in Szene zu setzen. Spielerische Elemente, welche die Strenge des karolingischen Reformwillens menschlich umkleideten, haben sich hier verselbständigt zum Spiel als Ausweis einer Lebensart, in der sich das Bewußtsein gesellschaftlicher Überlegenheit, ständischen Vorrangs artikuliert. Damit ist ein Thema aufgegriffen, das die Zugänge zum Phänomen des Rittertums erst ganz öffnet, zugleich aber den Hof und das Höfische unter veränderter Perspektive wiederum ins Zentrum des Fragens rückt. „Rittertum und höfische Kultur" — ein programmatischer Aufsatz, 1976 im Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft erschienen 23 , zeigt die 1972 schon angekündigte, inzwischen zu festeren Plänen gereifte Erweiterung der Forschungen zur Geschichte des Rittertums an. Die höfische Kultur ist von Idealen mitgeprägt, ist auf Ideale bezogen, denen man nicht einfach eine Wirklichkeit gegenüberstellen
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Friedrich Barbarossa und das Rittertum. Zur Bedeutung der großen Mainzer Hoftage von 1 1 8 4 und 1 1 8 8 , in: Festschrift f ü r Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag, 2 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36,2) Göttingen 1972, S. 1 0 2 3 — 1 0 4 1 ; vgl. Das Rittertum der Stauferzeit, in: Die Zeit der Staufer. Katalog der Ausstellung 3, Stuttgart 1977, S. 103 —109.
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Rittertum und höfische Kultur. Entstehung, Bedeutung, Nachwirkung, in: Max-Planck-Gesellschaft. Jahrbuch, 1976, S. 40—52; vgl. Über Ritter und Rittertum. Zur Erforschung einer mittelalterlichen Lebensform, in: Mittelalterforschung (Forschung und Information. Schriftenreihe der RIAS-Funkuniversität 29) Berlin 1 9 8 1 , S . 9 - 2 1 .
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Hagen Keller
kann, sondern die man — wenn man Geschichte und geschichtliche Wirkung des Rittertums begreifen will — als Bestandteil der damaligen „Wirklichkeit" verstehen muß. Insofern muß die Frage des Hofes und seiner Wandlungen zugleich auf die Erforschung der Realität und auf das zeitgenössische Bild des Hofes zielen, auf den sozialen Charakter, auf die Lebensformen und auf normsetzende Vorstellungen. Die Frage nach dem Hoffest und seinem Höhepunkt, dem Turnier 24 , ergibt sich hieraus ebenso wie die nach der Geschichte des Begriffs vom Höfischen und der Vorstellungen, die mit ihm im historischen Wandel verbunden wurden. Nach den Notizen, die ich mir während des Curialitas-Kolloquiums gemacht habe, ging es Herrn Fleckenstein in seinem eigenen Vortrag um die Frage, wie das Nebeneinander einer unschriftlich-weltlichen und einer schriftlich-klerikalen Kultur an den Höfen überwunden wurde und wie in der Durchdringung beider Sphären sich ein neuer Stil durchsetzt, eine veränderte Atmosphäre zu spüren ist: die Entfaltung der 'höfisch' zu nennenden Kultur 25 . Hatte der Königshof bislang schon clerki und milites verbindend zusammengeführt, so werden im 12. Jahrhundert auch die Fürstenhöfe, die dem des Königs nachgebildet sind, zu Stätten der Begegnung und Durchdringung der beiden Kulturformen, vermitteln eine Gemeinsamkeit von litterati und solchen, die ihnen nicht zugerechnet werden können, aber — als quasi litterati — doch als interessiertes Publikum für die neuartige Selbstdarstellung und Stilisierung der litterati empfänglich, ja deren eigentliche Adressaten sind und von ihnen Leitbilder übernehmen, die Haltung und Verhalten formen. Der kulturgeschichtliche Vorgang wird damit wiederum auf eine soziale Basis zurückbezogen. Dieser Schritt ist wichtig und zugleich für den wissenschaftlichen Zugriff des Jubilars charakteristisch. Vielleicht muß der Mediävist im Hinblick auf ein adäquates Verständnis seiner Quellen die Einheit von Geistes- und Sozialgeschichte mehr als andere Historiker suchen, im Hinblick auf die Fremdartigkeit der Lebens- und Denkformen die unlösbare Verbindung von Mentalitätswandel und Verhaltenswandel besonders nachdrücklich betonen — der zitierte Vortrag geht wie manch andere Studie Josef Fleckensteins diese Aufgabe in exemplarischer Weise an. Und dennoch: Josef Fleckenstein ist weit davon entfernt, die Anfänge des Rittertums und die Ausformung 'höfischen' Lebens ursächlich zu verbinden. Das Rittertum als soziales Phänomen setzt einen Wandel des Kriegertums und seiner Leitbilder voraus, der längst vor dem höfischen Zeitalter begonnen und an dessen Schwelle wichtige Stufen der Veränderung bereits durchlaufen hatte 26 . Eine Wandlung von Adel und Kriegertum im Karolingerreich unter dem Einfluß des Lehnswe-
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Das Turnier als höfisches Fest im hochmittelalterlichen Deutschland, in: Das ritterliche Turnier (wie Anm.2) S. 2 2 9 - 2 5 6 ( = Ordnungen [wie Anm. 1] S. 3 9 3 - 4 2 0 ) . Miles und clericus am Königs- und Fürstenhof. Zum Problem der höfisch-ritterlichen Bildung, in: Curialitas (wie Anm. 3). Adel und Kriegertum und ihre Wandlung im Karolingerreich, in: Nascita dell'Europa ed Europa carolingia: un'equazione da verificare, 1979, 1 (Settimane di studio del Centro italiano di studi sull'alto medioevo 27.1) Spoleto 1981, S. 6 7 - 1 0 0 ( = Ordnungen [wie Anm. 1] S. 2 8 7 - 3 0 6 ) ; vgl. Zum Problem der agrarii milites bei Widukind von Corvey, in: Beiträge zur niedersächsischen Landesgeschichte. Z u m 65. G e b u r t s t a g v o n Hans Patze, hg. v o n DIETER BROSIUS —MARTIN LAST
(Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Sonderband) Hildesheim 1984, S. 2 6 - 4 1 ( = Ordnungen, S. 3 1 5 - 3 3 2 ) .
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sens und einer als vasallitischer Herrschaftsdienst verstandenen militia führt bereits auf die gesellschaftliche Differenzierung hin, die der späteren Abgrenzung von Ritter und Bauer zugrunde liegt 27 — dies kann hier nicht weiter verfolgt werden, obwohl Josef Fleckenstein dieser Entwicklung grundlegende Beiträge gewidmet hat. Für die Entstehung des Rittertums wird entscheidend, daß dieser bereits erkennbare Prozeß im 11. Jahrhundert durch einen allgemeinen Strukturwandel der Herrschaft in ganz Europa eine gesteigerte gesellschaftliche Wirkung entfaltet. Wie Josef Fleckenstein jüngst in seinem Beitrag zur Festschrift für Karl Schmid hervorgehoben hat, leitet, sozial- bzw. ständegeschichtlich gesehen, für den miles „der Einzug in die Burg gleichsam den Übergang vom Krieger- zum Rittertum ein" — die Burg als der Ort, an dem sich für Vasallen und Ministerialen Dienst und Herrschaft verbinden, die aber für den gesellschaftlich herausgehobenen Reiterkrieger „als Wirkungsstätte zugleich die Heimstatt und das Zentrum seiner eigenen Welt" wird 28 . Wie die fürstliche Burg sich wandelt zum Hof, der im Rittertum auch den Herrn mit seinen Vasallen und Ministerialen vereint, dies ist eine Leitfrage in dem erwähnten Beitrag zum Kolloquium über die Curialitas. Sie liegt aber auch der von Josef Fleckenstein wiederholt gestellten und erörterten Frage nach Herkunft und Charakter eines ritterlichen Ethos zugrunde 29 , ohne das „Rittertum" nicht zu verstehen und nicht zu definieren ist und das die Voraussetzung dafür war, daß sich auch Könige und Fürsten dem Rittertum zuordneten und sich in seinen Idealen selbst ein Stück weit neu begreifen konnten. Dadurch aber bleibt der Königshof, dazu der mit ihm wetteifernde Fürstenhof, ein normgebendes Modell für das Rittertum, das als 'höfisch' gelten, sich nach dem Leitbild des 'Höfischen' verhalten will — am deutlichsten dort, wo es sich im Fest gewissermaßen selbst inszeniert. Was die Beiträge verbindet, durch die Josef Fleckenstein die Geschichte des Hofes, der Höfe im Mittelalter beleuchtet hat, ist nicht ein thematisches Kontinuum, sondern die Art und Weise, wie der Hof in seiner jeweiligen geschichtlichen Erscheinung begriffen wird: als soziales und kulturelles Phänomen, das auf einer institutionellen Basis aufruht, aber seine größte historische Wirkung nicht als Institution entfaltet. Der „ H o f , das ist vor allem eine Gruppe, die nur am Hof als solche ganz und in der ihr eigenen Struktur in Erscheinung tritt, die zugleich aber in ihren einzelnen Mitgliedern die Gesamtgesellschaft durchdringt, auf mehreren Ebenen mit dieser verbunden ist und in vielerlei Weise auf sie einwirkt. Phänomene, die für die Beurteilung sei es Karls des Großen, sei es des ottonischen Reiches, sei es der Welt des Rittertums wesentlich sind, lassen sich nur von diesem 27
Zur Frage der Abgrenzung (wie Anm. 20); vgl. Ritterstand, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte,
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hg.
von
ADALBERT
ERLER —EKKEHARD
KAUFMANN,
Lfg. 29,
Berlin
1988,
Sp. 1 0 8 8 - 1 0 9 2 . Über den engeren und den weiteren Begriff von Ritter und Rittertum {miles und militia), in: Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Karl Schmid zum 65. Geburtstag, hg. von GERD ALTHOFF — DIETER GEUENICH — O T T O G E R H A R D O E X L E — J O A C H I M W O L L A S C H , S i g m a r i n g e n 1 9 8 8 , S. 3 7 9 — 3 9 2 .
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Dazu — neben allen grundsätzlichen Ausführungen zum Rittertum — auch: Die Rechtfertigung der geistlichen Ritterorden nach der Schrift „De laude novae militiae" Bernhards von Clairvaux, in: D i e geistlichen R i t t e r o r d e n
E u r o p a s , h g . v o n JOSEF FLECKENSTEIN —MANFRED
HELLMANN
(Vorträge und Forschungen 26) Sigmaringen 1980, S. 9—22 ( = Ordnungen [wie Anm. 1] S. 377 — 392).
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Hagen Keller
Zentrum, vom H o f her ganz verstehen, weil nur hier auch die ideellen, leitenden, normsetzenden Momente voll in Erscheinung treten, die nicht nur Wirklichkeit mitgestalten, sondern als Faktoren menschlichen Selbstverständnisses und Weltbegreifens unmittelbar zur „Wirklichkeit" menschlicher Existenz gehören. Ich fühle mich recht sicher, hier eine Grundüberzeugung des Gelehrten anzusprechen, und so wage ich es zum Schluß, selbstverständlich nur bezogen auf das Werk, noch kurz nach dem Menschen zu fragen, der hinter diesen Forschungen steht, gewissermaßen nach der Persönlichkeit, soweit sie sich in den Forschungen und Darstellungen zur Geschichte des Mittelalters ausspricht. Wer das Bild der 'höfischen' Welt und des Rittertums, wie es sich aus den Arbeiten J o s e f Fleckensteins gewinnen läßt, konfrontiert beispielsweise mit dem, was Joachim Bumke 1986 auf den ersten Seiten seiner „Höfischen K u l t u r " prononciert herausgestellt hat als die Lebenswirklichkeit der Ritterzeit und als Folie für die gegenbildliche Idealwelt der höfischen Literatur, wird vielleicht registrieren, daß im Rekonstruktionsentwurf des Historikers Züge hervortreten, welche die Wertung insgesamt als positiver erscheinen lassen können, obwohl doch die Kritik des Germanisten an einer in der Geschichte seines Faches zutage getretenen Tendenz, den idealisierenden Entwurf fiktionaler Texte in wahre geschichtliche Existenz und in konkrete Fakten zu verwandeln, J o s e f Fleckenstein gewiß nicht treffen kann, weder im Hinblick auf die Quellenbasis seiner Forschungen noch auf seine methodische Annäherung an das Problem. Da auch das Urteil über H o f und Reich Karls des Großen oder über die ottonische Reichskirche positiver wirken kann, als gelegentlich andere es formuliert haben, könnte man versucht sein, hier den Punkt zu suchen, an dem die Persönlichkeit, eine Lebenshaltung, in das Bild des Forschers von der Geschichte hineinwirkt. Aber ich glaube nicht, daß eine solche Klassifizierung viel zu einer Evaluierung der Ergebnisse beitragen oder gar etwas vom Anliegen und Ethos des Historikers J o s e f Fleckenstein enthüllen würde. Seine Feststellungen bieten in sich kaum die Möglichkeit, sie unter das Schema einer mehr „positiven" oder mehr „negativen" Beurteilung zu bringen. Eine derartige, den Ergebnissen angeheftete Etikettierung entsteht, wenn man die Darstellung der Phänomene aus der Perspektive herausrückt, aus der heraus sie betrachtet werden — und um dieser Perspektive willen habe ich hier gewissermaßen eine falsch gestellte Hilfsfrage eingeschoben. Es scheint mir deutlich zu sein, daß in den Arbeiten J o s e f Fleckensteins die wissenschaftliche Beschäftigung zugleich eine Einstellung zum Gegenstand der Forschungen erkennen läßt, die man als positiv bezeichnen kann und die wohl auch als Ausdruck persönlicher Sympathie für das Thema verstanden werden darf. Dies hat einen klar erkennbaren Grund. Es ist dem Historiker — wie ich nicht nur aus seinen Schriften weiß, sondern auch aus Gesprächen während seiner letzten Jahre an der Freiburger Universität, in denen eine zweieinhalb jährige Assistentenzeit bei J o s e f Fleckenstein mich zur Habilitation führte — stets darum gegangen, in dem, was er erforscht, etwas von den gestaltenden, langwirkenden Faktoren der europäischen Kultur- und Gesellschaftsentwicklung zu fassen und dabei nicht zuletzt auch die Fernwirkungen historischer Erscheinungen und Entscheidungen anzusprechen 3 0 . Dieses Grundanliegen, das mir in tiefen Schichten der Persönlich30
Der Titel der Sammlung ausgewählter Aufsätze „Ordnungen und formende Kräfte des Mittelalters" (wie Anm. 1) bringt dieses Anliegen deutlich zum Ausdruck.
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keit zu wurzeln scheint, lenkt den Blick eher auf die konstruktiven als auf zerstörerische oder sich selbst verzehrende Kräfte, läßt gegebenenfalls auch im Wollen, im geistigen Entwurf noch das Zukunftsträchtige erkennen, selbst wo das Intendierte nicht zur vollen Realisierung kam. Wenn wir dort, wo ein zeitbedingtes Streben zu geschichtlicher Wirkung im Sinne der Humanität gelangte, ein besonderes Interesse des Forschers und Lehrers am Gegenstand seines Fragens spüren können, gehört ihm nicht nur unsere Sympathie, sondern vor allem unser Dank — denn darin erfüllt sich etwas, was der Geschichtswissenschaft einen der vornehmsten Gründe ihrer Legitimation verleiht. Diesen Dank möchte ich, was mir eine große Ehre und zugleich eine besondere persönliche Freude ist, Josef Fleckenstein hier und heute im Namen aller Versammelten aussprechen — mit den besten Wünschen für sein weiteres Schaffen und für die Vollendung des großen Werkes über das Rittertum.
ALBRECHT JOCKENHÖVEL
Winter im Jahre 406/407 bis Herbst im Jahre 799 Archäologische Quellen zur Frühgeschichte der deutschen Mittelgebirgszone 1
Hermann Müller-Karpe
65. Geburtstag
Als am 2. Dezember 1805 die Sonne von Austerlitz aufging, lenkte nach örtlicher Überlieferung Napoleon die Schlacht von einem Hügel, der von den einheimischen Mährern „Zuran" (heute Gem. Podoli, Bez. Brno-venkov), v o n seinen alten Soldaten aus dem Ägyptenfeldzug nach einem Derwisch „Santon" genannt wurde 2 . Er konnte freilich nicht wissen, daß dieser Hügel frühgeschichtlichen Alters ist. Er gilt trotz seiner antiken Beraubung wegen seiner noch erhaltenen Beigaben und Dimensionen heute als eines der reichsten „Königsgräber" 3 . Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß der unbekannte Tote unter Napoleons Füßen, der lange Zeit als Wacho, König der Langobarden, galt, fast ein Zeitgenosse des 482 verstorbenen Childerich war, des Gründers der Merowingerdynastie. Die im 1653 aufgefundenen Childerich-Grab enthaltenen bienenförmigen Besatzstücke dienten als Kleiderschmuck auf Napoleons Mantel v o m 2. Dezember 1804, dem Tage seiner Kaiserkrönung; mit dieser Symbolik knüpfte Napoleon programmatisch an die Merowingerpolitik an 4 . Napoleon, Childerich und dem mutmaßlichen Wacho ist gemeinsam, daß zu ihren Lebzeiten eine europäische Neuordnung geschaffen wurde. Dies geschah v o r allem mit Waffengewalt, wobei Heerscharen eingesetzt
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Dieser Forschungsbericht gibt leicht verändert den mit den notwendigsten Anmerkungen, unter Verwendung einiger nachträglich erschienener Literatur, versehenen Text der Antrittsvorlesung des Verf. wieder, gehalten am 2. Juli 1988 an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. — Für vielfältige Unterstützung bei der Vorbereitung danke ich besonders Frau Dr. Elke Forst, Münster, für zahlreiche Literaturhinweise Frau Barbara Baecker, M . A., Frankfurt am Main. Nach: Napoleon. Die Memoiren seines Lebens, in neuer Bearb. hg. von FRIEDRICH WENCKERWILDBERG in Verb, mit FRIEDRICH M. KIRCHEISEN, Bände 9 — 10, Wien —Hamburg —Zürich 1930 — 1931, S. 128 ff., bes. S. 148 (Plan der Schlacht nach E. MAYERHOFFER, Die Schlacht bei Austerlitz [1912]).
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JOSEF POULIK, Zähadnä mohyla Zurän, in: Archeologicke Rozhledy 1, 1949, S. 10—15, S. 17 —19; JOACHIM WERNER, Die Langobarden in Pannonien. Beiträge zur Kenntnis der langobardischen Bodenfunde vor 568 (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 55A) München 1962, S. 103 ff.; WILFRIED MENGHIN, Die Langobarden. Archäologie und Geschichte, Stuttgart 1958, S. 62 f. mit Referierung von Versuchen ethnischer Zuweisung (herulisch, langobardisch). — Der Ausgräber J . Poulik, Brno, wird in nächster Zukunft das Grab komplett vorlegen. Er spricht das Grab als vor-langobardisch an, wie er mir mündlich dankenswerterweise mitteilte. Eine weitere Parallele stellt dar die Verwendung des sog. Throns König Dagoberts — einer sella curulis — bei der Ausrufung der Ehrenlegion am 19. Mai 1802 im Großen Lager von Boulognesur-Mer: KONRAD WEIDEMANN, Untersuchungen zur Ornamentik des Dagobert-Thrones, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 23/24, 1976/77, S. 267—274.
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wurden, die sich ethnisch und kulturell voneinander jeweils stark unterschieden. Ein buntes Völkergemisch bestimmte ebenso die „Grand Armée" Napoleons des Jahres 1812 wie 1400 Jahre zuvor die hunnische „Armee" mit ihren vielen germanischen und nichtgermanischen Hilfstruppen, darunter Skiren, Alanen, Sarmaten, Goten, Wandalen. Der „Hunnen-Schock", geistesgeschichtlich und geopolitisch bis in das 20. Jahrhundert nachwirkend, läutete das 5. Jahrhundert ein, an dessen Ende eine fränkische Hegemonie Mitteleuropas begann, die im Reich Karls des Großen gipfelte und heute teilweise als Folie europäischer Einheitsbewegung dient. Die Geschichte dieser Entwicklung vom 5 . - 8 . Jahrhundert kann in der deutschen Mittelgebirgszone aufgrund historischer Quellen nachvollzogen werden, wobei mir als Prähistoriker die archäologischen Quellen besonders nahestehen, um verdeutlichen zu können, welchen Stellenwert die nichtschriftlichen Quellen, in Relation zum jeweils aktuellen Forschungsstand, in der Frühgeschichtsschreibung dieses Raumes einnehmen. Behandelt wird das Gebiet der nördlichen Mittelgebirgsschwelle (einschließlich der Drehscheibe Rhein-Main-Gebiet) vom Rhein über Westfalen nach Althessen bis Thüringen, eine Region, die nach den Germanenkriegen des Augustus und Domitian nun wieder zum Schauplatz alteuropäischer Geschichte wurde. I Nach dem Verlust des Dekumatenlandes an die Alamannen 259/260 setzte in den römischen Grenzprovinzen ein Konsolidierungsprozeß ein, der eine Normalisierung des Lebens beiderseits der auf Rhein, Bodensee, Iiier und obere Donau zurückgenommenen Grenzen ermöglichte und Züge einer „friedlichen Koexistenz" annahm 5 . Die spätantike Germanenpolitik Roms wurde bestimmt zunächst durch die Indienstnahme germanischer Söldner als Grenzkastellbesatzungen. Im Militärfriedhof von Neuburg an der Donau konnte Erwin Keller 1979 die unterschiedliche Herkunft solcher germanischer Hilfstruppen erschließen: es überwiegen elbgermanisch-alamannische Züge vor ostgermanisch-gotischen 6 . Diese „kontrollierte Germanisierung" geriet jedoch mit der ab 406 einsetzenden Ansiedlung geschlossener Stammesverbände nach dem Foederatenrecht allmählich außer Kontrolle 7 .
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WILHELM SCHLEIERMACHER, Der obergermanische Limes und spätrömische Wehranlagen am Rhein, in: 33. Bericht der Römisch-Germanischen Kommission 1943 — 50, 1951, S. 133 — 184, bes. S. 152 ff.; ROBERT ROEREN, Zur Archäologie und Geschichte Südwestdeutschlands im 3 . - 5 . Jahrhundert n. Chr., in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 7, 1960, S. 214 — 294; einen speziellen Aspekt der Grenzverteidigung stellte OLAF HÖCKMANN, Römische Schiffsverbände auf dem Ober- und Mittelrhein und die Verteidigung der Rheingrenze in der Spätantike, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 33, 1986, S. 369—416, jüngst heraus. ERWIN KELLER, Das spätrömische Gräberfeld von Neuburg an der Donau (Materialhefte zur Bayerischen Vorgeschichte A 4 0 ) Kallmünz 1979; DERS., Germanenpolitik Roms im bayerischen Teil der Raetia Secunda während des 4. und 5. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 33, 1986, S. 5 7 5 - 7 2 0 . Vgl. WALTER GOFFART, Barbarians and Romans, A. D. 418 — 584. The Techniques of Accomodation, Princeton 1980.
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Albrecht Jockenhövel
Das vielbildrige Panorama beginnt Silvester 406, als Wandalen, Sweben und Alanen die lange Zeit als fast sakrosankt geltende römische Rheingrenze wohl am Mittelrhein überschritten und in ihrem Gefolge weitere germanische Stämme nachzogen 8 . Dieser schriftlich belegten Katastrophe ist kein grenznaher Zerstörungshorizont zuzuweisen, im Gegenteil, Hieronymus bezeugt 409 städtisches Weiterleben. Im rheinhessischen Kastell Alzey zeigen Neugrabungen durch Jürgen Oldenstein einen Fortbestand der Militäranlage bis zum Ende der römischen Okkupationszeit, wie eine Halbsiliqua Valentinians III. (425—455) ausweist 9 . In dieser Zeit gehörte dieses Gebiet zum Foedus der Burgunder. Der Nibelungenheld „Volker von Alzey" ist möglicherweise ein römertreuer Offizier burgundischer Grenztruppen gewesen. Wenn im folgenden Stammesnamen genannt werden, bemerke ich einleitendeinschränkend, daß die ethnische Deutung frühmittelalterlicher Fundobjekte, besonders solcher des 5. Jahrhunderts, methodisch nicht unumstritten ist 10 . Vorherrschend ist derzeit die „archäologische Ethnographie". Nur wenige Kritiker weisen auf raumzeitlich noch nicht erschöpfend ausgewertete Fundgruppen hin, die über die durch die spätantike Historiographie erschlossenen Stammesgrenzen reichen. Hinzu kommt die schon oft konstatierte Beobachtung, daß sich kurzfristige Vorgänge wie Wanderungen, Invasionen, Herrschaftsverlagerungen oder -überschichtungen usw. archäologisch nur schwer nachweisen lassen, wir historische Dynamik kaum fassen. Erst eine historische Statik läßt den archäologisch geprägten Fundstoff enorm anschwellen. So ist es im Untersuchungsgebiet sehr schwer, in dem ohnehin chronologisch noch zu groben Raster des frühen 5. Jahrhunderts die ersten Akteure, die reiternomadischen A l a n e n zu fassen. Sie siedelten von 406 bis 440—443 zusammen mit den Burgunden am Mittelrhein und entziehen sich bisher völlig dem archäologischen Nachweis. Gelegentlich wird das rheinhessische Fundensemble von Wolfsheim wegen des Pektorale, das auf seiner Rückseite eine sassanidische Inschrift zeigt, mit ihnen verknüpft 11 . Graduell etwas besser steht es mit den B u r g u n d e n , die die 413 erwähnte pars Galliae propinqua Rheno besetzten. Nach dem archäologischen Fundbild neigt sich in der umstrittenen Lokalisierung des Burgunderreiches das Pendel zugunsten
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EUGEN EWIG, Der Raum zwischen Selz und Andernach vom 5. bis zum 7. Jahrhundert, in: Von der Spätantike zum frühen Mittelalter (Vorträge und Forschungen 25) Sigmaringen 1979, S.271 — 296. JÜRGEN OLDENSTEIN, Neue Forschungen im spätrömischen Kastell von Alzey. Vorbericht über die Ausgrabungen 1981 — 1985, in: 67. Bericht der Römisch-Germanischen Kommission 1986, S. 289 — 356, bes. S. 334. Vgl. die abwägenden Bemerkungen von RAFAEL VON USLAR, Zu einer Fundkarte der jüngeren Kaiserzeit in der westlichen Germania libera, in: Praehistorische Zeitschrift 52, 1977, S. 121—147. Quellenkritische Darstellung der Fundgeschichte bei HANS-GEORG KOHNKE, Karl August von Cohausen und der Wolfsheimer Fund, in: Nassauische Annalen 95, 1984, S. 255—259; historische Einordnung zuletzt bei HELMUT BERNHARD, Germanische Funde der Spätantike zwischen Straßburg und Mainz, in: Saalburg-Jahrbuch 38, 1982, S. 7 2 - 1 0 9 .
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des Mittelrheins. Die Umsiedlung der Burgunden in das heutige Savoyen erfolgte 443, so daß sich alle Diskussionen um den archäologischen Nachweis am Mittelrhein auf die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts beziehen 12 . Das Neben- und Miteinander regulärer Militäreinheiten und germanischer Foederaten — Beispiel Alzey — verdeutlichen militärische Ausrüstungsteile in vielen spätrömischen Kriegergräbern germanischer Prägung, darunter kerbschnitt- und punzverzierte Gürtelschnallen von cingulae militiae. Ihre Verbreitung zeigt anschaulich die grenznahe Stationierung germanischer Einheiten, aber auch ihr Vorkommen im scheinbar feindlichen Vorfeld 13 . Das Spathakriegergrab von Mainz-Kostheim 14 könnte durchaus burgundisch sein, wenn man den Osenhalsring in seiner Verbreitung sieht, die sich bis zum Odergebiet erstreckt, der mutmaßlichen alten Burgunderheimat 15 . Wichtig ist immer noch das von Friedrich Behn als „burgundisch" angesprochene Gräberfeld von Lampertheim an der Bergstraße. Rainer Christlein bezeichnete es jedoch als „frühalamannisch" 16 . Es ist wahrscheinlich ein nutzloser Streit und Mechthild Schulze-Dörrlamm beizupflichten, wenn sie von einer „weitgehenden Assimilierung von Burgunden und Alamannen, die der Grund dafür sein könnte, daß archäologische Spuren der Burgunden aus dem 5. Jahrhundert so schwer zu finden sind", spricht 17 , von einer Volksgruppe, die nach Orosius immerhin 80000 Bewaffnete stellte. 435 wurden die Burgunden als Folge ihres Ausgriffes auf die Provinz Belgica Prima von Aerius mit Hilfe hunnischer Krieger besiegt — der historische Kern der Nibelungen-Sage. Die kurzfristige Oberherrschaft der H u n n e n in Mitteleuropa hatte vielfältige Nachwirkungen politischer und kultureller Art auf die mit ihnen verbündeten Germa-
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Zusammenfassend zuletzt HELMUT BERNHARD, Die spätrömischen Burgi von Bad Dürkheim-
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HORST WOLFGANG BÖHME, Das Ende der Römerherrschaft in Britannien und die angelsächsische
Ungstein und Eisenberg, in: Saalburg-Jahrbuch 37, 1 9 8 1 , S. 23 — 85, bes. S. 55 ff. Besiedlung Englands im 5. Jahrhundert, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 33, 1986, S. 4 6 9 - 5 7 4 , bes. S. 492 ff., S. 500 Fig. 23; DERS., Zur Bedeutung des spätrömischen Militärdienstes für die Stammesbildung der Bajuwaren, in: Von Severin bis Tassilo 488 — 788 (Ausstellungskatalog),
hg.
von
HERMANN DANNHEIMER—HEINZ
DOPSCH,
O. O .
1988,
S. 2 3 — 3 7 ;
GERHARD FINGERLIN, Brisigavii im Vorfeld v o n Breisach. Archäologische Spuren der Völkerwanderungszeit zwischen Rhein und Schwarzwald, in: Archäologische Nachrichten aus Baden 34, 1985, S. 3 0 - 4 5 . 14
MECHTHILD SCHULZE-DÖRRLAMM, Germanische Kriegergräber mit Schwertbeigabe in Mitteleuropa aus dem späten 3. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr. Zur Entstehung der Waffenbeigabensitte in Gallien, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 32, 1985, S. 5 0 9 - 5 6 9 .
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KELLER 1979 (wie A n m . 6) S . 2 7 f f . Beilage 1.
16
FRIEDRICH BEHN, Ein vorfränkisches Gräberfeld bei Lampertheim am Rhein, in: Mainzer Zeitschrift 30, 1935, S. 56 — 65; vgl. RAINER CHRISTLEIN, Die Alamannen. Archäologie eines lebendigen Volkes, Stuttgart 1978, S. 50 ff., S. 156 Nr. 232; JUTTA MÖLLER, Katalog der Grabfunde aus Völkerwanderungs- und Merowingerzeit im Südmainischen Hessen (Starkenburg) (Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit B 11) Stuttgart 1987, S. 7 9 - 8 5 .
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MECHTHILD SCHULZE-DÖRRLAMM, Romanisch oder germanisch? Untersuchungen zu den Armbrustund Bügelknopffibeln des 5. und 6. Jahrhunderts n. Chr. aus den Gebieten westlich des Rheins und südlich der Donau, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 33, 1986, S. 5 9 3 - 7 2 0 , hier S. 692.
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Albrecht Jockenhövel
nen 18 . Diese Bedeutung kontrastiert mit wenigen hunnischen Fundobjekten in Mitteleuropa. Im archäologischen Nachweis des Attila-Reiches gibt es im Westen keine wesentlichen Neufunde seit den 1954 von Joachim Werner zusammengestellten19. II
Die Niederlage der Hunnen läßt ab 451 eine neue historische Konfiguration auch im zentralen und westlichen Mitteleuropa entstehen, in deren erstem Kraftfeld drei germanische Stämme dominieren: Alamannen, Thüringer, Franken. Von überregionaler Bedeutung für die südliche Mittelgebirgszone sind die A l a m a n n e n 2 0 . Als Neustamm erstmals im frühen 3. Jahrhundert erwähnt, wurden sie zu einer ernsten Bedrohung Galliens und Oberitaliens, bis sie zunächst durch die Kriege Julians und die effektive Sicherung der Donau- und Rheinlinie unter Valentinian auf ihre rechtsrheinischen Siedlungsgebiete beschränkt wurden. Dank den Forschungen Helmut Schoppas und Robert Roerens sind wir über die Besitznahme der Limesgebiete durch die Alamannen gut unterrichtet 21 . Grundlegend neuer Fundstoff aus Gräbern ist nicht hinzugekommen. Verdichtet hat sich das von Joachim Werner gezeichnete Bild von der historischen Rolle und Funktion frühalamannischer Burgen. Sie sind gekennzeichnet durch ihre natürlich geschützte Lage, militärische Funktionen, ortsansässiges Handwerk, intensiven Handel und hochwertige Fundgruppen. Diese „Gauburgen" frühalamannischer reges oder reguli bildeten das strategische und gesellschaftlich-ökonomische Rückgrat einer frühalamannischen Selbständigkeit im Limesvorfeld 22 .
18
19
20
21
Anstelle einer Vielzahl von Literaturnachweisen hierzu und zu anderen Themenberichten dieses Vortrages sei hingewiesen auf den Ausstellungskatalog: W I L F R I E D M E N G H I N — T O B I A S SPRINGER — EGON W A M E R S (Hgg.), Germanen, Hunnen und Awaren. Schätze der Völkerwanderungszeit. Die Archäologie des 5. und 6. Jahrhunderts an der mittleren Donau und der östlich-merowingische Reihengräberkreis, Nürnberg 1987. J O A C H I M W E R N E R , Beiträge zur Archäologie des Attila-Reiches (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 38A) München 1956; DERS., Die archäologische Hinterlassenschaft der Hunnen in Südrußland und Mitteleuropa, in: Nibelungenlied. Ausstellung zur Erinnerung an die Auffindung der Handschrift A des Nibelungenliedes im Jahre 1779 im Palast zu Hohenems (Ausstellungskatalog des Vorarlberger Landesmuseums 86) Bregenz 1979, S. 273—296. H A N S K U H N — H A N S J Ä N I C H E N — H E I K O STEUER, VOX 'Alemannen', in: JOHANNES HOOPS, Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 2 1 , Berlin—New York 1 9 7 3 , S. 1 3 7 — 1 6 3 ; C H R I S T L E I N (wie Anm. 1 6 ) ; vgl. dazu die Besprechung durch H A G E N K E L L E R , Archäologie und Geschichte der Alamannen in merowingischer Zeit. Überlegungen und Fragen zu einem neuen Buch, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 1 2 9 , 1 9 8 1 , S. 1 — 5 0 ; W O L F G A N G HÜBENER (Hg.), Die Alemannen in der Frühzeit (Veröffentlichung des Alemannischen Instituts 3 4 ) Bühl/Baden 1 9 7 4 ; H A G E N K E L L E R , Alamannen und Sueben nach den Schriftquellen des 3. bis 7. Jahrhunderts, in: Frühmittelalterliche Studien 2 3 , 1 9 8 9 , S. 8 9 - 1 1 1 . H E L M U T S C H O P P A , Die Besitzergreifung durch die Alamannen, in: Nassauische Annalen 6 7 , 1 9 5 6 , S . 1 — 1 3 ; ROEREN ( w i e A n m . 5 ) .
22
den alamannischen Burgen des 4 . und 5 . Jahrhunderts, in: CLEMENS B A U E R — (Hgg.), Speculum Historiale. Festschrift J.Spörl, München 1 9 6 5 , S . 4 3 9 — 4 5 3 ; H E I K O STEUER, Der Zähringer Burgberg bei Freiburg im Breisgau, eine Höhensiedlung des 4./5. Jahrhunderts, in: Archäologisches Korrespondenzblatt 19, 1989, S. 169 —184, bes. S. 178 —
JOACHIM WERNER, Z U
L A E T I T I A BOEHM — M A X M Ü L L E R
180.
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Winter im Jahre 406/407 bis Herbst im Jahre 799
Aus dem nördlichen Bereich ist zum altbekannten Glauberg 23 neu der Dünsberg (Gde. Biebertal-Fellingshausen, Lahn-Dill-Kreis) nordwestlich Gießens hinzugekommen. Im Zuge von Fundentkernungen durch Raubgräber mit Hilfe von Minensuchgeräten wurden auf dem Ostsporn des bereits in der Bronze- und Eisenzeit befestigten Berges so zahlreiche Militaria geborgen, daß Gerhard Jacobi einen Zusammenhang mit überlieferten römischen Militärunternehmungen über den Rhein hinweg in das alamannische Gebiet annahm 24 . Wie in anderen Teillandschaften der frühen Alamannia enden diese Höhenburgen im zeitlichen Zusammenfall mit der Ausweitung der fränkischen Ostbewegung, so daß eine Entwicklungslinie zu den Burgen der jüngeren Merowingerzeit nicht zu ziehen ist. Auch Sachbesitz umschreibt die frühe Alamannia. Unter den vielfaltigen spätkaiserzeitlichen Fibelformen konnte Mechthild Schulze-Dörrlamm mit den Typen Miltenberg und Rathewitz zwei Formen aussondern, deren Verbreitung die mitteldeutschen Wurzeln dieses Stammesverbandes freilegen 25 . Als typisch für ein alamannisches, vorfränkisches Gräberfeld im Rhein-MainGebiet gilt das von Hermann Ament bisher nur kurz bekanntgegebene Eschborn 26 . Leitfunde seiner ethnischen Zuweisung sind handgemachte, schlichte Gefäße und bestimmte Bügelfibelformen sowie Fibeln mit langschmalem Tierkopffuß. Ihre Verbreitung ist im Rhein-Main-Gebiet verdichtet, darüber hinaus gibt es Konzentrationen in Mittelböhmen sowie Einzelstücke an der Donau. Ament leitete daraus einen Nach-Zug neuer „elbgermanischer" Siedler ab. In die Zeit des Eschborner Gräberfeldes fällt das Ende der Römerherrschaft am Rhein. Es wird angenommen, daß im Frühjahr 455 die rechtsrheinischen Alamannen über den Fluß setzten. Die Schriftquellen schweigen nun etwa ein halbes Jahrhundert. Erst der Ravennater Geograph berichtet um 500 von einer alamannisch-fränkischen Grenze zwischen Worms und Mainz, die offenbar die alamannische Niederlage bei Zülpich widerspiegelt. Das südliche Rheinhessen, also auch Worms, wird im Jahre 506 endgültig fränkisch.
III
Im mitteldeutschen Raum formierte sich auf dem Hintergrund einer dichten Besiedlung Mitteldeutschlands, eines differenzierten Sozialgefüges — Stichwort Fürstengräber vom Typ Haßleben/Leuna — um 400 der Stammes verband der
23
Vgl. SILVIA SPORS, Spätrömische Drehscheibenkeramik v o m Glauberg (Wetteraukreis), in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 33, 1986, S. 4 1 7 — 4 6 8 .
24
GERHARD JACOBI, D i e M e t a l l f u n d e v o m D ü n s b e r g ( M a t e r i a l h e f t e z u r V o r - u n d F r ü h g e s c h i c h t e
von
Hessen
Der
2)
Wiesbaden
1977,
S. 5 0 f.
Abb. 16;
zusammenfassend
FRITZ-RUDOLF
HERRMANN,
Dünsberg (Archäologische Denkmäler in Hessen 60) Wiesbaden 1986. 25
SCHULZE-DÖRRLAMM ( w i e A n m . 1 7 ) S. 6 0 9 ff., S. 6 1 2 ff.
26
HERMANN AMENT, Eschborn, Main-Taunus-Kreis, Grabfunde des 5. Jahrhunderts. Ein alamannisches Gräberfeld an der Wende v o m Altertum zum Mittelalter (Archäologische Denkmäler in Hessen 4 1 ) Wiesbaden 1984.
42
Albrecht Jockenhövel
T h ü r i n g e r (Thuringi), der bis zu seiner Eingliederung in den fränkischen Staats verband im Jahr 531 ein bedeutender Machtfaktor „Elbgermaniens" war 27 . Nach Abschüttelung der hunnischen Oberherrschaft, die den thüringischen Fundstoff lange noch prägte — vgl. die Vorliebe des hunnischen „Schönheitsideals" der artifiziellen Schädeldeformation —, zielte die thüringische Stoßrichtung auf den elbgermanisch-donauländischen Bereich. Das 1965 aufgefundene reiche Frauengrab von Oßmannstedt ostgotischer-byzantinischer Prägung — manche Forscher sehen in der Toten eine ostgotische Prinzessin 28 — verdeutlicht die dynastische Einbindung in eine thüringische-langobardische-ostgotische Allianz unter Theoderich, die gegen die im Westen erstarkenden Franken gerichtet war. Für unsere Thematik ist die mutmaßliche Westausdehnung des Thüringerreiches von Bedeutung. Aus Schriftquellen unterschiedlicher Zeitstellung und topographischer Ausdeutung von Stammessitzen rekonstruierten Konrad Weidemann und Horst Wolfgang Böhme ein thüringisches „Großreich", das von Mitteldeutschland über das gesamte niederdeutsche Tiefland bis nach Flandern reichte, somit unmittelbar an die „Francia" grenzte 29 . Dieses Westreich ist aber mit einem adäquaten archäologischen Fundniederschlag (noch) nicht zu fassen. Es gibt dort kein den mitteldeutschen Friedhöfen vergleichbares Gräberfeld, so fehlen z. B. schon in der unmittelbaren Nachbarschaft, in Althessen, das im Hochmittelalter landgräflichthüringisch wurde, Thüringerfunde vollständig. Lediglich thüringische Kleinfibelformen wie Zangenfibeln und spezielle Bügelfibelformen sind außerhalb der thüringischen Kernlande in fränkische, alamannische und bajuwarische Reihenfriedhöfe gelangt 30 . Erklärten Ursula Koch und Max Martin diese Vorkommen noch mit thüringischen Umsiedlern nach der Niederlage von 53131, so hat sich seit dem Vorbericht zum Gräberfeld von Langenlonsheim, Kr. Kreuznach, durch Hartmut Polenz 32 und Alfried Wieczoreks Mainzer Dissertation die Diskussion in die Zeit
27
BERTHOLD SCHMIDT, Die späte Völkerwanderungszeit in Mitteldeutschland, Halle 1961; DERS., Konkordanz oder Diskonkordanz schriftlicher und archäologischer Quellen, dargestellt am Beispiel des Thüringer Reiches, in: Von der archäologischen Quelle zur historischen Aussage, hg. von JOACHIM PREUSS, Berlin 1979, S. 263—279; DERS., Das Königreich der Thüringer und seine Provinz e n , in: MENGHIN—SPRINGER—WAMERS ( w i e A n m . 1 8 ) S . 4 7 1 f f . ; GÜNTHER BEHM-BLANCKE, G e s e l l -
28
schaft und Kunst der Germanen. Die Thüringer und ihre Welt, Dresden 1973. Leider ist diese wichtige Grablege bisher nur aus Vorberichten oder Populärliteratur bekannt: vgl. BEHM-BLANCKE ( w i e A n m . 2 7 ) S. 5 3 — 5 8 .
29
30
HORST WOLFGANG BÖHME, Das Land zwischen Elb- und Wesermündung vom 4. bis 6. Jahrhundert, in: Führer zu vor- und frühgeschichtlichen Denkmälern 29, Mainz 1976, S. 205—226; KONRAD WEIDEMANN, Das Land zwischen Elbe- und Wesermündung vom 6 . - 8 . Jahrhundert, in: ebd. S. 2 2 7 - 2 5 0 mit Karte. Letzte Verbreitungskarte bei BERTHOLD SCHMIDT, Funde der späten Völkerwanderungszeit aus M i t t e l d e u t s c h l a n d , in: MENGHIN —SPRINGER—WAMERS ( w i e A n m . 1 8 ) S. 4 7 6 A b b . 6 .
31
MAX MARTIN, Das fränkische Gräberfeld von Basel-Bernerring (Baseler Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte 1) Basel 1976, S. 146 ff.; URSULA KOCH, Das Reihengräberfeld bei Schretzheim (Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit A 1 3 ) Berlin 1977, S. 184 ff.
32
HARTMUT POLENZ — BERNHARD STÜMPEL, A u s g r a b u n g e n i m m e r o w i n g e r z e i t l i c h e n F r i e d h o f L a n g e n -
lonsheim, Kreis Bad Kreuznach. Ein Vorbericht, in: Mainzer Zeitschrift 71—72, 1976—77, S.236— 241.
Winter im Jahre 406/407 bis Herbst im Jahre 799
43
um 500 verlagert 33 . Durch eine schärfere Untergliederung der Zeitstufe II 34 nach K. Böhner geraten viele dieser Thüringerfunde in einen älteren Zusammenhang. In rheinhessischen Gräberfeldern sind diese zum Teil reich ausgestatteten Gräber völlig integriert. Offenbar haben Franken und Thüringer bei der Landnahme Rheinhessens zusammengewirkt, ein Vorgang, von dem keine Schriftquellen berichten! Möglicherweise alliierten beide gegen die Alamannen. In diese Richtung gehen teilweise auch die Untersuchungen von Horst Wolfgang Böhme, der für die Zeit von 450 — 500 Miniaturfibeln des Typs Weimar und Dreirundelfibein, Bestandteile der Frauentracht, nach Westen verfolgte 35 . Die Ausdeutung des Verbreitungsbildes ist unterschiedlich: „Die wenigen Exemplare aus dem sächsischen Gebiet in Nordwestdeutschland sind ganz offensichtlich Zeugnisse für eine Expansion des Thüringer Reiches in diese Richtung, als nach Abzug großer sächsischer Stammesteile nach England um die Mitte des 5. Jahrhunderts ein spürbares Machtvakuum im norddeutschen Flachland zu konstatieren ist. Die Funde thüringischen Frauenschmucks aus [...] Südwestdeutschland dagegen sprechen für eine [...] Abwanderung mitteldeutscher Bevölkerungsgruppen in jenen Raum." Für die nordgallischen Funde nahm Böhme einen Zusammenhang mit thüringischen Söldnern in der SyagriusArmee an, die nach 476 in Gallien blieben. Es werden also drei unterschiedliche historische Interpretationen für denselben Sachverhalt, Frauenschmuck außerhalb des Thüringer Kerngebietes, vorgestellt. Von einem Thüringer Westreich ist jedoch nicht mehr viel zu spüren. Handgemachte Keramik von Minden an der Weser wurde mit Thüringern verbunden 36 . Doch sind wir beim derzeitigen Aufarbeitungsstand noch weit entfernt, diese Keramik als „thüringisch" usw., als ethnisch zuweisbar zu klassifizieren, wie es derzeit in Rheinhessen modern ist, wo die früher als alamannisch 37 bestimmte handgemachte Keramik jetzt weitgehend thüringisch sein soll 38 . Die Dominanz handgemachter Keramik im 5. Jahrhundert ist jedoch kein lokales Problem, sondern es zieht sich von Norwegen bis tief nach Frankreich hinein ein Horizont sehr eng verwandter freihandgeformter Ware. Ich darf mit freundlicher Erlaubnis Wolfgang Hübener, den wohl besten Kenner frühmittelalterlicher Keramik, aus Druckfahnen
33
ALFRIED WIECZOREK, Die frühmerowingischen Phasen des Gräberfeldes von Rübenach. Mit einem Vorschlag zur chronologischen Gliederung des Belegungsareales A , in: 68. Bericht der RömischGermanischen Kommission 1987 (1988), S. 3 5 3 - 4 9 2 .
34
Vgl. auch MAX MARTIN, Bemerkungen zur chronologischen Gliederung der frühen Merowingerzeit, in: Germania 67, 1989, S. 1 2 1 - 1 4 1 .
35
BÖHME, Britannien (wie A n m . 13) S. 845.
36
WALTER RUDOLF L A N G E — W A L T E R NOWOTHNIG, V o r - u n d f r ü h g e s c h i c h t l i c h e F u n d e i m
mittleren
Wesergebiet, in: Führer zu vor- und frühgeschichtlichen Denkmälern 4, Mainz 1966, S. 6 —39, bes. S. 35 ff. 37
HELGA POLENZ, Zur Interpretation der handgemachten Keramik aus merowingerzeitlichen Gräbern der Pfalz, in: Der Stand archäologisch-historischer Forschung zum Kontinuitätsproblem in der Germania und in der Belgica v o m 4 . - 8 . Jahrhundert n.Chr., hg. v o m Römisch-Germanischen Zentralmuseum Mainz, Mainz 1977, S. 3 —39.
38
ALFRIED WIECZOREK, Mitteldeutsche Siedler bei der Fränkischen Landnahme in Rheinhessen. Eine Untersuchung zur handgeformten Keramik Rheinhessens, in: ALOIS GERLICH (Hg.), Das D o r f am Mittelrhein. Alzeyer Kolloquium 5 (Geschichtliche Landeskunde 30) Stuttgart 1989, S. 11 —101.
44
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zitieren 39 : „Die ethnische Deutung als stammesspezifisch germanisch ist gegenüber einer Deutung als technologischer Zäsur und damit leichteren generellen Einflußnahme des östlichen Mitteleuropas auf die Rhein-Donau-Gebiete zurückzustellen." Wollen wir weiterkommen, müßte zunächst diese handgemachte Ware überregional vergleichend untersucht, aber auch durch die archäologische Landesforschung zwischen Rhein und Werra verstärkt neue Quellen des noch dunklen 5. Jahrhunderts aufgedeckt werden 40 . Die nach dem Untergang des Thüringerreiches 531 einsetzende fränkische Herrschaftsüberlagerung Mitteldeutschlands läßt sich in den Bodenfunden anhand zweier Fundgruppen nachvollziehen: Doppelkonische Drehscheibenkeramik (sog. fränkische Knickwandtöpfe) und silbertauschierte Gegenstände, beide ab dem 7. Jahrhundert belegt, streuen vom Untermain und von Unterfranken über das Grabfeld nach Thüringen bis nördlich der Unstrut 41 . Der fortschreitenden Eingliederung Mitteldeutschlands westlich der Saale in den fränkischen Verband diente die Anlage von fränkischen Burgen wie z. B. Würzburg, Hammelburg, Mühlberg, Monraburg und vielleicht auch Erfurt. Von ihnen ist die markant am Unstrutdurchbruch zwischen Hainleite und Schmücke liegende Sachsenburg besonders erwähnenswert: Datierbare Lesefunde stammen sämtlich aus dem 7. Jahrhundert, darunter zwei fränkische Goldmünzen 42 . Jedoch steckt die Erforschung dieser thüringischen Burgen noch ganz in den Anfangen. Reiche Adelsgräber thüringischer Prägung wurden unlängst im niederhessischen Eschwege-Niederhone 43 und nordmainfränkischen Zeuzleben — übrigens eine echt thüringische Ortsnamenendung — in Unterfranken 44 zutage gefördert. Sie belegen die Vorzugsstellung thüringischer Familien unter fränkischer Oberherrschaft, deren Amtsträger selbst auch in Thüringen anwesend waren, wie auch die Gräber von Alach, Kr. Erfurt, zeigen 45 . Dieser Schicht oblag nicht nur die Wahrung der „inneren" Sicherheit, sondern auch die gegenüber den östlich der Saale nun erstarkenden Slawen 46 . 39
WOLFGANG HÜBENER, Produktion und Absatz merowingerzeitlicher Töpfereierzeugnisse, in: Fest-
40
Vgl. jetzt Neufunde v o n Krefeld-Stratum (JOCHEN GIESLER, Siedlungsarchäologische Untersuchun-
schrift f ü r Günter Smolla (Materialhefte zur Vor- und Frühgeschichte Hessens) (im Druck). gen in Krefeld-Stratum, in: Ausgrabungen im Rheinland 1979/80 [Kunst und Altertum am Rhein. Führer Rheinisches Landesmuseum Bonn 104] K ö l n - B o n n 1 9 8 1 , S. 1 5 1 - 1 6 8 , bes. S. 1 5 1 - 1 5 5 ) und Soest-Ardey (CHRISTOPH REICHMANN, Siedlungsreste der vorrömischen Eisenzeit, jüngeren römischen Kaiserzeit und Merowingerzeit in Soest-Ardey, in: Germania 59, 1 9 8 1 , S. 51 — 77). 41
BERTHOLD SCHMIDT, Zur Keramik des 7. Jahrhunderts zwischen Main und Havel, in: Praehistorische Z e i t s c h r i f t 43/44, 1 9 6 5 / 6 6 , S.
167-235.
42
SCHMIDT (wie A n m . 4 1 ) S. 223 ff. Fig. 4 2 - 4 3 .
43
KLAUS SIPPEL, Ein merowingisches Kammergrab mit Pferdegeschirr aus Eschwege, Werra-MeißnerKreis (Hessen). Vorbericht über Grabungen im Bereich des frühmittelalterlichen Gräberfeldes im Stadtteil Niederhone 1985, in: Germania 65, 1987, S. 1 3 5 - 1 5 8 .
44
LUDWIG WAMSER, Eine thüringisch-fränkische Adels- und Gefolgschaftsgrabanlage des 6./7. Jahrhunderts bei Zeuzleben (Wegweiser vor- und frühgeschichtlicher Stätten Mainfrankens 5) Würzburg 1984.
45
WOLFGANG TIMPEL, Fränkische Adelsgräber v o n Alach, Kr. Erfurt, in: Ausgrabungen und Funde
46
Vgl. HANSJÜRGEN BRACHMANN, Slawische Stämme an Elbe und Saale. Zu ihrer Geschichte und
28, 1983, S. 2 3 7 - 2 4 0 . K u l t u r im 6. bis 10. Jahrhundert — auf Grund archäologischer Quellen (Schriften zur Ur- und Frühgeschichte 32) Berlin 1978; SCHMIDT (wie A n m . 4 1 ) S . 2 3 4 .
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45
IV
Nach der Niederwerfung der Thüringer blieben im nordwestdeutschen Raum nur noch zwei politische Größen übrig: Franken und Sachsen. Salische F r a n k e n wurden erstmals 358 am Unterlauf der Maas als Foederati angesiedelt. Der Zusammenhang mit den urheimatlichen Frankenstämmen rechts des Rheins blieb jedoch erhalten, ist aber nur durch archäologische Quellen nachzuweisen. Gegen Ende des 5. und Beginn des 6. Jahrhunderts schwillt dank der Reihengräberfriedhöfe der westfälische Fundstoff so stark an, daß eine einigermaßen befriedigende zeitliche Ansprache gelingt 47 . Einschränkend muß aber gesagt werden, daß — von der Neuvorlage des Gräberfeldes Beckum I durch Torsten Capelle abgesehen 48 — bis heute keine monographische Abhandlung der Frankenfriedhöfe Westfalens vorliegt, auf die sich eine zeitliche und räumliche Gliederung stützen könnte. Lediglich den Bestattungssitten widmete Gabriele Wand eine längere Studie 49 . Die Fundorte markieren ein fränkisches Westfalen vom westlichen Münsterland, dem Landstrich der Chamaver, in einer Zone zwischen Lippe und Ruhr bis nach Ostwestfalen zur Diemel und Weser, dem Brukterer-Gau. Dort wurde unlängst in Wünnenberg-Fürstenberg, Kr. Paderborn, ein reiches Kammergrab von Daniel Berenger freigelegt, dessen Ringknaufschwert auf einen fränkischen Amtsträger um 550 deutet 50 . Zur Südausbreitung der S a c h s e n , die Westfalen, Hessen und Niedersachsen betraf, sagen die Schriftquellen nur wenig aus. Die innerfränkische Lähmung der ausgehenden Merowingerzeit ausnutzend, eroberten die Sachsen 694—696 Landstriche jenseits Lippe und (715) Ruhr, somit fränkische Landesteile der Brukterer und Hattuarier, und schoben ihre Grenze bis zur Ijssel vor. Als Leitmuster dieser „Saxonisierung" gelten seit Karl Hucke 51 handgemachte Keramik, besonders niedrige Buckeltöpfe, Nord-Süd (mutmaßlich „heidnisch") ausgerichtete Körpergräber von Mensch und Pferd — sie lösen die fränkisch-christliche O-W-Richtung ab — und — von Wilhelm Winkelmann ans Licht gefördert — schiffsförmige Häuser vom Typ Warendorf 52 . Die Überschichtung fränkischer Züge durch neue sächsische läßt sich, auch archäologisch-stratigraphisch, am Gräberfeld von Soest beleuchten, wenngleich der 47
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50
51
52
Zusammenfassende Darstellungen von WILHELM WINKELMANN, Frühgeschichte und Frühmittelalter, in: WILHELM KOHL (Hg.), Westfälische Geschichte 1, Düsseldorf 1983, S. 1 8 8 - 2 3 0 . TORSTEN CAPELLE, Das Gräberfeld Beckum I (Veröffentlichungen im Provinzialinstitut für westfälische Landes- und Volksforschung Landschafts verband Westfalen-Lippe 7) Münster 1979. GABRIELE WAND, Beobachtungen zu Bestattungssitten auf frühgeschichtlichen Gräberfeldern Westfalens, in: Studien zur Sachsenforschung 3, 1982, S. 249—314. DANIEL BERENGER, Das frühmittelalterliche Körpergräberfeld von Fürstenberg im Sintfeld, Stadt Wünnenberg, Kreis Paderborn. Vorbericht über die Grabung 1983—1984, in: Ausgrabungen und Funde in Westfalen-Lippe 4, 1986, S. 1 3 9 - 1 6 6 . KARL HUCKE, Ausbreitung der Sachsen vom 6 . - 8 . Jahrhundert in Nordwestdeutschland auf Grund der Grabfunde, in: HERBERT JANKUHN (Hg.), Forschungs- und Lehrgemeinschaft „Das Ahnenerbe". Jahrestagungen. Bericht über die Kieler Tagung 1939, Neumünster 1944, S. 195 — 202. WILHELM WINKELMANN, Die Ausgrabungen in der frühmittelalterlichen Siedlung bei Warendorf, in: WERNER KRÄMER (Hg.), Neue Ausgrabungen in Deutschland, Berlin 1958, S. 492—517; zur Keramik vgl. jetzt RALPH RÖBER, Die frühmittelalterliche Keramik von Warendorf (Universitätsforschungen zur Prähistorischen Archäologie 4) Bonn 1990.
46
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vorgelegte Plan schwer ausdeutbar ist53. Grundsätzlich zeigt die Orientierung der insgesamt 214 Gräber in keinem Falle die in der Literatur meist zu findende O-W bzw. N-S-Kategorisierung, sondern erhebliche Abweichungen von den Hauptkardinalen. Auffällige Überschneidungen sind: W-O-Kammergräber werden von W-OBaumsärgen, von Pferdegräbern und N-S-Gräbern geschnitten, aber auch Pferdegräber und genordete Bestattungen werden von W-O-Baumsärgen wie auch W-OBaumsärge von genordeten Bestattungen und Pferdegräber sowohl von N-S- als auch W-O-Gräbern überlagert. Eine zeitliche Aufschlüsselung ist wegen des Publikationsstandes — nur 3,2% der Gräber sind vorgelegt — nicht möglich, eine Vereinfachung, so von Hucke schon vorgenommen, in fränkisch-christliche W-O-, sächsisch-heidnische N-S-, sächsisch-christliche W-O-Gräber gerät an die Grenzen bisher zugänglicher Dokumentation, so daß unbestimmt bleibt, zu welchem Zeitpunkt die N-S-Belegungsschicht in Soest einsetzt. Anders ist das Bild in Beckum, Kr. Warendorf, wo zwei — stets als getrennt laufende — Gräberfelder Beckum I und Beckum II existieren. Winkelmann sah in Beckum I ein fränkisches Gräberfeld, das von der bei den sächsischen Vorstößen abgewanderten Bevölkerung aufgelassen wurde, während Beckum II der Grabbezirk einer Familie sächsischer primores sei. Erstmalig zog Hermann Ament beide Friedhöfe zu einer Einheit und faßte Beckum II als Separatadelsbegräbnis auf 54 . Beide Friedhöfe sind durch einen noch nicht untersuchten, heute bebauten Streifen von 250 m Breite getrennt. Zu einem Schlüsselfund westfälischer Frühgeschichte wurde das sog. Fürstengrab von Beckum II55. Ich kann hier auf die einzelnen Gegenstände aus dem bisher nur in Vorberichten vorgelegten Grab nicht eingehen, die dem hochgewachsenen, etwa 50jährigen, vollgerüsteten Mann beigegeben waren, sondern beschränke mich auf das Schwert, auf dessen Knaufkrone ein frei beweglicher Silberring sitzt, der damit das Schwert zur Gruppe der Ringknaufschwerter stellt, die nur in wenigen Exemplaren vom langobardischen Italien, alamannischen und fränkischen Germanien bis nach Südschweden vorkommen. Nach jüngsten Untersuchungen Heiko Steuers sind sie offenbar Kennzeichen des germanischen Gefolgschaftswesens56. Die terminus post quem-Datierung über die Goldmünze, eine Nachprägung eines Solidus Justinians II. (565 — 578), führte zunächst in die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts, Winkelmann datierte das Grab in die Zeit der sächsischen Vorstöße an den Rhein: 622/623. Ethnisch sei es das Grab eines sächsischen Adeligen, der im Angriffskampf gegen die Franken gefallen sei. Er schrieb aber auch, daß „es als ein fränkisches Fürstengrab angesprochen werden" kann, „aber das ganze Zubehör des Grabes, in erster Linie die geopferten Pferde und die kultischen Einhegungen, dazu die Opfer selbst, sind nicht fränkisch,
53
54
WAND ( w i e A n m . 4 9 ) S. 2 6 0 f f .
HERMANN AMENT, Fränkische Adelsgräber v o n Flonheim in Rheinhessen (Denkmäler der Germanischen Vorzeit B 5) Berlin 1970, S. 138.
55
WILHELM WINKELMANN, Das Fürstengrab v o n Beckum. Eine sächsische Grabstätte des 7. Jahrhund e r t s in W e s t f a l e n , in: D i e G l o c k e , 1 9 6 2 ; HERBERT JANKUHN, VOX ' B e c k u m ' , i n : JOHANNES HOOPS,
Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 2 2 2, Berlin—New York 1976, S. 126 —129. 56
HEIKO STEUER, Helm und Ringschwert. Prunkbewaffnung und Rangabzeichen germanischer Krieger. Eine Übersicht, in: Studien zur Sachsenforschung 6, 1987, S. 189—236.
47
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auch nicht allgemein germanisch in dieser Zeit, sondern eindeutig sächsisch" 57 . Damit wurde ein klares Urteil gefällt, aber einige Bemerkungen seien angefügt. Wand rechnete das Grab im Gegensatz zur Winkelmannschen Betonung einer NS-Ausrichtung (NNO-SSW) zu ihrer W-O-Schicht 58 , zum Grab gehören ausschließlich Reitpferde, d. h. Pferde mit Zaumzeug, und keine geopferten Hengste. Eine Neubewertung frühmittelalterlicher Pferdegräber von Judith Oexle „Pferdebestattungen — Opfer oder Beigaben?" 59 zeigt für den nordwestdeutschen Raum eine außerordentlich hohe Zahl von Pferdegräbern, in ihrer gelegentlich separierten Gräberfeldlage und somit häufig fehlenden Zuweismöglichkeit zu Körpergräbern einige Besonderheiten. Im Vergleich der Pferdebeigaben von Bremen-Niederense und Beckum II sieht Oexle eher eine besondere Beigabesitte als einen speziellen Opferritus, allenfalls ist es „möglich, daß in dieser Zone zwischen einheimischer und fränkischer Bevölkerung sich eine hypertroph entwickelte Beigabensitte spiegelt" 60 . Heiko Steuer wies unlängst darauf hin, daß sächsische Adelsgräber, vergleichbar den fränkischen, in dieser Zeit nicht existierten 61 . Sicherlich ist der Friedhof von Beckum II erst nach der Vorlage aller sächsischer Gräberfelder Engriens neu zu bewerten, ich weise aber schon jetzt auf die bisher nur in Vorberichten bekannt gegebenen Gräber von Alach, Kr. Erfurt, hin, die Wolfgang Timpel als „fränkische Adelsgräber" bezeichnete. Zwei mit Spatha, Franziska, Ango, Lanzenspitze und Schild vollgerüstete Männer waren in einem kleinen Gräberfeld beigesetzt. „Riemenzungen und Teile des Pferdezaumzeuges gleichen denen aus dem Fürstengrab von Beckum." Fünf in der Nähe liegende Pferdedoppelgräber waren in einem Halbkreis um die zwei fränkischen Adelsgräber angeordnet. „Damit bietet sich ein ähnliches Bild wie bei dem Grabkomplex von Beckum, mit dem Unterschied, daß die Pferde dort einem, in Alach jedoch zwei Adelsgräbern zuzuweisen sind." 62 So bedeutsam die Entscheidung „sächsisch" oder „fränkisch" für die Struktur der sächsischen Elite 63 und ihre Erkennbarkeit auf Gräberfeldern ist, bleibt doch die N-S-Ausrichtung der Gräber auf vielen jüngeren Gräberfeldern Westfalens kennzeichnend. Sie wurde von G. Wand mit einer Zurückdrängung reichsfränkischer Bestattungskonventionen in einer Zeit stark expandierender sächsischer Volksgruppen erklärt.
57
WINKELMANN
(wie A n m . 4 7 )
S. 2 1 4 .
Das
„Fürstengrab" wurde
unlängst
von
FRANK
SIEGMUND,
Fränkische Funde v o m deutschen Niederrhein und der nördlichen K ö l n e r Bucht, Diss. K ö l n 1989, S. 158 in seine Phase 6 (ebd. S. 1 4 3 Abb. 14) bzw. ca. 5 6 5 - c a . 585 n. Chr. datiert. 58
WAND (wie A n m . 4 9 ) S. 2 6 3 ; j e d o c h a u f S. 2 8 0 die A n g a b e „ S W / N O " (!).
59
JUDITH OEXLE, Merowingerzeitliche Pferdebestattungen — Opfer oder Beigaben?, in: Frühmittelalterliche Studien 18, 1984, S. 1 2 2 - 1 7 2 .
60
OEXLE ( w i e A n m . 5 9 ) S. 1 4 9 f.
61
HEIKO
STEUER,
Adelsgräber
der
Sachsen,
in: CLAUS AHRENS
(Hg.),
Sachsen
und
Angelsachsen
(Veröffentlichungen des Helms-Museums 32) Hamburg 1978, S. 4 7 1 - 4 8 2 . 62
TIMPEL ( w i e A n m . 4 5 ) S. 2 3 9 .
63
Vgl. auch HAYO VIERCK, Ein westfälisches 'Adelsgrab' des 8. Jahrhunderts n. Chr. Zum archäologischen Nachweis der frühkarolingischen und altsächsischen Oberschichten, in: Studien zur Sachsenforschung 2, 1980, S. 4 5 7 - 4 8 8 .
48
Albrecht Jockenhövel
V
Die Landesforschung A l t h e s s e n s , in den letzten Jahrzehnten geprägt von Walter Schlesinger und Fred Schwind, geht davon aus, daß Mittel- und Südhessen seit dem Siege Chlodwigs über die Alamannen und der Beseitigung König Sigiberts zur Francia Rinensis gehören, womit sich die durch schriftliche Quellen dunkle Geschichte Althessens in die des Reimser Teilreiches einfügt. Hier wie im südlichen Westfalen sind wir für den Zeitraum des 6. bis beginnenden 8. Jahrhunderts fast ausschließlich auf die historische Ausdeutung archäologischer Quellen zur Geschichte der gentes ultra Renum angewiesen 64 . Im Zuge des Ausbaues fränkischer Machtbasen im Rhein-Main-Gebiet und in Unterfranken geriet Nordhessen zunächst an den Rand des fränkischen Herrschaftsgebietes. Seine eigenständige Quellenlage ist durch das Fehlen größerer Reihengräberfriedhöfe gekennzeichnet. Dies ist nicht mehr, wie früher angenommen, eine Folge mangelnder denkmalpflegerischer Beobachtungen, sondern offenbar historische Realität 65 . Aus dem 6. Jahrhundert liegt nur ein datierbares Grab vor, nur wenige sind aus dem 7. Jahrhundert bekannt, und dann nicht in der Normierung der Reihengräberzivilisation, sondern mit abweichendem Ritus: beliebt waren Hügelgräber mit Körper- und vor allem Brandbestattungen. H. Roth vermutete in ihnen jene Gruppe, die später in den Bonifatius-Briefen als Hessi erwähnt werden 66 . Zu den bedeutendsten Erfolgen der archäologischen Landesforschung Althessens gehört die Entdeckung fränkischer Großburgen vom Typ Christenberg/Büraberg. Solche Burgen fungierten zunächst im Zuge von Sicherungs- und Abwehrmaßnahmen gegenüber den expansiven Sachsen, dann aber als Stützpunkte in den frühkarolingischen Angriffsoperationen. Das Hessenbistum wurde 741 oder 742 von Bonifatius in oppido, quod nominatur buraburg gestiftet, eine Charakterisierung, die durch die Forschungsgrabungen Norbert Wands bestätigt wurde 67 . Hauptbefestigungswerk war eine zweiperiodige 64
FRED SCHWIND, Zur Geschichte des heute hessischen Raumes im Frühmittelalter, in: HELMUT ROTH —EGON WAMERS (Hgg.), Hessen im Frühmittelalter. Archäologie und Kunst (Austellungskatalog), Frankfurt—Marburg 1984/85, S . 3 4 — 4 6 ; WALTER SCHLESINGER, Zur politischen Geschichte der fränkischen Ostbewegung v o r Karl dem Großen, in: WALTER SCHLESINGER (Hg.), Althessen im Frankenreich (Nationes 2) Sigmaringen 1975, S. 9 —52. — Vgl. auch GEORG HAUPTFELD, Die Gentes im Vorfeld von Ostgoten und Franken im 6. Jahrhundert, in: Die Bayern und ihre Nachbarn, 1, h g . v o n HERWIG WOLFRAM —ANDREAS SCHWARCZ, W i e n 1 9 8 5 , S. 1 2 1 — 1 2 4 .
65
Vgl. die Kartierung durch ULRICH DAHMLOS, Archäologische Funde des 4. bis 9. Jahrhunderts in Hessen (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte 7) Marburg 1979; KLAUS SIPPEL, Die frühmittelalterlichen Grabfunde in Nordhessen (Materialien zur Vor- und Frühgeschichte von Hessen 7) Wiesbaden 1989, S . 4 f . mit Fig. 2; DERS. (wie Anm. 43) S. 135 ff. Abb. 1. — Einen guten Überblick vermitteln auch ROLF GENSEN, Althessens Frühzeit. Frühgeschichtliche Fundstätten und Funde in Nordhessen (Führer hessische Vor- und Frühgeschichte 1) W i e s b a d e n 1 9 7 9 u n d H E L M U T R O T H , H e s s e n i n f r ü h g e s c h i c h t l i c h e r Z e i t , i n : W A L T E R HEINEMEYER
(Hg.), Das Werden Hessens (Veröffentlichungen Historische Kommission Hessens 50) Marburg 1986, S. 8 5 - 1 2 4 . 66
ROTH ( w i e A n m . 6 5 ) S. 1 1 8 .
67
NORBERT WAND, Die Büraburg bei Fritzlar. Burg — „oppidum" — Bischofssitz in karolingischer Zeit (Kasseler Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte 4) Marburg 1974; DERS., Die Büraburg und das Fritzlar-Waberner Becken in der merowingisch-karolingischen Zeit, in: SCHLESINGER (Hg.) (wie Anm. 64) S. 1 7 3 - 2 1 0 .
49
Winter im Jahre 406/407 bis Herbst im Jahre 799
Mörtelmauer, die eine 8 ha große Fläche einschloß. Eine Mauer (Periode I) wurde nach kurzer Zeit von einer etwas stärkeren Mauer (Periode IIa) ersetzt, der in einer jüngeren Phase (Periode IIb) streckenweise eine weitere Mauer vorgeblendet wurde. Eine besonders starke Sicherung der Tore geschah in Periode II. Hinter der Mauer lagen kasemattenartig Pfostenhäuser. Außerhalb der östlichen Ringmauer erstreckte sich eine offene Außensiedlung mit Grubenhäusern gewerblicher Nutzung. Die Büraburg war somit eine zweiteilige Anlage mit räumlich getrennten Funktionsbereichen, nach archäologischer Definition zweifellos ein „urbaner" Zug. Ob die inmitten der Büraburg errichtete, der iroschottischen Heiligen Brigida geweihte Kathedralkirche Althessens noch in die Zeit vor Bonifatius zurückgeht, konnte durch die Grabungen nicht endgültig gesichert werden, dürfte aber zu vermuten sein. Nach dem stratifizierbaren Fundmaterial wurde die Büraburg im späten 7. Jahrhundert besiedelt und zugleich befestigt. Mauer I hatte wohl nur kurzen Bestand und wurde nach Wand um 700 durch Mauer IIa ersetzt. Phase IIb — die Phase der Mauer- und Torverstärkung — fallt in die Zeit zwischen 750 und 780, in die Zeit der Sachseneinfälle. Ab Mitte des 9. Jahrhunderts verfielen die Mauern, jedoch blieb die Siedlung auf dem Berg, ihre allgemeine zentralörtliche Funktion verlor sie aber zugunsten des aufstrebenen Fritzlar. Die absolutchronologischen Ansatzpunkte Wands wurden aus der Keramikanalyse gewonnen. Ausschlaggebend war für ihn das Fehlen fränkischer Knickwandtöpfe des frühen und mittleren 7. Jahrhunderts, dann die Analyse der steilen Wölbwandtöpfe der Perioden I und IIa sowie der hochschultrig-bauchigen Ware der Periode IIb. Sie wurden alle über die — immer noch nicht befriedigend erarbeitete — Keramikchronologie des Rheinlandes datiert: „Wende 7./8. Jahrhundert" für die Perioden I/IIa und „Vermutlich zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts" für die Periode IIb. Entscheidend für die absoluten Daten Wands sind die schriftlich überlieferten Daten, so daß die historisch bezeugten Sachseneinfälle (gab es aber nur diese, nicht noch andere, schriftlich nicht überlieferte?) die Mauerstratigraphien auf der Büraburg datieren. Ganz ohne Schriftquellen muß die Archäologie bei der Erforschung der weiter südlich gelegenen Kesterburg auf dem Christenberg im Burgwald nordwestlich Marburgs auskommen, wenngleich 778 in seiner Nähe, beim Ort Laisa, die Sachsen geschlagen wurden. Rolf Gensen erforschte von 1964 bis 1970 die auf einem Bergsporn gelegene, 4 ha große Burganlage und gab in mehreren Vorberichten knappe Informationen, die bereits eine historische Ausdeutung vermitteln 68 . Der Innenraum der starken Befestigung war dicht besiedelt. Die Menge des geborgenen
68
ROLF
GENSEN,
Frühmittelalterliche
Burgen
und
Siedlungen
in
Nordhessen,
in:
KURT
BÖHNER
(Hg.), Ausgrabungen in Deutschland 1 9 5 0 — 1 9 7 5 (Römisch-Germanisches Zentralmuseum Mainz, Monographien 1,2) Mainz 1975, S. 3 1 3 — 3 1 7 ; DERS., Christenberg, Burgwald und Amöneburger Becken in der Merowinger- und Karolingerzeit, in: SCHLESINGER (Hg.) (wie A n m . 6 4 ) S. 121 — 172; DERS., Der Christenberg bei Münchhausen. Führungsheft zu der frühkeltischen und der karolingischen Kesterburg, Landkreis Marburg-Biedenkopf (Archäologische Denkmäler in Hessen 77) Wiesbaden 1989. — Leider fielen große Teile des Innenbezirkes Herbst 1988 einem Raubbau örtlicher Behörden im Zuge einer Friedhofserweiterung zum Opfer.
50
Albrecht Jockenhövel
Fundmaterials läßt auf Gründung im 7. Jahrhundert, auf Blüte im 8. Jahrhundert und auf Wüstfallen um 800 oder wenig später schließen. Die heutige Dekanatskirche St. Martin geht auf das 11. Jahrhundert zurück, weist jedoch einen Vorgängerbau, ähnlich den Verhältnissen auf dem Büraberg, auf. Damit hat Hessen in der frühmittelalterlichen Burgenforschung dank Rolf Gensen und Norbert Wand einen fast uneinholbaren Vorsprung gegenüber seinen unmittelbaren Nachbarlandschaften Westfalen und Thüringen gewonnen. Aus dem angrenzenden Gebiet W e s t f a l e n s werden in den Schriftquellen sächsische Burgen genannt, die im Vorfeld der eben genannten Großburgen Nordhessens liegen, aber bisher nur unzureichend erforscht sind 69 . Nur bei einigen gelingt es, Befund und Fund mit der historischen Überlieferung provisorisch in Einklang zu bringen. Eine Abfolge sächsisch-fränkischer Belegung vermutete Walter R. Lange bei der Iburg bei Bad Driburg. Sächsische handgemachte Keramik des späten 8. Jahrhunderts wurde bei der Untersuchung der ältesten Toranlage zutage gefördert, zu der ein Stein-Erde-Wall gehört. Die auf seiner Krone aufgesetzte Steinmauer wurde als fränkische Neubefestigung nach der Eroberung der sächsischen Anlage interpretiert, obwohl datierende Funde fehlen 70 . Auf der mächtigen Brunsburg bei Höxter belegen lediglich ein Randscherben und einige fragliche Wandungsscherben nach Hans-Georg Stephan eine sächsische Nutzung der Anlage, zu deren Füßen 775 Karl den Übergang über die Weser erzwang 71 . Von der im Zentrum der schriftlichen Überlieferungen und kriegerischen Auseinandersetzungen stehenden Eresburg bei Marsberg-Obermarsberg waren bis 1979 überhaupt keine Funde bekannt, bis Anton Doms eine mehrphasige Befestigung ergrub, von der die älteren Holz-Erde-Mauern durch Brand zugrunde gingen. Ein datierbarer Zusammenhang mit den sächsisch-fränkischen Kriegen, so verlokkend er ist — hat sie 772 und 776 ihren Besitzer gewechselt, Karl 785 hier überwintert und das Osterfest gefeiert, was zumindest die Existenz einer Kirche voraussetzt —, konnte noch nicht gewonnen werden 72 . In den Reichsannalen nicht erwähnt, aber in den Kreis dieser Burgen dürfte auch der Gaulskopf bei Warburg, Kr. Höxter, gehören; er liegt nur 15 km Luftlinie von der Eresburg entfernt. Im Bereich des karolingischen Steintores wurde ein hölzerner Vorgängerbau des 8. Jahrhunderts aufgedeckt, dicht davor Pfosten und
69
A U G U S T VON O P P E R M A N N — C A R L S C H U C H H A R D T , A t l a s v o r g e s c h i c h t l i c h e r B e f e s t i g u n g e n i n N i e d e r -
sachsen, Hannover 1888 — 1 9 1 6 , S. 5 f f . ; HANSJÜRGEN BRACHMANN, Die sächsisch-fränkischen Auseinandersetzungen im Spiegel des Befestigungsbaues, in: Zeitschrift für Archäologie 19,
1985,
S. 2 1 3 - 2 2 4 . 70
WALTER ROLF LAM.E, Vor- und Frühgeschichte im Weserbergland bei Höxter (Einführung in die Vor- und Frühgeschichte Westfalens 3) Münster 1 9 8 1 , S . 4 3 f .
71
HANS-GEORG STEPHAN, Die Brunsburg. Prähistorische Höhensiedlung — sächsische Volksburg — hochmittelalterliche Corveyer Landesburg, in: Beiträge zur archäologischen Burgenforschung und zur Keramik des Mittelalters in Westfalen 1 (Denkmalpflege und Forschung in Westfalen 2) Münster 1979, S. 1 1 5 - 1 2 2 .
72
ANTON
DOMS
in:
BENDIX
TRIER,
Neujahrsgruß 1980, S. 4 0 - 4 2 .
Westfäl.
Landesmuseum
Vor-
und
Frühgeschichte
Münster,
Winter im Jahre 406/407 bis Herbst im Jahre 799
51
Gräbchenspuren eines noch älteren Holztores, das nach zuweisbarer Keramik (Scherben eines scheibengedrehten Wölbtopfes) nach A. Doms noch dem 7. Jahrhundert zuzurechnen ist 73 . Dieser geringe Befund- und Fundniederschlag ist für Zentren sächsisch-engrischer Herrschaft bemerkenswert, aber auch für die eingeschränkte archäologischhistorische Aussagekraft der Bodendenkmäler im Vergleich zu den Schriftquellen. Es ist offenkundig, daß die sächsischen Burgen einen anderen Charakter hatten als die fränkischen Großburgen vom Typ Christenberg/Büraberg: Sie waren anscheinend niemals ständig besiedelt. Den Abschluß der Unterwerfung der Sachsen und ihrer Eingliederung in das Frankenreich Karls des Großen bildete eine umfassende, flächendeckende Mission 74 . In den fränkischen Kernlanden begann mit der Annahme des katholischen Christentums durch Chlodwig eine nachhaltige Christianisierung. Strittig ist in der Forschung, wie weit sich das Christentum auf dem platten Lande — am Königshofe und in seinem Umfeld dürfte es verbindlich gewesen sein — durchgesetzt hatte und ob man in den Ausbaulandschaften rechts des Rheins entsprechend gläubig war 75 . Man sieht aber aus den vorhandenen Quellen sehr deutlich, daß in der Zone nördlich des Mains und östlich des Rheins kaum Kleinaltertümer als Zeugnisse einer frühen — vorbonifatianischen 76 — Mission des 6. und frühen 7. Jahrhunderts vorliegen. Daraus abzuleiten, das Christentum habe dort nicht bestanden, ist verfrüht, so lange nicht der vergleichbar dichte Forschungsstand wie in den anderen fränkischen Teillandschaften erreicht wird. Offenkundig schwierig war die Durchsetzung des Christentums bei den Sachsen. Folgt man den Schriftquellen, wäre dies erst im Zuge der karolingischen Sachsenkriege erreicht worden, besonders erst nach der Unterwerfung der Sachsen. Hier kann die Archäologie einen eigenständigen Beitrag liefern: Auf mehreren
73
74
ANTON DOMS, Der Gaulskopf bei Warburg-Ossendorf, Kreis Höxter (Frühe Burgen in Westfalen 7) Münster 1986. SIEGFRIED GOLLUB, Zur Frage ältester christlicher Bestattungen in Westfalen. Ein Beitrag zum Problem der frühen Christianisierung, in: Westfälische Forschungen 11, 1958, S. 10—15; KONRAD WEIDEMANN, Die frühe Christianisierung zwischen Scheide und Elbe im Spiegel der Grabsitten des 7. bis 9. Jahrhunderts, in: Neue Ausgrabungen und Forschungen in Niedersachsen 3, 1966, S. 195 — 211; HEINRICH SCHMIDT, Über Christianisierung und gesellschaftliches Verhalten in Sachsen und Friesland, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 49, 1977, S. 1—44; GABRIELE ISENBERG, Die Christianisierung der kontinentalen Sachsen, in: AHRENS (Hg.) (wie Anm. 61) S. 105 — 110.
75
Raschen Überblick ermöglicht WOLFGANG MÜLLER, Archäologische Zeugnisse frühen Christentums zwischen Taunus und Alpenkamm, in: Helvetia archaeologica 17, 1986, S. 3—77. — Zu den Voraussetzungen: KARL HAUCK, Missionsgeschichte in veränderter Sicht. Sakrale Zentren als methodischer Zugang zu den heidnischen und christlichen Amulettbildern der Übergangsepoche von der Antike zum Mittelalter (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XXVII), in: Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein, Sigmaringen 1984, S. 1—34; DERS., Die religionsgeographische Zweiteilung Europas im Spiegel der Bilder seiner Gottheiten, in: F o r n v ä n n e n 8 2 , 1 9 8 7 , S. 1 6 1 - 1 8 3 .
76
HEINZ LÖWE (Hg.), Die Iren und Europa im frühen Mittelalter, Stuttgart 1982. Darin S. 239 —318: MATTHIAS WERNER, Iren und Angelsachsen in Mitteldeutschland. Zur vorbonifatianischen Mission in Hessen und Thüringen.
52
Albrecht Jockenhövel
Fig. 1 Karolingische Reihengräberfriedhöfe Nordwestdeutschlands mit Denar Ludwigs des Frommen (vgl. Nachweis Anm. 79).
sächsischen Friedhöfen, z. B. Ketzendorf bei Hamburg 77 und Halberstadt-Wehrstedt 78 , ist das Drehen der Bestattungsrichtung von S-N, „sächsisch-heidnisch" auf W-O, „sächsisch-christlich" belegt. Dieser Wandel fand — archäologisch abgesichert — in Ketzendorf schon vor den Sachsenkriegen statt. Die sächsischen Friedhöfe, oft an alten vorgeschichtlichen Monumenten wie Megalithgräbern oder mächtigen bronzezeitlichen Hügeln (den tumuli paganorum der 'Capitulatio de Partibus Saxoniae') angelegt, wurden bis in die Zeit Ludwigs des Frommen (814—840) weiter belegt, und zwar im gesamten Gebiet zwischen Rhein und Elbe, wobei der datierende Denar Ludwigs des Frommen mit Kreuz- und RELIGIO XRISTIANAPrägung zumeist als Charonsmünze, Anhänger oder Kopfschmuck verwendet wurde (Fig. I) 79 . Man sieht deutlich, daß die drakonischen Bestimmungen Karls Die Leute von Ketzendorf, in: A H R E N S (Hg.) (wie Anm. 6 1 ) S . 3 2 3 — 3 4 4 . Zur Sachsenfrage im Unstrut-Saale-Gebiet und im Nordharzvorland, in: Studien zur Sachsenforschung 2, 1980, S . 4 2 3 - 4 4 6 , bes. S. 434ff. Nachweise zu Fig. 1: Ketzendorf, Grab 13: A H R E N S (wie Anm. 77) S. 342 Abb. 14; Liebenau, H . 11, Körpergrab A 6 : H A N S - J Ü R G E N H Ä S S L E R , Das sächsische Gräberfeld bei Liebenau, Kr. Nienburg (Weser), in: Studien zur Sachsenforschung 5,1, 1983, S.26 Taf. 4; Minden, Domhügel: Westfal. Museum für Vor- und Frühgeschichte (Hg.), Archäologie in Gefahr, 1979, S. 85—91 (frdl. Hinweis Heide Eilbracht M. A., Münster); Fürstenberg: B E R E N G E R (wie Anm. 50) S. 145; Lembeck, Stadt Dorsten, Kr. Recklinghausen: W I N K E L M A N N (wie Anm. 47) S. 225; Wesel-Bislich: W A L T E R J A N S S E N , Die Sattelbeschläge aus Grab 446 des fränkischen Gräberfeldes von Wesel-Bislich, Kreis Wesel, in: Archäologisches Korrespondenzblatt 11, 1981, S. 149 —169; Drantum, Kr. Cloppenburg: D I E T E R
77
CLAUS AHRENS,
78
BERTHOLD
79
SCHMIDT,
Winter im Jahre 406/407 bis Herbst im Jahre 799
53
des Großen in der 'Capitulatio de Partibus Saxoniae' über die Verlegung der Gräberfelder keine nachhaltige Wirkung hatten, keine „Akzeptanz" im Volke, würde man heute sagen, ja sie selbst sogar von Christen mißachtet wurden 8 0 . Mit der Unterwerfung der Sachsen endete eine vierhundertjährige Auseinandersetzung um die Vorherrschaft im zentralen und nordwestlichen Mitteleuropa zugunsten der Karolinger, die jedoch alle Kräfte mobilisieren mußten. Erst jetzt konnte als direkte Konsequenz das neue Imperium Romanum Karls des Großen entstehen, glanzvoll eingerichtet mit der Weihnachten 800 erfolgten Kaiserkrönung zu Rom. Sie wurde aber schon ein Jahr vorher, im Herbst 799, in der prächtigen Pfalz zu Paderborn mit Papst Leo III. vorbereitet 8 1 . Die erfolgreichen Grabungen Wilhelm Winkelmanns deckten Pfalzreste auf mit einer kirchlichen und weltlichen Ausstattung, darunter einer Nachbildung des Thrones König Salomons, die nach Walter Schlesinger „dem Mediävisten neue Einsichten nicht nur zur Person Karls des Großen [...], sondern in Wesen und Wandlungen des mittelalterlichen Königtums überhaupt eröffnet" 8 2 . Diese Worte würdigen nicht nur die bedeutende Leistung eines westfälischen Archäologen, sondern darüber hinaus den eigenständigen, schöpferischen Beitrag, den die prähistorische Archäologie innerhalb der Geschichtsschreibung bei vorauszusetzendem Verständnis für ihre spezifische Methodik und stets eingeschränkte Quellenüberlieferung zu leisten vermag.
ZOLLER, Die Missionierung des Lerigaues im Spiegel des Gräberfeldes Drantum/Oldenburg, in: V o r c h r i s t l i c h - c h r i s t l i c h e F r ü h g e s c h i c h t e in N i e d e r s a c h s e n , h g . v o n HANS-WALTER KRUMWIEDE ( B e i -
80
81
heft zum Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 64) 1966, S.41—57, bes. S. 43; Woltwiesche, Kr. Peine, Grab 3: Frühgeschichtliche Funde aus dem Braunschweiger Land (Veröffentlichungen des Braunschweiger Landesmuseums 6) Göttingen 1976, S. 61. Vgl. FRIEDRICH LAUX, Nachklingendes heidnisches Brauchtum aus spätsächsischen Reihenfriedhöfen und an Kultstätten der nördlichen Lüneburger Heide in frühchristlicher Zeit, in: Die Kunde N. F. 38, 1987, S. 1 7 9 - 1 9 8 . JOSEPH BROCKMANN (Hg.), Karolus Magnus et Leo Papa. Ein Paderborner Epos vom Jahre 799 (Studien und Quellen westfälischer Geschichte 8) Paderborn 1966; KARL HAUCK, Die Ausbreitung des Glaubens in Sachsen und die Verteidigung der römischen Kirche als konkurrierende Herrscheraufgaben Karls des Großen, in: Frühmittelalterliche Studien 4, 1970, S. 138—172; DERS., Karl als neuer Konstantin. Die archäologischen Entdeckungen in Paderborn in historischer Sicht, in: ebd. 20, 1986,
82
S.513-540.
WALTER SCHLESINGER, Archäologie des Mittelalters in der Sicht des Historikers, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 2, 1974, S . 7 —32, bes. S. 23. — Zum archäologischen Befund vgl. WILHELM WINKELMANN, Est locus insignis, quo Patra et Lippa fluentant, in: Château Gaillard. Études de castellologie médiévale. V. Colloque de Hindsgavl 1970 (1972), S. 203 ff. = Wiederabdruck in: DERS., Beiträge zur Frühgeschichte Westfalens. Gesammelte Aufsätze (Veröffentlichungen der Altertumskommission im Provinzialinstitut für westfälische Landes- und Volksforschung Landschaftsverband Westfalen-Lippe 8) Münster 1984, S. 118 — 128. Von UWE LOBBEDEY, Die Ausgrabungen im Dom zu Paderborn 1979/80 und 1983 (Denkmalpflege und Forschung in Westfalen 11,1) Bonn 1986, S. 147 ff., S. 160 Abb. 10 wird die von Winkelmann in das Jahr 799 datierte Kirche Bischof Badurad zugewiesen und ihre Errichtung mit der Translatio des Hl. Liborius von Le Mans nach Paderborn um 836 in Verbindung gebracht. Dies zieht selbstverständlich eine Umdatierung des „Thrones" nach sich.
MICHAEL J. ENRIGHT
The Goddess Who Weaves Some Iconographic Aspects of Bracteates of the Fiirstenberg Type* Largely due to twenty years of rigorous analysis at the Institut fur Friihmittelalterforschung of the University of Minister, the study of the Scandinavian and continental gold bracteates has now entered an interpretative phase in which it has become increasingly possible to say something significantly new about the religious, social and technological development of northern Europe in the early post-Roman centuries 1 . Valuable as it is for historians, this work also has remarkably important implications for related disciplines in that, among other consequences, one can now more confidently assert the existence of continuity between s o m e aspects of the thoughtworld of the Volkerwanderungszeit and the last relicts of Germanic paganism as contained in Old Norse texts of the High Middle Ages. In light of the results of this research, one must now recognize that a thoroughly unexpected major element has been added to an old debate so that the often neglected but still simmering question of continuity has been effectively reopened and can presently be discussed with a broader range of datable evidence and at a more sophisticated level than has ever previously been possible. Within this newly created context, the critical problem for future research will lie in the identification of those elements which have persisted over centuries and the elimination, together with analysis and explanation, of those which have been abandoned in favor of other options. The range of relevant variables has become increasingly wider over the last generation, however, and the degree of expertise required to adequately discuss them has grown correspondingly greater so that it seems true to say that if bracteate studies have added notably to our knowledge of the early medieval religious mentality then it is also clear that they demand a highly specialized and intense type of scrutiny before their often enigmatic messages can be deceiphered and understood. * I should like to express my gratitude to the trustees of the Earhart Foundation, Ann Arbor, Michigan, for the generous grant which enabled me to pursue research on this topic as well as on other forthcoming work. My sincere thanks also to Karl Hauck whose incisive commentary and criticism greatly improved this paper and to Morten Axboe and Dietrich Hofmann who helped correct remaining errors. Their interest of course, does not necessarily imply agreement with the views expressed here and any errors which remain are entirely my own. 1 See now KARL HAUCK, Zwanzig Jahre Brakteatenforschung in Münster/Westfalen (Zur Ikonologie d e r G o l d b r a k t e a t e n , X L ) , in: F r ü h m i t t e l a l t e r l i c h e S t u d i e n 2 2 , 1 9 8 8 , p. 17 — 52; JOSEF FLECKENSTEIN,
Von den Wurzeln Alteuropas. Die 144. Veranstaltung des Mittelalterkreises anläßlich des 70. Geburtstages von Karl Hauck, in: Frühmittelalterliche Studien 22, 1988, p. 1 — 16; MORTEN AXBOE — KLAUS DÜWEL — K A R L
H A U C K — L U T Z VON P A D B E R G e t a l . , D i e
Goldbrakteaten
der
Völkerwan-
derungszeit. Ikonographischer Katalog ( = I K 1—3), Einleitungsband sowie je 1 Text- und je ein Tafelband (Münstersche Mittelalter-Schriften 24,1,1 ff.) München 1985 ff.
The Goddess Who Weaves
55
The present study seeks to explore one corner of this wider field of investigation by examining the iconography of a small group of continental bracteates whose central figural scheme, derived from Byzantine models, seems consistently recognizable. This group, called the Fiirstenberg type by Mackeprang 2 , has occasionally been discussed in the past but it is perhaps all the more timely to again refocus our attention since it has recently been the subject of controversy 3 . The evidence, based on five bracteate variants, is reviewed below. The reader should be aware, however, that a full analysis of these amulets would require considerably more space than is possible here and hence some relatively minor and for the present purpose inessential details have been omitted from the description. The complete spectrum is covered in volume 2,1 of Hauck's iconographic catalogue 4 . 1. Now present in the Kgl. Mont- og Medaillesamling, Copenhagen, this B-type bracteate (pi. I, 1 a, b) derives from an unknown site in southwest Germany and was originally found sometime before 1855. In frontal depiction appears an enthroned, full-breasted, large headed female figure with skirt, wearing a crownlike hairstyle and Echoform of Byzantine diadem. Two curious cross-like objects of different sizes appear in each hand; they are clearly reminiscent of the crossstaff and globus cruciger held by the Byzantine emperor. The long staff in her right hand is nearly as tall as the seated figure and the bars at each end of the staff are ornamented with smaller bars similar to a cross potent. An object which has been described as a nine-pointed star rests on the inside arm of the lower cross but this star also occurs elsewhere in conjunction with a bearded and helmeted head, as on the Undley bracteate from Suffolk for example (IK 374) 5 . The object held in her left hand is smaller. It resembles either end of the crossstaff on the right but is set in a hemispherical socket so that, were it placed on a horizontal surface, it could stand easily without support. 2. A few years before 1880, in a grave from a Reihengraberfeld near Welschingen, Kreis Konstanz, was found a variant (pi. I, 2 a, b) of the Southwest German type described above. The same female is again portrayed with crownlike hairstyle and diadem although the body is more compressed and she is clearly wearing a tore or ring about her neck. In each raised hand appear two artifacts very similar to those already mentioned except that the finials on the bars are now more conventional. The lower end of the cross-staff is cut off by the
2
3
4
5
MOGENS B. MACKEPRANG, De nordiske Guldbrakteater (Jysk arkaeologisk selskabs skrifter 2) Aarhus 1952, p. 103 and Excursus II; KARL HAUCK, Motivanalyse eines Doppelbrakteaten. Die Träger der goldenen Götterbildamulette und die Traditionsinstanz der fünischen Brakteatenproduktion (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XXXII), in: Frühmittelalterliche Studien 19, 1985, p. 1 3 9 - 1 9 4 , at 150f. and 181 f. DETLEV ELLMERS, Eine byzantinische Mariendarstellung als Vorbild für Goldbrakteaten, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 18, 1971 (1974), p. 233—237; HAUCK (as note 2) p. 150f., 182f.; GISELA CLAUSS, Ein neuer Grabfund mit nordischen Goldbrakteaten aus Wörrstadt, Kr. Alzey-Worms, in: Archäologisches Korrespondenzblatt 8, 1978, p. 133 — 140. IK 2,1 (as note 1) Numbers 350, 389, 311, 259. See also HAUCK (as note 2) p. 181 f. and Tafel XVII which may be more accessible to some than the IK volumes. The amulet from Gudme II could not yet be published there, however, and on this see below at note 6. IK 2,1 (as note 1) Nr. 350 and cf. Nr. 389.
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perimeter of the bracteate. The shorter cross in the left hand is now a bit more elongated and the hemispherical socket is replaced by a different type of branching socket or stand. Two other leaning crosses appear at the margin of the bracteate to the left of the figure and a seven-pointed star is shown nearly touching the lower of these. 3. Variant 3 (pi. I, 3 a, b) was found at Gudme in 1982 on the southeastern part of the island of Fiinen, Denmark. The woman is still shown frontally, now with drawn back hairstyle with reduced Echoform of diadem and greatly enlarged head. The torso below the breasts is exceedingly compressed, as is WelschingenB but even more so, and her legs are cut off just above the knees by the marginal zone of the bracteate. An object is held in each upraised hand but the crossstaff has lost its transverse bar and now looks more like a knob-surmounted sceptre (the lower end is cut off at the margin) while the smaller cross is now doubled in a curious way. Actually, it appears that two crosses are now displayed, one on top of the other and each touching or connected to the other. The lower cross has oval but pointed finials while the upper, which apparently rests upon it, now has knobs on each leg. Neither fingers or fists are shown here so that the overall impression is that of a strange hybrid of Southwest Germany-B and Welschingen-B. The craftsman may have seen both of these models for Southwest Germany-B also depicts a knobbed cross just to the inner side of the hemispherical socket while Welschingen-B shows two floating crosses on the figure's left side, one to the right and slightly above the 'branched stand' and another immediately underneath the woman's left elbow, although it should be noted that the Welschingen crosses lack rounded finials so that it seems more probable that the key relationship is with the Southwest Germany example. Interestingly, the female figure now appears to wear a bracteate under her chin rather than a ring. This variant may be particularly significant because of its provenance. It is the only one of its kind found outside the confines of the continent. It still may have been produced at the site but Morten Axboe has recently offered good grounds for concluding instead that it is an import from central Europe 6 . The foregoing variants from Southwest Germany, Welschingen and Gudme all represent a closely allied and related formulaic scheme in which throne, imperiallike emblems and diadem-like headgear combine to indicate with rather considerable certainty that we are dealing with an identical female figure in all three cases. The richness of particularized affinity is impressive and indicates that this is the crucial group upon which attempts at explanation must concentrate. The remaining models to be discussed below, on the other hand, may well belong to a different category for which alternate or additional concepts must be adduced since, among other reasons, the characteristic hand-held objects are now lacking from the iconographic scheme. Enough elements persist, however, to suggest some kind of as yet incomple-
6
MORTEN AXBOE, Die Brakteaten von G u d m e II, in: Frühmittelalterliche Studien 2 1 , 1987, p. 76 — 81 a n d Tafel X I I I ,
XIV.
The Goddess Who Weaves
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tely comprehended relationship although the precise nature of the underlying connective strands remain uncertain. This circumstance reminds one again of the dynamic nature of bracteate studies in which new finds are fairly common so that frequent modification and revisions of earlier conclusions are an inescapable aspect of scholarly effort in the field. With these caveats in mind, we may extend our list: 4. Until 1945, three examples existed of the model from Großfahner (pi. I, 4), Kr. Erfurt, DDR. The enthroned female figure still seems recognizable down to hairstyle and diadem but her hands are now empty and are raised instead in a somewhat heraldic type of signal for epiphany 63 . The crosses from the former group are not entirely absent from Großfahner-B, however, for they appear floating without staffs to the woman's lower right, i. e. on the side on which the long staff would normally have been held. 5. The variant from Oberwerschen (pi. I, 5), Kr. Hohenmölsen, DDR. shows the most native independence of the Fürstenberg series. The woman's large head is more markedly triangular than elsewhere and she is shown standing. Her coiffure is of a zig-zag drawn back style without Echoform of diadem. Both hands are again raised — the right with open hand while the left now holds an object generally regarded as a weaving spindle although it is not impossible that it is a weaving sword. Two crosses also appear but now in degenerate form at her lower left and looking more like starfish than anything else. Most or all of these bracteates probably belong to the sixth century. Those from Oberwerschen and Großfahner, for example, have been dated by Berthold Schmidt to about mid-century on the basis of accompanying grave goods and the nature of other graves in the same cemeteries 7 . Nor is there much doubt about the craftsmen's original source of inspiration for all scholars who have studied the material unanimously point to East Rome or Byzantium, a view fully confirmed by the attempts of the illiterate bracteate craftsmen to imitate Roman capitals on the variants from Welschingen and Southwest Germany. There remain some highly important differences in iconographic interpretation, however, and the basic problem, unsurprisingly, continues to lie in this area. In 1935, in the first major step towards an overall interpretation, Joachim Werner compared the models from Welschingen and Großfahner with a solidus of Justinian I from an Alemannic row-grave cemetery 8 . He regarded the bracteate
6A
7
KARL GROSS, Menschenhand und Gotteshand in Antike und Christentum, Stuttgart 1985, S. 19 ff.; KARL HAUCK, Frühmittelalterliche Bildüberlieferung und der organisierte Kult, in: Der historische Horizont der Götterbildamulette aus der Übergangsepoche von der Spätantike zum Frühmittelalter, ed. by KARL HAUCK (Abhandlungen der Philologisch-Historischen Klasse der Göttinger Akademie der Wissenschaften) Göttingen 1990, nach Anm. 214. BERTHOLD SCHMIDT, Neue Reihengräberfelder im Saalegebiet, in: Ausgrabungen und Funde 1, 1956, p. 228 — 230; IDEM, Opferplatz und Gräberfeld des 6. Jahrhunderts bei Oberwerschen, Kreis Hohenmölsen, in: Jahresschrift für Mitteldeutsche Vorgeschichte 50, 1966, p. 275—286; IDEM, Die späte Völkerwanderungszeit in Mitteldeutschland. Katalog Südteil (Veröffentlichungen des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle 25) Berlin 1970, p. 16 f.; ELLMERS (as note 3) p. 234; CLAUSS (as n o t e 3 ) p. 1 3 5 .
8
JOACHIM WERNER, Germanische Schmuckbrakteaten der Völkerwanderungszeit aus Südwestdeutschland, in: Blätter für Münzfreunde 70, 1935, p. 1 8 9 - 1 9 5 .
58
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figure as a "stilisierte Männergestalt" and identified the objects held with the imperial globus cruciger and with the staff of the goddess Victoria on the reverse of the coin. As Gudrun Sommer pointed out in 1968, however, the figure's large breasts and narrow shoulders show her to be a woman 9 . An interpretation from a different angle was offered by Detlev Elimers in 197410. The key piece of evidence in this case is a Byzantine disc brooch of unknown provenance dating probably to the 6/7th century, now in the possession of the Römisch-Germanisches Zentralmuseum Mainz. On the disc is stamped a scene depicting Mary, the Mother of God, being visited by an angel bearing a long cross-staff. Mary is shown frontally, seated on a chair not dissimilar to that of the bracteate female. From her right hand dangles a spindle and her left is raised high in the blessing gesture. Similar scenes are not rare in Byzantine art. On contemporary ivory work, Mary is occasionally depicted with distaff held in her left hand and spindle in her right 11 . As Ellmers notes, the basis for this theme is the protoevangelium of James according to which a priest chose seven virgins of the tribe of David to weave a new curtain for the temple. It was during her spinning that the angel Gabriel appeared to her with the greeting 'Hail M a r y . . . ' (Luke 1,28). Guided by this apparently relevant context, Ellmers went on to compare Mary to the bracteate female drawing particular attention to the spindle attribute of Oberwerschen-B, the Byzantine style diadem, the raised hand, etc. As did Werner, he identifies the short cross on the bracteates from Southwest Germany and Welschingen with the globus cruciger but he associates the long cross-staff with that carried by the angel. In his view, another imperial tradition may also have been present for the victorious emperor is occasionally represented carrying a crossstaff on Byzantine coins and so too the goddess Victoria. The empress is also shown carrying a cross-staff on at least one piece of sixth century ivory work from Ravenna 12 . From this evidence Ellmers concludes: "Es ist also auf den beiden süddeutschen Brakteaten entweder eine christliche Kaiserin oder, was angesichts des Brakteaten von Oberwerschen noch wahrscheinlicher ist, Maria als Herrscherin dargestellt." 13 This means that the amulets under discussion here can be described as "Christian" bracteates "in den Dienst Christi gestellt" and as "substitutes" for pagan amulets and concepts. To this interpretation of Christian substitution based on the figure of Mary, Karl Hauck took exception in an article which appeared in 1985 14 . In his view, the spindle attribute and weaving context alone are not sufficient to prove copying and substitution. Most other bracteates demonstrate a highly divergent process of adaptation based on themes of Germanic religion and not one based on a copying 9
GUDRUN SOMMER, Bilddarstellungen des I. Jahrtausends aus Mitteldeutschland (Wissenschaftliche Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1968/3 [L3]) Halle/Saale 1968, p. 58 f.
10
ELLMERS (as n o t e 3).
11
WOLFGANG FRITZ VOLBACH, Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittelalters. Katalog (Römisch-Germanisches Zentralmuseum zu Mainz 7) Mainz 3 1976, Nr. 174, 184; ELLMERS (as note 3) p. 233.
12
VOLBACH (as n o t e 1 1 ) N r .
13
ELLMERS (as n o t e 3) p. 2 3 6 ,
143.
14
H A U C K (as n o t e 2 ) .
237.
The Goddess Who Weaves
59
of those of the Mediterranean. In the North, the act of weaving is often connected with prophecy and it can hardly be accidental that Woden/Odin, the god most intimately connected both with prediction and the bracteates should also be linked in a variety of ways to a prophetess, as in a number of strophes of Volospa15. Nor should one overlook the fact that his wife Frigg, first described as such in the eighth century, is also recognized in Snorri's 'Edda' as the mother-like protectress of life while Swedish folklore describes the constellation of Orion as 'distaff or spindle of Frigg' 1 6 . Frigg and Freyja are closely related, sometimes thought of as nearly identical, goddesses and it is worth adding that Freyja was also called HQrn at certain times and places. Turville-Petre's remarks in this regard may be cited: "This name [HQrn] is frequently used by skalds in kennings for 'woman', and it is commonly related to the O N hqrr and Swedish dialect hor, meaning 'flax, linen'. This implies that Horn was a goddess of flax and her cult appears, on the evidence of place-names, to be old and locally restricted. Forms such as Hdrnevi, probably corresponding to an O N *Hqrnarve (Temple of Horn) are recorded several times in Swedish Uppland, while Jarnevi, said to be of the same origin, is found in Ostergotland. Some have seen the name of Horn in Danish place-names, but the examples given are questionable." 162 Links with flax, distaff or spindle — with weaving in other words — appear to be the most significant common denominator. One might also recall that the Germanic prophetess normally carries a staff as emblem of her status and thus the conclusion becomes clearer — parallel development of related themes rather than substitution. The age of syncretism, Hauck avers, had not yet reached the North and no Christian significance, or at least no certain aspect of such significance, can as yet be assigned to these bracteates of the Fiirstenberg type. As Hauck has noted, however, the problem of syncretism in the transitional phase from the fourth to eighth centuries is an exceedingly complex one in which the possibility of a mixture of beliefs and practices may often be less important than the existence of various strata each underlying the other and operating more or less independently depending upon time, place, event, and the culture of the receiving group. This phenomenon may well be the decisive one in the present case and thus the entire question must be approached very cautiously so that room is allowed for a variety of possibilities — for cultural contact without conscious borrowing for example, for borrowing by indirect means without clear understanding, and so on through a series of levels of affinity and/or rejection over time. In supporting his view, Hauck adds further observations of which the following seem particularly telling: first, the object held by the bracteate goddess (it now seems appropriate to name her as such since all figures on the bracteates seem to be of divine origin) in her right hand can not properly be described as a Kreuzstab for a cross-bar appears on both ends 17 . Such is impossible to square with Byzantine (as note 2) p. 155 f. (as note 2) p. 154.
15
HAUCK
16
HAUCK
16A
G A B R I E L T U R V I L L E - P E T R E , Myth and Religion of the North, London 1 9 6 4 , p. 1 7 8 ; J A N D E V R I E S , Altgermanische Religionsgeschichte (Grundriss der germanischen Philologie 1 2 ) Berlin 2 1 9 5 7 , 2 , p. 331. Karl Hauck kindly called this point to my attention. H A U C K (as note 2) p. 152.
17
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representations for the placement of the Christian symbol upside down and on the ground would surely be viewed as sacrilege or mockery and this is difficult to imagine even for those in an early stage of religious contact or syncretism. Consequently, the bracteate staff probably represents something else, perhaps a type of sceptre like that on Gudme-B. Indeed, Gudme-B would actually seem to support the view that the Germans interpreted the cross-staff less as Christian religious symbol than as a cruciform sceptre, i. e. as an emblem of sacral power more than one of religious committment or devotion. Second, a bewildering variety of cross-like objects appear on bracteates and are sometimes held by bracteate figures in purely pagan sacrificial scenes — on the Fakse-B bracteate from Seeland, for example, in which one figure holds a strange looking object resembling a partriarchal cross hanging from one hand and an upside down spear with crossbar in the other while a second figure, already wounded for sacrifice, holds a Tshaped cross from which dangle two small round pendants 18 . Variants and permutations of such symbols would provide the best explanation for the short 'cross' held by the bracteate goddess. More indirectly noted but not inconsequential is the incongruity of the goddess/Mary comparison itself since it is true to say that the big headed, almond eyed, large breasted female shows strong native characteristics which make for a very unusual type of the Christian Mother of God. Against the background of this brief sketch of the Forschungsstand to date it seems undeniable that the interested observer would find it difficult to choose between the two current alternative views. The basic problem, in the present writer's opinion, is the lack of a more secure identification of the objects held by the goddess together with the need to more plausibly connect them with a single supernatural female. A solution here would understandably provide a fuller and more symmetrical interpretation of the theme. Indeed, such an explanation may be at hand since it seems possible to argue that both artifacts held by the goddess are actually weaving implements. An approach based on this hypothesis would seem to be eminently justified by Oberwerschen-B which shows the goddess holding a spindle since this attribute confirms an intimate connection with weaving and is thus the most solid clue available. One may begin by examining the evidence for the object held in the left hand of the goddess which Ellmers calls "einen Reichsapfel mit Kreuz" and Hauck refers to as a "Handkreuz" or "Handkreuz in einer Nachfolgeform von Globus mit Kreuz" 19 . While the object does naturally resemble the royal and imperial insignia, and thus may accurately be characterized as a Herrschaftszeichen, it is emphatically not the round Reichsapfel which is depicted but rather a hemisphere. Similarly, although it might also be thought that the half-globe is interpretable as a fist holding a cross, such is also improbable since the object's spherical curve with flat base is too sharply evident on Southwest Germany-B. This is not the case with Welschingen-B where one might as reasonably argue for splayed fingers holding a 18
HAUCK (as n o t e 2 ) p. 1 5 2 f. S e e a l s o K A R L HAUCK, D i e W i e d e r g a b e v o n G ö t t e r s y m b o l e n
und
Sinnzeichen der A-, B- und C-Brakteaten auf D- und F-Brakteaten exemplarisch erhellt mit Speer und Kreuz, in: Frühmittelalterliche Studien 20, 1986, p. 474—592. 19
ELLMERS (as n o t e 3 ) p. 2 3 5 ; HAUCK (as n o t e 2 ) p . 1 8 3 ; I K 2 , 1 (as n o t e 1 ) N r . 3 8 9 .
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61
Fig. 1 Drawing by J o h n Tilley after photo of reconstructed Oseberg swift, in: HOFFMANN (as note 21) p. 295.
cross as one might for a 'branched stand' as I have described it above, but, in any case, the latter bracteate portrayal can not be the crucial one for an interpretation. As Hauck remarked of the Southwest Germany variant, it depicts the relevant motif "feiner und vollständiger als alle anderen Exemplare und wird dadurch zum eigentlichen Schlüsselstück" 20 . An early medieval weaving appliance does exist which closely fits present requirements for an identification. It is known as a "swift", related to the skeinwinding reel, and one appears to be mentioned in the late OE text Gerefa where it is called a gearnwindan. In more modern times, in Iceland, the Faeroes and other northern countries, it is called garnvinda2X. One of these tools was also found in the famous Oseberg ship from a mound in the Vestfold district of Norway (Fig. I) 22 . The burial was that of a high-status younger woman (possibly a queen) accompanied by an elderly woman who may have been a bondmaid. Included in the exceptionally rich find were no less than four looms, a variety of other weaving utensils and the
20
H A U C K (as n o t e 2 ) p . 1 5 1 f.
21
MARTA HOFFMANN, The Warp-Weighted Loom. Studies in the History and Technology of an Ancient Instrument (Studia Norwegica 14) K r a g e r o 1964, p. 288—295; DAVID M . WILSON, Crafts and Industry, in: The Archaeology of Anglo-Saxon England, ed. by DAVID M. WILSON, London 1 9 7 6 , p. 2 5 3 — 2 8 2 , at 2 7 3 . O n r e l a t e d t y p e s o f t o o l s , see CHARLES H . LIVINGSTON,
Skein-Winding
Reels. Studies in Word History and Etymology, A n n A r b o r 1956. 22
HOFFMANN
(as
note
21);
THORLEIF
Wikingerschiffsfunde, Oslo 1958, p. 1 1 - 5 6 .
SJ0VOLD,
Der
Oseberg-Fund
und
die
anderen
62
Michael J. Enright
remains of a large number of very finely decorated tapestries 23 . Since swifts were made of wood and thus unlikely to survive at most archaeological sites (even the Oseberg example had to be reconstructed), very few are known outside of modern times although all indications are that they were in common use among Germanic and Slavic peoples of the Early Middle Ages 24 . A swift stands on a base through which a hole is bored to hold a rod or post. To the top of the post are attached four arms which rotate horizontally. Each of the four arms has several holes for pegs along its length so that skeins of varying sizes can be placed on it for winding into balls of yarn 25 . From a side view, the Oseberg swift resembles a T-shaped cross with extra bars, the pegs, near the ends; from the angular overhead point of view of a seated person working with it, however, it would look much like a cross with one of the four arms in a base. The base of course may be of any shape but a hemisphere makes an attractive option for a craftsman since, once a round ball is turned on a lathe, it may be sawed in half and each half can become a separate base for a separate swift. This tool need not always be placed in a stand however. As an illustration of the Oseberg swift by Ole Klindt-Jensen shows, a small portion at the end of the central rod was turned to a smaller diameter 26 . It could easily be removed and held in the hand for convenience during some winding operations. Perhaps this explains the possible lack of a base on Welschingen-B if one chooses to regard the branching stand as splayed fingers. A further point is also noteworthy. While the Oseberg swift is most appropriate for comparison in the present context, one should not fail to mention that other types of swifts were probably in use as well. We know from later medieval illustrations that a swift could also be two tiered, i. e. with two sets of horizontally rotating crossbars, one above the other. The object in the right hand of the goddess is also explainable within the weaving context established by Oberwerschen-B. Unlike winding reels, however, this is a much longer artifact and, from the way it is depicted on Southwest Germany-B and Welschingen-B, one might guess it to have measured about one to two meters in length. I suggest that it most nearly resembles a weaver's beam, the long cylindrical shaft at the top of the warp-weighted loom from which hangs the warp of wool or flax to be woven into cloth or tapestry. The upright loom was very widely known in Europe of the Iron Age and Early Middle Ages until about the twelfth century when it was largely replaced by the horizontal loom 27 .
23
SOFIE K R A F F T , T a p i s s e r i e s d u t e m p s d e s V i k i n g s , O s l o 1 9 5 6 ; A N N E STINE INGSTAD, T h e F u n c t i o n a l
Textiles f r o m the Oseberg Ship, in: Textilsymposium Neumünster. Archäologische Textilfunde 6.5.— 8.5. 1 9 8 1 , N e u m ü n s t e r 1 9 8 2 , p. 24
85-96.
HOFFMANN ( a s n o t e 2 1 ) p . 2 9 3 f .
25
HOFFMANN (as n o t e 2 1 ) p . 2 9 3 f .
26
OLE KLINDT-JENSEN, The World of the Vikings, Washington—New York 1970, p. 149. For illustrations of some late medieval swift types, see the often published painting f r o m Giovanni Boccaccio, Des cleres et nobles femmes, Spencer Collection MS. 33, f. 56r., New York Public Library. This swift of circa 1 4 7 0 may be compared with another f r o m the fourteenth century shown i n HOFFMANN ( a s n o t e 2 1 ) p . 2 7 3 .
27
The most useful study is HOFFMANN (as note 21); but see also AUDREY S. HENSHALL, Textiles and Weaving Appliances in Prehistoric Britain, in: Proceedings of the Prehistory Society 16, 1950, p. 130—162;
K A R L SCHLABOW, T e x t i l f u n d e d e r E i s e n z e i t i n N o r d d e u t s c h l a n d , N e u m ü n s t e r
1976,
p.
The Goddess W h o Weaves
63
As with many wooden tools, no good examples survive from an early period so that Marta Hoffmann, in her very helpful monograph on the subject, was forced to rely on illustrations from Greek vases and continental manuscripts along with mostly nineteenth century examples and the examination of some looms still in use in a few parts of Norway and Lappland 28 . But the basic design, even details of the design, have hardly varied over many centuries since the same simple frame — a long shaft, the weaver's beam, attached near the top of two poles — answered most needs and could be fairly easily built with common tools. The length of these upright looms varied greatly from about a meter for smaller work to the (probably) four meter length recently discussed by W. Haio Zimmermann, or even to a difficult to imagine theoretical length of over nine meters 29 . In nineteenth and twentieth century examples, a height and beam length of circa 220 cm seems fairly common 30 . Post holes for these looms are frequently found in the sunken huts (Grubenhauser) of the migration period and Pliny already mentions in his 'Natural History' that Germanic women work in underground huts 31 . Such workplaces were ideal for the task since the cool and humid atmosphere helped prevent tearing of the threads which seems to have been a serious danger with flax although less so for wool 32 . A great number of loom weights are usually necessary in order to maintain tension on the warp threads and the work on the four meter loom mentioned above seems to have required about 77 of these 33 . Many more will have been needed in other cases since large finds are not uncommon in single huts as, for example, in several Grubenhauser at the migration period settlements of Mucking and West Stow where up to 140 were discovered 34 . Such weights were typically of varying heaviness. Zimmermann characterizes those from three sunken huts from Dalem and Midlum-Northum, Kr. Cuxhaven, as light ( 2 5 0 - 4 2 0 g), medium ( 4 4 0 - 8 2 0 g) and heavy ( 8 0 0 - 1 1 6 0 g) 35 . The warp threads and loom weights were attached to the weaver's beam which generally had a hole bored through near at least one end in order to accomodate a rod needed for the delicate task of increasing tension, revolving the beam to raise the work or preventing the beam from turning because of the weights. In other words, if the weaver's beam were to be stood vertically it would exactly resemble a cross-staff. Given the height of the loom, the weight of the loom weights, the delicacy of the adjustments necessary and the fact that a loosened rod might occasionally slip through the 'eye' of the beam, it also seems reasonable to suppose
40—47; WOLFGANG LA BAUME, Die Entwicklung des Textilhandwerks in Alteuropa, Bonn 1955. Schlabow's w o r k is particularly useful for its illustrations of spindles, looms, distaffs etc. 28
HOFFMANN (as n o t e 2 1 ) p . 5 — 1 6 .
29
W. HAIO ZIMMERMANN, Archäologische Befunde frühmittelalterlicher Webhäuser. Ein Beitrag zum Gewichtswebstuhl, in: Textilsymposium Neumünster (as note 23) p. 1 0 9 — 134, at 1 1 2 f . , 121.
30
HOFFMANN (as note 21) p. 2 3 - 6 2 .
31
JEAN CHAPELOT—ROBERT FOSSIER, The Village and House in the Middle Ages, Berkeley 2 1985, p.
32
ZIMMERMANN (as n o t e 2 9 ) p. 1 1 6 .
33
ZIMMERMANN (as n o t e 2 9 ) p. 1 1 3 .
34
ZIMMERMANN (as n o t e 2 9 ) p . 1 1 7 ; HOFFMANN (as n o t e 2 1 ) p. 3 1 2 f.
35
ZIMMERMANN (as n o t e 2 9 ) p. 1 1 5 .
87 f., 1 1 9 f.
64
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that the rod was sometimes equipped with knobs or finials to aid the worker. An extra peg might also be added to the beam near the rod on order to steady the beam when raising heavy work. Such was the case on one Icelandic loom reconstructed before 191436. It is also logical to expect that, on longer looms at least, a rod would have been inserted through the beam near each end. There are two reasons for this: one might then conveniently work on either end if a smaller piece of cloth were to be woven or, with large work and many loom weights, two hands working cooperatively at each end would reduce the risk of tearing and accident. In the illustration of the Icelandic loom provided by Hoffmann, what seems to be a drilled hole can just be made out near the rodless end and it would appear to serve no other purpose than that mentioned 37 . The result, then, on the hypothesis that a very long and heavily weighted weaver's beam would require or be equipped with rods near each end, is a staff with two cross bars. Because of their size, these versions may have been conceived as more appropriate to the status and majesty of a goddess powerful enough to appear on bracteates. Following the reasoning above, one may suggest that the longer staff held by the goddess, which can not have been a Christian cross-staff, may well have been a weaver's beam. Since Oberwerschen-B demonstrates that a spindle was one of her attributes and since the other object held may also be identifiable as an early medieval weaving implement, one is presented with a coherent overall explanation which makes good sense both in terms of iconography as well as the contemporary religious and technological context. The amulets examined here certainly owe much to imperial Byzantine portraits and it thus seems clear that the objects held by the goddess must be regarded as Herrschaftszeichen as well as symbols of decided religious importance. Further supportive clues for the present interpretation may now be presented on the basis of find-provenance and the cultic significance of weaving. With regard to the former, it is important to note that the Fiirstenberg series is a small one and it is thus extraordinary that two examples can be associated with pagan cult sites. The Oberwerschen bracteate was found under the chin of a mature woman whose grave was located near a circular trench which, according to Schmidt who compared it to a number of similar Scandinavian sites, served a "cultic purpose" 38 . His view is strengthened by the presence of three pits containing the bones of slaughtered horses near the center of the cemetery 39 . That the Gudme II amulet is also to be linked with a cult center, apparently a major one which played a significant role in a late Iron Age and migration period sacral kingship, is abundantly demonstrated by the remarkable concentration of cultic place names in this small part of an island milieu 40 . Gudme itself means 'home of the gods', and within a few kilometers are
36
HOFFMANN (as n o t e 2 1 ) p .
37
H O F F M A N N (as n o t e 2 1 ) p . 1 2 1 .
38
SCHMIDT, Opferplatz (as note 7) p. 279 f.; IDEM, Völkerwanderungszeit (as note 7) p. 17.
39
SCHMIDT, Opferplatz (as note 7) p. 281.
40
121.
On the nature of the G u d m e site, see HENRIK THRANE, Das Gudme-Problem und die G u d m e Untersuchung. Fragen der Besiedlung in der Völkerwanderungs- und der Merowingerzeit auf Fünen, in: F r ü h m i t t e l a l t e r l i c h e S t u d i e n 2 1 , 1 9 8 7 , p . 1 — 4 8 ; AXBOE (as n o t e 6); K A R L H A U C K , G u d m e i n d e r
Sicht der Brakteatenforschung (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, X X X V I ) , in: Frühmittelalterli-
The Goddess W h o Weaves
65
to be found Gudbjerg, 'hill of the Gods', Galbjerg, 'sacrificial hill', and Albjerg, 'temple hill' 41 . The grave goods from Oberwerschen are further notable in that they demonstrate a strong interest in weaving: a spindle weight was found above the woman's head, a silver needle to the right of her head, a goddess-with-spindle bracteate under her chin and elsewhere in her grave a scissors and knife 42 . The presence of two bronze keys suggests that she was, at least, of established free status and so perhaps does the bracteate around her neck for the Gudme II goddess seems to wear the same 43 . This woman may have been a priestess or prophetess which would accord well with Hauck's argument that "die Gotterbildamulette bevorzugt von Frauen in Seherinnenfunktion getragen worden sind" 44 . One may compare the Oberwerschen remains with those of the woman's grave from GroBfahner containing three identical Fiirstenberg type bracteates and a weaving sword 4 5 . This tool, commonly used to separate threads on the loom and raise the woof, was at least sometimes regarded as a female status symbol by Germanic peoples like the Lombards and Bavarians especially during the sixth century 46 . To the cult and status aspects, therefore, must also be reckoned the fact that two of our bracteate series are contextually related to weaving. The surprising coherence and context of the clues adduced suggest the need for a few brief remarks on the cultic significance of weaving and weaving implements. Throughout the Indo-European world, from the Fates of Greek religion to the norns and valkyries of the North, weaving has nearly always been related to prophecy, destiny and warfare. Linkage with the latter is especially frequent. In che Studien 21, 1987, p. 147 — 181; IDEM, Macht und Meer im völkerwanderungszeitlichen Ostseeraum, erhellt mit Schiffsresten, Goldhorten und Bildzeugnissen (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XLIII), in: Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Bosl zum 80. Geburtstag, ed. b y FERDINAND SEIBT, M ü n c h e n 1 9 8 8 , p. 139 — 156, at 1 4 8 f.; IDEM, E i n K ö n i g s n a m e in e i n e r
Brakteateninschrift (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten XLI), in: Historia Mediaevalis. Festschrift für Franz-Josef Schmale zum 65. Geburtstag, Darmstadt 1988, p. 38 — 59. 41
42 43
J O H N K O U S G A R D SORENSEN, G u d h e m , i n : F r ü h m i t t e l a l t e r l i c h e S t u d i e n 1 9 , 1 9 8 5 , p . 1 3 1 — 1 3 8 ; AXBOE
(as note 6); THRANE (as note 40) p. 39 f. SCHMIDT, Völkerwanderungszeit (as note 7). BIRGIT DÜBNER-MANTHEY, Kleingeräte am Gürtelgehänge als Bestandteil eines charakteristischen Elementes der weiblichen Tracht. Archäologische Untersuchungen zu einigen Lebensbereichen und Mentalitäten der Frauen in Spätantike und Frühmittelalter, in: Frauen in der Geschichte 7, ed. by W E R N E R A F F E L D T — ANNETTE K U H N , D ü s s e l d o r f 1 9 8 6 , p . 8 8 — 1 2 5 , a t 1 0 5 f . ; H A Y O V I E R C K , R e l i g i o n ,
Rang und Herrschaft im Spiegel der Tracht, in: Sachsen und Angelsachsen. Ausstellung des Helms-Museums 18. November 1978 bis 28. Februar 1979. Hamburgisches Museum für Vor- und F r ü h g e s c h i c h t e , e d . b y CLAUS AHRENS, H a m b u r g
1979, p.
271—283.
44
HAUCK (as n o t e 2 ) p . 1 5 7 .
45
IK 2,1 (as note 1) Nr. 259. Also the Thuringians and the Anglo-Saxons during the same period. See MAX MARTIN, Das fränkische Gräberfeld von Basel-Bernerring (Basler Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte 1) Basel 1976, p. 91 f.; JOACHIM WERNER, Die Langobarden in Pannonien. Beiträge zur Kenntnis der langobardischen Bodenfunde vor 568 (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. 55A) München 1962, p. 34 f., 164 f.; WILFRIED MENGHIN, Die Langobarden. Archäologie und Geschichte, Stuttgart 1985, p. 72 f.; FRITZ MOOSLEITNER, Handwerk und Handel, in: Die Bajuwaren von Severin bis Tassilo 488—788. Gemeinsame Landesausstellung des Freistaates Bayern und des Landes Salzburg. Rosenheim/Bayern, Mattsee/Salzburg. 19. Mai bis 6. November 1988, ed.
46
b y HERMANN DANNHEIMER —HEINZ DOPSCH, K o r n e u b u r g 1 9 8 8 , p . 2 0 8 — 2 1 9 , a t 2 1 6 .
66
Michael J. Enright
old English poetry, for example, weaving metaphors could be applied both to war and its cessation. OE wigspeda gewiofu (Beowulf 1. 697) means 'web of battle luck' and a woman who cools the ardor of warriors in the hall or who is married off to create an alliance is called a freoduwebbe, 'peace-weaver' 47 . A further parallel is found in ON sigrvefr, 'web of battle', which occurs in the second strophe of Darradarljod, an earlier poem which appears with prose commentary in 'Njals saga'. An episode from this text is particularly worth citing because it so clearly demonstrates the magical association of the entire weaving loom. It concerns the famous Battle of Clontarf, fought between Scandinavians and Irish, in 1014: 'On the morning of Good Friday, it happened in Caithness that a man called Dorrud went outside and saw twelve riders approach a woman's bower and disappear inside ... he could see women with a loom set up before them. Men's heads were used in place of weights, and men's intestines for the weft and warp; a sword served as the beater, and the shuttle was an arrow. And these were the verses they were chanting: 1. Blood rains From the cloudy web On the broad loom Of slaughter The web of man, Grey as armour, Is now being woven; The Valkyries Will cross it With a crimson weft. 2. The warp is made of human entrails; Human heads Are used as weights; The heddle-rods Are blood-wet spears; The shafts are iron-bound, And arrows are the shuttles. With swords we will weave. This web of battle.' Other verses follow with frequent references to destiny and the 'web of war': 'Then they [the valkyries] tore the woven cloth from the loom and ripped it to pieces, each keeping the shred she held in her hands.' 48 Of all the warlike weaving references, however, the one which may be most relevant to the bracteate iconography occurs not in Germanic literature but in Celtic — in the Old Irish epic Tain Bo Cuailnge, 'The Cattle-Raid of Cooley', where
47
MICHAEL JOHN ENRIGHT, Lady with a Mead-Cup: Ritual, G r o u p Cohesion and Hierarchy in the
48
N j a l ' s S a g a , t r a n s , b y MAGNUS MAGNUSSON —HERMANN PALSSON, H a r m o n d s w o r t h 1 9 6 0 , p. 3 4 9 f.
Germanic Warband, in: Fruhmittelalterliche Studien 22, 1988, p. 1 7 0 - 2 0 3 , at 1 8 9 f .
The Goddess Who Weaves
67
the idea of f r i ferga f i g e , the 'weaving of strife' is hardly alien 49 . The language of Recension I of this text belongs mainly to the tenth century but contains some poetic passages which may be as much as four centuries earlier. The passage in question refers to a gathering for battle and prophecy of great bloodshed proclaimed by Feidelm, a seeress in the service of Queen Medb, a euhemerized goddess. Feidelm is described as possessing imbas forosna, the 'knowledge which illuminates'. She has 'three pupils in each of her eyes' and 'in her hand she carried a weaver's beam of white bronze, with golden inlay' 50 . A further detail is added in Recension II of the 'Tain' which belongs mainly to the twelfth century although it also contains archaic passages. In keeping with this scribe's attempt to weed out the more primitive sounding ideas of Recension I, the reference to Feidelm's three pupils is now omitted but the weaver's beam is retained and we are now told that Feidelm was 'weaving a fringe, holding a weaver's beam of white bronze in her hand with seven strips of red gold on its points(P).' 51 Attention to these references seems particularly promising because prophecy is frequently connected with the holding of some kind of staff not only in the cited Irish texts but also in Greek. After being tutored in divination by the Fates, for example, Apollo granted some similar powers to Hermes and also an attribute: 'a wand [or ' s t a f f ] marvelously rich and opulent, made of gold, three leafed: it will protect you against all manner of dangers by bringing to pass [epikrainousa] favorable decrees, words and deeds, which I declare that I know from the lips of Zeus'. Apollo's 'wand', as Benveniste translates, 'gives the sanction of accomplishment' to his counsels 52 . The proper context for the weaving connection, therefore, would seem to lie in a widespread Indo-European religious conception and not in the field of Germanic alone. Such also suggests that Feidelm's weaving beam was only marginally functional but was really meant to be an emblem of status and it is not unlikely that this is the reason why Southwest Germany-B would depict the weaver's beam in the same manner as an imperial Herrschaftszeichen. Two further reasons may be adduced for this hypothesis: first, a normal weaver's beam is not made of white bronze with golden inlay or of white bronze with strips of red gold on its points (one would also wish to know what 'points' signified). Both metals are normally associated in Irish literature with rich upper class ornament and
49
50
51
52
Tain B 6 Cuailnge, Recension I , ed. and trans, by C E C I L E O ' R A H I L L Y , Dublin 1 9 7 6 , p. 2 , 1 2 6 , 2 4 0 n. 3 7 . A helpful commentary on Irish weaving metaphors is that by W I L L I A M S A Y E R S , Old Irish Fert 'Tiepole', Fertas 'Swingletree' and the Seeress Fedelm, in: Etudes Celtiques 21, 1984, p. 171 — 183, at 177 f. and note 18. O ' R A H I L L Y (as note 49) p. 126. I have not seen two works which may be relevant here: H I L D A E L L I S D A V I D S O N , The Seer in Celtic and Other Traditions, Edinburgh 1989; Vergangenheit in mündlicher Überlieferung, ed. by J Ü R G E N VON L I N G E R N - S T E R N B E R T — H A N S J Ö R G R E I N A U (Colloquium Raurieum 1) Stuttgart 1988. Tain B6 Cuailnge From the Book of Leinster, ed. and trans, by C E C I L E O ' R A H I L L Y , Dublin 1970, p. 5, 143, 279 note 185. See also The Stowe Version of Tain B6 Cuailnge, ed. and trans, by C E C I L E O ' R A H I L L Y , Dublin 1978, p. 164 note 199 and Addendum. E M I L E B E N V E N I S T E , Indo-European Language and Society, trans, by E L I Z A B E T H P A L M E R , Coral Gables 1973, p. 332; Hesiod, The Homeric Hymns and Homerica, ed. and trans, by H U G H G. E V E L Y N - W H I T E , Cambridge 1959, p. 401 f.
68
Michael J. Enright
weaponry 53 . Feidelm's beam should thus most probably be regarded as a symbol of her calling and her means of working magic. Second, this association between weaving and 'staff'-bearing helps to explain the peculiar names of some early Germanic women who were also, apparently, prophetesses. The name Ganna, for example, borne by a woman who accompained king Maysos to Rome and who is described as 'successor' to the famous prophetess Veleda, derives from Germanic *Gand-no which may be compared with ON gandr, 'magical staff'. The name, according to Krahe, means "'die des Zauberstabs Waltende' oder ähnlich" 54 . So too with Balouburg, rectified to Waluburg, apparently a prophetess of the Semnones who accompanied Germanic troops to Egypt in the second century. Her name contains the word for 'staff': Gothic walus, ON z>g/r55. Likewise, perhaps, with Gambara, the name of the famous wise woman of the Lombards described by Paul the Deacon as 'most prudent in counsel among her people'. Originally, it has been suggested, it was *Gand-bara, 'carrier of the magical staff' 5 6 . The same term is found in ON vqlva, 'prophetess', and von Amira pointed out early in this century that a staff was possessed by the Icelandic spdkona of the sagas 57 . No one knows what these staffs looked like or what they really signified. It may now be suggested, however, if the bracteate identifications prove to be correct and if one also allows evidence from a wider context, that the staff of the prophetess copied the weaver's beam of the goddess whom she represented. There is, finally, one further aspect worthy of consideration since it may impinge both on the questions of bracteate distribution and cult. In his recent helpful work on runes and magic, Stephen Flowers discussed the question of "female rune masters" and pointed out that there may be something to this hypothesis even though the evidence is scanty 58 . The evidence is strongest for southern Germany, however, where, P. Scardigli notes, "die meisten Runeninschriften aus dem suebisch-alamannischen Gebiet stammen aus Frauengräbern und sind 53
J. P. MALLORY, Silver in the Ulster Cycle of Tales, in: Proceedings of the Seventh International Congress of Celtic Studies Held at Oxford, f r o m 10th to 15th July, 1983, ed. by D. ELLIS E V A N S JOHN G. GRIFFITH —E. M . JOPE, Oxford 1986, p. 3 1 — 7 8 , at 32 f. Some helpful background material is provided by PAUL-MARIE DUVAL in the same volume, Sources and Distribution of Chieftancy Wealth in Ancient Gaul, p. 19 — 24.
54
HANS KRAHE, Altgermanische Kleinigkeiten, in: Indogermanische Forschungen 66, 1961, p. 35 — 43, at 41. On the other prophetesses mentioned, see HANS VOLKMANN, Germanische Seherinnen in römischen Diensten, Krefeld 1964, p. 5 — 18; HANS NAUMANN, Der K ö n i g und die Seherin, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 63, 1938, p. 347—358; JAN DE VRIES, Altgermanische Religionsgeschichte 1, Berlin 1956, p. 319 — 333.
55
KRAHE (as note 54) p. 41; EDWARD SCHRÖDER, Walburg, die Sibylle, in his: Deutsche Namenkunde. Gesammelte Aufsätze, Göttingen
56
2
1 9 4 4 , p.
60—64.
KRAHE (as note 54) p. 41. Krahe notes that the prophetess "appears to have been an established, typically Germanic institution".
57
KARL VON AMIRA, Der Stab in der Germanischen Rechtssymbolik (Abhandlungen der KöniglichBayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. K l . 25,1) München 1909, p. 8—10. See also FRANCOIS-XAVIER DILLMANN, Katla and her Distaff: an Episode of Tri-Functional Magic in the Eyrbyggja Saga?, in: Hommage to Georges Dumezil, ed. by EDGAR C. POLOME, Washington 1982, p.
58
113-124.
STEPHEN E. FLOWERS, Runes and Magic: Magical Formulaic Elements in the older Runic Tradition (American University Studies 1,53) New York —Berne—Frankfurt am Main 1986, p. 241 f.
69
The G o d d e s s Who Weaves
an Fibeln, Kapseln oder sonstigen weiblichen Gegenständen angebracht" 5 9 (a similar correlation may exist for a high percentage of all bracteates although a special study is urgently needed to determine background and circumstance). Women seem to have scribed runes on at least two objects from this southern area 60 . Most interesting from the present perspective is the fact that one of these is a loom fragment, from Neudingen, Kr. Schwarzwald-Baar, which was discovered in a woman's grave datable to the sixth century 61 . Here then is another find from sixth century southern Germany which appears to suggest a connection between women, weaving implements and, apparently also, the practice of magic. In Scardigli's view, which appears to be supported by Flowers, "vermutlich haben Spezialisten, hier vor allem Frauen (Weissagerinnen?) Aufträge angenommen und ausgeführt" 6 2 . O f course much of this interpretation depends on the now often debated premise of a close relationship between runes and magic 6 3 . But even for the more sceptical runologists, the bracteates are a special case in which, as Klaus Diiwel recently observed, a consideration of the magical perspective is not out of place 64 . One may conclude as follows: while an understanding of Byzantine models is indispensable to any interpretation of the bracteates of the Fürstenberg type, the portrait of Mary the weaver, illuminating as the comparison may be, is not the inspiration for this iconographic scheme. Still less may it be said that such bracteates were 'Christian' or used as substitutes for pagan concepts. As Werner has argued, the ultimate inspiration remains Byzantine coins but, as Hauck has shown, the iconographic details were adapted, modified and transmuted in a myriad of ways in order to make sense to the religious consciousness of the pagan North. Small as it is, the Fürstenberg series seems to reveal a particularly interesting aspect of this consciousness. Beyond that, and recalling the point made in the first paragraph of the present study, the element of continuity is especially impressive here and the reason probably lies in the fact that it depends on a durable technology, that of weaving and the upright loom. As a matter of future research, one may now suggest that relations between Alemannia and the island of Fünen deserve further investigation. In a recent work,
59
PIERGIUSEPPE SCARDIGLI, D a s Problem der suebischen Kontinuität und die Runeninschrift von Neudingen/Baar, in: Germanenprobleme in heutiger Sicht, ed. by HEINRICH BECK, Berlin —New York 1986, p. 3 4 4 - 3 5 7 .
60
FLOWERS (as note 58); STEPHAN OPITZ, Runeninschriftliche Neufunde: D a s Schwert von Eichstetten/ Kaiserstuhl und der Webstuhl von Neudingen/Baar, in: Archäologische Nachrichten aus Baden 27, 1981, p. 2 6 - 3 1 .
61
FLOWERS (as n o t e 5 8 ) p . 2 1 3 , 241; OPITZ (as n o t e 60) p. 2 9 — 31; SCARDIGLI (as n o t e 59) p.
62
SCARDIGLI (as n o t e 59) p.
63
353.
51.
There is now a sizable literature on this question. A g o o d summary will be found in FLOWERS (as note 58) p. 48 f. See also KARL MARTIN NIELSEN, Runen und Magie. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick, in: Frühmittelalterliche Studien 19, 1985, p. 75 — 97; KLAUS DÜWEL, Runes, Weapons and Jewelry: A Survey o f S o m e of the Oldest Runic Inscriptions, in: The Mankind Quarterly 22, 1981, p. 69 — 91; IDEM, Buchstabenmagie und Alphabetzauber. Z u den Inschriften der Goldbrakteaten und ihrer Funktion als Amulette, in: Frühmittelalterliche Studien 22, 1988, p. 70—110; GUNTER MÜLLER, Von der Buchstabenmagie zur Namenmagie in den Brakteateninschriften, in: Frühmittelalterliche Studien 22, 1988, p. 111 — 157; HAUCK, K ö n i g s n a m e (as note 40) p. 4 5 f .
64
DÜWEL, Buchstabenmagie (as note 63) p. 110 note 193.
70
Michael J. Enright
J. Werner, whose 1935 study of the Fiirstenberg series marked an important advance, was able to demonstrate a surprising connection between the Danish island and the Gothic Cernjachov-Kultur of southeastern Europe in the third and fourth centuries 65 . The evidence so far discussed indicates that a noteworthy longdistance linkage existed within the Germanic world, with Gudme at one end of the network, in which the worship of a goddess and amulets worn by women played a significant role.
65
JOACHIM WERNER, Danceny and Brangstrup. Untersuchungen zur Cernjachov-Kultur zwischen Sereth und Dnestr und zu den 'Reichtumszentren' auf Fünen, in: Bonner Jahrbücher 188, 1988, p. 2 4 1 - 2 8 6 , especially 275 f.
KARL HAUCK UND MORTEN AXBOE
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XLVI) 1 0. Einführung, S. 71. — 1. Sylten-C, Kirchspiel Ibsker, Bornholm, S. 75 —95. — 2. Gemarkung Dannau-C, früher Kreis Oldenburg, jetzt Kreis Ostholstein, Holstein, S. 95 —118. — 3. Zusammenfassung, S. 1 1 8 - 1 2 0 .
0. E I N F Ü H R U N G
Im Laufe des Jahres 1989 sind uns zwei neue Goldbrakteaten bekanntgeworden. Dieses Zusammentreffen ausnützen zu können, erweist sich als Glücksfall. Im wesentlichen wird diese Konstellation Margrethe Watt verdankt. Denn sie erkannte
1
Mit diesem Beitrag werden die Begleitstudien zum Ikonographischen Katalog ( = IK) der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten (s. Anm. 2) fortgesetzt. Von dieser Reihe 'Zur Ikonologie der Goldbrakteaten', die den Auswertungsband zum IK vorbereitet, werden allein die Nummern zitiert, die hier einschlägig sind: X X V Text und Bild in einer oralen Kultur. Antworten auf die zeugniskritische Frage nach der Erreichbarkeit mündlicher Uberlieferung im frühen Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 17, 1983, S. 5 1 0 - 5 9 9 ; X X V I Methodenfragen der Brakteatendeutung. Erprobung eines Interpretationsmusters für die Bildzeugnisse aus einer oralen Kultur, in: Akten der 1. internationalen Konferenz zur Deutung frühgeschichtlicher Bildinhalte, Marburg/L. 1983, hg. von HELMUT ROTH, Sigmaringen 1986, S . 2 7 3 - 2 9 6 ; X X X Varianten des göttlichen Erscheinungsbildes im kultischen Vollzug, erhellt mit einer ikonographischen Formenkunde des heidnischen Altares, in: Frühmittelalterliche Studien 18, 1984, S. 2 6 6 - 3 1 3 ; X X X V Die Wiederkehr von Göttersymbolen und Sinnzeichen der A-, B- und C-Brakteaten auf D- und F-Amuletten, in: Frühmittelalterliche Studien 20, 1986, S. 4 7 4 - 5 1 2 ; X X X V I Gudme in der Sicht der Brakteatenforschung, in: Frühmittelalterliche Studien 21, 1987, S. 1 4 7 - 1 8 1 ; X L Zwanzig Jahre Brakteatenforschung in Münster/W., in: Frühmittelalterliche Studien 22, 1988, S. 17 —52, 49 ff. Verzeichnis der seit 1982 gedruckten Veröffentlichungen; XLIII Macht und Meer im völkerwanderungszeitlichen Ostseeraum, erhellt mit Schiffsresten, Goldhorten und Bildzeugnissen, in: Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Bosl zum 80. G e b u r t s t a g , h g . v o n FERDINAND SEIBT, M ü n c h e n 1988, S. 1 3 9 — 1 5 6 ;
XLIV XLV XLVII
Frühmittelalterliche Bildüberlieferung und der organisierte Kult, in: HAUCK (wie Anm. 10) (im Druck); Die frühmittelalterliche Sakrallandschaft der Gauten/Göten im Licht von Bildzeugnissen (in Druckvorbereitung); Der religions- und sozialgeschichtliche Quellenwert der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten. Vortrag auf dem Symposium 'Quellen zur germanischen Religionsgeschichte', Bad Homburg 2 8 . 2 . - 3 . 3 . 1 9 9 0 .
72
Karl Hauck und Morten Axboe
Fig. l a Karte der Wertekonzentration von Sorte Muld: a. Goldsolidi; b. Denare; c. Goldbrakteaten, und zwar je einer im zentralen Kerngebiet und im Gebiet von Sylten; d. Zahlungsgold; e. Goldblechfiguren (guldgubber), und zwar entweder geprägte oder ausgeschnittene, fast ausschließlich einzelne Gestalten; im Kerngebiet sind es 2300, im Gebiet von Sylten eine; f. Prachtfibeln und g. Glasfragmente. Nach WATT (wie A n m . 10, Fig. 13).
den Goldfund von Sylten, obwohl es sich um eine mit der Rückseite nach außen zusammengebogene Scheibe (Abb. 6 a und b) handelte, zuerst als Brakteaten. Dann stellte sie uns den Fund zur Veröffentlichung zur Verfügung und half uns mit präzisen Auskünften selbst zu unpublizierten Sachverhalten, die zu ihren Entdekkungen in Sorte Muld gehören. Denn der Fundort Sylten liegt im Nahbereich von dem Herrschafts- und Kultzentrum Sorte Muld in Ostbornholm (Fig. la). Daher fragt man sich nach den Beziehungen zwischen den Goldblechfiguren, die infolge ihrer sensationellen Zahl diesem Fundgebiet seit 1986 und 1987 die größte Aufmerksamkeit aller Interessierten sichern, und den Goldbrakteaten. Den Zugang zur Ikonographie dieser Götterbild-Amulette erschwert die Verwendung von symbolischen Chiffren. Das veranschaulichen gerade die C-Versionen. Denn wohl gibt es gute Gründe dafür, sie als Gott-Pferd-Brakteaten zu bezeichnen. Aber das setzt voraus, daß man das menschliche Haupt, das im Bildfeld dominiert, als Abkürzung der Vollgestalt der Gottheit zu verstehen gelernt hat. Zur Entzifferung dieser Abbreviaturen hilft uns entscheidend ihr darstellerischer Kontext. Er ist jedoch meist ähnlich karg wie bei Sylten-C (Abb. 7 a und b). Deshalb verbessern Goldbrakteaten mit reicherem darstellerischem Kontext die Chancen, zu dem Sinn dieser Bildchiffren vorzudringen, ganz erheblich.
73
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
Zur Gunst der Konstellation von 1989 ist aber ebenso die Freundlichkeit des Besitzers von Gemarkung Dannau-C zu rechnen, seinen Goldbrakteaten zur Untersuchung und Publikation zugänglich zu machen sowie die noch erreichbaren Auskünfte über die Fundgeschichte zu geben. Bei dieser zweiten, neu bekanntgewordenen Pressung, Gemarkung Dannau-C (Abb. 8a, 1 und b), sind die Konventionen der Brakteatenikonographie zwar durchaus benützt, aber, ähnlich wie bei Sylten-C, erstaunlich abgewandelt. So bietet dieses Götterbild-Amulett einen selten reich differenzierten darstellerischen Kontext mit Details, die mannigfaltiger sind als bei den meisten anderen C-Brakteaten. Daher ist es dringlich, die so entstandene günstige Gelegenheit beim Schopf zu packen, gerade weil der Ikonographische Katalog ( = IK) der Goldbrakteaten in seinen Editionsbänden eben abgeschlossen wurde 2 . Deshalb müssen neue Brakteaten jetzt in die Nachträge im Auswertungsband aufgenommen werden. Da dessen Vollendung noch mehrere Jahre dauern wird, haben wir uns entschlossen, Sylten-C und Gemarkung Dannau-C sofort in den Frühmittelalterlichen Studien zu veröffentlichen. Dieser Konstellation ist es angemessen mitzuteilen, wie wir mit den Neufunden des Jahres 1988 verfahren sind. Bei ihnen hielten wir es für richtig, soweit sich das noch ermöglichen ließ, sie in die Nachträge im Teil D des 3. und letzten Editionsbandes aufzunehmen. Beispielhaft verdeutlicht das Sorte Muld-C (IK Nr. 397; Fig. lb) aus demselben Siedlungsbereich, Kirchspiel Ibsker, wie der Neufund Sylten-C (Abb. 7 a und b). Bei dem Einzelfund Sorte Muld-C war das noch durchführbar, da die Pressung am 31. März 1988 aufgelesen wurde 3 . Ähnlich hielten wir es bei dem gotländischen Neufund Roirhage-A/Grötlingbo 4 . Allerdings erforderte da seine Zugehörigkeit zu einem Grabinventar von größtem Interesse eine ausführlichere Veröffentlichung, die gleichzeitig mit IK 3 erschienen ist 5 . In diesen Aufsatz wurden außerdem Broa-C (Grab 32)/Halla aufgenommen 6 und unpublizierte schwedische C-Brakteaten-Fragmente, die „aus Schonen stammen könnten" 7 . Letztere wurden gleichfalls bereits im Teil D von IK 3 berücksichtigt 8 . Damit war allerdings der Zuwachsspielraum zwischen den letzten Götterbild-Amuletten von I K 2 unu den ersten Untier-Amuletten, den sog. D-Brakteaten, von IK 3 mit den IKNummern 390 bis 399 voll ausgeschöpft. Auch deswegen sahen wir bereits BroaC (Grab 32) für die Nachträge im Auswertungsband vor. Dieser Brakteat ist modelgleich mit den Funden IK 365,1 —79; er wird daher unter den ersten Nachträ2
MORTEN A X B O E — K L A U S
DÜWEL—KARL
H A U C K — L U T Z VON PADBERG, D i e
Goldbrakteaten
der
Völkerwanderungszeit. Ikonographischer Katalog (IK 1 — 3), Einleitungsband sowie je 1 Text- und je 1 Tafelband (Münstersche Mittelalter-Schriften 2 4 , 1 , 1 - 2 4 , 3 , 2 ) München 1 9 8 5 - 1 9 8 9 . 3 4
Damals waren die Korrekturen von I K 3 noch nicht abgeschlossen. IK 3 (wie Anm. 2) Nr. 192,3. Hier wie im Folgenden wird statt des Wortes Kirchspiel regelmäßig ein Schrägstrich gesetzt.
5
JAN PEDER LAMM und MORTEN AXBOE, Neues zu Brakteaten und Anhängern in Schweden, in: Frühmittelalterliche Studien 23, 1989, S. 4 5 3 - 4 7 7 , S. 4 5 3 f f . , 4 5 7 f f . , 4 6 5 f f .
6
Ebd. S. 473 ff.
7
Ebd. S. 473.
8
I K 3 (wie Anm. 2) Nr. 399.
9
Zur leichteren Benutzbarkeit dieser Vorlage werden fortan die Exemplare auch nach den beiden älteren Katalogen und gleichzeitig mit der IK-Nummer zitiert, also nach den Abbildungs- bzw. Katalognummern von MOGENS B. MACKEPRANG ( = M), De nordiske Guldbrakteater (Jysk arkaeolo-
74
Karl Hauck und Morten Axboe
Fig. l b Sorte Muld-C, nach I K 3 (wie Anm. 2) Nr. 397b, jedoch wie alle Brakteaten der Textfiguren 2:1.
Fig. l e Ravnstorp-C, nach I K 2 Nr. 313b.
gen des Auswertungsbandes als 365,8 erscheinen. Dagegen eröffnen die hier vorgelegten Funde, die mit bisher unbekannten Modeln gepreßt sind, die Nachtragsnummern des I K von 570 an. Sie werden in der Reihenfolge ihres Bekanntwerdens gezählt. Demgemäß erhält Sylten-C (Abb. 7 a und b) die IK-Nummer 570 und Gemarkung Dannau-C (Abb. 8 a, 1 und b) die IK-Nummer 571. Unser gemeinsamer Text beruht auf einem kontinuierlichen schriftlichen und mündlichen Dialog. Alle Aufnahmen der Neufunde stammen von Morten Axboe. Die nach diesen Photos in Münster/W. von Herbert Lange erstellten Zeichnungen sind von Morten Axboe gleichfalls sorgfältig geprüft, der das Original von SyltenC allein untersuchte. Da Morten Axboe seine Tätigkeit im Kulturhistorischen Zentralregister des Nationalmuseums in Kopenhagen ab 1.11.1989 begann, stammt die Niederschrift fast ganz von Karl Hauck.
gisk Selskabs Skrifter 2) Ärhus 1952 bzw. MORTEN AXBOE ( = A), The Scandinavian Gold Bracteates. Studies on their manufacture and regional variations. With a supplement to the catalogue of Mogens B. Mackeprang, in: Acta Archaeologica 1981 (1982), S. 1—87. Für die modelgleichen Exemplare von I K 3 6 5 , 1 - 7 lautet diese Konkordanz: M 8,16 = 365,1; M 213 = 365,2; M 200 = 365,3; M 227 = 365,4; M 205 = 365,5; M 219 = 365,6; M 374 = 365,7.
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
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1. SYLTEN-C, KIRCHSPIEL I B S K E R , B O R N H O L M
Ostbornholm hat durch die ganz erstaunliche Entdeckung von 2300 papierdünnen frühmittelalterlichen Goldblechfiguren von 1985 bis 1987 im Gebiet von Sorte Muld/Ibsker die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt auf sich gelenkt 10 . Allerdings ist Sorte Muld 'Schwarze Erde' das Zentrum eines Gebiets von einer sehr bedeutsamen Wertekonzentration (Fig. la). Um dieses Zentrum herum befindet sich ein Kranz von weiteren Siedlungsplätzen. Zu ihnen gehören auch 500 m südlich von Sorte Muld die ganz dicht beieinander liegenden Wohnplätze Sylten I und II. Früher hat man, nach freundlicher Mitteilung von Margrethe Watt, diese beiden Stellen wahrscheinlich als einen Wohnplatz aufgefaßt. Von dort kennen wir unter anderem einen heute verschollenen Speer, eine geprägte Goldblechfigur mit einer einzelnen Frauengestalt von rechts sowie mehrere Goldsolidi, und zwar 1 von Theodosius II. (408—450), 1 von Valentinian III. (425—455) sowie 1 barbarische Nachahmung von Leo I. (457—474). Wie alle Solidi, die man bisher im Sorte MuldGebiet fand, sind sie weder gelocht noch geöst 11 . Diesen älteren Goldfunden reiht sich der neue Brakteat (Abb. 7 a und b) des Winters (1988 —)1989 aus der Siedlung Sylten II an. Er ist so ungewöhnlich schlecht erhalten, daß seine Details durchweg nur in Rest- und Feinbefunden zugänglich sind. Die stark verwackelte Pressung bestimmte wahrscheinlich den Goldschmied (oder seinen Auftraggeber?) dazu, das Stück als Fehlschlag auszusondern und in acht Schichten (Abb. 6 a und b) zusammenzubiegen, um es einzuschmelzen. Dazu kam es, aus welchen Gründen auch immer, nicht. Dieser Befund läßt sich durchaus als Spur erwägen, die darauf deutet, daß man dort Brakteaten herstellte. Allerdings teilte Margrethe Watt brieflich am 5.1.1990 mit: „Von Sylten II gibt es bisher keine Indikation für Brakteatenherstellung. Aber alle Funde und Beobachtungen stammen aus der Pflugschicht. Als Streufund gibt es Abfall vom Bronzegießen." Nach der Entdeckung von Sylten-C in der Umformung als Rohstoff zur Weiterverwendung (Abb. 6 a und b) hat die Restaurationsabteilung des Nationalmuseums in Kopenhagen den Brakteaten wieder aufgefaltet (Abb. 7 a und b). Dadurch ist jetzt deutlich, daß wir zum ersten Mal ein unfertiges Stück vor uns haben. Zwar sind die Risse am Rand der Scheibe durch das Zusammenbiegen (und die Auffaltung) entstanden, aber wir sehen auch den ursprünglichen, unregelmäßigen Rand. Dieser Rand entstand durch die Aushämmerung der Scheibe und die Prägung mit einem Model, der mit 31 mm Durchmesser etwas kleiner war als der verwendete 10
MARGRETHE WATT, Die Goldblechfiguren (guldgubber) aus Sorte Muld, in: Der historische Horizont der Götterbildamulette aus der Übergangsepoche v o n der Spätantike zum Frühmittelalter, hg. v o n KARL HAUCK (Abhandlungen der Philologisch-Historischen Klasse der Göttinger Akademie der Wissenschaften) (im Druck).
11
OLE KLINDT-JENSEN, Bornholm i Folkvandringstiden (Nationalmuseets Skrifter. Starre beretninger, 2) Kobenhavn 1957, S. 11 f. Fig. 4 und 5, S. 235 Nr. 23 f. und 27. Eine neue Kartierung der Siedlungen im Gebiet von Sorte Muld bereitet Margrethe Watt vor, die sie mir mit ihrem Brief v o m 8 . 1 2 . 1 9 8 9 in einer Entwurffassung freundlicherweise zugänglich machte. Zu den Goldblechfiguren nunmehr MARGRETHE WATT, The golden pictures f r o m "the Black Soil" sowie: Gods, princes and dancers, in: Oldtidens Ansigt. Til Hendes Majestset Dronning Margrethe II. 16. April 1990, Redaktion: POUL K J / E R U M u n d R I K K E AGNETE OLSEN, H e r n i n g 1 9 9 0 , S. 1 4 2 - 1 4 5 ,
S. 2 0 1 .
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Karl Hauck und Morten Axboe
Fig. 3 a und b Sandegârd und Raum Ronne-C, zwei Fragmente des Bildfelds aus zwei verschiedenen Fundorten, nach IK 2 Nr. 324 b.
Schrötling. Bevor der Randfassungsdraht und die Öse hätten montiert werden können, wäre es erforderlich gewesen, die fertig geprägte Scheibe kreisrund zuzuschneiden, wozu man öfters einen Zirkel benutzte. Sylten-C als Fehlschlag erhellt daher, wie virtuos sonst gewöhnlich gearbeitet wurde. Bei den Maßen 36,0 mal 33,1 mm des Schrötlings ist also die Unfertigkeit des Stücks zu berücksichtigen.
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
77
Fig. 4 Bakkegärd-C, nach IK 1 Nr. 19b.
Erst nach wirklicher Fertigstellung hätte ursprünglich ein normal großer Brakteat entstehen sollen 12 . Dazu wurde ein Model verwendet, den wir bisher aus anderen Funden nicht kennen. Auch die Model der weiteren auf Bornholm aufgetauchten Brakteaten sind zwar nicht aus anderen Funden bekannt, im Gegensatz zu Sylten-C lassen sie sich jedoch anderen Formularverwandten zuordnen: so Kjollergdrd-C/Nylarsker (M 7,24 = 95; Fig. 2) Mackeprangs dänisch-schwedischer Gruppe 13 ; so die zusammengehörigen Fragmente aus Sandegard/Äker und Raum R.0nne/ Rönne (10,7a, b = 324; Fig. 3a und b) Mackeprangs ostdänischer Gruppe II 14 ; so Bakkegärd/Pedersker (M 14,9 = 19; Fig. 4) Mackeprangs süd- und ostschwedischer Gruppe, wenn auch in einer bemerkenswert eigenständigen Version 15 ; so Sorte Muld-C/Ibsker (397; Fig. lb) der gleichen süd- und ostschwedischen Gruppe, allerdings in einer engeren Verwandtschaftsbeziehung als Bakkegärd. Das verdeutlicht der am nächsten verwandte Model, mit dem Ravnstorp-C/Norra Vrams, Schonen (M 14,5 = 313; Fig. lc), gepreßt ist 16 . Eine ähnlich nahe Formularverwandtschaft läßt sich dagegen für Sylten-C (Abb. 7 a und b) nicht nachweisen. Aber durch die auffallende Eigenheit der Pressung, daß das Menschenhaupt nach dem einen Rand, der 'Vierbeiner' nach dem anderen, gegenüberliegenden Rand gewendet erscheint, läßt sich der Model mehreren Brakteaten anreihen, deren Bildelemente ähnlich oder gleich angeordnet sind. Bei ihnen wurde diese Disposition allerdings auf zwei verschiedene Weisen verwirklicht: einmal durch die Gegenüberstellung des Menschen- und des Tierbildes; 12 13
14 15 16
Gewöhnliche Brakteaten haben Bildfelder von 20 bis 30 mm Durchmesser. M (wie Anm. 9) S.42f.; C H A R L O T T E B E H R , Beizeichen auf formularverwandten Goldbrakteaten, in: H A U C K (wie Anm. 10) Abschnitt III D (im Druck). M (wie Anm. 9) S. 46 f. Ebd. S. 50 f. Zu dieser Gruppe gehören in Schonen außerdem auch Asmundtorp/Trollenäs M 14,2 = 1 8 , hier Fig. 36, mit antithetischem kleinen Pferd anstelle des Vogels und die beiden Gott-Pferd-Brakteaten aus Börringe/Börringe M 14,3 = 26 und 14,4 = 27.
78
Karl Hauck und Morten Axboe
Fig. 6 Obermöllern-B, nach I K 1 Nr. 132b.
zum anderen durch die Unterordnung des Tieres unter das Menschenhaupt als Kürzel der Gesamtfigur. Die Belege für die Gegenüberstellung, bei der das Tier kopfüber stürzend wiedergegeben ist, werden geliefert von: Gudme II/Gudme (392; Fig. 5) 17 und Obermöllern-B/Kreis Naumburg/Saale (M 9,1 = 132; Fig.6) 1 8 . Die Belege für die bisher noch nicht sicher bezeugte Form der Unterordnung werden geboten von: Sylten-C/Ibsker, Bornholm (570; Abb. 7 a und b), Gemarkung Dannau-C, Kreis Ostholstein (571; Abb. 8 a, 1 und b) 19 , sowie Welbeck Hill-C (Grab 52)/Irby, South Humberside, Lincolnshire (A 305d VIII = 387; Fig. 7b), 17
18 19
MORTEN AXBOE, Die Brakteaten von Gudme II, in: Frühmittelalterliche Studien 21, 1987, S. 76 — 81, S. 78; HAUCK (wie Anm. 1) X X X V , S. 482, 511 und XLVII, nach Anm. 42 und 49. HAUCK (wie Anm. 1) X X X V , S.481 f., 511. S. dazu unten Abschnitt 2.
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
79
Fig. 7a Kirmington-C, nach IK 2 Nr. 288b.
jedenfalls dann, wenn man der Lesung von Morten Axboe folgt. Aber über diese Lesung haben wir angesichts der trümmerhaften Restbefunde keine Ubereinstimmung erzielen können. Einer Meinung sind wir darüber, daß diese lokale englische Silberprägung aus einem Randgebiet der Brakteatenverbreitung schwierig zu deuten ist und daß sie zu dem Verwandtenkreis von Mackeprangs westskandinavischer Gruppe gehört. In England repräsentiert dieses Formular in Lincolnshire nochmals Kirmington-C, gleichfalls South Humberside (A 305e VII = 288; Fig. 7a). Der Gegensatz unserer Auffassungen bei der Bewertung von Welbeck Hill (Fig. 7b) beruht darauf, daß Axboe das kelchförmige Gebilde am linken Rand als den nach oben gewandten Tierkopf, verwandt mit der Tierkopf-Formung von Kirmington-C (Fig. 7a), ansieht. Dazu konjiziert er ein abgewetztes Tierauge.
80
Karl Hauck und Morten Axboe
Haucks andere Auffassung der Lesung nutzt gleichfalls die Verwandtschaftsbeziehung zwischen Kirmington-C (Fig. 7a) und Welbeck Hill-C (Fig. 7b) aus. Jedoch verwendet er als Ausgangspunkt seines Vorschlags die zu dem Vierbeinerkopf herabhängende Tierprotome. Denn sie läßt sich als Fingerzeig dafür verstehen, wo wir den Vierbeinerkopf zu suchen haben. Dem Tierdetail der göttlichen Haartracht begegnen wir in zwei Varianten, und zwar ganz gleich, ob es im Nacken oder über der Stirn des Gottes erscheint. In der Regel präsentiert die eine Spielart Vogelversionen, die andere Reptilienversionen. Dementsprechend treffen wir auf Kirmington-C (Fig. 7a) eine Vogelprotome und auf Welbeck Hill-C (Fig. 7b) eine Reptilienprotome. Folgen wir nun der Protome auf Welbeck Hill-C als Fingerzeig, stoßen wir unmittelbar unter ihr auf eine Art Bullauge, gerahmt von Punktgruppen. Dieser Befund läßt sich sehr wohl als eine der zahlreichen Spielarten der Rahmungen des Vierbeinerauges, zumal nach Axboes Nachweisen, verstehen, daß die Augen bei den Bildamuletten mit einer Bullaugenpunze hergestellt werden konnten 193 . Ähnliche Punktrahmungen des Tierauges werden bezeugt von Skonager-C/Nsesbjerg, Amt Ribe (M 15,2 = 164) und Schonen (?)-C (M 9,16 = 328). Nicht allein die feinere Punktrahmung auch des Menschenauges auf Welbeck Hill-C (Fig. 7b) begünstigt diese Sicht. Vielmehr wird sie durch ähnlich weit herabhängende Protomevarianten anderer Formulare bestätigt. Von ihnen seien hier allein zitiert: Sigerslev-C/Store Heddinge, Amt Presto, Seeland (M 9,10 = 158; Fig. 8), und Stenholts Vang-C/Nodebo, Amt Frederiksborg (M 9,15 = 180; Fig. 9), das gleich erneut zu nennen ist 20 . Infolgedessen rechnet Hauck Welbeck Hill-C (Fig. 7b) nicht zu den für Sylten-C und Gemarkung Dannau-C einschlägigen Analogien. Das Verständnis von Sylten-C (Abb. 7 a und b) wird dadurch erschwert, daß die Pressung niemals eine Öse erhalten hat. Denn häufig weist die Ösung darauf hin, wie das Frühmittelalter die Bildformel aufgefaßt hat 21 . Von den hier diskutierten Analogien erscheint Gemarkung Dannau-C (Abb. 8 a, 1 und b) für die Bestimmung der Bildachse der ungeösten Bornholmer Pressung als die wichtigste 22 . Das menschengestaltige Haupt von Sylten-C wird von der Umwandlung der Kaiserfrisur mit Diadem der antiken Münzvorstufen im Norden gekennzeichnet. Das Diademecho ist in dem geperlten Stirnband zu treffen. Die Umgestaltung des Nordens ist in der Raubvogelprotome und in der nicht mehr vollständig erhaltenen Einrollung im Nackenbereich erkennbar. Als Analogie dieses Trachtdetails läßt sich der Befund des Models ansprechen, und zwar trotz der anders gezeichneten Details, mit dem die seeländischen Brakteaten von Stenholts Vang-C (Fig. 9) gepreßt sind.
1?A
AXBOE (wie A n m . 9) S. 57 f. A p p e n d i x II.
20
Vgl. auch Schonen-C (M 15,14 = 153); zu Stenholts Vang-C s. unten am Ende des Anm. 22 folgenden Absatzes. Das gilt zwar bei der flexiblen Formgebung nur nach einer Art Faustregel, aber sie bietet doch immer wieder eine wertvolle Hilfe. Axboe kann für seine Auffassung von Welbeck Hill (Fig. 7b) auf die Lötspuren der verlorenen Ösung verweisen.
21
22
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
81
Fig. 8 Sigerslev-C, nach IK 1 Nr. 158b.
Fig. 9 Stenholts Vang-C, nach IK 1 Nr. 180b.
Den Raubvogelkopf mit Ohr kennen wir freilich bisher öfters eher in Varianten, bei denen die Abänderung der Diadembänder der Kaiserfrisur im Nackenbereich des Hauptes zu sehen ist 23 . Jedoch verdeutlicht Olovstorp-C/Sparlösa, Västergötland (M 9,19 = 138; Fig. 10), daß dieses feine Detail auch bei Varianten vorkommt, die den Tierkopf anstelle des Stirnjuwels vom Kaiserdiadem der älteren
23
S. etwa Lellinge-B (M 5,2 = 105) oder den Model von Schonen-B (M 5,1 = 149,1 und 2; hier Fig. 40). Bei den etwas größeren antithetischen Vögeln der C-Brakteaten kommen Ohren gleichfalls vor, wie Hjorlunde-C (M 6,25 = 77) oder der Model von Seeland-C und Overhombsek-C (M 7,1 bzw. 85 = 154,1 und 2; hier Fig. 29) in einer nach hinten verrutschten Variante konkretisiert. Vgl. auch Penzlin-B (M6,18 = 141).
82
Karl Hauck und Morten Axboe
Fig. 10 Olovstorp-C, nach IK 1 Nr. 138b.
Vorstufen bringen 24 . Für die Stilstufe der Pressung aus Sylten sind die Rundformen von Menschen- und Tieraugen charakteristisch 25 . Bei der Befundanalyse des nach links gewandten Tieres von Sylten (Abb. 7a und b) war am schwierigsten die Frage zu beantworten, ob man unter dem Tierleib mit einem zweiten, zurückgebogenen Vorderbein zu rechnen habe oder nicht. Von den verschiedenen Versuchen, das Problem zu lösen, hat es noch am meisten Wahrscheinlichkeit, diese Möglichkeit zu verneinen und statt dessen mit der verwakkelten und sich wiederholenden Prägung eines Speers mit Widerhaken zu rechnen, wie ihn in genauer Pressung sowie in schlankerer Formgebung Schonen-C bezeugt (M 9,20 = 151; Fig. II) 2 6 . Diese Lesung ermöglicht es, die Version des allein wiedergegebenen Vorder- bzw. Hinterbeins der Beinhaltungsformel 3c zuzuordnen. Denn in den Varianten 3c beschränkt sich die Abbildung wie bei Sylten-C nur auf je ein Vorder- und ein Hinterbein 27 . Dieser Typus ist auch bei Schonen-C (Fig. 11) wiederholt, aber durch eine Nebenszene erweitert. In ihr leckt ein tiergestaltiger Helfer der menschlichen Hauptfigur 28 an dem ausgerissenen zweiten Vorderbein und veranschaulicht so, daß diese Haltungsformel auch bei den noch stärker gekürzten Varianten Bewegungsunfähigkeit meinen kann. Dem entspricht bei Sylten-C die weit heraushängende Zunge des Vierbeiners 29 .
24 25
26 27 28
29
Zu diesen Versionen HAUCK (wie Anm. 1) X X X V I , S. 171 f. und X L , S. 24 f. Es handelt sich dabei um Bildelemente, die die stärkere Reduktion der Nachwirkung antiker Vorstufen signalisieren. Zum Speer mit Widerhaken als Beizeichen HAUCK (wie Anm. 1) X X X V , S. 490. IK (wie Anm. 2) Einleitungsband, S. 59, 61 mit Fig. 8,1 und 2, S. 119 f. KARL HAUCK, Brakteatenikonologie, in: Reallexikon der germanischen Altertumskunde ( = R G A ) 3, Berlin —New York 2 1978, S. 3 6 1 - 4 0 1 , S. 388 sowie IK (wie Anm. 2) Einleitungsband, S. 101 mit Fig. 21. D a z u HAUCK ( w i e A n m . 1) X L , S. 2 9 .
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
83
Fig. 11 Schonen (?) (VI)-C, nach I K 1 Nr. 151b.
Zu den Merkwürdigkeiten des Befundes gehören die zottelartigen Gebilde, die von den Beinen des Tiers herabhängen. Eines der Seitenstücke dazu bildet die Hinterhand des kleinen Vierbeiners auf Schonen-C (Fig. I I ) 3 0 . Es mag daher in der Schwebe bleiben, ob diese Einzelheit einer speziellen Überlieferung oder den Elementen der ornamentalen Stilisierung zuzurechnen ist. Letztere begegnet unstreitig in der Einordnung des Tierauges in der Mittelachse des Kopfes 31 , in den Winkelbändern über der Schulter 32 sowie in der Form der Tierfüße 33 . Jedoch ermöglichen es der Gesamthabitus und der Restbefund des Schweifs, von einem Pferd zu sprechen 34 . Die beiden Swastiken sind in konventioneller Weise vor der Stirn des Menschenhauptes und unter dem Tierkopf in das Bildgefüge eingeordnet. Daß die eine Variante dieses Beizeichen spiegelbildlich verwendet, stimmt mit vergleichbaren Belegen wie in unserem Beispiel Schonen-C (Fig. 11) trotz der anderen Plazierung überein 35 . Den Zugang zur Deutung ermöglicht die maskenartige Raubvogelprotome über dem Menschenhaupt. Denn das Raubvogel-Attribut als Trachtdetail des Hauptgottes der Brakteatenikonographie, das etwa 40 mal nachzuweisen ist 36 , hat zwei Entsprechungen in jüngeren Überlieferungsgruppen:
30 31
Vgl. auch Rogenes-C (M 9,25 = 146). EGIL BAKKA, Methodological Problems in the Study o f Gold Bracteates, in: Norwegian Archaeological Review 1, 1968, S . 5 - 3 5 , 4 5 - 5 6 , S. 52.
32
Ebd. S. 54. Zur Nachwirkung antiker Vorstufen bei diesem Detail I K 1 (wie Anm. 2) Nr. 159 S. 276 Pos. V 22/24.
33
I K (wie Anm. 2) Einleitungsband, S. 107 ff.
34
S. dazu ebd. S. 109 ff.
35
Vgl. vorläufig BEHR (wie Anm. 13) nach Anm. 12.
36
HAUCK (wie Anm. 1) X X X V I , S. 171 und X L , S . 2 4 f .
84
Karl Hauck und Morten Axboe
auf gotländischen Bildsteinen, auf denen Wodan-Odin in Raubvogelgestalt seit der Vendelzeit erscheint37, was dem westnorwegischen Runentext von Eggja um 700 entspricht 38 , und in den Raubvogelnamen des Gottes wie, um nur zwei Beispiele zu nennen, der 'Adlerhäuptige' oder der 'Adlergestaltige' in zwar spät aufgezeichneter, aber im Kern alter Tradition39. Daraus ergibt sich: Der Neufund Sylten-C ist ein bemerkenswerter Gott-PferdBrakteat von einem bisher unbekannten Model. Zwar weist die symbolische Chiffre keine Anhaltspunkte für die Aktivität des göttlichen Zauberfürsten auf. Aber durch das Attribut der maskenartigen Raubvogelprotome ordnet sich die Pressung den Bildzeugnissen zu, die von ihm seine Fähigkeiten, über Tierpotenzen zu verfügen und so auch selbst seine Gestalt zu wechseln, rühmen 40 . Von den eingangs genannten Fragen haben wir nun die nach den Beziehungen zwischen den Goldblechfiguren und den Goldbrakteaten zu beantworten. Bei dieser Antwort gehen wir auf folgende fünf Gesichtspunkte ein, und zwar auf: 1. die jetzigen Ansichten über die Zeitstellung der beiden Überlieferungsgattungen; 2. den offensichtlich ungleichen Wert der Goldblechfiguren und Goldbrakteaten, aber die Herstellung von beiden Kleinkunstarten in Goldschmiedewerkstätten in der Nähe von Herrschafts- und/oder Kultzentren;
37
SUNE LINDQVIST ( = L), Gotlands Bildsteine 1, Stockholm 1941 bzw. 2, 1942. Zu nennen sind: Stenkyrka IV, L 2, S. 116 mit Fig. 492 und 498; Stenkyrka IX, L 1, S. 36, 89 Fig. 47 und 53; L 2, S. 117 f.; Stora Hammars I/Lärbro, L 1, Fig. 81 und 82 (dritte Bildzeile), L 2, S. 86 f.; Tjängvide I/Alskog, L 1, S. 95 ff. Fig. 137 f.; L 2, S. 15 ff. Fig. 305 und Ardre VIII, L 1, S. 95 ff. F i g . l 3 9 f . ; L 2, S . 2 2 f f . ; ERIK NYLÉN — J A N PEDER LAMM, B i l d s t e n a r , V i s b y 1 9 7 8 , d e u t s c h v o n MARGARETA u n d
MICHAEL
MÜLLER-WILLE, Gotlands Bildsteine, Neumünster 1981, Nr. 232, 237, 18, 4 und 16; HAUCK (wie Anm. 1) X X V , S. 534, 547, 556, 562 (Stenkyrka IV und IX mit Abb. 36 und 40); DERS. (wie A n m . 1) X X X , S. 277, 301 (Stenkyrka IV mit Abb. 37), S. 276, 306 ff., 312 (Stora Hammars I mit Abb. 58), S. 277 f., 286, 301 f. (Tjängvide I/Alskog mit Abb. 38), S. 276 ff., 280, 286, 301 ff., 308, 312 (Ardre VIII mit Abb. 41). Neuere Literatur in der englischen Ausgabe von NYLÉN —LAMM, Stones, Ships and Symbols, Stockholm 1988, zu den Katalognummern 4 (Tjängvide/Alskog), 16 (Ardre VIII) und 184 (Stora Hammars I/Lärbro). 38
39
S . d a z u HAUCK ( w i e A n m . 1 ) X X V , S . 5 2 1 , 5 3 4 f . , 5 4 6 , 5 6 1 f f . , 5 7 0 f . , 5 9 2 , 5 9 4 ; G E R D H 0 S T ,
Kristiania
40
Eggja,
in: RGA (wie Anm. 28) 6, 2 1986, S. 460—466; BENTE MAGNUS, Eggjasteinen — et dokument om sjamanisme i jernalderen?, in: Arkeologiske skrifter fra Historisk Museum, Universitet i Bergen, 4, Bergen 1988, S. 342 —356 (mir zugänglich durch die Hilfsbereitschaft von M. Müller-Wille). HJALMAR FALK, Odinsheite (Videnskapsselskapets Skrifter. II. Hist.-Filos. Klasse 1924, Nr. 10) 1924,
S. 3 N r . 8,
13 Nr. 44, 23
Nr. 106,
33 Nr. 162,
34 Nr. 169, 41;
JAN
DE
VRIES,
Altgermanische Religionsgeschichte 2, Berlin —New York 2 1957, S. 64, 67, 71; E. O. GABRIEL TURVILLE-PETRE, M y t h and Religion of the North. The Religion of Ancient Scandinavia, London 1964, S. 57, 61 f.; HEINRICH BECK, Adler § 3 in der literarischen Überlieferung, sowie Adlersymbolik, in: RGA (wie A n m . 2 8 ) 1, 2 1973, S . 8 0 f . , 82f.; KLAUS DÜWEL, Zur Ikonographie und Ikonologie der Sigurddarstellungen, in: ROTH (wie Anm. 1, X X V I ) S. 2 2 1 - 2 7 1 , S. 231; HAUCK (wie Anm. 1) X L , S. 24. Als Bilder des Gestaltwandels sind zu verstehen der Avers der Tunalund-Medaillon-Imitation M 2,9a =
1 9 3 s o w i e D a x l a n d e n - B I K 2 3 2 , d a z u HAUCK ( w i e A n m . 1 ) X X V I , S . 2 7 8 f f . u n d X L I I I , S . 1 4 3 .
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Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
3. die unterschiedliche Funktion in der Perspektive der Herrschaftslegitimation durch Götter; 4. vorläufige Anhaltspunkte für die Wiederkehr ikonographischer Elemente in beiden Überlieferungszweigen; 5. die bemerkenswerte Zahl von Fällen, in denen sowohl Goldblechfiguren als auch Goldbrakteaten aus denselben Fundgebieten kommen. Zu 1, den jetzigen Ansichten über die Zeitstellung der beiden Überlieferungsgattungen. Repräsentativ für den Stand der Diskussion sind die Auffassungen von Margrethe Watt und Ulla Lund Hansen. Für die Goldblechfiguren im ganzen wie auch für den geschlossenen großen Fund aus Sorte Muld macht Margrethe Watt geltend: Es „sind genügend Hinweise dafür vorhanden, daß die 'guldgubber' im allgemeinen vom Ende der Völkerwanderungszeit und vom Beginn der Merowingerzeit stammen" 41 . Den neuen Diskussionsstand der Archäologen zur Datierung der Goldbrakteaten faßt Ulla Lund Hansen so zusammen: „Mein Forschungsbericht vermittelt einen Eindruck von den unterschiedlichen Vorstellungen, die man heutzutage über die Dauer der Völkerwanderungszeit hat. Eine Reihe übereinstimmender Tendenzen scheinen den Zeitraum von ca. 400 n. Chr. bis ca. 520/530 n. Chr. einzugrenzen. Das bedeutet im Vergleich zu früheren Chronologien eine Verkürzung dieser Periode ... Ich bin der Auffassung, daß sich die Meinung von den unterschiedlichen Brakteatenphasen nicht mehr aufrecht erhalten läßt ... Das schließt jedoch nicht aus, immer noch mit einer kurzen Entwicklung innerhalb der Brakteatenüberlieferung zu rechnen." 42 Zu 2, dem offensichtlich ungleichen Wert der Goldblechfiguren und Goldbrakteaten, aber der Herstellung von beiden Kleinkunstarten in Goldschmiedewerkstätten in der Nähe von Herrschafts- und/oder Kultzentren. In Sorte Muld, das exemplarisch diese doppelten Funktionen verdeutlicht, wurden „etwa 95% der Figuren aus ... papierdünnem Goldblech mit einer Patrize geprägt" 43 . Zwar fand man in Ostbornholm bisher keine dieser Patrizen 44 . Aber die Herstellung der 'guldgubber' hat dort „allein schon aufgrund der Figurenmenge und der Kenntnis von individuell ausgeschnittenen und geritzten Figuren Wahrscheinlichkeit" 45 . In der Kleinkunst sind die Goldblechfiguren gleichsam nur Fliegengewichte, die Brakteaten dagegen Schwergewichte. Demgemäß treffen wir die Goldblechfiguren
41
W A T T ( w i e A n m . 1 0 ) A b s c h n i t t 7 (im D r u c k ) ; DIES, ( w i e A n m . 1 1 ) S. 1 4 2 .
42
ULLA LUND HANSEN, Die Hortproblematik im Licht der neuen Diskussion zur Chronologie und zur Deutung der Goldschätze in der Völkerwanderungszeit, in: HAUCK (wie A n m . 10) Zusammenfassung v o n Abschnitt 2 (im Druck); s. auch MORTEN AXBOE, Skizze der Forschungsgeschichte zur Chronologie der Goldbrakteaten, ebd. (im Druck).
43
WATT (wie Anm. 10) Abschnitt 5 (im Druck); noch anders JOHN HINES, Ritual Hoarding in Migration-Period Scandinavia. A Review of Recent Interpretations, in: Proceedings of the Prehistoric Society 55, 1989, S. 1 9 3 - 2 0 5 , S . 2 0 0 .
44
Umgekehrt fand man in Seeland zwar das einzige bisher entdeckte Modelfragment, aber keine Goldblechfiguren,
s. d a z u
MARGRETHE WATT
und
ELISABETH
MUNKSGAARD,
Guldgubberne
fra
Bornholm — og damen uden overkrop, in: Nytt fra Nationalmuseet Nr. 29, 1985/86, S. 13; zum Fundort Neble/Boeslunde s. unten Fig. 15 mit der richtigen Bezeichnung Patrize. 45
WATT (wie A n m . 10) Abschnitt 6 (im Druck).
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Karl Hauck und Motten Axboe
in ganz anderen Zahlen in Horten, seitdem die Funde jetzt geschlämmt werden 46 , als das bei den Goldbrakteaten der Fall sein kann 47 . Wie die Herstellungsspuren erkennen lassen, wurden die Goldbrakteaten mit Matrizen hergestellt. Von ihnen hat sich bisher noch nie ein Exemplar gefunden 48 . Aber die Aussonderung des halbfertigen Fehlschlags von Sylten-C, und zwar bevor der Rand beschnitten sowie gefaßt wurde und vor der Osung, um seine Goldscheibe einzuschmelzen, bietet ebenso einen Anhaltspunkt für die Tätigkeit der Goldschmiede im Sorte Muld-Gebiet wie bei den Goldblechfiguren nach Watt „die kleinen Goldblechstreifen ..., die andeuten, daß die einzeln angefertigten Stücke am Ort hergestellt worden sein können". Wenn nun von den fünf auf Bornholm gefundenen Goldbrakteaten sich zwei in dem Sorte Muld-Gebiet fanden, fragt man sich, ob sie nicht überhaupt in ihrer Mehrzahl aus der dort erwägbaren Fertigung stammen. Im Licht solcher Überlegungen hat die eigenständige Version des dänisch-schwedischen Formulars Mackeprangs Bakkegird-C/Pedersker (Fig. 4) eine ähnliche Bedeutung wie der bisher überhaupt nicht bekannte Model von Sylten-C (Abb. 7a und b). Andererseits gilt ja gerade von Sorte Muld-C (Fig. l b ) die volle Übernahme des weit verbreiteten dänisch-schwedischen Formulars, und zwar bei einem Brakteaten, der bei der Oberflächenbegehung am 31. 3.1988 „innerhalb des zentralen Teils des Siedlungsgebiets ..." ebenso wie ein Solidus Theodosius' II. (408 — 450) zum Vorschein kam. Auch fand sich dort am 11. 9.1988 ein Zeno-Solidus (474/75 bzw. 476-491) 4 9 . Zu 3, der unterschiedlichen Funktion in der Perspektive der Herrschaftslegitimation durch Götter 50 . Die beiden Kleinkunstgattungen repräsentieren beispielhaft die Wertekonzentration an Zentralorten. Jedoch wurden sie in unterschiedlicher Weise verwendet. Der große Schatz von Goldblechfiguren aus Sorte Muld führt auf ihre Benützung beim Kult. Auf diese Gebrauchsform weisen „die zahlreichen bewußt zusammengefalteten Fundstücke und ihre sicher dokumentierte Vergesellschaftung mit den sehr kleinen Stücken von Zahlungsgold" 51 . Ihre Hortung hatte den Zweck, sie als Zahlungsmittel für Kulthandlungen bereitzuhalten. Sie veranschaulichen also das wirtschaftliche Interesse der aristokratischen Oberherren an dem regen Fest- und Opferbetrieb in einem solchen Heiligtum, ähnlich wie später die Herren christlicher Eigenkirchen etwa die Wallfahrten zu ihnen als Möglichkeit von gesteigerten Gewinnen förderten. Die Goldbrakteaten als Amulette mit Götterbildern und Symbolen der Dämonenbezwingung mußten dagegen genug haltbar und widerstandsfähig sein, damit
46 47
48
49
50
51
Zuerst von Margrethe Watt durchgeführt. Es charakterisieren die gegensätzliche Situation seit Einführung der Schlämmung aus den Gebieten von: Lundeborg/Fünen 64 Goldblechfiguren, 3 Goldbrakteaten; Sorte Muld/Bornholm 2300 Goldblechfiguren, 2 Goldbrakteaten von Sorte Muld und Sylten. MORTEN AXBOE, Probleme der Brakteatenherstellung. Eine Übersicht über die Forschung, in: Frühmittelalterliche Studien 22, 1988, S. 1 5 8 - 1 6 9 , S. 158. WATT (wie Anm. 10) Abschnitt 5 (im Druck) und brieflich am 5 . 1 . 1 9 9 0 mit bisher unveröffentlichten Fundmitteilungen. FRITZE ( w i e A n m . 8 6 ) S . 1 5 2 f., 2 0 7 f f . ; GABRIEL ( w i e A n m . 5 2 ) S . 2 3 2 f . ; HAUCK ( w i e A n m . 1 ) X L I V
(im Druck). WATT (wie Anm. 10) Abschnitt 8.
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
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Fig. 12 Sorte Muld, Goldblechfigur der sog. Fürstengruppe mit Langszepter und Diadem, 4:1, nach W A T T (wie Anm. 10, Fig. 5), Zeichnung: Eva Koch, wie auch bei Fig. 13.
man sie auch dauernd tragen konnte. Sowohl bei den Goldblechfiguren wie bei den Goldbrakteaten werden am häufigsten, sehe ich richtig, Götter dargestellt. Die Nähe zu ihnen legitimiert in besonderer Weise die Ausübung von Herrschaft 52 . Das wirkt sich auch in der Ikonographie dieser Götterbilder aus, auf die wir nun zu sprechen kommen. Zu 4, vorläufigen Anhaltspunkten für die Wiederkehr ikonographischer Elemente in beiden Uberlieferungszweigen. Bei der Musterung der Motive der Goldblechfiguren und der Goldbrakteaten wird zunächst der Eindruck vorherrschen, daß sie sich sehr erheblich voneinander unterscheiden. Bei den gegensätzlichen Funktionen dieser Kleinkunstarten überrascht das nicht. Aber zu den Gemeinsamkeiten der Bilder gehört die Aufmerksamkeit, die sie der Oberschichttracht und deren Schmuck zollen. Die Götter erscheinen festlich, in einer Art Parade- und
52
H A U C K (wie Anm. 1) XLIV, Abschnitt: Die Organisatoren des Kultes und die Götter; vgl. auch INGO G A B R I E L , Starigard/Oldenburg im 7 . —13. Jahrhundert. Ein Rekonstruktionsversuch der Strukturentwicklung, in: Die Heimat. Zeitschrift für Natur- und Landeskunde von SchleswigHolstein und Hamburg 96, Nr. 9/10, September/Oktober 1989, S. 2 2 5 - 2 4 0 , S.232f.
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Karl Hauck und Morten Axboe
Fig. 13 Sorte Muld, Goldblechfigur der sog. Ruferversionen, Variante I, 4:1, nach WATT (wie Anm. 10, Fig. 3a).
Fürstengewandung 53 . Signifikant dafür sind in Sorte Muld die so vielfaltig variierten Goldblechgestalten mit Langszepter 54 . Es ist zwar bei den Goldbrakteaten nur selten zu treffen 55 , aber dafür um so häufiger das Diadem in Echoformen (Fig. 2, 53 54 55
WATT (wie Anm. 10) Abschnitt 5.c. Stehende Figuren (Die 'Fürstengruppe'). Ebd. Abschnitt 5.c.l. Zum Langszepter auf Goldbrakteaten s. Raum Esrom-C, Vollgestalt der Nebenszene M 8,22 = 50; Revers der Mauland-Medaillon-Imitation M 2,26 = 124; Revers der Tunalund-Medaillon-Imitation M 2,9b = 193.
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
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Fig. 14 Darum (IV)-B, nach IK 1 Nr. 129, 2b.
3, 4, 9, 14, 2 3 - 2 5 , 30, 31, 36, 3 8 - 4 0 ) 5 6 . Dafür stoßen wir bei den Goldblechfiguren umgekehrt auf das Diadem (Fig. 12) nur selten 57 . Nach dieser mehr generellen Bemerkung nun eine speziellere Beobachtung zu den ikonographischen Beziehungen. Sie ergibt sich aus den Handgebärden der Goldblechfiguren, die Margrethe Watt vorläufig nach ihrem „Gruß-" oder „Ausrufegestus" bezeichnet hat (Fig. 13) 58 . Denn die Haltungsformen der Hände kehren in verwandter Weise auf B-Brakteaten mit einer schreitenden Einzelfigur aus jütländischen und niedersächsischen Funden wieder, wie hier zunächst mit DarumB/Darum, Amt Ribe (M 5,16 = 129,2; Fig. 14), veranschaulicht sei 59 . Die für die Identifizierung der auf diesem Brakteaten wiedergegebenen Gestalt an darstellerischem Kontext reichere Version aus Heide, Kreis Norderdithmarschen, SchleswigHolstein (M 5,17 = 74; Fig. 43), ist erst unten bei der Untersuchung von Gemarkung Dannau-C (Abb. 8a, 1 und b) zu würdigen 60 . Der Gestus der erhobenen 56
57 58
59
60
Zu dem Diadem bzw. dem Diademecho auf Goldbrakteaten s. IK (wie Anm. 2) Einleitungsband, S. 75, 87, 89, 103 f. mit Fig. 22. W A T T (wie Anm. 10) Fig. 5e; H A U C K (wie Anm. 1) XLIII, S. 147 mit Fig. 2c. W A T T (wie Anm. 1 0 ) Abschnitt 5.a. Fig. 3 ; zu der Version mit Rufgebärde ebd. Fig. 9c; vgl. zur Gruppe und ihrer Variante IV H A U C K (wie Anm. 1) XLVII, Abschnitt 2b sowie Anhang 2. Vgl. auch die B-Varianten aus Nebenstedt (M 5,15 = 128 und 5,19 = 129,1); s. dazu auch die Nachträge in IK 3 (wie Anm. 2) S. 278 f. sowie H A U C K (wie A n m . 28) S. 376. S. unten nach Anm. 124.
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Karl Hauck und Morten Axboe
Verbreitung der Goldblechfiguren. w S X
1 . g e p r ä g t e Einzelfigur 2. g e p r ä g t e O o p p e i f i g u r 3. a u s g e s c h n i t t e n e o d e r geritzte Menschenfigur 4. g e p r ä g t e T i e r f i g u r m 5. a u s g e s c h n i t t e n e T i e r f i g u r O 6- u n s i c h e r e r Typ / \ 7. B r o n z e b l e c h f i g u r des Goldblechtyps 8. Patrize f ü r F r a u e n f i g u r v f = i r—| Einrahmungen für Funde !/ffl!ül an W o h n p l ä t z e n
r
X Kongsvik
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Hauge Edstenj
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Norre H v a m / X
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Bolrnso
Eketorp
Fig. 15 Fundorte der Goidblechfiguren, nach WATT (wie Anm. 10, Fig. 12).
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
Goldbrakteaten in den Fundgebieten von Goldblechfiguren M-Amulette A - Amulette B-Amulette C-Amulette D-urxJ F-Amulette Typ unbekannt 883 mit Prunkose nur Raumbzw Fundlandschaft bekannt Fundort bei Horten Hinweis auf Fundlandschaft Kapitalis-lmitationen Runen bzw. Runenstein Wanenbild Kultort / Herrschaf tssitz Kirche Graber feld
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244/R; 430
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Gudme g a w o o c 51.3^R: 391:392(3)/R: 393/R; 455.2(31 lundatKxg o 295 Haisalager • « 7S.t:75,2/R
Fig. 16 Brakteaten aus den Fundgebieten der Goldblechfiguren, nach HAUCK (wie Anm. 10).
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Karl Hauck und Morten Axboe
Rechten ist zwar auf den Brakteaten-Versionen wie Darum-B (Fig. 14) als Griff nach dem Kinn veranschaulicht, aber die zur Scham gesenkte Linke stimmt in signifikanter Weise mit der Goldblechfigur aus Sorte Muld (Fig. 13) überein. Die Handgebärden der Götterbildamulette entsprechen anderwärts bezeugten vorchristlichen Schwurgesten 61 . An sie wird man durchaus auch bei der eben genannten Goldblechfigur aus Sorte Muld denken 62 . Für dessen Rolle als Zentralort ist das insofern beachtenswert, als das mit dessen Nutzung als Platz der Gerichtsversammlungen zusammenhängen könnte 63 , die ohne Schwurgötter nicht auskamen. Zu 5, der bemerkenswerten Zahl von Fällen, in denen sowohl Goldblechfiguren als auch Goldbrakteaten aus denselben Fundgebieten kommen. Diese Erörterung geht von der Verbreitungskarte der Goldblechfiguren von Margrethe Watt (Fig. 15) aus, die zwei Dutzend ihrer Fundorte erfaßt hat 64 . Wir stellen neben sie eine Kartierung der Goldbrakteaten, die aus den gleichen Fundplätzen oder doch deren Nahbereich bzw. Umland kommen (Fig. 16). Die Musterung der beiden Karten soll die folgende Übersicht erleichtern, in der die Herkunftsorte nach der laufenden Nummer jeweils mit ihren Kirchspielen verzeichnet werden. Zwar werden auf der zweiten Karte (Fig. 16) die Goldbrakteaten einzeln nachgewiesen, aber da dort die IK-Nummern eingetragen sind, haben wir in den Anmerkungen auch die Mackeprang- bzw. Axboe-Nummern verzeichnet. Bei der Auswertung ihrer Karte (Fig. 15) hat Margrethe Watt geltend gemacht, daß sich die Goldblechfiguren als Indikatoren für Kult- und/oder Herrschaftszentren in Skandinavien verwenden lassen 65 . Unsere Übersicht erhellt, daß sich in den gleichen Lebenszusammenhang auch zahlreiche Funde von Goldbrakteaten einordnen. Als Zusammenfassung dieses Abschnitts folgt nun der Katalogtext für Sylten-C: Nr. 570 (Abb. 6a und b, 7a und b) Sylten-C, Ibsker sn., Bornholm 0ster hd., Bornholm 1989. a)
Verwandte Model Gemarkung Dannau-C, Nr. 571, und bei Lesung Axboe Welbeck Hill, Nr. 387, jedoch gegen die Konjektur anders Hauck, sowie bei anderer Anordnung Gudme II-C, Nr. 392, und Obermöllern-B, Nr. 132.
61
Zu solchen vorchristlichen Schwurgesten PHILIPP HOFMEISTER, Die christlichen Eidesformeln. Eine liturgie- und rechtsgeschichtliche Untersuchung, München 1957, S. 7 f. So auch Margrethe Watt bei ihrem Vortrag auf dem 40. Sachsensymposium in Hannover 1989. Vgl. dazu die besser bezeugte slawische Analogie bei GABRIEL (wie Anm. 52) S. 228, 236 sowie den unten in Anm. 92 nachgewiesenen Helmoldtext. WATT (wie Anm. 10) Abschnitt 8: 'Die Funktion und Bedeutung der Goldblechfiguren als Indikatoren für Kultzentren in Skandinavien' mit Fig. 12. Ebd. im Schlußabsatz von Abschnitt 8 werden folgende „regionale Machtzentren, die auf der Grundlage von Funden mit Goldblechfiguren der Sitz eines zentralen Heiligtums gewesen sein können", angesprochen, die hier mit der laufenden Nummer unserer Ubersicht zitiert seien: 1, 6, 4 (mit Fragezeichen), 7, 8 (mit Fragezeichen), 9 und 11/12. Diese fünf als relativ sicher angesehenen, drei als möglich angesehenen Fälle werden durch die Brakteatenfunde aus diesen Kirchspielen in ihrer Bedeutung doch so aufgewertet, daß sie insgesamt beweiserheblich sind.
62 63
64
65
Übersicht über die gleichen Fundgebiete, aus denen sowohl Goldblechfiguren wie Goldbrakteaten kommen Lfde Fundorte der Nr. Goldblechfiguren / Kirchspiel
Fundorte der Goldbrakteaten / Kirchspiel
Norwegen 1 2 3
Masre-Kirche/Maere Hauge/Klepp Borge/Fredrikstad
Dalum/Miere (Grabfund) 66 Hauge/Klepp (Grabfund) 67 Fredrikstad bzw. Raum Fredrikstad 673
Schweden 4 5 6 7 8
Hög-Edsten/Kville Gullmarsberg/Skredsvik Helgö/Ekerö Ravlunda/Ravlunda Vä/Vä
Lilla-Jored 68 und Fjällbacka/Kville69 Rolfsered/Herrestad (Nachbarkirchspiel)70 Helgö/Ekerö71 Ravlunda/Ravlunda72 Vä/Vä73
Dänemark 9 10 11 12
Sorte Muld bzw. Sylten/Ibsker Raum Ronne/Ronne Gudme/Gudme Raum Lundeborg/Oure 76
13
Norre Hvam/Borbjerg
66 67 67a
68
69 70
Sorte Muld bzw. Sylten/Ibsker (Neufunde) Raum Ronne/Ronne74 Gudme/Gudme (Neufunde) 75 Raum Lundeborg/Oure und Hesselager/ Hesselager77 Norre Hvam/Borbjerg78
Grabfund von Dalum/Miere mit 3 C-Brakteaten M 13,3 = 230 (2 modelgleiche) und 13,4 = 231. Grabfund von Hauge/Klepp mit 1 A- (M 159 = 117,2) und 1 C-Brakteaten (M 15,9 = 73). Einzelfund 1 C-Brakteat (M 8,3 = 244) sowie 1 D-Brakteat (M 18,32 = 430), dessen Fundumstände leider unbekannt sind. Wohl Grabfund von Lilla Jored/Kville, 1 Medaillon-Imitation (M 2,7,a, b = 107), Zugehörigkeit des C-Brakteaten (M 283 = 363,2) zum gleichen Fund ist nicht gesichert. Fjällbacka-C/Kville (M 9,28 = 52) mit unbekannten Fundumständen. Hortfund von Rolfsered/Herrestad mit 1 C- (M 15,22 = 320) und 4 D-Brakteaten (M 16,35 = 488, 3 modelgleiche, und 19,21 = 489), in der Nachbarschaft des Freyjaheiligtums Fröland, die im Hinblick auf die Paarversion des Goldblechs von Gullmarsberg interessiert. Zum Heiligtum DE VRIES ( w i e A n m . 3 9 ) S . 3 0 8 f.
Randfragmente von 2 Braktcaten unbekannten Typs (A 299a VII = 270 und 299b VII = 271). Hortfund mit 2 B- (M 5,6 = 143, modelgleich), 1 C-Brakteaten mit Prunkösung (M 236 = 144,1), 2 D-Brakteaten (A 237a VII = 485 und M 237 = 543,2), letztere mit ungesicherten Fundgeschichten des Jahres 1784. 73 Feldfund von 1674 mit 2 C-Brakteaten (M 12,1 = 202 und M 12,2 = 203) sowie 1 Nachzeichnung des letzteren C-Brakteaten (M 24,18 = IK [wie Anm. 2] Einleitung T a f . C , l ) . 74 Fragment 1 C-Brakteaten (M 10,7a = 324ß). 75 IK 3 (wie Anm. 2) Teil D 2 B (51,3; 391), 4 C- (392, 3 modelgleiche, und 393) sowie 3 D-Brakteaten (455,2 modelgleich). 76 PER O. THOMSEN, Lundeborg. En forelobig redegorelse efter 4 udgravningskampagner, in: Arbog for Svendborg og Omegns Museum 1989, S. 8 — 35, S. 20 ff.; DERS., Die neuen Goldblech-Figurenpaare (Doppelgubben) von Lundeborg, Amt Svendborg, Fünen, in: Frühmittelalterliche Studien 24, 1990, S. 1 2 1 - 1 2 5 . 7 ' Einzelfund von Lundeborg-A (M 3,7 = 295) sowie 2 modelgleiche C-Brakteaten aus zwei verschiedenen Hesselagerfunden (M 6,29 = 75,1 und 61 = 75,2). 78 Hortfund, zu dem auch 10 D-Brakteaten (M 97 = 400,3; M 16,3 = 469; M 16,18 = 470; M 16,29 = 471, 7 modelgleiche) gehören. 71
72
94 b) c) d)
e) f) g) h) j) 1) A P I II
III IV V
Karl Hauck und Morten Axboe
Einzelfund aus der Siedlung Sylten II. NatMus Kopenhagen, lnv.-Nr. D: noch nicht festgelegt. Sehr schlecht erhalten. Stark verwackelte Pressung. Auch wurde das Stück in der Vorzeit in acht Schichten zusammengewickelt. Die Scheibe, die in der Restaurationsabteilung des NatMus Kopenhagen wieder auseinandergefaltet wurde, ist infolge ihrer Lebensgeschichte zerrissen und stark verbogen. 36,0 x 33,1 mm. Der verwendete Model hat nur 31 mm Durchmesser. 2,14 gr. Originaluntersuchung durch M. Axboe, zuletzt am 12.10.1989. Originalphotos von M. Axboe. Erstveröffentlichung. H. Lange. Senkrechte Achse nach inhaltlichen Kriterien und nach Gemarkung Dannau-C festgelegt. Problemstück. Menschliches H a u p t von rechts über einem ' V i e r b e i n e r ' von links. Beizeichen. Motivkreis: Er und das Pferd. Das Haupt ist majestätisch nach rechts über den Vierbeiner nach links gesetzt (beim Haupt wie im Fall von Gemarkung Dannau-C spiegelbildliche Variante der Verknüpfungsspielart Bolbro-Kjollergärd, Nr. 29 und 95, Einleitungsband Fig. 4 Vf 3). Ursprünglich wohl Relieffiguren, die mindestens zum Teil konturgerahmt waren. Durchweg Rest- und Feinbefunde ( l x bis 51x, 63x). l/2x Das majestätische H a u p t hat eine in der Nachfolge der Kaiserhaartracht mit Diadem gegliederte "Frisur'. Aus dem einstigen Perlendiadem ist ein punktiertes Stirnband geworden. An die Stelle des Stirnjuwels und der Haare ist eine Raubvogelprotome mit rundem Kopf, gespitztem Ohr und gekrümmtem Schnabel gesetzt, an die sich eine große, unvollständig erhaltene Einrollung anschließt. Kein Menschenohr. 4x Großes, rundes Auge. Keilförmige Nase. 5x U-förmig geöffneter Mund. Kräftiges Kinn. 14x ' V i e r b e i n e r ' mit rundem Kopf. 15x Ringförmig gerahmter Augenpunkt in der Mittelachse. 16x Spitzes Ohr. 18x Geschlossenes Maul. 20x Weit nach unten heraushängende Zunge. 21 x Langer Hals über flacher Brust. 22x Winkelbänder über der Schulterpartie, die sich am unteren Bildrand befindet. 23x Ansteigender, sich verjüngender Rumpf. Restbefunde eines Schweifs. 25x/26x Je ein erhobenes Vorderbein und ein nach vorn gelegtes Hinterbein, beide mit herabhängenden Zotteln, vgl. Rogenes-C, Nr. 146, sowie Schonen-C, Nr. 151 (hier Fig. 11) V 25/26 bzw. V 48. Die Beine variieren in ihrer Haltung die Bjornsholm-Hauge Version, Nr. 25 und 73 (Einleitungsband Fig. 8 BhF 3c). 27x Omamentalisierte, kleine 'Fuß'-Varianten. 30x Wohl Widerhakenspeer-Spitze in verwackelter Mehrfach-Pressung. 31x Eine spiegelbildliche Swastika vor dem Raubvogelkopf. 32x Eine weitere Swastika vor dem 'Vierbeiner'-Hals. 51 x Restbefund von einem (doppelten?) Kreisstab. 61 Keine Randfassung. 62 Keine Ösung.
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
95
63x
M o d e l n e g a t i v n u r in Restbefunden.
64
W i e der unregelmäßige Rand der Scheibe zeigt, w u r d e der Brakteat nie fertiggestellt. Wahrscheinlich w u r d e er w e g e n der schlechten Pressung v o m G o l d s c h m i e d zusammengebogen, u m wieder eingeschmolzen zu w e r d e n .
2. G E M A R K U N G DANNAU-C, FRÜHER KREIS OLDENBURG, JETZT KREIS OSTHOLSTEIN, HOLSTEIN a. Vorbemerkung, S. 95. — b. Das Fundgebiet Wagrien, S. 95 —100. — c. Die konstitutiven Bildelemente: c.l das menschliche Haupt und der ausgegliederte Arm, S. 100; c.2 das menschliche Haupt im Geleit von zwei Vögeln, S. 103; c.3 die Version des Vierbeiners, S. 105; c.4 das problematische Beizeichen, S. 106; c.5 das dämonische Gegenüber in analogen Varianten, S. 107. — d. Der Befund von Gemarkung Dannau-C im Katalogtext, S. 111 —113. — e. Die zeitliche Einordnung, S. 113. — f. Die Deutung, S. 1 1 3 - 1 1 8 .
a. V o r b e m e r k u n g Bei Sylten-C (Abb. 7 a und b) ermöglichten der Vorbericht zu Sorte Muld als Herrschafts- und Kultzentrum (Fig. l a und 15) von Margrethe Watt 79 sowie der dreiteilige Befund: Gottesbild in Kurzform, Vierbeiner und Beizeichen, eine Analyse in knapperem Umriß. Mit Gemarkung Dannau-C (Abb. 8a, 1 sowie 2 und b) gelangen wir dagegen in das ganz andere Fundgebiet Wagrien. Seit der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts ist zwar dessen Geschichte erfreulich vielseitig und intensiv erforscht 80 . Aber mit Gemarkung Dannau-C dringen wir dort in eine ältere historische Phase vor, für deren Erhellung das meiste noch zu tun ist. Infolgedessen ist selbst ein einzelner, qualitätvoller Brakteat als neues Zeugnis hochwillkommen. Dazu bietet der bisher unbekannte Model sein reich differenziertes Detail in einer Weise, durch die diese Pressung zu einem Schlüsselstück im Brakteatenhorizont wird. Wir widmen daher Gemarkung Dannau-C die Aufmerksamkeit, die seinem Fundgebiet und diesem Götterbild-Amulett gebührt. b. D a s F u n d g e b i e t W a g r i e n Durch das Lebenswerk von Karl Wilhelm Struve (1917 — 1988) wurde Ostholstein mit seinem Zentralort Starigard/Oldenburg als slawischem Fürstensitz archäologisch und historisch so erschlossen, daß es das Interesse der internationalen Forschung zu gewinnen vermochte 81 . Seit den ersten Suchschnitten 1953 bis zu 79
W A T T ( w i e A n m . 1 0 ) ( i m D r u c k ) ; HAUCK ( w i e A n m . 1 ) X L V I I , n a c h A n m . 8 .
80
GABRIEL ( w i e A n m . 5 2 ) S. 2 2 8 , 2 3 2 .
81
KARL WILHELM STRUVE, Starigard — Oldenburg. Geschichte und archäologische Erforschung der slavischen Fürstenburg in Wagrien, in: 750 Jahre Stadtrecht Oldenburg in Holstein, Oldenburg i.H. 1985, S. 73 — 206; vgl. auch INGO GABRIEL, Starigard/Oldenburg. Hauptburg der Slawen in Wagrien I: Stratigraphie und Chronologie. Archäologische Ausgrabungen 1973 — 1982 (Offa-Bücher 52) Neumünster 1984 sowie MICHAEL MÜLLER-WILLE, Die Ostseegebiete während des frühen Mittelalters. Kulturkontakt, Handel und Urbanisierung aus archäologischer Sicht (Rektoratsrede 1989) Kiel 1989.
96
Karl Hauck und Morten Axboe
Fig. 17 Schleswig-Holstein im frühen Mittelalter. 1: Frühstädtische Zentralorte und Burganlagen; 2: wichtige Landwege; 3: Grenzwall (Danewerk); 4: wichtige Wasserwege und Grenzflüsse; 5: Limes Saxoniae mit Schwentinefeld; 6: Gebiete niedriger Höhenlage (bis 10 m N N ) , nach G A B R I E L (wie Anm. 82, S. 105 Abb. 1).
den letzten großflächigen Grabungen 1986 wurde uns so die Hof- und Sakralkultur dieses Zentrums in vielfaltigen Funden gegenwärtig. Seinen Rang verdankt es gewiß auch seiner Lage an der Vogelfluglinie vom Norden zum Kontinent und den Möglichkeiten, die Zugänge zu ihm oder gleichfalls von ihm weg zu kontrollieren, zu vermitteln und gelegentlich auch zu sperren. Diese Rolle seit der slawischen Landnahme bis zur Schwentine, dem slawisch benannten heiligen Fluß 82 , veran82
INGO G A B R I E L , Hof- und Sakralkultur sowie Gebrauchs- und Handelsgut im Spiegel der Kleinfunde von Starigard/Oldenburg, in: Oldenburg — Wolin — Staraja Ladoga — Novgorod — Kiev. Handel und Handelsverbindungen im südlichen und östlichen Ostseeraum während des frühen Mittelalters. Internationale Fachkonferenz der Deutschen Forschungsgemeinschaft vom 5 . - 9 . Oktober 1987 in Kiel, in: Bericht der Römisch Germanischen Kommission [ = RGK] 69, 1988 (1989), S. 1 0 3 - 2 9 1 , S. 106.
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
97
Fig. 18 Zweigliedrige Armbrustfibel mit spitzem Fuß aus der späten Kaiserzeit, Fundort Oldenburg, 1 : 1 . N a c h GENRICH ( w i e A n m . 8 3 , Taf. 2 4 B ) .
Fig. 19a Ovale Plattenfibel, Bronze, um 600, Fundort Oldenburg, 1:1, nach GABRIEL (wie Anm. 82, S. 218 Abb. 44).
19 b,l
19 b,2
Fig. 19b Kleine Schalenspange, Bronze vergoldet, Fundort Oldenburg; Vendelstil C (2. und 3. Drittel des 7. Jh.s), 1:1; b,l Befund, b,2 Rekonstruktionsvorschlag, nach GABRIEL, wie Fig. 19a.
schaulicht die Karte Schleswig-Holsteins in der Karolingerzeit (Fig. 17). In die dunklen Jahrhunderte v o r und bis zur slawischen Landnahme fallen bisher nur Streiflichter durch vereinzelte Belege wie eine zweigliedrige Armbrustfibel mit spitzem Fuß aus der späten Kaiserzeit (Fig. 18) 8 3 , spärliche, kontrovers gedeutete 83
ALBERT GENRICH, Formenkreise und Stammesgruppen in Schleswig Holstein nach geschlossenen Funden des 3. bis 6. Jahrhunderts (Offa-Bücher. Neue Folge 10) Neumünster 1954, S. 69 Taf.24B; GABRIEL ( w i e A n m . 8 1 ) S. 8 1 .
98
Karl Hauck und Morten Axboe
Keramikreste 84 und zwei vendelzeitliche Fibeln der Stilstufe C. Die ovale Plattenfibel (Fig. 19a) wird in das frühe 7. Jahrhundert, die vergoldete, ovale Schalenspange (Fig. 19b) in die beiden letzten Drittel des 7. Jahrhunderts datiert 85 . Die Verbreitungskarte dieser Fibeln (Fig. 20) hier wiederzugeben, ist deswegen zweckmäßig, weil wir sie ebenso vornehmlich im Verkehrsgebiet der Kattegatvölker treffen wie die Goldbrakteaten, die uns hier interessieren. Man kann zumindest die ovale Plattenfibel (Fig. 19a) mit der germanischen Vorbevölkerung des Gebiets und seinen Besuchern zusammensehen. Auch der Name der Menschen, die da wohnten, Wagrier, ist germanisch. Er wird mit der altgermanischen Form * Wägwarjö^ bzw. der altnordischen Form *Vdgverjar rekonstruiert 86 . Der Fundort des Brakteaten liegt in einem Feld südwestlich des Militärlagers Putlos zwischen der Landstraße 87 und den Wiesen in der Gemarkung Dannau mit einer der vier alten Furten des Oldenburger Grabens. Wagrien mit dem Oldenburger Graben ist eine eiszeitlich geprägte Niedermoor- und Seenlandschaft (Fig. 21). Der Oldenburger Graben zieht sich in 22 km Länge und 2 bis 3 km Breite von der Hohwachter Bucht im Nordwesten bis zur Lübecker Bucht im Südosten quer durch die wagrische Halbinsel 88 . In ihr hat Oldenburg 'die alte Burg', das slawische Starigard, als Zentrum am östlichen Rand eines Moränenhorstes eine günstige Schutzlage inne 89 . Adam von Bremen nennt die Burg meerverbunden, civitas Aldinburg maritima^. Der Brakteatenfund aus diesem Gebiet hat für die bis jetzt nicht erhellte Vorgeschichte von zwei Kultplätzen Interesse, und zwar von den erwägbaren Vorstufen: einmal von dem Heiligtum, das aufgrund von indirekten Spuren auf dem höchsten, später abgetragenen Gipfelbereich des Burgwalls von Oldenburg erschlossen wird 91 ; zum anderen von dem weiteren Heiligtum, das man auf dem Wienberg bei Putlos vermutet.
84
TORSTEN KEMPE, Zur Chronologie der Keramik von Starigard/Oldenburg, in: Bericht der R G K 69 (wie Anm. 82) S. 8 7 - 1 0 2 , S.95 und 97.
85
GABRIEL ( w i e A n m . 8 2 ) S. 2 1 7 ff., 2 8 1 f.
86
Ebd. S. 221; ANTJE SCHMITZ, Die Orts- und Gewässernamen des Kreises Ostholstein (Kieler Beiträge zur deutschen Sprachgeschichte 3 ) Neumünster 1 9 8 1 , S. 2 1 ; KARL WILHELM STRUVE, Starigard —
87 88
89 90
91
Oldenburg. Der historische Rahmen, in: Bericht der RGK 69 (wie Anm. 82) S. 2 0 - 4 7 , S.21. Vgl. auch noch immer WOLFGANG H. FRITZE, Probleme der abodritischen Stammes- und Reichsverfassung und ihrer Entwicklung vom Stammesstaat zum Herrschaftsstaat, in: Siedlung und Verfassung der Slawen zwischen Elbe, Saale und Oder, hg. von HERBERT LUDAT, Gießen 1960, S. 141—220, S. 152 f. Mitteilung des Finders und Eigentümers. UWE STOCK, Der Oldenburger Graben in Geschichte und Gegenwart, in: Die Heimat (wie Anm. 52) 96, 1989, S . 2 4 0 - 2 4 4 . MICHAEL MÜLLER-WILLE, Einleitung, in: Bericht der RGK 69 (wie Anm. 82) S. 1 1 - 1 9 , S. 17. Adam von Bremen, Hamburgische Kirchengeschichte (MGH SS rer. germ. in usum schol. [2]) Hannover —Leipzig 3 1917, II cap. 21, S. 76; zur schriftlichen Überlieferung GABRIEL (wie Anm. 81) S . 9 ff. GABRIEL ( w i e A n m . 5 2 ) S. 2 3 2 .
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
99
Fig. 20 Verbreitung vendelzeitlicher Metallfunde der Stilstufe C. 1: Ovale Plattenfibeln; 2: kleine ovale Schalenspangen; 3: übrige Metallfunde der Stilstufe C. Mehrere Belege an einem Fundort sind durch entsprechend viele einander überlappende Punkte ausgedrückt. Nach G A B R I E L (wie Anm. 82, S. 220 Abb. 45 mit Fundortliste 14, 1 - 3 , S. 281 f.).
100
Karl Hauck und Morten Axboe
Denn dort versucht man, das heilige Landeszentrum zu lokalisieren, in dem die Slawen noch in der Mitte des 12. Jahrhunderts den Gott Prove verehrt haben 92 . Infolgedessen fragte im Brief vom 30.12.1989 Ingo Gabriel als intimer Kenner der Oldenburg-Region: „Kann das Stück nicht eventuell neuerliche, unterstützende Argumente zur Bewertung von Wienberg (Prove-Hain!?) und/oder Starigard als frühem Kultort bieten?" c. D i e k o n s t i t u t i v e n
Bildelemente
c. 1 das menschliche Haupt und der ausgegliederte Arm Gemarkung Dannau-C (571; Abb. 8a, 1 sowie 2 und b) ist im ganzen gut erhalten und wenig abgenutzt. Jedoch war der Model größer als der Schröding, so daß wir zwei Bildelemente nur fragmentarisch kennen. Auf Sylten-C (Abb. 7a und b) ist das Haupt in majestätischer Überdimensionierung anstelle der Vollgestalt des Götterfürsten in der oberen Hälfte des Bildfeldes wiedergegeben. Die Haupt-
92
Helmolds Slavenchronik ( M G H SS rer. germ. in usum schol. [32]) Hannover 1937, I cap. 84, S. 160; FRITZE (wie Anm. 86) S. 205 —207; STRUVE (wie Anm. 86) S. 39 f.; brieflich wies mich dankenswerterweise Herr Gabriel am 1 4 . 1 . 1 9 9 0 darauf hin, daß in diesem Zusammenhang auch Heiligenhafen zu berücksichtigen ist.
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
101
Abbreviatur wird auch auf Gemarkung Dannau-C, und zwar da von links, variiert, jedoch mit weiteren Details. Dieser weiteren Ausgestaltung entspricht die Miniaturversion des Hauptes mit stilisierter Haarschraffur und einer Variante der Götterlocke. Eine analoge Götterlocke ist auch auf dem außergewöhnlich feinen, uppländischen Model von Ulvsunda-B/Bromma im Großraum Stockholm (M 5,13 = 195; Fig. 32) zu treffen. Stilistisch ist der Umriß des stark vereinfachten Hauptes mit dem von MecklenburgC (M 6,28 = 125) 93 sowie Lindksr-C (A 86a II = 110; Fig. 28) und OverhornbskC (M [7,1] = 154,2; Fig. 29) verwandt. Die weiteren Details bedürfen der Erklärung durch Analogien, so: der ausgegliederte Arm sowie die zwei Vögel. Gewiß gibt es zu beiden Bildelementen zusammen Varianten wie etwa das nordjütländische Bjornsholm-C/Overlade, Kreis Ärs, Amt Älborg (M 7,3 = 25; Fig. 22) 94 . Aber dort ist statt des Arms nur die Hand ausgegliedert, und zwar auf den Pferdehals 95; dagegen sind Oberarm und Ellbogen mit dem Rumpf zu sehen, wo wir und wie wir sie nach unseren Bildvorstellungen erwarten. Es empfiehlt sich daher, zum Verständnis der Kürzungen auf Gemarkung Dannau-C Analoges in zwei voneinander getrennten Schritten nachzuweisen. Das sei hier mit dem ausgegliederten Arm begonnen. In ähnlicher Weise wie auf Gemarkung Dannau-C (Abb. 8a, 1 und b) wurde die Vollgestalt des Götterfürsten gekürzt auf: Hauge-A/Klepp, Rogaland (M 159 = 117,2; Fig. 23), wobei der gefiederte Begleiter dem Gott gegenüber erscheint; Hojgärd-C/Dalby, Amt Vejle, Ostjütland (M 10,12 = 82; Fig. 24), wobei noch ein zweiter ausgegliederter Arm zu sehen ist 96 und der Vogel in der Randzone wiederholt wird, endlich auf Hjorlunde-C/Hjorlunde, Amt Frederiksborg, Seeland (M 8,21 = 79; Fig. 25), bei dem für uns der über dem Vierbeiner erhobene Arm und die dichte Füllung das größte Interesse haben. In analog vereinfachter Weise wie auf Gemarkung Dannau-C sind Arm und Hand des Gottes gezeigt auf: Kitnaes III-C/ Draby, Amt Frederiksborg, Seeland (A 24a/6 und 15 II = 94,1; Fig. 26), dort allerdings, wie auch sonst gelegentlich, auf den Tierleib und -hals ausgegliedert 97 .
S. unten Anm. 127: Registerhinweis. 94
Die A b w e n d u n g des zweiten Vogels nach rechts hat ein originelles Seitenstück in Linnestad 11-C/
95
Diese Form der Ausgliederung der Hand ist öfters bezeugt, wie Britisches Museum (M 6,21 = 33;
Ramnes, Vestfold (A 132a/2 III = 112). hier Fig. 39), Fünen-C (M 6,19 = 58), die 3 modelgleichen südfünischen Exemplare (M 6,29
=
75,1—3), die 8 modelgleichen p.xemplare aus vier verschiedenen Fundorten (M 7,2 = 96,3 bzw. 1, 2 und 4) und weitere Belege, s. unten Fig. 29, zeigen. 96
In anderen Varianten kehren die 2 ausgegliederten A r m e wieder auf Jonsrud-C/Väle, Vestfold (M 13,5 = 88), und Vatne-C/Hoyland, Rogaland (M 13,6 = I K 3 [wie A n m . 2] Teil C Nachtrag zu 207 Taf. 131).
97
Vgl. auch die Gotteshand über dem Bildfeld von Karcnslyst-C/Branderslev, Lolland (M 10,9 = 89), sowie unten Anm. 104.
102
Karl Hauck und Morten Axboe
Fig. 24 Hojgàrd-C, nach IK 1 Nr. 82b.
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
103
Fig. 25 Hjorlunde-C, nach I K 1 Nr. 79b.
Angesichts dieses Vergleichsmaterials darf der Arm- und Hand-Befund von Gemarkung Dannau-C als erklärt gelten. Allerdings sind noch vier Besonderheiten anzumerken: die Einrollung von Daumen und Zeigefinger sowie die Zeichnung des Handtellers, die Übergröße der Hand und ihre schützende Heils-Gebärde, mit der sie über dem Vierbeiner zu sehen ist. c. 2 das menschliche Haupt im Geleit von zwei Vögeln Zwei Vögel, die den mit dem Haupt-Kürzel wiedergegebenen Gott begleiten, sind nicht nur auf Bjornsholm-C (Fig. 22), sondern auch sonst nachzuweisen, wenn
104
Karl Hauck und Morten Axboe
Fig. 27 Öjorna-C, nach IK 1 Nr. 133b.
auch bisher nie mit den leiterartig ausgestalteten Doppelkonturen 98 . Das läßt sich mit Öjorna-C/Bärebergs, Västergötland (M 15,23 = 133; Fig. 27), dartun 99 . Dort ist der zweite Vogel zwar ähnlich hinter dem Haupt-Kürzel plaziert wie auf Gemarkung Dannau-C (Abb. 8a, 1 und b) , aber in einer anderen Variante, die als Vereinfachung des ersten Vogels gegenüber der Haupt-Abbreviatur zu verstehen ist. Diese vereinfachte, spiegelbildliche Wiederholung erhellt die flexiblen Gestaltungsformen, die dem vorhandenen Platz und der inhaltlichen Bedeutung angepaßt wurden. Auf Gemarkung Dannau-C veranschaulicht der größere, erste Vogel über dem Haupt-Kürzel, wie man sich anzupassen verstand. Wir wissen von diesem Vogel nur durch die Fragmente des mächtigen Raubvogelkopfes, des ganz vereinfachten Beins und des Restbefundes eines schraffierten erhobenen Flügels. Jedoch kennen wir ein halbes Dutzend Vögel in ähnlich auffallender Größe und gleicher Plazierung am oberen Bildrand, bei der deswegen öfters unvollständig überkommene Varianten zu treffen sind 100 . Eine dieser Analogien wird von Gudme-B (IK 3
Als ornamentales Element begegnen diese Doppelkonturen ähnlich singulär beim Vierbeiner, wie unten im Unterabschnitt c.4 besprochen wird. Dagegen ist bei der Haupt-Abbreviatur diese Stilisierung der Haartracht auch sonst gelegentlich zu treffen, wie das Hohenmemmingen-B, Landkreis Heidenheim (A 335a XII = 278), konkretisiert. 99 Zum Fundgebiet im Kreis Viste gehört auch das Kirchspiel Sparlösa, aus dem der oben in Fig. 10 abgebildete Brakteat Olovstorp-C kommt. IOO D I E größte Zahl der Analogien findet sich in den formularverwandten Drei-Götter-Brakteaten, und zwar bei Dänemark(X)-B (M 6,14 = 39), Dänemark-B (M 6,15 = 40, Fragment), Fakse-B (M 6,11 = 51,1, Fragment), Killerup-B (M 6,12 = 51,2, Fragment, modelgleich mit Gudme-B 51,3), Gummerup-B (A 52a II = 66, Fragment), Skovsborg-B (M 6,13 = 165) sowie bei dem ZweiGötter-Brakteaten Ärs-B (M 6,6 = 6). S. auch unten Fig. 34. 98
Zwei neue Goldbrakteaten aus B o m h o l m und Holstein
105
Teil D 51,3) geboten. Sie ist hier am linken Rand der Zeichnung einbezogen (Abb. 8 b), um das verlorene Detail mit einem verwandten zu veranschaulichen. Wahrscheinlichkeit hat es bei Gemarkung Dannau-C, daß die Größe des ersten Vogels mit dem dämonischen Gegenüber zusammenhängt, dem auch die HauptAbbreviatur zugewandt erscheint. Davon wird noch weiter im Unterabschnitt c.5 die Rede sein 101 . c. 3 die Version des Vierbeiners Der Gemarkung Dannau-C-Vierbeiner von rechts (Abb. 8a, 1 und b) ist eine Relieffigur, die teils von einfachen, teils von doppelten, leiterartig ausgestalteten Konturen eingefaßt ist. Letztere haben keine Seitenstücke in der sonstigen Brakteaten-Überlieferung. Die meisten anderen Elemente wie der glockenförmige Kopf mit Augenpunkt, Brauenwulst, gespitztem Ohr und offenem Maul, aus dem nach unten eine Zunge mit ornamentalem Ende heraushängt, sind auf Formularverwandten zu treffen mit zwei Ausnahmen: Erstens der Strich-Restbefund, der aus dem Maul nach oben geht. Es könnte sich um eine Zeichnung von Auswurf handeln. Denn ein solches Auswurfdetail, kombiniert mit einer seitlich heraushängenden Zunge, ist diskutiert bei Britisches Museum-C (M 6,21 = 33; Fig. 39) 102 . Die andere Ausnahme wird von der zweiten Hinterhand geboten, die so auf den Rücken eingedreht ist, daß für den Schweif kein Platz mehr war. Am nächsten reihen sich dem Vierbeiner im ganzen ost- und nordjütländische Formularverwandte an wie: Lindkser-C/Laurbjerg, Amt Randers (A 86a II = 110; Fig. 28), mit einer zweiten Vorderhand, die nachschleift, und Overhornbaek (I)-C/Hornba:k, Amt Viborg (M 85 = 154,2 [modelgleich mit Seeland(?)-C, M 7,1 = 154,1, und unbek. Fundort-C, M 378 = 154,3]; Fig. 29). Die Lindkaer-Version (Fig. 28) steht Gemarkung Dannau-C mit der auffälligen Zeichnung von Schultern und Hüften näher, die Overhornbsek-Variante (Fig. 29) dagegen mit den ornamentalen Details der Zunge sowie der Pferdebeine. Bei Gemarkung Dannau-C und bei der Overhornbask-Variante folgen die Vorder- und Hinterbeine in ihrer Haltung der westjütländischen bzw. schonischen HolmslandKläggeröd-Version 103 . Die bei der Overhombsek-Variante wie bei der nordjütländischen Bjornsholm-Version (Fig. 22) auf den Tierhals ausgegliederte Gotteshand wurde auf Gemarkung Dannau-C mit einer Schutz- und Heilsgebärde über dem Tier abgewandelt ähnlich wie bei Hjorlunde-C (Fig. 25) 104 , bei dem man auch eine Auswurf-Spielart diskutieren kann.
101
S. unten nach Anm. 105.
102 VgL auch Hjorlunde-C, hier Fig. 25, sowie den Befund von Norra Torlunda-C/Vänga, Östergötland (M 14,7 = 130). Die dort erwogene Auslegung dieses Details, das wie eine verdoppelte Zunge aussieht, vertrete ich heute nicht mehr. 103
Zu ihr I K (wie A n m . 2) Einleitungsband, S. 59 und 62 mit Fig. 8,7 und 8.
104
Ebd. S. 1 2 7 f. mit Fig. 2 5 , 1 — 6 mit Varianten der Handerhebung und Handauflegung.
Karl Hauck und Morten Axboe
Fig. 28 Lindkicr-C, nach I K 1 Nr. 110b.
Fig. 29 Overhornbaek-C, nach I K 1 Nr. 154,2b.
c. 4 das problematische Beizeichen Unter der erhobenen Vorderhand des Vierbeiners erscheint ein zeichenhaftes Gebilde. In ihrer Untersuchung der nichtbildlichen Elemente der Goldbrakteaten hat Charlotte Behr es den unklaren Beizeichen zugeordnet. Eine genaue Entsprechung dazu fehlt, aber auf den Formularverwandten wie Bjarnsholm-C (Fig. 22) und Overhornbaek-C (Fig. 29) könnte unter dem Vierbeinerleib ein vergleichbares zeichenhaftes Gebilde diskutiert werden 105 . Man wird daher das Verständnis dieses Details als unsicher bezeichnen. 105
In I K 1 (wie Anm. 2) ist es in der Beschreibung von Bjornsholm (Fig. 22) mit der Verständigungsformel „Ypsilonartig" registriert, in der Beschreibung von Overhornbsek-C (Fig. 29) wird dagegen erwogen, ob es sich um einen herabgefallenen Hörnerschmuck handeln könnte. Von dieser Auffas-
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
107
c. 5 das dämonische Gegenüber in analogen Varianten Die seltene Anordnung der Bildelemente bei Gudme-C (392; Fig. 5) und Obermöllern-B (M 9,1 = 132; Fig. 6) ist, wie oben dargelegt wurde, deswegen zu verstehen, weil das Pferd kopfüber vor dem Gott stürzend wiedergegeben wurde 106 . Klammert man Welbeck Hill (A 305d VIII = 387; Fig. 7b) als kontrovers gelesen aus, so bleibt der Befund von Sylten-C (570; Abb. 7a und b), bei dem das Gotteshaupt nach rechts gewandt, das Tier nach links gewandt erscheint, geheimnisvoll. Betrachtet man jedoch Sylten-C zusammen mit Gemarkung Dannau-C (Abb. 8a, 1 und b), so verliert die Version aus Bornholm ihre Rätselhaftigkeit. Denn sie läßt sich nunmehr als gekürzte Variante von detailreicheren Gestaltungen des Motivs erklären, bei denen durch eine weitere Hauptfigur wie das dämonische Wesen von Gemarkung Dannau-C einzusehen ist, warum der Gott mit seinem Vogelgefolge sich diesem Gegenüber entgegenstellt, das offenbar den Vierbeiner bedrohte. Wie den großen Vogel über dem Gotteshaupt kennen wir dieses Untier allerdings nur aus einem Restbefund. Daraus entsteht aufgrund der Formelhaftigkeit der Details auf den Amulettbildern jedoch kein unüberwindliches Hindernis, weil so signifikante Überreste wie das Kopfrund mit der Unterkiefer- bzw. SchnabelPartie und der doppelte Halsring erhalten blieben. Das uns im ganzen verlorene Tier ist damit als eines der Reptilien mit Vogelköpfen, als eine der reduzierten Greifen-Versionen der Goldbrakteaten, und zwar als eine der Spielarten mit aufgerissenem Schnabel, bestimmbar. Diesen Verwandtenkreis haben wir im Einleitungsteil von IK 3 ausführlich gewürdigt und mit ihm auch das Untier von Tonder-B, Amt Haderslev, Südjütland (M 6,3 = 353), berücksichtigt 107 , das sich dort am linken Bildrand befindet und hier dementsprechend an dem linken Rand der Zeichnung von Gemarkung Dannau-C (Abb. 8b) einbezogen ist. Das Motiv dieses Gegeneinanders von reptilienhaftem Gottesfeind, Vierbeiner und göttlicher HauptAbbreviatur kannten wir bereits in unterschiedlicher Anordnung der drei konstitutiven Bildelemente von Tulstrup-C/Alsonderup, Amt Frederiksborg, Seeland (M 9,13 = 191; Fig. 30). Dessen Reptil mit Vogelkopf ist genauso wie das von Raum Tonder-B im Einleitungsteil von IK 3 unter den reduzierten Greifen-Versionen mitbesprochen, da die größte Gruppe der Untiere der sog. D-Brakteaten dieses Wesen in dem Bildfeld zeigt 108 . Die dramatische Gegenüberstellung der einzelnen Wesen kehrt noch in weiteren Spielarten wieder. Die einen von ihnen beschränken sich auf das Gottesbild mit ikonographischen Äquivalenten für die Greifenversion, die anderen dagegen kombinieren das Vogelbild mit 'Klaffmäulern', also weiteren ikonographischen Äquivalenten der Untierversion. Zur ersteren Gruppe gehören:
sung sind wir inzwischen abgekommen. In der Diskussion am 6 . 1 . 1 9 9 0 verweist Frau Behr auch auf den schonischen Model v o n Kläggeröd-C/Slimminge (M 251 = 96,1, den wir von 8 modelgleichen Exemplaren aus 4 Fundorten kennen), zu dem in der IK-Beschreibung „'Winkel' unter dem T i e r r u m p f ' notiert ist; vgl. vorläufig zu den Beizeichen grundsätzlich BEHR (wie Anm. 13) (im Druck). 106
S. oben nach Anm. 16.
107
IK 3 (wie Anm. 2) Teil A S. 19 f. mit Fig. 1 - 8 und 17,1.
108
Ebd. S. 20 Fig. 8.
108
Karl Hauck und Morten Axboe
Fig. 30 Tulstrup-C, nach IK 1 Nr. 191b.
Fig. 31 Galsted-B, nach IK 1 Nr. 61b.
Galsted-B/Agersskov, Amt Haderslev, Südjütland (M 6,7 = 61; Fig. 31), bei dem der Gott in Vollgestalt mit Diademecho auftritt 109 ; Söderby-B/Danmark, Uppland (M 5,3 = 176) aus dem Umland von Altuppsala 110 ; dort ist der Gott wie auch bei den beiden folgenden Belegen gleichfalls im Geleit von zwei Vögeln dargestellt; Lau Backar-B/Lau, Gotland (M 5,12 = 104), sowie, bereits genannt,
109
110
Zu den Neufunden des letzten Jahrzehnts gehören formularverwandte Fragmente von SlipshavnB/Nyborg, Fünen (IK 3 [wie Anm.2] Teil D 394). Anders zu dieser aus Uppland und Gotland überlieferten Brakteatengruppe KURT BÖHNER, Germanische Schwerter des 5./6. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 34, Teil 2, 1987 (erschienen 1989), S. 4 1 1 - 4 9 0 , S.462Í. mit Abb. 20, 1 - 3 .
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
Fig. 32 Ulvsunda-B, nach IK 3, Taf. 131 Nr. 195b.
Ulvsunda-B/Bromma, Uppland (M 5,13 = 195; Fig. 32), aus dem weiteren Umkreis von Helgö 111 . Zur zweiten Gruppe sind zu rechnen die Klaffmaul-Spielarten mit dem Vogel über ihnen wie: Bohuslän-D, Westschweden (M 18,15 = 413; Fig. 33), und Härum-D/Hole, Buskerud, Südnorwegen (M 18,23 = 439; Fig. 34), mit einem Vogelbild am oberen Rand der Goldscheibe, das zu dem Verwandtenkreis der Vogelspielarten der Drei-Götter-Brakteaten zählt 112 .
111
112
Zur hier abgebildeten, um den Nasenatem ergänzten Lesung s. IK 3 (wie Anm. 2) Teil C S. 198 Fig. 6 und Taf. 131. Diese Verwandten nannte bereits Anm. 100.
110
Karl Hauck und Morten Axboe
l O K P JDJ
voi
°ooooQ^
Fig. 34 Hàrum-D, nach I K 3 Nr. 439b.
Fig. 35 Biistorf-C, nach IK 1 Nr. 37b.
Fig. 36 Asmundtorp-C, nach IK 1 Nr. 18b.
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
111
Beide Gruppen gehen auf den Vierbeiner ähnlich nicht ein wie Hauge-A/Klepp (Fig. 23) bei seiner Wiedergabe der Abbreviaturen-Zweiheit von göttlichem Haupt und göttlichem Arm, die im Zentrum von Gemarkung Dannau-C (Abb. 8a, 1 und b) wiederkehrt. Um so bemerkenswerter ist, daß wir aus dem schleswig-holsteinischen Umkreis von Gemarkung Dannau-C, Kreis Oldenburg, noch eine weitere C- Version kennen, auf der einer der tiergestaltigen Helfer des Gottes, diesmal ein Pferd wie auf Schonen-C (Fig. 11) anstelle des Vogels, sich dem dämonischen Gottesfeind entgegenstellt, der teils in Aufsicht, teils in Seitenansicht gezeigt wird. Das ist in der Nebenszene zum Hauptmotiv der Tierheilung der Fall bei: Büstorf-C/Rieseby, Kreis Rendsburg-Eckernförde (M 14,21 = 37; Fig. 35). Daß der tiergestaltige Helfer in der Pferdespielart auch sonst gelegentlich den Platz und die Rolle des häufiger begegnenden, zumeist antithetischen Vogels innehat, veranschaulicht als einer der schonischen Formularverwandten von Sorte Muld-C (Fig. l b ) und Büstorf-C (Fig. 35): Asmundtorp-C/Trollenäs, Kreis Onsjö (M 14,2 = 18; Fig. 36) 113 . Kurz, die hier zusammengestellten Spielarten aus den Verwandtengruppen von Gemarkung Dannau-C erhellen ebenso den Typ des im größeren Model abgebildeten, auf der Pressung jedoch nur noch fragmentarisch erhaltenen Untiers wie dessen Rolle als Feind des Gottes, seines Vogelgeleits und seines Schützlings, des Pferdes 114 . d. D e r B e f u n d v o n G e m a r k u n g D a n n a u - C im K a t a l o g t e x t Nr. 571 (Abb. 8a, 1 sowie 2 und b) Gemarkung Dannau-C, Kreis Oldenburg, heute Ostholstein (um 1951 oder 1952) a)
b) c) d)
e)
0
1,3
Verwandte Version des Hauptes bei Lindkaer-C, Nr. 110 (Fig. 28), Overhornbaek-C, Nr. 154,2 (Fig. 29) und Hohenmemmingen-B, Nr. 278, von Haupt und ausgegliedertem Arm bei Madla-A und Hauge-A, Nr. 117,1 und 2 (Fig. 23), von Haupt und zweitem Vogel bei Ojorna-C, Nr. 133 (Fig. 27), von Haupt und großem Vogel bei Ärs-B, Nr. 6, und Gudme-B, Nr. 51,3; formularverwandte Vierbeiner bei Bjornsholm-C, Nr. 25 (Fig. 22), Lindkaer-C, Nr. 110 (Fig. 28) sowie den drei modelgleichen Pressungen Seeland-C, Overhornbaek-C (Fig. 29) und unbek. Fundort, Nr. 154,1 —3, formularverwandtes Untier am linken Rand von Tonder-B, Nr. 353. Einzelfund auf einem Feld. Die Nachsuche durch den Finder brachte nichts ein. Privatbesitz. Rand leicht beschädigt. Bildfläche leicht abgenutzt, sonst gut erhalten. Ein kleiner Riß in der Scheibe ist nur auf der Rückseite erkennbar. In der Ose ist eine moderne Schutzröhre eingesetzt. 23,6 mm.
-
Weitere Verwandte sind gewürdigt und abgebildet in IK (wie Anm. 2) Einleitungsband, S. 56 f. Fig. 6,1 und S. 101 Fig. 2 1 , 1 - 6 .
114
S. auch grundsätzlich WOLFGANG SPEYER, Gottesfeind, in: Reallexikon für Antike und Christentum 1 1 , 1 9 8 1 , Sp. 9 9 6 - 1 0 4 3 .
112 g) h) j)
k) 1)
Karl Hauck und Morten Axboe
Originaluntersuchung durch M. Axboe am 25. 9.1989, durch K. Hauck am 26. 9.1989 und 25.1.1990. Originalphotos von M. Axboe. Erstveröffentlichung. Ihre Ergebnisse sind weitergeführt in der Druckfassung des Vortrags von H A U C K (wie Anm. 1) XLIV, nach Anm. 125, und zwar durch die Nachweise der ikonographischen Beziehungen zu den thematisch zusammengehörenden C- und D-Modeln von IK 392 und 455, 2 des Hortes Gudme II. H. Lange.
A I
Senkrechte Achse durch die Osung festgelegt. Gekürzte menschliche Gestalt mit H a u p t und A r m von links, V i e r b e i n e r von rechts, zwei V ö g e l n von links, Untier-Rest von rechts, Beizeichen. Motivkreis: Er und das Pferd.
II
Haupt und kleiner Arm mit großer Hand, umgeben von zwei ungleich erhaltenen Vögeln, alle nach links über den Rücken des Vierbeiners gegenüber von einem UntierFragment, wie der Vierbeiner nach rechts. Haupt, Arm und Vögel spiegelbildlich über dem Vierbeiner in der Verknüpfungsform der Spielarten Bolbro-Kjollergärd, Nr. 29 und 95 (IK Einleitungsband, S. 52 und 54 V F 3, Fig. 4, 5 und 6).
III
Relieffiguren mit einfachen und überwiegend leiterartigen, doppelten Konturen eingefaßt. Handteller (9x), Auswurf (20x), großer, erster Vogel in Restbefunden (36x—41x), Untierüberrest (43x—45x). 1/2 Das menschliche H a u p t trägt eine stilisierte Haartracht, s. Hohenmemmingen-B, Nr. 278, mit Götterlocke über der Stirn, s. Ulvsunda-B, Nr. 195, hier Fig. 32. Kein Ohr. 4 U-förmig gerahmtes Auge, große, gebogene Nase. 5 Mundschlitz zusammengesehen und daher zahnlos wirkend, mit spitzem Kinn. 9 Ausgegliederter kleiner Arm mit großer Hand, deren Zeigefinger und Daumen in je einer Einrollung enden. 9x Handteller, nur angedeutet. 14 V i e r b e i n e r mit großem, glockenförmigem Kopf und 'gerippten' Kiefern. 15 Punktförmiges Auge vor dem Halbrund der Brauenwulst. 16 Gespitztes, großes Ohr. 18 Weit geöffnetes Maul. 20 Nach unten und hinten herabhängende Zunge in triskelenartigem, ringförmig eingefaßtem Ornament endend, s. Killerup-C, Nr. 91, und den Seeland-CModel, Nr. 1 5 4 , 1 - 3 , hier Fig. 29.
IV V
20x 21 u. 23 24 25 26
Restbefund von Auswurf vergleichbar mit Britisches Museum-C, Nr. 33, hier Fig. 39. Gebogener Hals, flache Brust, sich verjüngender Rumpf in leiterartigen Doppelkonturen eingefaßt. Kein Schweif. Zwei ovale Schultern, zwei ovale Hüften 'übereinander, s. Lindkasr-C, Nr. 110, hier Fig. 28. Das eine Vorderbein nach vorn weggestreckt, das andere nach hinten zurückgebogen. Das eine Hinterbein nach vorn bewegt, das andere erhoben und auf den Rücken zu eingedreht. Die Beine variieren in ihrer Haltung die HolmslandKläggeröd-Version, Nr. 84 und 96,1, s. IK Einleitungsband, S. 59 und 62 Fig. 8,7 und 8 BhF 6.
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
27 28 30 36/37x
38x 39x 41x 36/37 38 39 41 43x 44x 45x 61 62
63
113
Bei drei Beinen ornamentalisierte Rin-Kontur-'Hufe', beim erhobenen Hinterbein 'mehrzellig' gestaltet. Bei den Vorderbeinen je zwei Hufringe, bei dem nach oben erhobenen Hinterbein einer. Beizeichen am rechten unteren Rand in singulärer, unerklärter Form. Uberrest vom ersten V o g e l mit ovalem Kopf und scharf gekrümmtem Schnabel, s. Ärs-B, Nr. 6, sowie Gudme-B, Nr. 51,3, in die Zeichnung als besser erhaltene Analogie eingefügt. Großer Augenpunkt. Wohl Flügelrest nach den Granulationskügelchen. Beinstrich und Punktende. Zweiter V o g e l mit eher rundem Kopf, scharf gekrümmtem Schnabel und Halskragen. Augenpunkt. Körper und Flügel in einer Blockform zusammengesehen, die an Dalum-C, Nr. 231, erinnert und mit leiterartigen Doppelkonturen eingefaßt ist. Zwei Strichbeine. Überrest von dem U n t i e r vor dem Haupt im Vogelgeleit. Kopfrund mit Augenpunkt und lang ausgezogenem, gekrümmtem Unterkiefer des geöffneten Schnabels. Restbefund von dem Hals mit zwei Ringen, s. Raum Tonder-B, Nr. 353, hinterstes Tier. Geriefelter Draht, an die Kante angesetzt. Nur leicht abgenutzt. Die Öse hat zwei Wulste, die durch einen schmaleren Grat getrennt sind und von je zwei ähnlichen Graten gerahmt werden. Etwas abgenutzt, am stärksten oben. Unter der Öse sind auf der Vorderseite 5 Goldperlen angelötet. Deutliches Modelnegativ, dessen Lesbarkeit aber durch Abdrücke von Gewebe oder dgl. reduziert wird.
e. D i e z e i t l i c h e
Einordnung
A n dieser Stelle beschränken wir uns auf eine A n g a b e zur relativen C h r o n o l o gie. G e m a r k u n g D a n n a u - C gehört im B r a k t e a t e n h o r i z o n t 1 1 5 zu den jüngeren G o t t Pferd-Brakteaten. f. D i e
Deutung
D i e C-Version des neu b e k a n n t g e w o r d e n e n Brakteaten aus der G e m a r k u n g D a n n a u , K r e i s O l d e n b u r g ( A b b . 8a, 1 und b), bietet unter den mannigfaltigen G o t t - P f e r d - B r a k t e a t e n eine besonders b e m e r k e n s w e r t e Variante. Ihre eigentliche B e d e u t u n g ist a u f den g r ö ß e r e n M o d e l mit der Gegenüberstellung des G o t t e s im Vogelgeleit mit dem Untier zurückzuführen, v o r dem der göttliche Zauberfürst mit seinem gefiederten G e f o l g e den Vierbeiner bewahrt. D i e ganze D r a m a t i k des G e s c h e h e n s wird e r m e ß b a r durch besser erhaltene Analogien des echsenartigen Wesens mit Vogelschnabel. D a ß sie D ä m o n e n der Anderwelt darstellten, konkretisiert exemplarisch die Wiedergabe eines solchen Untiers als Verschlingungsungeheuer auf 0 v r e T o y e n - A / L o k e n , Akershus, S ü d n o r w e g e n ( M 4 , 2 5 = 115
S. oben nach Anm.41.
136; F i g . 37).
114
Karl Hauck und Morten Axboe
Diese Untierversion war am erfolgreichsten von allen dämonischen Wesen, die auf den sog. D-Brakteaten 2ur zentralen Gestalt des Bildfeldes wurden 116 . Ihr Erscheinen auf Gemarkung Dannau-C erklärt die abweichende Anordnung der Bildelemente und veranschaulicht die Todesgefahr, in der der Vierbeiner sich befindet. Das ist auf den symbolischen Formen der Bildamulette alles andere als selbstverständlich. Denn sie setzen das in den Chiffren ihrer magischen 'Telegramme' als bekannt voraus. Aber entweder unkonventionelle Varianten oder solche mit genaueren Details bestätigen diese Auffassung. Eine solche unkonventionelle Spielart des Gott-Pferd-Motivs wird von Lille Kraghede/0rum, Amt Hjorring, Nordjütland (M 14,24 = 108; Fig. 38), geliefert. Dort attackiert eine der selteneren Untierarten als ikonographisches Äquivalent 117 zum Dämon von Gemarkung Dannau-C die Abbreviatur des göttlichen Hauptes. Das aber befindet sich vor und über einem Pferd mit Mähne und Schweif in Rückenlage, die das Unheil ähnlich eindeutig signalisiert wie die Spielarten mit dem kopfüber stürzenden Vierbeiner Gudme IIC (Fig. 5) und Obermöllern-B (Fig. 6). Es sei bereits hier erwähnt, daß wir die Rückenlage auch von den ungekürzten B-Versionen kennen, auf denen vor allem das Tier vor dem Gott zu sehen ist, wovon gleich noch die Rede sein wird 118 . Denn noch raschere Beachtung schenken wir zunächst hier einer der gängigeren Motivabwandlungen wie der von Britisches Museum-C (M 6,21 = 33; Fig. 39) 119 . Dieser Befund verdient besondere Aufmerksamkeit durch die seitlich heraushän-
116
S. I K 3 (wie Anm. 2) Teil A S. 67 die zahlenmäßige Erfassung der greifenartigen Varianten.
117
Zum Begriff des ikonographischen Äquivalents HAUCK (wie A n m . 1) X X V I , S. 277.
118
S. unten v o r A n m . 122.
119
S. dazu HAUCK (wie A n m . 28) S. 367, 380, 390, dort mit einer Textparallele zur Nebenszene.
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
115
Fig. 38 Lille Kraghede-A, nach I K 1 Nr. 108b.
Fig. 39 Britisches Museum-C, nach I K 1 Nr. 33b.
gende Tierzunge und das Auswurf-Detail, eine Kombination, die anderwärts, wie offenbar auch auf Gemarkung Dannau-C, obschon durch den rechten Rand reduziert, variiert wird. Britisches Museum-C reiht sich auch den Amulettbildern an, die die ausgegliederte Gotteshand auf das Tier aufgelegt zeigen wie hier Bj0rnsholm-C (Fig. 22), Overhornbaek-C (Fig. 29) und zusammen mit dem Arm Kitnaes III-C (Fig. 26). Daß diese Spielarten der Handauflegungen Spielarten des schützenden und heilsmächtigen göttlichen Arms, öfters mit überdimensionierter Hand, sind, veranschaulichen Hjorlunde-C (Fig. 25) und eben Gemarkung Dannau-C (Abb. 8a, 1 und b) 1 2 0 . Die beiden gefiederten Begleiter des Gottes haben Raubvogel- und keine Rabenschnä-
120
S. dazu oben Anm.95 und 104.
116
Karl Hauck und Morten Axboe
Fig. 40 Schonen-B, nach IK 1 Nr. 149, l b , 2.
Fig. 41 Skovsborg-D, nach IK 3 Nr. 513b, 1 - 3 .
bei. Daraus entsteht aber deswegen keine eigentliche Schwierigkeit, weil theriomorphe Hilfsgeister in ihrer vielfaltigen Gestalt auch in adlergestaltigen Erscheinungsformen zu treffen sind 121 . Man fragt sich, wie erfolgreich der Gott mit seinem Vogelgefolge dem echsenartigen, durch den Vogelkopf mit den Greifen verwandten Dämon Widerstand leistete, und zwar auch angesichts der oben abgebildeten Untierkonfrontationen von Lille Kraghede (Fig. 38) oder Tulstrup-C (Fig. 30). Diese Frage ist in zweierlei Weise mehr formal, aber doch auch inhaltlich zu beantworten. Zunächst läßt sich geltend machen: Das Untier ist in ähnlicher Weise auf dem Rücken liegend konzipiert gewesen wie die von uns zur Zeichnung
121
BECK
(wie Anm. 39) S. 91 Absatz e;
DÜWEL
(wie Anm. 39) S.231.
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bomholm und Holstein
117
Fig. 42 Skovsborg-B, nach I K 1 Nr. 165b, 1.
von Gemarkung Dannau-C (Abb. 8b) hinzugefügte Parallele des hintersten linken Untiers von Tonder-B, dann aber auch wie der Vierbeiner mit Mähne auf den ungekürzten B-Varianten der Gott-Pferd-Brakteaten wie Schonen (I)-B (M 5,1 = 149,1; Fig. 40) 122 . Dieses gegensätzliche Pendant weist auf die Möglichkeit eines spiegelnden Verfahrens bei der Anordnung der unterschiedlichen Bildelemente. Ein solches Verfahren aber ist bereits bei der Wiederkehr des Zweiges von der Schießspiel-Version der Opferung Balders als Waffe beobachtet, die den Hals des greifenartigen Wesens mit Vogelschnabel auf Skovsborg-D/Levring, Amt Viborg, Westjütland (M 16,23 = 513; Fig. 41), zerteilt 123 . Diesem Seitenstück Bedeutsamkeit zuzumessen, ist um so berechtigter, als sich unter den Brakteaten des Hortes von Skovsborg zwei modelgleiche Drei-Götter-Amulette (M 16,13 = 165; Fig. 42) fanden, die den Zweig, noch von Loki geschultert, wiedergeben 124 . Das greifenartige Untier in Rückenlage, die auf die Bezwingung dieses Dämonen durch den Gott weist, kehrt zudem wieder auf Heide-B, Kreis Norderdithmarschen, Schleswig-Holstein (M 5,17 = 74; Fig. 43) 125 . Dieses im Galvano gut erhaltene Seitenstück aus dem westlichen, nordseenahen Nachbargebiet von Wagrien bestätigt in willkommener Weise unsere Überlegungen zur Rekonstruktion des Untier-Fragments von Gemarkung Dannau-C. Im Rahmen dieser Erstveröffentlichung hat es seine Berechtigung, die Deutungsüberlegungen zu begrenzen. Es sei daher nur noch angemerkt, daß Gemarkung Dannau-C wie Kitnaes-C (A 24a/6 und 15 = 94,1; Fig. 26), das modelgleich mit Hj0rlunde-C (M 7,4 = 94,2) ist, wie Lindkaer-C (Fig. 28), wie der Schonen-CModel (M 7,2 = 96,3, den wir in 8 Pressungen aus 4 verschiedenen Fundorten kennen) und wie der Overhornbaek-C-Model (M 85 = 154,2; Fig. 29) Formularverwandte jener Gruppe sind, die Mackeprang als dänische Gruppe II bezeichnet
122
Zu ihnen HAUCK (wie Anm. 28) S. 377 f. und (wie Anm. 1) X L V I I , nach Anm. 41.
123
HAUCK (wie Anm. 1) X X X V , S.494, 502 und X L , S. 35.
124
HAUCK (wie Anm. 1) X X X V , S . 4 9 4 f.
125
HAUCK ( w i e A n m . 1) X L ,
S.34f.
118
Karl Hauck und Morten Axboe
Fig. 43 Heide-B, nach IK 1 Nr. 74b.
hat 126 . Diese Bezeichnung schließt ja nicht eine andere Herkunft aus. Jedoch bleibe dem Auswertungsband, den wir vorbereiten, ebenso die Musterung der Brakteaten zwischen Nordseeküste, unterer Elbe und Oder vorbehalten 127 wie die Einordnung von Gemarkung Dannau-C in die Seriendeutungen. Hier begnügen wir uns mit dem Hinweis: Dieser Brakteat darf deshalb eines der Schlüsselstücke genannt werden, weil er einen darstellerischen Gott-Pferd-Kontext für das auf den DBrakteaten erfolgreichste Untier liefert, und zwar erheblich vielfaltiger als die seeländische Tulstrup-C-Version (Fig. 30). Wir sind damit so weit gekommen, daß es nun möglich wäre, wenigstens eine vorläufige Antwort auf die Frage von Ingo Gabriel zu geben, die oben an dem Schluß des Unterabschnitts 2b, dem Wagrien-Unterabschnitt, mitgeteilt ist. Aber im Rahmen der Erstveröffentlichung von Sylten-C (Abb. 7a und b) u n d Gemarkung Dannau-C (Abb. 8a, 1 und b) ist es richtiger, daß wir auf diese Frage in der Zusammenfassung eingehen. 3. ZUSAMMENFASSUNG
Neu bekanntgewordene Funde stellen bisher gewonnene Erkenntnisse entweder in Frage oder bestätigen sie, unter günstigen Bedingungen fördern sie es, sich neuen Problemen zu öffnen. Das ist auch bei Sylten-C und Gemarkung Dannau-C 126 127
M (wie Anm. 9) S.41. HELGA S C H A C H - D Ö R G E S , Die Bodenfunde des 3. bis 6. Jahrhunderts n. Chr. zwischen unterer Elbe und Oder (Offa-Bücher 23) Neumünster 1970, Stichwort Brakteaten im Sach- und Typenregister S. 273; s. auch Hamfelde-A (A 322a V I I I = 266) aus dem Kreis Herzogtum Lauenburg.
Zwei neue Goldbrakteaten aus Bornholm und Holstein
119
so, da sie mit Modeln hergestellt sind, von denen wir bisher nichts wußten. Infolge seines reichen darstellerischen Kontexts veranlaßt uns Gemarkung Dannau-C dazu, die Auffassung zurückzuziehen, daß den großen Vögeln der Drei-Götter-Brakteaten am oberen Bildrand eine Sonderstellung zukomme 128 . Sie sind vielmehr Varianten jener gefiederten Hilfsgeister, die den Zauberfürsten geleiten. In dieser Rolle können sie durchaus selbst adlergestaltig sein 129 und gemäß der flexiblen Formensprache auch in ungleicher Größe auf dem winzigen Bildfeld in derselben Funktion gemeint sein. Die Versionen mit unkonventionell zusammengefügten Bildelementen des sog. C-Typus mußten hier besonders interessieren. Gerade sie bestätigen die längst herangereifte Einsicht, daß es sich um Kurzformeln nach bestimmten Regeln handelt. Für sie bildeten jedenfalls die Unterordnung des ornamentalisierten Pferdes unter die Abbreviaturen der Gestalt des göttlichen Zauberfürsten eine spielartenreiche Leitform. Bei den hier gemusterten Spielarten waren außer seinem Haupt auch Arm und Hand sehr bedeutsam. Diese Regeln schließen die Herleitung der Kürzel aus Reitervorstufen aus und beleuchten selbst in den majestätischen Verknüpfungsformen im Fall von Sylten durch die Raubvogelprotome, im Fall von Gemarkung Dannau in dem Ensemble von Chiffren für den Gott und Bildern seines Tiergefolges wie seines dämonischen Feindes die Richtungen der Aktivitäten dieser Gottheit. Zum Verständnis der Goldbrakteaten dringen wir nicht allein durch das Vertrautwerden mit den Verfahren vor, die Göttergestalt im winzigen Bildfeld gekürzt wiederzugeben, und durch die Untersuchung der dargestellten Inhalte in ihren unterschiedlichen Versionen, sondern vielmehr auch durch die Erforschung ihres Sitzes im Leben. Da wir in Südskandinavien keine Grabfunde mit Goldbrakteaten kennen, gilt es, dieses Hindernis durch andere Zugänge zur einstigen Lebenswelt auszugleichen. Einen davon eröffnet das Nebeneinander von Funden von Goldblechfiguren u n d Goldbrakteaten. Was dieses Nebeneinander bedeutet, beginnen so intensiv erschlossene Fundplätze wie das fünische Gudme mit Lundeborg und Sorte Muld auf Bornholm zu erhellen, die in gleicher Weise die Funktionen von Heiligtümern, Fernhandelsplätzen und Herrschaftssitzen zusammen erfüllten. So aufwendige Siedlungsgrabungen wie dort sind jedoch nur in Einzelfällen möglich. Daher vermehrt unsere Zugangsmöglichkeit zu solchen Plätzen die vorläufige Erfahrung, daß Goldblechfiguren nur in Ausnahmefällen außerhalb von zentralen Kultstätten verbreitet waren 130 . Das versuchen die Karten (Fig. 15 und 16) auszunützen, die noch eingehender zu analysieren sind, und zwar auch zusammen mit der Auswertung alter sakraler Ortsnamen, die archäologische Funde datieren 131 . Bei den beiden Fundgebieten ist die Wertekonzentration in Herrschaftssitz und Heiligtum unverkennbar. Bei Gudme wie bei Sorte Muld ist es dasselbe Sozialgefüge, in das gleichzeitig auch die Goldbrakteaten gehören. Bei Oldenburg-Starigard
128
So zuletzt HAUCK (wie Anm. 1) XL, S.28 Anm. 50. Die dort zitierte ältere Auffassung war die richtigere.
129
BECK ( w i e A n m . 3 9 ) S . 8 1 A b s a t z e; DÜWEL ( w i e A n m . 3 9 ) S . 2 3 1 .
130 WATT (wie Anm. 10) Abschnitt 8, letzter Absatz. 131 S. dazu nunmehr HAUCK (wie Anm. 1) XLVII, nach Anm. 17 und 93.
120
Karl Hauck und Morten Axboe
gilt dieses Werte-Konzentrat erst für jüngere Jahrhunderte. Ob wir mit einem Fund wie Gemarkung Dannau-C ein Zeugnis einer älteren Vorstufe von der späteren Hof- und Sakralkultur dieses Gebiets erreichen, ist vorerst nicht zu entscheiden. Möglich ist es deswegen, weil dieses Götterbild-Amulett nur in einem bedeutenden Zentrum zu entstehen vermochte, das um so eher eines in Wagrien sein könnte, je mehr wir von seinem dunklen Jahrhundert in Erfahrung bringen werden. Angesichts von so detailreichen Brakteaten wie Büstorf-C (Fig. 35) oder Heide-B (Fig. 43), die gleichfalls aus schleswig-holsteinischen Funden stammen, und im Hinblick auf die singulären Elemente von Gemarkung Dannau-C wie die leiterartig gerippten Doppelkonturen ist eine Entstehung im Süden des dänischen Hauptverbreitungsgebiets eine Möglichkeit, die keineswegs auszuschließen ist.
PER O. THOMSEN
Die neuen Goldblech-Figurenpaare (Doppelgubben) von Lundeborg, Amt Svendborg, Fünen Die letzten vier Jahre hindurch hat das Svendborg-Museum bei Lundeborg in Südostfünen archäologische Untersuchungen durchgeführt 1 . Dieses südostfünische Gebiet ist archäologisch auf Grund der vielen und reichen Funde aus der römischen Kaiserzeit und dem Frühmittelalter wohl bekannt. So liegt der zweitgrößte Goldfund Dänemarks, der Fund von Broholm, in Südostfünen, und auch das größte untersuchte Urnengräberfeld, Mollegärdsmarken, ist hier gelegen. Die vielen archäologischen Untersuchungen der letzten Jahre im Gebiet um Gudme haben in gleicher Weise eine Reihe von sehr reichen Siedlungen mit Hausgrundrissen zutage gefördert. Alles in allem zeichnet sich ein Bild einer sehr reichen und wahrscheinlich auch machtvollen eisenzeitlichen Gesellschaftsstruktur gerade in diesem Teil von Dänemark ab (Fig. 1). Trotzdem überraschte der Fund bei Lundeborg. Hier war, fast direkt auf dem Strandufer, der älteste Handelsplatz Dänemarks angelegt, den eine mächtige Kulturschicht, reich an Artefakten, charakterisiert. Der Hauptteil der Artefakte ist dadurch gekennzeichnet, daß sie mit handwerklichem Gewerbe oder Handel in Zusammenhang gebracht werden können 2 . Die Ausgrabungen der letzten zwei Jahre dokumentieren zusätzlich, daß der Fundort 600 Jahre kontinuierliche Handelsgeschichte erschließt. Der Handelsplatz entsteht um 200 n. Chr. und wird bis 800 n. Chr. benutzt. Ausgrabungstechnisch werden die Untersuchungen bei Lundeborg in einer Kombination herkömmlicher Ausgrabungsmethoden mit Kelle und einer nachfolgenden Schlämmung der abgegrabenen Kulturerde mit einer Wassersiebvorrichtung durchgeführt. Diese Kombination sichert, daß alle Artefakte, selbst die kleinsten, auf dem Handelsplatz registriert werden. Unter anderem auf dieser methodischen Basis hat der Handelsplatz die Jahre hindurch viele faszinierende und spezielle Artefakte in dem mannigfaltigen Fundmaterial geboten. Ein großer Teil der Artefakte bezeugt das variie1
2
Das Fundmaterial von Lundeborg befindet sich im Svendborg Museum unter den Journalnummern: SOM A 2 - 8 6 Lundeborg I und SOM A 7 - 8 6 Lundeborg II. PER O. THOMSEN, Lundeborg I. Havn og handelsplads fra 3. og 4. ärh. efter Kr., in: Arbog for Svendborg og Omegns Museum 1986 (1987), S. 12—52; DERS., Undersogelse af havn og handelsplads ved Lundeborg, in: Arbog for Svendborg og Omegns Museum 1987 (1988), S. 17—29; DERS., Havn og handelsplads fra 3. og 4. ärh. ved Lundeborg pa Sydostfyn, in: Skattefund og bebyggelse i Gudme-omrädet pä Fyn. Beretning fra det 2. Gudme-symposium, Kobenhavn den 6. marts 1987, red. af PETER VANG PETERSEN (Skrifter fra Historisk Institut, Odense Universitet, Nr. 37) Odense 1989, S. 36—47; DERS., Ein neuer Stierkopf aus Fünen, in: Frühmittelalterliche Studien 23, 1989, S. 417—419; Nis HARDT, Glimt fra Lundeborg, in: Arbog for Svendborg og Omegns Museum 1 9 8 8 ( 1 9 8 9 ) , S. 2 0 - 3 0 .
122
Per O. Thomsen
Fig. 1 Das Gebiet von Gudme und dem Naturhäfen Lundeborg in Südostfünen.
rende Warensortiment, über das der eisenzeitliche Handelsplatz verfügte. Andere Artefakte erhellen die Kontakte zu fremden Gegenden. Einer der spektakulärsten Funde wurde während der letzten Ausgrabungskampagne im Sommer 1989 geborgen. Es handelt sich dabei um einen Schatzfund mit 30 Goldblech-Figurenpaaren, Doppelgubben; hinzu kommen 34 goldene Doppelgubben, die ebenfalls in der gleichen Ausgrabungskampagne gefunden wurden. Der Gesamtfund umfaßt also 64 Goldblech-Figurenpaare, Doppelgubben, in Lundeborg (Abb. 9).
Die neuen Goldblech-Figurenpaare von Lundeborg
123
S. 25 Fig. 7.
Nichts hatte vorher auf das Vorhandensein von geprägten Goldblech-Figuren, noch dazu in größerer Zahl, auf dem Handelsplatz hingedeutet. Zwar wurde 1988 eine ausgeschnittene Goldblech-Einzelfigur (Fig. 2; Abb. 10), jedoch etwas weiter vom neuen Fundort entfernt, geborgen. Die 30 geprägten Goldblech-Figurenpaare stammen von einer Sammelniederlegung. Das Gebiet, in dem die Goldgubben lagen, war nicht größer als eine geballte Faust. Daher ist anzunehmen, daß die Gubben in einer kleinen Lederbörse oder dergleichen gelegen haben. Die übrigen 34 geprägten Goldblech-Figurenpaare lagen dicht bei dem Schatzfund, machen aber nicht einen Teil von dem Sammelfund aus. Von einem gestörten Hort kann keine Rede sein. Die Streuung der 34 Gubben deutet vielmehr darauf hin, daß gerade dieser begrenzte Teil des Handelsplatzes den Ort darstellt, wo Gubben ausgeteilt wurden. Ähnliche Gebiete mit anderen Sonderfunktionen innerhalb von Handel und Handwerk sind von anderen Abschnitten vom Lundeborg-Fundort bekannt. Denn der Handelsplatz ist nach unterschiedlichen Funktionen gegliedert. Von größter Bedeutung ist, daß der Fundkontext der Gubben datiert werden kann. Die Kulturschicht, in der die Gubben lagerten, enthält Gegenstände, welche die Goldblech-Figurenpaare von Lundeborg datieren. Mit Hilfe von Fibeln und Keramik aus der Kulturschicht kann dokumentiert werden, daß die Gubben im Laufe der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts n. Chr. niedergelegt wurden. Die Prägung auf den Doppelgubben variiert vielfältig, und nicht alle Prägungen können eindeutig interpretiert werden. Der Hauptteil der Gubben, dessen Prägungen gedeutet werden können, zeigt deutliche Details, während andere sich nur durch gewisse Personenkonturen unterscheiden. Es handelt sich jedoch ohne Zweifel bei dem Fund ausschließlich um Goldblech-Figurenpaare, Doppelgubben. Bis auf drei Gubben sind auf jedem Goldblech eine männliche sowie eine weibliche Person abgebildet. Die drei Ausnahmen werden dadurch gekennzeichnet, daß die Figuren in identischer Kleidertracht dargestellt sind, sich aber wie auf den übrigen Gubben verhalten. Die Gubbenpaare stehen einander zugewandt, im Profil gesehen, gegenüber, die männliche Figur steht links, die weibliche Figur rechts, bis auf zwei Paare, wo die Figuren die Seiten gewechselt
124
Per O. Thomsen
haben. Die Paare umarmen oder berühren sich gegenseitig, aber auf einzelnen Gubben sind leicht abweichende Motive zu sehen. Auf zwei Gubben ist die männliche Figur mit einem Stab abgebildet, auf dem die eine Hand ruht. Die weibliche Figur greift um das Handgelenk der männlichen Figur. Der Stab steht zwischen beiden Figuren. Die zwei Gubben sind fast identisch, teils was den Stab angeht, aber auch in der Tracht sowie in den Frisuren (Abb. 11 —13)3. Diese Paarversion mit dem Stab kannten wir bereits grundsätzlich von drei modelgleichen Prägungen aus der Grabung unter der Masre-Kirche, Nordtrondelag (Abb. 14) 4 . Eines der südostfünischen Goldblech-Figurenpaare stammt aus dem Hort, das andere gehört zu den übrigen 34 Gubben. Eine Prägung unterscheidet sich von den übrigen dadurch, daß dem Motiv ein Trinkhorn zugesellt ist. Das Horn wurde zwischen den Gesichtern wiedergegeben, gerade so, als ob das Pärchen im Begriff ist, aus dem Horn zu trinken. Motivverwandt ist ein Goldblech-Figurenpaar aus Helgö, bei dem an der gleichen Stelle ein Becher zu sehen ist 5 . Die LundeborgVariante ist jedoch dadurch noch reicher, daß auch da ein Stab zwischen dem Mann und der Frau (Abb. 15 und 16) zu sehen ist 6 . Die übrigen Gubben im Fund bieten mannigfaltige Details, auf die hier nicht weiter eingegangen wird. Vielmehr beschreiben wir nur die Hauptelemente. Die Gesichtszüge sind sehr unterschiedlich, teils naturalistisch, teils sehr abstrakt dargestellt. Bei einem beträchtlichen Teil der Gubben dominieren die kreisförmigen Augen der Pärchen. Arme und Finger variieren erheblich. Die Finger können deutlich markiert dargestellt sein, können aber auch nur als eine ZweifingerKurzform oder wie eine Pranke abgebildet sein. Auf mehreren der Gubben sind Ringe auf den Handgelenken zu sehen. Die Figuren sind entweder stehend oder in Bewegung abgebildet. Die stilisierten Bewegungen der Beine können einem Tanz ähneln, so daß die Figurengruppe als ein tanzendes Pärchen erscheint. Die Tracht der Goldblech-Figurenpaare wird durch viele faszinierende Einzelheiten gekennzeichnet. Einige davon seien hervorgehoben. Die M ä n n e r sind in Hosen, wie sie z. B. vom Thorsbergfund bekannt sind, gekleidet. So jedenfalls kann man die ziemlich undifferenzierte Darstellung der Beine interpretieren. Gerade Hosen würden den stilistischen Eindruck ergeben, den die Gubben vermitteln. Einige der männlichen Figuren tragen zu den Hosen knie- oder auch knöchellange Gewänder. Bei letzteren handelt es sich um einen geschlitzten, vorne offenen Umhang, der auf der Brust zusammengehalten wird. Die Haartracht des Mannes reicht bis zur Schulter; sie ist glatt und nach hinten gekämmt. Einzelne Gubben 3 4
Goldgubbe Nr. S O M A 7 - 8 6 x 832; G o l d g u b b e Nr. S O M A 7 - 8 6 x 849. HANS EMIL LIDÉN, From Pagan Sanctuary to Christian Church. The Excavation of Macrc-Church in Trondelag, in: Norwegian Archaeological Review 2, 1969, S. 3 —21, Fig. 1 2 , 1 — 3 ; das Photo verdanke ich K . Hauck.
5
WILHELM HOLMQVIST, Excavations at Helgö I. Report f o r 1 9 5 4 — 1 9 5 6 , Stockholm 1 9 6 1 , S. 109 f. Inv.-Nr. 25075:962, Taf. 19,19; KARL HAUCK, Frühmittelalterliche Bildüberlieferung und der organisierte Kult, in: DERS. (Hg.), Der historische Horizont der Götterbildamulette aus der Übergangsepoche v o n der Spätantike zum Frühmittelalter (Abhandlungen der Philologisch-Historischen Klasse der Göttinger Akademie der Wissenschaften) (im Druck).
6
Goldgubbe Nr. S O M A 7 - 8 6 x 720.
Die neuen Goldblech-Figurenpaare von Lundeborg
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zeigen jedoch, daß die Frisur des Mannes auch in mehreren Kurzhaarfrisuren variieren kann. Die Tracht der F r a u e n besteht aus einem sittsamen, knöchellangen Kleid, und um die Schulter liegt oft ein Tuch oder ein großer Schal, der vorne auf der Brust zusammengehalten wird. Die dominierende Haarfrisur der Frauenfiguren ist das lange, glatt nach hinten gekämmte Haar, im Nacken zu einem charakteristischen Knoten geflochten. Das Haar reicht oft bis zu den Knöcheln, aber diese Länge entspricht wohl eher der ornamentalen Ausdrucksform, als daß das der eisenzeitlichen Wirklichkeit nahe kommt. Andere Frauendarstellungen bezeugen auch, daß das Haar bedeutend kürzer sein kann; es reicht dann entweder bis zur Lende oder etwa nur bis zur Schulter. Diese Haupteindrücke ergeben, daß die Goldblech-Figurenpaare von Lundeborg alle 64 Stück, jedes für sich, kunstgewerbliche Einzelstücke darstellen. Einige sind fast gleich und können in verschiedenen Gruppierungen eingeteilt werden, aber sie sind nie identisch. Andere Gubben stehen ohne Gegenstück da. Gerade die Gleichartigkeit und zur gleichen Zeit doch Verschiedenartigkeit der Gubben erscheint wie ein Paradox, das nicht zufällig wirkt. Dieses Paradox auf Grund der Lundeborggubben allein interpretieren zu wollen, könnte leicht zu Trugschlüssen führen. Darum müssen die übrigen skandinavischen Gubben, um eine größere Sicherheit in der Interpretation zu erreichen, mit in die Auswertung dieses Fundes einbezogen werden. Auch bei der Antwort auf die Frage, wie man die GoldblechFigurenpaare verwendete, muß das übrige skandinavische Material miteinbezogen werden. Ohne Zweifel stellen die Bilder der Gubben bestimmte mythologische Szenen dar. Der Diskussion angemessen ist es, vorerst die einander zugewandten Gestalten noch nicht einzeln zu benennen. Bescheidet man sich damit, die Zweier-Gruppe zu identifizieren, so liegt es angesichts des so vielfaltig variierten Generalthemas nahe, an die Wanen als Hochzeitsgötter zu denken 7 . Denn die Gleichartigkeit in der Motivwahl stützt die Auffassung von einem Zusammenhang zwischen den Goldblech-Figurenpaaren und den religiösen Auffassungen der alten Zeit. Auch gilt, daß die einzelnen bildlichen Darstellungen gleichzeitig die Gegenwart der Gubben spiegeln.
7
HAUCH: ( w i e A n m . 5 ) .
THEODOR NOLTE
Der Begriff und das Motiv des Freundes in der Geschichte der deutschen Sprache und älteren Literatur Freundschaften gehören in der heutigen Gesellschaft zur Privatsphäre. Sie haben keinen gesellschaftlich sanktionierten oder gar institutionellen Charakter. Daher kann jede Person sehr unterschiedliche Freundschaften unterhalten, entsprechend ihren vielfaltigen Lebensbereichen, — im Beruf, in der Politik, im kulturellen Sektor und in der Freizeit. Im folgenden Diskurs geht es um die Frage, welche Strukturen von Freundschaft demgegenüber das Mittelalter, speziell die deutsche Literatur des Mittelalters entwirft. Schon der ältere deutsche Sprachgebrauch verrät in diesem Punkt einiges. Ich beginne daher mit einem sprachhistorischen Überblick über die Geschichte des Wortes 'Freund' und der jeweils mit ihm konkurrierenden Wörter. Dieser Überblick erleichtert dann auch den literaturwissenschaftlichen Zugang. In poetischen Texten werden nämlich unterschiedliche Lexeme für den Begriff des Freundes gebraucht, deren Stellenwert erst unter sprachhistorischer Perspektive präziser zu bestimmen ist. 1. In Joachim Heinrich Campes 'Wörterbuch der Deutschen Sprache' von 1807 bis 1811 findet man beim Stichwort Freund als erste Bedeutung eine auf den ersten Blick überraschende Definition. Freund ist: „eine Person, welche durch Verwandtschaft des Blutes mit uns verbunden ist" 1 . Erst an zweiter Stelle wird die uns geläufige Bedeutung „eine Person, die man auch ohne mit ihr verwandt zu sein, liebt [...]" angegeben. Diese doppelte Bedeutung des Wortes ist auffallig; und die Reihenfolge der Bedeutungen bei Campe spiegelt sicher nicht den schriftsprachlichen Gebrauch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wider, — man denke an Schillers „Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein"! —, sondern eher eine s p r a c h h i s t o r i s c h e Entwicklung. 1.1 Werfen wir also einen Blick auf die Geschichte des Wortes Freund, die bislang noch nicht systematisch untersucht worden ist. Als früheste schriftlich überlieferte Form begegnet das gotische frijönds, ursprünglich ein Partizip Praesens des Verbs frijön = 'lieben'. Die indogermanische Wurzel lautet *priio- — 'lieb' 2 . Frijönds bedeutet also eigentlich: 'der Liebende',
1
JOACHIM HEINRICH CAMPE, W ö r t e r b u c h d e r d e u t s c h e n S p r a c h e , 5 B d e . , B r a u n s c h w e i g 1 8 0 7 — 1 8 1 1 ,
2, S. 169. 2
Vgl. JULIUS POKORNY, Idg. etymologisches Wörterbuch, 2 Bde., Bern —München 1959 — 1969, 1, S. 844; SIGMUND FEIST, Etymologisches Wörterbuch der gotischen Sprache, Halle/Saale 1923, S. 124 f.
Der Begriff und das Motiv des Freundes
127
'der in Liebe Verbundene'. Im Schleswig-Holsteinischen (Nordniedersächsischen) ist noch heute ein Adjektiv friend (/frind/) zum Verb friert belegt in der Bedeutung 'verliebt' 3 ! In der gotischen Bibel des Bischofs Wulfila entspricht frijönds jeweils dem griech. (piXoq in der Vorlage 4 . Die ursprüngliche Gebrauchssphäre von idg. *priio- bezog sich nach Meinrad Scheller 1) auf die „Bezeichnung der Zugehörigkeit des Körpers und seiner Teile", 2) auf die „Bezeichnung der B l u t s v e r w a n d t s c h a f t " 5 . Bereits germ. frijonds hat nach Scheller die beiden Hauptbedeutungen 'Freund' und 'Verwandter' 6 . Demzufolge kann ags. freond, afries. as. friund und ahd. friunt jeweils 'Freund', aber auch 'Verwandter' bedeuten 7 . Ja, im Altnordischen bedeutet frandi in erster Linie 'Verwandter'/'Blutsverwandter' 8 . Im Schwedischen und Norwegischen ist diese Bedeutung z. B. ausschließlich festgehalten worden 9 . 1.2 Schauen wir uns die ahd. Verwendung des Wortes näher an. In den Glossen steht es meist für lat. amicus, carus, cliensw. Hier kommt allerdings das Problem hinzu, daß im Mittellateinischen im Gegensatz zur klassischen Verwendungsweise amicus auch für den Verwandten bzw. Verschwägerten gebraucht werden kann 1 1 . Bei den Glossen befinden wir uns daher auf schwankendem Boden. Dagegen ist bei Notker durch den Kontext jeweils die Gleichsetzung amicus — friunt in der Verwendungsweise von Neuhochdeutsch 'Freund' gesichert 12 . Im Vocabularius
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11
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O T T O M E N S I N G , Schleswig-Holsteinisches Wörterbuch, 5 Bde., Neumünster 1927-1935, 2, Sp. 230. Vgl. SIGMUND F E I S T , Vergleichendes Wörterbuch der gotischen Sprache, Leiden 3 1939, S . 168. Für den Verwandten steht in der Regel got. ganipjis, ebd. S. 196. M E I N R A D S C H E L L E R , Vedisch 'priya' und die Wortsippe 'frei', 'freien', 'Freund'. Eine bedeutungsgeschichtliche Studie (Ergänzungshefte zur Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiet der idg. Sprachen 16) Göttingen 1959, S. 73. Ebd. S. 105 — 108. Scheller vermutet, daß germ. frijond „ursprünglich nur die durch Heirat gewonnenen Verwandten bezeichnet [...]" (S. 107). Vgl. F R I E D R I C H K L U G E , Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache, 2 0 . Aufl. bearbeitet von W A L T H E R M I T Z K A , Berlin 2 0 1 9 6 7 , S. 2 1 8 . JAN DE VRIES, Altnordisches etymologisches Wörterbuch, Leiden 2 1962, S. 145. Vgl. Svensk —tyskt standardlexikon, Nack 1 9 7 7 , S. 7 6 zu frände\ G E R D PAULSEN, Norsk —Tysk ordbok, Gyldendal 1979, S. 106 zu frende. Vgl. TAYLOR S T A R C K — J . C . W E L L S , Althochdeutsches Glossenwörterbuch, Heidelberg 1 9 7 1 , S. 1 7 9 . Vgl. außerdem W O L F G A N G F R I T Z E , Die fränkische Schwurfreundschaft der Merowingerzeit, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 7 1 , 1 9 5 4 , S. 7 4 — 1 2 5 , S. 80f. Anm. 21. Vgl. Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert, hg. von der Bayer. Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1, redigiert von O T T O P R I N Z unter Mitarb. von JOHANNES S C H N E I D E R , München 1 9 6 7 , Sp. 5 6 3 — 5 6 5 . Auch das afrz. ami ist für beide Verwendungsbereiche belegt, was „nur unter dem Einfluß des fränk. 'Freund' erklärbar ist". F R I T Z E (wie Anm. 1 0 ) S. 1 2 4 Anm. 1 5 7 . Vgl. A D O L F TOBLER — E R H A R D L O M M A T Z S C H , Altfranzösisches Wörterbuch, 5 Bde., 1 9 2 5 f., 1 , Neudruck Wiesbaden 1 9 5 5 , S. 3 5 1 . Vgl. E D W A R D H . S E H R T , Notker-Glossar, Tübingen 1 9 6 2 , S . 6 0 . Darüber hinaus findet sich auch noch der Beleg des Glossators friundis für lat. proximi. Die Schriften Notkers und seiner Schule, hg. von P A U L P I P E R , 3 Bde., Freiburg i. Br.-Tübingen 1 8 8 2 - 1 8 8 3 , 2 , S. 4 3 3 , Z . 1 9 . Vgl. auch G E R H A R D K Ö B L E R , Althochdeutsch — neuhochdeutsch — lateinisches und lateinisch — althochdeutsches Wörterbuch zum Notker-Glossar, Gießen 1986, S. 58 unter friunt.
128
Theodor Nolte
SGalli findet sich jedoch der B e l e g p a r e n t e s f r i u n t 1 3 . Für lat. cognatus, a f f i n i s , propinquus bieten die Glossen jeweils ahd. mägu, für consanguineus ahd. gisibbo15. Bei Otfried von Weißenburg und Notker ist friunt jedoch auch in der Bedeutung 'Verwandter' belegt 16 . In der Bedeutung amicus konkurriert ahd. friunt mit den Lexemen wini und trütxl. Ahá. friunt ist also für beide Verwendungsbereiche belegt, für lat. amicus wie cognatus. 1.3 Von großer Bedeutung erweist sich in unserem Zusammenhang ein Beleg aus dem ahd. Hildebrandslied. Hadubrand erzählt hier von seinem Vater Hildebrand 18 , er habe vor Odoakers Haß als Geächteter seine Heimat verlassen müssen: dat unas so friuntlaos man (V. 23 19 ). Der Rechtshistoriker Karl Kroeschell konnte nachweisen, daß in angelsächsischen Gesetzen der B e g r i f f f r e o n d l e a s sich auf denjenigen bezieht, „der keine geferan, keine Gefährten hat — also keine Genossen, keine Schwurbrüder, keine Stammesgenossen, keine Landsleute, keine Kriegskameraden"20. Der freondleas man ist also der Landfremde, der der Rechtshelfer und d. h. besonders der Eidhelfer entbehrt, und dies mußte, so Ute Schwab, „bei der Beschaffenheit der germanischen Rechtsverfahren einer völligen Hilflosigkeit gleichkommen" 21 . Ich deute von hier aus — wie andere Interpreten auch22 '— den Beleg im Hildebrandslied als 'ohne Rechtshelfer'. Die Bedeutung 'ohne Verwandte' ist dabei natürlich nicht ausgeschlossen. Die Sippe stellt schließlich den wichtigsten
13
Die althochdeutschen Glossen, hg. von E L I A S S T E I N M E Y E R — E D U A R D SIEVERS, 5 Bde., Berlin 1879 ff., 3, S. 5 Z. 35 (8. Jh., Original ca. 750). Im Lat. bedeutet parentes seit dem 1. Jh. n. Chr. neben 'Erzeuger' auch allgemein 'Verwandte'. Vgl. W A L T H E R VON W A R T B U R G , Französisches etymologisches Wörterbuch, 21 Bde., Tübingen (Basel) 1948-1965, 7, S. 642 - 644, S. 644: „Im gallorom. haben die beiden bed. immer nebeneinander gelebt."
14
S T A R C K - W E L L S ( w i e A n m . 10) S. 3 9 3 .
15
Ebd. S. 220. Vgl. Otfrieds Evangelienbuch, hg. von O S K A R E R D M A N N , 5 . Aufl. besorgt von L U D W I G W O L F F , Tübingen 1965, Buch 5, I 9,3: gihort [die Geburt des Johannes, T.N.]///» manag friunt iob aller ouh ther lantliut, nach Lk 1 , 5 8 : audierunt vicini et cognati eius. Vgl. auch J O H A N N K E L L E , Glossar der Sprache Otfrieds, Regensburg 1 8 8 1 , S. 1 5 1 ; Althochdeutsches Wörterbuch, begründet von E L I S A B E T H K A R G G A S T E R S T Ä D T — T H E O D O R F R I N G S , hg. von R U D O L F G R O S S E , Bd. 1 ff., Berlin 1 9 6 8 f., 3 , Sp. 1 2 7 3 — 1276, Sp. 1275 unter 2. Belege bei Notker: Boethius, 'De Consolatione Philosophiae' Buch I/II, hg. von PETRUS W. T A X (Die Werke Notkers des Deutschen, begonnen von E D W A R D H . S E H R T und TAYLOR S T A R C K , fortgesetzt von J A M E S C. K I N G und PETRUS W. T A X , Bd. 1 [Altdeutsche Textbibliothek 94] Tübingen 1986) S. 69 Z. 25 f., S. 70 Z. 18.
16
17
18
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21
22
V g l . STEINMEYER-SIEVERS ( w i e A n m .
1 3 ) 1, S. 4 3 0 Z . 2 5 , S . 6 8 9 Z . 4 , S . 6 9 0 Z . 3 6 ; FRITZE
(wie
Anm. 10) S. 80 f.: ,,'trüt' und 'huldi' sind Termini aus dem gefolgschaftlichen Bereich, und 'trüt' übersetzt denn auch in der Mehrzahl der Fälle nicht alleinstehendes 'amicus', sondern die Verbindung 'amicus regis' [...]." Vgl. auch J A K O B und W I L H E L M G R I M M , Deutsches Wörterbuch. Fotomechanischer Nachdruck München 1 9 8 4 , 2 1 , bearb. von M A T T H I A S L E X E R , D I E T R I C H K R A L I K und der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches ( 1 . Aufl. 1 9 3 5 ) , Sp. 1 5 4 7 . Mit diesem Bezug auf Hildebrand, nicht auf Dietrich, folge ich der Argumentation von R O S E M A R I E LÜHR, Studien zur Sprache des Hildebrandliedes, 2 Bde., Göppingen 1982, 2, S. 522. Althochdeutsches Lesebuch, hg. von W I L H E L M B R A U N E , Tübingen 151969, Nr. XXVIII, S. 84. K A R L K R O E S C H E L L , Die Sippe im germanischen Recht, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 77, 1960, S. 1 - 2 5 , S. 19. U T E S C H W A B , arbeo laosa. Philologische Studien zum Hildebrandlied, Bern 1 9 7 2 , S . 4 2 ; vgl. auch ebd. Anm. 1 9 2 . V g l . e b d . S . 4 2 ; L Ü H R ( w i e A n m . 1 8 ) S . 5 2 2 f.
129
Der Begriff und das Motiv des Freundes
rechtlichen Schutzverband für das Individuum dar. Gegenüber mäg, das nur die Blutsverwandten bezeichnet, umfaßt ahd. friunt einen weiteren Kreis von Individuen, nämlich die Gesamtheit derer, die in der Lage und dazu verpflichtet sind, für einen Stammesgenossen rechtlich einzutreten (etwa als Eidhelfer 23 , bei der Blutrache, bei der Zahlung des Wergeids), die für ihn Schutz- und Hilfsfunktionen ausüben, also 1) die Bluts- und Heiratsverwandten, 2) die Gildegenossen, Kriegsgefährten, Schwurfreunde, Blutsbrüder usw. Diese zweite Gruppe der friunta hat somit bestimmte Funktionen des Sippenverbandes übernommen und stellt sozusagen eine übertragene Verwandtschaft dar 24 . Zu Recht folgert daher der Rechtshistoriker Fritze: „So ist jedes 'gemachte' Treueverhältnis und also auch die 'gemachte' Freundschaft eine Teilnachbildung der Blutsverwandtschaft, der 'Sippe', die eben die gleichen Forderungen an ihre Genossen ('Freunde') richtet, wie es der Treubund tut." 25 Von daher erklärt es sich auch, wie das Mittellateinische amicus unter dem Einfluß des Germanischen um die Komponente 'Verwandter' erweitert werden konnte. Wolfgang Fritze bewies anhand von Beispielen aus der Historiographie der Merowingerzeit, etwa bei Gregor von Tours und Pseudo-Fredegar 26 , daß das Eingehen eines Freundschaftsbundes ein r e c h t s f ö r m l i c h e r A k t war. Die gegenseitige Treueverpflichtung, die das Wesen dieser Schwurfreundschaft ausmacht, wurde meist durch Eide bekräftigt. Die stehenden Formeln amicitiam obligare, amicitiam promittere sind wohl Ubersetzungen aus der fränkischen Rechts- und Geschäftssprache 27 . Die rechtlichen Verpflichtungen der Freundschaft werden durch eine Reihe von ahd. Glosseneinträgen bestätigt, in denen das lat. foedus, pactum, testamentum jeweils mit friuntscaf wiedergegeben wird. So heißt es z. B. im 'Abrogans'-Glossar: federis — friuntscaf — friuntskephi-, [...] inplacabilis absque federe — unlihhantlib ano friuntscaf und im 'Summarium Heinrici': fedus — winiscafeth / winescaft2S. Auch in der Karolingerzeit läßt sich das Institut der Schwurfreundschaft nachweisen 29 . Nach Reinhard Schneider gingen die karlingischen Könige unterein23
Vgl.
diegamahalos, die Angehörigen
v o n Schwurbrüderschaften, im langobardischen Recht: 'Mitspre-
cher', 'Eidhelfer', die außerhalb des Sippenverbands standen. Vgl. SCHWAB (wie Anm. 21) Anm. 193. 24
V g l . FRITZE ( w i e A n m .
25
Ebd. S. 85 f.
1 0 ) S.
87.
26
Vgl. ebd. S. 9 1 - 9 5 .
27
Vgl. ebd. S. 104: „Deutlich hat sich erwiesen, daß Gregors Sprache hier unter dem Einfluß der merowingisch-lateinischen 'Rechtsaufzeichnungssprache' steht, die ihrerseits wieder von der gesprochenen fränkischen Rechts- und Geschäftssprache beeinflußt worden ist."
28
STEINMEYER-SIEVERS ( w i e A n m . 1 3 ) 1 , S. 1 9 2 Z . 3 4 , S. 1 9 2 Z . 3 ; v g l . a u c h S. 1 0 Z . 2 6 f., S. 1 5 2
Z. 31 f. Vgl. dazu JOCHEN SPLETT, Kommentar zum ältesten deutschen Wörterbuch, Wiesbaden 1976,
zur jew. Stelle und den Wortindex
SIEVERS, 3 , S . 1 5 9 .
S. 4 4 6
s.v.friuntscaf.
Summarium Heinrici,
— Weitere Belege im ahd. Wörterbuch (wie A n m .
16)
Sp.
1277,
STEINMEYER —
zu:
friuntscaf.,
sowie im Deutschen Rechtswörterbuch (Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache), hg. von der Preuß. Akademie der Wissenschaften, bisher 7 Bde., Weimar 1 9 1 4 f., 3, bearb. von EBERHARD F R E I H E R R N VON K Ü N S S B E R G , S p . 8 7 7 f . u n t e r 1 1 1 , 2 u n d b e i F R I T Z E ( w i e A n m . 29
1 0 ) S. 8 1 A n m .
25.
Vgl. REINHARD SCHNEIDER, Brüdergemeine und Schwurfreundschaft. Der Auflösungsprozeß des Karlingerreiches im Spiegel der caritas-Terminologie in den Verträgen der karlingischen Teilkönige des 9. Jahrhunderts (Historische Studien 38) Lübeck — Hamburg 1964, S. 8 4 — 8 9 und passim.
130
Theodor Nolte
ander mehrfach solche profanrechtlichen amicitiae ein 30 . Ja, es werden im 9. Jahrhundert sogar Verbote gegen private amicitiae ausgesprochen, zumal wenn sie mit Eiden bekräftigt wurden 31 . Neuere Forschungen der Historiker Karl Schmid und Gerd Althoff haben gezeigt, daß in späterer Zeit, besonders unter Heinrich I., solche Freundschaftsbündnisse auch aus Memorial- und Verbrüderungsbüchern erschlossen werden können, d. h., daß sie sich auch auf das Gebetsgedenken erstreckten 32 . Heinrich I. selbst festigte seine Herrschaft in erster Linie durch solche amicitiae, wie sie sich aus den Memorialbüchern einiger Reichsklöster ablesen lassen. In diesen Quellen des Gebetsgedenkens finden sich sämtliche einflußreichen Adelsgeschlechter aus dem Anfang des 10. Jahrhunderts und unter ihnen jeweils der König mit seiner Familie 33 . Der Freundschaftsbund übernimmt hier ein weiteres Merkmal der Verwandtschaftsbeziehung, denn das Gebetsgedenken war ursprünglich auf die Mitglieder der jeweiligen Familie beschränkt 34 . Bei dieser ersten Umschreibung des mittelalterlichen Begriffs von 'Freundschaft' fällt besonders ihr juridischer und quasi institutioneller Ursprung ins Auge, der sie von ihrer heutigen Bedeutung unterscheidet. Wie kulturanthropologische und ethnologische Untersuchungen gezeigt haben 35 , springen derartige institutionalisierte Freundschaftsbeziehungen jeweils dann in die Bresche, wenn die soziale Struktur die innere und äußere Sicherung des Daseins der Individuen nicht vollständig leisten kann. So ist, wie Gerd Althoff gezeigt hat, das am Gebetsgedenken ablesbare wachsende Bemühen um Bündnisse und Freundschaften zu Beginn des 10. Jahrhunderts eine Reaktion auf den Kampf aller gegen alle im zerfallenden Karolingerreich 36 . Karl Schmid spricht daher in diesem Zusammenhang auch von „Notgemeinschaften", die aufgrund von „Bedrohungen der Menschen durch Katastrophen, Seuchen und Eindringlinge" 37 entstanden. Eine exponierte Situation des Individuums trat aber auch bei der räumlichen Entfernung vom Verwandtschaftsverband ein. Wie anhand einiger literarischer Beispiele zu zeigen sein wird, galt die Schwurfreundschaft als Instrument, gerade
30
Ebd. S. 1 2 2 - 1 2 5 , 172 f. und passim.
3>
Ebd. S. 8 8 - 9 1 .
32
KARL SCHMID, Unerforschte Quellen aus quellenarmer Zeit, II. Wer waren die 'fratres' v o n Halberstadt aus der Zeit K ö n i g Heinrichs I.?, in: Festschrift für Berent Schwineköper, hg. v o n HELMUT M A U R E R — H A N S PATZE, S i g m a r i n g e n 1 9 8 2 , S. 1 1 7 — 1 4 0 , b e s . S. 1 2 5 , 1 3 9 f.; G E R D A L T H O F F ,
Unerforschte Quellen aus quellenarmer Zeit, III. Necrologabschriften aus Sachsen im Reichenauer Verbrüderungsbuch, in: Zeitschrift f ü r die Geschichte des Oberrheins 131, 1983 ( = Festgabe Gerd T e i l e n b a c h ) , S . 9 1 — 1 0 8 , h i e r b e s . S . 1 0 4 — 1 0 8 ; G E R D A L T H O F F — H A G E N K E L L E R , H e i n r i c h I.
und
Otto der Große. Neubeginn und karolingisches Erbe, 2 Bde., Göttingen—Zürich 1985, S. 6 3 — 65; GERD ALTHOFF, Adels- und Königsfamilien im Spiegel ihrer Memorialüberlieferung. Studien zum Totengedenken der Billunger und Ottonen, München 1984, S. 15 — 31, 248. 33
V g l . A L T H O F F - K E L L E R ( w i e A n m . 3 2 ) S. 6 3 f.
34
Vgl. ALTHOFF, Unerforschte Quellen (wie A n m . 32) S. 101.
35
Vgl. FRIEDRICH H. TENBRUCK, Freundschaft. Ein Beitrag zu einer Soziologie der persönlichen Beziehungen, in: K ö l n e r Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16, 1964, S. 4 3 1 — 4 5 6 , S. 450-452.
36
Vgl. ALTHOFF, Unerforschte Quellen (wie A n m . 32) S. 105, 107 f.
37
SCHMID ( w i e A n m . 3 2 ) S.
140.
131
Der Begriff und das Motiv des Freundes
diese letztere mangelnde soziale Integration und Absicherung des Individiuums auszugleichen. 1.4 Das mhd. friunt behält beide Bedeutungen bei. Allerdings tritt jetzt, im Gegensatz zum Ahd., die Bedeutung 'Verwandter' stärker in den Vordergrund 38 . In der Literatur der 'klassischen Zeit' gibt es nur zwei prominente Autoren, die entgegen dieser Tendenz das Lexem g a n z p o i n t i e r t in der Bedeutung 'amicus' gebrauchen 39 : zum einen den Nibelungenepiker, auf den ich noch zu sprechen komme, zum anderen Walther von der Vogelweide. Ich zitiere eine Strophe, in der das Lexem friunt dem Lexem mâc explizit entgegengesetzt wird: Man hôhgemâc, an friunden kranc, da£ ist ein swacher habedanc: ba% hilfet friuntschaft âne sippe. Lâ einen sin geborn von küneges rippe: ern habe friunde, wa% hilfet da^jt Mâgschaft ist ein selbwahsen ère, so muo^ man friunde verdienen sêre. mâc hilfet wol, friunt verre ba%. (L. 79,17 40 nach Hs. C). Zugleich mit der scharfen semantischen Hervorhebung der amicus-Komponente wird der Begriff friunt in dieser didaktischen Spruchstrophe aus dem Bogenerton, wie auch in weiteren Walther-Strophen 41 , e t h i s c h akzentuiert, indem er mit der Bedingung des Dienstes verknüpft wird. Die im Mhd. oft gebrauchte Formel friunt unde mâge meint den gesamten Schutz- und Hilfsverband eines Adligen, der neben den Verwandten auch den vasallitischen und ministerialischen Anhang und seine familia umfaßt, — eben alle, die durch eine Treuebindung dem Herrn zu Rat und Hilfe verpflichtet sind. Ich erinnere an den ahd. Glosseneintrag cliens — friunt. Daher kann auch der Redaktor der Fassung *C des Nibelungenlieds dort, wo es in AB bezüglich der Unterbringung König Gunthers mit seinem Gefolge am Etzelhof heißt: ein künec mit sinem gesinde
38
Vgl. dazu die ergiebige Belegzusammenstellung zu den Lemmata Fremd
und Freundschaft im
Deutschen Rechtswörterbuch (wie A n m . 28) Sp. 8 6 6 - 8 7 1 , 8 7 4 - 8 8 0 . 39
Interessant ist allerdings, daß Wolfram v o n Eschenbach in seinem 'Parzival' die Verwendung von friunt für die Verwandten vermeidet. In einigen Fällen ist allerdings wegen der weitläufigen Verwandtschaftsstrukturen im 'Parzival', durch die sogar die Artus-Sippe mit Parzival und Feirefiz verbunden ist, die Verwendung mehrdeutig. Vgl. z. B. (nach der Ausgabe v o n KARL LACHMANN, Berlin —Leipzig 6 1926) 765,29 und 779,30. In erster Linie bezeichnet friunt im 'Parzival' das Verhältnis zweier oder mehrerer Personen, die zu ein und derselben ritterlichen (Kampf-) Gemeinschaft gehören, - zumeist Mitglieder der Tafelrunde (vgl. z. B. 90,3; 298,10; 331,25; 332,9; 539,19; 709,4). Sehr erhellend ist in diesem Zusammenhang die Episode 383,1—30. Wolfram verwendet den Begriff jedoch nicht programmatisch oder im emphatischen Sinn, — bis auf den Exkurs über die Freundestreue in 675,16 — 676,2. Ansonsten bezeichnet friunt im Parzival denjenigen, der einem anderen wohlwollend gegenübersteht, sich in freundschaftlichem Einvernehmen mit ihm befindet (vgl. z. B. 393,10).
40
Die Gedichte Walthers von der Vogelweide, hg. von KARL LACHMANN, 13., aufgrund der 10. von
41
Vgl. L. 30,9; 79,25.33.
CARL VON K R A U S b e a r b . A u s g a b e n e u h g . v o n HUGO KUHN, B e r l i n
131965.
132
Theodor Nolte
nie so herlich gelac (B 1826,4), umändern zu: ein künec mit sinen friunden gelac (C 1870,4)42. W e i l in d e r B e d e u t u n g ' V e r w a n d t e r ' friunt
nie so herlich
m i t d e m L e x e m mäc
konkurrieren
kann, m u ß E i n d e u t i g k e i t g e w ä h r l e i s t e t w e r d e n . D a z u w e r d e n in U r k u n d e n u n d literarischen Texten zu friunt
g e r n die A d j e k t i v e erborn,
geborn,
anerborn
usw. hinzuge-
setzt, w o m i t jeweils die B l u t s v e r w a n d t e n g e m e i n t sind. S o schätzt d e r U l r i c h v o n S i n g e n b e r g die erborne(ji) gehalsen
friuntschaft
friunt
( d u r c h U m h a l s e n e r w o r b e n e friuntschaft
W i r d das W o r t in d e r B e d e u t u n g amicus R e c h t s t e x t e n u n d U r k u n d e n , guot,
getriuwe
Lyriker
( = B l u t s v e r w a n d t e n ) h ö h e r als
g e b r a u c h t , so w i r d o f t , b e s o n d e r s in
etc. d a z u g e s e t z t 4 4 .
A n h a n d d e r v e r s c h i e d e n e n F a s s u n g e n des N i b e l u n g e n l i e d e s k a n n m a n K o n k u r r e n z v o n friunt
u n d mäc
m e h r f a c h das L e x e m mac
d e u t l i c h ablesen. S o w i r d in d e r R e d a k t i o n
eingesetzt, w o A
u n d B vrirnt
ersetzt * C a b e r a u c h in einer R e i h e v o n Fällen mäc V e r w e n d u n g s b e r e i c h v o n vriunt zu geste,
fürsten,
die künden
diu
)43.
bieten45.
d u r c h vriunt46!
die *C
Umgekehrt
Im erweiterten
(— ' G e f o l g e ' , "Anhang', ' F r e u n d e ' ) ä n d e r t * C g e r n
etc. 4 7 , setzt u m g e k e h r t a b e r auch vriunt
ein, w o e n t s p r e -
c h e n d e U m s c h r e i b u n g e n in A B s t e h e n 4 8 . A n h a n d d e r n e u e n A u s g a b e n d e r 'Elsässischen L e g e n d a A u r e a ' u n d d e r ' R e c h t s s u m m e ' des B r u d e r B e r t h o l d d u r c h die W ü r z b u r g e r F o r s c h e r g r u p p e 4 9 läßt sich die K o n k u r r e n z v o n friunt
42
43
44
45
46 47 48
49
u n d mäc
exempla-
Das Nibelungenlied. Paralleldruck der Handschriften A, B und C nebst Lesarten der übrigen Handschriften, hg. von M I C H A E L S . B A T T S , Tübingen 1 9 7 1 , S . 5 5 4 f.; Das Nibelungenlied nach der Handschrift C , hg. von U R S U L A H E N N I G , Tübingen 1 9 7 7 , S . 2 8 8 . 1 9 9 1 , 2 friunden ( A B ) ändert C zu mägen, Ih dagegen zu ingesinde. Edition: F R I E D R I C H M A U R E R , Die Lieder Walthers von der Vogelweide, 1. Die religiösen und politischen Lieder, Tübingen 4 1974 (Altdeutsche Textbibliothek 43) S. 78, Strophe 18. Vgl. Strickers Karl der Große (hg. von K A R L B A R T S C H , Quedlinburg—Leipzig 1 8 5 7 , Neudruck Berlin 1965) V. 8831 f.: friunt guot unde man / und swa^ ich mäge ie gewan [...]. Weitere Beispiele im Deutschen Rechtswörterbuch (wie Anm. 28) Sp. 869; außerdem: Corpus der altdeutschen Originalurkunden, hg. von F R I E D R I C H W I L H E L M , 1 , Lahr 1 9 3 7 , z. B. Nr. 3 5 6 , S. 3 3 2 Zeile 2 9 F . : mit zeitigem rat meiner festen frevnt. So in 262,3; 713,1; 736,2; 1024,3; 1118,2; 1405,3; 1991,2. Außerdem ändern vriunt zu mäc 1412,3 b; 1427,3 IaKh; 1827,2 Ih; 2344,3 A. Wo die Handschrift C fragmentarisch ist, beziehe ich mich auf die zum gleichen Redaktionszweig gehörende Handschrift a. Vgl. das Wörterbuch von K A R L B A R T S C H , Der Nibelunge Not, 2.2, Leipzig 1880, Nachdruck Hildesheim 1966, S. 358 f. Zu den Handschriftenvarianten vgl. ebd. 2.1, Lesarten, Leipzig 1876, Nachdruck Hildesheim 1966 und die Ausgaben von H E N N I G (wie Anm. 42) und B A T T S (wie Anm. 42). So in 713,2; 1077,2 (Cab); 1499,2 (a); 1599,2; 1754,3; 2099,4; 1256,3 (CDa). So in 169,2; 305,3; 706,3; 781,4; 782,3; 810,4 (degenen Ca, gesten Db); 1370,1; 1640,3; 1838,1; 2174,4. So in 734,3; 1081,4; 1408,3; 1826,4; 1836,4; 2000,4; 2054,1; 2069,4; 2102,3; 2346,1. Schließlich hat *C vriunt oft einfach übergangen oder, was noch häufiger ist, den Text gleichzeitig tiefgreifend umgestaltet. Vgl. 311,4; 588,4; 909,2; 1107,2; 1108,2; 1115,2; 1149,4; 1527,2; 1634,4; 1716,2; 2033,1; 2379,3; vriuntschefte: 1394,2. Umgekehrt wird in *C mitunter auch vriunt hinzugefügt oder bei umfassenden Textänderungen eingesetzt. Vgl. 291,4; 390,1; 1409,4; 1711,4; 1395,4; 2379,4. Die "Elsässische Legenda Aurea', 1, Das Normal-Corpus, hg. von U L L A W I L L I A M S und W E R N E R W I L L I A M S - K R A P P , Tübingen 1980. Die 'Rechtssumme' Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der „Summa Confessorum" des Johannes von Freiburg. Synoptische Edition der Fassungen B, A und C, hg. von G E O R G STEER u.a., 4 Bde., Tübingen 1987. Herrn Priv.-Doz. Dr. Konrad Kunze, dem Mitherausgeber der 'Elsässischen Legenda Aurea', bin ich zu Dank verpflichtet für seine vielfältigen Anregungen und Ratschläge zu dieser Untersuchung. Ihm verdanke
Der Begriff und das Motiv des Freundes
133
risch auch im 14. und 15. Jahrhundert studieren. Die Handschriftenvarianten der 'Elsässischen Legenda aurea' etwa zeigen im hochalemannischen Raum eine gewisse Vorliebe für friunt. In vier Handschriften wird in diesem Bereich mäc drei bis vier Mal durch friunt ersetzt, umgekehrt aber auch in drei Handschriften jeweils ein bis zwei Mal friunt durch mäc. Die 'Rechtssumme' zeigt, daß friunt sogar die nahen Verwandten bezeichnen kann. Wo die Fassungen A und B in der Überschrift zu dem Kapitel über die Buße derer, die ihre Eltern oder nahen Verwandten töten, für den Begriff der 'nahen Verwandten' den der nach mag (A, C: nachmageri) einsetzen, lautet die Überschrift in der Fassung B: von der pü£ der lutte die ir eitern oder ir frevnt tdtent50. Friunt kann auch weiterhin für lat. parentes stehen. So setzt die 'Elsässische Legenda Aurea' für lat. parentibussx: wider siner fründe willen (724,13). Im Verwendungsbereich amicus wird friunt von einem bereits im Ahd. geläufigen Lexem zurückgedrängt, nämlich von geselle und entsprechenden Komposita wie notgeselle, hergeselle, trütgeselle. Noch Luther übersetzt Mt. 11,19 TEX,COVCÖV (plXoq Kai D|iapTCoA,(DV mit der Zdlner und der Sünder geselle52. In einem vierten Verwendungsbereich bezieht sich friunt auf den Geliebten oder den Gatten bzw. auf die Freundin oder die Geliebte (besonders im Minnesang, aber auch in der Epik). Gibt es nun in dem Verwendungsbereich amicus einen Bedeutungsunterschied zwischen friunt und geselle? Die ethische Einfarbung des friunt-Begriffs bei Walther von der Vogelweide läßt vermuten, daß in der Literatur dieses Lexem gegenüber geselle entsprechend seiner ursprünglichen Bedeutung mit größerem Sentiment verbunden ist, daß es eher geeignet ist, mit Pathos aufgeladen zu werden. Während geselle sich oft ganz neutral auf den jeweils gleichgestellten Gefährten bzw. den Begleiter bezieht 53 , scheint bei friunt das Bedeutungsmoment der gegenseitigen Treuebindung deutlicher präsent zu sein. Das Nibelungenlied wird diese Vermutung noch unterstützen. 1.5 Im 16. und 17. Jahrhundert tritt dann innerhalb der Verwendungsbereiche 'Verwandter' und 'Freund' eine tiefgreifende lexematische und semantische Umschichtung ein, die man bislang noch nicht im Zusammenhang untersucht hat und die ich hier nur in Grundzügen umreißen kann.
50
51 52
53
ich auch den Einblick in die Computer-Auszüge zu den Handschriften-Varianten der 'Elsässischen Legenda Aurea'. Die 'Rechtssumme' (wie Anm. 49) 2, S. 862 f., ebd. S. 872 f. Nr. 93. Wo die Kapitelüberschrift in B die magenschaft nennt, ergänzt C: [...] vnd fremtschaft, 3, S. 1600 f. Vgl. auch 'Elsässische Legenda Aurea' (wie Anm. 49) 38,3 f. des küniges nehester friunt, wo in der lat. Vorlage cognati steht (Jacobi a Voragine Legenda Aurea, hg. von T H . G R A E S S E , Repr. Nachdruck der 3. Aufl. 1890, Osnabrück 1965, S. 38 Z. 3). Jacobi a Voragine Legenda Aurea (wie Anm. 50) S. 741 Z. 25. Dr. Martin Luthers Bibelübersetzung nach der letzten Original-Ausgabe, kritisch bearbeitet von H E I N R I C H E R N S T B I N D S E I L und H E R M A N N A G A T H O N N I E M E Y E R , 7 Bde., Halle 1 8 4 5 — 1 8 5 5 , 6 , S . 2 5 . Vgl. Luthers Übersetzung von Lk. 1,61 vnd ist doch niemand in deiner Freundschaft, ebd. S. 128. Im 'Parzival' Wolframs von Eschenbach (wie Anm. 39) wird geselle zumeist in dieser Bedeutung gebraucht. Vgl. 44,16; 91,21; 230,1; 371,6; 620,8; 669,22.30; 671,8; 697,10; 721,09; 725,25; 729,8; 783,28; 795,17; 799,15; 804,13; 810,8; 811,18; 814,13.
134
Theodor Nolte
1. Das Lexem mac \mäge für 'Verwandter' tritt mehr und mehr zurück, begegnet in den Wörterbüchern der Barockzeit nicht mehr und ist im 17. Jahrhundert nur noch ganz vereinzelt 54 , hauptsächlich im Rechtsbereich, belegt, etwa in den Komposita Schwertmage (— 'Verwandter von väterlicher Seite'), Spil-\Kunkelmage (— 'Verwandter der mütterlichen Seite') 55 . Wo in der deutschen Bibel des Druckers Johann Mentel (Straßburg 1466) noch magert steht, setzt Luther regelmäßig Gefreundete^. Gefreundet ist noch heute in einigen alemannischen und bairischen Dialektbereichen in der Bedeutung 'verwandt' geläufig 57 . Über die Ursachen für das Aussterben des Lexems mac können nur Vermutungen angestellt werden. Es ist etymologisch isoliert 58 , außerdem auch paradigmatisch, — im Gegensatz zu jriunt, vg\. friunden, friundinne,friuntschaft, gefriunt, friuntlich etc. (Im Lexer sind 14 Komposita und Ableitungsformen belegt.) Durch die im Spätmittelalter übliche schwache Flexion (mäge) ist andererseits eine Verwechslungsmöglichkeit mit mage = 'Mohn' und mage / frühnhd. mägen = 'der Magen' gegeben, so daß Homonymienflucht vorliegen könnte, obwohl von den Verwendungsbereichen her die Verwechslungsgefahr gering ist. 2. An die Stelle von mag tritt nun das Adj. verwandt, das, ähnlich wie Luthers gefreundet, ursprünglich ein Part. Prät. ist, — und zwar zum Verbum verwenden mit der Bedeutung 'sich zuwenden'. Seit dem 15. Jahrhundert steigt verwandt zu einem selbständigen Wort auf, vom 16. Jahrhundert an verbreitet es sich z. T. auch in den Mundarten und erfahrt eine Bedeutungsverengung in Richtung auf die Familienzugehörigkeit 59 . 3. Geselle erfährt eine Bedeutungsverengung von mhd. 'Gefährte', 'Freund', 'Geliebter' zu 'Standesgenosse', 'Handwerksgeselle', 'Bursche' 60 . 54
55
56 57
Vgl. GRIMM, Deutsches Wörterbuch (wie Anm. 17) 12, bearb. von MORITZ HEYNE (1. Aufl. 1885), Sp. 1435 f. Reste in den Dialekten: ostfries.: mägskup (Wörterbuch der ostfriesischen Sprache. Etymologisch bearb. von J. TEN DOORNKAAT-KOOLMAN, Norden 1879, Neudruck Wiesbaden 1965, 2, S. 559); Zürich: magschaft\ GRIMM, Deutsches Wörterbuch, 12 (wie Anm. 17 und 54) Sp. 1448 f. Z. B. Lk. 1,58; 2,44. Vgl. Lk. 1,61. ANDREAS SCHMELLER, Bairisches Wörterbuch, 2 Bde., Stuttgart — Tübingen 1827 — 1837, 1, Sp. 822; HERMANN FISCHER, Schwäbisches Wörterbuch, 6 Bde., Tübingen 1904 — 1936, 3, Sp. 168; Badisches W ö r t e r b u c h , h g . v o n ERNST OCHS, f o r t g e s e t z t v o n K A R L FRIEDRICH MÜLLER u n d GERHARD W .
58
59
BAUR, 2 Bde., Lahr 1925 — 1974, 2, S. 321; Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache, bisher 4 Bde., Frauenfeld 1 8 8 1 - 1 9 8 7 , 1, Sp. 1305. So auch NABIL OSMAN, Kleines Lexikon untergegangener Wörter. Wortuntergang seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, München 1971, S. 141. V g l . KLUGE ( w i e A n m . 7 ) S. 8 1 9 . V g l . z. B . JOSUA MAALER, D i e T e ü t s c h S p r a a c h , Z ü r i c h
1561,
Nachdruck Hildesheim—New York 1971, S. 437. Besonders interessant sind die Belege dem Clodio gät£ vnd gar nit Verwandt / zugehörig oder gefreundet, Freund und Verwandte. Vgl. zur älteren Bedeutung Ulrich von Hutten, Schriften, hg. von EDUARD BÖCKING, 5 Bde., Neudruck der Ausgabe von 1859 — 1861, Aalen 1963, 1, S. 409 Z. 20: die, so mir vor mit gunst vn lieb verwandt ( = 'zugetan', 'befreundet'); GRIMM, Deutsches Wörterbuch (wie Anm. 17) 25, bearb. von E. WÜLCKER, R. MEISSNER, M. LEOPOLD, C. WESLE und der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches zu Berlin, Sp. 2 1 2 1 - 2 1 3 2 , Sp. 2 1 2 1 . 60
Vgl. ELFRIEDE ADELBERG, 'Geselle'. Untersuchungen zu Bezeichnungen für den abhängigen Handwerker nach Abschluß der Lehrzeit, in: Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache
Der Begriff und das Motiv des Freundes 4. Friunt
schließlich b e g i n n t d e n B e r e i c h amicus
135
n u n m e h r g a n z allein zu besetzen
u n d s t ö ß t g l e i c h z e i t i g die B e d e u t u n g ' V e r w a n d t e r ' ab. D i e s gilt freilich n u r f ü r die S c h r i f t s p r a c h e ; in v i e l e n D i a l e k t e n b l e i b t die B e d e u t u n g ' V e r w a n d t e r ' bis h e u t e e r h a l t e n 6 1 . In d e r S c h r i f t s p r a c h e existieren R e l i k t e d e r alten B e d e u t u n g in den l ä n g e r g e b r a u c h t e n F o r m e n Freundschaft gefreundet64.
( = ' V e r w a n d t s c h a f t ' 6 2 ) , Blutsfreund63
A n s o n s t e n g e b e n die W ö r t e r b ü c h e r d e r B a r o c k z e i t f ü r Freund
die B e d e u t u n g amicus
noch und
nur noch
an65.
D i e U r s a c h e n f ü r diesen S p r a c h w a n d e l liegen in d e r S c h r i f t s p r a c h e a u f der H a n d . W ä h r e n d in d e r g e s p r o c h e n e n S p r a c h e die j e w e i l i g e B e d e u t u n g v o n
friunt
d u r c h die K o m m u n i k a t i o n s s i t u a t i o n meist e i n d e u t i g ist, ist m a n s c h o n in m h d . Z e i t i m M e d i u m d e r S c h r i f t , b e s o n d e r s bei U r k u n d e n u n d R e c h t s t e x t e n , w o es a u f Z w e i f e l s f r e i h e i t a n k o m m t , g e n ö t i g t , die angezielte B e d e u t u n g zunächst d u r c h Z u s ä t z e f e s t z u s c h r e i b e n u n d l a n g f r i s t i g nach r a t i o n e l l e r e n L ö s u n g e n zu suchen. A l s E r g e b n i s dieser E n t w i c k l u n g e n d e r B e d e u t u n g s v e r e n g u n g v o n Freund der V e r b r e i t u n g des L e x e m s verwandt
sind h e u t e die Bereiche amicus
und
und cognatus
schriftsprachlich sauber voneinander getrennt. Ich g e b e z u s a m m e n f a s s e n d ein Beispiel aus d e r z w e i t e n H ä l f t e des 1 6 . J a h r h u n derts, bei d e m die g e n a n n t e n U m s c h i c h t u n g e n b e s o n d e r s d e u t l i c h g r e i f b a r w e r d e n . I m S y n o n y m e n w ö r t e r b u c h des L e o n h a r d S c h w a r t z e n b a c h v o n 1 5 6 4 6 6 ist u n t e r d e m
61
62
63
64
65
66
auf der lexikalischen Ebene (Bausteine zur Geschichte des Neuhochdeutschen 56/11) Berlin 2 1981, S. 1 2 1 - 1 7 2 . Vgl. S C H M E L L E R (wie Anm. 57) 1, Sp. 822: „Diese Bedeutung ['der Verwandte' T.N.] ist in Bayern die gewöhnlichste; als amicus wird Freund vom gemeinen Mann seltener gebraucht." Vgl. weiter die unter Anm. 57 aufgeführten Dialektwörterbücher, dazu: Rheinisches Wörterbuch, hg. von JOSEF M Ü L L E R , 9 Bde., Bonn—Leipzig 1923 — 1971, 2, Sp. 794ff.; Wörterbuch der elsässischen Mundarten, bearb. von E . M A R T I N — H . L I E N H A R T , 1, Straßburg 1899, S. 181; W A L T E R T S C H I N K E L , Wörterbuch der Gottscheer Mundart, 1, Wien 1973, S. 190; Siebenbürgisch-sächsisches Wörterbuch, Bd. 1 ff., Berlin—Leipzig, o. J . , 2, S. 482ff.; L. H E R T E L , Thüringer Sprachschatz, Weimar 1895, S. 98; Niederdeutsch-Westphälisches Wörterbuch, hg. von J O H A N G I L G E S ROSEMANN genannt K L Ö N T R U P , 2 Bde., Hildesheim 1982—1984, 1, S. 242; Mecklenburgisches Wörterbuch, aus den Sammlungen R I C H A R D WOSSIDLOS bearb. und hg. von H E R M A N N T E U C H E R T , Bd. 1 ff., Berlin —Neumünster 1942ff., 2, Sp. 1111-1114. Vgl. A L F R E D GÖTZE, Freundschaft, in: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 12, 1910, S. 93 — 108. Freundschaft hat die Bedeutung 'Verwandtschaft' (abstrakt oder kollektiv) am zähesten festgehalten. Alfred Götze konnte diesen Gebrauch in den Dialekten von Tirol bis Schleswig-Holstein nachweisen. Vgl. auch die unter Anm. 57 und 61 aufgeführten Dialektwörterbücher. Vgl. J O H A N N L E O N H A R D F R I S C H , Teutsch-Lateinisches Wörterbuch, Berlin 1741, S. 293. Vgl. z. B . G E O R G H E N I S C H , Teütsche Sprach und Weißheit, Augsburg 1 6 1 6 , Nachdruck Hildesheim — New York 1972, Sp. 1220. Wenn in Wörterbüchern des 18. und 19. Jhs. (s. o. C A M P E [wie Anm. 1], J O H A N N C H R I S T O P H A D E L U N G , Grammatisch kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 4 Bde., Leipzig 2 1793 — 1801, 2, Sp. 283; F R I S C H [wie Anm. 63]) immer noch die Bedeutung 'Verwandter' angegeben wird, so ist dies das Ergebnis einer sprachhistorischen oder dialektologischen Reflexion. Vgl. D A N I E L S A N D E R S , Wörterbuch der deutschen Sprache, Leipzig 1860,1, S. 494: „Diese Bed[eutung] ['Verwandter', T.N.] ist jetzt namentlich in der Volkssprache üblich." U L R I K E H A S S , Leonhard Schwartzenbachs 'Synonyma', Tübingen 1986, Bl. XLI r (Hervorhebung von mir, T.N.). Das Lexem verwandt erhält bei Schwartzenbach allerdings noch kein eigenes Lemma.
136
Theodor Nolte
Lemma Freundt verzeichnet: Gefreundt [vgl. Luther], Zugewandt / Versipte oder nahend personen. Das Lexem mäc ist hier schon ausgeschieden, Freund nimmt verwandte dessen Stelle ein, steht aber bereits in Konkurrenz zu dem aufsteigenden verwandt. Dieser tiefgreifende Sprachwandel spiegelt sicherlich auch sozialhistorische Umwandlungsprozesse. Er hängt mit dem einsetzenden Wandel der Großfamilie zur Kleinfamilie zusammen und mit der Übertragung von Funktionen, die früher von der Verwandtschaft wahrgenommen wurden, auf genossenschaftliche oder öffentliche Organe (z. B. bei der Schutzfunktion). 2. Ich komme zum Motiv des Freundes in der mittelalterlichen Literatur, das in der Forschung bislang kaum Beachtung gefunden hat. Es geht mir darum, die oben getroffene Umschreibung des mittelalterlichen Freundschaftsbegriffs anhand der Literatur zu präzisieren, verschiedene Funktionsmuster der Freundschaftsthematik und bestimmte gattungstypische Traditionsbildungen aufzuzeigen sowie schließlich den sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund des Motivs zu beleuchten. Als Ausgangspunkt möge noch einmal der Beleg aus dem ahd. Hildebrandslied friuntlaos man mitsamt den Parallelen in angelsächsischen Rechtstexten dienen. Danach wird jemand zum friunt, wenn er mit einem anderen eine gegenseitige Treueverpflichtung eingeht, die ihn 1. zum Rechtshelfer, z. B. zum Eidhelfer, prädestiniert, 2. zum Kampfgefährten und Fehdehelfer, z. B. im Rahmen der Blutrache. Als Drittes nenne ich den Sonderfall, daß eine solche Treueverpflichtung eine Gemeinschaft von Männern, in der Regel: von Kriegern, zu Freunden macht, z. B. die germanischen Männerbünde und den Gefolgschaftsverband 67 . 2.1 Ein recht illustratives Beispiel für die erste Freundschaftsfunktion ist der 'Engelhart' von Konrad von Würzburg (aus der Mitte des 13. Jahrhunderts) 68 . Es geht um das Freundespaar Engelhart und Dietrich, die sich wie Zwillinge gleichen. Am dänischen Königshof zu Rittern geschlagen, wird Dietrich darauf als Herzog in sein väterliches Reich zurückgerufen, Engelhart bleibt am dänischen Hof und geht eine heimliche Liebesbeziehung mit der Königstochter Engeltrud ein. Das Paar wird von Ritchier, dem Neffen des Königs, bei einem Schäferstündchen überrascht und verraten. Engelhart leugnet vor dem König alles ab und wird von Ritchier zum gerichtlichen Zweikampf gefordert. Da er sich aber schuldig weiß, sucht er bei seinem Freund Dietrich Hilfe, der für ihn den Zweikampf ausficht und — da er selbst ja unschuldig ist — auch siegt. Im zweiten Teil des Romans gibt Engelhart einen Beweis seiner Freundestreue, indem er seine Kinder zur Heilung des aussätzig gewordenen Dietrich opfert. In diesem Roman geht es vor allem um den Begriff der Treue, welche der gesamte Prolog (und auch der Epilog) thematisiert. Sprachgeschichtlich von besonderem Interesse sind die Begriffe, die das Freundschaftsmotiv abdecken. Dietrich und Engelhart sind gesellen, sie reden sich gegenseitig als trütgeselle (V. 422, 67
Die Bereiche 1 und 2 greifen natürlich ineinander. Ich führe beides getrennt auf, um die literarische Behandlung des Themas überschaubarer zu machen.
68
Hg. von INGO REIPFENSTEIN, 3. neubearb. A u f l . der Ausgabe von PAUL GEREKE (Altdeutsche Textbibliothek 17) Tübingen 1982.
Der Begriff und das Motiv des Freundes
137
vgl. 1393, 1433 usw.) oder her^etrüt geselle (V. 1489) an. Ihre Beziehung zueinander wird als geselleschaft (V. 819) oder trütgeselleschaft (V. 1433) bezeichnet. Es stimmt nun mit dem in meinem sprachgeschichtlichen Teil ermittelten Befund überein, daß der Begriff friunt in diesem Zusammenhang kein einziges Mal fallt. Statt dessen sieht sich Konrad von Würzburg gezwungen, die eben genannten Komposita zu bilden, wenn er die e m o t i v e S e i t e der Freundschaftsbeziehung hervorheben will. Motivgeschichtlich interessant ist das Zustandekommen der Freundschaft. Bei Engelharts Ausritt in die Fremde gibt ihm der Vater den Rat, sich einen Freund zu suchen, auf den Verlaß ist: triuw ist da^ beste eren kleit da£ den friunde losen man in dem eilende kan erfröwen und erhoehen ml. (V. 372 — 375) Sich einen Freund zu suchen, ist also dann vonnöten, wenn man sich außerhalb des Schutzbereiches der friunde, d. h. der V e r w a n d t e n , begibt, in dem eilende ('in der Fremde'). In diesem Punkt geht die literarische Gestaltung des Motivs sicherlich mit der mittelalterlichen Realität konform. Die Freundschaft wird dann durch einen rechtsförmlichen Akt geschlossen: si lobeten mit dem eide / ein ander dd geselleschaft (V. 626 f.). Es handelt sich um eine Form der Schwurfreundschaft, die wir, als rechtliche Institution, bis in die Merowingerzeit zurückverfolgt haben. Sogar die Formel ist geblieben: amicitiam promittere, geselleschaft loben. Der große zeitliche Abstand zwischen den genannten Textbereichen läßt sich durch Belege aus der frühmittelalterlichen Literatur überbrücken. Da ist einmal das lateinische Versepos 'Ruodlieb' 69 (entstanden in der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts in Tegernsee), das im wesentlichen auf d e u t s c h e m , volkstümlichem Erzählgut basiert. Der Vasall Ruodlieb muß wegen der Treulosigkeit seiner Herren die Heimat verlassen. Seine darauf folgende Karriere am Hof eines fremden Königs wird eingeleitet durch einen Freundschaftsbund, den er mit dem Jäger dieses Königs schließt. Sein Status als exul (I 75) nötigt ihn dazu, diese Form der Schutzgemeinschaft anzustreben. Beide Männer schließen ein fidum foedus (I 108): separet ut nil nos, dumtaxat amara nisi mors (I 110) (,auf daß nichts uns trennen möge als allein der bittre Tod'), und sie besiegeln durch Handschlag ihr Treuegelöbnis (I 118). Ich erinnere daran, daß in den zitierten ahd. Glossen foedus mit friuntscaf / winescaft übersetzt wurde. Die Begriffe foedus und amicus haben deshalb im 'Ruodlieb' nichts mit römisch-antiker Tradition zu tun. Sie gehen vielmehr auf das fränkisch-germanische Institut der Schwurfreundschaft zurück. Das gleiche gilt für den Gebrauch dieser Begriffe in dem lateinischen 'Waltharius'-Epos 70 (9. oder 10. Jahrhundert), mit dem wir uns stoffgeschichtlich im Bereich der d e u t s c h e n H e l d e n s a g e bewegen. Hagen und Walther sind als Geiseln an den Hof des Hunnenherrschers Etzel verbracht worden. Derart friunde
69
The Ruodlieb. Linguistic introduction, latin text, and glossary, hg. v o n GORDON B. FORD, Leiden
70
Ekkeharts Waltharius, hg. von KARL STRECKER, Berlin 1907.
1966.
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Theodor Nolte
los geworden, geloben sie einander die Treue (fides sponsa / promissa71) und schließen einen Freundschaftsbund, ein foedus (V. 1261) b2w. pactum (V. 1443). Die Funktion dieses Bundes besteht nicht nur in der Schutzgemeinschaft in der Fremde, am Hof Etzels, sondern auch oder in erster Linie in der W a f f e n b r ü d e r s c h a f t in den Kämpfen, die sie im Dienste Etzels bestehen72. Ein weiteres illustres Freundespaar aus dem Bereich der deutschen Heldensage stellen Witege und Heime dar, die schon im altenglischen 'Widsith' erwähnt werden 73 . In dem Epos 1 Alpharts Tod' wird ihre Beziehung zueinander ausdrücklich als eine Schwurfreundschaft beschrieben. Als Alphart den Witege im Zweikampf besiegt hat und ihn als Gefangenen nehmen will, sagt Witege zu Heime: ,Horstu das, geselle Herí, sprach Wytdich der degen, ,vns kan nyemant gescheyden dan myn leben, ich man dich diner eyde', sprach der hochgeborn, ,vnd diner Steden drüe, dye du myr hast gesworn. Das du myr gehyße bys an dyn dot, das mych din hant nit l y ß e vmb keiner slachte not. dar an saltu gedencken, du vß erweiter degen, wo ich dyr kern h u l f f vnd f r y s t dyr din leben.' (Str. 252 f.) 74 Heime fühlt sich nunmehr zur Hilfe verpflichtet, obwohl der Kampf 'zwei gegen einen' gegen seinen Ehrencodex verstößt. Beide zusammen besiegen Alphart und töten ihn. Eine Schwurfreundschaft schließen auch Wolfdietrich und Ornit im 'Wolfdietrich B'75. Man beachte die bereits aus dem 'Ruodlieb' und 'Alpharts Tod' bekannten 'stehenden Formeln' vom Schwur und der Treue bis zum Tod:
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75
V. 1089f.: sponsam fidem, V. 1113: promissam fidei normam (vgl. V. 1259: fidem [...] pactam). Diese Formulierungen berühren sich mit einer Wendung, die F R I T Z E als „technische Formel" bereits der merowingisch-lateinischen Rechtssprache erwiesen hat: fidem ac caritatem promittere (wie Anm. 10, S. 96). Zu V. 1259 ff. vgl. H E R M A N N A L T H O F , Das Walthari-Lied Ekkehards von St. Gallen, 2: Kommentar, Leipzig 1905, S. 326. Ich übergehe das Hauptmotiv des 'Waltharius', das des Freundeskampfes, und spare dieses literarische Motiv hier überhaupt aus. Es ist in der Untersuchung von W O L F G A N G H A R M S (Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen Literatur bis um 1300 [Medium Aevum. Philologische Studien 1] München 1963) bereits hinreichend gewürdigt worden. Zur Stellung beider Figuren in der Sagengeschichte vgl. zusammenfassend J. W. B R U I N I E R , Die germanische Heldensage, Leipzig—Berlin 1915, S. 121 — 124; W E R N E R H O F F M A N N , Mittelhochdeutsche Heldendichtung, Berlin 1974, S. 165 f. U W E Z I M M E R , Studien zu 'Alpharts Tod' nebst einem verbesserten Abdruck der Handschrift (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 67) Göppingen 1972. — Eyde in 252,3 ist allerdings Konjektur von der Hagens für trüe, das ansonsten doppelt stehen würde (s. V. 4). Ortnit und die Wolfdietriche, nach M Ö L L E N H O F F S Vorarbeiten hg. von A R T H U R A M E L U N G und O S K A R J Ä N I C K E (Deutsches Heldenbuch, Teil 3 ) Nachdruck der Ausgabe von 1 8 7 1 , Dublin — Zürich 1 9 6 8 . Im 'Virginal' der Piaristenhandschrift (w) wird Dietrich der aitgeselle ( 3 9 7 , 6 ) des von ihm besiegten Libertein (vgl. die gesamte Strophe 3 9 7 ) . Dietrichs erste Ausfahrt, hg. von F R A N Z S T A R K , Stuttgart 1860. In der Fassung des 'Heldenbuchs Kaspers von der Rhön' verspricht Dietrich dem Libertein: al\eit ich gselschaff(l) halten wil / mit euch [ . . . ] . ( 8 5 , 5 f.). Der Helden Buch in der Ursprache, hg. von F R I E D R I C H H E I N R I C H VON DER H A G E N — A L O I S P R I M I S S E R , 2 , Berlin 1 8 2 5 , S. 1 5 3 .
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Der Begriff und das Motiv des Freundes
Do sprach ge^ogenlichen Ortnit der küene man aer mit iuwerm willen, ich wolt iuch %e gesellen hän.' dd sprach Wolfdietrich, ,min triuwe wil ich iu geben, da% ich iuch hän f(e gesellen die wile ich hän leben.' Do swuoren si ^esamene, die fürsten lobesam: si schiet nieman dan der tot, die %wene küene man.
(379,1 —380,2)
2.2 Nach dem Motivkomplex 'der Freund als Rechtshelfer' komme ich damit zum zweiten Motivbereich, dem 'Freund als Kampfgefährten'. In dem mhd. Spielmannsepos 'Herzog Ernst' 76 ist der Protagonist von Kindheit an mit dem Grafen Wetzel, einem Vasallen, erzogen worden und hat mit ihm zusammen den Ritterschlag erhalten. (Wetzel spiegelt übrigens den historischen Grafen Werinher oder Wetzilo von Kyburg wider, der 1026 als Freund und Kampfgefährte den Herzog Ernst II. von Schwaben bei dessen Aufstand gegen seinen Stiefvater, König Konrad II., unterstützte.) In dem Roman heißt es von Wetzel: des muose erm immer mere leisten triuwe und wärheit. durch deheine arbeit wolder im nie geswichen. er gestuont im frümelichen bi un% an sin ende. vil manic eilende wart versuochet von in beiden, und wurden doch nie gescheiden durch deheiner slahte not, un£ sie leste schiet der tot. (V. 126 — 136) Wetzel steht seinem Freund und Herrn in der Fehde gegen Kaiser Otto (Emsts Stiefvater) bei und tritt schließlich, mit jenem geächtet, zusammen mit 50 Rittern die Fahrt in den Orient an 77 . Dort bilden beide ein Kämpferpaar 78 , wobei auffallt, daß Ernst die Rolle des kampfentschlossenen, risikobereiten, manchmal auch neu76 77
Herzog Ernst, hg. von KARL BARTSCH, Wien 1869. Wenn Wetzel und die 50 Ritter von Ernst als friunde (z. B. 1937; 3735) apostrophiert werden, so wird damit deren vasallitische Treuebindung (vgl. 1923 — 1933) hervorgehoben. Unmittelbar vor der Abreise erklärt sich Ernst als Gleichen unter Gleichen und will von der Lehensbindung absehen. Dafür nennt er seine Anhänger jetzt: gesellen. ich wil iuch alle gerne enphän \e bruodern und gesellen, ich ensol mich nimmer gesellen ilver keinem %e heren ir muget alle mit eren sin min genaue an dirre var, [...]. (V. 1952—1957)
'8 Vgl. 3 8 2 6 - 3 8 3 0 : Do stuont der recke lobesam üf des meres sande under sines schildes rande, der gräve bi im vaste stuont, als gesellen bi ein ander tuont
[...].
140
Theodor Nolte
gierigen und unvorsichtigen Helden spielt, während Wetzel die Rolle des klug abwägenden, zur Vorsicht mahnenden Ratgebers übernimmt. Wir haben hier offenbar eine Rollenverteilung nach dem Schema 'Sapientia' und 'Fortitudo' vorliegen, wie sie auch durch das berühmtere Freundespaar Roland und Olivier verkörpert wird. Anscheinend hat der Ernst-Dichter die Freundschaftsthematik in Anlehnung an das frz. Rolandslied gestaltet 79 . Darüber hinaus dürfte der Epiker das Motiv des sich im Kampf bewährenden Freundespaars aus der heimischen Tradition der Heldendichtung gekannt haben. Neben dem Nibelungenlied (s. unten) und dem 'Waltharius', in dem außer Hagen und Walther noch Trogus und Tanastus 80 als Krieger-Freundespaar figurieren, kannte er sicher auch Witege und Heime. Ähnlich wie Wetzel ist — bereits in der Frühzeit der Dietrichsage — Hildebrand der
herausragende Gefolgsmann und Vertraute des Königs: degano dechisto miti Deotrichhe (Hildebrandslied 26) 8 1 . Der Freund als Kampfgefährte wird mit dem Begriff notgeselle (so auch im 'Herzog Ernst' B, V. 3971) oder mit dem altertümlichen notgestalle bezeichnet. So werden die 12 Pairs im dt. Rolandslied di %welf notgestallen (V. 3193) genannt und Roland und Olivier di uil lieben her gesellen (V. 5943) 8 2 . Im altenglischen 'Beowulf' werden Sigmund und sein Neffe Fitela im Hinblick auf ihre gemeinsamen Kämpfe als njd^esteallan (V. 882) bezeichnet, und im ahd. Ludwigslied sagt Ludwig zu den
von den Normannen Bedrängten: Tröstet hiu, gisellion,
Mine notstallon.
(,Faßt euch,
Freunde, ihr meine Kampfgefährten!') 8 3 . Der notgestalle ist dem Wortsinn nach derjenige, ,der sich im Kampf jemandem zur Seite stellt'. Des weiteren begegnet in diesem Verwendungsbereich der Begriff notvriunt84.
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So auch D A V I D B L A M I R E S , Herzog Ernst and the otherworld voyage, Manchester 1 9 7 9 , S. 1 4 f. Blamires weist darauf hin, daß diese unterschiedliche Charakterisierung der Freunde in der deutschen Bearbeitung des Rolandslieds durch den Pfaffen Konrad eingeebnet worden ist. Offenbar hat sich also der Ernst-Epiker an die französische Tradition angelehnt. Waltharius (wie Anm. 70) V. 1007 — 1061. Tanastus versucht seinen verwundeten Freund mit dem Schild vor Walther zu schützen, aber schließlich sterben beide: Ecce simul caesi uoluuntur puluere amici (V. 1060). Wie Anm. 19. Im Gefolge Hrothgars im 'Beowulf' hat Äskhere eine ähnlich herausragende Stellung. Er ist runwita ('Vertrauter'), raedbora ('Berater') und eaxlgestealla ('Gefahrte, der Schulter an Schulter mit einem kämpft') seines Herrn. Dieser empfindet über seinen Tod tiefe Trauer. Beowulf und die kleineren Denkmäler der altenglischen Heldensage Waldere und Finnsburg, hg. von G E R H A R D N I C K E L , 1 . Teil, Heidelberg 1 9 7 6 , V. 1 3 2 2 ff. Vgl. U L R I C H J O A C H I M M A D E R , Sippe und Gefolgschaft bei Tacitus und in der westgermanischen Heldendichtung, Diss. Kiel 1940, S. 97. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, hg. von C A R L W E S L E , Bonn 1 9 2 8 . In 'Alpharts Tod' (wie Anm. 7 4 ) begegnet auch der Terminus schiltgeselle ( 1 0 , 4 ) . Althochdeutsches Lesebuch (wie Anm. 19) Nr. XXXVI, S. 136 — 138. Das Ludwigslied entstand anläßlich des Sieges Ludwigs III. über die Normannen bei Saucourt am 3. August 881. Zur sprachgeschichtlichen Beurteilung von notstallo vgl. E R I K A U R M O N E I T , Der Wortschatz des Ludwigliedes im Umkreis der althochdeutschen Literatur (Münstersche Mittelalter-Schriften 11) München 1973, S. 61 f., zu gisellio-, S. 5 9 - 6 1 . Vgl. die Belege bei S T E I N M E Y E R — S I E V E R S (wie Anm. 13) 1, S. 501 Z. 24, S. 700 Z. 1 (Monseer Glossensammlung). W A L T E R SCHLESINGER (Die Anfänge der deutschen Königswahl, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 66, 1948, S. 381—440, S. 428) vermutet, daß der Begriff bereits in dem verlorenen Iring-Lied vorgekommen sei, wenn Widukind von Corvey in seiner Wiedergabe der Sage von principes et necessarii amici spricht. Zu altengl. eaxlgestealla vgl. oben Anm. 81.
141
D e r Begriff und das M o t i v des Freundes
Die zuletzt genannten Begriffe für den Freund als Kampfgefährten werden später in erster Linie in der Heldenepik gebraucht. Das Nibelungenlied greift z. B. den im Rolandslied vorkommenden Terminus hergeselle auf und wendet ihn auf das Kämpferpaar Hagen und Volker an (s. unten). Im Umkreis der Heldendichtung (Chanson de geste, Spielmannsdichtung) ist also das Freundschaftsmotiv jeweils an ein Kriegerpaar gebunden, das mit teilweise archaischen Begriffen belegt wird, die im höfischen Roman gemieden werden. Die Freundschaft wird jeweils als gegenseitige Hilfe im Kampf und als Rache für den getöteten Freund wirksam. 2.3 Als dritte Motivkonstellation der Freundschaft habe ich die der männerbündischen Gemeinschaft genannt. Als eine solche wird die Tafelrunde des Königs Artus in der Artusepik dargestellt. Als Prototyp des Freundes figuriert — dies hat schon Xenja von Ertzdorff hervorgehoben 8 5 — der Artusneffe Gawan, etwa im 'Parzival' oder im I w e i n ' . Das Prinzip der Männerfreundschaft tritt sogar in Opposition zu Minne und Ehe. Als im Twein'-Roman Gawan den frisch verheirateten Iwein zur Teilnahme an Turnieren und d. h. zur zeitweisen Trennung von seiner Ehefrau überredet, wird vom Erzähler der Freundesstatus Gawans rühmend hervorgehoben: der erbeute getriuwen muot hern Iwein sînem gesellen; als ouch die wisen wellen, e%n habe deheiniu groe^er kraft danne unsippiu geselleschaß, gerate si %e guote; unt sint si in ir muote getriuwe undr in beiden, so sich gebruoder scheiden. (V. 2 7 0 0 - 2 7 0 8 8 6 ) Artus selbst ist innerhalb dieser Gemeinschaft ein Freund unter Freunden, so im 'Iwein', w o es heißt: wander was in wei^got verre / bas^ geselle danne herre (V. 887 f., bei Chrétien ohne Parallele) 87 . Auch hier wird, wie bei Walther von der Vogelweide, die freundschaftliche über die verwandtschaftliche Bindung gestellt. In Strickers 'Daniel von dem Blühenden Tal' heißt es: die im gerne wären undertân, / die wolde er doch ^e gesellen hân88. 85
XENJA VON ERTZDORFF, Höfische Freundschaft, in: D e u t s c h u n t e r r i c h t 146, 1962, S. 35 — 51, S. 35 — 37 u n d passim. X e n j a v o n E r t z d o r f f hebt als die bedeutendsten M o m e n t e der F r e u n d s c h a f t im R i t t e r r o m a n hervor: „gegenseitige Ergebenheit, Dienstbereitschaft u n d der tatsächlich geleistete gegenseitige Beistand" (S. 40). In d e m Aufsatz geht es v o r allem u m die Beziehung G a w e i n — Parzival u n d G a w e i n — Iwein.
86
Hartmann
von
Aue,
Iwein,
hg.
von
GEORG FRIEDRICH B E N E C K E — K A R L
LACHMANN,
5.
Auflage
durchgesehen v o n LUDWIG WOLF, Berlin—Leipzig 1926. G a w e i n wird daneben auch als friunt Iweins bezeichnet, vgl. 2742; 7508; 7572. S. auch oben A n m . 39. 87
A r t u s ' Verpflichtung zur Freundschaft mit seinen U n t e r g e b e n e n wird auch im deutschen Prosalanzelot betont. Lancelot, hg. v o n REINHOLD KLUGE, 3 Bde. (Deutsche Texte des Mittelalters 42, 47, 63) Berlin 1 9 4 8 - 1 9 7 4 , vgl. 1, S. 245 Z . 2 6 - S . 247 Z . 27; vgl. HARTMUT FREYTAG, Höfische F r e u n d schaft u n d geistliche Amicitia
im Prosa-Lancelot, in: Schweinfurter ' L a n c e l o t ' - K o l l o q u i u m 1984
(Wolfram-Studien 9) Berlin 1984, S. 1 9 5 - 2 1 2 , S. 198f. u n d A n m . 23. 88
D e r Stricker, Daniel v o n d e m Blühenden Tal, hg. v o n MICHAEL RESLER (Altdeutsche Textbibliothek 92) T ü b i n g e n 1983, V. 65.
142
Theodor Nolte
Die enge Freundschaft Galahots zu Lancelot im deutschen Prosa-Lancelot, die unterschwellig homophile Züge aufweist und innerhalb des Romans nicht nur positiv, sondern auch, in ihren Folgen, negativ bewertet wird, erwähne ich hier nur am Rande 89 . Auffallig ist, daß hierfür die Begriffe frunt und fruntschafft neben denen des gesellen und der geselleschaft auftauchen 90 . 2.4 Ich breche den motivgeschichtlichen Überblick zunächst ab und möchte angesichts der wichtigen Rolle, die Freundschaftsverbindungen in der Literatur spielen, nach deren mentalitätsgeschichtlichem Hintergrund fragen. Werfen wir also einen Blick auf die Rolle der Männerfreundschaft in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft. Eine unmittelbare Parallele zum Artuskreis besteht in den Turnierverbänden der iuvenes, der noch unverheirateten Adelssöhne, deren Lebensweise von Georges Duby einer genaueren Untersuchung unterzogen worden ist 91 . Sie bildeten geschlossene Gruppen, die von dem jeweils Ranghöchsten angeführt wurden und sich hauptsächlich an Turnieren, aber auch an Fehden beteiligten. Die jungen Ritter schuldeten dem Anführer, aber auch sich gegenseitig, die Treue 92 . Innerhalb der feudalen Schicht hatten Freundschaften also vorrangig ihren Platz innerhalb solcher Verbände von 'iuvenes'. Georges Duby schreibt in seinem Buch über Guillaume le Maréchal, den bekanntesten Ritter am englischen Königshof um 1200, der selbst Schutzherr der Turniergruppe des englischen Kronprinzen war, mit Bezug auf diese Gesellschaftsschicht, daß sie eine reine Männerwelt gewesen sei, in der man den Frauen wenig Beachtung geschenkt habe 93 . Er hält den Guillaume le Maréchal, wie er in einer umfangreichen Biographie aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts beschrieben wird, „für den zuverlässigsten Zeugen in der Frage, wie es um die gesellschaftliche Wahrheit jener Liebe bestellt war, die wir als höfische bezeichnen. Eine Männersache, eine Angelegenheit von Schande und Ehre, von Liebe — oder soll ich vorsichtiger formulieren: von Freundschaft — zwischen Männern. Ich wiederhole: nur von den Männern wird in dieser Geschichte, in der Frauen so gut wie gar nicht vorkommen, gesagt, daß sie sich lieben." 94 Nach Duby ist diese „Männerfreundschaft" „der Mörtel des Feudalstaates" 95 . 2.5 Ich möchte von hier aus wieder die Brücke zur Literatur schlagen, und zwar zum Nibelungenlied. Meine These ist die, daß der zweite Teil des Nibelungenlieds, der vom Untergang der Burgunden handelt, neben der Tragödie der Kriemhiltfigur vor allem eine Apotheose der Freundschaft bietet, — einer Freundschaft, wie sie die damalige ritterliche Zuhörerschaft in ihren sozialen Bindungen zu verwirklichen suchte. Zwar ist die große Bedeutung des Freund-Motivs im Nibelungenlied bereits in den Untersuchungen von Francis Gentry und Alois Wolf betont
89
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Untersuchung von FREYTAG (wie Anm. 87).
50
V g l . H A R M S ( w i e A n m . 7 2 ) S. 1 5 .
91
GEORGES DUBY, Les „jeunes" dans la société aristocratique dans la France du Nord Ouest au XII E
92
Vgl. GEORGES DUBY, Guillaume le Maréchal. Der beste aller Ritter, Frankfurt/Main 1986, S. 1 1 2 .
siècle, in: DERS., Hommes et structures du moyen âge, Paris 1973, S. 2 1 3 — 2 2 5 . 93
Ebd. S. 50, 70.
94
Ebd. S. 69 f.
95
Ebd. S. 33.
143
Der Begriff und das Motiv des Freundes
worden 96 ; doch möchte ich darüber hinausgehend behaupten, daß die tragischen Höhepunkte des 2weiten Teils um die Kriegerfreundschaft als zentrales Thema kreisen. Die Minnethematik ist im zweiten Teil (der Erzählung vom Burgundenuntergang) nur noch negativ wirksam. Weil Kriemhilt ihre Minne zu dem ermordeten Siegfried nicht vergessen kann, tritt sie als Rächerin auf, treibt sie die Katastrophe unaufhaltsam voran. Gleichzeitig tritt Hagen, der im ersten Teil noch eine eher zwielichtige Rolle gespielt hatte, als Schützer und helfItcher tröst (1526,2) der Burgunden und als vorbildlicher Protagonist der Kriegerfreundschaft immer stärker in den Vordergrund. Noch vor Beginn der Kämpfe am Etzelhof wählt Hagen sich Volker, den 'Spielmann', zum hergesellen (1758,4; 1772,4; vgl. Rolandslied!). Beide sichern sich Hilfe im Kampf und gegenseitige Treue zu (1777 f.); dabei reden sie sich mit vriunt an. Dies ist nun für die sprachgeschichtliche Seite unseres Themas von Bedeutung, weil in diesen Passagen des Nibelungenliedes das Wort friunt ganz prononciert und programmatisch in der Bedeutung 'amicus' gebraucht wird 97 . Bisher hatten wir ja dafür meist den Begriff geselle und entsprechende Komposita vorgefunden. Im Nibelungenlied aber nimmt das Lexem friunt sogar eine ganz hervorragende Stellung ein und wird zugleich emphatisch gebraucht und mit ethischer Bedeutung gesättigt 98 . Diese Propagierung des emphatisch gebrauchten //-¿««/-Begriffs, bei der das Nibelungenlied sich mit Walther von der Vogelweide trifft, ist dann in der späteren Heldenepik, z. B. in der 'Kudrun' und im 'Biterolf'", teilweise aufgegriffen worden. Zurück zu Hagen und Volker. Ein erster Angriffsversuch der Hunnen scheitert allein an dem grimmigen Anblick des Freundespaars. Volker kommentiert dies mit 96
FRANCIS GENTRY, Triuwe and v r i u n t in the Nibelungenlied, A m s t e r d a m 1 9 7 5 , bes. S. 57 — 85; ALOIS
WOLF, Die Verschriftlichung der Nibelungensage und die französisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter, in: Hohenemser Studien zum Nibelungenlied. Unter Mitarbeit von IRMTRAUD ALBRECHT hg. v o n
ACHIM MASSER
= M o n t f o r t H e f t 3/4, 1 9 8 0 ,
S. 2 2 7 — 2 4 5 .
W o l f spricht
von
einer bei der Verschriftlichung der Sage erfolgten „pointiert gestaltetejn] Hinordnung auf das Freundschaftsthema" im zweiten Teil des Epos (S. 237). Vgl. DERS., Nibelungenlied — Chanson de geste — Höfischer Roman. Zur Problematik der Verschriftlichung der deutschen Nibelungensagen, in: Nibelungenlied und -klage. Passauer Nibelungengespräche 1 9 8 5 , hg. v o n FRITZ PETER KNAPP,
Heidelberg 1987, S. 1 7 1 - 2 0 1 , S. 195, 201. Textausgabe: Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe v o n K A R L B A R T S C H h g . v o n H E L M U T DE BOOR, r e v . u n d e r g . v o n R O S W I T H A W I S N I E W S K I , W i e s b a d e n 211979.
97
98
99
WOLF nennt die Strophen 1777, 1786 und 1801 mit Recht eine ,,hochstilisierte[] Feier der heroisierten Freundschaft zwischen Hagen und Volker", Verschriftlichung (wie Anm. 96) S. 236. Die Bedeutung 'amicus' wird durch den mehrmaligen Gebrauch des Begriffs geselle (2005,3; 2081,2; 2203,2) unterstrichen. Vgl. Kudrun (hg. von B. SYMONS, 4. Aufl. bearb. von BRUNO BOESCH [Altdeutsche Textbibliothek 5] Tübingen 4 1964) 1157,2: sit daij vriunt vriunde angstlichen dienen sol\ Biterolf und Dietleib (hg. von ANDRE SCHNYDER, Bern — Stuttgart 1980) V. 6591: freundt sol freunde bey gestern, 12514 f. wan das dicke geschickt,! freundt freunde gestat (vgl. V. 789 f.); vgl. 'Alpharts Tod' (wie Anm. 74) 318,3, wo VON DER HAGEN und MARTIN den fromden konjizieren zu: ,Nü bricht er niht sin triuwe, der dem vriunde bi gestat', sprach Hildebrand der aide, ,swann e% an die rehte not gät' (318 [317] 3 f.). Deutsches Heldenbuch. Zweiter Teil, hg. von ERNST MARTIN, Berlin 1866, S. 38; vgl. Heldenbuch. Altdeutsche Heldenlieder aus dem Sagenkreise Dietrichs von Bern und der Nibelungen. Meist aus einzigen Handschriften zum erstenmal gedruckt oder hergestellt durch FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN, 2 Bde., Leipzig 1855, 1, S. 324.
144
Theodor Nolte
den Worten, daß viele Angreifer dadurch abgeschreckt würden, swä so friunt bi friunte friunt liehen stät (1801,2). Mit dieser Formulierung zieht der Nibelungenepiker sozusagen die Quintessenz aus seinem 'Hohen Lied' auf die Freundschaft. In der folgenden Nacht halten Hagen und Volker Saalwache. Die K r i e g e r f r e u n d e , nicht König Gunther, sind die wahren Schutzherren der Nibelungen. Mehrfach wird die Idealisierung, die beide Helden einander entgegenbringen, betont 100 . Als Hildebrand schließlich Volker erschlägt, ist dies Hagens allermeistiu not, I die er da hete gewunnen an mägen und ouch an man. jowe wie harte Hagene den helt do rechen began! (2289,2 — 4). Die Freundschaftsbindung übersteigt also sogar die Blutsbande der Verwandtschaft und impliziert die rechtliche Pflicht zur Rache. Die — um mit Wolf zu reden — „pathetische Sentimentalisierung" 101 , die der Nibelungenepiker in die Schilderung dieser Kriegerfreundschaft hineinlegt, wird noch gesteigert in der Erzählung von Rüdigers Freundes kämpf und Tod. Bevor dieser Lehensmann Etzels gezwungenermaßen gegen seine Freunde, die Burgunden, kämpft, schenkt er Hagen auf dessen Bitte hin seinen Schild, woraufhin dieser es ablehnt, mit ihm zu kämpfen (wobei sich Volker ihm anschließt!), und zwar mit der Begründung: sul wir mit friunden striten, da% si got gekleit (2200,3)102. Während der gesamten Szene, so hebt der Erzähler mehrfach hervor, weinen alle im Saal. Und angesichts der sentimentbeladenen Darstellungsweise scheint mir die Schlußfolgerung unabweisbar: Beim Vortrag dieser Szene, die einen der Höhepunkte des Epos bildet, hat auch das mittelalterliche Publikum geweint. Es ist merkwürdig, daß man dies bislang noch nicht in Erwägung gezogen hat: Die Wirkungsästhetik der Schlußaventiuren des Nibelungenlieds ist eine solche der Tränen. Und im Rahmen unserer Fragestellung bleibt festzuhalten, daß die Tränen sich am Thema der Freundschaft, einer heroisch bewährten, mit dem Worte friunt pathetisch überhöhten und, im Gegensatz zu ihrer heutigen Funktion, rechtlich verankerten Kriegerfreundschaft entzünden. 100
Vgl. z. B. 2 0 0 5 - 2 0 0 7 .
101
WOLF, V e r s c h r i f t l i c h u n g ( w i e A n m . 9 6 ) S. 2 3 4 .
102
Nach Rüdigers Tod erbittet Hildebrand die Leiche zur Bestattung. Man beachte die Antwort Gunthers, der sein Mitgefühl durch die gehäufte Verwendung des Begriffes vriunt zum Ausdruck bringt: [...] nie dienst wart sd guot, / so den ein vriunt vriunde nach dem tode tuot. / da\ hei^e ich staete triuwe, swer die kan began (2264,1-3; vgl. 1030, 4). Vgl. auch Anm. 99.
GERD ALTHOFF
Colloquium familiare — Colloquium secretum — Colloquium publicum Beratung im politischen Leben des früheren Mittelalters Die mündlich-persönliche Beratung hat in so vielen Bereichen des mittelalterlichen Lebens eine Zentralfunktion, daß es eigentlich verwundert, warum sie nicht zu den vorrangigen Themen mediävistischer Forschung gehört. Hier sollen nur stichwortartig einige dieser Bereiche genannt werden, um danach v o r allem Beratungen im politischen Kräftefeld — und hier besonders zwischen König und Großen — zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Dies, um exemplarisch zu zeigen, wie wichtig das Verständnis der Formen und Regeln der Beratung für den Einblick in die Funktionsweisen mittelalterlicher Herrschaftsverbände und damit für zentrale Probleme der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte ist. Für die königliche Herrschaftsausübung konstitutiv waren die Hoftage, zu denen die Großen des Reiches nicht zuletzt kamen, um durch ihren Rat an den anstehenden Entscheidungen mitzuwirken 1 . Neben den Hoftagen kennt die königliche Herrschaftspraxis eine Fülle anderer Colloquien, etwa v o r dem Abschluß von Bündnissen mit anderen Herrschern, aber auch im Falle von Konflikten innerhalb des eigenen Herrschafts Verbandes 2 .
1
Zu der Bezeichnung colloquium für den Hoftag vgl. jetzt die Belege in: Mittellateinisches Wörterbuch, hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften der DDR, 2. Bd. L f g . 6, München 1974, Sp. 866; s. aber schon mit reichem Material GEORG WAITZ, Deutsche Verfassungsgeschichte, 3, Berlin 2 1883, S. 554 ff., 6, bearb. von GERHARD SEELIGER, Berlin 2 1896, S. 323 ff.; ERICH SEYFARTH, Fränkische Reichsversammlungen unter Karl dem Großen und L u d w i g dem Frommen, Phil. Diss. Leipzig 1910; MARTIN LINTZEL, Die Beschlüsse der deutschen Hoftage von 911 — 1056 (Historische Studien 161) Berlin 1924; vgl. auch den Art. 'Reichstag (ältere Zeit)' in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. von ADALBERT ERLER und EKKEHARD KAUFMANN, 28. Lfg., Berlin 1987, Sp. 781—786 mit weiteren Hinweisen; zuletzt PETER MORAW, Hoftag und Reichstag von den Anfangen im Mittelalter bis 1806, in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch, hg. von HANS-PETER
2
Es ist fast überflüssig zu betonen, daß colloquium nicht das einzige Wort ist, mit dem solche Beratungen in den Quellen bezeichnet werden. Genannt seien andere einschlägige Begriffe wie placitum, conventus, consilium, curia. Gut bezeugt und erforscht sind die sog. 'Frankentage', zu denen sich seit der Zeit L u d w i g s des Frommen karolingische Teilreichskönige mit ihrem populus trafen, um anstehende Probleme zu besprechen und durch das colloquium die Atmosphäre des Friedens und der Eintracht zu stärken bzw. wiederherzustellen; vgl. dazu REINHARD SCHNEIDER, Brüdergemeine und Schwurfreundschaft (Historische Studien 388) Lübeck —Hamburg 1964, dort S. 178 ff. eine Aufstellung der Termini, mit denen diese Treffen in den Quellen benannt sind. Weitere Belege und Überlegungen bei WALTER HEINEMEYER, Studien zur Diplomatik mittelalterlicher Verträge vornehmlich des 13. Jahrhunderts, in: Archiv für Diplomatik 14, 1936, S. 321—413, bes. S. 342 ff.;
SCHNEIDER u n d WOLFGANG ZEH, B e r l i n - N e w Y o r k 1 9 8 9 , S . 3 - 4 7 , b e s . S . 12 ff.
146
Gerd Althoff
Auf Colloquien geschah auch die Willensbildung der Großen ohne den König oder gegen ihn 3 . Angesprochen ist damit der Bereich genossenschaftlicher Organisationsformen, in denen ganz allgemein der gemeinsamen Beratung gleichfalls ein hoher Stellenwert zukam. Ob Adelsconiuratio, Gilde, Zunft oder auch die coniuratio der Stadtgemeinde, überall begegnen wir den beratenden Versammlungen an zentraler Stelle im Verfassungsleben dieser Vereinigungen4. In der mittelalterlichen Kirche war bekanntlich die Praxis der synodalen Versammlung auf verschiedenen Ebenen üblich, deren strukturelle Analogie zu anderen schon genannten Versammlungen nicht zuletzt darin besteht, daß neben dem consilium das iudicium Zweck dieser Zusammenkünfte war 5 . Auch das Mönchtum kannte und schätzte den Wert der Beratung, denn schon die Benediktsregel wies den Abt nachdrücklich darauf hin, den Rat der Brüder einzuholen. Dies hat im monastischen Alltag zu Versammlungen von Abt und Konvent oder der sanior pars der Brüder geführt, die der Beratung anstehender Fragen dienten, auch wenn wir hierüber naturgemäß seltener informiert werden als über die Versammlungen anderer Gruppen des Mittelalters6.
3
HEINRICH WEBER, Die R e i c h s v e r s a m m l u n g e n im ostfränkischen Reich, 840—918, Phil. Diss. W ü r z b u r g 1963, S . 5 2 f f . ; REINHARD SCHNEIDER, Mittelalterliche Verträge auf B r ü c k e n u n d Flüssen, in: Archiv f ü r D i p l o m a t i k 23, 1977, S. 1—24; INGRID VOSS, Herrschertreffen im frühen und hohen Mittelalter (Beiheft z u m Archiv für Kulturgeschichte 26) K ö l n - W i e n 1987, S. 123 ff. A u c h hier ist colloquium nicht der einzige einschlägige Begriff. Die Tatsache beratender Z u s a m m e n künfte ist namentlich v o r A k t i o n e n g e g e n den Herrscher häufig e r w ä h n t ; zum Horizont f ü r das frühe Mittelalter v g l . KONRAD BUND, T h r o n s t u r z u n d Herrscherabsetzung im Frühmittelalter (Bonner Historische F o r s c h u n g e n 44) Bonn 1979, passim; KARL BRUNNER, Oppositionelle G r u p p e n im K a r o l i n g e r r e i c h (Veröffentlichungen des Instituts f ü r österreichische Geschichtsforschung 25) Wien —Köln —Graz 1979, dort bes. S. 17 ff.; allg. s. auch FRITZ KERN, G o t t e s g n a d e n t u m und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter, h g . von RUDOLF BUCHNER, Darmstadt 1954. Erinnert sei hier auch an die berühmten Ä u ß e r u n g e n des Tacitus über die Beratungen der G e r m a n e n ; v g l . T a c i t u s , G e r m a n i a , e r l ä u t e r t v o n RUDOLF MUCH, h g . v o n WOLFGANG LANGE, H e i d e l b e r g
31967,
cap. 11 und 22, dort auch die A n g a b e n über den Z u s a m m e n h a n g zwischen B e r a t u n g und Feier. 4
Die Ü b e r g ä n g e von B e r a t u n g , Feier und Gelage konnten durchaus fließend sein; v g l . dazu bereits g r u n d l e g e n d OTTO GIERKE, D a s d e u t s c h e G e n o s s e n s c h a f t s r e c h t , 4 B d e . , B e r l i n 1 8 6 8 — 1 9 1 3 ,
1,
S. 228 ff.; neuerdings OTTO GERHARD OEXLE, Die mittelalterlichen Gilden: ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur F o r m u n g sozialer Strukturen, in: Soziale O r d n u n g e n im Selbstverständnis des Mittelalters, h g . v o n ALBERT ZIMMERMANN (Miscellanea M e d i a e v a l i a 12/1) Berlin—New York 1979, S. 2 0 3 — 2 2 6 , S. 2 1 1 ff.; z u r E n t s t e h u n g d e r S t a d t g e m e i n d e v g l . EDITH ENNEN, F r ü h g e s c h i c h t e d e r
europäischen Stadt, 3. erw. A u f l a g e , Bonn 1981, S. 165 ff.; GERHARD DILCHER, Die Entstehung der lombardischen S t a d t k o m m u n e ( U n t e r s u c h u n g e n zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte 7) Aalen 1967, S. 71 ff.; HAGEN KELLER, Die Entstehung der italienischen S t a d t k o m m u n e als P r o b l e m d e r S o z i a l g e s c h i c h t e , in: F r ü h m i t t e l a l t e r l i c h e S t u d i e n 10, 1976, S. 1 6 9 - 2 1 1 , S. 1 7 8 f f . ; HERMANN
JAKOBS, Bruderschaft und Gemeinde: K ö l n im 12. J a h r h u n d e r t , in: Gilden und Zünfte, h g . von BERENT SCHWINEKÖPER ( V o r t r ä g e u n d F o r s c h u n g e n 2 9 ) S i g m a r i n g e n 1 9 8 5 , S . 2 8 1 — 3 0 9 , S . 2 8 4 ff. 5
6
Vgl. hierzu den Art. ' K o n z i l ' in: H a n d b u c h theologischer G r u n d b e g r i f f e , h g . von HEINRICH FRIES, 1, M ü n c h e n 1962, S. 851—859 mit weiteren Hinweisen. Vgl. dazu die A u s f ü h r u n g e n im Kapitel 3 der Benediktsregel: De adhibendis ad consilium fratribus: 1. Quotiens aliqua praecipua agenda sunt in monasterio, conuocet abbas omnem congregationem et dicat ipse, unde agitur. 2. Et audiens consilium fratrum tractet apud se et, quod utilius iudicauerit, faciat. 3. Ideo autem omnes ad consilium uocari diximus, quia sepe iuniori dominus reuelat, quod melius est. 4. Sic autem dent fratres consilium cum omni humilitatis subiectione et non praesumant procaciter defendere, quod eis uisum fuerit; 5. et magis in abbatis pendat aruitrio, ut, quod salubris esse iudicauerit, ei cuncti oboediant. Benedicti regula, hg.
Colloquium familiare
— Colloquium secretum
— Colloquium
publicum
147
N o c h k n a p p e r als zu d e n v e r s c h i e d e n e n B e r e i c h e n , die z u m w e i t e r e n H o r i z o n t des T h e m a s g e h ö r e n , k ö n n e n die B e m e r k u n g e n z u r F o r s c h u n g s g e s c h i c h t e u n d zu den a n z u w e n d e n d e n M e t h o d e n ausfallen. E i n e eigentliche
Forschungsgeschichte
zum Thema 'Beratung' könnte man w o h l gar nicht präsentieren: Gestreift w u r d e die B e r a t u n g v i e l m e h r e h e r a m R a n d e v o r allem bei v e r f a s s u n g s g e s c h i c h t l i c h e n , a b e r a u c h bei U n t e r s u c h u n g e n z u r G e s c h i c h t e d e r G e n o s s e n s c h a f t e n . G r o ß e s I n t e r esse f a n d bis h e u t e a l l e r d i n g s eine F r a g e : W a r das consilium
d e r G r o ß e n f ü r diese
m e h r ein R e c h t o d e r eine P f l i c h t 7 ? H i e r a u f w i r d i m f o l g e n d e n gleichfalls e i n z u g e h e n sein. M e t h o d i s c h m u ß m a n sich ü b e r ein P r o b l e m v o r a l l e m klar sein: W i r v e r s u c h e n , die S i t u a t i o n m ü n d l i c h e r B e r a t u n g einer E p o c h e zu r e k o n s t r u i e r e n , aus d e r ausschließlich s c h r i f t l i c h e Z e u g n i s s e e r h a l t e n sind. D i e K o n s e q u e n z e n , die sich aus dieser fast banal w i r k e n d e n F e s t s t e l l u n g e r g e b e n , h a b e n in den
mediävistischen
L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t e n bereits eine l e b h a f t e D i s k u s s i o n z u m P r o b l e m M ü n d l i c h k e i t — S c h r i f t l i c h k e i t ausgelöst, u n d es ist an d e r Z e i t , d a ß sich H i s t o r i k e r stärker an i h r b e t e i l i g e n 8 . N a c h diesen e i n f ü h r e n d e n B e m e r k u n g e n sei zu B e g i n n a u f ein Textbeispiel z u r ü c k g e g r i f f e n , das a u f sehr e i g e n w i l l i g e W e i s e A s p e k t e des T h e m a s anspricht. D e r Text s t a m m t aus d e m T r a d i t i o n s b u c h des K l o s t e r s L o r s c h . D o r t w u r d e i m 1 2 . J a h r h u n d e r t zu einer U r k u n d e , die eine S c h e n k u n g in M i c h e l s t a d t d u r c h E i n h a r d ,
7
8
von R U D O L F H A N S L I K (Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum 75) Wien 1 2 1 9 7 6 , S. 27; vgl. dazu P. B A S I L I U S STEIDLE, Beiträge zum alten Mönchtum und zur Benediktusregel, Sigmaringen 1986, S. 251 ff. Vgl. dazu K E R N (wie Anm. 3) mit Anm. 280 „Consensus fidelium" S. 269 ff. und Anm. 283 „Das Maß der Konsensgebundenheit des Herrschers" S. 278 ff.; FRANÇOIS L. G A N S H O F , Was waren die Kapitularien?, Darmstadt 1961, S. 53 ff.; W E R N E R A F F E L D T , Das Problem der Mitwirkung des Adels an politischen Entscheidungsprozessen im Frankenreich vornehmlich des 8. Jahrhunderts, in: Aus Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft. Festschrift für Hans Herzfeld, hg. von W I L H E L M K U R Z E , Berlin—New York 1972, S . 404 — 423; W I L H E L M S T Ö R M E R , Früher Adel. Studien zur politischen Führungsschicht im fränkisch-deutschen Reich vom 8. bis 11. Jahrhundert (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 6,1/2) Stuttgart 1973, S. 268 ff.; J Ü R G E N H A N N I G , Consensus fidelium. Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses von Königtum und Adel am Beispiel des Frankenreiches (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 27) Stuttgart 1982, S. 3 ff. mit einem Abriß der Forschungsgeschichte. Zur interdisziplinären Diskussion dieses Problems vgl. B R I A N S T O C K , The Implications of Literacy. Written language and models of interpretation in the eleventh and twelfth centuries, Princeton 1983; J A C K GOODY, The Logic of Writing and the Organisation of Society, Cambridge 1987; W A L T E R J A C K S O N O N G , Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London 1982 (deutsch: Oralität und Literalität, Opladen 1987); P A U L Z U M T H O R , La lettre et la voix. De la «littérature» médiévale, Paris 1987; für die speziell den Historiker interessierenden Felder vgl. M. T. C L A N C H Y , From Memory to Written Record. England 1066 — 1307, London 1979; s. ferner PETER CLASSEN (Hg.), Recht und Schrift im Mittelalter, Sigmaringen 1977; PETER W E I M A R (Hg.), Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert, Zürich 1981; H U B E R T M O R D E K (Hg.), Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters, Sigmaringen 1986. Vgl. hierzu die Problemskizze und die reichen Literaturangaben, die H A G E N K E L L E R und F R A N Z - J O S E F WORSTBROCK bei ihrer Vorstellung des neuen Sonderforschungsbereichs 'Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter. Der neue Sonderforschungsbereich 231 an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster', in: Frühmittelalterliche Studien 22, 1988, S. 388—409 zusammentrugen.
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Gerd Althoff
den Biographen Karls des Großen, betrifft, eine Geschichte niedergeschrieben, die sicher eine literarische Fiktion darstellt. Karl der Große erwischte nach dieser Darstellung Einhard, seinen späteren Biographen, als dieser eine Nacht bei Imma, einer Tochter Karls, verbracht hatte. Den beiden Liebenden wurde zum Verhängnis, daß es während ihres nächtlichen Beisammenseins schneite. Um daher nicht durch die Fußstapfen verraten zu werden, trug Imma ihren Geliebten am nächsten Morgen auf dem Rücken von ihrem Gemach zu seiner Behausung, was der Kaiser, ihr Vater, von seinem Fenster aus beobachtete. Erzürnt berief er daraufhin seinen Hofrat ein, und ab hier wird die Geschichte für unser Thema interessant, denn die Beratung dieses Gremiums wird ausführlich geschildert 9 . Der Kaiser skizzierte zunächst den Sachverhalt, sprach von Majestätsbeleidigung und bat um Rat, was geschehen solle. Die Ratgeber antworteten der Reihe nach und schlugen sehr unterschiedliche Lösungen vor. ,Ganz Ungestüme' forderten die Todesstrafe für Einhard, andere waren bedachter, jeder aber wollte die Bestrafung des Missetäters. Man sieht in dieser Fiktion sehr schön, wie fließend die Grenze zwischen consilium und iudicium war. Den Rat seiner Getreuen hörte sich der Kaiser schweigend an und bedachte das Gewicht ihrer Argumente. Dann verkündete er seine Entscheidung, die ganz anders ausfiel, als alle geraten hatten. Er wolle ,die beiden verheiraten, um so eine unschöne Sache mit der Farbe der Ehrenhaftigkeit zu übermalen' 10 . In formaler Hinsicht liefen Beratungen bei Hoftagen durchaus so ab wie hier geschildert: Darstellung des zur Entscheidung anstehenden Sachverhalts, Voten der Ratgeber, Entscheidung des Königs. In inhaltlicher Hinsicht aber weist die anekdotische Zuspitzung der Geschichte auf ein wichtiges Problem: In der Fiktion düpierte der König mit seiner Entscheidung alle Ratgeber, indem ihm eine souveränere, die Probleme eleganter bewältigende Lösung einfiel als allen seinen Ratgebern. Welchen Spielraum aber hatten in dieser Hinsicht die realen Könige des Mittelalters, wenn es um Fragen ging, die noch ein wenig ernster waren als die von Karl entschiedene? Mit dieser Frage hat man sich seit langer Zeit intensiv und
9
10
Vgl. Codex Laureshamensis, hg. von KARL GLÖCKNER, 3 Bde., Darmstadt 1929 — 1936, 1, cap. 19, S. 298 f. : ... congregata itaque magnifica diuersarum dignitatum frequentia, ita exortus est: imperatoriam inquiens maiestatem nimis iniuriatam esse et despectam, in indigna sue filie notariique sui copulatione, et exinde non mediocri sese agitari perturbatione. Quibus nimio stupore perculsis, et de rei nouitate ac magnitudine quibusdam adhuc ambigentibus, rex innotuit eis euidentius, referens eis a primordio, quid per semetipsum oculata fide cognoverit, consiliumque eorum ac sententiam super hoc expostulans. At Uli inter se diuersi diuersa sententes in presumptorem huius rei duras et uarias dedere sententias, aliis sine exemplo puniendum, aliis exilio dampnandum, aliis alio modo disperdendum ut cuique impetus erat, adiudicantibus ... Zur Rezeption dieser Sage vgl. HANSMARTIN DECKER-HAUFF (Hg.), Die Chronik der Grafen von Zimmern 2, Sigmaringen 3 1981, S. 50 ff.; LEANDER PETZOLDT (Hg.), Historische Sagen 1, München 1976, S. 135 ff. und 377. Ebd. S. 299: Unde dignius et laudabilius imperii nostri glorie arbitramur congruere, ut data adolescentie uenia, legitimo eos matrimonio conimgam, et rei probrose honestatis colorem superducam. Zur Frage, wie diese Geschichte in Lorsch entstehen konnte, ist anzumerken, daß in der Schenkung Einhards an Lorsch einmal davon die Rede ist, daß Einhard und Imma in Sorge um ihr Seelenheil waren (ebd. S. 301: De salute animarum nostrarum cogitantes et de abolendispeccatis nostris ... pari devotione tractantes ...), zum anderen nennt sich Einhard in der Urkunde peccator et donator. Man wird nicht ausschließen wollen, daß diese Hinweise zur Entstehung der Geschichte geführt oder beigetragen haben könnten.
Colloquium familiare
— Colloquium secretum — Colloquium publicum
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kontrovers befaßt, ohne daß die Diskussion abgeschlossen wäre. Die Erforschung der Beratung verengte sich fast auf diese Frage 11 . Das Interesse konzentrierte sich vor allem darauf, ob consilium und consensus, wie sie bei Beratungen der Großen mit dem König gefordert und gegeben wurden, nur eine zusätzliche Selbstbindung durch Zustimmung seitens der Lehns- und Gefolgsleute bewirkten oder ob Rat und Konsens auch die Bindung des Herrn an die Befolgung des Rates einschloß 12 . Auf letzterer Annahme basiert wesentlich die Theorie vom Mitsprache- und Widerstandsrecht des Adels 13 . In einer neueren, breit angelegten Untersuchung hat Jürgen Hannig die Idee vom consensusfidelium als eine Schöpfung der Karolinger nachzuweisen versucht, die „propagandistisch eingesetzt" worden sei und die „Aufforderung zur Mitarbeit am zentralen karolingischen Königsstaat" beinhaltet habe 14 . Schon in der Regierungszeit Ludwigs des Frommen scheinen den Karolingern dann die Geister, die sie da zur Mitarbeit gerufen hatten, außer Kontrolle geraten zu sein. Hierzu ist folgendes zu sagen: Die Wertschätzung der Beratung ist gerade in archaischen Gesellschaften so häufig bezeugt und so tief verankert, daß es wohl nicht ratsam ist, sie von einem propagandistischen Trick der Karolinger herzuleiten 15 . Zu einer begründeten Beurteilung der Kräfteverhältnisse in den politischen Beratungen des Mittelalters gehört vielmehr eine genauere Kenntnis ihrer Formen und Regeln, die bis heute weitgehend fehlt. So häufig man sich darum bemüht hat zu verstehen, welches Gewicht der consensus fidelium in den Beratungen hatte, so wenig hat man gefragt, wie sie eigentlich abliefen. Diese Frage zielt nicht nur darauf zu entscheiden, ob die Tätigkeit des Ratgebers mehr ein Recht oder eine Pflicht darstellte; vielmehr geht es um ein besseres Verständnis der Beratung als einer zentralen Situation in der mittelalterlichen Herrschaftsausübung.
11 12
Vgl. hierzu den Überblick über die Diskussion bei HANNIG (wie Anm. 7) S. 19 ff. Besonders wirkmächtig waren die diesbezüglichen Ausführungen von OTTO BRUNNER, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wien 5 1965, S. 426 ff.; zur Beurteilung Otto Brunners vgl. ECKHARD MÜLLER-MERTENS, Die Reichsstruktur im Spiegel der Herrschaftspraxis Ottos des Großen (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte 25) Berlin 1980, S. 39 ff.; OTTO GERHARD OEXLE, Sozialgeschichte — Begriffsgeschichte — Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und W i r t s c h a f t s g e s c h i c h t e 7 1 , 1 9 8 4 , S. 3 0 5 - 3 4 1 , b e s . S. 3 1 6 f f .
13
Vgl. zu dieser lang andauernd und kontrovers geführten Diskussion als Ausgangspunkt immer noch KERN (wie Anm. 3); neuerdings s. HAGEN KELLER, Zur Struktur der Königsherrschaft im karolingischen und nachkarolingischen Italien. Der „consiliarius regis" in den italienischen Königsdiplomen des 9. und 10. Jahrhunderts, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 47, 1967, S. 123 — 223, bes. S. 125 ff.; GERD TELLENBACH, Die geistigen und politischen Grundlagen der karolingischen Thronfolge, in: Frühmittelalterliche Studien 13, 1979, S. 1 8 4 - 3 0 2 , bes. S. 249 ff. und die in Anm. 7 angegebene Literatur.
14
HANNIG ( w i e A n m . 7 ) S. 3 0 0 .
15
Vgl. von Seiten der Ethnologie etwa MAX GLUCKMAN, Politics, Law and Ritual in Tribal Society, Oxford 1965, S. 183 ff.; CHRISTIAN SIGRIST, Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas (Texte und Dokumente zur Soziologie) Ölten—Freiburg i. B. 1967, S. 96 ff.; SIMON ROBERTS, Order and Dispute. An Introduction to Legal Anthropology, Oxford 1979, deutsch: Ordnung und Konflikt, Stuttgart 1981, passim, bes. S. 127 ff., S. 171 ff.
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Gerd Althoff D i e derzeitige F o r s c h u n g s s i t u a t i o n a u f diesem G e b i e t sei d u r c h eine e i n f a c h e
G e g e n ü b e r s t e l l u n g charakterisiert: W ä h r e n d n e u e r e F o r s c h u n g e n u n t e r v e r s c h i e d e nen F r a g e s t e l l u n g e n z u n e h m e n d m e h r einen E i n d r u c k v o n d e r Sensibilität m i t t e l alterlicher S t a n d e s - u n d E h r v o r s t e l l u n g e n , v o n d e r d a r a u s r e s u l t i e r e n d e n B e d e u t u n g d e r R a n g o r d n u n g , v o n den d a r a u s e r w a c h s e n d e n F o r m e n d e r d e m o n s t r a t i v e h r e n v o l l e n B e h a n d l u n g des G e g e n ü b e r s v e r m i t t e l n , scheint m a n andererseits n a c h w i e v o r d a v o n a u s z u g e h e n , d a ß in m i t t e l a l t e r l i c h e r B e r a t u n g o f f e n u n d
kontrovers
d i s k u t i e r t w e r d e n k o n n t e w i e in m o d e r n e n P a r l a m e n t s d e b a t t e n 1 6 . D i e w o h l z u t a g e liegende Unvereinbarkeit
s o l c h e r V o r s t e l l u n g e n m a c h t eine U b e r p r ü f u n g
ihrer
Voraussetzungen dringend nötig. W e n i g A u f s c h l u ß erhält m a n bei d e r F r a g e n a c h d e n F o r m e n u n d R e g e l n der B e r a t u n g v o n den t h e o r e t i s c h e n S c h r i f t e n des F r ü h m i t t e l a l t e r s , die i m Z u s a m m e n h a n g d e r H e r r s c h e r e t h i k a u f den S t e l l e n w e r t des R a t e s zu s p r e c h e n k o m m e n . Es ist i h n e n v e r t r a u t , d a ß es z u m g e r e c h t e n H e r r s c h e r w e s e n s m ä ß i g
hinzugehöre,
w e i s e R a t g e b e r zu h a b e n 1 7 . W a s a b e r sonst ü b e r E i n z e l h e i t e n d e r B e r a t u n g s t ä t i g k e i t ausgesagt w i r d , ist n i c h t g e e i g n e t , einen L e i t f a d e n f ü r u n s e r e B e h a n d l u n g
des
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Zur Bedeutung der Rangordnung für die mittelalterliche Herrschaftsausübung vgl. H E I N R I C H Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 30,1/2) Stuttgart 1984, S. 11 ff. und 74 ff.; H A G E N K E L L E R , Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer 1024 — 1250 (Propyläen Geschichte Deutschlands 2) Berlin 1986, hier insb. das Kapitel „Königsherrschaft in und über dem Rangstreit der Großen", S. 73 ff.; zur Kunst des Dialogs im Mittelalter vgl. neuerdings die Beiträge von PETER VON M O O S , Literatur und Bildungsgeschichte. Aspekte der Dialogform im lateinischen Mittelalter. Der Dialogus Ratii des Eberhard von Ypern zwischen theologischer disputatio und Scholaren-Komödie, in: Tradition und Wertung. Festschrift für Franz Brunhölzl, hg. von G Ü N T E R B E R N T u.a., Sigmaringen 1989, S. 165 — 209; D E R S . , Die Kunst der Antwort. Exempla und dicta im lateinischen Mittelalter, in: Exempel und Exempelsammlungen, hg. von W A L T E R H A U G und B U R K HART W A C H I N G E R , im Druck. Ich danke dem Autor für die Überlassung des Manuskripts und für anregende Gespräche, in denen mir deutlich wurde, welch hohes Gewicht auch in der Ars der Dialogführung auf vorsichtige und indirekte Ansprache der Probleme gelegt wird. Dies unterstreicht vor allem Hinkmar von Reims in verschiedenen Schriften; vgl. Hinkmar, De ordine palatii (wie Anm. 18) S. 86 Anm. 201; vgl. aber bereits Pseudo-Cyprianus, De XII abusivis saeculi, hg. von SIEGMUND H E L L M A N N (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 34,1) Leipzig 1909, cap. 9, S. 51, mit der Forderung senes et sapientes et sobrios consiliarios habere, s. dazu EUGEN E W I G , Zum christlichen Königsgedanken im Frühmittelalter, in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen (Vorträge und Forschungen 3) Konstanz 4 1973, S . 7 —73, S. 39; H A N S H U B E R T A N T O N , Fürstenspiegel und Herrscherethos in der Karolingerzeit (Bonner Historische Forschungen 32) Bonn 1968, S. 68; DERS., Pseudo-Cyprian. De duodecim abusivis saeculi und sein Einfluß auf den Kontinent, insbesondere auf die karolingischen Fürstenspiegel, in: Die Iren und Europa im früheren Mittelalter, hg. von H E I N Z L Ö W E (Veröffentlichungen des Europa-Zentrums Tübingen. Kulturwissenschaftliche Reihe) Teilband 2, Stuttgart 1982, S. 568—617, S. 588 ff.; weitere Belegstellen zur Wertschätzung des Rates und des Ratgebers s. bei W A I T Z (wie Anm. 1) 3, S. 531 ff. Zur Darstellung der Beratung in der mittelalterlichen Literatur vgl. E R I C H K Ö H L E R , „Conseil de barons" und „jugement de barons". Epische Fatalität und Feudalrecht im altfranzösischen Rolandslied (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.Hist. Kl. 4 ) Heidelberg 1968; J O A C H I M PEETERS, Rat und Hilfe in der deutschen Heldenepik, Nijmegen 1981, dort S.42 auch eine Sammlung der Äußerungen zum guten Rat in den Fürstenspiegeln. FICHTENAU,
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er in 'De ordine palatii' die anzustrebende Arbeitsteilung zwischen Teilnehmern an einer solchen Beratung so beschreibt: , Sodann sollte die Stimme des einen Beraters die Berechtigung eines Planes, die eines anderen die Milderung durch Erbarmen und Wohlwollen, eine dritte aber die Mittel von List und Wagemut betonen.' 18 Es ist deutlich, daß Hinkmar hier die Rollen der Ratgeber nach den Herrschertugenden verteilt und von einer durch keinerlei Interessengegensätze getrübten Harmonie der Beratenden ausgeht, die in der Realität kaum die Regel gewesen sein dürfte. Aber dem großen Reimser Bischof war durchaus bekannt, was die Atmosphäre der Beratung vergiften konnte, und er formulierte deshalb die Eigenschaften guter Ratgeber auch wie folgt: ,Als Ratgeber wurden aber solche Kleriker wie auch Laien ausgewählt, die vor allem den Herrn fürchteten, sodann eine derartige Ergebenheit zeigten, daß sie — abgesehen vom ewigen Leben — nichts dem König und seiner Herrschaft vorzogen: also nicht seine Freunde, nicht seine Feinde, nicht seine Verwandten waren, keine Geschenke brachten, keine Schmeicheleien vortrugen, keine aufreizenden Reden führten.' 19 Hier findet man also Hinweise auf bekannte Probleme innerhalb der mittelalterlichen Herrschaftsverbände — Bevorzugung von Verwandten und Freunden, Beeinflussung durch großzügige Beschenkung, provozierende Äußerungen —, die ihre Auswirkungen auf die Situation der Beratung gehabt haben dürften 20 . Soweit einstweilen zur mittelalterlichen 'Theorie' der Beratung. Die mittelalterliche Historiographie spricht über Beratungen in aller Regel nur sehr allgemein, indem sie die Tatsache als solche erwähnt oder den Inhalt der Beschlüsse und Entscheidungen wiedergibt. Da sie jedoch in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen und unterschiedlicher Ausführlichkeit auf Einzelheiten zu sprechen kommt, sei mit ihrer Hilfe begonnen, ein Bild vom Ablauf und von den Eigenarten solcher Beratungen zu zeichnen. Die Königswahl Konrads II. im Jahre 1024 war ein Ereignis, das die Beratung der Großen in besonderer Weise nötig machte, denn der verstorbene Kaiser Hein-
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Hinkmar von Reims, De ordine palatii, hg. und übersetzt von THOMAS GROSS und RUDOLF SCHIEFFER (MGH Fontes iuris Germanici antiqui [III]) Hannover 1980, cap. 25, S. 78: Deinde primus consilii rectitudinem, secundus misericordiae et benignitatis consolationem, tertius vero versutiae seu temeritatis sermo referret medicinam. Zu De ordine palatii vgl. JEAN DÉVISSÉ, Hincmar archevêque de Reims. 845 — 882, Genf 1975/76, S. 990 ff.; zuletzt BRIGITTE KASTEN, Adalhard von Corbie (Studia humaniora 3) Düsseldorf 1986, S . 7 2 f f . Hinkmar (wie Anm. 18) cap. 31, S. 86: Consiliarii autem, quantum possibile erat, tarn clerici quam laici taies eligebantur, qui primo secundum suam quisque qualitatem vel ministerium Dominum timerent, deinde talem fidem haberent, ut excepta vita aeterna nihil regi et regno praeponerent: non amicos, non inimicos, non parentes, non munera dantes, non blandientes, non exasperantes ... Zu den Inhalten der mittelalterlichen „Verwandtschaftsmoral" vgl. FICHTENAU (wie Anm. 16) S. 120 ff.; allg. vgl. auch WOLFGANG REINHARD, Freunde und Kreaturen. „Verflechtung" als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600, München 1979, S. 32 ff.; zum Stellenwert der Beschenkung im Mittelalter HATTO KALLFELZ, Das Standesethos des Adels im 10. und 11. Jahrhundert, Phil. Diss. Würzburg 1960, S. 28 ff.; Voss (wie Anm. 2) S. 151 ff.; GEORGES DUBY, Guerriers et paysans, London 1973, deutsch: Krieger und Bauern, Frankfurt a. M. 1 9 7 7 , S. 5 2 ff.; zu d e m P r o b l e m des p r o v o z i e r e n d e n Selbstlobs v g l . MARIA ROSALIDA DE MALKIEL,
L'idée de la gloire dans la tradition occidentale, Paris 1968, S. 89 ff.; allg. s. auch ACHATZ Freiherr VON MÜLLER, Gloria bona fama bonorum. Studien zur sittlichen Bedeutung des Ruhmes in der frühchristlichen und mittelalterlichen Welt, Husum 1977, S. 88 ff.
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rieh II. hatte weder einen nahen Verwandten hinterlassen noch durch eine Designation die Willensbildung in eine bestimmte Richtung gelenkt 21 . Über diese Wahl Konrads II. besitzen wir den sehr ausführlichen Bericht Wipos, aus dem die für unseren Zusammenhang wichtigen Einzelheiten zitiert seien. ,Die persönlichen Vorschläge und Ansichten der Einzelnen, wem sie geneigt waren, wen sie ablehnten und wen sie sich zum Herrscher wünschten, vermittelten bequem Schreiben und Botschaften ... Muß man doch vorsichtig daheim vorbereiten, was man öffentlich begehrt. Das weite Gelände zwischen Mainz und Worms faßt sehr große Menschenmengen; abgelegene Inseln verleihen ihm Sicherheit und Eignung für geheime Verhandlungen ... Man verhandelte über die Kernfrage des Reiches, war sich über den Ausgang der Wahl im unklaren, bangte zwischen Erwartung und Besorgnis; Verwandte besprachen ihre Wünsche miteinander, Freunde erörterten ausführlich die Lage ... So stritt man lange darüber, wer König sein sollte; den einen machte sein zu jugendliches oder zu weit fortgeschrittenes Alter unmöglich, eines anderen Haltung war nicht erprobt, manche schloß ihr offensichtlicher Ehrgeiz aus: Von den vielen wurden nur wenige in Betracht gezogen und von den wenigen nur zwei vorgeschlagen; schließlich erwogen die bedeutendsten Männer in höchster Verantwortung lange die Entscheidung zwischen ihnen, bevor ein einmütiger Entscheid zusammenkam.' 22 In dieser noch unentschiedenen Situation besprachen sich nach Wipo dann die beiden Kandidaten, der ältere und der jüngere Konrad, die Vettern waren. Ergebnis ihrer vertraulichen Beratung war das gegenseitige Versprechen, den anzuerkennen, den das Reich wähle. Dieses Versprechen besiegelten sie durch einen Kuß, der den anderen ihr Einvernehmen signalisierte. Damit war die Entscheidung gefallen; die Fürsten nahmen zur Wahlhandlung Platz, der Erzbischof von Mainz gab als erster seine Stimme ab und kürte den älteren Konrad; ihm schlössen sich alle anderen an23. Was Wipo hier über Bedingungen der Beratungssituation aussagt, bietet für unsere Fragestellung einen bemerkenswerten Einblick 24 , auch wenn 1024 in Kamba 21
22
23 24
Zur Wahl Konrads II. vgl. zuletzt ULRICH REULING, Die Kur in Deutschland und Frankreich. Untersuchungen zur Entwicklung des rechtsförmlichen Wahlaktes bei der Königserhebung im 11. und 12. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 64) Göttingen 1979, S. 14 ff.; WOLFGANG GIESE, Der Stamm der Sachsen und das Reich in ottonischer und salischer Zeit, Wiesbaden 1979, S. 31 f. Wipo, Gesta Chuonradi II. imperatoris. Die Werke Wipos, hg. von HARRY BRESSLAU (MGH SSrG) Hannover—Leipzig 3 1915, cap. 2, S. 13 ff.: Inter Moguntiae confinia et Wormatiae locus est amplitudinis et planiciei causa multitudinis maximae receptabilis, ex insularum recessu ad secretas res tractandas tutus et habilis ... Quaeritur de re summa, dubitatur de electione incerta, inter spem et metum suspensi, alterna desideria cum invicem cognati, tum inter se familiares diutissime explorabant ... Eo modo cum diu certaretur, quis regnare deberet, cumque alium aetas vel nimis immatura vel ultra modum provecta, alium virtus inexplorata, quosdam insolentiae causa manifesta recusaret: inter multos pauci electi sunt, et de paucis admodum duo sequestrati sunt, in quibus examen extremum summorum virorum summa diligentia diu deliberatum in unitatis puncto tándem quievit. Die hier und im folgenden gegebenen Übersetzungen folgen denen in den einschlägigen Bänden der Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe (Ausgewählte Quellen zur Geschichte des Mittelalters). Vgl. dazu REULING (wie Anm.21) S . 2 8 f f . Zu Wipos historiographischer und literarischer Stellung vgl. KARL HAUCK, Wipo, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von KARL LANGOSCH, 4, Berlin 1953, Sp. 1018 — 1026; HELMUT BEUMANN, Zur Entwicklung transpersonaler Staatsvorstellungen, in: Das Königtum (wie Anm. 17) S. 185 —224; LOTHAR BORNSCHEUER, Miseriae regum. Untersuchungen zum Krisen-
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gar nicht jede Einzelheit wirklich so geschehen sein muß, wie sie Wipo berichtet. Der größte Teil der Beratungen zur Königswahl hatte rein informellen und vertraulichen Charakter — Stichworte sind Briefe und Boten, abgelegene Inseln, Verwandte und Freunde, die sich besprechen. Die Willensbildung der Großen in der Nachfolgefrage geschah recht eigentlich in diesen Gesprächen, nicht in einer offiziellen Beratung. Auch wenn Wipo formuliert: ,... schließlich erwogen die bedeutendsten Männer in höchster Verantwortung lange die Entscheidung zwischen ihnen zielt er damit auf diese Sphäre der vertraulichen Besprechungen. Als die vertraulichen Beratungen keine Einmütigkeit bewirkten, sondern zwei Kandidaten übrigblieben, die jeweils ihren Anhang hatten, wurde nicht etwa eine Abstimmung angesetzt. Vielmehr kam es zum Gespräch zwischen diesen Kandidaten, über deren positives Ergebnis die Öffentlichkeit durch den Friedenskuß informiert wurde. Erst danach schritt man zur offiziellen Meinungsäußerung, was im Falle der Königswahl die Kur bedeutete; denn erst jetzt war sichergestellt, daß alle die nun folgende Entscheidung akzeptieren würden. Mittelalterliche Beratung, so ist schon aus diesem Bericht Wipos zu folgern, darf keinesfalls mit einer offenen, womöglich gar kontroversen Aussprache verwechselt werden. Sie kannte vielmehr Formen und Regeln, die im weitestgehenden Maße die Vertraulichkeit der Willensbildung sicherstellten. Die hier aufscheinende Wertschätzung der Vertraulichkeit gründet auf den Rahmenbedingungen einer Gesellschaft, in der Rang- und Prestigedenken hochentwickelt waren und eine offene Diskussion nicht erlaubten. Es genügt, an die Fälle zu erinnern, in denen die Äußerung einer abweichenden Meinung nicht zum Widerspruch, sondern zu Tumulten oder tätlichen Angriffen führte, um zu verdeutlichen, daß die mittelalterliche Gesellschaft bei ihren Beratungen in der Tat Regeln benötigte, die das ungeschützte Aufeinanderprallen von Meinungen soweit wie möglich verhinderten 25 . Die Konsequenzen, die diese Bedingungen für die Formen der Willensbildung hatten, scheinen bisher nicht recht bedacht worden zu sein. Um das Funktionieren der mittelalterlichen Herrschaftsordnung zu verstehen, sind zwei Formen der Beratung grundsätzlich zu unterscheiden, eine vertraulich informelle und eine öffentliche. Die letztere begann erst dann, wenn in vertraulichen Vorgesprächen die Fronten hinreichend geklärt waren. Der öffentlichen Beratung haftete somit in gewisser Weise der Charakter der Inszenierung an, so wie auch vieles andere in
25
und Todesgedanken in den herrschaftstheologischen Vorstellungen der ottonisch-salischen Zeit (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 4) Berlin 1968, S. 140 ff. Berühmte Beispiele für die Eskalation des Geschehens bei Meinungsverschiedenheiten sind etwa die Vorgänge in der Peterskirche in Rom im Jahre 1111, als der sog. Vertrag von Ponte Mammolo zwischen Heinrich V. und Papst Paschalis II. den Reichsfürsten bekannt gemacht wurde; vgl. dazu GEROLD MEYER VON KNONAU, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Hein rieh V., 7 Bde., Leipzig 1890 — 1909, 6, S. 141 ff.; oder die Vorgänge auf dem Reichstag zu Besançon im Jahre 1157, als die päpstlichen Legaten fast tätlich angegriffen wurden, als Reinald von Dassel das Wort beneficium im Schreiben des Papstes mit 'Lehen' übersetzte und sich hieran schnell eine Auseinandersetzung entzündete; vgl. die Einzelheiten bei JOHANN FRIEDRICH BÖHMER, Regesta
Imperii 4,2: Die Regesten des Kaiserreiches unter Friedrich I., neubearb. von FERDINAND OPLL, l.Lfg., W i e n - K ö l n - G r a z 1980, Nr. 491.
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aufwendigen Inszenierungen gezeigt und so Veröffentlicht' wurde 26 . Dennoch wäre es wohl ein modernes Mißverständnis, wenn man diese vertraulichen Vorgespräche mit dem Makel einer Illegalität, dem Vorwurf der Mauschelei oder ähnlichem behaftete. Sie hatten vielmehr unter den Formen und Regeln mittelalterlicher Kommunikation ihren legalen und durchaus sichtbaren Platz. Vertraulichkeit bedeutete nicht etwa, daß man die Tatsache des Gesprächs geheimhielt, sondern daß man ein Gespräch führte, in dem offen geredet werden konnte und dessen Inhalt, nicht dessen Ergebnis, vertraulich blieb. Die Notwendigkeit solcher Differenzierung sei mit einigen Beispielen aus verschiedenen Jahrhunderten belegt. Der schon erwähnte Hinkmar von Reims schildert in 'De ordine palatii' noch an einer weiteren Stelle den Vorgang der Beratung mit ungewöhnlicher Genauigkeit: ,Sowohl bei der einen wie bei der anderen Art von Reichsversammlung wurden aber die zuvor genannten Großen ... sogleich auf königliche Weisung durch genau bezeichnete und aufgereihte Kapitel unterrichtet [in diesen capitula waren die zur Entscheidung anstehenden Fragen formuliert]. Nach deren Erhalt war ihnen bald ein Tag, bald zwei Tage, bald auch drei Tage oder mehr, wie es jeweils das Gewicht der Sache erforderte, zugestanden, während deren sie durch hin und her gehende Boten im Kreis der zuvorgenannten Hofbediensteten anfragten, was ihnen recht schiene, und auch Antwort erhielten. Dabei trat solange kein Außenstehender hinzu, bis die einzelnen zu einem Ergebnis gelangten Fragen dem ruhmreichen Herrscher ... zu Gehör gebracht waren, und, was seine von Gott verliehene Weisheit auswählte, von allen übernommen wurde.' 27 Dieses Verfahren der Beratung wahrte ohne Zweifel die Vertraulichkeit der Willensbildung und unterscheidet sich kaum von dem Procedere, wie es für das Hofgericht der Stauferzeit gut bezeugt ist: Dort erhielt der Urteiler, wenn er vom König um ein iudicium gebeten wurde, die Gelegenheit, sich vertraulich über die Meinung der anderen Mitglieder des Hofgerichts zu informieren, so daß sein späteres iudicium von der Meinung der anderen Teilnehmer getragen wurde 28 . Warum nach solchen 26
27
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Vgl. grundsätzlich zum Stellenwert von Zeichen und Zeremoniell P E R C Y E R N S T S C H R A M M , Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert, mit Beiträgen verschiedener Verfasser (Schriften der MGH 13,1—3) Stuttgart 1954 — 1956, sowie Nachträge aus dem Nachlaß, München 1978; DERS., Das Grundproblem dieser Sammlung: Die »Herrschaftszeichen«, die »Staatssymbolik« und die »Staatsrepräsentation« des Mittelalters, in: DERS., Kaiser, Könige und Päpste. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters, Stuttgart 1968, S. 30—58; neuerdings F I C H T E N A U (wie Anm. 16) S. 48 ff.; spezieller zur Inszenierung von Unterwerfungen bei der Beendigung von Konflikten G E R D A L T H O F F , Königsherrschaft und Konfliktbewältigung im 10. und 11. Jahrhundert, in: Frühmittelalterliche Studien 23, 1989, S. 265—290, S. 272 ff. Hinkmar (wie Anm. 18) cap. 34, S..90—92: Proceres vero praedicti sive in hoc sive in illo praefato plácito ... mox auctoritate regia per denominata et ordinata capitula ... patefacta sunt. Quibus susceptis interdum die uno, interdum btduo, interdum etiam triduo vel amplius, prout rerum pondus expetebat, accepto ex praedictis domesticis palatii rnissis intercurrentibus quaeque sibi videbantur interrogantes responsumque recipientes, tarn diu ita nullo extraneo adpropinquante, donec res singulae ad effectum perductae gloriosi principis auditui in sacris eius obtutibus exponerentur, et quicquid a Deo data sapientia eius eligeret, omnes sequerentur. Vgl. dazu H E I N R I C H A P P E L T , Kaiserurkunde und Fürstensentenz unter Friedrich Barbarossa, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 71, 1963, S. 33—47, bes. S.35ff.; K A R L - F R I E D R I C H K R I E G E R , Die königliche Lehnsgerichtsbarkeit im Zeitalter der Staufer, in: Deutsches Archiv 26, 1970, S. 4 0 0 - 4 3 3 , S. 419 ff.
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vertraulichen Vorklärungen noch eine öffentliche Beratung nötig war, hat Hinkmar gleichfalls erklärt: ,Um die übrigen Großen zufriedenzustellen und den Eifer der Volksmenge ... anzufachen, sollte man, als ob nichts ... früher im voraus bedacht worden wäre, von neuem mit deren Rat und Zustimmung die Anordnung beschließen.' 29 Auf genau die bei Hinkmar angesprochene Phase einer vertraulichen Willensbildung zielt auch ein Brief des Erzbischofs Siegfried von Mainz an die Bischöfe Werner von Magdeburg und Burchard von Halberstadt im 11. Jahrhundert, von dem Bruno in seinem Buch vom Sachsenkrieg berichtet. Der Mainzer bat seine Amtsbrüder unter anderem, ,ein festes Bündnis zwischen ihm und Erzbischof Anno von Köln zu vermitteln; sie seien zwar nicht verfeindet, aber sie verbinde doch auch wieder keine so zuverlässige Freundschaft, daß sie einander ihre Geheimnisse, wie sie wohl möchten, anzuvertrauen wagten. Das aber tue dem ganzen Reich not, denn wenn diese beiden, die Vornehmsten im Reich, vertrauensvoll zueinanderfänden, könnten sie das ganze Reich festigen' 30 . Erst das Freundschaftsbündnis setzte also die beiden Erzbischöfe in die Lage, ungeschützt ihre Gedanken und Vorstellungen auszutauschen. Daß mit diesem Gedankenaustausch genau die Sphäre der hier behandelten Beratungen anvisiert ist, steht wohl außer Zweifel. Wie solche Bindungen im Prozeß der politischen Willensbildung des Mittelalters genutzt wurden, sei mit einem Beispiel erhellt, das diese Vorgänge noch einmal aus anderem Blickwinkel beleuchtet. In der Vita des Osnabrücker Bischofs Benno wird berichtet, wie dieser sich verhielt, als er versuchte, die Frage des sogenannten Osnabrücker Zehntstreits durch königlichen Entscheid zugunsten seines Bistums regeln zu lassen. Er trug das Problem zunächst seinen Freunden vor, dann mit diesen Ratgebern des Königs. Man besprach in dem kleinen Kreis alle vorzubringenden Argumente und veranlaßte Benno dann, die Sache vertrauensvoll in die Hände der Ratgeber zu legen, damit sie beim König für ihn tätig werden könnten 31 . Man 25
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Vgl. Hinkmar (wie Anm. 18) cap. 30, S. 86: ... vel propter satisfactionem ceterorum seniorum vel propter non solum mitigandum, verum etiam accendendum animum populorum, ac si ita prius exinde praecogitatum nihil fuisset, ita nunc a novo Consilio et consensu illorum ... inveniretur ... Vgl. Brunos Buch vom Sachsenkrieg, neu bearb. von H A N S - E B E R H A R D L O H M A N N (MGH Deutsches Mittelalter 2) Leipzig 1937, cap. 18, S.24: Rogavit etiam in eisdem litteris, quatenus se cum Annone Coloniensi archiepiscopo fìdelissimo foedere coniungerent; non quod qualibet inimicitia dissilirent, sed quia non talis amicitia eos fide liter adunaret, ut uterque alteri secreta sua credere, sicut ve Ile t, auderet. Hoc autem omni regno fore necessarium; quia, si Uli duo, qui maiores erant in regno, fideliter in unum convenirent, in multa securitate totum regnum constituere potuissent. Norbert von Iburg, Vita Bennonis II. episcopi Osnabrugensis, hg. von H A R R Y B R E S S L A U (MGH SSrG) Hannover—Leipzig 1902, cap. 16, S. 19: A quo admodum gratanter susceptus, aliquanto cum eo tempore conversatus, iam tempus advenisse conspiciens, quo decimationis suae iam tanto tempore violenter ablatae commodius posset causa tractari, ne spacium ingratissimi ocii in palatio degens prorsus inutile ducerei, propriis primitus amicis, deinde regis familiaribus tantae controversiae querimoniam insinuando detexit. Qui omnes pari animo eademque cantate promptissime ei voluntarie auxilium pollicentes, brevi persuadere potuerunt, ut regis familiaribus causa commissa pro se eos loqui deposceret et regiam sibi in hac dumtaxat re benevolentiam, quacunque possent arte, compararent. Ganz ähnlich ging auch der Graf vom Hennegau, Balduin V., im Jahre 1184 vor, als er seinen Schwager, Graf Philipp von Flandern, bat, auf dem Mainzer Hoffest bei Friedrich Barbarossa und Heinrich VI. für ihn zu intervenieren; vgl. dazu Gislebert von Möns, Chronicon Hanoniense, hg. von L E O N V A N D E R K I N D E R E (Commission royale d'histoire 3,1) Brüssel 1904, cap. 109, S.154f.: ... comes Hanoniensis, qui ad curiam Maguncie celebrandam pro hereditate sua
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sieht auch hier, wie die Technik informeller Kontakte die Entscheidung vorbereitete. Die förmliche Verhandlung wurde erst dann eingeleitet, als das erfolgreiche Ende verlässig in Aussicht stand. Dies ist nur eine knappe Auswahl aus verschiedenen Quellen, die je auf ihre Weise die Tatsache ansprechen, daß Vertraulichkeit ein hervorstechendes Kennzeichen mittelalterlicher Willensbildung und Beratung war. Nicht zufällig garantierten diese Vertraulichkeit in besonderer Weise Personen, die durch Verwandtschaft oder Freundschaft einander verbunden und so zu wechselseitiger Unterstützung und Hilfe in allen Lebensbereichen verpflichtet waren. Verwandten und Freunden konnte man sich sozusagen offenbaren, ohne Angst um Gesichtsverlust haben zu müssen. Aus dieser Perspektive wird der Stellenwert, den Verwandtschaft und Freundschaft auch in den politischen Kräftefeldern des Mittelalters hatten, erst eigentlich meßbar 32 . Ein Rückzug auf die Ebene der Vertraulichkeit war interessanterweise auch dann möglich, wenn in einer öffentlichen Beratung eine Kontroverse drohte oder ausbrach. Hiervon erzählt Thietmar von Merseburg im Zusammenhang der Probleme um die Nachfolge Ottos III. Über diese Frage berieten die Großen des sächsischen Stammes in Frohse: ,Als nun Graf Liuthar Ekkehards Absicht bemerkte, sich über sie zu erheben (das heißt selbst König zu werden), rief er den Erzbischof und den besseren Teil der Großen zu einer geheimen Besprechung hinaus. Hier machte er allen den Vorschlag, sich eidlich zu verpflichten, vor einem nach Werla anberaumten Tage weder gemeinsam noch einzeln einen Herrn und König zu wählen.' 33 Erst in dieser geheimen Besprechung kam dann auch die Kontroverse zwischen den beiden Grafen voll zum Austrag, die Thietmar mit dem bekannten Dialog anspricht: ,Was hast Du gegen mich, Graf Liuthar? Und der antwortete darauf: Merkst Du es nicht? Dir fehlt das vierte Rad am Wagen.' 34 Es verdient hervorgehoben zu werden, daß mit dem ,besseren
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perquirenda ire proposuerat, comitem Flandrensem, ... postulavit — qui ad curiam illam dirigere nuncios suos debebat — ut ipse dominum imperatorem et consanguineum suum Henricum regem, imperatoris filium, pro eo per nuncios suos rogaret; quod comes Flandrie ei concessit et promisit. Vgl. dazu allg. GERD ALTHOFF, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindung im früheren Mittelalter, Darmstadt 1990. Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg und ihre Korveier Überarbeitung, hg. von ROBERT HOLTZMANN (MGH SSrG) Berlin 2 1955, IV, 52, S. 190: Comes autem Liutharius ut perprimo persensit, Ekkihardum se velle exaltare super se, archiepiscopum predictum et meliorem procerum partem in secretum foras vocavit colloquium, hoc omnibus dans consilium, ut iuramento firmarent, se nullum sibi dominum vel regem communiter vel singulariter electuros ante constitutum in Werlo colloquium. Ebd.: ,0 Liuthari comes', inquiens, ,quid adversaris? Et ille: ,Num', inquid, ,currui tuo quartam deesse non sentis rotam?\ vgl. dazu neuerdings die Interpretation dieser Stelle bei EDUARD HLAWITSCHKA, »Merkst Du nicht, daß dir das vierte Rad am Wagen fehlt?«. Zur Thronkandidatur Ekkehards von Meißen (1002) nach Thietmar, Chronicon IV c. 52, in: Geschichtsschreibung und geistiges Leben im Mittelalter. Festschrift f ü r Heinz L ö w e , hg. v o n KARL HAUCK und HUBERT MORDEK, K ö l n —
Wien 1978, S. 281—311; DERS., Untersuchungen zu den Thronwechseln der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts und zur Adelsgeschichte Süddeutschlands (Vorträge und Forschungen, Sonderband 35) Sigmaringen 1987, S. 20 ff. — Eine ganz ähnliche Unterbrechung einer Beratung schildert anläßlich der Wahl Friedrich Barbarossas Gislebert von Möns (wie Anm.31) cap. 54, S. 92 f.: ... defuncto Conrado Romanorum rege, principes Teutonie, sicut juris et moris est, in villa supra Mogum fluvium que Franchemvors dicitur, convenerunt ad eligendum sibi imperatorum (!). Cum autem super electione tanti
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Teil der Großen' also auch der Kontrahent hinausgebeten worden war. Die drohende Kontroverse war aus der Öffentlichkeit herausgenommen; im 'kleinen Kreis' kam sie voll zum Austrag. Nicht nur weltliche Versammlungen scheinen diesen Unterschied zwischen öffentlicher und vertraulicher Beratung gekannt zu haben. In der Vita Bernwardi wird ausführlich über eine Synode in Rom berichtet, an der Bischöfe aus Italien und dem Reich, der Papst, der Kaiser und andere weltliche Große teilnahmen; überdies ,umstanden Priester, Diakone und römische Dignitäre aller Art die Versammlung'35. Nach dem Eröffnungsritual trug Bischof Bernward seine Klage gegen den Mainzer Erzbischof Willigis vor, und der Papst fragte die Versammlung, ob die Klage des Bischofs berechtigt sei. .Darauf bat die heilige Versammlung, sich zurückziehen zu dürfen, um geheim darüber zu beraten.'36 Zu dieser geheimen Beratung traten dann allein die römischen Bischöfe zusammen, die nach einer Weile mit ihrem Urteil zurückkehrten, und daraufhin verurteilte die Synode gemäß diesem Vorschlag einhellig die Handlungsweise des Erzbischofs Willigis. Als vertraulich und geheim werden in den Quellen auch Beratungen charakterisiert, die am Beginn von Schwureinungen, coniurationes, standen. Im Bereich der genossenschaftlichen Gruppenbildung beobachten wir also ähnliche Formen und Regeln der Beratung, wie sie bisher behandelt wurden 37 .
honoris tot et tanti principe! dissentirent, communi consensu et Consilio in quatuor principes prepotentes super hac electione compromiserunt, quorum unus fuit Fredericus predictus Suevorum dux, nepos supradicti Conradi regis, qui Fredericus pre ceteris milicia et animositate florebat. Illorum autem quatuor, quorum dispositioni imperialis electio commissa erat, quisque ad ipsius majestatis culmen anhelabat. Fredericus autem astutus et vividus, cuique sociorum suorum loquens secretius, quemque eorum ad imperium tendere faciebat, prominens cuique imperium si ei soli ab eis tribus tota electio committeretur. Tres igitur in quartum Fredericum Suevorum ducem, fide et juramento datis securitatibus, totam electionem posuerunt. Convocatis autem aliis principibus omnibus qui in ipsos quatuor compromiserant et inde fidem fecerant, tres professi sunt quod soli Suevorum duci totam electione concesserant... Vgl. dazu zuletzt SCHMIDT (wie Anm. 68) S. 127ff. Unabhängig vom Realitätsgehalt spiegelt die Geschichte deutlich die hier angesprochenen Verfahrensweisen bei öffentlichen Beratungen. 35 Thangmar, Vita Bernwardi episcopi Hildesheimensis, hg. von GEORG HEINRICH PERTZ (MGH SS 4) Hannover 1841, S. 754—782, cap. 22, S.768: ... astantibus quoque presbiteris et diaconibus omnique Romana dignitate. 36 Vgl. ebd.: Cunctis itaque eius questu compunctis, sapientissima papa interrogavit concilium, si sjnodus habenda vel vocanda esset, quam archiepiscopus cum suis quos adduxerat collegisset, in aecclesia ab Hildenesheimensibus episcopis Semper possessa, praecipue cum episcopus defuerit et ad Romanam sedem pro eisdem causis confugerit; vel quo nomine tale conventiculum vocitandum sit. Sanctum concilium secessum petit, ut secretius inter se de his conquirant. 37 Es sei hervorgehoben, daß diese Formen und Regeln beim Abschluß genossenschaftlicher Bindungen beobachtet wurden, nicht in einer genossenschaftlichen Vereinigung. In letzterer galten andere Voraussetzungen der Beratung, da die gegenseitige Friedenspflicht einen offeneren Austausch ermöglichte. Überdies gab es in den Vereinigungen genaue Regelungen der Sühne und Buße, wenn gegen die Friedenspflicht verstoßen wurde, so etwa das gemeinsame Vertrinken der Buße; vgl. dazu HERMANN KRAUSE, Die geschichtliche Entwicklung des Schiedsgerichtswesens in Deutschland, B e r l i n 1 9 3 0 , S. 2 0 f.; OEXLE ( w i e A n m . 4 ) S . 2 0 9 ; WILFRIED REININGHAUS, D i e E n t s t e h u n g
der
Gesellengilden im Spätmittelalter (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 71) Wiesbaden 1981, S. 89 ff.
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Clandestina conventícula hielten etwa die Großen Sachsens untereinander ab, um zu beraten, was gegen die Übergriffe Heinrichs IV. zu tun sei 38 . In der Nacht trafen sich sächsische principes mit einigen, denen sie besonders vertrauten, in einer Kirche. Das Ergebnis der Beratung war folgendes: Man war sich einig, lieber sterben als die angetane Schmach weiter erdulden zu wollen. ,Sie setzten daher Tag und Ort fest, wo sie alle mit dem gesamten Sachsenvolk zusammenkommen und über die gemeinsame Freiheit verhandeln wollten.' 39 Die Beratungen, die dann auf dem Tag von Hoetensleben abgehalten wurden, waren also durch die geheime Vorbesprechung entscheidend praejudiziert und hatten dann auch das gewünschte Ergebnis. Man verband sich eidlich zur Verteidigung der sächsischen Freiheit und damit gegen den König, nachdem alle noch einmal ihre Klagen gegen den König öffentlich formuliert hatten 40 . In aller Regel sprechen die Quellen den skizzierten Vorgang der vertraulichen Willensbildung nicht ausführlich, sondern fast formelhaft mit knappen Hinweisen an. So unterscheidet Wipo zum Jahr 1027 ein colloquium familiare, das König Konrad II. cum suis fidelibus abhielt, von dem sich anschließenden colloquium publice condictum, einem offiziell angesagten Hoftag 41 , dessen Beratungen das vertrauliche Colloquium vorbereitete. Man hat nach dem Gesagten jedoch allen Grund, auf derartige Differenzierungen zu achten. Vertraulich verhandeln aber konnten nicht nur Personen miteinander, die Verwandtschaft oder Freundschaft aneinanderband. Und damit ist ein zweiter Punkt angesprochen, der für die Beurteilung mittelalterlicher Beratung wichtig scheint. Vertrauliche Beratungen vereinbarten interessanterweise auch Personen, die in Konflikte verwickelt waren. Solchen Colloquien kam im frühen und hohen Mittelalter ein hoher Stellenwert innerhalb der Strategien zur Entschärfung und Beilegung von Konflikten zu 42 . Es wird häufig übersehen, daß die Austragung von Konflikten 38
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Lampert von Hersfeld, Annales (Lamperti monachi Hersfeldensis opera, hg. von OSWALD HOLDEREGGER [MGH SSrG] Hannover—Leipzig 2 1956, S. 1—304) a. 1073, S. 148: His atque huiusmodi indiciis principes Saxoniae malum, quod cervicibus suis impendebat, animadverterunt, statimque graviter ancipiti periculo permoti clandestina conventícula crebro faciebant et se vicissim, quid facto opus esset, in medium consulere hortabantur. Bruno (wie Anm. 30) cap. 23, S. 28: Constituto itaque die et loco, quo omnes cum omnibus Saxonibus convenirent et de liberiate communi ... communiter agerent. Zu diesem Tag von Hoetensleben vgl. GIESE (wie Anm. 21) S. 152 ff.; LUTZ FENSKE, Adelsopposition und kirchliche Reformbewegung im östlichen Sachsen (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 47) Göttingen 1977, S. 57 ff. Vgl. Bruno (wie Anm. 30) cap. 24—26, S. 30. Hierzu hatte Otto von Northeim in einer einleitenden Rede auf dem Stammestag aufgefordert: ... unusquisque suas, quas ab eo passus est iniurias, coram nobis omnibus exponat; et tunc, utrum satis magna necessitas nos ad iniurias repellendas cogat, iudicium commune decernat. Wipo (wie Anm. 22) cap. 20, S. 39: Pace per totam Italiam confirmata imperator Chuonradus prospero reditu in Alamanniam venit et in Augusta Vindelica colloquium familiare cum suis fidelibus tenens de proditoribus patriae tract are coepit. Inde ad oppidum quod Ulma vacatur veniens colloquium publice condictum illic habuit. Zur Frage der Austragung und Beilegung von Konflikten im früheren Mittelalter vgl. KARL J. LEYSER, Rule and Conflict in an Early Medieval Society. Ottonian Saxony, London 1979; deutsch: Herrschaft und Konflikt. König und Adel im ottonischen Sachsen (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 76) Göttingen 1984; ALTHOFF (wie Anm. 26); TIMOTHY REUTER,
Unruhestiftung, Fehde, Rebellion, Widerstand: Gewalt und Frieden in der Politik der Salierzeit, in:
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im früheren Mittelalter keineswegs regellos geschah; es gab vielmehr ein ganzes Regelwerk zur Führung und Beendigung solcher Konflikte. Die für uns ungewöhnlichste der praktizierten Regeln dürfte wohl die sein, daß sich die Häupter der Konfliktparteien persönlich zu einem colloquium trafen, um Maßnahmen zur Beendigung der Auseinandersetzung zu besprechen. Es ist klar, daß sie sich hierbei durch Geiseln und Eide vor unliebsamen Überraschungen zu schützen suchten. Schon Karl der Große vereinbarte auf dem Höhepunkt der Sachsenkriege mit seinem Hauptgegner Widukind ein solches Treffen, über das die Reichsannalen so berichten: ,Er kam in den Bardengau und schickte dort nach Widukind und Abbio und ließ beide zu sich bringen und versicherte, sie würden sich nicht retten, wenn sie nicht zu ihm nach Francien kämen. Dagegen baten jene um Bürgschaften dafür, daß sie unverletzt bleiben würden, was auch erfolgte.' 43 Erst nach dieser Unterredung und nachdem Geiseln gestellt waren, kamen Widukind und Abbio dann nach Attigny zur Taufe. Auch Friedrich Barbarossa und Heinrich der Löwe trafen sich mitten in den Auseinandersetzungen, die zum Sturz des Löwen führten, zu einem colloquium, während der Löwe sich zur gleichen Zeit weigerte, der Vorladung zum Hoftag Folge zu leisten44. Nach Arnold von Lübeck forderte der Kaiser in dieser Unterredung 5000 Mark Silber als Preis für seine Vermittlung, die den Löwen mit den Fürsten aussöhnen sollte45. In einer späteren Phase des Konflikts verhandelten Barbarossa und der Löwe noch einmal, diesmal aber nicht persönlich, sondern durch Unterhändler. Ich werde auf diese Form der Beratung durch Mittelsmänner gleich näher eingehen. Mitten in bewaffneten Kämpfen verhandelten auch Otto der Große und sein 'aufständischer' Bruder Heinrich46. Sie vereinbarten eine Waffenruhe von 30 Tagen; während dieser Zeit sollten Heinrich und seine Anhänger Sachsen räumen. Für diejenigen unter den Anhängern Heinrichs, die den Kampf beenden wollten, wurde Amnestie in Aussicht gestellt. Heinrich selbst aber führte den Kampf von Lothringen aus fort. Diese Einzelheiten seien genannt, um zu zeigen, wie inhaltlich man in solchen Verhandlungen wurde.
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Die Zeit der Salier, hg. von ODILO ENGELS u.a., Mainz 1990. Ich danke Herrn Reuter herzlich dafür, daß er mir das Manuskript dieses Beitrags vor der Veröffentlichung zugänglich machte. Annales regni Francorum, hg. von FRIEDRICH KURZE (MGH SSrG) Hannover 1895, a. 785, S. 70: Et tune in Bardengawi venit ibique mittens post Widochindum et Abbionem et utrosque ad se conduxit et firmavit, ut non se subtrahissent, nisi in Francia ad eum pervenissent; petentibus Ulis, ut credentias haberent, quod inlaesi fuissent, sicut et factum est. Vgl. Arnold von Lübeck, Chronica Slavorum, hg. von I. M. LAPPENBERG (MGH SSrG) Hannover 1868, II, 10, S. 48: In Haidesief tarnen constitutus, per internuncios colloquium domni imperatoris expetiit. Imperator itaque exivit ad eum ad locum placiti. Vgl. dazu KARL JORDAN, Heinrich der Löwe. Eine Biographie, München 1979, S. 199. Arnold (wie Anm. 44): Imperator autem quinqué milia marcarum ab eo expetiit, hoc ei dans consilium, ut hunc honorem imperatorie maiestati deferret et sie ipso mediante gratiam prineipum, quos offenderat, inveniret. Uber die spätere Verhandlung in Lüneburg durch Unterhändler berichtet Arnold, Buch II, cap. 22. Vgl. Die Sachsengeschichte des W i d u k i n d v o n K o r v e i , neubearb. v o n PAUL HIRSCH und HANSEBERHARD LOHMANN ( M G H S S r G ) H a n n o v e r
51935,
II, 1 9 und 2 2 ; v g l . dazu zuletzt ADELHEID
KRAH, Absetzungsverfahren als Spiegelbild von Königsmacht (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 26) Aalen 1987, S. 268 ff.
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Dennoch war es wohl eher die Ausnahme, daß die Häupter der an dem Konflikt beteiligten Parteien oder Gruppen sich persönlich zur Beratung trafen. Häufiger scheinen hochgestellte Personen aus ihrer jeweiligen Umgebung die Aufgabe der Verhandlungen übernommen zu haben. Diesbezügliche Verhandlungen waren vertraulich, die Vollmacht der Verhandelnden reichte sehr weit. Es handelt sich sozusagen um eine Vermittlung in eigener Sache, die von den gleich zu behandelnden Fällen zu unterscheiden ist, in denen die Vermittler einen unabhängigen und neutralen Status hatten. In den Sachsenkriegen Heinrichs IV. wurden die Fürsten seines Heeres in dieser Hinsicht mehrfach aktiv: ,Dann sandten sie zu den Sachsen, und die Fürsten beider Parteien kamen zu einer geheimen Beratung (secretum consilium) zusammen, nachdem sie sich gegenseitig Sicherheit gegeben hatten.' In dieser Beratung vereinbarten sie die Bedingungen der Unterwerfung und verbürgten sich dafür, daß der König Milde walten lassen würde 47 . Im Jahre 1081 konnten sich die Sachsen und Parteigänger Heinrichs IV. nicht einigen, welchen Charakter die Verhandlungen haben sollten, die sie zur Beilegung ihrer Konflikte führen wollten: ,Während jene eine geheime Unterredung (secretum colloquium) nur mit den Fürsten allein wünschten, wollten die Unsrigen kein Wort mit ihnen wechseln, das nicht alle Anwesenden, Vornehme und Geringe, hören dürften.' 48 Böses ahnten dagegen die Sachsen bereits, als Herzog Otto von Northeim von den Anhängern Heinrichs IV. zu einem soliloquium geladen wurde, denn dies war ein sicheres Indiz dafür, daß er durch Versprechungen zum Parteiwechsel gebracht werden sollte 49 . Auch diese Beispiele sind nur einige aus dem breiten Spektrum der geheimen Colloquien, die gerade in den langandauernden und erbitterten Kämpfen Heinrichs IV. mit den Sachsen abgehalten wurden. Trotz der Kämpfe, oder besser vielleicht sogar, wegen der erbitterten Kämpfe hatten auch Beratungen Hochkonjunktur, in denen nach Lösungen gesucht wurde 50 . Von den geschilderten Arten der direkten Beratungen zwischen Konfliktparteien zu unterscheiden ist die Anrufung eines Schlichters, dessen Tätigkeit sich gleichfalls in Form der vertraulichen Beratung abspielte. Der Vermittler beriet getrennt mit den Parteien, verbürgte sich für die Einhaltung von Absprachen und war nichts anderem als dem Streben nach Beilegung des Konflikts verpflichtet. Im
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Bruno (wie Anm. 30) cap. 54, S. 51 : Tunc Uli ad Saxones miserunt; et accepta dataque fide ad secretum consilium principes ex utraque parte convenerunt. Bruno (wie Anm. 30) cap. 126, S. 119: Cumque, qui ex illa parte erant, secretum, quod soli principes audirent, habere colloquium voluissent, nostri nullum sermonem conferre volebant, nisi quem cunctis, qui convenerant, magnis et parvis, audire liceret. Bruno (wie Anm. 30) cap. 131, S. 123: Ottonem ergo ducem solum sibi loqui rogabant multisque pollicitationibus ei, ut in electione vacillaret, persuadebant; non tarnen, ut certum quid eis promitteret, e f f i c e r e poterant. Sic eo dubitante magnaque parte eius dubitationi consentiente, tota praeterit aestas, et paene totam Saxoniam commover at eius instabilitas. In Novembre vero mense iterum vocatus ab Ulis ad soliloquium ... Vgl. dazu A L T H O F F (wie Anm. 26) S. 286 f.; demnächst D E R S . — STEPHANIE COUÉ, Pragmatische Geschichtsschreibung und Krisen. I. Zur Funktion von Brunos Buch vom Sachsenkrieg, in: Pragmatische Schriftlichkeit, hg. von K L A U S G R U B M Ü L L E R und H A G E N K E L L E R (im Druck).
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spätmittelalterlichen Schiedsgerichtswesen hat diese Funktion ihre institutionelle Verfestigung erfahren 51 . Wenn in früheren Jahrhunderten Vermittler in politischen Auseinandersetzungen namentlich genannt werden, wird zumeist deutlich, daß es sich um hochgestellte Personen handelt — angesichts der Bedeutung ihrer Aufgabe fast eine Notwendigkeit. Ihre Funktion ist in diesen Zeiten weder auf Gerichtsverfahren beschränkt noch ist sie natürlich institutionalisiert. Es handelt sich vielmehr um eine der Regelungen, die archaische Gesellschaften zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung geordneter Verhältnisse praktizierten52. Auch hierfür einige Beispiele: Fidi intercessores meldeten etwa König Heinrich II., daß der ihn befehdende Markgraf Heinrich von Schweinfurt über sein Tun tiefe Reue empfinde53. Sie handelten auch die Bedingungen der Unterwerfung aus, die in der Öffentlichkeit dann als bedingungslose inszeniert wurde. Den Schlußakkord in diesem eindrucksvollen Ritual mit Fußfall und Inhaftierung setzte ein Bischof von Freising, der, von Heinrich II. zu einer Predigt am kirchlichen Hochfest aufgefordert, den Kaiser in aller Öffentlichkeit mahnte, dem gefangenen Markgrafen zu vergeben eingedenk der Tatsache, daß der Herr seinem Schuldner 10000 Pfund erließ. Dieser Mahnung folgte der Herrscher; sie war Teil des von den Vermittlern Ausgehandelten54. 51
V g l . d a z u KRAUSE ( w i e A n m . 3 7 ) ; KARL SIEGFRIED BADER, A r b i t e r a r b i t r a t o r s e u a m i c a b i l i s c o m p o s i -
tor, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 77, 1960, S. 239—276; zu frühmittelalterlichen Vorstufen REINHARD SCHNEIDER, Zum frühmittelalterlichen Schiedswesen, in: Festschrift für Hans Herzfeld (wie Anm. 7) S. 389—403; Fallstudien zu den gleichen Phänomenen aus dem westfränkisch-französischen Bereich bieten FREDRICK L. CHEYETTE, Suum cuique tribuere, in: French Historical Studies 6, 1970, S. 287—299; STEPHAN WEINBERGER, Cours judiciaires, justice et responsabilité sociale dans la Provence médiévale: IX e —XI e siècle, in: Revue historique 267, 1982, S. 273 —288; STEPHAN D. WHITE, Settlement of Disputes by Compromise in Eleventh Century Western France, in: The American Journal of Legal History 22, 1978, S. 281—308; PATRICK J . GEARY, Vivre en conflit dans une France sans état: Typologie de mécanisme de règlement de conflits ( 1 0 5 0 - 1 2 0 0 ) , in: Annales E. S. C. 41, 1986, S. 1 1 0 7 - 1 1 2 6 . - Zur Selbständigkeit der Vermittler bei der Durchführung ihrer Aufgaben nur zwei Beispiele aus früherer Zeit: Erzbischof Friedrich von Mainz vermittelte zwischen Herzog Eberhard von Franken und Otto dem Großen. Er verbürgte sich eidlich für den Vertrag, den er aushandelte, und er schloß sich den Gegnern des Königs an, als Otto I. sich durch die Abmachungen nicht binden lassen wollte; vgl. dazu Widukind von Korvei (wie Anm. 46) II, 25. Auch der Vermittler zwischen Otto von Northeim und König Heinrich IV., Graf Eberhard von Nellenburg, versprach dem Northeimer eidlich, ,daß er ihm beim König Verzeihung für das ihm zur Last gelegte Vergehen und Rückerstattung all dessen, was er nach Kriegsrecht verwirkt hat, erwirken werde'; so Lampert von Hersfeld (wie Anm. 38) a. 1071, S. 120; vgl. zu diesen beiden und anderen Fällen ALTHOFF (wie Anm. 26) S. 273 und 287. 52
V g l . d a z u ROBERTS, O r d n u n g
und
K o n f l i k t ( w i e A n m . 1 5 ) S. 8 0 ff.; TORSTEIN ECKHOFF,
The
Mediator, the J u d g e and the Administrator in Conflict-resolution, in: Acta sociologica 10, 1967, S. 1 4 8 - 1 7 2 . 53
54
Thietmar von Merseburg (wie Anm. 33) VI, 2, S. 276: ... Heinricum autem incepti multum penituisse ab fidis intercessoribus ab eo missis comperit\ vgl. dazu zuletzt KRAH (wie Anm. 46) S. 321 ff.; ALTHOFF (wie Anm. 2 6 ) S . 2 7 0 ff. Vgl. dazu ALTHOFF (wie Anm. 26) S. 272f.; ein ganz ähnlicher Fall ist aus der Zeit Heinrichs IV. überliefert. Im Jahre 1071 verwandte sich während des feierlichen Gottesdienstes am Pfingstfest der Hamburger Erzbischof Adalbert für den inhaftierten Otto von Northeim; vgl. Annales Altahenses Maiores, hg. von EDMUND L . B . OEFELE ( M G H SSrG) Hannover 1891, S. 81: Rege autem diem pentecostes in Halberstat celebrante, cum saepe dictus Otto iam sentiret, res suas non proficere, episcopum Adalbertum, quem prius offenderat, sibi conciliavit, cum que causae suae oratorem erga regem fore rogavit. Is
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Als fidus mediator bewährte sich im Jahre 1158 der Graf Guido von Biandrate während der Belagerung Mailands durch Friedrich Barbarossa 55 . Auf seinen Rat hin verhandelten Vertreter der Mailänder zunächst mit mediatores aus dem kaiserlichen Heer, mit dem König von Böhmen und dem Herzog von Österreich, dann mit anderen Fürsten. Diese trugen schließlich die Sache Friedrich Barbarossa vor 56 . Auch in diesem Fall wurden die in allen Einzelheiten festgelegten Friedensbestimmungen in einem groß inszenierten Unterwerfungsritual veröffentlicht 57 . Nicht anders war es 1160 während der Belagerung von Crema: In höchster Bedrängnis baten die Belagerten aus dem kaiserlichen Heer den Patriarchen von Aquileja und Heinrich den Löwen um ein colloquium. Auf diesem colloquium aber wurde den beiden Fürsten die Rolle des mediator angetragen. Die beiden Großen teilten dann die Friedenswünsche dem Hofe Barbarossas mit und verhandelten über die Bedingungen 58 . Internuntii ac mediatores wurden nach dem Bericht der Historia Welforum tätig, als 1138 Konrad III. von einigen Großen zum König erhoben worden war und sich der Weife Heinrich der Stolze dieser Entscheidung nicht fügen wollte. Drei Tage lang gingen bei Augsburg die Vermittler zwischen dem Staufer und dem Weifen hin und her, ohne jedoch eine friedliche Einigung zustandezubringen 59 . Die compositio schaffte erst später der junge Friedrich Barbarossa, der für diese Rolle deshalb besonders geeignet war, weil er Brudersohn des einen und Schwestersohn des anderen Kontrahenten war 60 . ergo Inter missarum sollemnia non cessavit tamdiu pro eo agere, quousque regis gratiam meruit recipere praediaque sua ex integro possidere. Beneficia, qme inmensa habuerat, perdidit ex parte maxima ...; vgl. hierzu auch unten Anm. 64. "•5 Bischof Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica, übersetzt von A D O L F S C H M I D T , hg. von F R A N Z - J O S E F S C H M A L E (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 17) Darmstadt 1965, III, 48 ff., S. 490 ff.: Is (Guido von Biandrate) cum esset naturalis in Mediolano civis, hac tempestate tali se prudentia et moderamine gesserai, ut simul — quod in tali re difficillimum fuit — et curie carus et civibus suis non esset suspiciosus. Aptus ergo qui ad transigendum fidus mediator haberetur ... 56 Ebd. III, 50, S. 494: Vicit tarnen inprudentiam consilium saniorum. Unanimes itaque facti, per consules et primos civitatis primo regem Boemie ducemque Austrie conveniunt, dehinc mediantibus Ulis alios principes, eosque ad imperatorem de pace supplicaturos dirigunt. 57 Ebd. III, 51, S. 500 ff. 58 Vgl. dazu ebd. IV, 70, S. 656: In tantis ergo rerum angustiis Consilio necessitatis adhibito Peregrini Aquilegiensis ecclesie patriarche simulque Heinrici ducis Baioarie et Saxonie colloquium expetunt...; ferner ebd. IV, 72, S. 658: Cognito iam nominati principes, quod pacem cuperent bellique tedio a f f e c t i essent, verbum eorum curie perferunt. Placuit; de conditionibus pacis agitur, diffinitur et sine contradictione ab oppidanis recipitur. 59 Historia Welforum, hg. von E R I C H K Ö N I G (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 1) StuttgartBerlin 1938, cap. 24, S. 46: Internuntii autem ac mediatores ad hanc causam praenominati per triduum bue ac illuc saepius transmeantes nichil profecerunt. Vgl. hierzu zuletzt E G O N B O S H O F , Staufer und Weifen in der Regierungszeit Konrads III.: Die ersten Weifenprozesse und die Opposition Welfs VI., in: Archiv für Kulturgeschichte 70, 1988, S. 313-341, bes. S.321. 60 Vgl. Historia Welforum (wie Anm. 59) cap. 28, S. 56: Nam Fridericus fratruelis regis, sororius eiusdem Gtvelfonis, medium se ad compositionem faciendam interposuit... Zur Stellung Friedrichs als angularis lapis (so Otto von Freising, Gesta Frederici [wie Anm. 55] II, 2) vgl. zuletzt S C H M I D T (wie Anm. 68) S. 139 ff. Reiches Material für die Tätigkeit von intercessores und internuntii in dieser Zeit bietet auch Galbert von Brügge, De multro, traditione et occisione gloriosi Karoli comitis Flandriarum, hg. von H E N R I P I R E N N E , Paris 1891; vgl. etwa cap. 10, S. 16 f., wo intercessores den Grafen Karl den
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Mediatores werden auch die principes genannt, die 1077 einen Waffenstillstand zwischen den Heeren Heinrichs IV. und Rudolfs von Rheinfelden aushandelten; Sie verhinderten einen Bruch dieses Waffenstillstands, als sich die militärische Lage für Heinrich IV. verbessert hatte und der losschlagen wollte, weil ein solcher Bruch ihre fides befleckt hätte 61 . Ihre Funktion als mediator verpflichtete sie also mehr als ihre Zugehörigkeit zu einer der streitenden Parteien. Als Mediatoren oder als Schiedsmänner wurden also in den verschiedensten Auseinandersetzungen des Mittelalters entweder hochgestellte Personen aus eigenem Antrieb tätig, oder sie wurden von einer der Konfliktparteien zu einer solchen Tätigkeit aufgefordert. Sie erledigten ihre Tätigkeit in der vertraulichen Atmosphäre getrennter mündlicher Beratung mit beiden Parteien und erhielten so nicht zuletzt den nötigen Spielraum zur Aushandlung von Bedingungen, die für beide Seiten tragbar waren. Mit dem Stichwort Spielraum ist ein weiterer Aspekt angesprochen, der für die Beurteilung mittelalterlicher Beratung unabdingbar ist. Waren schon im Gerichtsverfahren die Ermessensspielräume der Richter erheblich weniger von schriftlich fixierten Normen eingeengt, als wir dies gewohnt sind 62 , so trifft dies mehr noch für den Bereich der gütlichen Einigung zu. Wenn jemand bereit war, Genugtuung zu geben, lag es vollständig im Ermessen des Empfangers, wie sie im einzelnen auszusehen hatte. Die Sühne hatte dann nicht selten symbolischen Charakter; sie war Teil verschiedenster Absprachen und Abmachungen, die in ihrer Summe beiden Konfliktparteien das Gefühl gaben, ihr Gesicht gewahrt zu haben 63 . Die Tatsache solcher Absprachen wird in den Quellen jedoch nur selten erwähnt. Häufig finden wir vielmehr Nachrichten wie diese: ,Dort wurde auch Herzog Otto von Bayern ein volles Jahr nach seiner Unterwerfung vom König wieder zu Gnaden angenommen.' Selten sind jedoch Erläuterungen, wie sie Lampert von Hersfeld in diesem Fall einmal gibt: ,nachdem er dem König sowie denen, die sich beim König für ihn verwandt hatten, einen beträchtlichen Teil seiner Güter gegeben hatte' 64 .
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Guten bitten, ut indignationem suam ab eis averteret, et sub amicitia sua miseratus eos reciperet\ oder cap. 27, S. 47, wo secreti internuntii geschickt werden, componentes de fide et amicitia et fidissima securitate in invicem; der Bündnisschwur wurde dann in aller Öffentlichkeit vollzogen; oder cap. 95, S. 140, wo internuntii tätig werden, um eine Vasallenbindung aufzuheben. Vgl. dazu Bruno (wie Anm. 30) cap. 95, S. 88: factaeque pacis oblitus (sc. Heinrich IV.) iam nostros a tergo minus cautos invaderet, si principes Uli, qui pacis faciendae mediatores vel auctores fuerant, fidem suam contaminare non timerent. Vgl. dazu FRITZ KERN, Recht und Verfassung im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 120, 1919, S. 1—79, bes. S. 13 ff.; EKKEHARD KAUFMANN, Aequitatis iudicium. Königsgericht und Billigkeit in der Rechtsordnung des frühen Mittelalters (Frankfurter wissenschaftliche Beiträge 18) Frankfurt a. M. 1959, S. 10ff.; DOROTHEA WIERCINSKI, Minne. Herkunft und Anwendungsschichten eines Wortes, K ö l n - G r a z 1964, S. 17 ff. Vgl. dazu ALTHOFF (wie Anm. 26) S. 273 ff. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang insbesondere die für das Mittelalter charakteristische Möglichkeit, Streitigkeiten und Konflikte auf zwei Arten lösen zu können, auf der gütlichen oder der gerichtlichen Ebene; vgl. dazu den Art. 'Minne und Recht' in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (wie Anm. 1) 3, Berlin 1984, Sp. 582—588 mit weiteren Hinweisen. Vgl. dazu Lampert von Hersfeld (wie Anm. 38) a. 1072, S. 137: Ibi quoque Otto dux Baioariorum post integrum annum deditionis suae gratiam regis recepit, data vel regi vel bis qui regt pro eo suggesserant non modica portione prediorum suorum\ vgl. dazu auch oben Anm. 54.
164
Gerd Althoff
Man wird also in aller Regel davon ausgehen müssen, daß die Beendigung des Konflikts durch solche Absprachen erreicht und gesichert wurde, und man sieht hier: auch die Vermittlung hatte ihren Preis. Daß der Ermessensspielraum nicht nur bei der gütlichen Bereinigung von Konflikten, sondern auch nach Gerichtsurteilen in der Tat beträchtlich war, sei an zwei anderen Beispielen demonstriert. Thietmar von Merseburg berichtet von einem im Zusammenhang einer Fehde gegen den König gefangenen Grafen: .Richter verurteilten ihn zum Tode, doch wurde das Todesurteil auf die dringende Bitte des Erzbischofs Willigis von Mainz durch eine dem König genehme Loskaufsumme ersetzt.' 65 Anders verhielt sich nach dem Zeugnis Rahewins Friedrich Barbarossa, der gefangene Mailänder Ritter ,unter Mißachtung ihrer hohen Geldversprechen zur Hinrichtung abführen ließ' 66 . Durch die Formulierung wird jedoch klar, daß auch die Annahme des Geldes im Ermessen Barbarossas lag. Wie fest dieser Ermessensspielraum in den Überlegungen und Handlungen von Konfliktparteien verankert war, zeigt eine Selbstaussage Heinrichs IV. über seine Auseinandersetzungen mit dem Markgrafen Ekbert II. von Meißen. Diesen setzte Heinrich IV. ab, verzieh ihm dann wieder, und als dieser sofort den Konflikt fortführte, da nahm ihm der König erneut seine Grafschaften, dieses Mal aber, wie er ausdrücklich betonte, sine spe recuperandfi1. Die Formulierung beweist wohl, daß im Normalfall die Hoffnung auf Wiedererlangung des Verlorenen berechtigt war, wenn man sich zu geeigneten Aktionen der Wiedergutmachung bereit fand. Der zur Verfügung stehende Ermessensspielraum hat in Verbindung mit der Vertraulichkeit, die die Verhandlungen und Beratungen kennzeichnete, bewirkt, daß die Tätigkeit der Vermittler häufig von Erfolg gekrönt war. Beides führte aber auch zu der für den Historiker unerfreulichen Konsequenz, daß zumeist ein undurchdringliches Dunkel über dem Zustandekommen von Entscheidungen liegt, will man sich nicht mit der von Historiographen häufig gebotenen Erklärung begnügen, das Wirken des Hl. Geistes sei für die Einmütigkeit einer Entscheidung oder die Einigung verantwortlich 68 .
65
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68
Thietmar von Merseburg (wie Anm. 33) V, 34, S. 260: presentatoque regi captivo capitalis sententia a iudicibus decernitur, quae Magontinae archipresulis Willigisi intercessione supplici et, quae regi placuit, redemptione amovetur. Otto von Freising und Rahewin (wie Anm. 55) IV, 56, S. 616: Hos quoque, contempta multa pollicitatione pecunie, duci iubet ad supplicium, similisque bis qui et prioribus vite Jinis extitit. Vgl. Die Urkunden Heinrichs IV., 2. Teil, bearb. von DIETRICH VON GLADISS (MGH Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser 6) Weimar 1959, Nr. 402, S. 531 ff., die Formulierung S. 532, Z. 39; vgl. zu diesem Fall ALTHOFF (wie Anm. 26) S. 284 f. mit weiteren Hinweisen. Daß im früheren Mittelalter die Sühne im Vordergrund stand und nicht die Strafe, zeigt VIKTOR ACHTER, Die Geburt der Strafe, Frankfurt a. M. 1951, S . 3 4 f f . So etwa die Aussage der Narratio de electione Lotharii in regem Romanorum, hg. von WILHELM Spiritusgratia WATTENBACH (MGH SS 12) Hannover 1856, S. 5 0 9 - 5 1 2 , cap.6, S. 511: ... iam sancti ad unum idenque Studium animos omnium unire curabat, bezüglich der Wahl Lothars von Supplinburg, bei der ganz offensichtlich massive weltliche Interessen im Spiel waren, s. dazu zuletzt ULRICH SCHMIDT, Königswahl und Thronfolge im 12. Jahrhundert (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J.F.BÖHMER, Regesta Imperii 7) Köln—Wien 1987, S. 34 ff., bes. S. 46 ff.; ein ähnliches Problem bieten die Quellen hinsichtlich der Wahl Friedrich Barbarossas; vgl. ebd. S. 134 ff. Es ist interessant, daß in der späteren Stauferzeit dann in den Quellen offen die
Colloquium
jamiliare
— Colloquium
secretum
— Colloquium
publicum
165
Zusammengefaßt: Die Frage nach den Formen und Regeln mittelalterlicher Beratung hat eine ganze Reihe von Eigenarten zutage gebracht, die eine bessere Einschätzung des Phänomens und seiner Bedeutung für die mittelalterliche Herrschafts- und Lebensordnung ermöglichen. Wohl nicht zufallig sind die herausgearbeiteten Eigenarten deutlich spezifischen Bedingungen der mittelalterlichen Gesellschaft verpflichtet: Die Notwendigkeit, das Prestige der Beratenden zu wahren, ließ eine öffentlich kontroverse Diskussion kaum zu. Also praktizierte man Formen, die dieser Bedingung Rechnung trugen: das colloquium familiare oder secretum, mit dem man die öffentliche Beratung vorbereitete. Die Herstellung von Vertraulichkeit aber erleichterten jene vielfaltigen verwandtschaftlichen, freundschaftlichen und genossenschaftlichen Bindungen innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft, die genau die Möglichkeiten der informellen Kommunikation bereitstellten, derer diese Gesellschaft bedurfte, ehe sie öffentlich beriet. Damit aber nicht genug: Zum festen Formenschatz der Beratung gehörte auch die Möglichkeit, jedwedem Unbekannten oder auch Gegner das Angebot einer vertraulichen Beratung oder Verhandlung zu machen. Die Begegnung konnte zum Bündnis oder, im Konfliktfall, zur gütlichen Beilegung des Konfliktes führen und diente so nicht unerheblich der Herstellung oder Wiederherstellung eines Zustandes friedlichen Zusammenlebens. Diesen Zwecken gleichfalls verpflichtet war der Mediator, der seine Tätigkeit in vertraulicher Beratung ausübte und dem in allen Konfliktfallen der mittelalterlichen Gesellschaft eine bedeutsame Rolle zukam. Als Mediatoren eigneten sich einmal Personen, die zu beiden Parteien ein Vertrauensverhältnis hatten. Für hochgestellte Persönlichkeiten scheint es aber auch so etwas wie eine ehrenvolle Verpflichtung bedeutet zu haben, wenn sie als Mediatoren gerufen wurden. Das Charakteristische ihrer Stellung scheint die Unabhängigkeit zu sein, mit der sie ihre Aufgabe durchführten, auch wenn sie zuvor einer der Konfliktparteien angehört hatten. Profitiert hat ihre Tätigkeit außer von der Vertraulichkeit, in der sie agierten, auch von dem Ermessensspielraum, der ihnen jeweils offenstand und der als eine Grundbedingung mittelalterlicher Beratung mitzubedenken ist. Es mag den modernen Betrachter stören, daß die in vertraulichen Beratungen getroffenen Entscheidungen und Absprachen häufig in großangelegten Ritualen veröffentlicht wurden, die abliefen, als ob die Entscheidung noch offen sei. Dies gilt für die Unterwerfungsrituale ebenso wie für Wahlvorgänge oder Entscheidungen des Urteilers im Königsgericht. Doch dürfte derartige Irritation wohl durch unseren Abstand von den Formen und Regeln der Kommunikation in der mittelalterlichen Gesellschaft bedingt sein: Die durch Wort, Geste oder Ritual vorgenommene Veröffentlichung des Abgesprochenen bekräftigte die Absprache oder Entscheidung und band die Beteiligten, weil nunmehr ihr Prestige von der Einhaltung des öffentlich Bekundeten abhing. Überdies entfachte es den Eifer derjenigen, die die Entscheidungen auszuführen hatten, wenn sie sich am Zustandekommen beteiligt fühlten; das wußte schon Hinkmar von Reims 69 . Insofern hatte auch das colloquium publicum eine sehr ernstzunehmende Funktion. Summen genannt sind, die die Stimmen der Fürsten kosteten, vgl. HUGO STEHKÄMPER, Geld bei deutschen Königswahlen des 13. Jahrhunderts, in: Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege. Festschrift für Hermann Kellenbenz, 1, o. O. 1978, S. 8 3 - 1 3 5 . 69
S. dazu oben A n m . 29.
166
Gerd Althoff
Verändert und partiell überwunden wurde die Praxis der persönlichen Beratungen der Großen mit dem König in den Nachfolgestaaten des Karolingerreiches nur sehr langsam und zu unterschiedlichen Zeiten. Es markierte jeweils einen wichtigen Einschnitt, wenn die auf Rang gegründete Elite im Rat zurücktrat und durch eine Funktionselite ergänzt oder ersetzt wurde 7 0 . Symptomatisch für die Geschichte der mittelalterlichen Beratung scheint schließlich, wie resistent sie sich gegen das Eindringen von Schriftlichkeit erwies, die sonst seit dem 11. Jahrhundert in zunehmendem Tempo neue Felder eroberte oder durchdrang 7 1 . Gewiß fixierte man zunehmend mehr die Ergebnisse von Beratungen schriftlich, etwa in Form von Verträgen, so wie auch der Ausstellung von Urkunden bekanntermaßen mündliche Beratungen vorausgingen. Doch läßt derartige schriftliche Fixierung in aller Regel keinen Einblick in etwaige Probleme der vorausgegangenen Beratungen zu 72 . Nachdrücklich ist jedoch darauf aufmerksam zu machen, daß gerade im 11. Jahrhundert zwei literarische Gattungen in neuer Weise Einblick in Themen und Probleme der mündlichen Beratung ermöglichen: der Brief und die Streitschrift 73 . Es handelt sich dabei nicht zufallig um eine Situation, in der mündliche Beratungen und Verhandlungen längere Zeit in ihrer Funktion, Konsens herzustellen, versagten, obwohl es diesbezügliche Versuche zur Genüge gab. Dies gilt sowohl für die Auseinandersetzungen zwischen dem Salier Heinrich IV. und den Kräften der Kirchenreform als auch für die Kämpfe Heinrichs
70
Vgl. hierzu vor allem PETER MORAW, Die Verwaltung des Königtums und des Reiches und ihre R a h m e n b e d i n g u n g e n , in: D e u t s c h e V e r w a l t u n g s g e s c h i c h t e , h g . v o n KURT G . A . JESERICH u . a . , 1:
Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 21 — 65, bes. S. 35 ff.; DERS., Versuch über die Entstehung des Reichstags, in: Politische Ordnungen und soziale Kräfte im alten Reich, hg. von HERMANN WEBER (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Beiheft 8) Wiesbaden 1980, S. 1— 36; DERS., Wesenszüge der »Regierung« und »Verwaltung« des deutschen Königs im Reich (ca. 1350 — 1450), in: Histoire c o m p a r é e d e l ' a d m i n i s t r a t i o n ( I V e — X V I I I e s i è c l e s ) , h g . v o n WERNER PARAVICINI u n d KARL FERDI71 72
73
NAND WERNER (Beihefte der Francia 9) München 1980, S. 1 4 9 - 1 6 7 , bes. S. 151 ff. Vgl. hierzu die Literaturangaben in Anm. 8. Vgl. etwa das Material bei GÜNTHER RAUCH, Die Bündnisse deutscher Herrscher mit Reichsangehörigen (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N. F. 5) Aalen 1966; s. auch APPELT (wie Anm. 28) S. 35 ff. Deutlicher geben dagegen die karolingischen Kapitularien Hinweise auf vorhergegangene Beratungen und Initiativen; vgl. dazu REINHARD SCHNEIDER, Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Bereich der Kapitularien, in: Recht und Schrift im Mittelalter (wie A n m . 8) S. 257 — 279, S. 270 ff.; weiteres Material und weitere Beobachtungen bei DEMS., Brüdergemeine (wie Anm. 2) S. 39 ff. Zu den Briefen vgl. CARL ERDMANN, Studien zur Briefliteratur Deutschlands im 11. Jahrhundert (Schriften der M G H 1) Weimar 1938, bes. S. 225 ff.; DERS., Die A n f i n g e der staatlichen Propaganda im Investiturstreit, in: Historische Zeitschrift 154, 1936, S. 491—512; DERS., Untersuchungen zu den Briefen Heinrichs IV., in: Archiv für Urkundenforschung 16, 1939, S. 184—253; GILBERT CONSTABLE, Letters and Letter-Collections (Typologie des sources du moyen-âge 17) Turnhout 1976, S. 31 ff.; s. auch den Art. 'Brief, Briefliteratur, Briefsammlungen', in: Lexikon des Mittelalters, 2, München —Zürich 1983, Sp. 648 —682, bes. S p . 6 5 2 f f . — Zu den Streitschriften vgl. zuletzt HANSWERNER GOETZ, Geschichte als Argument, in: Historische Zeitschrift 245, 1987, S. 31—69; DERS., Tradition und Geschichte im Denken Gregors VII., in: Historiographia mediaevalis. Festschrift für F r a n z - J o s e f S c h m a l e , h g . v o n DIETER B E R G u n d H A N S - W E R N E R GOETZ, D a r m s t a d t 1 9 8 8 , S .
US.
ISS-
Colloquium familiars
— Colloquium
secretum
— Colloquium publicum
167
mit den Sachsen 74 . Und so wie man zu Recht die Streitschriften als „halbierte Dialoge" bezeichnet hat, so könnte man diese Wertung auch auf viele Briefe anwenden 75 . A u f die Möglichkeiten, Argumentationstechniken mittelalterlicher Beratung aus diesen beiden literarischen Gattungen zu erschließen, kann hier jedoch nur noch hingewiesen, ausgeschöpft können sie nicht mehr werden.
74
Auffallig ist, wie bemüht gerade die Gegner Heinrichs IV. waren, in mündlichen Beratungen mit Anhängern des Saliers die Frage zu diskutieren, ob dieser noch rechtmäßig König sein könne. Sie waren offensichtlich zutiefst überzeugt, ihre Argumente würden sich durchsetzen, wenn sie nur die Gelegenheit erhielten, sie in Ruhe vorzutragen; von diesem Bewußtsein zeugt vor allem der Bericht Brunos (wie Anm. 30) an vielen Stellen; vgl. dazu ausführlich ALTHOFF (wie Anm. 50). Ganz ähnlich argumentiert Gebhard von Salzburg in seinem berühmten Brief an Hermann von Metz, hg. von KUNO FRANCKE (MGH Libelli de lite 1) Hannover 1891, S . 2 6 3 - 2 7 9 , c a p . 2 - 4 ; vgl. dazu WILHELM WATTENBACH — ROBERT HOLTZMANN, D e u t s c h l a n d s G e s c h i c h t s q u e l l e n i m M i t t e l a l t e r , 2, N e u a u s g a b e
75
besorgt von FRANZ-JOSEF SCHMALE, Darmstadt 1967, S. 398 ff.; s. auch den Art. 'Gebhard' in: Lexikon des Mittelalters, 4, München—Zürich 1989, Sp. 1163 f. mit weiteren Hinweisen. Es ist ja ohnehin in vielen Fällen die Grenze zwischen Brief und Streitschrift fließend; vgl. dazu bereits CARL MIRBT, Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII., Leipzig 1894, S. 4 f.; zum Begriff 'halbierter Dialog' vgl. CONSTABLE (wie Anm. 73) S. 13.
ANDREA DECKER
Impetrate felicia / nobis dare conuiuia Ein Caritas-Lied im Vat. Ottobon. lat. 313 1 Im Zusammenhang der Erschließung der Nameneinträge im Sakramentar der Pariser Kathedralkirche, Vat. Ottobon. lat. 313, wurde ich auf einen Text aufmerksam, der in der bisherigen Forschung zu diesem Sakramentar nicht weiter Beachtung
V
2)
V
Deus qui Moysi apparuit ignei rogi similis, et Israel liberauit de seruitute principis, magna quoque in deserto escas qui misit populo,
1 2 3 4 5 6
istis infundat") poculis rorem sue dulcedinis; amen.
7 8
Uirgo mater quem genuit, qui uinum aqua condidit, et lordane baptizatus, fudit opem credentibus,
9 10 11 12
letificet nos poculo sanctitatis et gaudio; amen.
13 14
Uirgo Dei genitrix com b ' alissc\ Petre, Paule et Andrea com b ' sociis, ac Stephane martir sancte com b ' ceteris, sancti Dei confessores et monaci,
15 16 17 18
impetrate felicia nobis dare conuiuia,
19 20
ut Christus nos per secula secomb) uiuere faciat, qui solus inmortalia regnat Deus per secula; amen.
21 22 23 24
a) Zunächst verschriebenes s durch Rasur in i korrigiert. b) Die Schreibung con b%n>. com für die Präposition cum ist im Frühmittelalter und gerade auch im romanischen Bereich häufig bezeugt. Vgl. da^u künftig PETER STOTZ, Handbuch \ur lateinischen Sprache des Mittelalters. Im folgenden im Text wiedergegeben in der emendierten Lesung cum. c) Erstes s, vergleichbar \u infundat, verschrieben? Doppeltes statt einfaches s wohl kaum als Hinweis auf irische Herkunft des Textes interpretieren.
1
Es handelt sich hier um die überarbeitete Fassung einer Studie, die erstmals im Rahmen einer 'Freiburger Festgabe für Herrn Prof. Dr. Karl Schmid zu seinem 65. Geburtstag' vorgelegt worden
Impetrate felida / nobis dare conuiuia
169
fand, der aber den bereits konstatierten Memorialcharakter dieser Handschrift noch zu unterstreichen vermag 2 . Er wurde auf fol. 104v in langen Zeilen von einer Nachtragshand eingeschrieben — direkt im Anschluß an das Ende des HucusquePrologs (Abb. 17). Die vorstehende, von mir vorgeschlagene Gliederung des Textes soll den Schlüssel zu seiner Interpretation liefern. In einem ersten Zugriff läßt sich unser Text wohl als strophisches Lied bezeichnen. Reime, Assonanzen und durchgängig gleiche Silbenanzahl der Verse, die zumeist proparoxytonisch enden, weisen es in den Bereich der rhythmischen Dichtung 3 . Für die Einteilung in drei Strophen sprechen zum einen die Interpunktion 4 und der dreimalige Abschluß mit Amen, dann aber vor allem die Beobachtung, daß diese Strukturierung auch drei klar voneinander abgrenzbare inhaltliche Blöcke zu erkennen gibt. So sind in Strophe 1 mittels sechs Halbversen drei für die Geschichte Israels zentrale Heilsereignisse aufgezählt: die (Namen)Offenbarung Jahwes an Moses im brennenden Dornbusch, ignei rogi similis5, bei der ihm auch der Auszug seines
war. Sehr viele Anregungen und weiterführende Hinweise erhielt ich von Privatdozent Dr. Peter Stotz, Zürich, in dessen Freiburger Hymnenseminar im Wintersemester 1988/89 ich die Arbeit vorstellen durfte. Im folgenden verwende ich diese Abkürzungen: AH
=
A n a l e c t a h y m n i c a m e d i i a e v i , h g . v o n CLEMENS B L U M E u n d G U I D O M A R I A D R E V E S , 5 8 B d e . , Leipzig
2
3
1886-1922
CBP = Corpus Benedictionum Pontificalium, hg. von EDMOND MÖLLER (Corpus Christianorum, Series Latina 162 und 162A) Turnhout 1971 Der Text findet sich in einer Lage mit dem Diptychon auf fol. 110 v /l 11r, das den Kern der Aufzeichnungen zur liturgischen Memoria darstellt. Dazu künftig ANDREA DECKER, Studien zum liturgischen Gedenkwesen im Westfrankenreich mit einer Wiedergabe der Nameneinträge im Vat. Ottobon. lat. 313. H . A . WILSON, The Gregorian Sacramentary under Charles the Great (Henry Bradshaw Society 49) London 1915, hat den Text in seiner Edition auf S. 146 Anm. 3 mit der Bemerkung „hic addidit manus recentior hanc orationem seu benedictionem" abgedruckt. Bereits ADOLPH FRANZ, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, 2 Bde., Freiburg 1909, 1, S.285 Anm. 4 hatte den Text nach unserer Handschrift wiedergegeben — allerdings mit abweichenden Lesungen und dem irreführenden Hinweis, daß es sich dabei um ein italienisches Missale aus dem 14. Jahrhundert handele. Er charakterisiert ihn als „bemerkenswerte Formel" für einen Weinsegen. Eine Ausnahme von der durchgängig gleichen Silbenanzahl 8 bietet Z. 1 mit 9 Silben. Es ist hier aber wohl mit einer Verschleifung der beiden Vokale in Moysi apparuit oder, was noch wahrscheinlicher wäre, mit einer recht häufig bezeugten Synizese bei Deus zu rechnen. Beispiele für letztere bringt DAG NORBERG, Introduction à l'étude de la versification latine médiévale, Stockholm 1958, S. 30; DERS., L'œuvre poétique de Paulin d'Aquilée. Édition critique avec introduction et commentaire, Stockholm 1979, S. 64 und DERS., Les vers latins iambiques et trochaïques au Moyen Age et leurs répliques rythmiques, Stockholm 1988, S. 40. Eine weitere bezeichnende Ausnahme bildet Z. 15 —18. Z15: 7pp + 3 (bei emendierter Lesung cum aliis: 4pp; s. unten Anm. 12 und oben textkritische Anm. c), Z. 16—18: 8 p + 4 p p . Die Abweichung von Z. 15 kann sicher durch den geläufigen Hymneneingang Virgo Dei genitrix (ICL 17314—17322, Ursprung wohl 17321) erklärt w e r d e n . Vgl. DIETER SCHALLER —EWALD KÖNSGEN (Bearb.), Initia c a r m i n u m L a t i n o r u m saeculo
undecimo antiquiorum, Göttingen 1977. 4
5
Größere Einschnitte lassen sich nach Z. 6 und Z. 12 erkennen. Ansonsten sind durch die Zeichensetzung, mit Ausnahme von Z. 3/4 und Z. 15 —18, immer zwei Verszeilen miteinander verbunden. Vgl. Ex 3,2: in flamma ignis de rnedio rubi. Anzumerken ist hier der vom biblischen Sprachgebrauch abweichende Begriff rogus, der in einer für unser Lied passenden Bedeutung im 4. Buch der Dialoge Gregors des Großen, das im Mittelalter bekanntlich stark rezipiert wurde, auftaucht. Vgl. ADALBERT
170
Andrea Decker
Volkes aus Ägypten, dem Sklavenhaus, de seruitute principis(\ verheißen worden war, und die wunderbare Speisung in der Wüste mit Manna und Wachteln, escas qui misit
populo1. Dieses „altbundliche Evangelium" 8 wird noch durch das in Strophe 2 genannte Erlösungshandeln Gottes überboten: die Menschwerdung Christi durch die uirgo mater Maria 9 , die Verwandlung von Wasser zu Wein auf der Hochzeit von Kana
in Galiläa, qui uinum aqua condiditV), und den Aufweis der Gottessohnschaft in der Taufe im Jordan, hier einfach nur wiedergegeben mit et Iordane
6
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8
bapti^atus.
DE VOGUÉ (Hg.), Grégoire le Grand, Dialogues 3 (Sources Chrétiennes 265) Paris 1980, S. 106 — 109 (cap. 32). Dort werden in einer Jenseitsvision zwei Scheiterhaufen ( r o g u s ) errichtet, der eine für einen im Moment der Vision verstorbenen Priester Tiburtius, qui carnalibus desideriis subiacere ferebatur, bei dem anderen bleibt dem Leser verborgen, für wen er bestimmt war, da der Visionär durch den eigenen Tod seine Ausführungen nicht mehr beenden kann: qui emissa voce clamatum est cuius essit... Hier, in dieser Stimme aus dem Scheiterhaufen, scheint auch der Anknüpfungspunkt für die Verwendung des Begriffs in unserem Lied zu liegen. Darüber hinaus bot er gegenüber rubus wohl den Vorteil, eine Assonanz zu Moysi in Z. 1 zu schaffen. Die Herausführung aus dem Sklavenhaus war ein Hauptthema der Verkündigung Israels (Ex 20,2; Dt 5,6; 6,12; 8,14; 13,6.11 u. ö.). ALFONS DEISSLER, Die Grundbotschaft des Alten Testaments, Freiburg 7 1979, S. 73. Vgl. Ex 16,4 ff. Da der Bezug von magna in Z. 5 etwas unklar bleibt, könnte hier vielleicht mit einem Abschreibfehler gerechnet werden: manna~i An der Handschrift nicht verifizierbar ist die Lesung von FRANZ (wie Anm. 2): magica[s], DEISSLER ( w i e A n m . 6 ) S . 8 1 f.
9
Diese auffällige, wenn auch häufige Gegenüberstellung von Marias Jungfrauen- und Mutterschaft, direkt im Anschluß an das in Z. 8 gefallene Stichwort ros, läßt an Hos 14,6 denken, w o Gott von sich selbst als befruchtendem Tau spricht. In diesem Sinne wurde von Honorius Augustodunensis die Geschichte vom vellus Gedeonis (Ri 6,37 ff.) allegorisch auf Maria bezogen: Vellus infusum rore est Virgo sacra, fecunda proie. Area inhumecta est virginitas eius intacta. Die Unversehrtheit Mariens wurde von ihm auch noch im Gleichnis des brennenden und doch nicht verbrennenden Dornbusches aus Ex 3,2 gedeutet: Hoc beatam Virginem praesignavit, quam igtiis Spiritus sancti proie illuminavit, nec tarnen flamma concupiscentiae violavit. Interessant in unserem Zusammenhang für die Verbindung von Strophe 1 und 2 ist dann vor allem die Parallelität der Schlußfolgerungen, die Honorius in diesem Kontext aus der alttestamentlichen Theophanie bzw. der neutestamentlichen Epiphanie zieht: In quo Dominus apparuit, cum populum suum ab Aegyptiaca Servitute eripuit / Ex qua Dominus visibiliter apparens mundum visitavit et populum fidelium a diabolica Servitute liberavit (Spéculum Ecclesiae [MIGNE, PL 172] Sp. 904). Inwieweit Honorius sich dabei auf älteres Gedankengut stützte, das eventuell auch dem anonymen Verfasser unseres Liedes bekannt gewesen sein könnte, muß wohl offenbleiben. Hinweise auf diese Interpretationen bei F. J . E . RABY, A History of Christian-Latin Poetry from the Beginnings to the Close of the Middle Ages, Oxford 2 1953, S. 369 ff. und RICARDA LIVER, Die Nachwirkung der antiken Sakralsprache im christlichen Gebet des lateinischen und italienischen Mittelalters, Bern 1979, S. 73 Anm. 131.
10
Vgl. Joh 2,1 ff. Die Wahl des vom biblischen Sprachgebrauch abweichenden Begriffs condere — sicher auch aufgrund der vorgegebenen Reimstruktur — betont viel stärker als etwa uertere / conuertere den Aspekt des Erschaffens. Sollte damit vielleicht der wunderbare Charakter dieses ersten öffentlichen Wunders Jesu noch erhöht werden, von einer Verwandlung hin zu einer creatio ex nihilo? In Paris dürfte diese Stelle sofort Assoziationen geweckt haben, hatte doch der spätere Bischof Marcellus, noch als Subdiakon, in die Seine geschüttetes Wasser in Wein verwandelt. Vgl. JACQUES DUBOIS, Le martyrologe d'Usuard (Subsidia hagiographica 40) Bruxelles 1965, S. 333 (1.11.). Zahlreiche Hinweise zur typologischen Deutung der Verwandlung von Wasser zu Wein auf das Verhältnis von AT zu N T finden sich bei HANS-JÖRG SPITZ, Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends (Münstersche Mittelalter-Schriften 12) München 1972, S. 1 4 2 - 1 5 4 . Vgl. auch unten Anm. 30.
Impetrate felida
j nobis dare conuiuia
171
A b s c h l i e ß e n d z u s a m m e n g e f a ß t w e r d e n diese sechs Heilstaten G o t t e s in Z . 1 2 : fudit
opem
credentibus
— W u n d e r als H i l f e z u m G l a u b e n , zu i h m h i n z u t r e t e n d u n d
zugleich i h n v o r a u s s e t z e n d . M i t S t r o p h e 3 v e r l a s s e n w i r d a n n die d u r c h biblische S p r a c h e u n d Inhalte g e p r ä g t e E r z ä h l e b e n e u n d t r e t e n ein in den R a u m d e r K i r c h e . A n g e r u f e n w i r d die Communio
sanctorum
in F o r m einer A l l e r h e i l i g e n l i t a n e i 1 1 . D e r e n h i e r a r c h i s c h e
G l i e d e r u n g — G o t t e s m u t t e r , (Engel?), A p o s t e l , M ä r t y r e r , C o n f e s s o r e s u n d M ö n che — diente w o h l e i n d e u t i g als V o r b i l d 1 2 . D i e cum-Anschlüsse
m i t i h r e r Platzhalter-
f u n k t i o n v e r m e h r e n die S i l b e n z a h l dieser V e r s e u n d v e r s t ä r k e n d a d u r c h n o c h den bereits d u r c h die N a m e n a u f z ä h l u n g erzielten Litaneicharakter. In ähnlicher W e i s e k a n n auch die »/-Impetration a b Z . 2 1
verstanden
werden13.
D a s ganze
Lied
erhält so eine deutlich liturgische A b s c h l u ß f o r m e l , L i t a n e i e n a b e r auch a l l g e m e i n Orationen/Benediktionen vergleichbar. W a s a b e r w i r d in dieser d e m P a r a d i g m e n g e b e t ä h n l i c h e n A u f z ä h l u n g
von
Heilstaten G o t t e s , v e r k n ü p f t m i t d e r A n r u f u n g v o n Heiligen, eigentlich f ü r die G e g e n w a r t erfleht? D i e A n t w o r t d a r a u f u n d z u g l e i c h den e n t s c h e i d e n d e n H i n w e i s z u r I n t e r p r e t a t i o n g e b e n die b i s h e r n o c h n i c h t a n g e s p r o c h e n e n V e r s p a a r e Z . 7 / 8 , Z . 1 3 / 1 4 u n d Z . 19/20, die die S t r o p h e n jeweils abschließen b z w . i m Fall v o n S t r o p h e 3 in d e r e n M i t t e l p u n k t stehen.
So heißt es in Z. 7/8: istis infundat poculis / rorem sue dulcedinis^. Dabei wird im B e g r i f f ros das Bild d e r W ü s t e n s p e i s u n g v o n Z . 5/6 w i e d e r a u f g e g r i f f e n : als d e r Tau
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(Prozessions)Hymnen in Litaneiform scheinen in St. Gallen sehr beliebt gewesen zu sein. Vgl. MGH Poetae 4, S. 319 ff. (Nrn. IV, VI, XV, XXII). Von Rabanus Maurus sind ebenfalls 'Versus more litaniae facti' überliefert: MGH Poetae 2, S. 217 f. Interessant ist im folgenden, daß auch eine von BISCHOFF (wie Anm. 20) edierte Caritasformel (Nr. 7) einen litaneiartigen Aufbau und eine ähnliche liturgische Abschlußformel aufweist wie unser Lied. Gegen FRANZ (wie Anm. 2) ist festzuhalten, daß dem „unwissenden Schreiber" in bezug auf die Kasusform der Heiligennamen kein Fehler unterlaufen ist. Er benutzte vielmehr den für Litaneien üblichen Vokativ. In bezug auf den Anschluß cum aliss, eventuell verschrieben aus cum aliis (vgl. die textkritischen Anmerkungen a und c), müßte wohl eine andere Lösung vorgeschlagen werden. Da die Allerheiligenlitanei an dieser Stelle angelis vorsieht, und zwar die Erzengel Michael, Gabriel und Raphael, könnte hier mit einem Abschreibfehler gerechnet werden. Der Schreiber hatte vielleicht den wenig spezifischen Abschluß von Z. 17, cum ceteris, im Auge. Letzte Sicherheit ist dabei aber wohl kaum zu gewinnen. Noch ein weiterer 'Mangel' etwa im Vergleich zum Typ der 'Letania romana' wäre für Strophe 3 anzuzeigen: der Eingang mit Kyrie eleison, Christe audi nos fehlt. Er läßt sich aber m. E. ohne Probleme mit Strophe 1 und 2 auffüllen. Zum trinitarischen Charakter siehe unten bei Anm. 28—31 ausführlicher. PAUI. DE CLERCK, La prière universelle dans les liturgies latines anciennes. Témoignages patristiques et textes liturgiques (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 62) Münster 1977, S. 275: „Outre le Kyrie eleison qui l'introduit, la litanie des saints a conservé dans sa quatrième partie, des demandes introduites par ut où l'on reconnaît encore parfois un lointain écho des litanies anciennes." Vgl. dazu die im Ottobonianus fol. 109'—110R überlieferte 'Letanía romana', die in ihrem abschließenden Rahmenwerk ebenfalls solche »/-Impetrationen aufweist (WILSON [wie Anm. 2] S. XXXI ff.). Die Verknüpfung von ros, (in)fundere und Abstraktapostrophen, vergleichbar unserem dulcedinis, findet sich sehr häufig in Orationen und Benediktionen: ...perpetuum (eis) rorem tuae benedictionis infunde (DESHUSSES [wie Anm. 29] Nr. 1308), ... rore tuae benedictionis infusum (CBP 249e). Der Tau erscheint dabei stets als Träger göttlicher Eigenschaften, göttlicher Kraft: der Geist Gottes wird mit Hilfe des ros ausgegossen. In unserem Zusammenhang ganz besonders interessant sind drei
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Andrea Decker
sich a m M o r g e n g e h o b e n hatte, k a m das M a n n a z u m V o r s c h e i n 1 5 . N u r k a n n hier eine Speise n i c h t g e m e i n t sein. Es sollen ja v i e l m e h r m i t d e r aus T a u t r o p f e n g e b i l d e t e n F l ü s s i g k e i t pocula
g e f ü l l t w e r d e n . A l s v ö l l i g u n v e r w a n d e l t , als reines
W a s s e r ist dieses G e t r ä n k j e d o c h k a u m v o r z u s t e l l e n . W o h l n u r ein B e c h e r W e i n — die ' E r s c h a f f u n g ' desselben aus W a s s e r a u f d e r H o c h z e i t zu K a n a steht i m H i n t e r g r u n d — v e r m a g die in Z. 1 3 / 1 4 e r h o f f t e F r e u d e i m g e m e i n s a m e n T r i n k e n zu gewährleisten: letificet
nos poculo
/ sanctitatis
et gaudio16.
D e r W e g ist dann nicht m e h r
allzu w e i t zu d e r f ü r S t r o p h e 3 w i e a u c h f ü r das g a n z e L i e d zentralen Bitte a n die
Heiligen als Interzessoren vor Gott: impetrate felicia / nobis dare conuiuiav f ü r u n s f r ö h l i c h e G e l a g e ' ! D a m i t ist das e n t s c h e i d e n d e S t i c h w o r t conuiuium
— ,erfleht gefallen.
Sicher ließe sich dabei a u c h an das jenseitige, e w i g e G a s t m a h l mit C h r i s t u s d e n k e n , das in U m s c h r e i b u n g a b Z . 2 1 thematisiert w i r d 1 8 . D i e s steht a b e r hier m . E. nicht i m V o r d e r g r u n d , s c h w i n g t h ö c h s t e n s mit, d e n n d e r W u n s c h n a c h d e n zu f ü l l e n d e n B e c h e r n , u n d z w a r istis poculis,
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ist d e u t l i c h diesseitsbezogen a u f ein in G e m e i n s c h a f t
rhythmische 'Benedictiones potuum', die im 'Liber Benedictionum' Ekkeharts IV. ( J O H A N N E S E G L I [Hg.], Der Liber Benedictionum Ekkeharts IV. nebst den kleinern Dichtungen aus dem Codex Sangallensis 393, in: Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 31, 4.F.,1, St. Gallen 1909, S. 310—312) überliefert sind: Christe tuum rorem / super hunc effunde liquorem-, Hoc pigmentatum supero / sit rore rigatum\ Pneuma suum rorem / det in hunc spirando medonem. Während dort aber ein bereits vorhandenes Getränk durch ros gesegnet werden soll, muß hier wohl, in dem ros sue dulceditiis, eine Umschreibung für die einzufüllende Flüssigkeit gesehen werden. Man vergleiche etwa die rores exigui uini des Arnobius ( A U G U S T U S R E I F F E R S C H E I D [Hg.], Arnobii Adversus nationes libri 7 [Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 4] Wien 1875, Buch 7, cap. 36, S. 270). Angedeutet im Begriff dulcedo, könnte auch noch die Verwandlungsmetaphorik 'Bitteres und süßes Wasser' mitschwingen. Vgl. SPITZ (wie Anm. 10) S . 154—157, v. a. S. 156 f. das Zitat aus Rabanus Maurus, In Ex. üb. 2,5 (MIGNE, PL 108, Sp. 76A): Intellige amaras aquas occidentis litterae et legis habere figuram: quibus si immittitur confessio crucis, et passionis Dominicae sacramentum jungatur, tunc efficitur aqua amara suavis; et amaritudo litterae vertitur in dulcedinem intelligentiae spiritualis. Nach B I S C H O F F (wie Anm. 20) S. 66 Anm. 43 hängen diese Benediktionen wohl mit den Caritasbräuchen zusammen. Die von ihm unter Nr. 6 edierte Caritasformel scheint sogar beide Elemente zu verbinden: Nos nostrumque simul Christus benedicere potum. Et bibite nunc kti in amore regis aeterni... Vgl. Ex 16,13 ff. Auf den ersten Blick unklar ist der Bezug des Genitivs sanctitatis. Gegen ein Enjambement und für eine Verknüpfung mit gaudium ließe sich eine von Augustinus benutzte Verbindung ins Feld führen: beatitudinis gaudium (Aurelius Augustinus, De civitate Dei [Corpus Christianorum, Series Latina 48] Turnhout 1955, Buch 19, cap. 27, S. 697). Damit läge eine Abstraktprädikation, vergleichbar zu rorem sue dulcedinis, mit Begriffen der mystischen Sakralsprache vor. Vgl. L I V E R (wie Anm. 9) S. 327. Gedacht werden könnte aber auch an eine Verbindung mit poculum ähnlich der Benediktion Repleat vos omnibus bonis terrarum vestrarum, copia, frumento, vino repleat et oleo sanctitatis (CBP 1365b). Die Form des poetischen Neutrum Plural, hier felicia conuiuia, taucht nach L A R S E L F V I N G , Etude lexicographique sur les séquences limousines, Stockholm—Uppsala 1962, S. 12 recht häufig auf und „presque jamais dans les substantifs masculins et féminins". In gleicher Weise ist wohl auch der Plural inmortalia auf secula zu beziehen. Vgl. AH VII, 46,6 f.: Ubi etiam regna, nobis dedit immortaliaj quibus fruamur per saecla. Hinweis darauf bei E L F V I N G , S. 153 f. Das Gastmahl — conuiuium — als Bild für das ewige Zusammenleben mit Christus findet sich in mehreren Benediktionen direkt im Begriff angesprochen. So etwa CBP 2047b: Hodie uos sanctificet ad perfectum et cras merito accedere faciat ad conuiuium suum, oder CBP 1720b: Quique illum in Cana Galileae nuptiis uoluit interesse, ipse uos, ueste nuptiali ad aeternum conuiuium faciat introire. Letztere stellt einen Bezug zur Hochzeit von Kana her, die selbst wiederum sehr häufig als conuiuium bezeichnet wurde, z. B. CBP 738c oder AH VII, 38,8.
Impetrate fetida
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/ nobis dare conuiuìa
vollzogenes (Mahl und) Trinken, wie wir es etwa aus der Geschichte der mittelalterlichen Gilden kennen 19 . Damit stellt sich aber die Frage nach einer alle bisher genannten Aspekte umgreifenden Charakterisierung unseres cotiuiuium-hiedes. Die stark biblisch-theologisch und liturgisch geprägte Sprache weist darauf, daß es sich kaum um einen Vorläufer der hoch- und spätmittelalterlichen Trinklieder handeln kann. Der geistlich-religiöse Gehalt und nicht etwa der Lobpreis des Weines oder des Trinkens im allgemeinen steht im Mittelpunkt. Das sind aber Kriterien, die auf die erstmals von Bernhard Bischoff als eigene Gattung angesprochenen Caritas-Lieder zutreffen 20 . Deren Entstehungszusammenhang mit der Caritas in refectorio, einem dem conuiuium ähnlichen Begängnis in den frühmittelalterlichen Klöstern 21 , implizierte häufig eine Besinnung auf die Tugend der Caritas als Bruder- und Nächstenliebe oder als Gottesliebe. Ein Blick auf die von B. Bischoff erhobenen Caritas-Lieder zeigt aber, daß auch Lieder ohne die ausdrücklich angesprochene Thematik der Caritas mit diesem Brauch verbunden werden können 22 , einer Identifizierung unseres Liedes als Caritas-Lied also diesbezüglich nichts im Wege steht. In bezug auf die (paläographische) Datierung und den damit gegebenen Terminus ante quem der Entstehung paßt unser Caritas-Lied ebenfalls in den von B. Bischoff gesteckten Rahmen: „... keines der Caritaslieder (scheint) nach dem IX. Jahrhundert entstanden oder nach dem X. Jahrhundert überliefert zu sein" 23 . Bischoffs erklärender Hinweis auf möglicherweise veränderte Caritassitten im Reformmönchtum kann aber sicher nicht als absolut ausgrenzend interpretiert werden; denn auch unser Lied mit seiner biblisch-theologischen Sprache atmet (Vor)Reformgeist — und nicht nur im kontrastierenden Vergleich zu handfesten Caritas-Trinkliedern wie Hic sistimus cum precibus2A. 19
OTTO GERHARD OEXLE, G i l d e n als soziale G r u p p e n in der K a r o l i n g e r z e i t , in: D a s H a n d w e r k in v o r - und f r ü h g e s c h i c h t l i c h e r Zeit, 1. Historische u n d rechtshistorische Beiträge u n d U n t e r s u c h u n g e n zur F r ü h g e s c h i c h t e der G i l d e ( A b h a n d l u n g e n der A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n in G ö t t i n g e n 3. F., Nr. 1 2 2 ) G ö t t i n g e n 1 9 8 1 , S. 2 8 4 - 3 5 4 .
20
BERNHARD BISCHOFF, Caritas-Lieder, erw. N e u d r u c k in: DERS., Mittelalterliche Studien 2, S t u t t g a r t 1967,
S. 56 — 7 7 , S. 67: „Wegen der religiös-ethischen K o m p o n e n t e u n d ihrer B i n d u n g an das
monastische L e b e n u n d benediktinische F r ö m m i g k e i t sind diese L i e d e r u r s p r ü n g l i c h nicht als u n m i t t e l b a r e V o r l ä u f e r der j ü n g e r e n Trinklieder anzusehen." 21
22
V g l . OEXLE ( w i e A n m . 1 9 ) S. 3 3 6 .
Eine handliche Z u s a m m e n s t e l l u n g d e r v o n B i s c h o f f e r w ä h n t e n u n d bereits ediert
vorliegenden
Caritas-Lieder findet sich bei JOSEF SZÖVERFFY, D i e A n n a l e n der lateinischen H y m n e n d i c h t u n g , 1. D i e lateinischen H y m n e n bis z u m E n d e des 1 1 . J a h r h u n d e r t s , Berlin 1 9 6 4 , S . 2 6 1 . Bei einer ganzen Reihe dieser L i e d e r fehlt der ausdrückliche Bezug zur Caritas
— als Festtermin o d e r im Hinblick
auf die zu f e i e r n d e G o t t e s - o d e r Nächstenliebe: bei fast allen Trinkliedern aus S. J u l i e n de B r i o u d e (Nr. 3), beim ' H y m n u s de Natale I n n o c e n t i u m ' (Nr. 8), beim ' H y m n u s de Epiphania' (Nr. 9) u n d bei den 'Versus de N a t i v i t a t e D o m i n i ' (Nr. 10). D a s gleiche gilt f ü r die L i e d e r u n d C a r i t a s f o r m e l n , die v o n BISCHOFF (wie A n m . 2 0 ) unter den N r n . I V b — V I I I bzw. 6, 7 und 9 ediert sind. 23
BISCHOFF (wie A n m . 2 0 ) S. 67. U n s e r auf f o l . 1 0 4 v eingeschriebener Text k a n n ins 1 0 . J a h r h u n d e r t datiert w e r d e n .
24
Vgl. BISCHOFF (wie A n m . 2 0 ) S. 6 4 u n d S. 6 9 f. H i n z u w e i s e n ist in diesem Z u s a m m e n h a n g a u f die sog. B e n e d i k t i o n e n A d e l e l m s , des B i s c h o f s v o n Seez, der A n f a n g des 10. J a h r h u n d e r t s v o r den N o r m a n n e n nach Paris fliehen m u ß t e . Diese sind in R e i m p r o s a a b g e f a ß t u n d zeichnen sich d u r c h
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Andrea Decker
Probleme bereitet dann nur noch der Überlieferungsort unseres Caritas-Liedes in einem Sakramentar der Pariser Kathedralkirche. Doch die Caritas, die über das gewöhnliche Maß hinausgehende Austeilung von Speisen und vor allem von Wein 25 , scheint auch bei Kanonikern Eingang gefunden zu haben. Sehr gut bezeugt ist eine solche für den Augsburger Domklerus unter Bischof Ulrich von Augsburg (923 —973) 2 6 . In aller Ausführlichkeit beschreibt Kapitel 4 der 'Vita Ulricf, quanta deuotione Bischof Ulrich die Fastenzeit und insbesondere die heiligen Tage von Gründonnerstag an begangen habe. Eindeutig den Höhepunkt bildete dabei die liturgische Ausgestaltung des Ostersonntags, in deren Mittelpunkt eine Caritasfeier Bischof Ulrichs mit drei verschiedenen, auf ihn bezogenen Personengruppen stand: His ita gaudiis multiplicatis, canonici praecipiente episcopo caritatem accipientes et rogantes, unum responsorium de resurrectione Domini interim decantaverunt. Et hac caritate expleta, ad alteram mensam congregatio sanctae Afrae similiter fecit. Adpropinquante vero vespera, ille sibi et secum sedentibus laetanter pocula porrigere praecepit, et tertiam caritatem omnes caritative bibere rogavit; acceptaque ea caritate, tertium responsorium omnis clerus simul cum laetitia decantavit.27 In dem hier genannten responsorium de resurrectione Domini könnte man wohl ein für den spezifischen Festtag eingerichtetes Caritas-Lied sehen. Immer wenn Bischof Ulrich den Becher erhob und zur Caritas aufforderte, wurde es gesungen — dreimal, der Anzahl der Tische entsprechend, so wie auch vorher schon die zur Tafel aufspielenden Musiker tres modos sjmphoni^ando perfecerunt. Die tiefere Bedeutung dieser auffälligen Häufung der Zahl 3 erschließt sich im Blick auf die Schilderung des Ostermahles im 'Liber tramitis'. Dort ist ebenfalls ein
ihren Bezug zum jeweiligen Tagesevangelium und vor allem zu dessen Litteralsinn aus. Ein gutes Beispiel für diese unserem Caritas-Lied vergleichbaren biblischen Bezüge bietet die bei JEAN LAPORTE, Bénédictions épiscopales à Paris (X e siècle), in: Ephemerides Liturgicae 71, 1957, S. 145 — 184, S. 150 f. wiedergegebene Benediktion Adelelms — dort in Gegenüberstellung zu einer Benediktion aus der 'Série de St-Amand': Creator rerum omnium, qui in initio signorum suorum aquas mutauit in vinum tribuat vobis in hoc saeculo suae benedictionis et consolationis auxilium. Amen. Et qui ad nuptias invitatus manifestavit potestatem gloriae suae ipse uos letificet calice ubertatis sue, et conjunget vos coetu caelestis milicie. Amen. Ut qui eum cum discipulis suis verum Deum et hominem credendo confitemini, in die judicii veste nuptiali, id est caritate, indui mereamini. Amen. Quod ipse ... 25
26
27
BISCHOFF ( w i e A n m . 2 0 ) S. 5 7 f. u n d K A R L SCHMID, M ö n c h t u m
und Verbrüderung,
in:
RAYMUND
KOTTJE—HELMUT MAURER (Hgg.), Monastische Reformen im 9. und 10. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen 38) Sigmaringen 1989, S. 1 1 7 - 1 4 6 , S. 118f. Vgl. schon BISCHOFF (wie Anm. 20) S. 60 mit Anm. 23: „Auch in den Gemeinschaften der Kanoniker dürften, je enger ihre 'Vita communis', je strenger ihre Regel war, sehr ähnliche Zusammenkünfte anzunehmen sein." Bei Bischof Ulrich erhält dies noch zusätzlich dadurch Gewicht, daß seine Lebensweise durch seine Erziehung im Kloster St. Gallen stark monastisch geprägt war. Vgl. etwa die Bemerkung seines Biographen Gerhard (MGH SS 4, S. 390): . . . et regulam occulte sequens monachorum. M G H SS 4, S. 393. Bei den drei Personengruppen handelt es sich um die congregatio sanctae Afrae, die Domkanoniker, die drei Sätze vorher, bei der Aufzählung der drei Tischgemeinschaften, als matriculi bezeichnet worden waren, und um diejenigen, cum quibus uolebat adsedere solebat, also vielleicht spezielle, eigens zur Caritasfeier geladene amici. Da diese unmittelbar vor der Vesper des Ostersonntags stattfindet, dürfte hier eine Entsprechung zur vereinzelten Angabe deutscher Consuetudines des 10. Jahrhunderts vorliegen. Hinweis bei BISCHOFF (wie Anm. 20) S. 59. Aus der Caritasfeier Ulrichs am Ostersonntag bildete sich recht bald nach dessen Tod eine Caritas sancti Udalrici heraus, vgl. F R A N Z (wie Anm. 2 ) S. 2 9 1 f.
Impetrate felicìa
/ nobis dare conuìuia
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dreifacher Caritastrunk, entsprechend der A n z a h l der drei A m t s - bzw. Standesgruppen — Priester, D i a k o n e u n d Laienbrüder — u n d darüber hinaus auch dessen symbolischer G e h a l t bezeugt: das dreimalige Trinken sollte ein Sinnbild der Trinität darstellen 2 8 . L e i d e r ist nicht ü b e r l i e f e r t , o b ein L i e d u n d w e l c h e s dazu g e s u n g e n w u r d e . Z u g e r n e hätte m a n V e r b i n d u n g s l i n i e n zu u n s e r e m Caritas-Lied g e z o g e n ,
denn
dessen trinitarischer A u f b a u ist e v i d e n t . S i n d in S t r o p h e 1 alt- u n d in 2 n e u t e s t a m e n t liche Heilsereignisse a n g e s p r o c h e n , so k o m m t in S t r o p h e 3 die K i r c h e in G e s t a l t der Heiligen zum Vorschein. Dieser innere A u f b a u , im äußeren
wiedergegeben,
läßt sich o h n e w e i t e r e s a u f die d r e i g ö t t l i c h e n P e r s o n e n beziehen. F r a g l i c h ist a b e r w o h l , o b d e r 'trinitarische' C h a r a k t e r unseres Caritas-Liedes e b e n f a l l s m i t O s t e r n als C a r i t a s t e r m i n v e r k n ü p f t sein m u ß . Z w a r t a u c h e n die in S t r o p h e 1 a n g e s p r o c h e n e n H a u p t t h e m e n d e r V e r k ü n d i g u n g Israels e t w a a u c h i m R e i g e n d e r a l t t e s t a m e n t l i c h e n L e s u n g e n d e r O s t e r n a c h t a u f 2 9 , d a f ü r a b e r scheinen die I n h a l t e v o n S t r o p h e 2 e h e r a u f E p i p h a n i e als C a r i t a s t e r m i n zu w e i s e n . D i e V e r w a n d l u n g v o n W a s s e r zu W e i n , v e r b u n d e n m i t d e r T a u f e i m J o r d a n ,
sind
r e g e l m ä ß i g w i e d e r k e h r e n d e M o t i v e bei B e n e d i k t i o n e n zu E p i p h a n i e b z w .
zum
Festkreis v o n E p i p h a n i e 3 0 . A u c h S t r o p h e 3 — b e t r a c h t e t m i t d e m Blick a u f d e n B r a u c h des Caritas-Trinkens an H e i l i g e n f e s t e n — b r i n g t h i e r keine A u f l ö s u n g . D i e Heiligen sind zu sehr in den R a h m e n d e r A l l e r h e i l i g e n l i t a n e i e i n g e b u n d e n , als d a ß sie m i t e i n e m Festtag zu i h r e n E h r e n v e r b u n d e n w e r d e n k ö n n t e n 3 1 .
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Der Hinweis auf den 'Liber tramitis' findet sich bei B I S C H O F F (wie Anm. 2 0 ) S . 5 8 . Liber tramitis aevi Odilonis abbatis lib. I . 5 8 . 3 , hg. von P E T R U S D I N T E R (Corpus Consuetudinum Monasticarum 10) Siegburg 1980, S. 90 f. Auffallig ist auch die Dreizahl der Messen, die Bischof Ulrich am Ostermorgen feierte, darunter auch eine 'Missa de Sancta Trinitate'. Letztere dürfte aber wohl in der Tradition und auf dem Hintergrund des 'Alkuinmissale' und von Bestimmungen einiger 'Consuetudines' zu verstehen sein, die zu bestimmten Zeiten im Kirchenjahr für die prima feria jeweils eine Messe zu Ehren der hl. Dreifaltigkeit vorsahen. VGL- J E A N DESHUSSES, Le sacramentaire grégorien. Ses principales formes d'après les plus anciens manuscrits, 1, Fribourg/Suisse 1971, Nrn. 1024—1048. Es ist aber zu beachten, daß z. T. die gleichen Lesungen auch in der Pfingstvigil auftauchen. Hinzuweisen wäre hier vielleicht auf die Lesung aus Jes 4,1 ff. mit dem canticum vinea und der Abschlußoration, in der von Christus als dem wahren Weinstock die Rede ist. Der Auszug aus Ägypten wird ebenfalls in diesen Bildern dargestellt: Fidetibus tuis quos velut vineam ex aegypto per fontem baptismi transtulisti ... (Nr. 1059). CBP 624a+ b, 732c (Ottobon.lat.313), 738b + c, 1087a+d, 1359a + c, 1516b + d, 624a+b. In CBP 307 sind sogar alle drei Inhalte angesprochen: Benedicat vos omnipotens Deus, qui per partum beatae Mariae virginis nasci dignatus est, et de interitu perpetuae mortis misericorditer liberavit. Amen ... Benedicat vos rex regum et Dominus dominantium, qui aquam in Cana Galileae signo admirabili sua potentia convertit in vinum. Benedicat vos Spiritus sanctus, qui in specie columbae in lordane fluvio super Christum requievit... Die Verbindung Kana/Jordan findet sich auch in einem von Bischoff genannten Caritas-Lied, dem 'Hymnus de Epiphania' (MGH Poetae 2, S. 247 Str. 6). Vgl. H E N R I DE L U B A C , Exégèse médiévale. Les quatre sens de l'écriture, Paris 1959, 1.1, S. 345: „On met en rapport le mystère de Cana avec le mystère de Bethléem et avec celui du Jourdain, comme y invite la liturgie . . . " Zum Symbolgehalt dieser Stellen vgl. den bei DE L U B A C , S. 346 zitierten Predigtauszug Ivos von Chartres: Mjstice vero aqua in vinum in nuptiis mutata hoc insinuât, quod quando Deus humanae naturae sociatus est, et facti sunt duo dispensationem in carne una, Christus et Ecclesia, tunc lex quae hactenus carnaliter fuerat observata, per humanitatis Christi spirituatiter est intellecta. Nos quoque, de futura ei insipida veteris hominis vita, per hanc Christi et Ecclesiae societatem translati sumus in filiorum Dei adoptionem ( M I G N E , PL 162, Sp. 575). Maria und die Apostel scheiden hier wohl von vorneherein aus. So bleibt nur noch, im Hinblick auf die Kathedralkirche von Paris, Saint-Etienne, die Rolle des Stephanus zu bestimmen. Aus dem
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Unser Caritas-Lied sperrt sich so gegen eine allzu konkrete Zuweisung zu einem bestimmten Caritastermin und war damit wohl, positiv gewendet, vielseitig einsetzbar. So bleibt abschließend nur noch die Frage zu stellen, von welchen conuiuiumTeilnehmern dieser Gesang möglicherweise angestimmt worden ist. Der außergewöhnliche Überlieferungskontext 32 — im Sakramentar der Pariser Kathedralkirche in einer Lage mit den Nameneinträgen ins Diptychon und auf den angrenzenden Seiten — lädt geradezu ein, in diesen Nameneinträgen die Gemeinschaft(en) aufzuspüren, die solch ein conuiuium mit Wein und Gesang begingen); dies um so mehr, als in der Memorialforschung seit längerem bekannt ist, daß das Caritastrinken als Ausdruck der brüderlichen Gemeinschaft unmittelbar mit dem Vollzug des Gedenkens verbunden war 33 . Eine solche Gemeinschaft scheinen wir greifen zu können im Eintrag einer Zwölf-Apostel-Bruderschaft am unteren Rand von fol. 110 r : Ec sunt nomina fratrum de societate duodecim apostolorum. Dieser Eintrag fand in der Literatur schon mehrfach Beachtung, nach Gilles Gérard Meersseman handelt es sich dabei um den Nachfolger des Klerikervereins, dessen Statuten er in einer Berner Handschrift aufgespürt zu haben glaubt34. Darin findet sich, in Form einer Predigt, die Paraphrase des bekannten Mandatumhymnus Congregavit nos in unum35. Von einem weiteren CaritasLied, das in dieser Gemeinschaft Verwendung fand, ist dann aber leider nicht die Rede, so daß wir wieder zurückverwiesen sind auf unser Caritas-Lied, auf dessen mögliche Bezüge zu einer Zwölf-Apostel-Bruderschaft. Nur scheinen diese nicht vorhanden zu sein oder allenfalls ganz schwach angedeutet, etwa in der durch zwölf
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westfränkischen Bereich sind zwei Caritas-Lieder zu seinen Ehren überliefert. Vgl. BISCHOFF (wie Anm. 20) Texte I und II. In unserem Fall ist diese Möglichkeit aber wohl auszuschließen, denn Stephanus nimmt hier als Protomartyrer die ihm zukommende Stelle ein. Zu überlegen wäre allerdings, ob diese Anrufung der Heiligen in Form einer Litanei mit dem Brauch der 'Beschwörung heiliger Namen als Aufforderung zum Trinken' in Beziehung gesetzt werden müßte. Zu diesem Brauch vgl. BISCHOFF, S. 6 4 f. Die Kritik daran findet sich bei OEXLE (wie Anm. 1 9 ) S. 3 1 7 und S. 3 1 9 zitiert. Einige der von Bischoff edierten Caritas-Lieder sind zwar auch in liturgischen Büchern überliefert, aber es handelt sich dabei in keinem Fall um ein Sakramentar, sondern etwa um Antiphonare, Hymnare oder Lektionare. Vgl. S C H M I D (wie Anm. 25) S . 119 f.: „Die Gebetsverbrüderung, die dem pactum, dem conuiuium samt dem Caritaslied und der memoria nicht e n t r i e t . . . " Besonders greifbar ist dieser Zusammenhang bei einigen von B I S C H O F F (wie Anm. 20) S . 75 edierten Caritasformeln. Bereits A N D R É W I L M A R T , Le règlement ecclésiastique de Berne, in: Revue Bénédictine 51, 1939, S. 37—52 hatte auf diese Statuten aufmerksam gemacht, aber erst G I L L E S G É R A R D M E E R S S E M A N verknüpfte sie mit dem Eintrag im Ottobonianus: Die Klerikervereine von Karl dem Großen bis Innozenz III., in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 46, 1952, S. 1—42 und S. 81 — 112; mit Abweichungen wiederholt in: DERS., Ordo Fraternitatis. Confraternite e Pietà dei Laici nel Medioevo (Italia Sacra) Roma 1977, 1, S. 154 — 169, Edition S. 161 — 165, und jüngst J A N G E R C H O W , Facite usque ad diem aniuersarium eius. Die Statuten der Zwölf-Apostel-Bruderschaft im Berner Codex AA 90 als Memorialzeugnis, in: Freiburger Festgabe für Herrn Prof. Dr. Karl Schmid zu seinem 65. Geburtstag, S.25 —36 (wird demnächst veröffentlicht). Wiedergegeben bei W I L M A R T (wie Anm. 34) § 2. Dabei fallen zwei merkwürdige Lesungen — vielleicht Abschreibfehler — ins Auge. In Z. 14 f.: Nam ut Caritas coniungit, et abstinentes (statt: absentes), sic discordiae seiungit et présentes . . . In Z. 21 f.: Ubi fratres in uinum (statt: in unum) glorificant, ibi dabit dominus benedictionem.
Impetrate
felicia
/ nobis dare
conuìuìa
177
teilbaren Anzahl der Verse und in dem cum Anschluß an die Nennung der Apostel Petrus, Paulus und Andreas 36 . Wie schon in der Frage des Caritastermins ist also auch hier keine eindeutige Entscheidung möglich. Bedenkenswert bleibt aber der Überlieferungszusammenhang unseres Caritas-Liedes, in einer Lage mit den Nameneinträgen, so daß es wohl künftig als ein wichtiges Zeugnis herangezogen werden muß für die Charakterisierung des Ottobon. lat. 313 als Memorialcodex und für die Verbrüderungsbewegung im Pariser Raum allgemein.
36
Einschnitte gibt es nach Zeile 6, 12 und 18, eine inhaltlich wichtige Verszeile stellt Z. 12 dar. Siehe oben S. 171. Socii ist eine häufige Bezeichnung der Caritas-Genossen, so etwa auch in einem von Bischoff erwähnten Caritas-Lied: O socii, sine fine deurn, carmine iam resonemus eum, qui sua munera rite dedit,... (MGH Poetae 2, S. 246 f.). Da sie aber auch für die Gemeinschaft der Apostel und andere Heiligengruppen verwendet wird, kann wohl kaum eine sichere Zuweisung zu unserer ZwölfApostel-Bruderschaft vorgenommen werden.
JÖRG W. BUSCH
Barnabas, Apostel der Mailänder Uberlieferungsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung einer stadtgeschichtlichen Tradition*
Petrus cum Rome esset, per omnem Ytaliam, Gallias, Hyspanias, Affricam Siciliamque et insulas interiacentes sacerdotes instituit, licet Mediolanenses ecclesiam suam mentiantur a Barnaba sumpsisse principium.1 Mit diesen harschen Worten geißelte zu Beginn des 13. Jahrhunderts der Cremoneser Bischof Sicard die Bemühungen der Mailänder, das Christentum in ihrer Stadt auf den Apostel Barnabas zurückzuführen. Die Rückbesinnung auf die Anfange der Kirche von Mailand ging im Laufe des 13. Jahrhunderts so weit, daß Barnabas nicht mehr nur als Glaubensbote, sondern auch als erster Bischof der Stadt bezeichnet und schließlich sogar behauptet wurde, er habe in Rom noch v o r Petrus das Christentum gepredigt 2 . Damit zielte die Argumentation insgesamt auf die Begründung einer eigenständigen apostolischen Sukzession und so auf die Gleichrangigkeit mit der Kirche von Rom 3 . Diese Legende trat neben die ältere
* Das Manuskript wurde den Herausgebern im Sommer 1988 zur Aufnahme in die Frühmittelalterlichen Studien vorgelegt. Da mir als einem der Herausgeber gleichzeitig bekannt wurde, daß eine Monographie von Paolo Tornea (Mailand) zum Thema kurz vor dem Erscheinen stand, wurde der Beitrag nicht in Band 23, 1989, aufgenommen. Herrn Tornea sei für die freundschaftlichen Gespräche bei der Abstimmung über die Veröffentlichung und den ebenso großzügigen wie sachdienlichen Vorschlag, die Studie von J . W. Busch parallel zu seiner Publikation erscheinen zu lassen, sehr herzlich gedankt. Sein Buch wird voraussichtlich zum Erscheinungstermin dieses Zeitschriftenbandes vorliegen: PAOLO TOMEA, Tradizione apostolica e coscienza cittadina a Milano nel medioevo. La leggenda di s. Barnaba (Biblioteca erudita. Studi e documenti di storia e di filologia 2) Milano 1990. 1
Hägen Keller Sicard von Cremona, Chronica, hg. von OSWALD HOLDER-EGGER ( M G H SS 31) Hannover 1903, S. 1 0 5 , 1 6 ff.
2
Hier sind zu nennen: der Anfang der Bischofsliste im Beroldus novus von 1269 (Mailand, Biblioteca d e l C a p i t o l o M e t r o p o l i t a n o II D 2 . 2 8 ) f o l . 4 1 5 r — 4 2 4 r , h g . v o n LUDWIG CONRAD BETHMANN —
WILHELM WATTENBACH ( M G H SS 8) Hannover 1848, S. 102 Anm. a; der Liber Notitiae sanctorum Mediolani,
hg.
von
M A R C O M A G I S T R E T T I — U G O M O N N E R E T DE V I L L A R D , M i l a n o
1917,
S p . 5 2 f.,
Nr. 50; die annalistischen Notizen nach der Chronik des Goffredo da Bussero, hg. von LEONIDA GRAZIOLI, La cronaca di Goffredo da Bussero, in: Archivio storico lombardo 33 ( = ser. 4,5), 1906, S. 227—245; und Bonvesin da la Riva, De magnalibus Mediolani IV 20 und VIII 7. Testo a fronte. T r a d u z i o n e d i GIUSEPPE PONTIGGIA. I n t r o d u z i o n e e n o t e di MARIA CORTI, M i l a n o 1974, S. 104/106
und S. 180/182. 3
Die Ausformung der These von der apostolischen Gründung der Mailänder Kirche im 13. Jahrhundert behandelt BARBARA SASSE TATEO in ihrer Münsteraner Dissertation über Bonvesin, die im Wintersemester 1989/90 angenommen wurde; vgl. künftig DIES., Tradition und Pragmatik bei Bonvesin da la Riva. Studien zu Bonvesin da la Riva und seiner Schrift 'De magnalibus Mediolani'. Die Autorin gewährte freundlicherweise Einsicht in das Manuskript; hierfür gilt ihr herzlicher
Barnabas, Apostel der Mailänder
179
Berufung auf den Kirchenlehrer Bischof Ambrosius, um die Eigenständigkeit der Kirche von Mailand zu begründen. Die Frage, wann zu diesem Zweck erstmals der Apostel Barnabas angeführt wurde, berührt ein zentrales Problem der älteren Mailänder Stadtgeschichtsschreibung. Denn für die Anfange der Barnabas-Tradition kann auf jenen Text 'De adventu Barnabae apostoli' verwiesen werden, der in dem sogenannten 'Libellus de situ urbis Mediolani' auf eine Epistola dedicatoria und eine Proömium genannte knappe Stadtbeschreibung folgt und dem sich die Viten der sechs ersten Mailänder Bischöfe Anathalon, Gaius, Castritian, Kalimerus, Mona und Maternus anschließen 4 . Weil diese Zusammenstellung der Frühzeit Mailands gewidmet ist und zudem offensichtliche Datierungsanhaltspunkte fehlen, ist ihre Abfassungszeit bis heute umstritten. Die vorgeschlagenen Datierungen bewegen sich zwischen dem 6. und 11. Jahrhundert. Nach einer ausführlichen Diskussion aller Ansichten trat Colombo für das 8. Jahrhundert ein 5 . Er verwarf damit die Überlegungen von Duchesne und Savio, die für das frühe bzw. späte 11. Jahrhundert plädierten 6 , ging aber auch über die von Ferrai mehrfach vorgetragene Ansicht einer Entstehung im 10. Jahrhundert hinaus 7 . Während Violante den 'Libellus' unter den Mailänder Verhältnissen des 9. Jahrhunderts abgefaßt sah, kamen Picard und Tomea zu dem Schluß, das Werk müsse zwischen dem ausgehenden 10. und dem frühen 11. Jahrhundert entstanden sein 8 . Bei diesen Datierungen ist zu Recht darauf verwiesen worden,
4
Dank, ebenso für die gute Zusammenarbeit im Teilprojekt A des Sonderforschungsbereiches 231 an der Universität Münster. Anonymi Mediolanensis Libellus de situ civitatis Mediolani, de adventu Barnabae apostoli et de vitis priorum pontificum Mediolanensium, hg. von ALESSANDRO und GIUSEPPE COLOMBO (Rerum Italicarum Scriptores 2 1.2) Bologna 1942. Eine von ihm besorgte neue Edition im Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis kündigt an PAOLO TOMEA, Le suggestioni dell'antico. Qualche riflessione sull'epistola proemiale del 'De situ civitatis Mediolani' e sulle sue fonti, in: Aevum. Rassegna di scienze storiche linguistiche e filologiche 63, 1989, S. 172—185, S. 172 Anm. 1. Diesen Beitrag stellte Professor Paolo Tomea, Mailand, freundlicherweise vorab in einer Kopie der ersten Druckfahne zur Verfügung, wofür ihm auch an dieser Stelle vielmals gedankt sei.
5
COLOMBO ( w i e A n m . 4 ) S .
6
FEDELE SAVIO, Gli antichi vescovi d'Italia dalle origini al 1300 descritti per regioni: Milano (Biblioteca ¡storica della antica e nuova Italia 111) Firenze 1913, Nachdruck Bologna 1971, S. 50 — 56 bzw. S. 661 —717 zu seiner These, die 'Historia Mediolanensis Landulfi senioris' und der 'Libellus' gingen auf den gleichen Verfasser zurück. Angeregt hatte diese Überlegungen Louis DUCHESNE, Saint Barnabé, in: Mélanges G. B. Rossil. Supplément aux Mélanges d'archéologie et d'histoire de l'école française de Rome 12, 1892, S. 41—71, insbesondere S. 49—65. Trotz Kritik an Savios These stellte EMILIO GALLI, Corso di storia milanese, 1, Milano antica (dalle origini alla fine del secolo IV), Milano 1920, S. 181 — 199, eindeutig heraus, daß der Barnabas-Kult in Mailand nicht vor dem Ende des 11. Jahrhunderts aufkam. LUIGI ALBERTO FERRAI, II 'De situ urbis Mediolanensis' e la chiesa ambrosiana nel secolo X, in: Bullettino dell'Istituto storico italiano per il medioevo 11, 1892, S. 99 — 160, und DERS., Le 'Vitae pontificum Mediolanensium' ed una sylloge epigrafica del secolo X, in: Bullettino 16, 1895, S. 5 — 47, sowie die davon ausgehenden Untersuchungen von DEMS., Gli annali di Dazio e i Patarini, in: Archivio storico lombardo 19 ( = ser. 2,9), 1892, S. 509 — 548, und von DEMS., I fonti di Landolfo seniore, in: Bullettino 14, 1895, S. 7 — 70, insbesondere S. 9 Anm. 1, die Stellungnahme gegen
7
DUCHESNE ( w i e A n m . 8
I-CXVIII.
6).
CINZIO VIOLANTE, La società milanese nell'età precomunale (Collana dell'Istituto italiano per gli studi storici) Bari '1953, S. 240 Anm. 67 (3. Aufl.: Biblioteca universale Laterza 11, Bari 1981, S.
180
Jörg W. Busch
daß der 'Libellus de situ urbis', der die eigenständigen Anfange der Mailänder Kirche dokumentieren will, unter der historischen Konstellation eines Gegensatzes zu den übrigen italienischen Metropoliten bzw. zur Kirche von Rom entstanden sein muß. Ungeprüft blieb dabei allerdings die Frage, ob sich eine Verehrung des Apostels Barnabas in weiteren Quellen nachweisen läßt, die aus jenen Zeitabschnitten stammen, in denen der 'Libellus de situ urbis' entstanden sein soll. Für dessen Datierung erscheinen gerade unabhängige Zeugnisse als hilfreich, die sowohl das frühe Auftreten des Apostels Barnabas im Leben der Ambrosianischen Kirche als auch die erstmalige Kritik an der so behaupteten apostolischen Gründung belegen. Die Materialien, die für diese Fragestellung herangezogen werden können, sind zwar nicht sehr breit gestreut, doch ergeben sie folgendes aufschlußreiche Bild. Dem umfangreichen Werk des Bischofs Ambrosius von Mailand ( f 3 9 7 ) ist zu entnehmen, daß ihm die apostolische Gründung seiner Kirche unbekannt war. Sofern er als Theologe überhaupt auf Barnabas einging, betonte er lediglich, dieser sei auf Grund seiner Berufung durch den Heiligen Geist des Apostelkollegiums nicht weniger würdig als die anderen Mitglieder 9 . Keinerlei Anspielung auf Barnabas findet sich hingegen im Werk des Mailänder Diakons und späteren Bischofs von Pavia Magnus Felix Ennodius (-J- 521), der auch 'Carmina' über die Mailänder Bischöfe von Ambrosius bis Theodorus (374—475) verfaßte. Die frühen sechs Bischöfe finden sich dabei nicht einmal erwähnt 1 0 , vielmehr wurden zwei von ihnen, Kalimerus und Maternus, erstmals in den zwischen 731 und 739 entstandenen 'Laudes Mediolanensis civitatis' genannt 11 . Ungefähr 50 Jahre später bezeichnete
9
10
11
299 Anm. 67). Nach PAOLO TOMEA, L'agiografia milanese nei secoli XI e XII. Linee di tendenza e problemi, 1, in: Milano e il suo territorio in età comunale (XI —XII secoli), 2 (Atti d e l l ' l l 0 congresso internazionale di studi sull'alto medioevo, Milano 26 — 30 ottobre 1987, 2) Spoleto 1989, S. 623 — 687, S. 643, 655 und 668, sowie nach DEMS. (wie Anm. 4) S. 172, könnte der Libellus zwischen den letzten Jahrzehnten des 10. Jahrhunderts und 1018, vielleicht zur Zeit Erzbischof Arnulfs II. von Mailand (998 — 1018), entstanden sein; zu diesem Schluß kommt auch JEAN-CHARLES PICARD, Le Souvenir des évêques. Sépultures, listes épiscopales et culte des évêques en Italie du Nord des origines au X e siècle (Bibliothèque des Écoles françaises d'Athènes et de Rome 268) Rome 1988, S. 450 — 459. Die zwischen Ferrai und Duchesne vermittelnde Datierung wird Paolo Tomea in einer größeren Studie begründen, so daß hier auf seine Überlegungen noch nicht eingegangen werden kann, vgl. künftig DERS., Tradizione apostolica e coscienza cittadina a Milano nel medioevo. La leggenda di s. Barnaba (Biblioteca erudita. Studi e documenti di storia e di filologia 2) Milano 1990, dazu oben die einleitende Anmerkung des Herausgebers. Ambrosius von Mailand, De spiritu sancto liber 2,157 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 79) Wien 1964, S. 149; vgl. auch ders., Commentaria in epistolam ad Corinthos primam, cap. 9 (zu Vers 12) (MIGNE, PL 17) Sp. 230B. Weiter ging Ambrosius nicht auf Barnabas ein, folgt man den Registern der entsprechenden Bände in den genannten Editionsreihen. Für die Unterstützung bei deren Durchsicht sei Herrn Peter Lütke Westhues gedankt. Magnus Felix Ennodius, Carmina de episcopis Mediolanensibus, in: ders., Opera, hg. von FRIEDRICH VOGEL (MGH Auct. Antiq. 7) Berlin 1885, S. 1 6 2 - 1 6 7 . Carmen 1, hg. von ERNST DÜMMLER (MGH Poetae Lat. 1) Berlin 1881, S. 24 ff. Ebenfalls Kalimerus und Maternus treten als einzige der frühen Bischöfe auch in den Litaneien der älteren Ambrosianischen Liturgie aus dem 10. Jahrhundert folgender Codices Ambrosiani auf: Trotti 251 (9./10. Jh.), S. 185 und 283, A 21 inf. (10. Jh.), fol. 124r und 183v, T 120 sup. (10./11. Jh.), fol. 75r, und I 127 sup. (11./12. Jh.), fol. 101r. Ebenfalls nur Kalimerus und Maternus nennen die Litaneien des Cod.
181
Barnabas, Apostel der Mailänder
der Langobardengeschichtsschreiber Paulus Diaconus in seinem Werk über die Metzer Bischöfe den ersten Mailänder Bischof Anathalon als von Petrus beauftragt 12 . Diese frühen Zeugnisse belegen, daß der Gedanke einer Missionstätigkeit des Barnabas in Mailand nicht vor dem 8. Jahrhundert aufgekommen sein kann. Wenn diese Vorstellung aber mit der Abfassung des 'Libellus de situ urbis' im 8. (Colombo), im 9. (Violante), im 10. Jahrhundert (Ferrai) oder um das Jahr 1000 (Picard und Tomea) Gestalt gewonnen haben soll 13 , dann ist zu erwarten, daß dieser für das Selbstverständnis der Mailänder Kirche wichtige Gedanke auch ihr gesamtes geistliches Leben durchdrang. Hierfür aber bieten die älteren Zeugnisse der Ambrosianischen Liturgie und Heiligenverehrung keinen Beleg. Wiewohl dieser Umstand bereits von Duchesne und Galli kurz beschrieben wurde 14 , sei er an Hand der zwischenzeitlich edierten Quellen und weiterer Handschriften illustriert. Im ältesten erhaltenen Ambrosianischen Sakramentar, dem Codex Ambrosianus A 24 bis inf. aus Biasca, fehlt jeder Hinweis auf den Apostel Barnabas 15 , ebenso in den Codices Ambrosiani Trotti 251 und A 24 inf. aus dem 10. Jahrhundert. Wie schon in diesen Handschriften muß gar im Sakramentar des Mailänder Erzbischofs Aribert (1018 — 1045) beobachtet werden 16 , daß die an zwei Stellen fast deckungsgleich aufgeführte Liste der Apostel, Evangelisten und Märtyrer den Apostel Barnabas nicht nennt, der auch keine eigene Anrufung erhalten hat 17 . Beachtenswert ist, daß in diesen Listen wie selbstverständlich an 25. Position Apollinaris steht, auf den der mit Mailand konkurrierende Erzstuhl von Ravenna zurückgeführt wird. An 38. Stelle erscheint Ambrosius, an 29. und 30. die von ihm aufgefundenen Heiligen Protasius und Gervasius, sowie an 34. und 35. Kalimerus und Maternus, die wie in den 'Laudes Mediolanensis civitatis' und den älteren Zeugnissen der Ambrosianischen Liturgie als einzige der frühen Mailänder Bischöfe genannt werden 18 . Auch das 'Sacramentarium Triplex' aus dem 10. Jahrhundert führt den Ambr. D 87 sup. (12. Jh.), fol. 1 1 6 r und 172r, der aber auf fol. 222r/v bereits eine eigene BarnabasMesse enthält. 12
Pauli Warnefridi Liber de episcopis Mettensibus, hg. v o n GEORG HEINRICH PERTZ ( M G H SS 2)
13
Dazu oben A n m . 5 und 7 f.
14
DUCHESNE
Hannover 1829, S. 261. (wie
Anm.
6)
S.
50 ff.,
und
GALLI
(wie
Anm.
6)
S.
1 8 8 f.
Die
liturgischen
und
kalendarischen Zeugnisse sind eingehender vorzustellen, da sie v o n PICARD (wie Anm. 8) S. 450 — 459, v o n CESARE ALZATI, Chiesa ambrosiana e tradizione liturgica a Milano tra X I e X I I secolo, 1, in: Milano e il suo territorio in età comunale (wie A n m . 8) S. 385—423, S. 4 0 5 — 4 1 1 , und von TOMEA, Agiografia (wie Anm. 8) S. 641 ff., 654—668, nicht bzw. noch nicht berücksichtigt werden. 15
Das Ambrosianische Sakramentar von Biasca. Die Hs. Mailand Ambrosiana A 24bis inf., Teil 1: Text. Mit Hilfe des Skriptoriums der Benediktinerinnenabtei Varensell untersucht und hg. v o n ODILO HEIMING (Corpus Ambrosiano Liturgicum 2 =
Liturgiewissenschaftliche Quellen und
Forschungen 51) Münster 1969. 16
ANGELO PAREDI, IL sacramentario di Ariberto. Edizione del ms. D 3.2 della Biblioteca del Capitolo Metropolitano di Milano, in: Miscellanea Adriano Bernareggi, hg. von LUIGI CORTESI (Monumenta Bergomensia 1) Bergamo 1958, S. 3 2 9 - 4 8 8 .
17
Ebd. S. 388 f. und 426 f., Formel 4 1 4 und 572; Cod. Ambr. Trotti 251, S. 185 und 283, sowie A 24 inf., fol. 1 2 3 v —124r und 183v.
18
Wie Anm. 17, lediglich stehen in der Litanei v o n Cod. Ambr. Trotti 251, S. 185, Apollinaris an 15., Protasius und Gervasius an 19. und 20., Kalimerus und Maternus an 24. und 25., sowie Ambrosius an 28. Stelle; zu den beiden frühen Bischöfen oben A n m . 11.
182
Jörg W. Busch
Apostel Barnabas nicht in den Ambrosianischen Meßtexten, sondern bei den orationes quotidianae der Gelasianischen Messe an 19 . Eine eigene Messe für Barnabas liegt bereits Ende des 9. Jahrhunderts im Sakramentar der Modeneser Kapitelsbibliothek, Hs. O.II.7, vor 20 . In Mailand hingegen findet sich Barnabas erstmals in jenem benediktinisch-ambrosianischen Gebetbuch des Codex Egerton 3763 (vorm. Dyson Perrins 48), das nach gängiger Anschauung in die Zeit des Mailänder Erzbischofs Arnulf II. (998 — 1018) gesetzt wird, Heiming zufolge aber eher nach 1018 im Skriptorium von S. Ambrogio in Mailand entstand 21 . Diese Handschrift nun nennt bei der Station S. Protasio in Campo Apostel und Evangelisten, Protasius und Gervasius, sowie am Schluß Ambrosius und Benedikt 22 . In dieser Aufzählung steht der Apostel Barnabas, dem an anderer Stelle keine eigene Anrufung gewidmet ist, ohne jede Hervorhebung. Von den frühen, noch nicht genannten Mailänder Bischöfen des "Libellus de situ urbis' wird zunächst noch der fünfte, Mona, unter dem 12. Oktober aufgeführt. Damit dürfte der Tag bezeichnet sein, an dem seine Gebeine zur Zeit des Erzbischofs Arnulf II. aufgefunden wurden 23 . Der dritte der frühen Bischöfe, Castritian, scheint nachträglich in die Litanei aufgenommen worden zu sein, weil ihn sonst nur der spätere Beroldus-Kalender des Codex Ambrosianus I 152 inf. verzeichnet 24 . Dieser Befund deutet aber darauf hin, daß das Gebetbuch des Codex Egerton 3763 deutlich nach 1018 entstand, denn das Ambrosianische Sommer-Missale des Codex Ambrosianus T 120 sup., das aus der Zeit Konrads II. (j-1039) stammen dürfte 25 , führt in der Liste der communicantes Barnabas noch nicht und von den frühen Bischöfen nur Kalimerus und Maternus an 26 . Alle frühen Bischöfe hingegen finden sich erstmals in der Litanei zur Geburt des Herrn im 'Manuale Ambrosianum'
19
20
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22
23
Das Sacramentarium Triplex. Die Hs. C 43 der Zentralbibliothek Zürich, Teil 1: Text. Mit Hilfe des Scriptoriums der Benediktinerinnenabtei Varensell untersucht und hg. \ • m ODILO HEIMING (Corpus Ambrosiano Liturgicum 1 = Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 49) Münster 1968, S. 5, Formel 44. JEAN DESHUSSES, Le sacramentaire grégorien (Spicilegium Friburgense 16) Freiburg i. Ü. 1971, S. 698, Formel 161* ff., entspricht den Meßtexten für Nicomedes, ebd. S. 234. Formel 556ff. Nach ADALBERT EBNER, Quellen und Forschungen zur Geschichte und Kunstgeschichte des Missale Romanum im Mittelalter. Iter Italicum, Freiburg i. Br. 1896, S. 95, gehört die Barnabas-Messe zum Grundbestand der Modeneser Hs. ODILO HEIMING, Ein benediktinisch-ambrosianisches Gebetbuch des frühen 11. Jahrhunderts, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 8.2, 1964, S. 325—435. Ebd. S. 386; ebenfalls bei der Station S. Protasio in Campo, aber auch bei S. Nazaro im 'Manuale Ambrosianum', Cod. Ambr. I 55 sup. (12. Jh.), fol. 191r und 195v. HEIMING ( w i e A n m . 2 1 ) S . 3 5 4 ; PICARD ( w i e A n m . 8 ) S. 4 5 3 .
24
HEIMING ( w i e A n m . 2 1 ) S. 3 6 6 .
25
Vgl. HEIMING in der Einleitung zum Sakramentar von Biasca (wie Anm. 15) S. X X X I X , sowie zur Hs. die Beschreibung von MIRELLA FERRARI, Produzione libraria e biblioteche nei secoli XI e XII, in: Milano e il suo territorio in età comunale 2 (wie Anm. 8) S. 689—735, S. 690 f. Cod. Ambr. T 120 sup., fol. 75r, wurde der Name des Barnabas vielmehr in einer späteren Kursive zwischen den Namen des Thaddeus und des Sixtus nachgetragen; eine eigene Barnabas-Messe bietet dieser Sommerteil des Missale ebenfalls nicht. Ein Winterteil hat sich erst im Cod. Ambr. I 127 sup. aus dem 12. Jahrhundert erhalten, wobei die dortige Liste der communicantes fol. lOOv —lOlr nur Kalimerus und Maternus, nicht aber Barnabas nennt.
26
Barnabas, Apostel der Mailänder
183
(Cod. Ambr. 155 sup.), das allerdings nicht bedeutend älter als der gegen 1130 entstandene 'Beroldus vetus' sein kann 27 . Das Sakramentar von S. Simpliciano des Mailänder Codex Metropolitanus D 3.3 muß, wiewohl es wahrscheinlich schon um das Jahr 900 entstand 28 , zuletzt genannt werden. Denn obwohl die dortige Liste der Apostel, Evangelisten und Märtyrer den gleichen Befund wie das wesentlich jüngere Aribert-Sakramentar bietet 29 , weist die Handschrift von S. Simpliciano doch gegenüber allen anderen eine Besonderheit auf. Auf die Versoseite des Folium 201 setzte nämlich eine spätere Hand über das Formular 122 Orationes et preces in natali unius apostoli folgenden Text, der die ganze Breite des oberen Randes ausfüllt: Deus qui nos beati Barnabe apostoli tui meritis et intercessione letificas • concede propitius • ut qui eius beneficia possimus • dona tuae gratiae consequamur: per^°. Mit diesem eindeutigen Nachtrag, der der ersten Formel der Barnabas-Messe im Modeneser Sakramentar O.II.7 entspricht 31 , liegt der erste Mailänder Beleg für eine eigene Oratio des Barnabas vor, deren zeitliche Einordnung zumal angesichts eines Textumfanges von zweiein viertel Zeilen ohne die Erfahrung jahrzehntelanger paläographischer Beobachtungen unsicher bleiben muß. Dennoch sei die Aussage gewagt, daß der Nachtrag nicht aus dem 10. Jahrhundert stammt, in dem das Sakramentar entstand, sondern dem 11. Jahrhundert angehört, auf das einige seiner Formen hindeuten, die neben älteren stehen32. Diese Datierung kann dadurch gestützt werden, daß die Oratio für Barnabas mit einem weiteren Meßtext zur Feier seines Tages erstmals im Codex Ambrosianus I 55 sup., dem bereits angeführten 'Manuale Ambrosianum', als integraler Bestandteil einer Mailänder liturgischen Handschrift auftritt 33 . Dieser Codex wird nach dem Vermerk auf seinem vorderen Schutzblatt allgemein dem 11. Jahrhundert zugewiesen, doch sprechen die feineren, gebrochenen Schriftzüge eher für das 12.
27
28
29 30 31 32
33
Cod. Ambr. I 55 sup., fol. 278r—279r, insbesondere fol. 279r; dort, in den oben (Anm. 22) genannten Litaneien sowie in den auf fol. 280r und 283r findet sich auch Barnabas, bei der Station S. Vitale fol. 192v Mona, bei S. Nabore fol. 193r Gaius und Maternus, bei S. Kalimero fol. 195r dieser selbst, bei Giovanni ad Concham fol. 196r Castritian; zur Datierung der Hs. unten nach Anm. 33. Ebenfalls alle frühen Bischöfe bietet die Litanei zur Geburt des Herrn im Manuale Ambrosianum des Cod. Ambr. A 189 inf. von 1188, fol. 137v —138r, und im Collectionar aus S. Tecla von 1276 (Cod. Ambr. D 159 inf.), fol. 84v—85v. Das ambrosianische Sakramentar D 3-3 aus dem mailänder Metropolitankapitel. Eine textkritische und redaktionsgeschichtliche Untersuchung der mailänder Sakramentartradition von JULIANE FREI (Corpus Ambrosiano Liturgicum 3 = Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 56) Münster 1974, S. 21. Ebd. S. 272, Formel 663. Ebd. S. 282. DESHUSSES (wie Anm. 20) S. 698, Formel 161*, bzw. S. 234, Formel 556. Dazu Abb. 18; die Vorlage stellte freundlicherweise Don Valentini, Leiter der Biblioteca del Capitolo Metropolitano, Mailand, zur Verfügung, wofür ihm auch an dieser Stelle verbindlichst gedankt sei. Dank gebührt auch der Herausgeberin des Sakramentars D 3.3 (wie Anm. 28), Äbtissin Juliane Frei, Varensell, die vorab eine Photokopie nach einer Aufnahme von fol. 201v übermittelte. Cod. Ambr. I 55 sup., fol. 21 Ir: A ORATIO. Deus, qui multitudinem gentium beati apostoli tui barnabe predicatione docuisti, da nobis quaesumus, ut cuius natalicia colimus, eius apud te patrocinia sentiamus: per. B (Text zu Anm. 30).
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J ö r g W. Busch
Jahrhundert; allerdings steht die Handschrift zeitlich v o r dem Codex Ambrosianus D 87 sup. aus dem 12. Jahrhundert, in dem der Meßtext um drei weitere Formeln ergänzt wurde 3 4 , wobei die meisten Formeln der Barnabas-Messe denen für andere Heilige in älteren Mailänder Sakramentaren nachgebildet sind 35 . Die drei Formeln, die nach dem Modeneser Sakramentar O.II.7 bereits im 9. Jahrhundert bekannt waren, fanden also nicht v o r dem Ende des 11. Jahrhunderts vollständigen Eingang in die Mailänder Liturgie 36 . Der Nachtrag des ersten Meßtextes für Barnabas im Sakramentar von S. Simpliciano wäre v o r den genannten, späteren liturgischen, aber auch v o r den Handschriften mit dem Text 'De adventu Barnabae' anzusetzen, die aus dem ausgehenden 11. Jahrhundert stammen. Die Datierung des liturgischen Nachtrags in das 11. Jahrhundert fände eine Parallele in den Mailänder Heiligenkalendern, die ein weiteres wichtiges Zeugnis für das geistliche Leben der Ambrosianischen Kirche darstellen, deren Überlieferung allerdings erst im 11. Jahrhundert einsetzt. Damit ihre bislang unterschätzte Bedeutung für die vorliegende Fragestellung herausgestellt werden kann, muß daher die Barnabas-Verehrung außerhalb Mailands berücksichtigt werden 3 7 . Nach seiner Erwähnung in Bedas Martyrologium 3 8 erscheint der Apostel im 9. Jahrhundert in 34
Cod. Ambr. D 87 sup., fol. 222t/v: A und B (wie Anm. 33), C SUPER OBLATA. Munera domine oblata sanctifica et intercedente beato apostolo tuo barnaba nos per haec a peccatorum nostrorum maculis emunda: per. D PRAEFATIO. UD Aeterne deus, qui dum beati apostoti tui barnabe mérita gloriosa veneramus, auxilium nobis tuae propitiationis ad fore deprecamus, qui credidimus per eius intercessione, qui tibi placuit peccatorum nostrorum veniam impetrare: per Christum. E POST COMMUNION EM. Supplices te rogamus omnipotens deus, ut quos tuis reficis sacramentis, intercedente beato barnaba apostolo tuo tibi etiam placitis moribus dignanter tribuas deservire: per. Das Manuale Ambrosianum von 1188, Cod. Ambr. A 189 inf., fol. 108r, und das Collectionar aus S. Tecla von 1276, Cod. Ambr. D 159 inf., fol. 44v—45r, beschränken sich wiederum wie Cod. Ambr. I 55 sup., fol. 21 l r , auf die Formeln A und B (wie Anm. 33).
35
Die hier mit A bis E bezeichneten Formeln der Barnabas-Messe, die in Cod. Ambr. D 87 sup., fol. 222r/v, vollständig vorliegen, lassen in den edierten Sakramentaren folgende Vorlagen erkennen: A (wie Anm. 33) ersetzt im Text von S. Simpliciano (wie Anm. 28) S. 340, Formel 1014, bzw. im Sacramentarium Triplex (wie Anm. 19) S. 191, Formel 2099, Paulus durch Barnabas. B (wie Text zu Anm. 30) entspricht Biasca (wie Anm. 15) S. 125, Formel 870, bzw. Triplex, S. 180, Formel 1979, für Vitus, sowie Triplex, S. 143 und 174, Formel 1599 und 1925, für Georg bzw. Nicomedes. C (wie Anm. 34) bietet einen erweiterten Text auf der Grundlage von Biasca, S. 30 bzw. 38, Formel 205 bzw. 266, sowie von Sacramentarium Triplex, S. 144, 174, 184 f. und 256, Formel 1601, 1926, 2020, 2032 und 2732, für Georg, Nicomedes, Johannes Baptist und Clemens. D (wie Anm. 34) läßt weder in den Sakramentaren von S. Simpliciano und Biasca, noch im Sacramentarium Triplex eine Vorlage erkennen. E (wie Anm. 34) ergänzt den Text von S. Simpliciano, S. 248, Formel 528, von Biasca, S. 47, Formel 328, bzw. Sacramentarium Triplex, S. 34, 53, 64, 72, 144, 154 und 174, Formel 375, 585, 753, 848, 1604, 1710 und 1927, wobei die Formeln 1604 und 1927 wie bei D Georg und Nicomedes gewidmet sind.
36
Die Formeln B (wie Text zu Anm. 30), C und E (wie Anm. 34) entsprechen DESHUSSES (wie Anm. 20) S. 698, Formel 161* ff. Vgl. zum folgenden PIERRE JOUNEL, Le culte des saints dans les basiliques du Latran et du Vatican au douzième siècle (Collection de l'école française de Rome 26) R o m 1977. HENRI QUENTIN, Les martyrologes historiques du moyen âge, Paris 1908, S. 51. Daß Bedas Martyrologium in Mailand zumindest vorhanden war, bezeugt die im 9. Jahrhundert entstandene Hs., Archivio Capitolare délia Basilica di S. Ambrogio, M 15, fol. 134r—162v. Bereits eine Hand des 9. Jahrhunderts trug für Mailand spezifische Festtage des Ambrosius, von Protasius und Gervasius, Maximus, Victor, Dionysius, Nabor und Felix, sowie von Nazarius und Celsus nach, die
37
38
185
Barnabas, Apostel der Mailänder
englischen Kaiendarien und in dem von St. Gallen 3 9 , doch erst um die Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert findet sein Fest weitere Verbreitung. Im römischen Kalender tritt es nicht v o r dem 11. Jahrhundert, dann und im 12. aber in drei der jeweils überlieferten sechs Handschriften auf 4 0 . Der älteste erhaltene Mailänder Kalender im Codex Bodleianus Can. Mise. 560, fol. 67 — 73, kennt das Fest des Barnabas nicht, vielmehr wurde es recht spät unter dem 11. Juni nachgetragen 41 . Die Eckdaten für die Entstehung des Kalenders selbst ergeben sich aus dem Fest des Hilarius am 13. Januar, dessen K u l t in Mailand nicht v o r dem Bau seiner Kirche 1055/6 aufgekommen sein dürfte 4 2 , und aus dem noch fehlenden Fest des Timotheus am 22. August, das 1074 durch eine Stiftung eingeführt wurde und dann rasche Verbreitung fand 43 . Zeitlich nach diesem Kalender entstand der des Mailänder Codex Metropolitanus E 2 . 1 6 , der das Fest des Barnabas bereits anführt; sein Terminus ante quem ergibt sich aus der unter dem 23. März vermerkten Feuerprobe des Presbiters Liprand im Jahre 1104, dessen Tod 1 1 1 3 unter dem 6. Januar vermerkt ist 44 . Ebenfalls das Fest des Barnabas verzeichnet der dritte der frühen Mailänder Kalender im Metropolitancodex D 2.30, der nach den paläographischen Merkmalen an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert entstand 45 . Der Kalender im "Beroldus vetus' des Codex Ambrosianus I 152 inf. schließlich nennt neben dem Apostel Barnabas bereits vier der sechs frühen Mailänder Bischöfe, nämlich Maternus, Kalimerus, Mona und Castritian 46 , während sich der Kalender des 12. Jahrhunderts im Codex Ambrosianus I 55 sup. und der des 14. Jahrhunderts im Codex Ambrosianus Trotti 251 auf Kalimerus, Mona und Castritian neben Barnabas beschränken 47 . Erst im 'Beroldus novus' des Metropoli-
39
frühen Bischöfe hingegen nicht; vgl. MIRELLA FERRARI, La biblioteca del monastero di S. Ambrogio: episodi per una storia, in: Il monastero di S. Ambrogio nel medioevo. Convegno di studi nel XII centenario: 7 8 4 - 1 9 8 4 , Milano 1988, S. 8 2 - 1 6 4 , S. 9 0 f . EMMANUEL MUNDING, Die Kaiendarien von St. Gallen 2, Beuron 1951, S. 11.
40
JOUNEL ( w i e A n m . 3 7 ) S . 1 3 8 u n d
4'
Auf diesen Umstand machte erstmals ODILO HEIMING, Die ältesten ungedruckten Kalender der mailänder Kirche, in: Colligere Fragmenta. Festschrift Alban Dold zum 70. Geburtstag am 7. 7.
149.
42
HEIMING (wie Anm. 41) S. 216, sowie GIORGIO GIULINI, Memorie spettanti alla storia, al governo ed alla descrizione della città e campagna di Milano ne'secoli bassi. Nuova edizione con note ed aggiunte, 2, Milano 1854, Nachdruck ebd. 1973, S. 368.
1 9 5 2 , h g . v o n BONIFATIUS F I S C H E R — V I R G I L F I A L A , B e u r o n 1 9 5 2 , S . 2 1 4 — 2 3 5 , S . 2 1 7 ,
aufmerksam.
43
HEIMING ( w i e A n m . 4 1 ) S . 2 1 7 , s o w i e GIULINI ( w i e A n m . 4 2 ) S.
44
HEIMING (wie Anm. 41) S. 215, und zur Feuerprobe des Liprand die Darstellung von Landulfi junioris (de S . P a u l o ) Historia Mediolanensis, cap. 15f., hg. von CARLO CASTIGLIONI (Rerum Italicarum Scriptores 2 5.3) Bologna 1934, S 1 1 , 2 9 - 3 6 . HEIMING (wie Anm. 41) S. 214. Ebenfalls das Fest des Barnabas führen die Kalender der Codices Ambrosiani I 55 sup. (12. Jh.), fol. 4r, und Trotti 251 (Beibindung des 14. Jh.), fol. Vv, an. MARCO MAGISTRETTI (Hg.), Beroldus sive Ecclesiae Ambrosianae Mediolanensis Kalendarium et Ordines saec. XII, Milano 1894, S. 7,1 (Barnabas), S. 8,16 (Maternus), S. 8,32 (Kalimerus), S. 11,32 (Mona) und S. 13,33 (Castritian), bzw. Cod. Ambr. I 152 inf., fol. X l r , XIv, X l l r , XIHr und XVr. Cod. Ambr. I 55 sup.: (1) II 2 " 5 + (2) I 7 + ( 3 - 3 7 ) IV 287 + (38) 2 + II 293 , so daß der Kalender fol. 2r —7r vorgebunden ist, wobei die Haupthand fol. 4r Barnabas und fol. 6r Mona, zwei spätere fol. 4v Kalimerus und fol. 7r Castritian eintrugen. Cod. Ambr. Trotti 251: [(1) I11 + (2) III VU1 + (im folgenden paginiert) (3) IV 1 6 + (4) II + l 2 6 14. Jh.] + (5) II + l 3 8 + ( 6 - 1 9 ) IV 262 + (20) I 266 + [(21) IV 282 14. J h . ] + (22) V + l 3 0 9 + ( 2 3 - 2 7 ) IV 384 + (28) IV + l 4 0 2 + (29) 3 + I 412 + [(30) I + l 4 1 8 14. J h . ] + (31) IV 434 + (32) 1 + III 448 + (33) V 468 + (34) III + l 4 8 2 + [ ( 3 5 - 3 6 ) IV 514 14.
45
41
47
500.
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tancodex II D 2.28 wurde in diesem Kalender unter dem 24. September, dem Fest S. Tecla, die Depositio s. Anathalonis primi archiepiscopi Mediolani nachgetragen 48 . Im ältesten Mailänder Kalender des Bodleianus hingegen waren erst drei der frühen Bischöfe verzeichnet, nämlich Maternus, Kalimerus und Mona 49 . Die früheste, bis Arnulf II. reichende Mailänder Bischofsliste des Bamberger Codex Can. 4, die wie alle folgenden nicht mit dem Apostel beginnt, nennt bereits alle sechs Bischöfe, führt aber vor Maternus noch Mirocles an 50 , dem keine Vita im 'Libellus de situ urbis' gewidmet ist. Die angeführten Zeugnisse lassen insgesamt erkennen, daß der Apostel Barnabas im liturgischen Leben der Ambrosianischen Kirche noch nicht einmal in dem Maße vertreten war, wie dies an Kirchen außerhalb Mailands und insbesondere in Rom der Fall war. Das Fehlen des Barnabas in dem prachtvollen Aribert-Sakramentar, das in der letzten Blüte der alten Ambrosianischen Kirche entstand, läßt sich schlecht mit einer in das 8. oder 9. Jahrhundert zurückreichenden apostolischen Herleitung vereinbaren, die in den Viten des 'Libellus de situ urbis' zum Ausdruck kommen soll. Ebenfalls nicht für eine alte Tradition, die bewußt in das Leben der Mailänder Kirche integriert wurde, spricht der Umstand, daß das Fest des Barnabas nicht zum überlieferten Bestand des ältesten Mailänder Heiligenkalenders, der zwischen 1055/6 und 1074 entstand, gehörte, sondern in ihn nachgetragen wurde. Wenn aber nicht einmal das Gedächtnis des Apostels vor dem letzten Viertel des 11. Jahrhunderts in der Ambrosianischen Kirche lebendig war, erhebt sich die Frage, ob die Herleitung dieser Kirche von Barnabas überhaupt ein Gegenstand alten Ambrosianischen Denkens war. Die verneinende Antwort auf diese Frage ergibt sich aus den gegensätzlichen Stellungnahmen, die aus der letzten Krise der Ambrosianischen Ordnung im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts hervorgingen, als das traditionelle Verständnis der Autonomie der Mailänder Kirche unter dem Ansturm der sozial und religiös motivierten patarinischen Bewegung der ekklesiologischen Konzeption der römischen Reform unterlag. Das erste Aufeinandertreffen des römischen und ambrosianischen Kirchenverständnisses, das aus der Sicht beider Parteien dokumentiert ist, ergab sich während der Legation des Petrus Damiani nach Mailand im Jahre 1059. Gegenüber dem Beharren auf der Ambrosianischen Autonomie, auf die er traf, sah sich der Reformer
Jh.] + (37) I", so daß der Kalender der fol. I l l r — V I I I v später vorgebunden wurde, wobei fol. V v Barnabas, fol. V i r Kalimerus, fol. V I I v Mona und fol. VIIIv Castritian v o n der Haupthand ausgeführt sind. Das Manuale Ambrosianum von 1 1 8 8 (laut fol. 141 r) des Cod. Ambr. A 1 8 9 inf. [1» + ( 1 - 1 8 ) IV 1 4 4 + (19) 1 + I I 1 4 9 ] bietet fol. 1 4 1 r - 1 4 9 v einen Kalender als integralen Hs.Bestandteil, in dem nur noch fol. 146r Barnabas und fol. 1 4 6 v Maternus und Kalimerus erkennbar sind, während die Dezemberseite (fol. 1 4 9 v ) völlig abgegriffen ist, so daß ein Eintrag f ü r Castritian nicht festgestellt werden kann. 48
MAGISTRETTI ( w i e A n m . 4 6 ) S. 1 1 A n m e r k u n g s z e i l e 2 z u Z . 7.
49
HEIMING ( w i e A n m . 4 1 ) S. 2 2 0 f.
50
SAVIO ( w i e A n m . 6) S . 2 8 f f . ; z u r B a m b e r g e r H s . P I C A R D ( w i e A n m . 8) S . 4 4 2 f., u n d
ANNAMARIA
AMBROSIONI, Milano e i suoi vescovi, in: Milano e il suo territorio in età comunale, 1 (wie A n m . 8) S. 2 9 1 - 3 2 6 , S. 3 1 7 Anm. 72. In der Bischofsliste des Cod. Ambr. C 133 inf., fol. 2 r - 4 v , setzte erst eine neuzeitliche Hand Barnabas über Anathalon.
Barnabas, Apostel der Mailänder
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genötigt, bei allem gebotenen Respekt vor dem Kirchenlehrer Ambrosius darauf hinzuweisen, daß es der Papst Linus gewesen sei, der den Glauben durch die Heiligen Nazarius und Celsus nach Mailand bringen ließ. Angesichts des Tumultes, der bei der Ankunft des römischen Legaten durch Vertreter der tradierten Ordnung geschürt worden war, dürfte Petrus Damiani wohl kaum seine ekklesiologische Konzeption vorgetragen haben, wenn die apostolische Gründung der Mailänder Kirche durch Barnabas im Denken und Fühlen der Angehörigen dieser Kirche verwurzelt war. Der Umstand, daß der Legat seine Zuhörer gar auffordern konnte, ihre alten Schriften zu durchforschen, um ihn zu widerlegen, zeigt vielmehr, wie sicher man den petrinischen Primatsanspruch aus römischer Sicht wähnte 51 . Zudem waren zur Begründung des Anspruchs mit Nazarius und Celsus zwei frühe Glaubenszeugen gewählt worden, die nach ihrer Auffindung durch Ambrosius in Mailand hohe Verehrung genossen 52 ; von der Taufe des Nazarius durch den ersten Petrusnachfolger Linus, die in einer "Passio Nazarii' mitgeteilt wird 53 , konnte aus römischer Sicht leicht der Auftrag zur Mission Mailands, wo der Heilige den Tod fand, abgeleitet werden. Die Argumentation des Petrus Damiani, der die Mailänder Kirche bereits in der Zeit des ersten Petrusnachfolgers an die römische band, überraschte den Mailänder Klerus, der gewöhnt war, die Eigenständigkeit seiner Kirche von Ambrosius herzuleiten. Noch 1073, als Arnulf — ein Vertreter dieser 'alten Ordnung' — das dritte Buch seines 'Liber gestorum recentium' abschloß, wußte er nach der Schilderung der Ereignisse von 1059 nichts weiter anzuführen als Veneranda est Roma in apostolo; est utique, sed nec spernendum Mediolanum in Ambrosia54. Eine ältere Herleitung der mailändischen Eigenständigkeit dürfte Arnulf nicht verschwiegen haben, wenn sie ihm bekannt gewesen wäre. Daher ist unwahrscheinlich, daß jene 'Commemoratio superbiae Ravennatis archiepiscopi', von der Arnulf zur Verteidigung des Vorranges Mailands vor Ravenna ohne Quellennachweis ein 51
Petrus Damiani, Opusculum 5 (MIGNE, PL 145) Sp. 92. A u s seiner unwidersprochen in Mailand vorgetragenen petrinischen Konzeption schlössen bereits DUCHESNE (wie Anm. 6) S. 52 f., und SAVIO (wie A n m . 6) S. 54, daß dort eine Barnabas-Tradition fehlte. Da auch Arnulf sie nicht kannte (dazu unten bei Anm. 54), folgert PICARD (wie A n m . 8) S. 455 ff., die Tradition sei seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts nur in Vergessenheit geraten.
52
Jeweils mit eigenen Meßtexten, aber ohne jeden Hinweis auf ihre v o n Petrus Damiani behauptete Mission, finden sich Nazarius und Celsus im Sakramentar von Biasca (wie Anm. 15) S. 137 ff., und im Sacramentarium Triplex (wie A n m . 19) S. 200 f., sowie in den Anrufungen des AribertSakramentars, PAREDI (wie A n m . 16) S. 3 8 8 und 427, Formel 4 1 4 und 572, jeweils Position 26 f., ebenso in den Litaneien der Codices Ambrosianae Trotti 251, S. 185 und 283; A 24 inf., fol. 3r und 1 8 3 v ; T 120 sup., fol. 75r; I 127 sup., fol. lOlr; I 55 sup., fol. 278r; D 87 sup., fol. 1 1 6 r und 172r; D 157 inf., fol. 83r, und A 189 inf., fol. 74r und 136r, sowie in den Stationsgebeten des Cod. Ambr. I 55 sup., fol. 1 9 5 v (S. Nazaro) und 196v (S. Celso).
53
Zu den Quellen Bibliotheca hagiographica latina antiquae et mediae aetatis, hg. von den Bollandisten 2, Brüssel 1 9 0 1 , S. 881.
54
Arnulfi Gesta archiepiscoporum Mediolanensium 3.15, hg. von LUDWIG CONRAD BETHMANN — WILHELM WATTENBACH ( M G H SS 8) Hannover 1848, S. 21,14 f.; künftig nach der Incipitzeile, ebd. S. 6, 'Liber gestorum recentium' zitiert. Z w a r verwies DUCHESNE (wie A n m . 6) S. 54, darauf, daß Arnulf die Herleitung von Barnabas unbekannt war, stellte aber nicht, wie nach ihm SAVIO (wie A n m . 6) S. 54 f., heraus, daß sich diese Unkenntnis gerade bei Arnulfs Schilderung der Mailänder Legation des Petrus Damiani zeigte.
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kleines Stück anführte, zu seiner Zeit schon jene Partie enthielt, die in der Überlieferung des 'Beroldus novus' von 1269 die Gleichzeitigkeit der Verkündigung des Petrus in Rom und des Barnabas in Mailand herausstellt 55 . Als die patarinische Bewegung 1075 mit Erlembald ihren tatkräftigen Führer verloren hatte, schien eine Konsolidierung der alten Ambrosianischen Ordnung möglich. In dieser Situation fühlte sich ein unbekannter Mailänder Kleriker aufgerufen, seine Mitbrüder durch eine Betrachtung der historischen und zeitgenössischen Drangsale vor den Gefahren zu warnen, die ihrer Kirche durch Pseudopropheten drohten. Diese theologisch-pädagogische Geschichtsbetrachtung, der durch ihre Uberlieferung aus stadtgeschichtlichem Interesse der Name 'Historia Mediolanensis Landulfi senioris' beigelegt wurde 56 , zieht erstmals den Apostel Barnabas heran, um die Rechtsstellung der Mailänder Kirche, allerdings noch nicht im Verhältnis zur Kirche von Rom, zu begründen. Vielmehr wurde die doctrina b. Barnabae apostoli erst einmal zur Verteidigung des Mailänder Konsekrationsrechtes für die Paveser Kirche angeführt, jedoch nicht vom Autor selbst, sondern in der Querimonia, die er dem Mailänder Bischof Benedikt (685 — 732) in den Mund legte. Diese fiktive Rede erweckt den Eindruck, als sei die Mailänder Kirche schon um die Wende vom 7. zum 8. Jahrhundert vom Apostel Barnabas hergeleitet worden 57 und als habe schon damals der 'Libellus de situ urbis' vorgelegen. Denn die Querimonia Benedicti beruft sich zur Absicherung der apostolischen Gründung der Mailänder Kirche auf nostri annales et eius descriptio adventus et sancti Anatalon vita und 'zitiert' unter diesem Titel ein kleines Stück aus dem Text 'De adventu s. Barnabae' 58 . Die Berufung auf Barnabas in der 'Historia Mediolanensis', die entgegen der gängigen Datierung nicht um 1100, sondern recht bald nach 1075 entstand, fallt somit in zeitliche Nachbarschaft zu dem Nachtrag des Barnabasfestes in den ältesten Mailänder Heiligenkalender des Bodleianus, der zwischen 1055/6 und 1074 entstand 59 . Obgleich der Autor der 'Historia Mediolanensis' nach dem ersten Buch in einer oratio Barnabas und Ambrosius gemeinsam zum Gelingen seines Werkes anrief 60 , blieb er hinsichtlich der Besonderheiten und der Eigenständigkeit der 55
Vgl. A r n u l f (wie A n m . 54) S. 1 2 , 2 5 — 3 0 ohne Quellennennung, mit dem umfangreicheren Text der 'Commemoratio' von 1269, abgedruckt ebd. S. 12 f. A n m . 70. TOMEA, Agiografia (wie A n m . 8) S. 661 Anm. 72, hingegen sieht die ganze 'Commemoratio' zwischen 1027 und 1 0 7 2 verfaßt, ohne zu erläutern, weshalb Arnulf sich dann nicht des Arguments der apostolischen Sukzession bediente.
56
Zur H. M. =
Historia Mediolanensis Landulfi senioris, hg. v o n ALESSANDRO CUTOLO (Rerum
Italicarum Scriptores 2 4,2) Bologna 1942, jetzt JÖRG W. BUSCH, Landulfi senioris Historia Mediolanensis — Überlieferung, Datierung und Intention, in: Deutsches Archiv f ü r Erforschung des Mittelalters 45, 1989, S. 1 - 3 0 . 57
Zu H . M . 2,15 (wie Anm. 56) S. 44,2, besonders aber S. 4 5 , 1 - 6 , vgl. PICARD (wie A n m . 8) S. 455 Anm.
192;
TOMEA,
Agiografia
(wie
Anm.
8)
S.
662,
und
ALZATI
(wie
Anm.
14)
S. 4 0 7 ff.
Den
anachronistischen Charakter dieser Rede belegen, worauf schon DUCHESNE (wie A n m . 6) S. 54, verwies, die dort eingeflochtenen Zitate aus dem Dekretalenwerk der Pseudoisidorischen Fälscher (9. Jahrhundert), H . M . 2,15, S. 4 6 , 1 2 f f . (Pseudo-Fabian 2,8), Z. 2 1 - 2 4 (Pseudo-Sixtus 2,6) und Z. 26 ff. (Pseudo-Calixt 2,12) bzw. PAUL HINSCHIUS (Hg.), Decretales Pseudo-Isidorianae et Capitula Angilramni, Leipzig 1863, Nachdruck Aalen 1963, S. 160, 192 und 1 3 8 f.; sowie zur kanonistischen Überlieferung dieser Stellen BUSCH (wie A n m . 56) S. 19 A n m . 68, Nr. 7 f. 58
H . M . 2,15 (wie Anm. 56) S. 4 5 , 8 - 1 1 = Libellus, De adventu (wie Anm. 4) S. 1 8 , 8 f f .
59
Dazu oben zwischen Anm. 40 und 43.
60
H. M. Oratio (wie Anm. 56) S. 26,20 f.
Barnabas, Apostel der Mailänder
189
Mailänder Kirche noch ganz der traditionellen ausschließlichen Herleitung von Ambrosius verhaftet, die das ganze erste Buch prägt 61 . Die Berufung auf die apostolische Gründung der Mailänder Kirche setzte also mit dem Ende der patarinischen Bewegung ein und wies nun die Schriftquellen vor, nach denen Petrus Damiani noch rhetorisch fragen konnte. Sie stellte für die römischen Reformer ein Novum dar. Denn als Bonizo von Sutri wohl gegen 1089 mit seiner Geschichtsbetrachtung in der Streitschrift 'Liber ad amicum' ein Gegenstück zur 'Historia Mediolanensis Landulf] senioris' lieferte, war ihm die Mailänder Barnabas-Tradition anscheinend noch unbekannt, während er sie schon wenige Jahre später in seinem großen kanonistischen Werk 'Liber de Vita Christiana' vehement bekämpfte. Im sechsten Buch seines 'Liber ad amicum' ging Bonizo einleitend auf die Ursachen ein, warum sich die Mailänder Kirche seit fast zweihundert Jahren dem römischen Primatsanspruch entziehe. Hier verwies er nur darauf, daß die lombardische Metropole als ehemaliger Kaisersitz sich hochmütig anmaße, den allgemein anerkannten Kirchenlehrer Ambrosius zur Begründung einer Eigenständigkeit heranzuziehen, die in Widerspruch zu seiner und zu der römischen Lehre stehe 62 . Wenige Jahre später aber machte Bonizo nicht mehr die traditionelle Ambrosianische Konzeption zur Grundlage seiner Vorwürfe. Vielmehr geißelte er am Beginn des vierten Buches seines 'Liber de Vita Christiana' den Hochmut der Mailänder, die behaupteten, ihre Kirche rühre nicht von Petrus und seinen Nachfolgern, sondern unmittelbar von dem Apostel Barnabas her, womit aber die geschichtlichen Tatsachen verdreht würden 63 . Die Argumentation des Bonizo belegt deutlich, daß die Herleitung der Mailänder Kirche von Barnabas erst zwischen der Abfassung seiner beiden Werke, also um das Jahr 1090, soweit herausgebildet war, daß sie von Mailänder Seite in den Rangstreit der italienischen Erzstühle eingebracht und von ihren Gegnern bekämpft wurde. Daß Bonizo die Anfänge der Pataria beschrieb, ohne Barnabas zu erwähnen, 61 62
63
H.M. 1 , 1 - 1 3 (wie Anm. 56) S. 5 - 2 3 . Bonizo von Sutri, Liber ad amicum 6, hg. von ERNST DÜMMLER (MGH Ldl 1) Hannover 1891, S. 590 f. Wie COSIMO DAMIANO FONSECA, Riforma del clero e ordinamento canonicale tra paradigmi ideologici e realtà istituzionale: il caso di Milano, in: Milano e il suo territorio in età comunale, 1 (wie Anm. 8) S. 327 — 339, S. 327 — 330, zeigt, stand Bonizo als vertrauter Kenner der Mailänder Verhältnisse in der Mitte des 11. Jahrhunderts auf Seiten der patarinischen Bewegung, für deren Ziele er somit ein Gewährsmann und zugleich ein literarischer Gegenspieler des Anonymus der 'Historia Mediolanensis' ist. Bonizo von Sutri, Liber de Vita Christiana 6.1, hg. von ERNST PERELS (Texte zur Geschichte des römischen und kanonischen Rechts im Mittelalter 1) Berlin 1930, S. 113 f., 30—10. Die Stelle aus dem Liber ad amicum (wie Anm. 62) diente FERRAI, De situ (wie Anm. 7) S. 124, und COLOMBO (wie Anm. 4) S. L X V f . , als Beleg für ihre jeweilige Datierung in das 8. bzw. 9. Jahrhundert, also vor bzw. in jene Periode, die Bonizo als Alter des von ihm beklagten Mailänder Separatismus angab. Während Ferrai die Stelle aus dem 'Liber de Vita Christiana' unbekannt blieb, las SAVIO (wie Anm. 6) S. 54 ff., daran die späte Entstehung der Barnabas-Tradition ab; COLOMBO, S. LXVI, hingegen sah die Liber ad amicum-Stelle als beweiskräftiger an. GALLI (wie Anm. 6) S. 194, kannte nur die Stelle aus dem 'Liber de Vita Christiana', so daß offen bleibt, ob ihm bei Kenntnis der Liber ad amicum-Stelle der Zeitraum zwischen dem Auftreten des Petrus Damianus 1059 und Bonizos Werk noch zu kurz für die Entstehung der Barnabas-Tradition erschienen sein mag. Ebenfalls nur die Liber de Vita Christiana-Stelle berücksichtigten PICARD (wie Anm. 8) S. 456, und TOMEA, Agiografia (wie Anm. 8 ) S. 6 6 2 f.
190
Jörg W. Busch
belegt wie Arnulfs Unkenntnis, daß die apostolische Herleitung nicht zum gewachsenen Gedankengut des Ambrosianischen Klerus vor dem letzten Viertel des 11. Jahrhunderts gehörte. Vielmehr handelte es sich um den Versuch, durch eine neue Begründung, die das römische Argumentationsmuster übernahm und damit schwächte, die alte Autonomie zurückzugewinnen, nachdem sich die römische Reform durchzusetzen begann. Der Beobachtung, daß die Verehrung des Apostels Barnabas in Mailand in Zeugnissen, die vom 'Libellus de situ urbis' unabhängig sind, erst in der Zeit nach dem Ende der patarinischen Bewegung faßbar wird, entspricht die frühe, heute noch erkennbare Überlieferung des Textes 'De adventu Barnabae apostoli'. Diesen Text zusammen mit den Viten der sechs frühen Mailänder Bischöfe Anathalon, Gaius, Castritian, Kalimerus, Mona und Maternus, aber ohne das Proömium und die Epistola dedicatoria überliefert als früheste erhaltene Handschrift der Codex Ambrosianus C 133 inf. Nach dem paläographischen Urteil von Ceriani, das Ferrai mitteilte, ist diese Handschrift an die Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert zu setzen; Ferrari hingegen wies sie der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts und Picard der Amtszeit Erzbischof Anselms III. (1087 — 1093) zu 64 . Die den Viten vorgebundene Bischofsliste, die von einer Hand bis Erzbischof Wido (f 1071) ausgeführt und von verschiedenen Händen bis Giovanni Visconti (•(•1344) fortgeführt wurde, bietet keinen Datierungsanhaltspunkt, weil es sich um einen separaten Binio von deutlich kleinerem Format, also nicht um einen integralen Bestandteil der Handschrift C 133 inf. handelt 65 . Zeitgleich mit diesem ist der Codex Ambrosianus E 22 inf. entstanden, der als Passionar neben dem Text 'De adventu Barnabae' nur noch die Viten der Bischöfe Castritian und Maternus unter den betreffenden Festtagen anführt 6 6 . Damit aber liegt ein erster Textzeuge für die Verbindung von Viten und Stadtbeschreibung im 'Libellus de situ urbis' nur in dem kurz nach 1126 entstandenen 'Beroldus vetus', dem Codex Ambrosianus I 152 inf., vor, der auf den Folia 94r—98r die Epistola dedicatoria und das Proömium, sowie auf den Folia 99r— 103r die Texte 'De adventu Barnabae' und 'De Anathalone archiepiscopo Mediolani' bietet 67 . Wenn auch die gemeinsame handschriftliche Überlieferung der Stadtbeschreibung und aller Viten erst im 'Codice Pizolpasso' (Ambr. H 56 sup.) von 1438
64
F E R R A I , D e s i t u ( w i e A n m . 7 ) S . 1 0 2 m i t A n m . 2 ; v g l . a u c h COLOMBO ( w i e A n m . 4 ) S . X C I I I
mit
A n m . 1; F E R R A R I ( w i e A n m . 2 5 ) S . 6 9 4 , u n d P I C A R D ( w i e A n m . 8 ) S . 4 5 4 . 65
66
Cod. Ambr. C 133 inf. [(A) I " + (B) II VI Papier] + (1) II 4 + ( 2 - 8 ) IV 60 + (9) 1 + IV 69 + (10) 2 + IV 79 + (11) IV 87 + (12) 1 + IV 96 + (13) IV 104 + (14) 2 + II 110 + (15) 1 + III 117 -I- [36 Papierfoll.] 153 , wobei sich die Bischofsliste fol. 2r—4v findet, vgl. PICARD (wie Anm. 8) S. 443; COLOMBO (wie Anm. 4) S. XCIII mit Anm. 3, hingegen hob die Bischofsliste nicht als eigenständigen Binio hervor. Zu Cod. Ambr. E 22 inf. [(1 — 18) IV 144 ] vgl. ANTONIO CERIANI, Catalogus Codicum Hagiographicorum Latinorum Bibliothecae Ambrosianae Mediolanensis, in: Analecta Bollandiana 11, 1892, S. 2 0 5 - 3 6 8 , S . 3 0 2 - 3 0 6 ; COLOMBO ( w i e A n m . 4 ) S . X C V ; P I C A R D ( w i e A n m . 8 ) S . 4 5 4 , u n d
67
TOMEA,
Agiografia (wie Anm. 8) S. 640, sowie unten bei Anm. 69. GIOVANNA FORZATTI GOLIA, Le raccolte di Beroldo, in: Il duomo cuore e simbolo di Milano. IV centenario della dedicazione 1577 — 1977 (Archivio Ambrosiano 32) Milano 1977, S. 308 — 402, S. 311 f.
Barnabas, Apostel der Mailänder
191
greifbar wird 68 , ist sie zumindest für die Stadtbeschreibung und den Text 'De adventu Barnabae' älter als der frühe Textzeuge im 'Beroldus vetus', wie die Rezeption jener beiden Texte durch die 'Historia Mediolanensis Landulfi senioris' belegt 69 , die ihrerseits nach 1075 entstand. Neben der gemeinsamen Überlieferung des stadtbeschreibenden Proömium mit den Viten der frühen Mailänder Bischöfe existieren noch Einzelüberlieferungen dieser Viten unter dem Festtag des jeweiligen Bischofs in kalendarisch angeordneten Legendarien. Den ältesten Textzeugen hierfür bietet der schon erwähnte Codex Ambrosianus E 22 inf., der zeitgleich mit dem Ambrosianus C 133 inf., d. h. im ausgehenden 11. Jahrhundert, anzusetzen ist. Der Ambrosianus E 22 inf. enthält aber nur die Viten des Castritian und des Maternus unter dem 1. Dezember bzw. unter dem 18. Juli, sowie den Text 'De adventu Barnabae' unter dem 11. Juni. Da die aus 18 Quaternionen bestehende Handschrift mit Martin (11. November) einsetzt und bereits mit Abdon und Sennen (30. Juli) endet, könnten weitere verlorene Lagen mit dem Zeitraum vom 31. Juli bis 10. November auch die Viten des Kalimerus (31. Juli), Anathalon (25. September), Gaius (27. September) und Mona (12. Oktober) geboten haben 70 . In unterschiedlicher Anzahl liegen die Viten aller sechs frühen Mailänder Bischöfe vom ausgehenden 12. Jahrhundert an in österreichischen Legendarien vor 71 . Die österreichischen Handschriften bieten jedoch unter dem 11. Juni keineswegs den Text 'De adventu Barnabae', sondern eine Vita ohne jeden Bezug auf die Mailänder Mission des Apostels. Diese Lebensbeschreibung, die nach einer Handschrift aus Montecassino ediert wurde, steht auch im Codex Ambrosianus A 251 inf. aus Val-St.-Hugues (13. Jahrhundert) und im Ambrosianus B 49 inf. (12. Jahrhundert), der aber erst durch Pizolpasso in die Mailänder Metropolitanbiblio-
68
ANGELO PAREDI, La biblioteca Pizolpasso, Milano 1961, S. 1 1 7 f f . ; CERIANI (wie Anm. 66) S. 338f., und COLOMBO (wie Anm. 4) S. CXF. Der ebenfalls spätmittelalterliche Cod. Ambr. D 26 inf. [(1) JJ26/27+30/31 (2) 3 3 - 4 0 + ( 3 _ H ) IV 88 ], dessen Schreiber die karolingische Minuskel des 11./12. Jahrhunderts nachahmte, enthält an seinem Anfang nur noch die Vita Materni, Libellus (wie Anm. 4) S. 63,20 — 74,3. Mittels der zeitgenössischen Foliierung ist der Verlust der ersten drei von insgesamt 11 Quaternionen sowie des inneren und äußeren Doppelblattes des vierten Quarternio festzustellen, so daß die ersten drei Quaternionen wie im Pizolpasso-Codex (Ambr. H 56 sup.) die übrigen Libellus-Texte enthalten haben dürften, zumal Text und Randnotae der Vita Materni in beiden identisch sind. Neben dem oben Anm. 58 bereits angeführten Stück aus 'De adventu Barnabae apostoli' sind für die im Proömium gebotene Stadtbeschreibung zu nennen: H. M. 2,2 (wie Anm. 56) S. 27,21 ff. verissimi annales et descriptio situs Mediolani = Libellus, Proömium (wie Anm. 4) S. 9,4 f., und H. M. 2,15 = Querimonia Benedicti (dazu oben bei Anm. 57), S. 44,26—29 in situ descriptionis = Libellus, Proömium, S. 9,3 ff. +
69
I V
70
Vgl. CERIANI (wie A n m . 6 6 ) S. 3 0 2 - 3 0 6 , und COLOMBO (wie A n m . 4) S. X C V - X C V I I I .
71
Die Codices Heiligenkreuz 11—14 (ausgehendes 12. Jahrhundert) bieten Maternus (18.7.), Gaius (27.11.), Castritian (1.12.), Kalimerus (nach 8.12.) und Mona (17.12.), vgl. COLOMBO (wie Anm. 4) S. CIIIf.; die Codices Zwettl 13ff./24 (12./13. Jahrhundert) Anathalon (nach 18.11.), Gaius (27.11.) und Castritian (1.12.), vgl. COLOMBO, S. CIV; der Codex Lilienfeld 60 (13. Jahrhundert) Maternus (18.7.), vgl. COLOMBO, S. CV; und die Codices Melk M6, M8 und C12 (15. Jahrhundert) Maternus (18.7.), Anathalon (nach 18.11.), Castritian (1.12.) und Kalimerus (nach 8.12.), vgl. COLOMBO, S. CVII f., und insgesamt ALBERT PONCELET, De magno legendario austríaco, in: Analecta Bollandiana 17, 1898, S. 2 4 - 2 1 6 , S. 71, 90 und 92 ff.
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J ö r g W. Busch
thek gelangte 72 . Allerdings kombinieren die österreichischen Handschriften wie der Codex Ambrosianus D 22 inf. die Vita ohne Mailänder Bezug mit einem kurzen Text, in dem erstmals in Mailand ausdrücklich die dem Hieronymus zugeschriebene Nachricht rezipiert wurde, Barnabas habe zunächst in Rom missioniert und sei dann Bischof von Mailand geworden 73 . Die über den 'Libellus de situ' hinausgehende Bezeichnung als Bischof stellt in der Ausbildung der stadtgeschichtlichen Tradition bereits einen weiteren Schritt dar, den der Codex Ambrosianus D 22 inf. im Anschluß an die genannten Texte auch mit einem Brief des Bischofs Atto von Pistoia (1133 — 1153) dokumentiert 74 . Denn Atto, der zugleich Generalabt von Vallombrosa war, hatte auf Bitten des Adressaten, eines Presbiters P. einer dem Barnabas geweihten Kirche 75 , Nachrichten über den Apostel in der Lombardei und in der Toskana zusammengetragen und sich bemüht, ... etiam adicere orationes in missa eins cum aliis, sicut ipsemet intueris. Zugleich bat Atto den Priester, seine Erkenntnisse über Barnabas an den Abt des ebenfalls dem Apostel geweihten und der Kongregation von Vallombrosa angehörenden Klosters von Gratosolio bei Mailand weiterzugeben. Daß Atto dem Priester schließlich noch Grüße an den Propst M. von S. Ambrogio auftrug, rückt die Bemühungen um Barnabas in die Nähe eines der führenden Mailänder 'Intellektuellen' dieser Zeit, denn bei dem Propst M. dürfte es sich um niemand anderen als Martinus Corvus handeln, der als Ambrosius-Kenner und 'Herausgeber' in überregionalem wissenschaftlichen Austausch stand 76 . Die Überlieferung des Textes 'De adventu Barnabae', der die Vorstellung von der Mailänder Missionstätigkeit des Apostels propagiert, läßt sich nach den vorgestellten Handschriften lediglich in das ausgehende 11. Jahrhundert zurückverfolgen. Dennoch wollte Giovanni Battista Fontana, ein Mailänder Geschichtsschreiber des 16. Jahrhunderts, wie er in seinem ungedruckt gebliebenen 'Catalogus Archiepiscoporum Mediolani' (Ambr. V 35 sup.) angab, verschiedene Inschriften, die frühen Mailänder Bischöfen gewidmet sind, in einem vetus codex gefunden haben,
72
Bibliotheca Casinensis seu codicum manuscriptorum qui in tabulario Casinensi asservantur 3, Florilegium, Montecassino 1877, S. 3 5 4 - 3 5 7 , so Cod. Ambr. A 251 inf., fol. 1 0 2 v a - 1 0 4 r b , und B 49 inf., fol. 143ra—144rb, zu letzterem allgemein PAREDI (wie A n m . 68) S. 83.
73
CERIANI (wie A n m . 66) S. 283 f., nach Cod. Ambr. D 22 inf., fol. 1 6 v - 1 7 r , woran sich fol. 1 7 r 1 9 v die Vita ohne Mailänder Bezug (wie Anm. 71) anschließt, die mit den Codd. Ambr. A 251 inf. und B 49 inf. gemeinsame Abweichungen v o m edierten Text aufweist, während ihre Abweichungen untereinander zu uneinheitlich für die Bestimmung eines genauen Abhängigkeitsverhältnisses sind.
74
CERIANI (wie A n m . 66) S. 288, nach Cod. Ambr. D 22 inf., fol. 19v.
75
Zu den in Mailand seit dem 12. Jahrhundert bezeugten Barnabas-Patrozinien vgl. GALLI (wie Anm.
76
Vgl. GIUSEPPE BILLANOVICH — MIRELLA FERRARI, La tradizione milanese delle opere di sant'Ambro-
6) S. 187, und für das 13. Jahrhundert den Liber Notitiae (wie A n m . 2) Sp. 52. gio, in: GIUSEPPE LAZZATI (Hg.), Ambrosius Episcopus. Atti del congresso internazionale di studi ambrosiani nel X V I centenario della elevazione di sant'Ambrogio alla cattedra episcopale, Milano 2-7
dicembre 1974, 1 (Studia patristica Mediolanensis 6) Milano 1976, S. 5 - 1 0 2 , S.
6-26,
sowie zur Korrespondenz insbesondere mit den Regensburger Geistlichen Gebhard und Paul (von Bernried) die Edition v o n JULIUS PFLUGK-HARTTUNG, Iter Italicum, Stuttgart 1883, S. 472—479, und die Untersuchung von WALTER WACHE, Eine Sammlung von Originalbriefen des 12. Jahrhunderts im Kapitelsarchiv v o n S. A m b r o g i o in Mailand, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische G e s c h i c h t s f o r s c h u n g 50, 1 9 3 6 , S. 2 6 1 - 3 3 3 ,
S.
298-317.
Barnabas, Apostel der Mailänder
193
der neben dem proemium de Mediolani, das mit dem gleichnamigen Teil des 'Libellus de situ urbis' identifiziert werden kann, auch die Viten der fünf 'Erzbischöfe' Barnabas, Anathalon, Gaius, Castritian und Kalimerus enthielt 77 . Die Existenz von Inschriftenexzerpten, wie sie Fontana benutzte, bezeugte auch dessen Zeitgenosse Andreas Alciatus, der ebenfalls Inschriften mitteilte, wobei er diejenigen, die Exzerpte aus den 'Carmina' des Ennodius sind, mit Datierungszeilen versah, die bei Ennodius fehlen 78 . Das Alter der von Fontana benutzten Handschrift, deren Kombination von fünf der sechs Bischofsviten sich mit keinem der erhaltenen Codices deckt, bleibt letztlich im dunkeln. Die beigegebene Inschriftensammlung datiert nach De Rossi in das 11. Jahrhundert, nach Monneret de Villard genauer in die Zeit vor der Zerstörung von S. Nazaro 1071 oder 1075, während Ferrai sie mitsamt dem 'Libellus de situ urbis' in das 10. Jahrhundert setzte79. Als ebenso alt sah Ferrai jenes volumen Saxonicum an, das Fontana selbst in Deutschland gesehen und daraus eine Inschrift ad fontem Barnabae exzerpiert haben will 80 . Wiewohl Fontana damit eine weitere Quelle seiner Inschriften-Transkriptionen nannte, setzte Ferrai voraus, auch dieser 'Codice Sassonico' habe neben einer Inschriftensammlung bereits den 'Libellus de situ urbis' mit allen später und heute noch in unterschiedlichem Ausmaß bezeugten Bestandteilen enthalten 81 . Mit dieser Ausnahme war die älteste, indirekt bezeugte Leithandschrift gewonnen, von der Colombo dann auch die ganze österreichische Überlieferung der frühen Mailänder Bischofsviten ableitete 82 , ohne zumindest zu bemerken, daß dort die spezielle Mailänder Barnabas-Vita in Gestalt des Textes 'De adventu Barnabae' nicht übernommen wurde. Im einzelnen brauchen überdies die Grenzen nicht mehr aufgezeigt zu werden, die dem Versuch gesetzt sind, auf Grund von Nachrichten des 16. Jahrhunderts, die verschiedene Quellen angeben, eine einheitliche Inschriftensammlung zu bestimmen, die mit dem Proömium, dem Text 'De adventu Barnabae' und den frühen Bischofsviten verbunden war. Im vorliegenden Zusammenhang erhebt sich vielmehr die grundsätzliche Frage nach dem Wert von mittelbar bezeugten Inschriften, die wie der Text ad fontem Barnabae die Kenntnis vom
77
Im Cod. Ambr. V 35 sup., fbl. 19r (zu Kalimerus) und fol. 2 8 v (zu Eustorgius I.) bemerkte Fontana, das Proömium, das den Viten beigegeben ist, sei unter dem Namen des Ambrosius mit dessen Briefen gedruckt worden. MONNERET DE VILLARD (wie A n m . 2) S. X X X V I I I , der die Nachrichten Fontanas edierte, identifizierte das Proömium über die Ambrosius-Edition des Antonio Zaroto von 1491 mit dem 'Libellus de situ urbis'. Zu Fontana selbst FILIPPO ARGELATI, Bibliotheca scriptorum Mediolanensium 1.2, Milano 1745, Nachdruck Farnborough 1966, Sp. 445 f.
78
ARGELATI (wie A n m . 77) Sp. 22—27, zur Person des Alciatus; seine Exzerpte in der Hs. Dresden F 82 b finden sich im Corpus Inscriptionum Latinorum 5.2: Inscriptiones Galliae Cisalpinae Latinae, hg. v o n THEODOR MOMMSEN, Berlin 1877, S. 6 1 9 — 6 2 3 , in Gegenüberstellung zu den von Fontana Cod. Ambr. V 35 sup. mitgeteilten. Bezüglich der datierten Inschriften bei Alciatus, Corpus Inscriptionum, S. 6 1 9 ff., Nr. 3 - 6 und 8, vgl. Ennodius (wie Anm. 10) S. 1 6 3 - 1 6 6 , Nr. 197 f., 200 f. und 205.
79
GIOVANNI BATTISTA DE ROSSI, Inscriptiones Christianae Urbis Romae 2.1, Rom 1888, S. 174 — 183, Nr. 17: Sylloge Epigrammatum Mediolanensium confecta saeculo XI; MONNERET DE VILLARD (wie A n m . 2) S. X L I I f f . ; FERRAI, Vitae (wie A n m . 7) S. 5 - 4 7 .
80
Cod. Ambr. V 35 sup., fol. 18v, gedruckt Corpus Inscriptionum (wie A n m . 78) S. 623, Nr. 14.
81
Vgl. FERRAI, Vitae (wie Anm. 7) zwischen S. 4 2 und 43 die Tabula manuscriptorum.
82
COLOMBO ( w i e A n m .
4 ) S.
XCII.
194
Jörg W. Busch
Wirken des Apostels Barnabas in eine Zeit zurückverlegen, in der seine Verehrung in zeitgenössischen Zeugnissen nicht greifbar wird. So präsentierte Fontana die Inschrift für den frühen Bischof Kalimerus nur als solche, während sie bei Alciatus eingangs die komplette apostolische Sukzession erhielt, die in Mailand erst im 13. Jahrhundert propagiert wurde und am Schluß eine Datierung nach dem Bischof Thomas aufweist. Gerade deren Wert muß angesichts des Umstandes sehr gering veranschlagt werden, daß sämtliche Ennodius-Exzerpte bei Alciatus mit Datierungen versehen sind; der erhaltene Inschriftenstein erweist sie aber vollends als 'Zugabe' 83 . Unabhängig von dem tatsächlichen Alter des vetus codex, den Fontana gesehen haben will, verdient seine Überlegung Beachtung, es könne sich bei dem Verfasser des darin überlieferten 'Libellus de situ urbis' um den Mailänder Bischof Datius handeln 84 . Die Vorstellung, der Bischof Datius habe ein Werk zur Mailänder Geschichte verfaßt, entstand frühestens vor 128985 und bezog sich zunächst nicht auf den 'Libellus de situ urbis', sondern auf die 'Historia Mediolanensis Landulfi senioris'. Den historischen Bischof überhaupt als Geschichtsschreiber anzusehen, mag auf die von Paulus Diaconus aufgegriffene Nachricht des 'Uber Pontificalis' zurückgehen, Datius habe einen Bericht über die Hungersnot von 536 verfaßt 86 . Daß Datius als Geschichtsschreiber jedoch im ausgehenden 11. Jahrhundert unbekannt war, zeigt die 'Historia Mediolanensis Landulfi senioris'. Sie führt den Mailänder Bischof nach dem Zeugnis des Papstes Gregor I. an, auf das sich auch noch im ausgehenden 13. Jahrhundert der 'Liber Notitiae' berief 87 . Die bis 1271 reichenden annalistischen Notizen nach der Chronik des Goffredo da Bussero erwähnen zwar die Hungersnot von 536 unter dem Jahr 560, ohne aber wie der 'Liber Pontificalis' auf einen Bericht des Datius zu verweisen 88 . Erst Ende November und Anfang Dezember 1289 verzeichnen Mailänder Gerichtsprotokolle einen LJber nominabatur Datius de antiquitatibus civitatis Mediolani bei den Kanonikern von S. Lorenzo, wobei der daraus bewiesene Sachverhalt, die Einrichtung der 72 Dekumanpriester durch Ambrosius, eindeutig aus der 'Historia 85
Hs. Dresden F 82 b, fol. 147, und Cod. Ambr. V 35 sup., fol. 20r, gedruckt Corpus Inscriptionum (wie Anm. 78) S. 619, Nr. 2, sowie DE ROSSI (wie Anm. 79) S. 178, mit der Textwiedergabe vom erhaltenen Stein, auf den sich bereits DUCHESNE (wie Anm. 6) S. 65 ff., bezog.
84
C o d . A m b r . V 3 5 s u p . , f o l . 1 9 r; v g l . MONNERET DE VILLARD ( w i e A n m . 2 ) S .
85 86
87
88
XXXVIII.
Dazu unten bei Anm. 89. Vita s. Silverii, in: Liber Pontificalis 1, hg. von Louis DUCHESNE, Paris 1955, S. 291,14 ff.: Eodem tempore tanta famis fuit per universum mundum ut Datius episcopus civitatis Mediolanae relatio ipsius evidenter narravit eo quod in partes Lyguriae mulieres filios suos commedissent penuriae famis; de quas retulit ecclesiae suae fuisse ex familia. Dem folgte Paulus Diaconus, Historia Romana 16,18, hg. von HANS DROYSEN ( M G H Auct. Antiq. 2) Berlin 1879, S. 222,7 — 11: Praeter belli instantiam augebatur insuper Roma famis penuria tanta si quidem per universum mundum maximeque apud Liguriam fames excreverat ut sicut vir beatissimus Datius Mediolanensis retulitpleraeque matres infelicium natorum comederent membra. H . M . 2,7 (wie Anm. 56) S. 3 4 , 2 7 - 3 5 , 1 7 , entspricht Gregor I., Dialogorum liber 3,4 (MIGNE, PL 77) Sp. 224; ebenso der Liber Notitiae (wie Anm. 2) Sp. 104, Nr. 115. Cod. Trivulzianus 1218, hg. von GRAZIOLI (wie Anm. 2) S. 232,27 f.: Anno domini 560 tanta fames fuit per totam Italiam quod matres comedebant filios.
195
Barnabas, Apostel der Mailänder
Mediolanensis Landulfi senioris' stammt 89 . Bereits v o r 1289 dürfte deshalb das Exemplar der 'Historia' entstanden sein, von dem sich jene beiden Handschriften des 14. Jahrhunderts ableiten, die v o r dem Zweiten Weltkrieg noch in Mailand vorlagen 9 0 . Das frühe Exemplar erhielt schon jene vier Rubriken, die, wie in den beiden Codices des 14. Jahrhunderts noch zu erkennen ist, auf Datius als Gewährsmann für frühe Einrichtungen der Mailänder Kirche verweisen 9 1 , während der Autor der 'Historia' sich in seinem Text keineswegs auf einen solchen beruft. Von dieser Rubrizierung war es dann nur noch ein kleiner Schritt, das ganze Werk des ausgehenden 11. Jahrhunderts als Werk des Datius auszugeben, wie der aktenkundige Codex von S. Lorenzo und der heutige Ambrosianus H 89 inf. zeigen, der in der Incipitzeile als Cronicha Datii ausgegeben wird 9 2 und als solche in mindestens einem weiteren Exemplar Galvaneo Fiamma bekannt war 9 3 . Bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts berief sich Benzo d'Alessandria in seiner Chronik, von der ein die Stadt Mailand betreffender Auszug vorliegt 9 4 , auf
Datius, qui de gestis Mediolanensium
scripsit95.
Daß er diesem Werk Nachrichten über
die Auseinandersetzungen des 11. Jahrhunderts zwischen den Valvassoren und Capitanen verdankte, zeigt, daß er die 'Historia Mediolanensis Landulfi senioris' benutzt hatte 96 . Dies belegt ganz eindeutig seine Schilderung der Urbis moenia et aedificia, die sich zwar an die Darstellung des Proömium im "Libellus de situ urbis' anlehnt, in ihrer weit darüber hinausgehenden Fassung aber aus der 'Historia' stammt 97 . Neben diesem Werk unter dem Namen des Datius kannte Benzo aber
89
D i e N a c h w e i s e bei BUSCH ( w i e A n m . 5 6 ) S. 4 A n m .
90
91
Zur Handschriftenüberlieferung BUSCH (wie Anm. 56) S. 27 — 30; wobei der verloren geglaubte 'Codice Landolfo o Casati' der Società storica lombarda jüngst von TOMEA, Agiografia (wie Anm. 8) S. 650 Anm. 46, in einem Versteigerungskatalog in den U S A nachgewiesen werden konnte. H. M. 1,2 (wie Anm. 56) S. 8: Expositio ordinum ¡aneti Ambrosii edita a sancte memorie Datio episcopo Mediolanensi\ H. M. 1,4, S. 11: De cardinalibus Mediolanensis ecclesiae secundum Datium\ H. M. 1,12, S. 19: De crismon sancii Ambrosii secundum Datium episcopum Mediolanensem\ und H. M. 1,13, S. 21: De crucis antiphona a Datio.
92
Vgl. die Nachzeichnung
von
Cod.
Ambr.
9.
H 89 inf., fol. Ir, d u r c h
LUDWIG CONRAD
BETHMANN
( M G H SS 8) Hannover 1848, Tafel 1 zu S. 4. 93
D i e N a c h w e i s e b e i BUSCH ( w i e A n m . 56) S. 5 A n m .
94
Benzo d'Alessandria, De Mediolano civitate opusculum ex Chronico eiusdem excerptum, hg. von LUIGI ALBERTO FERRAI, in: Bullettino dell'Istituto storico italiano per il medioevo 9, 1890, S. I S -
11.
SÒ. 95
56
97
Ebd. S. 17,32; dennoch zählt Datius zu den Schriftstellern, denen Benzo, S. 16,21 ff., erst in zweiter Linie zu folgen gedachte. Benzo (wie Anm. 94) S. 35,2 gibt den Nachweis in Datio et in aliis chronicis, vgl. H . M . 2,26 (wie Anm. 56) S. 63 — 67. Ohne Quellennachweis bot Benzo, S. 30 f., den 'Stellenplan' der Mailänder Kirche, sowie die Schilderung der Domschule, wie sie sich H . M . 2,35, S. 76f., finden. Benzo (wie Anm. 94) S. 25,15 f.: De moeniis ... in verissimis annalibus Datius se reperisse testabatur = H. M. 2,2 (wie Anm. 56) S. 27,20 f.: in verissimis annalibus et in descriptione situs Mediolani repperi\ Benzo, S. 25,17ff.: augustales imperatori ... palatium = H . M . 2,2, S. 27,21 ff.; das Proömium bietet lediglich Libellus (wie Anm. 4) S. 9,4; Benzo, S. 25,19ff.: unde et illa ecclesia ... construxisse ist eine Paraphrase von H . M . 2,16, S. 47,16f.; Benzo, S. 25,21—30, bietet eigene Worte, die aber an H . M . 2,2, S. 27,23, bzw. Libellus, Proömium, S. 9,5, anknüpfen; Benzo, S. 25,31—26,2: balnea calida, ubi reginae ... amoenum = H . M . 2,2, S. 2 7 , 2 3 - 2 7 ; Benzo, S. 2 6 , 3 - 8 , bietet eigene Worte; ebd. S. 26,10: lapidibus ... ornata = H . M . 2,2, S. 27,27f.; Benzo, S. 26,11 f., bietet wiederum eigene Worte; ebd. S. 26,13f.: in ea totius Italiae milites ... possent = H . M . 2,2, S. 27,28f.; Benzo, S. 26,15 — 18, sind
196
Jörg W. Busch
noch eine Legenda bzw. ein Opusculum de adventu Barnabae, das, wie seine Exzerpte belegen, zumindest aus dem Proömium, sowie den Texten 'De adventu Barnabae' und 'De Anathalone' bestand 98 . Indem Benzo aber deutlich zwischen den Sachverhalten unterschied, die er aus der unter dem Namen des Datius umlaufenden 'Historia Mediolanensis Landulfi senioris' bzw. aus dem von ihm als Legenda de adventu Barnabae bezeichneten 'Libellus de situ urbis' entnahm, bezeugt er zugleich, daß die Bezeichnung des 'Libellus' als 'Datiana Historia' ein Produkt späterer gelehrter Beschäftigung mit der Mailänder Geschichte ist". Dem widerspricht keineswegs, daß die 'Historia Mediolanensis Landulfi senioris' ihrerseits auf vorangehende 'Annalen' rekurrierte. Denn bei diesen handelte es sich eindeutig um den 'Libellus' 100 , der seine Wirkung, wie die darin enthaltene Barnabas-Tradition zeigt, nicht vor dem ausgehenden 11. Jahrhundert entfaltete. Von daher besteht kein Anlaß, die Textzusammenstellung des 'Libellus de situ urbis' auf Grund ihrer Rezeptionsgeschichte oder späterer Nachrichten vor das letzte Viertel des 11. Jahrhunderts zu datieren. Wenn die Vorstellung von der Mailänder Mission des Apostels Barnabas bereits im 8., 9. oder 10. Jahrhundert in einer literarischen Darstellung seiner Ankunft in der Stadt ihren Niederschlag gefunden hätte, bliebe es unbegreiflich, warum der Mailänder Klerus diese alte Tradition nicht dem Vordringen der römischen Reform des 11. Jahrhunderts entgegenstellte. Völlig unwahrscheinlich ist jedoch, daß die Barnabas-Tradition nach dem 8., 9. oder 10. Jahrhundert wieder in Vergessenheit geriet, um erst nach dem Tode Erlembalds, der ja dem Vordringen der römischen Reform kein Ende setzte, wiederbelebt und in den erhaltenen frühen Handschriften verbreitet zu werden 101 . Dies belegt der Umstand, daß die Verehrung des Apostels Barnabas in Mailand im Vergleich zur übrigen Kirche erst spät, nämlich nicht vor dem dritten Viertel des 11. Jahrhunderts, greifbar wird. Vor diesem Zeitpunkt bestand, wie das Beispiel gerade des traditionsbewußten Autors Arnulf zeigt, weder die Kenntnis noch ein Bewußtsein von der Bedeutung des Apostels Barnabas für die Mailänder Kirche. Dieses Verständnis von einer früheren Herleitung der 'Ambrosianischen Kirche' wuchs vielmehr in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit dem offensiv vorgetragenen römischen Primatsverständnis. Erst als die faktisch nach dem Verfall des Karolingerreiches gewonnene autonome Stellung der
98
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100 101
dessen Worte; ebd. S. 26,19—28: Qui etiam ipsam amplificantes ... paratissimus = H. M. 2,2, S. 27,29 — 28,7. Benzo (wie Anm. 94) S. 23,5 — 8: in legenda tarnen de adventu apostoli Barnabae in civitate Mediolani, quae intitulatur secundum aliquos Paulino Nolano episcopo, habetur quod Mediolanum a veteribus Albae primum nomen sortita est. — Libellus, Proömium (wie Anm. 4) S. 12,13 — 13,1; Benzo, S. 28 f., bietet unter dem Verweis in eodem opusculo de adventu Barnabae eine paraphrasierende Darstellung, die folgende wörtliche Übernahmen aus Libellus, De adventu Barnabae, enthält: S. 15,12f., S. 16,17ff., S. 1 7 , 5 - 1 0 , S. 18,2, S. 18,5, S. 18,11 f., S. 19,15, S. 20,5 f., und S. 20,25, sowie aus Libellus, De Anathalone, S. 2 2 , 1 6 - 2 0 . Ihren späten Niederschlag fand sie in der Edition des 'Libellus de situ urbis' als Datiana Historia Ecclesiae Mediolanensis ab anno LI ad CCCIV, vel Anonymi Mediolanensis qui circa D X X X V I scribebat ad S. Datium episcopum liber de primis episcopis Mediolani, hg. von ANTONIO BIRAGHI, Milano 1848. Dazu oben Anm. 69. S o PICARD ( w i e A n m . 8) S. 4 5 8 .
Barnabas, Apostel der Mailänder
197
Mailänder Metropolitankirche immer deutlicher und unaufhaltsam dahinschwand, bestand ein Argumentationszwang, wenn man für Mailand weiter eine herausgehobene Stellung gegenüber der römisch geprägten Kirche behaupten wollte. Der römische Anspruch jedoch leitete sich unmittelbar aus dem Kreis der Jünger des Herrn her, so daß der Mailänder Kirche, wollte sie ihren Anspruch aufrechterhalten, ein auch noch so angesehener Kirchenvater als Leitfigur ihres geistlichen Lebens nicht mehr genügen konnte. In dieser Situation erfolgte der Rückgriff auf den Apostel Barnabas.
MONIKA KLAES
Die 'Summa' des Magister Bernardus Zu Überlieferung und Textgeschichte einer zentralen Ars dictandi des 12. Jahrhunderts* I
Die Autoren der Artes dictandi des 12. Jahrhunderts sind, wenn nicht überhaupt anonym, mit Namen in aller Regel einzig durch ihre eigenen Vorreden und Widmungen bezeugt. Urkundlich faßbar sind nur wenige, Albert von Asti und Baldwin von Viktring, und allein Peter von Blois ist auch als Person der Zeitgeschichte und als Dichter, Schriftsteller und Theologe bekannt 1 . Alle übrigen lassen sich mit ihren Artes nach deren Orts- und Personennamen bestenfalls lokalisieren und in etwa datieren, doch meist auch Bereichen ihres Wirkens zuordnen, einem städtischen oder monastischen oder dem einer Domschule. Nur ein Name des 12. Jahrhunderts wird als Repräsentant seiner Ars auch von anderen Autoren genannt, der des Bernardus 2 . Peter von Blois zitiert ihn, mit freilich kritischer Reserve, gleich zu Beginn seines 'Libellus de arte dictandi rethorice' 3 : * Der Aufsatz ist die bearbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrages zum Thema „Magister Bernardus — Ein Beitrag zur Textgeschichte der Ars dictandi im 12. Jahrhundert", gehalten im Rahmen des Internationalen Kolloquiums „Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen", das der Sonderforschungsbereich 231 vom 17. bis 19. Mai 1989 in Münster veranstaltet hat. — Danken möchte ich an dieser Stelle Herrn Prof. Worstbrock, der mich nicht nur an die Problematik der ' S u m m a ' des Magister Bernardus herangeführt, sondern als stets hilfsbereiter Ratgeber und kritischer Gesprächspartner die Suche nach Lösungen entscheidend vorangetrieben hat. 1
Nicht als Verfasser seiner 'Flores dictandi', aber als Kanonikus von S. Martino in Asti ist Albertus von 1150 bis 1167 mehrfach urkundlich bezeugt. Nachweise: FERDINANDO GABOTTO—NICCOLA GABIANI, Le carte dello archivio capitolare di Asti (Corpus Chartarum Italiae 25) Pinerolo 1907, Nr. 15, 25, 32, 37, 40, 46, 48. Vgl. RENATO BORDONE, Città e territorio nell'alto medioevo. La società astigiana dal dominio dei Franchi all'affermazione comunale (Biblioteca storica subalpina 200) Torino 1980, S. 349 Anm. 294 und S. 373 Anm. 374. Zu Albert von Asti vgl. HANS MARTIN SCHALLER, in: Lexikon des Mittelalters 1, München—Zürich 1980, Sp. 293 f. (mit Nachweis älterer Literatur). — Zu Baldwin von Viktring s. DIETER SCHALLER, Baldwin von Viktring. Zisterziensische Ars dictaminis im 12. Jahrhundert, in: Deutsches Archiv 35, 1979, S. 127 — 137. Zu Peter von Blois vgl. ROLF KÖHN, Magister Peter von Blois, Phil. Diss. Konstanz 1973; zu seinen Dichtungen: PETER DRONKE, Peter of Blois and Poetry at the Court of Henry II, in: Medieval Studies 28, 1976, S.
2
Auch genannt w i r d an einer Stelle Transmundus, in der ' S u m m a de arte dictandi' des Gaufredus (1188), Kapitel III: De narratione (Edition: VINCENZO LICITRA, La 'Summa de Arte dictandi' di Maestro Goffredo, in: Studi Medievali, 3 a ser. 7, 1966, S. 8 6 5 - 9 1 3 , hier S. 900). Aber die Nennung des Transmundus ist hier etwas anderer Natur, sie ist Teil einer Invektive gegen die, die sich seines Namens und seines Werkes bemächtigen, um unter diesen Vorzeichen ihre eigene Lehre zu vertreten. Cambridge, University Library, Cod. Dd. IX 38, Bl. 1 1 5 r a - 1 2 1 r a , hier Bl. 115™.
185-235.
3
Die 'Summa' des Magister Bernardus
199
Licet magistri bernardi de dictaminibus liberprudenter sitpertrac(t2i)tus, delicatis tarnen et minus districtis lectoribus perplexe prolixitatis dicitur arguendus [...],
Gervasius von Melkley beruft sich für die Definition des Dictamen auf ihn 4 : Dictamen est congrua et apposita literalis compositio de aliquo quod vel mente retinetur vel litteris seu voce significatur secundum Bernardi sententiam [...].
Der Anonymus eines vor 1226 vollendeten metrischen Kompendiums der Ars dictandi5 führt ihn an wie eine geläufige Autorität: Non super hiis exempla damus multis reliquisque, Nam prolixa nimis trahent compendia metri, Summula bernhardi satis hec docet [...]6,
und noch in der "Summa de arte prosandi' Konrads von Mure rangiert Bernardus unter den ersten Adressen 7 . Sie alle hatten Grund, auf ihren Bernardus zu verweisen, denn sie benutzten sein Werk ausgiebig als Quelle, allerdings, wie zu zeigen sein wird, nicht stets das gleiche. Ist Bernardus also Verfasser verschiedener Traktate, oder handelt es sich bei diesen um Schriften verschiedener Bernardi? Die Frage nach der Identität des Bernardus und dem Umfang seines Œuvres ist nicht neu. Sie wurde in eigener Abhandlung zuerst 1893 von Charles-Victor Langlois diskutiert 8 . Langlois probte die Hypothese, Bernardus sei mit dem gut 40 Jahre jüngeren Bernhard von Meung zu identifizieren — die beiden hatte zuvor schon Wilhelm Wattenbach geschieden9 —, um doch von ihr Abstand zu nehmen, plädierte um so nachdrücklicher aber für die Identität des Bernardus mit Bernhard Silvestris, dem berühmten Dichter-Philosophen und Lehrer in Tours, und darin sah er sich auch mit Barthélémy Hauréau einig 10 . Allerdings hatte Hauréau als Textzeugen der angeblichen 'Summa' Bernhards Silvestris nur den Wiener Cod. 4
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6 1
8
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10
H A N S - J Ü R G E N G R Ä B E N E R (Hg.), Gervais von Melkley, Ars poetica (Forschungen zur romanischen Philologie 17) Münster 1965, S. 216. Innsbruck, UB, Cod. 3 2 2 , Bl. 1 2 6 ' — 1 3 1 ' ( 3 3 7 Hexameter, inc.: Aspiret ceptis audacibus aura favoris), hier Bl. 1 2 9 V (v. 2 2 5 — 2 2 7 ) . Die bisher anscheinend gänzlich unbekannte metrische Ars, die in der Innsbrucker Hs. den Titel Summa Dktaminum führt, ist die erste ihrer Art. Ihre Datierung vor 1226 ergibt sich aus der Zitierung einiger ihrer Verse in Buch 6 und 7 des 'Candelabrum' Benes da Firenze (hg. von G I A N C A R L O A L E S S I O , Padova 1 9 8 3 , S . 1 9 9 , 2 0 4 , 2 1 1 ) . Da ihr ausschließlich Quellen des 12. Jahrhunderts zugrunde liegen, könnte sie einige Jahrzehnte älter sein. Die Innsbrucker Hs. schreibt decet statt docet. W A L T E R K R O N B I C H L E R (Hg.), Die Summe de arte prosandi des Konrad von Mure (Geist und Werk der Zeiten 17) Zürich 1968, S. 176: [...] licet magistri in arte prosandi, videlicet Bocunbanus, Bernhardus, Guido, Johannes de Garlandia et alii quam plures in suis Summis plurima proverbia, plures formas epistolarum posuerint ad rudium informationem seu ad sue scientie ostentationem [...]. C H A R L E S - V I C T O R L A N G L O I S , Maître Bernard, in: Bibliothèque de l'école des chartes 54, 1893, S. 225-250. W I L H E L M W A T T E N B A C H , Ein Briefsteller des zwölften Jahrhunderts, in: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit N.F. 16,1869, Sp. 189 — 194, hier Sp. 193 f. Wattenbach knüpfte an die Besprechung des Brüsseler Cod. 2070 durch den Baron VON R E I F F E N B E R G im Bulletin de l'Académie de Bruxelles 9,2, 1842, S. 272—277, an, überging aber dessen Mutmaßung, der Verfasser der 'Summa dictaminum' in der Brüsseler Hs. sei Bernhard von Clairvaux, billigerweise mit Stillschweigen. Vgl. L A N G L O I S (wie Anm. 8 ) S. 2 3 4 , 2 3 6 , 2 3 7 und B A R T H É L É M Y H A U R É A U , Rez. von L . Bourgain, Matthaei Vindocinensis ars versificatoria, Thèse Paris 1879, in: Journal des Savants 1883, S. 207 —
200
Monika Klaes
246 genannt, während Langlois zu ihren Handschriften gleichermaßen den Brüsseler Cod. 2070 und den Brügger Cod. 549 zählte. Langlois' weitere Behauptung, nicht allein der Bernardus der 'Summa' und Bernhard Silvestris seien identisch, sondern mit beiden auch Bernhard von Chartres, wiesen Haureau indes und sogleich auch J. Alexandre Clerval mit überlegener Kennerschaft zurück 11 . Sie ist seither erledigt 12 . Langlois' Identifizierung des Bernardus mit Bernhard Silvestris erfuhr erst geraume Zeit später durch Charles Homer Haskins kompetente Kritik 13 . Dank seiner um ein Vielfaches breiteren und genaueren Kenntnis der Uberlieferung konnte Haskins die oberitalienische Herkunft des Bernardus und seiner 'Summa' erweisen, erstmals auch die 'Summa' nach ihren verschiedenen Redaktionen differenzieren, die zugleich ihre Wanderungen nach Deutschland und Frankreich beobachtbar machen. Seit Haskins ist bekannt, daß die 'Summa' des Bernardus eine mit Abstand reichere und weiter gestreute Überlieferung besitzt als bis zu Transmundus und Bernhard von Meung jede andere Ars. Sie ist auch der am stärksten normbildende Traktat des 12. Jahrhunderts, der entwicklungs- und wirkungsgeschichtlich wichtigste. Das Ensemble ihrer Handschriften, Redaktionen, Bearbeitungen und Exzerpte repräsentiert daher einen zentralen Teil der Geschichte der Ars dictandi im 12. und frühen 13. Jahrhundert überhaupt. Ganz im Gegensatz zu ihrer Bedeutung steht die Tatsache, daß in den immerhin 60 Jahren seit Haskins' grundlegender Arbeit keine wirklich neuen Ergebnisse zu Textgeschichte und Autor veröffentlicht wurden. Im besten Fall werden Haskins' Erkenntnisse reproduziert 14 , aber noch nach deren Veröffentlichung übernimmt Max Manitius (bzw. sein Bearbeiter, Paul Lehmann) ohne Bedenken Langlois' Identifizierung des italienischen Magisters mit Bernhard Silvestris und unterscheidet zudem nicht deutlich zwischen dessen Traktat und dem des Bernhard von Meung 15 . Aus dieser bis heute verbreiteten Unkenntnis über Autor, Textgeschichte und Inhalt resultieren immer wieder Mißverständnisse und Fehleinschätzungen, auch im Blick auf andere Artes dictandi des 12. Jahrhunderts 16 .
213, hier S. 213. Hauréau spricht ohne näheren Kommentar v o n der „Ars dictaminis de Bernard Silvestris", die der Wiener Cod. 246 enthalte. 11
BARTHÉLÉMY HAURÉAU, Maître Bernard, in: Bibliothèque de l'école des chartes 54, 1893, S. 792 — 7 9 4 ; RENÉ M E R L E T — J . ALEXANDRE CLERVAL, U n M a n u s c r i t c h a r t r a i n d u X I E siècle, C h a r t r e s
1893,
S. 196; J . ALEXANDRE CLERVAL, Les écoles de Chartres au moyen-âge, Paris 1895, S. 158 — 162. 12
Vgl. auch REGINALD LANE POOLE, The Masters of the Schools at Paris and Chartres in J o h n of
13
CHARLES HOMER HASKINS, A n Italian Master Bernard, in: Essays in History presented to Reginald
Salisbury's Time, in: English Historical Review 35, 1920, S. 3 2 1 - 3 4 2 , hier S. 3 2 6 - 3 3 1 . Lane Poole, O x f o r d 1927 (Nachdruck 1969), S. 2 1 1 — 2 2 6 . Wiederholung der Ergebnisse in Kurzfassung in seiner Übersicht: The early artes dictandi in Italy, in: DERS., Studies in medieval culture, Oxford 1929, S. 1 7 0 - 1 9 2 , hier S. 1 8 2 f . 14
Z. B. noch 1980 von HANS MARTIN SCHALLER im Artikel 'Bernardus Bononiensis', in: Lexikon des
15
MAX MANITIUS (bearbeitet von PAUL LEHMANN), Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelal-
16
Besonders deutlich z. B. bei JOHANNES MEISENZAHL, Die Bedeutung des Bernhard von Meung für
Mittelalters 1, M ü n c h e n - Z ü r i c h 1980, Sp. 1976. ters, 3, München 1 9 3 1 , S. 207 f. und 307 f. das mittelalterliche Notariats- und Schulwesen, seine Urkundenlehre und deren Überlieferung im Rahmen seines Gesamtwerkes, 3 Bde, Diss, (masch.) Würzburg 1960, hier 1, S. 2 1 , 4 3 — 4 6 und
Die ' S u m m a ' des Magister Bernardus
201
Gegenüber den von Haskins zusammengestellten acht Handschriften konnte das Überlieferungsbild der 'Summa' des Magister Bernardus inzwischen um eine komplette Abschrift aus dem 12. Jahrhundert sowie um fünf kleinere Auszüge oder Fragmente ergänzt werden. Gravierender ist aber, daß die Zusammenhänge und Zäsuren in der Textgeschichte, ausgehend von einer detaillierten Kenntnis des Textes, zu einem guten Teil anders angesetzt werden müssen als bei Haskins. Zunächst sind zwei Handschriften, die er noch als Textzeugen für die 'Summa' anführt, endgültig auszusondern: 1. W = Wien, Österreichische Nationalbibl., Cod. 246, Bl. 5 1 r - 5 7 v . 13. Jh., Bl. 42 v Eintrag eines Minoritenbruders aus Schierling (Bayern). Inc.: Consimiles res omnis amat [...] De competenti dictaminum et grata scientia. Die Sammelhs. enthält im Umkreis dieses Traktates jeweils von Händen des 13. Jh.s auf Bl. 43 r —45 r die Brief- und Privilegienlehre des Bernhard von Meung, Bl. 45 v —50v und 65 r —68 v Auszüge aus der 'Ars versificatoria' des Matthäus von Vendome, Bl. 58 r —64 v grammatische Exzerpte. B e s c h r e i b u n g d e r H s . : HASKINS 1 9 2 7 ( w i e A n m . 1 3 ) S . 2 1 9 f.; MEISENZAHL ( w i e A n m . 1 6 ) S . 1 0 3 — 1 0 5
(mit älterer Literatur zur Hs.); MIRELLA BRINI SAVORELLI, II 'Dictamen' di Bernardo Silvestre, in: Rivista critica di storia della filosofia 20, 1965, S. 182—230, hier S. 200 (trotz Edition des Textes bietet sie keine brauchbare Hs.enbeschreibung); FRANCO MUNARI, Mathei Vindocinensis Opera 1 (Storia e letteratura 144) Rom 1977, S. 114f.; CHARLES VULLIEZ, Un nouveau manuscrit „parisien" de la summa dictaminis de Bernard de Meung et sa place dans la tradition manuscrite du texte, in: Revue d'histoire des textes 7, 1977, S. 1 3 3 - 1 5 1 , hier S. 134 Anm. 5.
Haskins identifizierte diesen Text als eine späte, zudem stark bearbeitete Fassung der 'Summa', die mit ihren Ortsnamen nach Frankreich weise17. Anläßlich ihrer Edition des Textes im Jahre 1965 unternahm Brini Savorelli nach Langlois und Haureau erneut den Versuch, ihn Bernhard Silvestris zuzuschreiben18. Eine genauere Prüfung der Textgeschichte der 'Summa' und ein Vergleich mit weiteren Artes dictandi des 12. Jahrhunderts hätten sie vor dieser offensichtlichen Fehleinschätzung bewahren können. Denn die bisher als späte Redaktion der 'Summa' gehandelte, anonym überlieferte Ars 'De competenti dictaminum' ist eine zu Beginn des 13. Jahrhunderts vermutlich in Südfrankreich entstandene Kompilation, die zwar mit dem Versprolog der 'Summa' einsetzt und mithin deren Autornennung
17 18
öfter. Er gibt eine etwas konfuse Darstellung zur Ausbreitung der ' S u m m a ' des Magister Bernardus, in der er die Inhalte verschiedener Textzeugen verwechselt (den Wiener Cod. 246 mit dem Brüsseler Cod. 2070), außerdem kennt er die in der französischen Redaktion überlieferte Privilegienlehre offensichtlich nicht, so daß er die Einbeziehung von Privilegienlehren bei Peter von Blois und in der ' S u m m a dictaminum' Rudolfs von Tours als Neuerung bezeichnet (S. 58 f.). HASKINS 1927 (wie Anm. 13) S. 219 f., er kennzeichnet diese Fassung mit der Sigle I. BRINI SAVORELLI (wie oben) S. 193: „Diventa così plausibile un'ipotesi che aveva insinuato già il Langlois, e cioè che con I ci troviamo forse dinanzi ad una copia, fatta in ambiente germanico, del trattato che Bernardo Silvestre compose a Tours nella seconda metà del secolo . . . " Ihr Hauptargument ist die französische Herkunft der Muster und insbesondere ein Brief des Grafen Theobaldus von Blois, Seneschall von Frankreich. Die Suche nach der Ars dictandi des Bernhard Silvestris ist bis h e u t e n i c h t a b g e s c h l o s s e n ; v g l . ANDRÉ VERNET ( m i t WINTHROP WETHERBEE), B e r n a r d u s S i l v e s t r i s , i n :
Lexikon des Mittelalters 1, München — Zürich 1980, Sp. 1978. Gerade die Artes dictandi aus dem Umkreis des Magister Bernardus bieten hier immer wieder Anstoß zu neuen Spekulationen.
202
Monika Klaes
für sich beansprucht, im folgenden aber ihr Material aus verschiedenen Artes des 12. Jahrhunderts bezieht19. Neben dem Werk des Bernardus sind dies vor allem die zur französischen Tradition gehörenden, um 1187 entstandenen 'Flores dictaminum' des Bernhard von Meung 20 und die mit den 'Flores' eng verwandte, um 1180 möglicherweise von Rudolf von Tours verfaßte 'Summa dictaminis' aus Orleans21. Liegen schon diese Quellen mit ihrer Entstehungszeit außerhalb der Lebensdaten des Bernhard Silvestris, so sprechen die in den Salutationsmustern verwendeten Namen für eine Entstehung erst 1204 bis 1214: Papst Innozenz (III., 1198 — 1216), König I(ohann) von England ( 1 1 9 9 - 1 2 1 6 ) , König Otto (IV., 1 1 9 2 - 1 2 1 4 ) sowie ein Kaiser C. von Konstantinopel, der 1204 als Terminus post quem nahelegt, da Byzanz erst 1204 einen lateinischen Kaiser hat22. Die Erwähnung der Bischofssitze Salzburg, Regensburg und Mainz ist Indiz für eine spätere deutsche Bearbeitung des Traktates. Die in W überlieferte, anonyme Ars 'De competenti dictaminum' gehört demnach zur Wirkungsgeschichte, nicht aber unmittelbar zur Überlieferung der 'Summa' des Magister Bernardus. 2. M = Mantua, Bibl. comunale, Ms. A II.l, Bl. 7 3 r - 1 2 2 v . 2. Hälfte des 12. Jh.s, aus S. Benedetto di Polirone. Inc.: Ad discendam illam scientiam accelerare quisque laboret. 19
20
Jüngst entdeckt wurde ein kurzer Abriß der Ars dictandi, dessen Text im wesentlichen ebenfalls in der Ars 'De competenti dictaminum' wiederkehrt: Zaragoza, UB, Cod. 41 (ehemals 225), Bl. 64va— 65 vb , inc.: Ut compendiosam et congruam doctrinam. Er bietet kurze Ausführungen zum Dictamen, zum Brief mit seinen fünf Partes und Kursusregeln. Personen- und Ortsnamen, die zur Datierung herangezogen werden könnten, fehlen; einzig ein Magister G. wird im Abschnitt zur Salutatio wiederholt erwähnt. Im Blick auf die Ars in W sind jeweils nur kurze Passagen übereinstimmend, nur bei den Ausführungen zur Konstruktion der Salutatio ist es ein längerer Abschnitt. Hier bietet die Ars der Hs. Zaragoza den ausführlicheren Text, was eine Abhängigkeit von W ausschließt. Eine vollständige Edition der 'Flores dictaminum', die in ihren Überlieferungen jeweils stark bearbeitet wurden, liegt bisher nicht vor. Für die Brieflehre heranzuziehen ist LEOPOLD DELISLE, Notice sur une ' S u m m a Dictaminis' jadis conservée à Beauvais, in: Notices et Extraits 36, 1899, S. 179 — 201 (Auszüge aus den 'Flores dictaminum' nach Abschrift der verlorenen Hs. aus Beauvais), außerdem WALTER ZÖLLNER, Eine neue Bearbeitung der 'Flores dictaminum' des Bernhard von Meung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Gesellschafts- und sprachwiss. Reihe 13, 1964, S. 335—342, der S. 337—341 die Brieflehre aus dem Wiener Cod. 896 veröffentlicht. — Literatur zur Brieflehre: MEISENZAHL (wie Anm. 16) hier S. 127 — 151; FRANZ-JOSEF SCHMALE, Der Briefsteller Bernhards von Meung, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 66, 1958, S. 1—328.
21
Edition: LUDWIG ROCKINGER, Briefsteller und Formelbücher des 11. bis 14. Jahrhunderts, München 1863 — 64 (Nachdruck Aalen 1969), S. 103 — 114. Literatur: HENRY SIMONSFELD, Historisch-diplomatische Forschungen, 4: Ueber die Formelsammlung des Rudolf von Tours, in: Münchener Sitzungsberichte, München 1898, 1, S. 4 0 2 - 4 8 6 ; MEISENZAHL (wie Anm. 16) S. 1 3 9 - 1 4 2 . Mit der ' S u m m a dictaminis' gemeinsam hat der Traktat 'De competenti dictaminum' nicht nur den von BRINI SAVORELLI (wie S. 201) S. 192, erwähnten und für die Autorschaft des Bernhard Silvestris beanspruchten Brief des Grafen Theobaldus von Blois, sondern auch Definitionen der Briefteile (die meist alternativ neben die der ' S u m m a ' des Magister Bernardus treten) und weite Teile der Salutationsmuster.
22
Der erste lateinische Kaiser in Byzanz war Balduin von Flandern (1204—1205); vgl. GEORG OSTROGORSKY, Geschichte des byzantinischen Staates (Handbuch der Altertumswissenschaften) München 3 1967, S. 360 ff. und JOAN M. HUSSEY (Hg.), The Cambridge Médiéval History, 4: The Byzantium Empire, 1: Byzantium and its neighbours, Cambridge 2 1966, S. 289 ff.
Die 'Summa' des Magister Bernardus
203
Der unter dem Titel: Introductiones prosaici dictaminis a bernardino utiliter ü b e r l i e f e r t e Traktat b e s t e h t aus B r i e f l e h r e (Bl.
73v
—92 r ),
composite
E x o r d i e n s a m m l u n g (Bl.
9 2 r — 1 0 3 r ) , F i g u r e n l e h r e (Bl. 1 0 3 r — 1 0 6 r ) , e i n e m A u s z u g aus d e r ' A u r e a G e m m a ' des H e n r i c u s F r a n c i g e n a (Bl. 1 0 6 1 — 1 0 7 r ) 2 3 u n d einer B r i e f s a m m l u n g (Bl. 1 0 7 r — 1 2 2 v ) 2 4 . E r e r s t r e c k t sich ü b e r den g e s a m t e n z w e i t e n Teil d e r Hs. u n d w a r u r s p r ü n g lich m ö g l i c h e r w e i s e selbständig, e n t s t a m m t a b e r d e m s e l b e n S k r i p t o r i u m w i e d e r erste Teil m i t einer S a m m l u n g v o n 7 5 B r i e f e n I v o s v o n C h a r t r e s . Spätestens i m 1 5 . J h . w u r d e n beide Teile z u s a m m e n g e b u n d e n 2 5 . Beschreibung
d e r H s . : KALBFUSS ( w i e A n m .
2 4 ) S . 2 — 6; HASKINS 1 9 2 7 ( w i e A n m .
1 3 ) S.
217;
B. BENEDINI, I manoscritti Polironiani della biblioteca comunale di Mantova (Atti e memorie, N.S. 30) Mantua 1958, S. 75. D a ß a u c h diese H a n d s c h r i f t eine v o n d e n ü b r i g e n T e x t z e u g e n d e r ' S u m m a ' deutlich a b w e i c h e n d e F a s s u n g ü b e r l i e f e r t , hat H a s k i n s nicht e r k a n n t , u n d seine E i n o r d n u n g des Textes u n t e r die R e d a k t i o n e n d e r ' S u m m a ' 2 6 w u r d e bis h e u t e nicht korrigiert.
E r stützt seine B e w e r t u n g
des Traktates m a ß g e b l i c h
auf die
A u s f ü h r u n g e n v o n K a l b f u s s , in d e n e n aber die d a m a l s bereits b e k a n n t e n Ü b e r l i e f e r u n g e n zu M a g i s t e r B e r n a r d u s keine E r w ä h n u n g f i n d e n . D e r d i r e k t e V e r g l e i c h zeigt, d a ß die ' I n t r o d u c t i o n e s prosiaci d i c t a m i n i s ' 2 7 z w a r s o w o h l zeitlich als auch inhaltlich d e r ' S u m m a ' d u r c h a u s nahestehen, a b e r n i c h t i m S i n n e einer R e d a k t i o n dieses Textes; eine d i r e k t e A b h ä n g i g k e i t liegt nicht v o r . D a s V e r h ä l t n i s d e r beiden Traktate z u e i n a n d e r b e d a r f n o c h einer g e n a u e r e n K l ä r u n g 2 8 . Ü b e r r a s c h e n d k o n n t e in j ü n g s t e r Z e i t eine z w e i t e Ü b e r l i e f e r u n g d e r ' I n t r o d u c t i o n e s ' identifiziert w e r d e n 2 9 :
23
24
25 26
27
28 29
Inc.: Notandum est quod quandoque laudantur homines. Der Auszug entspricht in der Leiths. Wolfenbüttel, Herzog August-Bibliothek, Cod. 56. 20. Aug., Bl. 70 r + v und enthält Beispiele für Personenlob und -tadel. Zugeordnet ist er der am Rande nachgetragenen Kapitelüberschrift Quomodo laudentur vel vituperentur homines. Die von Henricus Francigena für diesen Textausschnitt benutzte Hauptquelle ist das 'Breviarium' Alberichs von Montecassino, § 6. Wiedergabe dieser Briefsammlung teils durch vollständigen Abdruck, teils durch knappe Inhaltsangaben bei HERMANN KALBFUSS, Eine Bologneser Ars dictandi des 12. Jahrhunderts, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 16, 1914, S. 1—35, hier S. 14—35. Ergebnisse nach KALBFUSS (wie Anm. 24) S. 2 f. HASKINS 1927 (wie Anm. 13) S. 217. Er bezeichnet die Mantuaner Hs. mit der Sigle D und identifiziert sie als zweite, noch in Italien entstandene, aber um Briefmuster erweiterte Fassung, vergleichbar der in der Savignaner Hs. (S) überlieferten, die zwischen 1145 und 1152 entstanden ist. Der von der Mantuaner Handschrift überlieferte Titel kann im weiteren als Werktitel herangezogen werden, er unterscheidet sich deutlich von den für die 'Summa' angebotenen Titeln (vgl. nach Anm. 47). Als Arbeitstitel verwende ich im folgenden die Kurzform 'Introductiones'. Siehe dazu Abschnitt V. Da die Hs. im Mikrofilm erst kurz vor Fertigstellung dieses Aufsatzes verfügbar war, konnten die aus der neuen Überlieferung ableitbaren Erkenntnisse nur oberflächlich eingearbeitet werden, insbesondere mußte auf eine ausführliche Handschriftenbeschreibung verzichtet werden; die folgenden Angaben zum Inhalt können nur eine vorläufige Orientierung über die Bedeutung der Hs. vermitteln. — Mein ausdrücklicher Dank gilt an dieser Stelle Frau Dr. Jutta Lütten, die den Hinweis auf die Handschrift entdeckte und eine erste Identifizierung des fraglichen Traktates vornahm, sowie Frau Annette Gerlach, die mir die betreffenden Blätter verfügbar machte und mich mit ersten Informationen zur Handschrift versorgte.
204 Z
Monika Klaes
= Zaragoza, UB, Cod. 41 (ehemals 225), Bl. 5 4 r b - 6 4 r b . 13. Jh., aus Spanien (Aragon)? auf der Grundlage einer französischen Vorlage, bekannt als Codex Villarensis.
Inc.: Antecessorum nostrorum vita nobis successoribus debet esse magister. Der Traktat hat hier die Überschrift: Incipiunt prosaici dictaminis exordia a Bernardino30 sociorum utilitate composita. Voran geht eine Kursuslehre, die mit der Überschrift Prohemium Bernardini falschlich zu den 'Introductiones' gerechnet wird (Bl. 54 r a _ b ), doch beginnt der Prolog erst Bl. 54 rb . Gegenüber der Überlieferung in M sind einige Sätze vorgeschaltet, die den Prologcharakter noch verstärken. A n einigen anderen Stellen bietet Z ebenfalls einen ausführlicheren, meist auch zuverlässigeren Text, der aber bei Personen- und Ortsnamen weitgehend mit M übereinstimmt; in einer Salutatio (Bl. 56 vb ) wurde der Ortsname Arezzo durch Palentia ersetzt. A n die Brieflehre (Bl. 5 4 r b - 6 3 r b ) schließen sich Exordien (Bl. 63 rb , 5 9 v b - 6 1 v b ) 3 1 und die Figurenlehre (Bl. 63 v a —64 r b , endet fragmentarisch 32 ) an. Die Hs. überliefert auf Bl. 43 ta — 84 rb verschiedene Texte zur Ars dictandi, u. a. die 'Summa de arte dictandi' des Magister Gaufredus (Bl. 43 ra —49 ra ), in die ein kurzer Abriß zur Ars dictandi eingefügt wurde (Bl. 47 v b —48 r a , inc.: Pretermissis
ambagabus
ab ipsa descriptione
dictaminis)^,
eine bisher unbekannte, anonyme Brief-
lehre (Anfang 13. Jh.), die der in W überlieferten nahe steht (Bl. 64 va —65 vb , inc.:
Ut compendiosam et congruam doctrinam dictaminis habere possumus), gefolgt von einer Briefsammlung (Bl. 65 v b —68 vb ). Außerdem die in Frankreich entstandene A r s
'Floribus rethoricis' (Bl. 69ra—70va, inc.: Floribus rethoricis verba non facile
depinguntur),
die mit einem Auszug aus dem Salutationskapitel der 'Aurea Gemma' des Henricus Francigena verbunden wurde (Bl. 7 0 v a _ v b ) 3 4 , und die Briefsammlung des Bernhard von Meung (Bl. 7 1 r a - 8 4 r b ) . 30
31
32 33
34
Der Name Bernardinus wurde in beiden Titeln als Kryptogramm ( b f r n b r d k n p bzw. bfrnbrdknk) geschrieben. Sie beginnen Bl. 63 rb unter dem Titel Exordia tarn privilegiis quam aliis oportunis tractatibus adhibenda. Der größte Teil der Exordien ist aber als Einschub in den Text der Brieflehre geraten, markiert dort durch entsprechende Verweiszeichen am Rand. Sie bricht im ersten Beispiel zur Gradatio ab (Expl.: et hoc est exemplum: Huic etenim). Die Handschrift überliefert den Text des Gaufredus nicht in seiner korrekten Reihenfolge, sondern beginnt Bl. 43™ mit dem Versprolog zu Kapitel II (Exordium), gefolgt von einem fremden Einschub (Bl. 43™—44RB, Briefmuster). Erst auf Bl. 44RB wird die 'Summa de arte dictandi' fortgesetzt, und zwar bis zum Epilog auf Bl. 47VB, Bl. 48" stehen dann Versprolog und Kapitel I des Traktates, der bis Bl. 49™ reicht. Das Explicit steht erst am Ende des Textes von Henricus Francigena, der ohne Übergang an die Ars 'Floribus rethoricis' anschließt. Eine ausführliche Darstellung zur 'Aurea Gemma' des Henricus Francigena, die sehr uneinheitlich überliefert ist, liegt bisher nicht vor; erste Informationen bei HASKINS 1929 ( w i e A n m . 13) S. 178 — 180 u n d WILLIAM D. PATT, T h e early ' A r s d i c t a m i n i s ' as
response to a changing society, in: Viator 9, 1978, S. 133—144, hier S. 140—144. Zu den 'Floribus rhetoricis' vgl. MARTIN CAMARGO, The 'Libellus de arte dictandi rhetorice' Attributed to Peter of Blois, in: Speculum 59, 1984, S. 16—41, hier S. 26 f. und passim. Für den bisher kaum beachteten Traktat liegen damit immerhin sechs Textzeugen vor; außer der hier genannten müssen der von Camargo angegebenen Hs. (London, British Library, Ms. add. 18382, Bl. 58'—65T) noch hinzugefügt werden: Paris, BibL Nat., Ms. lat. 8314, Bl. 79'-83 R ; Basel, UB, Cod. F VI 15, Bl. 145 R -150 V ; Paris, Bibl. Nat., Ms. nouv. acq. lat. 757, Bl. 46'—47R (beginnt fragmentarisch) und Tortosa, Archivo Capitular, Cod. 227, Bl. 119 RB -120 YB (endet fragmentarisch).
Die 'Summa' des Magister Bernardus
205
Beschreibung der Hs.: JOSÉ M. RAMOS R LOSCERTALES, Textos para el estudio del derecho Aragonés en la edad media, in: Annuario de historia del derecho español 5, 1928, S. 389—411, hier S. 390; Exposición antologica del tesoro documental, bibliográfico y arqueológico de España, Madrid 1959, S. 81—83; CHARLES FAULHABER, Las retóricas hispanolatinas medievales, in: Repertorio de historia de las Ciencias ecclesiasticas en España 7 (Instituto de Historia de la Teologia Española. Estudios 7) Salamanca 1979, S. 11—65, hier S. 18 und Anm. 15; PAUL OSKAR KRISTELLER, Iter Italicum, 4 (Alia itinera II): Great Britain to Spain, London —Leiden—New York — Kobenhavn — Köln 1989, S. 668 (benutzt die Beschreibung Faulhabers).
Nahe verwandt mit den 'Introductiones' ist außerdem eine weitere Überlieferung: w = Wien, Österreichische Nationalbibl., Cod. 2507, Bl. V - T . Anfang des 13. Jh.s, im 15. Jh. im Besitz von Job Vener. Inc.: Introducendis in artem dictandi dicendum est primo quid sit dictare. Die Sammelhs. zur Ars dictandi enthält verschiedene Traktate und Mustersammlungen des 12. Jh.s. In den Umkreis des Magister Bernardus gehören eine Exordiensammlung (Bl. 14v —25v, ine.: Quanta intime fidelitatis per conseverantia), eine Sammlung von Salutationes (Bl. 25 v —27 r ) und das Kapitel Qualiter verba venuste ponantur (Bl. 68 r _ v ). Beschreibung der Hs.: HERMANN HEIMPEL, Die Vener von Gmünd und Straßburg. 1162 — 1447, 2, Göttingen 1982, S. 995 — 997 (dort Nachweis der älteren Literatur).
Die anonym überlieferte Ars 'Introducendis in artem dictandi' schrieb Haskins — bisher unwidersprochen — einem Guido von Bologna zu. Er identifizierte dazu den im Traktat mehrfach als Absender vertretenen Widó^ mit dem ebenfalls Guido genannten Verfasser einer auf Bologna verweisenden Briefsammlung des Savignaner Cod. 4536. Doch im vorliegenden Traktat spielt Bologna keine Rolle, dafür aber wird der Gegenpapst Victor (IV., 1159 — 1164) erwähnt 37 , während in der Savignaner Briefsammlung Alexander III. Papst ist, so daß sich eine Verbindung zwischen beiden Texten kaum herstellen läßt. Der Verfasser bzw. Bearbeiter der Ars 'Introducendis' muß vorerst weiter anonym bleiben. In Anlage, Definitionen und Beispielen stimmt der Traktat weitgehend mit den 'Introductiones' überein, im einzelnen ist er etwas sorgfältiger formuliert und konsequenter angeordnet. Er endet bereits nach der Behandlung der fünf Partes epistolae, die Salutationsmuster fehlen, andererseits hat er einige zusätzliche Lehrstücke aufgenommen. Eine direkte Abhängigkeit von den 'Introductiones' ist
35
In den Beispielen für die Salutatio subscripta etc. sowie für die grammatische Konstruktion der Salutatio (Bl. 4V, 5R). Briefpartner des Wido ist jeweils Bruno, der einmal cantator tituliert wird (Bl.
36
Näheres zu dieser Sammelhandschrift der Ars findet sich auf Bl. 1 3 4 ' — 1 5 3 V unter dem Titel: Guidone non inutiliter composite. Bl. 4V: Reverendo patri ac domino maxime timendo F. dei gratia Romanorum imperatori (!) et Semper
5').
37
dictandi unten S. 209. Die fragliche Briefsammlung Incipiunt epistole secundum rectum et naturalem ordinem a Victori, dei gratia augustus.
sancte romane ecclesie summo
pontifici,
206
Monika Klaes
unwahrscheinlich, die Nähe beider Texte erlaubt es aber, von einer zweiten, etwa 1159 bis 1164 entstandenen Redaktion eines gemeinsamen Ausgangstextes zu sprechen 38 . II
Trotz dieser Korrekturen bleibt mit sieben vollständigen und fünf fragmentarischen Überlieferungen bzw. Auszügen noch eine für die Ars dictandi des 12. Jahrhunderts ungewöhnlich große Zahl von Textzeugen der 'Summa' des Magister Bernardus. Diese zeichnen sich überdies dadurch aus, daß der eigentliche Kern des Traktates kaum Veränderungen unterliegt. Abweichungen ergeben sich einerseits bei den Orts- und Personennamen der eingestreuten Muster, andererseits durch die Einbeziehung unterschiedlicher Zusatztraktate wie Figuren-, Privilegienlehre oder Texte zum Metricum und Rithmicum dictamen. Nach Maßgabe dieser Abweichungen läßt sich der größte Teil der Textzeugen drei Redaktionen mit unterschiedlicher Entstehungszeit und Verbreitung zuordnen; Entstehungsort der 'Summa' ist mit großer Wahrscheinlichkeit Faenza, da in den Salutationsmustern wiederholt der Bischof R(ambertus) von Faenza (1141 — 1167) genannt ist und auch der Einleitungsbrief zur Exordiensammlung den Verfasser als Kleriker in Faenza ausweist 39 . R e d a k t i o n A: entstanden um 1144/45, überliefert überwiegend in Handschriften des südlichen deutschsprachigen Gebietes. Der Versprolog ist hier erweitert um 36 Hexameter, 17 davon sind dem Epilog Marbods zu 'De ornamentis verborum' entnommen 40 . Faenza erscheint nur im Einleitungsbrief der Exordiensammlung, in den Salutationsmustern ist dieser Ortsname unterdrückt, statt dessen ist wiederholt von einem R. episcopus die Rede, wo die anderen Redaktionen den Bischof R(ambert) von Faenza nennen. Bu = Budapest, Orszägos Szechenyi Könyvtär, Clmae 10, Bl. ll r —41 r . 12. Jh. Der 'Summa' voraus geht Bl. l r — l l r der 'Liber dictaminum' Baldwins von Viktring. Auf den letzten, freigebliebenen Seiten wurden einige kurze Texte 38
39
40
Da umfangreiche Salutationsmuster fehlen, gibt die Anm. 37 zitierte Salutatio Kaiser Friedrichs I. an den Gegenpapst Viktor IV. den einzigen Datierungshinweis; Ortsangaben sind nicht enthalten. Der Verfasser bzw. Bearbeiter des Traktates rechnet sich selbst zu den Klerikern, die er im Kontext des Personenschemas der mittleren Kategorie (situs mediocris) zuordnet (Bl. 4V). Licet mi, Henrice carissime, tum imminentis Faventim eccksie perturbationis incommodo tum siquidem quibusdam specialibus mee per softe sollicitudinibus prepeditus gravior sim ac laböriosior solito, tuis tarnen precatibus inmensis non parum commotus pro temporis et otii largitione voluntati tue satisfacere disposui (P, Bl. 21 v ). P bietet zwar nicht die älteste Fassung der 'Summa', ist aber mit seiner Textqualität den anderen Uberlieferungen meist überlegen und wird daher für alle folgenden Zitate aus der 'Summa' herangezogen. Die Textwiedergabe orientiert sich im wesentlichen an der Schreibweise der Handschrift, abgesehen von der üblichen Auflösung der Kürzel, Vereinheitlichung der Groß- und Kleinschreibung, Normierung von u und v sowie c und t. Korrekturen gegenüber der Handschrift, die nicht aus anderen Handschriften abgeleitet sind, werden recte wiedergegeben. Auf einen monastischen Hintergrund dieser Redaktion deuten die Verse: Non est sanctorum monachorum fingere metra Carmine leniri dudum fera corda solebant, At nunc carminibus mollia corda tument. (Bu, Bl. 1 2 r - v )
Die 'Summa' des Magister Bernardus
207
nachgetragen: Bl. 41v — 42* eine Liste von Meßanfangen (Inc.: Si quis has triginta missas), Bl. 42v zwei Epigramme gegen die römische Kurie: Papa iubet quecumque libet und Sex statuit casus40a sowie eine Darstellung des Zodiakus. Beschreibung der Hs.: EMMA BARTONIEK, Codices manu scripti latini, 1: Codices latini medii aevi, Budapest 1940, S. 14; SANDOR DURZSA, Baldwini Liber Dictaminum (Magistri Artium, Collana di Studi e Testi 3) Bologna 1970, S. 7.
G = Graz, UB, Cod. 1515, Bl. 46 r -127 r . Um 1200, Chorherrenstift Seckau. Auch der erste Teil der Hs. enthält Traktate zur Ars dictandi: Bl. V—20r den 'Liber dictaminum' Baldwins von Viktring und Bl. 20v—45v die 'Rationes dictandi' Hugos von Bologna. Auf dem freien Raum von Bl. 127r nachgetragen wurden 'Versus duodecim sapientium'. Beschreibung der Hs.: JOHANN LOSERTH, Formularbücher der Grazer Universitätsbibliothek, 2, in: Neues A r c h i v 22, 1 8 9 7 , S. 2 9 9 - 3 0 7 , hier S. 2 9 9 f . ; ANTON KERN, Die Handschriften der
Universitätsbibliothek Graz, 2, Wien 1956, S. 344.
V = Vatikan, Bibl. Apostolica Vaticana, Cod. Pal. lat. 1801, Bl. l r - 5 1 r . Ende des 12. Jh.s. Um 1152—1164 im süddeutschen Raum bearbeitete Fassung, ohne Versprolog; die 'Summa' wurde später zusammengebunden mit einer Ars dictandi des 13. Jh.s, die u. a. auf die Privilegienlehre des Bernhard von Meung zurückgreift (Bl. 52v —65r, inc.: Sepe recogitans intra mentem bonitatem). va = Vatikan, Bibl. Apostolica Vaticana, Cod. Vat. lat. 9991, Bl. 97 r -104 v . Anfang des 13. Jh.s, möglicherweise aus dem Zisterzienserkloster Sittichenbach (Sichemium), Diözese Halberstadt 41 . Es handelt sich um eine fragmentarische Abschrift von V, die einen Teil der Brieflehre (Bl. 97r—99v) sowie eine Auswahl der Exordiensammlung (Bl. 100r—104v) überliefert. Die Hs. enthält sonst überwiegend antike Texte; in die Nähe der Ars dictandi verweisen ein Auszug der 'Rhetorica ad Herennium' (4,8,11-4,43,57) mit Kommentar (Bl. 8 5 r - 8 7 v ) und die Figurenlehre 'De omamentis verborum' Marbods von Rennes (Bl. 88r—92v). Beschreibung der Hs.: MARCO VATASSO—ENRICO CARUSI, Codices Vaticani latini, 5, R o m 1 9 1 4 ,
S. 263 f.; BIRGER MÜNK-OLSEN, L'étude des auteurs classiques latins aux XI e et XII e siècles, 1, Paris 1982, S. 307.
e
40A
41
= Einsiedeln, Stiftsbibl., Cod. 331, Bl. 104r. 13. Jh. Knapper Auszug der 'Summa' (Definition des Briefes und Beginn des Salutationskapitels), der nachträglich an eine Überlieferung der 'Summa dictaminis' des Guido Faba (Bl. l r —103 v ) angefügt wurde.
HANS WALTHER, Initia carminum ac versuum medii aevi posterioris latinorum. Alphabetisches Verzeichnis der Versanfänge mittellateinischer Dichtungen, Göttingen 1959, Nr. 17611. Besitzeintrag aus dem 13. Jh. auf Bl. 96 v : Iste liber est S. Marie virginis in sieb.
208
Monika Klaes Beschreibung der Hs.: G A B R I E L M E I E R , Catalogus Codicum Manu Scriptorum qui in Bibliotheca Monasterii Einsidlensis O.S.B, servantur, 1, Leipzig 1899, S. 306 f.; N O Ë L D E N H O L M - Y O U N G , The cursus in England, in: Oxford Essays in médiéval history presented to Herbert Edvard Salter, Oxford 1934, S. 6 8 - 1 0 3 , hier S. 96.
R e d a k t i o n B: um 1 1 6 0 in Frankreich bearbeitete Fassung 42 , die von dort später in den Kölner Raum gewandert ist (Br). Typisch für die französische Redaktion ist die Ergänzung der 'Summa' um eine nach 1 1 5 8 entstandene bzw. bearbeitete Privilegienlehre 43 . P
= Poitiers, Bibl. publique, Ms. 213, Bl. l r - 3 2 v . 12. Jh., aus Frankreich. Die Hs. überliefert ausschließlich die 'Summa' des Magister Bernardus in Verbindung mit einigen Zusatztraktaten. Beschreibung der Hs.: Catalogue Générale des Manuscrits des Bibliothèques Publiques de France. Départements, 25: Poitiers, Paris 1894, S. 61 f.
Bg = Brügge, Bibl. de la ville, Ms. 549, Bl. 5 7 r - 1 0 5 v . Anfang des 13. Jh.s, aus Frankreich. Übereinstimmungen mit P bei Namenmaterial, Jahreszahlen und Traktaterweiterungen belegen die enge Verwandtschaft beider Überlieferungen. Die Hs. vereinigt verschiedene Werke zur Ars dictandi: Bl. l r —4V den 'Tractatus de dictamine' eines Magister Johannes, gefolgt von einer Briefsammlung (Bl. 4V —32 v ); Bl. 3 3 r - 5 6 v die bisher völlig unbekannte 'Summa Cognito' Radulfs von Vendôme. Beschreibung der Hs.: P I E R R E JOSEPH L A U D E , Catalogue méthodique, descriptif et analytique des manuscrits de la Bibliothèque Publique de Bruges, Bruges 1 8 5 9 , S . 5 4 9 f.; ALPHONSE DE POORTER, Catalogue générale des manuscrits des bibliothèques de Belgique, 2: Manuscrits de la Bibliothèque Publique de la ville de Bruges, Gembloux—Paris 1934, S. 658 f.
Br = Brüssel, Bibl. Royale, Ms. 2070, Bl. 9 2 r a - 1 0 4 r a . 13. Jh., aus Stablo. Die wiederholte Erwähnung des Kölner Erzbischofs sowie des Bischofs von Utrecht verrät den Bearbeiter aus dem Kölner Raum. A u f Bl. 1 0 4 r a - v a folgt von gleicher Hand der Beginn der 'Summa Cognito' Radulfs von
42
43
Im Kapitel zur historia steht die Jahreszahl 1160 als Terminus post quem für die Bearbeitung (P, Bl. 15"). Die Salutationsmuster verweisen mit Papst Eugen III. und König Konrad III. noch auf 1145 — 1152. Die Personennamen der Urkundenmuster gehören ebenfalls noch in die Zeit Papst Eugens III. und König Konrads III., die Ausstellungsdaten verweisen aber mit 1155 und 1158 auf eine spätere Entstehung. Vgl. dazu H E N R I O M O N T , Bulle du Pape Eugène III, in: Bulletin de la société de l'histoire de Paris et de l'Ile-de-France 21, 1894, S. 195 — 197; er ediert die in der Privilegienlehre überlieferte Bulle Papst Eugens III., deren Entstehung er aufgrund von Indiktionszahl und Personennamen und gegen das Ausstellungsdatum auf den 21. April 1147 datiert. Der Name des Kanzlers (Roland) sowie der Text der Rota passen dagegen zum Ausstellungsdatum und bestätigen die spätere Bearbeitung der Bulle.
Die 'Summa' des Magister Bernardus
209
Vendôme unter dem Titel Summa de dictaminibus. Es schließen sich die Gedichte 9, 10 und 7 des Archipoeta auf Bl. 104 v a -108 r an 44 . Beschreibung der Hs.: JOSEPH VAN DEN GHEYN, Catalogue des Manuscrits de la Bibliothèque Royale de Belgique, 1, Bruxelles 1901, S. 2 0 2 - 2 0 5 .
k
= Kopenhagen, Kongelige Bibl., Ms. Gl. kgl. S. 1905 4°, Bl. 123 r " v . 13. Jh., aus Bordesholm. Fragmentarischer Auszug der 'Summa' (ohne Versprolog), der in der Erörterung der Appositio abbricht; der Wortlaut legt eine Zuordnung zur Redaktion B nahe. Die Hs. wurde aus vier Teilen zusammengebunden, das Fragment steht am Beginn von Teil 3, es folgt 'De raptu Proserpinae' von Claudian mit Kommentar (Bl. 124 v -138 r ). Beschreibung der Hs.: AUGUST WETZEL, Die Reste der Bordesholmer Bibliothek in Kopenhagen, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holstein-Lauenburgische Geschichte 14, 1884, S. 43 — 156, hier S. 80—87; ELLEN JORGENSEN, Catalogus Codicum Latinorum medii aevi Bibliothecae regiae hafniensis, Hafniae 1926, S. 334; BJARNE BERULFSEN, Et blad av en Summa dictaminum, in: Avhandlinger utgitt av det Norske Videnskaps-Akademi i Oslo II. Hist.-Filos. Klasse, Oslo 1953, No. 3, S. 1 - 1 7 , hier S. 3 - 1 1 .
R e d a k t i o n C: die durch die Personennamen abgesteckte Entstehungszeit entspricht der von Redaktion A. Die 'Summa' ist hier der erste Teil einer umfangreichen Sammlung von Traktaten und Beispielen zu den drei Bereichen: Prosaicum dictamen (insbesondere Brieflehre), Metricum und Rithmicum dictamen. Sie ist leicht gekürzt und endet mit dem Kapitel zu laus und vituperatio. Aus der folgenden Sammlung werden zahlreiche weitere Texte dem Magister Bernardus zugewiesen. S
= Savignano, Bibl. dell'Accademia dei Filopatridi, Ms. 45, Bl. l r - 1 1 2 v . Ende des 12. Jh.s. Von einer Hand geschriebene Sammelhs. zum Dictamen. Der Text der 'Summa' im engeren Sinn findet sich auf Bl. l r —37 v , ein Nachtrag auf Bl. 72v —74r (Auszug aus dem Kapitel zu weiteren Prosagattungen: invectiva, expositio, doctrina)-, weitere dem Magister Bernardus zugeschriebene Texte bis Bl. 112v. Beschreibung der Hs.: GIUSEPPE MAZZATINTI, Inventari dei Manoscritti delle Bibliotheche d'Italia, 1, T o r i n o 1 8 8 7 , S. 9 6 ; HASKINS 1 9 2 7 ( w i e A n m . 1 3 ) S. 2 1 6 f.; EDMOND FARAL, L e
manuscrit 511 du Hunterian Museum de Glasgow, in: Studi Medievali N.S. 9, 1936, S. 18 — 119, hier S. 80—83; AUGUSTO CAMPANA, Lettera di quattro maestri dello 'Studio' di Bologna all'imperatore Federico I nelle 'Epistolae' dei dettatore Guido, in: Atti dei convegno internazionale di studi accursiani a cura di Guido Rossi, Bologna 1968, S. 131 — 147, hier S. 135 f.
Die folgenden drei Auszüge lassen sich keiner der drei Redaktionen zweifelsfrei zuordnen: w = Wien, Österreichische Nationalbibl., Cod. 2507, Bl. 14 v -27 r . Anfang des 13. Jh.s, Sammelhs. zur Ars dictandi. 44
In diesem Zusammenhang wurde die Hs. erstmals erwähnt bereits von JACOB GRIMM, Gedichte des Mittelalters auf König Friedrich I. den Staufer und aus seiner so wie der nächstfolgenden Zeit (1843), in: DERS., Kleinere Schriften, 3: Abhandlungen zur Literatur und Grammatik, Berlin 1866, S. 1 - 4 8 , hier S. 20 und 34.
210
Monika Klaes
Exordiensammlung (Bl. 14v —25v) sowie ein Auszug aus dem Salutationskapitel: Salutationsmuster zu den Personenkreisen von Familie und Schule (Bl. 25 v —27 r ). Zur Beschreibung der Hs. siehe oben vor Anm. 35.
o
= Oxford, Bodleian Library, Ms. Laud. misc. 569, Bl. 1 9 0 v - 1 9 1 v und 1 9 5 v 196v. 13. Jh., aus Frankreich, wahrscheinlich aus einem Zisterzienserkloster 45 . Stark bearbeitete Auszüge aus der Prosavorrede, dem Definitionsteil und aus dem Appositio-Kapitel sowie Exordienmuster. Dem Auszug der 'Summa' voran geht Bl. 178v—190r die 'Oberitalienische Aurea Gemma, Redaktion 3. Beschreibung der Hs.: H. O. COXE, Catalogi Codicum Manuscriptorum Bibliothecae Bodleianae, 2, Oxford 1858, S. 407f.; FRANZ-JOSEF SCHMALE, Adalbertus Samaritanus, Praecepta Dictaminum (MGH Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 3) Weimar 1961, S. 22; HEINZJÜRGEN BEYER, Die 'Aurea Gemma'. Ihr Verhältnis zu den frühen Artes dictandi, (Teildruck) Diss. Bochum 1973, S. 47 f.
el = Erlangen, UB, Cod. 396, Bl. 53 vb . 1294, Kloster Heilsbronn. Überlieferung des 'Summarium Heinrici' (Bl. 34 r —93 v ), in dessen zweites Buch die 'Aurea Gemma' des Henricus Francigena eingeschoben wurde. An diese schließen sich Exzerpte verschiedener Artes dictandi, u. a. aus dem Salutationskapitel der 'Summa', an. Beschreibung der Hs.: HANS FISCHER, Die lateinischen Pergamenthandschriften der Universitätsbibliothek Erlangen, Erlangen 1928, S. 471—474; REINER HILDEBRANDT, ZU einer Textausgabe des 'Summarium Heinrici': Der Erlanger Codex (V), in: Zeitschrift für deutsches Altertum 101,1972, S. 289 — 303; WERNER WEGSTEIN, Studien zum 'Summarium Heinrici'. Die Darmstädter Handschrift, 6: Werkentstehung, Textüberlieferung, Edition, Tübingen 1985, S. 70 — 73.
Bevor im folgenden der allen drei Redaktionen gemeinsame Kernbestand der 'Summa' in den Blick genommen werden soll, muß kurz auf die Titel- und Autorbezeichnung eingegangen werden. Denn die bisher in der Forschung geläufige Bezeichnung 'Summa' bzw. 'Summa dictaminum' ist nur in einer einzigen und noch dazu späten Handschrift, in Br vertreten 46 . Ihre Popularität verdankt sie allein der Tatsache, daß diese Überlieferung zuerst gefunden und von Reiffenberg in Auszügen veröffentlicht wurde 47 . Dem Traktattext selbst läßt sich kein Titelhinweis entnehmen, und die Handschriften überliefern die Ars des Magister Bernardus unter höchst unterschiedlichen Überschriften, die zwar die Redaktionszugehörigkeiten widerspiegeln, aber keine Entscheidung zugunsten eines Titels erlauben: 45
46 47
Die vier Briefe auf Bl. 196 R-V , die den Auszug beschließen, richten sich alle an Mitglieder des Zisterzienserordens. Bl. 92": Summa dictaminum. Ein erster Hinweis auf diese Handschrift findet sich bereits bei GEORG HEINRICH PERTZ, Bemerkungen über einzelne Handschriften und Urkunden, in: Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 7, 1839, S. 2 2 7 - 1 0 2 2 , hier S. 1008, Nr. 24. REIFFENBERG (wie Anm. 9) schrieb die erste Veröffentlichung speziell zur 'Summa'; sie wurde wieder abgedruckt unter dem Titel 'Summa dictaminum' in: Annuaire de la Bibliothèque royale de Belgique 8, 1847, S. 129 — 135.
Die 'Summa' des Magister Bernardus
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In Redaktion A hat allein V eine Überschrift: Incipit prologus Berbardii}.) in librum dictaminum (Bl. l r ). Die Titel von P und Bg in Redaktion B sind fast identisch: Incipit dietarn inis prosaici competens erudicio a bernardino ad omnem utilitatem diligenter constituta (P, Bl. l r ) und Incipit dictaminis prosaici competens erudicio a bernardino ad omnem sociorum utilitatem diligenter constitutorum(\) (Bg, Bl. 57r). In Redaktion C wurde der Titel auf die Sammelhandschrift als ganze ausgerichtet: Incipit liber artis omnigenum dictaminum (Bl. 2 r ). Eine weitere Fassung bietet o mit Institucio dictaminum summatim (Bl. 190 v ). Angesichts dieser schon im Mittelalter verbreiteten Uneinigkeit scheint es zur Erhaltung einer gewissen Übersichtlichkeit sinnvoll, den in der Forschung inzwischen etablierten Titel 'Summa dictaminum' bzw. als seine Kurzfassung 'Summa' beizubehalten. Uneinigkeit besteht in der Überlieferung auch über den korrekten Autornamen; hier konkurrieren die Bezeichnungen Bernardus und Bernardinus miteinander, wie schon ein Blick auf die Titel von V, P und Bg zeigt. Weitere Überschriften zu Traktatergänzungen in P und Bg nennen ebenfalls Bernardinus als Autor 48 , dagegen findet sich der Name Bernhardus in G in der Schlußschrift zum Liber metrorum-. Explicit liber metrorum sufficientissima eruditio a bernhardo constituta (Bl. 127 r ) 49 , S hat sowohl Bernardus als auch Bernardinus in seinen Titeln 50 . In der 'Summa' selbst ist das Kürzel B., oft in der Verbindung B. dictaminum professionis minister, geläufig, einmal wird es zu Bernardinus aufgelöst 51 , sonst erscheint ausgeschrieben nur Bernardus 52 . Den Ausschlag zugunsten des Namens Bernardus gibt aber der Versprolog mit seiner Formulierung: Bernardus siquidem tantummodo verba notavit Cuncta velut doeuit spiritus almus eum. (v. 33/34)53 Trotz abweichender Angaben in einzelnen Überlieferungen kann daher weiterhin von der 'Summa' des Magister Bernardus die Rede sein. III
Was aber verbirgt sich hinter diesem Titel, was sind die charakteristischen Grundzüge des Textes, und worin besteht sein spezifischer Beitrag zur Entwicklung der Ars dictandi, der Magister Bernardus zu einer prominenten Schlüsselfigur dieser Lehre werden ließ? Zunächst einmal läßt sich der Kernbestand der 'Summa' grob in drei Teile mit je unterschiedlicher Grundausrichtung gliedern, die eingeleitet 48
45
50
51 52
53
P, Bl. 16v: Exornacionum rethoricorum excepcio secundum modum et numerum quo in dictaminibus prosaicis adhibende sunt a Bernardino composita. Bg, Bl. 81': Exornacionum excepcio [...] a Bernardino composita; Bl. 88r: Incipit libellus exordiorum Bernardini dictaminis professionis magistri ad Henricum ab eo nimium dilectum. Die Formulierung eruditio a Bernhardo constituta stimmt überein mit dem in Fassung B (P und Bg) überlieferten Titel zur Ars dictandi. S, Bl. 37 v : Incipit metrice scientie plena eruditio a Bernardo M. diligenter edita\ Bl. 87 v : Incipiunt multíplices epistule [...] a Bernardino composite. Bg, Bl. 65 v : Bernardinus dictaminum professionis minister. Z. B. Bg, Bl. 65 v , G, Bl. 63' (u. a.): ad Bemardum\ Br, Bl. 98': sub magistri bernardi doctrina; P, Bl. 4': Bernardus gregorio. P, Bl. l' b .
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werden durch einen Versprolog von 19 Distichen 54 . Der Verfasser der 'Summa' nutzt die Verse ohne falsche Bescheidenheit zur Darstellung seines eigenen Anspruchs und Selbstbewußtseins. An den Anfang stellt er die programmatische Forderung nach brevitas (v. 1—8), die ihn als Parteigänger der moderni ausweist. Entsprechend betont er in Abgrenzung von den veteres duces — gemeint sind nach Ausweis der Beispiele die antiken Autoren — die Gewißheit, daß sich sein Werk auch ohne vorherige Prüfung durch einen literarischen 'Richter' durchsetzen und ihm den verdienten Lohn einbringen werde (v. 9 — 20); von einer Einschränkung seiner eigenen Leistung ist keine Rede. A.st55 ego grata satis rudibus documenta ministrans Nullius arbitrio scripta relata dabo. Ipsum sei6 commendet opus pretiosaque Semper Auetori51 faciat munera ferre suo. (v. 17—20, P, Bl. l r a ) Mögliche Kritiker und Neider werden dann mit erneutem Hinweis auf die Qualitäten des Werkes zurückgewiesen (v. 21 —30), bevor in einer geschickten Schlußsteigerung die Vorstellung des eigenen Namens mit dem Inspirationsgedanken verknüpft (v. 31—34) und dem Leser ein Compendium versprochen wird, dessen Lektüre sowohl Nutzen als auch Vergnügen verspricht (v. 35 — 38). Der erste Teil (A) 58 der 'Summa' bietet eine ausführliche, sehr klar strukturierte Brieflehre. Im Verhältnis zu den früheren italienischen Artes ist diese Brieflehre ein Novum sowohl in ihrer methodisch-durchsichtigen Anlage als auch mit ihrer begrifflichen Systematik 59 — abgesehen allerdings von einer Ausnahme, auf die noch zurückzukommen ist. Detailliert vorgestellt werden die fünf Partes epistolae: Salutatio, Captatio benevolentiae, Narratio, Petitio, Conclusio, die im folgenden für die Ars dictandi verbindlich werden, sowie Abwandlungsmöglichkeiten bei der Briefkomposition durch Minderung der Zahl der Briefteile oder Änderung ihrer Anordnung. Eingebettet ist diese Systematik in knappe definitorische Bestimmungen des Dictamen und seiner Arten 60 sowie in eine Stilistik des Prosaicum dictamen, 54 55 56 57 58 59
60
Abdruck des Prologs nach Br bereits bei REIFFENBERG (wie Anm. 9) S. 272 f. P: At. P: me. P: actori. P, Bl. l ' b - 9 v . Bis dahin unterliegen die Anzahl der Briefteile sowie ihre Bezeichnungen noch großen Schwankungen. Vgl. HEINZ-JÜRGEN BEYER, Die Frühphase der 'Ars dictandi', in: Studi Medievali, 3A ser. 18, 1977, S. 19—43, zu den Briefteilen insbes. S. 33—38. Ebenfalls noch unausgewogen und je nach Vorliebe des Verfassers gestaltet sind das Verhältnis von Brieflehre und stilistischer Unterweisung sowie die Einbindung von Briefmustern in den Traktat. Die Einbindung der Brieflehre in eine übergreifende Lehre vom Dictamen wird schon in früheren Artes dictandi praktiziert, angefangen bei der Ars dictandi Alberichs von Montecassino. Vgl. FRANZ JOSEF WORSTBROCK, Die Anfänge der mittelalterlichen Ars dictandi, in: Frühmittelalterliche Studien 23, 1989, S. 1 - 4 2 , hier S. 25; BEYER (wie Anm. 59) S. 26. Die von Beyer dargestellten zwei Grundtypen sind zumindest in ihrer zeitlichen Abfolge dadurch fragwürdig, daß er Alberich fälschlich die Ars dictandi abspricht und auf einen späteren Zeitpunkt datiert. Er folgt hier der Einschätzung von PETER-CHRISTIAN GROLL, Das Enchiridion de prosis et de rithmis des Alberich von Montecassino und die Anonymi ars dictandi, Diss. (masch.) Freiburg 1963, S. 58 — 60, 66 und 70.
Die 'Summa' des Magister Bernardus
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die mit dem Begriff appositio die angestrebte Form des stilistisch anspruchsvollen Dictamen umschreibt. Im Rahmen der Stilistik wird zunächst eine Gliederung des Satzes nach drei distinctiones vorgestellt, dann folgen Hinweise zur Wortstellung. Eine Ergänzung zur Stillehre im Anschluß an die Briefsystematik bietet das Kapitel De inventione appositionum doctrina perutilis(A, das in enger Anlehnung an Alberich von Montecassino Beispiele für Ausdrucksvariation durch mutatio der Casus vorstellt 62 . Teil B 63 ist ebenfalls noch der Abfassung eines Briefes gewidmet, setzt aber mit einer neuen, bis dahin der Ars dictandi kaum vertrauten Fragestellung ein: unter dem Begriff der assumptio materie werden Kriterien gesucht, die dem Dictator eine inhaltlich schlüssige und an der Gesamtintention des Briefes orientierte Ausgestaltung der einzelnen Briefteile ermöglichen; ausführlich behandelt wird unter diesem Aspekt allerdings nur die Captatio benevolentiae. Daß hier die InventioLehre der antiken Rhetorik Pate gestanden hat, ist unverkennbar. Für die 'Summa' spezifisch ist die in diesem Zusammenhang eingeführte Differenzierung zwischen der Abfassung eines fiktiven Briefes und der eines Auftragsbriefes für einen Dritten. In ihr spiegelt sich die Ausrichtung der 'Summa' am konkreten Schulbetrieb, der eine Vielzahl von fiktiven Muster- und Übungsbriefen hervorbrachte. Zugleich ist sie interpretierbar als erste Entfernung von der engen Bindung an den konkreten, situationsgebundenen Brief 64 , zumal sich der größte Teil der Ausführungen zur assumptio materie der Abfassung eines fiktiven Briefes widmet und für den Auftragsbrief nur wenige Zeilen bleiben 65 . Von dort aus wendet sich der Text stilistischen Einzelaspekten zu, die z. T. seit dem Corpus Alberichs von Montecassino der Ars dictandi im weiteren Sinn vertraut sind: Vorschlägen für Exordienkonstruktionen, verschiedenen Möglichkeiten der Commutatio und stilistischen Vitia 66 . In Teil C 67 wird der Bereich des Briefes endgültig und ausdrücklich verlassen. Zunächst gibt Magister Bernardus eine Einführung zu den drei Genera des Stils: infimum, sublime, mediocre genus tractandi. Ihre Definitionen lehnen sich eng an die der drei Genera bzw. Figurae der 'Rhetorica ad Herennium' an 68 . Allerdings 61 62
63 64
65
66
67 68
P, Bl. 9V. Übernommen wurde ein Beispiel aus dem 'Breviarium', Kap. 1.5, zur Commutatio von Sentenzen: vgl. die Gegenüberstellung beider Texte bei WORSTBROCK (wie Anm. 60) S. 17 f. und Anm. 79. P, Bl. 9 V —14\ Eine Weiterführung dieses Ansatzes bietet Matthäus von Vendöme mit seinem 'Poetischen Briefsteller', der durch die Wahl von Distichen seine Briefe auch formal auf die literarische Ebene hebt. Einleitung zur Behandlung des fiktiven Briefes (P, Bl. 9V): Cum igitur a nobis materiam volumus assumere, duas quaslibet mittentis et recipientis fingamus personas, inter quas possint epistole convenienter destinari. Überleitung zur Behandlung des Auftragsbriefes (P, Bl. 11'): Hec autem diligenter universa observanda sunt his, qui de cordibus suis novam materiam formare intendunt. Ceterum cum de intentione alterius epistolam edituri sumus, continuo ex ipsius sermonibus universas partes epistole denotemus. Die Lehre der Commutatio nimmt im 'Breviarium' Alberichs breiten Raum ein (Kap. 1.2—1.5), Mustersammlungen zur Stilistik und ein Kapitel zu den 'Vicia orationis' finden sich in den Anhängen zum 'Breviarium' (Kap. 3.2 und 3.4). Zur Bedeutung der Commutatio bei Alberich und zu ihren Nachwirkungen in den Artes dictandi des 12. Jahrhunderts vgl. WORSTBROCK (wie Anm. 60) S. 15 f. P, Bl. 14 v —16 v . P, BL. 14V: Infimum appellatur, quoddemissum est usque adusitatam puerilis sermonis consuetudinem constructione tarnen recta non pretermissa. — Vgl. Rhetorica ad Herennium (Incerti Auctoris De Ratione Dicendi Ad C. Herennium Libri IV, hg. von FRIEDRICH MARX, Leipzig 1904) 4,8,11: Adtenuata est quae
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wird auch die Unterscheidung der Stilhöhen auf die praktischen Bedürfnisse der Korrespondenz abgestimmt, insofern nicht der Gegenstand, sondern der Adressat die Wahl der Stilart bestimmt: das infimum genus bleibt ungelehrten Adressaten vorbehalten, während das mediocre genus für alle anderen Fälle maßgeblich ist. Anschließend folgen Erläuterungen zu sechs weiteren Gattungen des Prosaicum dictamen, die als species dictaminum bereits in Teil A unmittelbar vor Beginn der eigentlichen Brieflehre kurz aufgezählt wurden 69 : bistoria, invectiva, expositio1®, rethorica oratio\sermo, mutua collocutio und doctrina. Diese Prosagattungen werden teils weiter spezifiziert, teils mit ihren Bestandteilen oder den erforderlichen Stilmitteln vorgestellt. Zusammenfassend läßt sich der Aufbau der 'Summa' wie folgt darstellen: Versprolog, inc.: Consimilem res omnis amat A. 1. Prosavorrede, inc.: De dictaminum scientia igitur 2. Definitorische Vorbemerkungen zum Dictamen mit seinen Arten und zur Appositio, inc.: Dictamen est congrua et apposita 3. Stilistik des Dictamen (Appositio), inc.: Appositio tunc recte formabitur 3.1. Satzgliederung (distinctiones) 3.2. Wortstellung 4. Überleitung zur Brieflehre mit Aufzählung weiterer Prosagattungen, inc.: Postquam prosaici dictaminis descriptionem 5. Umfassende Brieflehre 5.1. Definition der Epistola und Erörterung ihrer fünf Partes: Salutatio, Captatio benevolentiae, Narratio, Petitio, Conclusio, inc.: Epistola est oratio ex attributis sibi partibus 5.2. Abwandlung des Briefschemas: Minderung der Zahl der Briefteile und Änderung ihrer Anordnung, inc.: Quoniam igitur quinque partes 6. Ausdrucksvariation durch Mutatio der Casus, inc.: Ad inveniendas autem singulis dictaminibus appositiones B. 1. Inventio der einzelnen Briefteile, inc.: Cum sint quinque partes epistole 1.1. beim fiktiven Brief, insbes. zur Ableitung der Captatio benevolentiae 1.2. bei vorgegebenem Inhalt
m 70
demissa est usque ad usitatissimam puri consuetudinem sermonis. — (Bl. 15') Sublime autem genus tractandi vocatur, cum ornatiora verba quam possumus reperimus, et si tarn extranea quam propria verba ad rem mamquamque captabimus, et si verborum ac sententiarum exornationibus congruis utemur. — Vgl. Rhet. ad Her. 4,8,11: Gravis est quae constat ex verborum gravium levi et ornata constructione. — (Bl. 15 r ) Mediocre genus tractandi est, cum nec usque ad sublime progredimur, nec usque ad infimum inclinamur, sed propriis usitatisque sermonibus stilum inter utrumque dirigimus. — Vgl. Rhet. ad Her. 4,8,1: Mediocris est quae constat ex humiliore neque tarnen ex infima et pervulgatissima verborum dignitate (s. auch 4,9,13). — Dem sublime genus wird als Fehlform das suffultum genus gegenübergestellt: eine Verschreibung der in der Rhet. ad Her. 4,10,15 vorgestellten sufflata figura, die aber in allen Textzeugen der ' S u m m a ' anzutreffen ist und demnach auf den Autor selbst zurückgeführt werden muß. P, Bl. 3'. Im Zusammenhang von expositio und mutua collocutio Ausführungen zur Appositio zurückverwiesen.
wird der Leser jeweils auf die früheren
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2. Acht Exordienarten, inc.: Ne autem idoneorum verborum penuria 3. Lehrstücke zur Stilistik 3.1. Variation des Verbs in der narratio de presenti, de preterito, de futuro, inc.: Narrationum alie sunt de presenti 3.2. Veränderung der Konstruktion von Nomen, Pronomen, Verb, Adverb, inc.: Qui venustatem et augmentum 3.3. Systematik und Beispiele zur Attributsetzung, inc.: Sermonum quidem proprietas memoria 3.4. De vitiis, inc.: Commendabile est in dictaminibus verba propria ponere C. 1. Genera tractandi, inc.: Illud quoque operi nostro merito duximus adiciendum 2. Zu weiteren Gattungen des Prosaicum dictamen: historia, invectiva, expositio, rethorice orationes, mutue collocutiones, doctrina, inc.: Hystoria est rerum gestarum vel ut gestarum Insbesondere mit ihrem letzten Teil erweitert die 'Summa' den bis dahin für die Ars dictandi verbindlichen Funktionsbereich und präsentiert sich als Abfassungsanleitung für Prosatexte allgemein. Nimmt man die in Teil B eingeführte Differenzierung von fiktivem Brief und Auftragsbrief hinzu, so hat der Autor seinen Traktat erstmals aus dem praxisbezogenen, an die Erfordernisse offizieller Briefkommunikation gebundenen Entstehungszusammenhang der Ars dictandi gelöst. Gleichzeitig stellt er die Brieftheorie sehr detailliert, dabei zugleich in leicht überschaubarer Form dar, so daß der im Versprolog so selbstbewußt formulierte Anspruch des Magister Bernardus durch das umfassende, sorgfältig ausgearbeitete Programm seiner 'Summa' durchaus eingelöst zu werden scheint. Genau hier aber muß eine nicht unbedeutende Einschränkung gemacht werden: das Programm ist weitgehend unselbständig, die 'Summa' über weite Strecken, und zwar bis zur wörtlichen Übernahme ganzer Textpassagen, abhängig von den anonym überlieferten 'Bologneser Rationes dictandi'. Vollständig erhalten ist dieser Text in einem einzigen Exemplar: E
71
=
München, Bayer. Staatsbibl., Clm 14784, Bl. 2 r - 3 5 v . Zweite Hälfte des 12. Jh.s, aus St. Emmeram 71 . Die aus zwei Büchern bestehenden 'Rationes dictandi' sind nach Ausweis der in den Salutationsmustern verwendeten Namenskürzel und Ortsangaben zwischen 1138 und 1143 in der Romagna, vermutlich in Bologna entstanden 72 . Die für die Ars dictandi des 12. Jh.s wichtige Handschrift enthält neben den 'Rationes dictandi' vor allem Werke Alberichs von Montecassino: Bl.
Edition der 'Bologneser Rationes dictandi' nach dieser Handschrift (fälschlich unter dem Namen Alberichs von Montecassino) bei ROCKINGER (wie Anm. 21) S. 3 — 28: Buch I sowie kleinere Auszüge aus Buch II in den Fußnoten. Englische Ubersetzung (Buch I, nach der Edition von ROCKINGER): JAMES JEROLD MURPHY, Three medieval rhetorical arts, Berkeley 1971, S. 1—25.
72
Zwar verzichten die Salutationsmuster meist auf Namenskürzel und verwenden statt dessen das allgemeine N., doch die Nennung von Papst Innozenz (II., 1130 — 1143) und König Konrad (III., 1138 — 1152) grenzt die mögliche Entstehungszeit ein. Die Ortsnamen konzentrieren sich auf die Romagna (Bologna, Faenza, Ravenna) und nennen daneben die ihr benachbarten Territorien Tuszien
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44r —59r 'Dictaminum radii', Bl. 67r—98r das aus mehreren Einzelabhandlungen bestehende Corpus Alberichs, den 'Liber dictaminum' 73 . Hinzu kommt eine weitere Uberlieferung mit einem (fragmentarisch endenden) Auszug aus dem Kapitel zur Salutatio: t
= München, Bayer. Staatsbibl., Clm 19475, Bl. 42 r a -43 r a . 12. Jh., aus Tegernsee. Der Auszug übernimmt die Personengliederung der 'Rationes' und schließt daran Salutationsmuster an. Da dort an Stelle von Innozenz II. Eugen (III., 1145 — 1153) als Papst genannt ist, handelt es sich um eine spätere Bearbeitung 74 , die z. T. auch veränderte Ortsnamen hat 75 . Dem Auszug der 'Rationes' voran geht die Grammatik des Phocas (Bl. 32 r —41 v ), es folgen 'De verbo incarnato', Collatio I, Hugos von St. Viktor und ein fragmentarischer geistlicher Traktat 'De tribus silentiis' (Bl. 44 v —45v, inc.: Dum medium silentium). Beschreibung der Hs.: KARL HALM, Catalogus codicum manu scriptorum Bibl. Regiae Monacensis, 4,3, München 1878 (unveränderter Nachdruck 1969), S. 249; ROBERT B. C. HUYGENS (Hg.), Accessus ad auctores Bernard d'Utrecht, Conrad d'Hirsau. Dialogus super auctores, Leiden 1970, S. 2 —6; COLETTE JEUDY, L'Ars de nomine et verbo de Phocas: Manuscrits et commentaires médiévaux, in: Viator 5, 1974, S. 61 — 156, hier S. 113.
Bereits Haskins wußte um die Abhängigkeit der 'Summa' von dieser Ars dictandi; allerdings stützte er seine Bewertung auf die 1914 veröffentlichte Studie von Kalbfuss zu den 'Introductiones prosaici dictaminis' der Mantuaner Handschrift 76 . Abgesehen davon, daß 'Introductiones' und 'Summa' nicht identisch sind, eine Übertragung der Ergebnisse also unmöglich ist, verliert der von Kalbfuss angestellte Vergleich beider Traktate auch dadurch an Aussagekraft, daß er sich allein auf den von Rockinger abgedruckten Text der 'Rationes' bezieht, also vorrangig auf Buch I. Die editionsbedingt verkürzte Kenntnis der 'Rationes' läßt Kalbfuss Lehrstücke, die bereits dort vorhanden sind, als eigenen Beitrag des Autors der 'Introductiones' einordnen 77 . Eine genaue Klärung der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen 'Rationes', 'Summa' und 'Introductiones' steht noch immer aus. Daran ändert auch nichts, daß Brini Savorelli vermutungsweise die 'Rationes dictandi' als Werk des Magister Bernardus bezeichnet, denn sie gibt als Begründung nur einen pauschalen Hinweis
73
(mit Pisa) und Venedig sowie Verona, außerdem das Poitou. Die Entstehung der 'Rationes' in Bologna, einem Zentrum der Ars dictandi, ergibt sich daraus nicht zwingend, ist aber wahrscheinlich. Kurzbeschreibung der Handschrift und Nachweis älterer Literatur bei WORSTBROCK (wie Anm. 60) S . 8.
74
75 76
Zwar sind in t durchgehend Namenskürzel anzutreffen, sie lassen sich aber nicht immer sinnvoll auflösen. Noch in die Entstehungszeit der 'Rationes' passen die Lebensdaten von Erzbischof G(ualterius) von Ravenna (1119 — 1144) und Bischof H(enricus) von Bologna (1129 — 1145). Verona wird häufig erwähnt, zusätzlich genannt sind Mailand und Trier. HASKINS 1927 (wie Anm. 13) S. 214F.; der Vergleich von 'Rationes' und 'Introductiones' bei KALBFUSS ( w i e A n m . 2 4 ) S . 6 — 9.
77
Z. B. die acht Exordienarten: quantitative, qualitative, similitudinarie, conditionaliter, causative, adversative, temporaliter, absolute oder den Abschnitt De inventione materie\ vgl. KALBFUSS (wie Anm. 24) S. 8 f.
Die 'Summa' des Magister Bernardus
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auf Übereinstimmungen zwischen beiden Werken 78 . Doch die Beziehungen zwischen den drei Traktaten lassen sich durchaus exakter bestimmen und bewerten. IV
Was die 'Summa' des Magister Bernardus betrifft, so stehen allein die Teile A und B in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den 'Rationes'. Außerdem unterscheiden sich beide Teile in der Art ihrer Abhängigkeit: Teil A hat Buch I der 'Rationes dictandi' ganz aufgenommen und nur wenig umstrukturiert; Teil B dagegen hat aus Buch II nur bestimmte Teile aufgegriffen und sie überdies noch umgeordnet. Ursache für dieses unterschiedliche Rezeptionsverhalten sind möglicherweise die 'Rationes' selbst, die aus zwei in ihrer Konzeption stark divergierenden Büchern bestehen: Buch I ist eine in sich geschlossene Abhandlung zur Ars dictandi mit den schon für die 'Summa' skizzierten Teilen (Definitionen zum Dictamen, Stilistik, Erläuterung der fünf Partes epistolae). Eine Verbindungslinie zu Buch II wird nur an einer Stelle erkennbar: im Abschnitt zur Narratio wird anläßlich der Differenzierung von narratio de preterito, de presenti und de futuro eine spätere Behandlung angekündigt 79 . Ganz anders präsentiert sich dagegen Buch II der 'Rationes'; es wird bereits einleitend als Sammlung von Ergänzungen zu Buch I eingeführt80 und bietet entsprechend in lockerer Kapitelfolge weiterführende Erläuterungen zu einzelnen Briefteilen sowie zur Stilistik, die sich im wesentlichen den Aspekten Inventio und Commutatio zuordnen lassen. Die einzelnen Kapitel entfernen sich in unterschiedlichem Grade von der in Buch I vorgestellten Brieflehre; einige verselbständigen sich zu kleinen Exkursen, z. B. ein Kapitel zu den Verarbeitungsmöglichkeiten für Zitate und Sprichwörter. Der Reihungscharakter von Buch II verstärkt sich noch zum Ende hin, die beiden letzten Teile, eine Exordiensammlung und eine Sammlung grammatischer Mutationes zum Ausdruck von Personenlob und -tadel81, sind nicht einmal mehr durch Überleitungsformeln dem Traktat eingebunden; ein deutliches Ende, markiert durch ein Explicit, fehlt. Dieses findet sich erst vor der Ars metrica auf Bl. 38r. Mit dem Rubrum Item ratio in dictamina beginnt aber bereits auf Bl. 35v unverkennbar ein neuer, für sich bestehender Traktat82 und kennzeichnet zugleich das Ende der 'Rationes'83.
78
BRINI SAVORELLI
(wie
v o n BEYER ( w i e A n m . 79
80
81
82
83
S.
201)
S.
191 f. Ohne weitere Überprüfung wiederholt wurde diese Hypothese
59) S. 5 8 9 A n m . 2 3 u n d S. 5 9 0 A n m .
28.
(wie Anm. 2 1 ) S. 1 9 : Item narratio alia f i t de preterito, alia de presenti, alia de futuro. de quorum liquidem tractatibus congrua satis suo loco doctrina tradetur. Mit der Formulierung Deinceps tarnen ad alia subtilius pertractanda in Dei nomine flectemus articulum (E, Bl. 15'), die auf jegliche inhaltliche Bestimmung des folgenden Buches verzichtet. Dieses letzte Kapitel Qualiter verba venuste ponantur — offensichtlich orientiert am Schlußkapitel von Alberichs 'Breviarium' (vgl. W O R S T B R O C K [wie Anm. 60] S. 17) — verselbständigt sich zu einer Sonderabhandlung mit eigener Uberlieferung in w, Bl. 68' _ v . Zu dieser von Alberichs 'Dictaminum radii' abhängigen, wohl monastischen Ars dictandi vgl. W O R S T B R O C K (wie Anm. 60) S. 23; Ausgabe ebd. Anhang I I . Bisher herrscht, bedingt durch das 'Ausfransen' der 'Rationes' in ihrem zweiten Buch, in der Forschungsliteratur keine Einigkeit über ihren Umfang. Entweder wird das Explicit auf Bl. 38' übernommen (z. B . von P A U L F. G E H L , Monastic Rhetoric and Grammar in the Age of Desiderius. ROCKINGER
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Dies alles erweckt den Eindruck, als seien Art und Anzahl der vorgestellten Kapitel austauschbar — Ergebnis einer mehr oder weniger zufälligen Auswahl oder eines allmählichen Wachstumsprozesses. Letzteres scheint die plausiblere Erklärung für die Offenheit von Buch II: sie wird zum Indiz für den Studiencharakter einer sich noch entwickelnden, neue Gegenstandsbereiche erprobenden Lehre. Diese Deutung liefert zugleich einen Interpretationsansatz für das uneinheitliche Abhängigkeitsverhältnis zwischen 'Rationes' und 'Summa': Während die bereits durchstrukturierte Brieflehre aus Buch I keiner grundsätzlichen Veränderung bedarf, wird der in Buch II präsentierte ' E n t w u r f ' weiterentwickelt in dem Sinne, daß die in den 'Rationes' eher unverbundenen Einzelabhandlungen gestrafft, besser integriert und um weitere Aspekte ergänzt werden. Anhand des Aufbaues der 'Rationes' und seiner Gegenüberstellung mit dem der 'Summa' soll dieser Zusammenhang verdeutlicht werden: 'Rationes'
korrespondierende Kapitel der 'Summa'
Buch I 1. Prosaprolog mit Geistanrufung, inc.: Cogimur erudiendorum sedulitati 2. Definitorische Vorbemerkungen zum Dictamen mit seinen Arten und zur Appositio, inc.: Dictamen est cuiuslibet rei 3. Umfassende Brieflehre 3.1. Definition der Epistola und Erörterung ihrer fünf Partes, inc.: Est igitur epistola 3.2. Abwandlung des Briefschemas, inc.: Quoniam igitur has quinque epistole partes 4. Stilistik des Dictamen, inc.: His ergo de epistole partibus 4.1. Satzgliederung (distinctiones) 4.2. Wortstellung Buch II Überleitung, inc.: Bonorum omnium auctore per gratiam suam 1. Zur Inventio der einzelnen Briefteile (assumptio materie), inc.: Non parva igitur industria 2. Ergänzungen zur Captatio benevolentiae: 2.1. Acht Exordienarten, inc.: Ne autem principiorum penuria 2.2. Captatio generalis/specialis und extrinseca/intrinseca, inc.: Benivolentie captationum alie 2.3. Zur Inventio der Captatio benevolentiae: Ableitung aus der Personenkonstellation, dem Inhalt, durch Rückgriff auf Zitate bzw. Sprichwörter, inc.: Debet igitur qui scribit epistolam 3. Zur Verwendung von Zitaten und Sprichwörtern im Brief allgemein, inc.: Proverbia sive auctorum scripta
Teil A — 2 5 5.1 5.2 3 3.1 3.2 Teil B — (1) 2 (1-1)
(1.1) —
The Works of Alberic of Montecassino, Diss. Chicago 1976, S. 48) oder sogar die folgende 'Ars metrica' (Bl. 38 r —43 v ) noch hinzugerechnet (so WORSTBROCK [wie Anm. 60] S. 8).
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Die 'Summa' des Magister Bernardus
4. Lehrstücke zur Stilistik: 4.1. Variation 84 des Verbs in der narratio de presenti etc., inc.: Narrationum quidem alie fiunt de presenti 4.2. Variation bei der Wiedergabe von Zitaten, inc.: Auctorum quidem sententie 4.3. mutatio von Nomen, Pronomen, Verb, Adverb, Partizip, inc.: Quemadmodum peritie est 4.4. De vitiis, inc.: He siquidem sunt traditiones 4.5. Logische Verknüpfung der Briefteile (Anfangskonstruktionen), inc.: Diligenter igitur in uno quoque dictamine 5. Exordiensammlung, inc.: Quanta in fidelitatis perseverantia 6. Beispiele zur Attributsetzung (laus und vituperatio), inc.: Venustatem verborum et apposite
3.1 — 3.2 3.4 — Zusatz 3.3
Abgesehen von der Prosavorrede, die in beiden Traktaten je eigenen Charakter hat, gibt es zu jedem Kapitel von Buch I der 'Rationes' ein passendes Gegenstück in Teil A der 'Summa' mit überwiegend gleichem Lehrinhalt, wenn auch z. T. neu formuliert und mit anderen Beispielen ausgestattet. Einzige Erweiterung in der 'Summa' ist Kapitel 6 zur Ausdrucksvariation, das als Nachtrag zu Kapitel 3 die Brieflehre im engeren Sinn abschließt. Die Zäsur zwischen beiden Teilen ist auch hier deutlich markiert, und zwar durch eine Schlußwendung, die — als Anrufung Gottes stilisiert — parallel zum Versprolog in Form eines Distichons vorgebracht wird: Seit Deus omnipotens, cui nil absconditur unquam, Illud idem vobis quod michi dogma dare. (P, Bl. 9V) Eine lapidare Überleitungsformel schließt sich an 85 . Kapitel 4 der 'Summa' dient vorrangig der Vorbereitung von Teil C, die Brieflehre selbst ergänzt es nicht, so daß es kaum als Zusatz zu bewerten ist. Der gravierendste Unterschied zur 'Summa' betrifft in Buch I der 'Rationes' die Stellung des Kapitels zur Stilistik des Dictamen. Gerade sie beruht aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einem sekundären Texteingriff, der an auffälligen Brüchen in dem von E überlieferten Text ablesbar ist: Schon im Definitionsteil wird die Appositio als Stilmerkmal für das Prosaicum dictamen eingeführt und in einem nächsten Schritt ihre Behandlung angekündigt 86 . Statt dessen setzen aber mit Est igitur epistola ganz unvermittelt die Ausführungen zum Brief bzw. zu den einzelnen Briefteilen ein, während die Lehren zur Stilistik an das Ende von Buch I
84
85
86
Die Kapitel 4.1 —4.3 behandeln unter verschiedenen Aspekten die Technik der Ausdruckswandlung, die grammatische mutatio, nach dem Vorbild von Alberichs Breviarium'; vgl. dazu WORSTBROCK (wie Anm. 60) S. 17. Sie ähnelt der entsprechenden Stelle in den 'Rationes' (vgl. Anm. 80): Nunc ad alia subtiliusperscrutanda stilum cum intentione uertamus. Cuius nimirum rectam ordinationem, licet potius auris ipsa diiudicet quam cuiuslibet doctrina possit ostendere, quandam tarnen introduetionis formam rudibus ministrare satagimus. ROCKINGER (wie Anm. 21) S. 10. Er liest statt Cuius ein c mit übergeschriebenem o und verbessert es zu Circa\ dadurch geht der Rückbezug der Ankündigung auf die zuvor definierte Appositio verloren. Cuius hat aber auch die 'Summa', die an dieser Stelle mit den 'Rationes' wörtlich übereinstimmt (P, Bl. l v ).
220
Monika Klaes
rücken. In ihrem Kontext lassen sich dann weitere Ungereimtheiten beobachten: Die Ausführungen zur Satzgliederung werden in Einleitungs- wie Schlußformel als Beitrag zur constitutio epistole ausgewiesen, eine in doppelter Hinsicht zweifelhafte Charakterisierung, da sie sich zum einen nicht allein auf den Brief, sondern auf den gesamten Bereich des Prosaicum dictamen beziehen 87 , zum anderen Ausgangspunkt für die folgenden Anweisungen zur Wortstellung und insofern erst mit diesen zusammen ein Beitrag zur constitutio prosaici dictaminis sind 88 . Und damit die Anweisungen zur Wortstellung wieder in den umfassenderen Rahmen des Prosaicum dictamen eingebunden sind, werden die Erläuterungen zur Appositio aus dem Definitionsteil im wesentlichen wiederholt. Die Einleitung zu Buch II läßt ebenfalls eine ursprüngliche Behandlung der Stilistik in direktem Anschluß an den Definitionsteil vermuten, denn sie differenziert die in Buch I vermittelten Inhalte nach prosaici dictaminis traditiones und epistole formam et Seriem (E, Bl. 15r). Diese Unterscheidung impliziert eine Zugehörigkeit des Stilistik-Kapitels zur Lehre vom Prosaicum dictamen und dementsprechend seine Einordnung vor der Spezialisierung auf den Gegenstand Epistola, also genau an der Stelle, wo es auch innerhalb der 'Summa' zu finden ist. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, daß angesichts der Unzuverlässigkeit der Handschrift E wahrscheinlich nicht nur dieser besonders signifikante Unterschied zwischen 'Rationes' und 'Summa' auf Fehler in der Uberlieferung zurückzuführen ist, sondern auch Differenzen in Detailfragen. Daß die Qualität der Überlieferung in E fragwürdig ist, zeigt sich sowohl an zahlreichen offensichtlichen Verschreibungen wie an deutlichen Lücken, z. B. bei der Differenzierung von fünf Arten der Captatio benevolentiae, von denen zwei aufeinander folgende nur verstümmelt erläutert werden 89 . Diese Lücke kann leicht durch einen Zeilensprung entstanden sein; dagegen wirkt es wie Willkür, daß im Abschnitt zur Salutatio auf die Erläuterung der Personengliederung weitgehend verzichtet wird 90 . Auch für die Namenssiglen der Salutationsmuster, bei denen in E das nichtssagende N(omen) dominiert, sind ursprünglich konkretere Angaben zu vermuten 91 . Dennoch zeigt sich selbst bei der jetzt verfügbaren Textfassung der 'Rationes', daß das recht systematisch angelegte Buch I in Teil A der 'Summa' als Ganzes reproduziert wird. Der spezifische Charakter von Buch II der 'Rationes', das eine noch wenig durchstrukturierte und offene Sammlung einzelner Lehrstücke präsentiert, ist an der Gliederung nur bedingt ablesbar und soll daher durch die Erläuterung einiger Besonderheiten verdeutlicht werden. 87 88
Dieser Genau prosaici congrue
Einwand gilt auch für die Überschrift zu Kap. 4.2: De variatione epistole. diesen Begriff verwendet die 'Summa' zur Benennung ihres Stilistik-Kapitels: dictaminis ckscriptionem et constitutionem dilucide satis breuiterque digessimus, ad epistolarum descendamus (P, Bl. 3').
Postquam doctrinam
89
ROCKINGER ( w i e A n m . 2 1 ) S.
90
Übriggeblieben ist einzig die Ausführung zu den persone excellentes\ vgl. ROCKINGER (wie Anm. 21) S. 12. Möglicherweise bietet der Auszug aus den 'Rationes' in t hier die bessere Textfassung. Das Phänomen der Eliminierung der Namenssiglen wurde auch für die in E überlieferte Ars dictandi Alberichs von Montecassino beobachtet; vgl. WORSTBROCK (wie Anm. 60) S. 28 Anm. 122 und 123.
91
18.
Die 'Summa' des Magister Bernardus
221
Ursprünglich als Abschluß dieses Buches konzipiert war wohl Kapitel 4.4 {De vitiis). Das legt eine Überleitung am Beginn dieses Kapitels nahe, derzufolge nach Abschluß der Lehrstücke zur Appositio, zur Abfassung stilistisch ausgefeilter Texte, noch die Verstöße, die dem entgegenstehen, aufgezählt werden sollen 92 . Das nun folgende Kapitel 4.5 mit Vorschlägen für die Anfangskonstruktion einzelner Briefteile schließt sich nahtlos an das zuletzt genannte Vitium der unlogischen Verknüpfung von Sätzen (dissolutus tractatus) an, denn es zielt — wenn auch unausgesprochen — gerade auf eine logisch richtige Verbindung der Sätze im Brief. Damit läßt sich Kapitel 4.5 als Exkurs oder als nachträgliche Ergänzung zu 4.4 interpretieren. Dem entspricht, daß die Handschrift an dieser Stelle weder Überschrift noch Rubrum hat, mit denen sonst Kapitelanfänge markiert werden, nur die letzten Worte aus dem Vitia-Kapitel sind rubriziert. Kapitel mit ähnlichem, an vorangehende Abschnitte anknüpfenden Exkurscharakter sind 3 und 4.2: Nachdem unter den Gestaltungsvorschlägen für die Captatio benevolentiae in 2.3 an letzter Stelle Zitate und Sprichwörter vorgestellt wurden, widmet sich Kapitel 3 ihrer Verwendung im Brief allgemein. Noch einmal, jetzt unter dem Aspekt der Variatio, geht Kapitel 4.2 auf dieses Thema ein: an einigen Beispielen werden unterschiedliche Verarbeitungsmöglichkeiten für Zitate durchgespielt. Insbesondere die zweite Hälfte von Buch II wird dominiert von solchen exkursartigen Lehrstücken, die einer direkten Anbindung an die Brieflehre von Buch I entbehren und auch kaum aufeinander abgestimmt sind. Stärker an der Brieflehre orientiert sind dagegen die beiden ersten Kapitel, aber auch Kapitel 4.1 zur Narratio. Den Schwerpunkt bilden hier die Ergänzungen zur Captatio benevolentiae (Kap. 2), die in ihrer Ausführlichkeit und reichen Ausstattung mit Beispielen den Ausführungen zur Salutatio in Buch I korrespondieren. Daß gerade diese beiden Partes epistolae so detailliert behandelt werden, ist in der Brieftheorie der 'Rationes' begründet, wonach der Dictator ihrer Gestaltung besondere Sorgfalt widmen muß und dazu genauerer Anweisungen bedarf, während Petitio und Narratio überwiegend durch die Materia (das Anliegen des Absenders) festgelegt sind und daher kaum näher behandelt werden müssen. Der Klärung dieses Sachverhaltes dient das kurze erste Kapitel 93 . Demnach ergibt sich trotz des Gesamteindrucks der Inkohärenz doch eine latente Zweigliedrigkeit für Buch II, das erst direkte Ergänzungen zur Brieflehre, dann einzelne Lehrstücke zur Stilistik bietet. In Teil B der 'Summa' ist diese Zweiteilung deutlicher herausgearbeitet, gleichzeitig sind die Kapitel selbst untereinander stärker verzahnt: Zum einen wurden die ergänzenden Lehrstücke zur 92
93
He siquidem sunt traditìones, quas ad ^apypositionis introductionemrudibus utendas prebuimus. Earum enirn consuetudine ac frequentiti ad audibilem et discurrentem et expolitum cuiuslibet rei tractatumb) poterunt accedere. A viciis tarnen, que hec universa prepediunt, dictantes abstinere oportet, ideo ut [...] (E, Bl. 25') a) E: positionis introductiones. b) E: retractatum. Hier insbesondere die Sätze: He sunt utique partes, narratio videlicet ac petitio, que nunquam ponende sunt, nisi de intentione vel verbis pendeant dirigentis. Sed reliquarum aliquam satis convenienter ponimus, quamlibet is qui epistolar» dirigit earn nullatenus insinuét. [...] Quod si nec salutationem nec benivolentiam nec epistole conclusionem innuerit, licet quidem convenienter ut has tres ex sui industria dictator eliceat, et totius summe quantitate simul et qualitate servata, quamcumque istarum ad negotium convenire vel oportere viderit, diligenter apponat (E, Bl. 15r~v).
222
Monika Klaes
Stilistik so gruppiert, daß sie unmittelbar aufeinander folgen und mit den Ausführungen zu den Vitia enden. Zu dieser Konzentration trägt sowohl der Verzicht auf die exkursartigen Kapitel zur Verwendung von Zitaten (II 3 und II 4.2) und zur logischen Verknüpfung der Briefteile (II 4.5) als auch die Umstellung von Kapitel II 6 zur Attributsetzung 94 bei. Dadurch stehen in der 'Summa' die drei Kapitel zur Ausdrucksvariation (durch mutatio des Verbs in der Narratio, der Partes orationis und durch die Wahl von Attributen zu Personenlob und -tadel) direkt zusammen. Neue Lehrstücke wurden nicht aufgenommen. Auf der anderen Seite sind die ersten beiden Kapitel deutlicher dem Aspekt 'Inventio' zugeordnet und insgesamt umstrukturiert. Außerdem kommt mit der Unterscheidung von fiktivem Brief und Auftragsbrief ein neuer Aspekt in die Darstellung, der die Grobgliederung von Kapitel 1 ( = II 2 der 'Rationes') bestimmt. Die Captatio benevolentiae bleibt weiterhin Schwerpunkt, wenn auch ihre Behandlung ganz neu organisiert wird: Die in 1.1. entwickelte Topik der Captatio benevolentiae lehnt sich eng an die in Teil A, Kapitel 5.1 vorgestellte Systematik für diesen Briefteil an und ordnet ihr die in den 'Rationes' getrennt davon erläuterte Differenzierung nach Captatio intrinseca und extrinseca zu. Zitate und Sprichwörter, deren Verwendung im Brief die 'Rationes' sehr ausführlich erläutern, sind reduziert zu einer möglichen Form der Captatio intrinseca, außerdem erhalten sie einen genau abgesteckten Funktionsbereich zugewiesen 95 . Etwas beziehungslos zwischen den Ausführungen zur Inventio und denen zur mutatio steht die Erläuterung der acht Exordienarten in Kapitel 2. Doch schließt sie als Ergänzung zur Lehre von der Captatio benevolentiae inhaltlich an Kapitel 1 an und stellt ihrerseits wieder (grammatische) Variationsmöglichkeiten für die Gestaltung des Exordiums vor. Übernommen sind hier im wesentlichen die Definitionen der 'Rationes' (II 2.1), während die Beispiele überwiegend neu sind. Abgesehen von der Einführung des fiktiven Briefes bietet also auch Teil B keine neuen Lehrinhalte gegenüber den 'Rationes'. Erst mit Teil C löst sich die 'Summa' ganz von ihrer Vorlage, weitet aber zugleich die Perspektive auf den gesamten Bereich der Prosa aus. Genau diesen Teil führt nun Magister Bernardus selbst als Zusatz ein, indem er überleitend formuliert: IIlud quoque operi nostro (meritoy96 sunt genera.97
duximus adiciendum, quod tractandi tria
Damit gibt er selbst den Hinweis zur Auflösung des Widerspruchs zwischen seinem Selbstbewußtsein, ein Werk geschrieben zu haben, das in seiner Qualität 94
95
96 97
Gerade dieses in den 'Rationes' nur locker an letzter Stelle angefügte Kapitel wurde in der 'Summa' fast wörtlich übernommen, allerdings ergänzt um eine Systematik zur Inventio des Personenlobs (unterschieden werden virtutes, dona Dei und officia bzw. dignitates als Ansatzpunkte für Lob). Danach können sie vom Dictator eingesetzt werden bei offensichtlichem Sachverhalt (si euidens et aperta sit causa), bei selbstverständlichen und gewohnten Vorgängen (aut ex ipsa naturali conditione id oporteat fieri uel frequenti ( e t ^ cottidiano usu id consuetum sit fieri) oder bei einem Anliegen, das als utile et honestum uel rationabile zu bewerten ist; vgl. P, Bl. 10y. Nur überliefert in Fassung A. P, Bl. 14v.
Die 'Summa' des Magister Bernardus
223
unanfechtbar sei und ihm ohne Zweifel Anerkennung verschaffen werde, und der tatsächlichen Unselbständigkeit dieses Werkes. Denn wenn er davon spricht, daß er sein eigenes Werk um den nun folgenden Teil erweitern wolle, so läßt sich dies deuten als Rückbezug auf eine bereits bekannte Vorfassung der 'Summa', und angesichts der aufgezeigten engen Bezüge wird man hier sofort an die 'Rationes' denken, die dann ebenfalls Bernardus zuzuschreiben sind. Insbesondere die Beobachtung, daß dort bereits angelegte Tendenzen in der 'Summa' weiterentwickelt werden, findet damit eine plausible Erklärung. Doch läßt es sich nicht allein aus den Formulierungen des Magister Bernardus wahrscheinlich machen, daß er bereits Verfasser der anonym überlieferten 'Rationes' ist, zusätzlich gestützt wird diese Vermutung von zwei weiteren Indizien: Zum einen überliefert S (Redaktion C) unter den dem Magister Bernardus zugeschriebenen Texten eine Sammlung von Musterbriefen 98 , deren zwei (Brief 5 und 6) einen Briefwechsel zwischen G(uido) und seinem ehemaligen Lehrer in der Ars dictandi — Ä?r(nardus) dictaminum professionis minister — darstellen". Zunächst bittet der Schüler um eine Zusendung von rationes bzw. exordia, die der Lehrer seines Wissens kürzlich verfaßt habe. Anlaß seiner Bitte sei seine Aufgabe, selbst 100 Schüler in der Ars dictandi zu unterrichten, die von seiner Ausbildung bei Ber(nardus) Kenntnis haben und daher entsprechendes Wissen erwarten 100 . In seiner Antwort bestätigt der Magister Ber(nardus) die Zustellung der gewünschten Schrift (rationes bzw. rationes dictaminum), knüpft aber an ihre Verwendung im Unterricht die Auflage, daß sie niemandem zu Gesicht kommen dürfe, damit keiner Kenntnis davon erhalte, daß sie im Besitz G(uidos) sei 101 . Auch wenn die Zuschreibung von rationes bzw. rationes dictaminum an Magister Bernardus hier in fiktivem Kontext erfolgt, so ist sie doch als Bestandteil einer unter dem Namen des Magister Bernardus tradierten und in unmittelbarer Nähe zu dessen 'Summa' überlieferten Briefsammlung durchaus ernst zu nehmen 102 . Den zweiten Hinweis liefert der Auszug aus den 'Rationes' in t: Dieser Textzeuge, der anders als die Überlieferung in E durchweg Namenskürzel bietet, wenn auch nicht immer auflösbare, setzt an Stelle der in den 'Rationes' anzutreffenS, Bl. 87v — 104 v . Edition: V I R G I L I O P I N I , Bernardus Bononiensis. Multiplices epistole que diversis et variis negotiis utiliter possunt accomodari (Biblioteca di 'Quadrivium' 7) Bologna 1969. 99 P I N I (wie Anm. 98) S. 13 — 17. Hier wie auch an anderen Stellen der Briefsammlung ist seine Wiedergabe der Namen nicht zuverlässig, da er die in der Hs. verwendeten Kürzungen nicht immer deutlich macht. 100 p I N [ ( w i e Anm. 98) S. 14: Noverit itaque discretio vestra scolares numero .C. dictandi scientiam a me velle libenter suscipere, sperantes quod eis valeam plenarie satisfacere, cum me apud vos pro eadem scientia capienda noverint diutius permansisse. Derselbe Sachverhalt wird noch in zwei Variationen wiedergegeben. 101 Die in der letzten Petitio mitgegebene Begründung ist als Hinweis auf die Konkurrenz, die zwischen den Lehrern der Ars dictandi existierte, aufschlußreich: die Geheimhaltung der Schrift hat ein Abrücken der Schüler von anderen Lehrern zum Ziel, wenn sie — von der Qualität der Lehre Guidos beeindruckt — diese nirgendwo sonst schriftlich fixiert finden können. Vgl. P I N I (wie Anm. 98) S. 17. 102 P I N I (wie Anm. 98) nennt in seinem kargen Schlußwort zur Briefedition, S. 35, das Problem der Identifizierung. Ohne eine Lösung anzubieten, erwähnt er die 'Rationes dictandi prosaice' Hugos von Bologna und die Bologneser 'Rationes dictandi' (hier referiert er noch unwidersprochen die falsche Zuschreibung an Alberich von Montecassino durch Rockinger). 98
224
Monika Klaes
den Formel N. professionis dialectice (bzw. scolastice) minister103 die auch in der 'Summa' nachweisbare Formel B. dictaminum professionis minister, die auf den Magister Bernardus gemünzt ist 104 . Es gibt also einige Gründe, die bisher anonymen 'Rationes dictandi' dem italienischen Magister Bernardus zuzuweisen. Zwar hat sich sein Name nicht mit diesem ersten, nur spärlich überlieferten 105 Traktat verbunden, doch dies ist kaum verwunderlich, sofern der Autor ihn selbst nur als einen ersten, vorläufigen Entwurf zur Ars dictandi betrachtete, der mit der Veröffentlichung der 'Summa' überholt war. Dazu paßt auch, daß er den Versprolog als abschließenden deutlichen Hinweis auf seine eigene Leistung erst in einem letzten Schritt dem Werk voranstellte, erst nach Fertigstellung der 'Summa' die bescheidenere Vorrede der 'Rationes' ablöste. Interessanterweise steht aber mit fortschreitender Ausprägung der Ars dictandi der Name des Magister Bernardus zunehmend für das, was bereits in den 'Rationes' dargelegt ist: für die Systematik der fünf Partes epistolae und für eine darauf aufbauende, umfassende Brieflehre. Vor allem dieser Teil seiner Ars dictandi wird normbildend, nicht dagegen die Ausweitung auf den Bereich der Prosa allgemein106. V
Ist Magister Bernardus erst einmal als Autor zweier Artes dictandi, der 'Rationes dictandi' wie der 'Summa', glaubhaft gemacht, so wirkt es auf den ersten Blick durchaus plausibel, wenn ihm noch eine weitere Fassung, die bereits erwähnten 'Introductiones prosaici dictaminis', von der Überlieferung zugeschrieben wird. Anführen läßt sich dafür nicht nur der Titel, der in der Handschrift M dem Werk vorangestellt ist 107 , sondern auch das Zeugnis des Gervasius von Melkley, der den Definitionsteil zum Dictamen nach dieser Fassung unter dem Namen
103
ROCKINGER ( w i e A n m . 2 1 ) S. 1 5 u n d
16.
t, BL. 42 va . 105 Daß die Verbreitung der 'Rationes' über die beiden im süddeutschen Raum entstandenen Exemplare hinausging und bis nach Frankreich gereicht haben muß, belegt ihre Wirkungsgeschichte: Als Quelle benutzt wurden sie von der 1193/94 entstandenen 'Halberstädter Ars Dictandi', die meist wörtlich das Kapitel zum Exordium mitsamt den Exordienmustern ausgeschrieben hat (Edition: WALTER ZÖLLNER, Die Halberstädter Ars dictandi aus den Jahren 1193/94 nach der Handschrift der österreichischen Nationalbibliothek, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe 13, 1964, S. 539 — 556). Die in Frankreich entstandene anonyme Ars 'Erudiendorum instructioni' (Paris, Bibl. Nat., Ms. lat. 15170, Bl. 20 v —22 v a ) folgt den 'Rationes' über weite Teile in Aufbau, Terminologie sowie Wortlaut im einzelnen, und der ebenfalls französische, vermutlich aus Orléans stammende Traktat ' A d plenam scientiam' (Valenciennes, Bibl. Mun., Ms. 483, Bl. 9 0 r a - 9 2 ™ und Paris, Bibl. Nat., Ms. 8566 A, Bl. 1 0 6 ' — l l l v ) exzerpiert für seine Brieflehre aus den 'Rationes', unter anderem aus den Ausführungen zur Salutatio, zur Captatio benevolentiae und zur Variation in der Anordnung der Briefteile. IM Während die Briefsystematik des Bernardus bis ins 13. Jahrhundert hinein Vorbild bleibt, seine Ausführungen immer wieder als Quelle benutzt werden (u. a. von Bernhard von Meung, Baldwin von Viktring, Transmundus, Peter von Blois), wird z. B. seine Erläuterung weiterer Prosagattungen nur in einem Fall aufgegriffen: im 'Libellus de arte dictandi rethorice' des Peter von Blois (Cambridge, UB, Ms. Dd. 9.38, Bl. 115™—121", hier Bl. 118 vb : De sex generibus dictaminum scilicet historia, invectiva, expositio, causa, doctrina, mutua collocutio). 104
107
Bl. 73 y : Incipiunt
introductiones
prosaici
dictaminis
a bernardino
utiliter
composite.
Die ' S u m m a ' des Magister Bernardus
225
Bernardus zitiert 1 0 8 . Trifft diese Zuschreibung zu, so hätte Bernardus nicht nur in Bologna und Faenza, sondern auch in Arezzo als Magister der A r s dictandi gewirkt, denn Arezzo bietet sich v o r allem aufgrund der Salutationsmuster als Entstehungsort f ü r die 'Introductiones' an 1 0 9 . Mit ihrer Abfassung zwischen 1 1 4 5 und 1152, die sich aus der Nennung v o n Papst Eugen (III.) und K ö n i g K o n r a d (III.) ergibt, sind die 'Introductiones' der späteste der drei zeitlich eng aufeinander folgenden Traktate 1 1 0 . Doch sind sie kaum direkt v o n der 'Summa' abhängig, dafür differieren beide Texte zu sehr in Anlage und Zielrichtung; eher handelt es sich um eine selbständige Weiterentwicklung der 'Rationes'. Es gibt zwar Übereinstimmungen mit der 'Summa' gegen die 'Rationes', z. B. bei der A b f o l g e der Kapitel zu Appositio und Epistola (die allerdings auch für die 'Rationes' als die ursprüngliche wahrscheinlich gemacht werden konnte 1 1 1 ) oder bei kleineren Zusätzen, die in den 'Rationes' fehlen, wie der Ergänzung der ProsaDefinition um ein längeres, angeblich v o n Beda entlehntes Zitat und um zwei Beispielsätze 112 . Doch ist der Wortlaut, soweit er vergleichbar ist, meist dem der 'Rationes' näher. Insbesondere aber haben die 'Introductiones' keines der Lehrstücke bzw. Kapitel aufgenommen, die allein f ü r die 'Summa' spezifisch sind. Andererseits sind auch die Abweichungen v o n den 'Rationes' nicht gering: eigene Wege gehen die 'Introductiones' z. B. bei der Definition bzw. Behandlung
108
109
S. o b e n A n m . 4. V g l . FRANZ JOSEF WORSTBROCK, R e z e n s i o n zu G r ä b e n e r s G e r v a s i u s - E d i t i o n i n :
Zeitschrift für deutsches Altertum 78, 1967, S. 99 — 107, hier S. 106 f., der erstmalig die Quelle des Gervasius nachweist, allerdings die Uberlieferung in M noch zu den Textzeugen der ' S u m m a ' des Magister Bernardus zählt. Die Ortsnamen verweisen einerseits auf die Toskana (Arezzo, Pisa und Vada), andererseits auf die Romagna (Bologna, Ravenna), außerdem genannt sind die Territorien Tuszien (mit Viterbo), Lombardei und Dalmatien. Arezzo ist mit Abstand am häufigsten erwähnt, insbesondere der Bischof I(eronymus, 1144—1177). KALBFUSS (wie Anm. 24) S. 10 f., nimmt an, daß Bernardinus in Bologna in der Ars dictandi unterrichtete und möglicherweise der Kongregation von San Fridiano zu Lucca nahestand. Diese wie auch andere Aussagen über Bernardinus entnimmt er der ebenfalls in M überlieferten Briefsammlung (insbes. Briefe 28 und 29). Die autobiographische Auswertung der Musterbriefe, deren direkte Zugehörigkeit zu den 'Introductiones' im übrigen noch ungeprüft ist, entbehrt jedoch der Begründung.
M, Bl. 76 v und 77'. Die Personennamen in M sind z. T. nachträglich verändert, hier hat Z durchweg die zuverlässigere Fassung. " ' S . oben bei Anm. 8 6 - 8 8 . 112 Der Wortlaut des angeblichen Zitates ist in den beiden Traktaten unterschiedlich, die 'Introductiones' geben denselben Sachverhalt etwas ausführlicher wieder. 110
'Introductiones', M, Bl. 73 v :
'Summa', P, Bl. l v :
Prosa est longa oratio a lege metri dissoluta, que infra eroici non debet quantitatem mutilari, ultra vero quantum provido dictatori placuerit valet prolixior sine reprehensione constitui.
Dicitur autem prosa longa oratio a lege metri soluta, que infra heroicum non debet quantitate mutilari, ultra vero prolixior valet quantumlibet haberi.
Beide Texte nennen falschlich die Ars metrica Bedas als Quelle. Zumindest der erste Teil ähnelt der Prosa-Definition bei Isidor, Etymologiae 1,38,1, die bereits von Alberich von Montecassino in seiner Ars dictandi — hier mit Angabe der richtigen Quelle — wiedergegeben wird, vgl. GROLL (wie Anm. 60) S. 102. Eingesetzt ist das Zitat in der ' S u m m a ' zur Autorisierung der These, daß ein Prosasatz inhaltlich mindestens einem Vers entsprechen muß; in den 'Introductiones' geht es nur um die Umformungsmöglichkeit von Prosa in Vers und umgekehrt. Die beiden als Beispiele vorgestellten Sätze bzw. Verse sind jeweils identisch.
226
Monika Klaes
von Narratio, Petitio sowie Conclusio 113 , und das Kapitel zu den Vitia ist nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich völlig neu gestaltet 114 . Neben solchen Veränderungen im einzelnen ist es vor allem die Gesamtanlage, die von den 'Rationes' ausgehend eine eigene Ausprägung erhält und damit eine veränderte Grundintention erkennen läßt: Im wesentlichen übernommen wurde wieder Buch I der 'Rationes', Buch II dagegen fast vollständig beseitigt, d. h. dessen Kapitel fehlen entweder ganz oder sind direkt in die Abschnitte zur Brieflehre eingearbeitet worden. Namentlich die ergänzenden Kapitel zur Captatio benevolentiae ('Rationes' II.2) und zur Narratio ('Rationes' II.4.1) schließen sich direkt an die Erläuterung dieser Partes epistolae an. An seiner ursprünglichen Stelle blieb einzig das Kapitel zur Inventio der einzelnen Briefteile. Die Lehrstücke zur Stilistik sind abgelöst durch eine ungewöhnlich ausführliche Darstellung zu den Satzschlüssen, die unter Einbeziehung einer Theorie der Reimprosa Vorschläge für die Konstruktion zweibis sechsgliedriger Perioden macht 115 . Damit die Eigenart der 'Introductiones', die Integration der ergänzenden Kapitel zu den einzelnen Briefteilen, gegenüber den beiden anderen Traktaten erkennbar wird, muß insbesondere das Kapitel zur Brieflehre kleinschrittiger gegliedert werden: 'Introductiones'
korrespondierende Kapitel der 'Rationes'
1. Prosaprolog, inc.: Antecessorum nostrorum vitanb 2. Definitorische Vorbemerkungen zu Dictamen, Prosaicum dictamen und Appositio, inc.: Dictamen est congrua et apposita 3. Stilistik des Dictamen (Appositio), inc.: Appositio tune rede formabitur 3.1. Satzgliederung 3.2. Wortstellung 4. Umfassende Brieflehre 4.1. Definition der Epistola und Erörterung ihrer fünf Partes, inc.: Epistola est oratio
113
114
115
116
1.2
1.4 1.4.1 1.4.2
1.3.1
Bei Narratio und Petitio betrifft dies vor allem die Definition; für die Conclusio wird durch die unterschiedliche Kombination von negativer und positiver Aussage in einer zweigliedrigen Periode eine Differenzierung von vier Modi erreicht. Das Vitia-Kapitel ist stärker auf den Brief zugeschnitten: Neben der Warnung vor stilistischen Fehlern wird hervorgehoben, daß die Stilebene auf den Bildungsstand des Adressaten abgestimmt werden muß, und eine differenzierte Verwendung des Numerus im Blick auf Adressat und Absender gefordert. M, Bl. 86 v —88 v , inc.: Quoniam novimus et experto didicimus. Ein vergleichbarer Text scheint bisher nicht bekannt zu sein. Vgl. K A R L P O L H E I M , Die lateinische Reimprosa, Berlin 1925 (Nachdruck 1963), insbes. das Kapitel zur Theorie der Reimprosa, S. 425 — 535. Theoretische Äußerungen speziell zur Reimprosa kennt Polheim erstmals aus der 'Summa de arte prosandi' Konrads von Mure. Incipit hier nach Z; in M fehlt der erste Prologteil, das Incipit dort lautet: Ad discendam illam scientiam.
Die 'Summa' des Magister Bernardus
4.1.1. Salutatio 4.1.1.1. Definition, Personenschema und Konstruktionshinweise 4.1.1.2. Salutationsmuster 4.1.2. Captatio benevolentiae 4.1.2.1. Definition und Topik 4.1.2.2. Acht Exordienarten, inc.: Ne autem principiorum inopia 4.1.2.3. Captatio generalis/specialis und extrinseca/intrinseca, inc.: Est etiam notandum 4.1.3. Narratio 4.1.3.1. Definition 4.1.3.2. Variation des Verbs in der narratio de presenti etc., inc.: Narrationum alie sunt de presentinla4.1.4. Petitio: Definition und Erläuterung von acht Konstruktionsmöglichkeiten 4.1.5. Conclusio: Definition, vier Konstruktionsarten 4.2. Abwandlung des Briefschemas, inc.: Diximus esse quinquepartes epistole 4.2.1. Änderung der Anordnung 4.2.2. Minderung der Zahl der Briefteile 5. Zur Inventio der einzelnen Briefteile, inc.: De inventione materie hoc sociis nostris 6. Lehrstücke zu Stilistik und Grammatik 6.1. Gestaltung der Satzschlüsse, inc.: Quoniam novimus et experto didicimus 6.2. De vitiis, inc.: Vicia que in hac arte 6.3. Hugo von St. Viktor: De constructione orationis 118 , inc.: Genitivo casui sociantur hec nomina
227 * 117
(II.2.1) II.2.2 1.3.1 * II.4.1 1.3.1 * 1.3.2 * * II. 1
— (II.4.4)
I)Li - e r. die Zusammenstellung der Lehrstücke zu den einzelnen Partes epistolae wird die Brieflehre zum konkurrenzlos dominierenden Gegenstand des Traktates. Die einzelnen Bestandteile der Brieftheorie werden übersichtlicher angeordnet und dadurch sicher auch leichter vermittelbar. Verzichtet wird dafür auf das ursprüngliche Gliederungsprinzip, das die definitionsartigen Grundinformationen von den weiterführenden Hinweisen zu Inventio und Stilistik schied. Es liegt nahe, für einen so gravierenden Eingriff einen neuen Bearbeiter verantwortlich zu machen, der möglicherweise die dem Aufbau der 'Rationes' bzw. der 'Summa' zugrundeliegende Ratio nicht mehr nachvollziehen konnte. 117
Der mit * bezeichnete Abschnitt ist jeweils Bestandteil des zuletzt angegebenen Kapitels.
" 7 a Incipit nach Z; der Text in M ist unvollständig, durch den Textverlust ergibt sich folgendes Incipit:
Narrationum alie sunt determinate in infinitivis. 118
Es handelt sich um einen Auszug aus 'De grammatica'; vgl. ROGER BARON (Hg.), Hugo von St. Victor, Opera propaedeutica: Practica geometriae, De grammatica, Epitome Dindimi in philosophiam, Notre Dame 1966, S. 108 — 116. Der Text wurde im wesentlichen ausgeschrieben, allerdings nicht vollständig, und z. T. etwas umformuliert.
228
Monika Klaes
Vor diesem Hintergrund aufschlußreich ist auch der Prosaprolog, der allerdings nicht einheitlich, sondern in Z in einer etwas erweiterten Fassung überliefert ist. Dort beginnt er mit einem Rückbezug auf die Vorfahren, deren Bemühen um Nachruhm Vorbildfunktion für das Vorhaben des Verfassers erhält. Diese Einordnung in einen Traditionszusammenhang unterscheidet sich grundlegend vom Selbstverständnis des Magister Bernardus, der sich im Versprolog zur 'Summa' ausdrücklich von den veteres duces abhebt und den moderni zurechnet 119 . Der folgende Teil des Prologes — bzw. in M der ganze Prolog — ist eine Aufzählung der Vorteile, die sich aus der Beherrschung der Ars dictandi ergeben und somit die herausragende Stellung dieser Wissenschaft begründen 120 . Die Frage nach dem Nutzen der Ars dictandi, die hier u. a. mit der Möglichkeit sozialen Aufstiegs beantwortet wird, läßt eine ganz neue Perspektive erkennen: Nicht die individuelle Leistung des Verfassers und ihre adäquate Würdigung durch den Rezipienten stehen im Mittelpunkt, sondern generell die Werbung für die Lehre der Ars dictandi selbst. Vermuten läßt sich dahinter ein veränderter, stärker schulgebundener Entstehungszusammenhang für die Tntroductiones'. Nahegelegt wird die Einbindung in einen konkreten Schulkontext auch durch die wiederholte Anrede der Adressaten als socii nostri121, denn dies ist die typische Bezeichnung der Schüler durch ihren Lehrer innerhalb der sich im 12. Jahrhundert in Italien konstituierenden, nicht kirchengebundenen Schulen 122 . In den beiden anderen Traktaten werden die Adressaten dagegen allgemeiner als rüdes eingeführt 123 . Als Annäherung an die Bedürfnisse praktischer schulischer Unterweisung interpretieren lassen sich ebenfalls kleine Unterschiede in der Präsentation des Materials: Einige Definitionen werden systematisch weitergeführt, indem die einzelnen Definitionsteile aufgegriffen und erläutert werden 124 . An anderen Stellen sind S. oben S. 212. In der Hs. Z, die wahrscheinlich die vollständigere Prologfassung überliefert, wird damit die Wahl des Gegenstandes legitimiert, der dem Verfasser den gewünschten Ruhm einbringen soll. 121 M, Bl. 73 v : [...] has tarnen introductiones sociis nostris volumus exhibere-, Bl. 86': De inventione materie hoc sociis nostris diximus esse tradendum\ Bl. 86 v : idcirco has utilissimas distinctiomm rationes terminationum sociis nostris karissimis, quos hac arte precipua esse cupio peritos, volumus tradere. Vergleichbares bietet Adalbertus Samaritanus im dritten Prolog seiner Praecepta prosaici dictaminis', der sich an die socii wendet, auf deren Drängen er den Traktat abgefaßt habe; vgl. SCHMALE (wie S. 210) S. 30. In den Musterbriefen ist die Anrede der Schüler als socii die Regel. 122 YG] GIORGIO CENCETTI, Studium fuit Bononie. Note sulla storia dell'Università di Bologna nel primo mezzo secolo della sua esistenza, in: Studi Medievali, 3" ser. 7, 1966, S. 781 —833, hier S. 806 ff. Nahegelegt ist damit die Organisationsform der societas, eine Schulsituation, bei der sich die Schüler jeweils um einen Lehrer versammeln, dem sie gegebenenfalls auch an andere Unterrichtsorte folgen. Diese Schulform glaubt Cencetti schon in der Mitte des 11. Jh.s für die italienischen Medizinschulen nachweisen zu können. Für die Rechtsschulen ist sie so etabliert, daß es zum geläufigen Topos in den Rechtsbüchern gehört, das Drängen der socii für die Abfassung verantwortlich zu machen. 123 'Rationes', R O C K I N G E R (wie Anm. 21) S. 10: [...] quandam tarnen introductionisformam rudibus ministrare satagimus. Wörtlich übernommen in der 'Summa' (P, Bl. l v ), dort außerdem im Prosaprolog (P, Bl. lrb): De dictaminum igitur scientia grata rudibus documenta ministrare desiderantes [...]. 124 Z. B. werden im Anschluß an die Definition der Salutatio nacheinander die beiden Grundaussagen: mittentis affectum indicans und a personarum situ non discordans erläutert (M, Bl. 76') und im Zusammenhang der Appositio-Definition die Begriffe apposita und series constructionis (M, Bl. 73v). Noch konsequenter in dieser Richtung verfahrt die in W überlieferte Ars 'De competenti dictaminum'. 119
120
229
Die 'Summa' des Magister Bernardus
die Ausführungen kleinschrittiger, aber auch schematischer als in den beiden anderen Traktaten, z. B. wenn die Anweisungen zur Wortstellung mit einer Übersicht über die Grundanordnung der Casus im Satz beginnen (M, Bl. 74 r ) oder die Abänderungsmöglichkeiten für die Briefteile mit einer Wiederholung der gerade erläuterten 'normalen' Reihenfolge (M, Bl. 85r). Zu nennen ist hier ebenfalls die breit ausgeführte Präsentation der vier Konstruktionsmöglichkeiten für die Conclusio 125 . Im Unterschied zu 'Rationes' und 'Summa' sind außerdem zahlreiche Uberleitungen in die Ausführungen integriert, die insgesamt einen eher stereotypen Eindruck hinterlassen: zuerst wird der zuvor abgehandelte Gegenstand kurz angesprochen, dann der folgende benannt und dies meist mit Verbformen von videre, bisweilen dicere126. Exemplarisch sei hier die eher ausführliche Überleitung zur Brieflehre zitiert, deren Grundform leicht variiert mehrfach wiederkehrt: Viso et diligenter considerato, qualiter omnes partes orationis in appositione constituantur, quid sit epistola videamus considerantes, quot sunt eius partes, singulas etiam perquirentesx27 et de ipsarum constitutionibus disserentes.128 Diese Formeln passen eher in den Kontext mündlicher Wissensvermittlung als in einen schriftlich fixierten Traktat, der vielleicht noch stilistischen Anspruch erhebt. An zwei Stellen wird die Orientierung am konkreten Unterrichtsgeschehen zudem dadurch greifbar, daß unversehens dialogische Elemente in den Text eindringen, zum einen in Form einer indirekten Frage nach dem Grund für die Verwendung der dritten Person in der Salutatio: Queret fortasse aliquis, cur omnis salutatio in tertia persona scribitur. Cui siquidem questioni respondere volentes taliter dicimus: Epistola est quasi noster nuntius [-]129, zum anderen als direkte Frage nach der Bedeutung des Begriffs comminatio-. Quid est comminatio? ponitur pena.130
Alicuius pene nominate positio,
scilicet cum
nominatim
Ein Fremdkörper im Blick auf Brief- und Stillehre des Magister Bernardus ist zweifellos Kapitel 6.1 zu den Satzschlüssen, und zwar nicht nur, weil es im Widerspruch zur Appositio-Lehre steht, die generell die Endstellung des Verbs fordert, von der nur in Ausnahmefallen abgewichen werden darf, während hier alle Wortarten ohne Unterschied am Satzende zugelassen sind 131 . Auch die Anlage des Vgl. oben Anm. 113. 126 £)je wichtigsten Nachweise für dicere sind: Bl. 85 v : Diximus esse quinque partes epistole, Bl. 86 r : Licet esse dixerimus quinque partes epistole, und: De inventione materie hoc sociis nostris diximus esse tradendum, Bl. 86 v : Dicimus namque et constanter asserimus. 127 In M nachträglich korrigiert aus progredientes. 128 M, Bl. 75 v ; ähnlich Bl. 73 v (Überleitung zur Appositio), Bl. 74' (Wortstellung), Bl. 75 r (Stellung des Verbs), Bl. I T (Salutatio) und öfter. 129 M, Bl. 77'. 130 Innerhalb der Behandlung der Petitio, M, Bl. 85'. 131 Vgl. 'Rationes', R O C K I N G E R (wie Anm. 21) S. 27: Uerba uero personalia, nisi sillabarumpenuria contingat, in fine dictionum redigendo sunt. Ähnlich in der 'Summa', P, Bl. 2 y . Dagegen heißt es in M, Bl. 86 v :
125
230
Monika Klaes
Kapitels, das die einzelnen Anweisungen monoton aneinanderreiht und jeweils mit einem Beispiel belegt, entspricht nicht dem systematisierenden Zugriff des Bernardus. Daß durchgängig von versus die Rede ist, während es nach Ausweis der Beispiele um die Gestaltung von Prosatexten geht, ist eine Ungereimtheit, die die Frage nach der Herkunft dieses Kapitels aufwirft. Hat der Verfasser der 'Introductiones' hier eine weitere Quelle herangezogen und nur mit Hilfe der Beispiele an die Brieflehre angepaßt 132 ? Verifizieren läßt sich dies vorerst nicht, und auch die dem Kapitel vorangestellten einleitenden Sätze helfen nicht weiter 133 . Die Handschrift Z überliefert zusätzlich zwei Einschübe innerhalb von Kapitel 3 (Appositio) mit derselben Bedeutung des Begriffes versus134. Formal wie inhaltlich stehen sie dem Terminationes-Kapitel nahe; sofern es sich hier um Eigenteile des Verfassers der 'Introductiones' handelt, muß ihm auch für Kapitel 6.1 die Autorschaft zugesprochen werden. Daß Kapitel 6.3 nicht auf den Verfasser der 'Introductiones' zurückgeht, ist angesichts der Nachweisbarkeit der Quelle keine Frage. Problematisch ist dieses Kapitel zur Grammatik aber insofern, als es in Z nicht enthalten ist, dort endet die Ars dictandi im engeren Sinne mit der Darstellung der Vitia. Nur M überliefert die Auszüge aus dem Kapitel 'De constructione orationis' der Grammatik Hugos von St. Viktor unter der Überschrift Que nomina quibus casibus valeant coniungi und schließt daran mit einem neuen Incipit die Exordiensammlung an 135 . In der Handschrift selbst gibt es keinen Hinweis darauf, daß es sich um eine Entlehnung handelt 136 . Daß der Aspekt Grammatik für den Bearbeiter der 'Introductiones' durchaus im Blickfeld lag, zeigt seine kurze Bemerkung in der Bestimmung des Prosaicum dictamen: Grammatice quidem artis ratio conservatur (Bl. 73 r ) 137 ; ob daraus aber gleich die Aufnahme eines ganzen Grammatik-Kapitels gefolgert werden darf, ist fraglich. Andererseits hinterläßt die in M überlieferte Zusammenstellung von Ars dictandi, Exordiensammlung, Figurenlehre und Briefsammlung den Eindruck
132
133
134
135 136
137
Dicimus namque et constanter asserimus distinctiones in nomine, verbo, participio et adverbio posse convenienter desinere. Die Beispiele gehören überwiegend in den Briefkontext; viele beziehen sich thematisch auf den Bereich der Schule. Dieselbe Verwendung des Begriffes versus im Kontext von Prosatexten kennen auch die frühen Kursuslehren, angefangen bei der falschlich Albert von Morra zugeschriebenen 'Forma dictandi'. Die Vermittlung der rationes terminationum an seine Schüler bezeichnet der Verfasser als lange gehegtes Vorhaben (Bl. 86 v ). Damit ist über ihre Herkunft noch nichts gesagt, es sei denn, man beziehe den wenig später folgenden Beispielsatz auf die vorliegenden rationes'. Noscas me rationes istas composuisse et propria manu, quamvis non formate, scripsisse (Bl. 87r). Der erste gibt im Anschluß an die Einführung der distinctiones Beispiele für ihre Kombination in einer Periode (Bl. 55', inc.: Diximus tres esse distinctiones), der andere weist auf die Vorteile der Konsonanz am Satzende hin (Bl. 55 va , inc.: Sed uidelicet ita ponuntur quod aliqua consonancia). Bl. 92 v : Incipiunt exordia bernardini dictaminum professionis ministri. Allerdings gilt dies auch für den Auszug aus der 'Aurea Gemma' des Henricus Francigena, der zwar dem Traktat nicht direkt eingegliedert wurde, aber durch seine Stellung zwischen Figurenlehre und Briefsammlung stillschweigend dem Bernardus zugewiesen ist. Vgl. oben S. 203 und Anm. 23. Bereits die 'Rationes' weisen kurz auf die Bedeutung grammatischer Regeln hin: lllam igitur litteralem editionem congruam esse dicimus qua uerbis grammatice ordinatis prosaice uel metrice materiam propositam describimus
(ROCKINGER [wie A n m . 2 1 ] S. 10).
Die ' S u m m a ' des Magister Bernardus
231
einer bewußt konzipierten, einheitlichen Sammlung, die möglicherweise auf den Verfasser der 'Introductiones' selbst zurückgeht und ein späteres Eindringen fremder Texte unwahrscheinlich macht. Z dagegen ist, was die Wiedergabe der Stücke betrifft, nicht gerade zuverlässig 138 , überliefert aber für die Ars dictandi den im einzelnen besseren, gegenüber M auch vollständigeren Text. Vom jetzigen Kenntnisstand aus ist eine endgültige Entscheidung über die Zugehörigkeit des Grammatik-Kapitels zu den Tntroductiones' kaum sinnvoll. Sie ändert auch nichts an der grundsätzlichen Einschätzung, daß angesichts von A r t und Umfang der beobachtbaren Unterschiede zu den 'Radones' wahrscheinlich nicht Magister Bernardus, sondern ein anderer, bisher anonymer Bearbeiter in Anlehnung an die 'Rationes' bzw. ihren Archetyp die 'Introductiones' verfaßt hat. Denkbar ist, daß es sich um einen Schüler des Magister Bernardus handelt, der nun selbst Unterricht in der Ars dictandi erteilt und sich dafür auf die Autorität seines Lehrers beruft. Zwar ist dies vorerst nur eine Hypothese, doch könnte sie zur Identifizierung des Autors beitragen. Denn unter den Salutationsmustern auffällig ist die wiederholte Nennnung eines Guido als Schüler des Bernardus in den entsprechenden Salutationes magistri ad discípulos™. Möglicherweise ist also ein Guido, Lehrer der Ars dictandi in Arezzo, Verfasser der Tntroductiones'. Daß er seinen Namen nicht mit der Neufassung verband, sondern den bekannteren seiner Vorlage beibehielt 140 , ist in der Geschichte der Ars dictandi kein singulärer Vorgang. So existieren z. B. mehrere stark differierende Fassungen der Ars dictandi des Transmundus, die bis auf eine nicht auf ihn selbst zurückgehen können 1 4 1 . Noch im 12. Jahrhundert spricht Magister Gaufredus in seiner 'Summa de arte dictandi' diesen Sachverhalt an, wenn er sich über die empört, die ihre
138 Yg[ j i e Beschreibung der Handschrift S. 204 und Anm. 31—34; zu erwähnen sind insbesondere die veränderte Kapitelfolge der 'Summa de arte dictandi' des Magister Gaufredus, aber auch die fremden Einschübe in derselben wie in den 'Introductiones' und der fragmentarische Zustand der Figurenlehre. 139
140
141
M, Bl. 79 v . Guido ist als Schüler des Bernardus auch genannt in der in S überlieferten Briefsammlung des Bernardinus, u. a. mit der schon erwähnten Bitte um die Zusendung von 'Rationes' zum Einsatz in seinem eigenen Unterricht. S. oben bei Anm. 98 — 101. Der Unterschied zwischen den Namen Bernardus und Bernardinus ist hier nicht relevant, da letzterer auch im Zusammenhang der ' S u m m a ' verwendet ist; s. oben bei Anm. 48 — 53. Die 16 Handschriften mit der Ars dictandi des Transmundus überliefern jeweils verschiedene Redaktionen, die sich auf zwei Grundfassungen zurückführen lassen. Die zweite Fassung (mit relativ stabilem Text erhalten in 12 Textzeugen), die sich mit Hilfe der in den Salutationsmustern erwähnten Personen auf 1216—1218 datieren läßt, geht eindeutig nicht mehr auf Transmundus selbst zurück. Sie integriert ganze Textteile aus der ' S u m m a ' des Magister Bernardus, insbesondere zur Wortstellung und Brieflehre. Aber auch bei der ersten Fassung, die in vier Handschriften mit jeweils unterschiedlichem Text vorliegt, müssen drei Textzeugen aufgrund der angefügten Briefsammlungen bzw. -register um 1206 datiert werden und gehören damit nicht mehr in die Lebenszeit des Transmundus, die aufgrund des Zeugnisses des Magister Gaufredus nicht über 1188 hinausging (vgl. Anm. 2). Allein bei der in Paris, Bibl. Nationale, Ms. 2820, Bl. 58"—60 v , überlieferten Redaktion fehlen Hinweise für eine spätere Datierung, so daß sie direkt auf Transmundus zurückgehen könnte. Eine Edition der 'Introductiones de arte dictandi' des Transmundus liegt nicht vor; zur Überlieferung vgl. SHEILA J . HEATHCOTE, The letter collections attributed to Master Transmundus, papal notary and monk of Clairvaux in the late twelfth Century, in: Analecta Cisterciensia 21, 1965, S. 35 — 109 und 1 6 7 - 2 3 8 .
232
Monika Klaes
eigenen Lehren an die des verstorbenen Transmundus anhängen und unter seinem Namen verkaufen 1 4 2 . Das Verfahren des Verfassers der 'Introductiones' hatte — so wie das der Transmundus-Nachfolger — durchaus Erfolg: seine A r s ist ausschließlich unter dem Namen Bernardinus überliefert, und Gervasius zitiert seine Äußerungen zum Dictamen mit der Bemerkung secundum Bernardi sententiam^. Bei Gervasius geraten die 'Introductiones' zudem in direkte Nachbarschaft zum Werk des Bernhard Silvestris, denn aus diesem zitiert er unter dem Namen Bernardus in seiner 'Ars poetica' häufig; außerdem weist er im Prolog Bernhard Silvestris als Verfasser einer Ars versificatoria aus 144 . Ob für ihn beide Bernardi identisch waren, läßt sich kaum rekonstruieren. Möglicherweise muß für die Nähe, in die der italienische und französische Bernardus bei Gervasius gelangen, ein Textzeuge verantwortlich gemacht werden, der die 'Introductiones' zusammen mit einer Ars versificatoria Bernhard Silvestris zuschreibt bzw. zusammen mit dessen Werk überliefert 145 . Eine entsprechende Überlieferung ist zwar für die 'Introductiones' bis heute nicht nachweisbar, wohl aber gab es eine gemeinsame Überlieferung der 'Summa' mit einem Werk des Bernhard Silvestris. Belegt wird dies durch folgenden Eintrag in der Hs. Reginense latino 339 der Biblioteca Apostolica Vaticana (13. Jahrhundert):
Liber Sanctae Mariae de Sarnaio [...] In eo continentur Hii libri. Quartus Uber sen(tentia)rum. de sacramentis ecclesie. Aurea gemma Bernardini. de eruditione dictaminis. Opus magistri bernardi Silvestris. Furta modernorum latinorum in Unitate trinitatis. Proverbia auctorum plurimorum. Miracula beate virginis in carnotensi ecclesia facta vel ad laudem ipsius alibipatrata et ibi scripto mandata.146 142 143 144
145
146
Vgl. Anm. 2. S. oben Anm. 4. Scripserunt autem hatte artem Matheus Vindocinensis plene, Gaufroi Vinesauf plenius, plenissime vero Berardus Silvestris, in prosaico psitacus, in metrico Philomena (Gervasius von Melkley [wie Anm. 4] S. 1). Diese Zitate des Gervasius waren erneut Anlaß für Identifizierungsversuche, die in Unkenntnis des Unterschiedes zwischen 'Introductiones' und 'Summa' letztere bzw. eine ihrer Fassungen mit Bernhard Silvestris in Verbindung zu bringen suchten. Zu nennen sind insbesondere BRINI SAVORELLI (wie S. 201) mit ihrer Zuschreibung der in W überlieferten Ars dictandi 'De competenti dictaminum' an Bernhard Silvestris (vgl. dazu S. 201 f.); außerdem WORSTBROCK (wie Anm. 108) S. 106 f., der angesichts des Gervasius-Zitates und mit Rückgriff auf die Nennung Bernards im Prolog des Peter von Blois (vgl. bei Anm. 3) eine neue Klärung des Verhältnisses von französischer und italienischer Fassung der 'Summa' forderte. Eine ähnliche Vermutung formulierte RINO AVESANI in seiner Rezension der Gervasius-Ausgabe, in: Studi Medievali, 3A ser. 7, 1966, S. 749 — 760, hier S. 755. Wie früh bereits die Verbindung von Bernardus zu Bernhard Silvestris gezogen wurde, zeigt die selbständige Überlieferung der auch im Kontext der 'Summa' (Fassung A und C) überlieferten Ars metrica in der Erfurter Hs. 0.16, Bl. 52 r —56 v : In einleitenden Distichen wird Bernardinus als Verfasser ausgewiesen, im späteren Inhaltsverzeichnis erhält sie den Titel: Liber de metrificatura Bernhardt Silvestris optimi poete. Vgl. WILHELM SCHUM, Beschreibendes Verzeichnis der amplonianischen Handschriften-Sammlung zu Erfurt, Berlin 1887, S. 684. Bereits LANGLOIS (wie Anm. 8) S. 235, wies auf die Erfurter Metrik hin, da er aber Verse und Titel nach Schum zitierte, bemerkte er das Fehlen des Titels in der Hs. nicht. Angabe nach ANDREAS WILMART, Codices Reginenses latini, 2, Vatikan 1945, S. 268. Erwähnt ist diese Überlieferung bereits bei BRINI SAVORELLI (wie S. 201) S. 184f., aber mit z . T . falschen Angaben.
Die 'Summa' des Magister Bernardus
233
Um welches opus des Bernhard Silvestris es sich hier handelt, wird nicht deutlich, während der Titel 'De eruditione dictaminis' im Zusammenhang mit dem Namen Bernardinus mit einiger Sicherheit auf Fassung B der 'Summa' verweist. Wenn auch der Weg, auf dem Gervasius von den in Italien entstandenen 'Introductiones' Kenntnis erhielt, unbekannt bleibt, belegt sein Zitat doch, daß sie ebenso wie die Werke des Magister Bernardus in Frankreich überliefert und rezipiert wurden. Eine enge Verbindung nach Frankreich kann sogar schon für das Exemplar in M angenommen werden. Dafür spricht zum einen das Exzerpt aus der Grammatik des Hugo von St. Viktor, für die es sonst keine italienische Überlieferung gibt 147 ; der Auszug aus der 'Aurea Gemma' des Henricus Francigena ist neben einer ehemals aus Aosta stammenden Handschrift der einzige italienische Textzeuge dieser Ars dictandi 148 . Vor allem aber drängt sich der Bezug nach Frankreich auf durch die im ersten Teil von M enthaltenen Briefe Ivos von Chartres, die — abgesehen von vier vatikanischen Handschriften — die einzige bisher bekannte italienische Überlieferung bilden 149 . Einige Einträge in M sprechen nun gegen eine Entstehung dieser Handschrift in dem als Besitzer ausgewiesenen Kloster San Benedetto di Polirone, was der Vermutung Raum gibt, zumindest der Teil mit den Briefen sei aus Frankreich nach Italien gelangt. Da aber beide Teile im gleichen Skriptorium entstanden sein dürften, ist auch für den zweiten mit den 'Introductiones' eine französische Entstehung nicht ausgeschlossen 150 . Greifbarer noch als bei den 'Introductiones' sind die Beziehungen zu Frankreich in den Traktaten des Magister Bernardus. Denn neben der französischen Redaktion der 'Summa' 1 5 1 und den Zeugnissen für eine Rezeption der 'Rationes' in Frankreich 152 reichen sie bis in die Traktate selbst: Innerhalb der Exordiensammlung ist in einem Beispiel die Rede von einem Magister, der aus Frankreich nach Bologna gekommen sei 153 . Außerdem nennt die 'Summa' in den Salutationsmustern mehrere französische Orte: Paris, Lyon, Arles, Cluny und Clairvaux 154 . Daß die Artes dictandi aus dem Umkreis des Magister Bernardus enge Verbindungen nach Frankreich erkennen lassen, entspricht durchaus dem historischen Ort H7 Ygj (jje Liste
(fi,1.44)
Reginbertus presbiter et canonicus, Hainricus conversus o(bierunt).
1) Zusat£ von späterer Hand: sepultus ante altare sancti iohannis Ewangeliste. 16 Propst S.
Mai
Chönradus Tomiche laicus obiit. Liutgart laica obiit.
Hartmannus laicus, Hiltiburch conversa, Gisila laica o(bierunt).
2.5.
1.5.
NECROLOGB
Degenhard
von Dießen,
ca.
117}—1204,
s. SCHLÖGL,
Traditionen
(wie
oben
Anm.21)
67*f.
i a) Anfang des Eintrags unleserlich (OEFELE, S.24, druckt: Anno incarnationis dominicej; Q tiac ccctiam ... prediis von der Hand des Eintrags, aber durch Verweisungs^eichen dem Namen O.s zugeordnet. b) Vor dem Eintrag unleserliche Noti^j Nachtrag Graf Heinrich von späterer Hand: sepultus in capitolio. c) Eintrag nur teilweise leserlich, fehlt bei BAUMANN, Necrologium Diessense, •5". 17. d) Unleserlicher Eintrag, Hinweis fehlt bei BAUMANN, Necrologium Diessense, S. 17 (b%w. S. 18). 1 Bischof Otto II. von Bamberg, f 1196; s. VON GUTTENBERG (wie oben Anm.37). Vgl. Tradd. 27a¡b, S9a\c, ferner dep. 6. 2 Graf Heinrich II. von Wolfratshausen, f 1157 (TROTTER, S.22 Nr. 38; OEFELE, S.26f. Nr. 27; TYROLLER, Genealogie, S. 155 Nr. 38; s.a. oben Anm.41 u.ö.). Vgl. Tradd. 17, 21a¡b, 16, 18, 7, 6a, vgl. 22.
Stiftergedenken in Kloster Dießen NECROLOGA 4.5.
IUI. N.
5.5.
III. N.
6.5. 7.5.
II. N. N. Mai.
8.5.
VIII. Id.
9. 5.
VII. Id.
10.5.
VI. Id.
11.5.
V. Id.
12.5.
IUI. Id.
Mai
[...]dus presbiter nostre congregationis frater obiiA [...] ( f o l - 7')
Hainricus conversus nostre congregationis frater obiit 6 . / ^Wolftrigel laicus obiit g \ / Meginwardus presbiter nostr^ congregationis frater obiit 7 . g 'Pernhardus conversus nostre congregationis frater obiits). B 'Herburgis conversa nostre congregationis soror obiit g \ Anno ab incarnatione Domini Millesimo CLV Hainricus Ratisponensis episcopus obiit 8 . Marcwardus conversus nostre congregationis frater obiit. Liugardis h ) conversa nostrf congregationis soror obiit.
269
NECROLOGB
Gozolt presbiter, Otwin, Engelmarus de Chiusa6) Sebene 3 l(aici) o(bierunt). Bernhardus de Raistingen laicus obiit, qui dedit nobis predium in eodem loco 4 . Odalricus conversus obiit.
Ödalricus laicus obiit. Vdalricus de Etinsloch laicus obiit, qui dedit nobis dimidium mansum Cirle 5 . Hainricus conversus obiit, qui dedit predium Haneuelt 6 .
Meginwardus presbiter et conversus obiit, qui dedit nobis curiam Etinsloch 7 .
Adelbero, Berhtoldus, Mathildis laica o(bierunt). Chunigunt laica obiit.
e) 1 von derselben Hand eingebessert. f) BAUMANN, Necrologium Diessense, J'. 18, liest Markwardus. g) Nachtrag, vielleicht von der anlegenden Hand. h) Oder Luigardis. 3 Klausen Sähen (Südtirol). 4 Raisting (Ldkr. Weilheim-Schongau), j. Urb. 174. 5 Etterschlag (Gem. Wörthsee, Ldkr. Starnberg), die halbe Hufe in Zirl (österr. Gerichtsbe^irk Telfs), s. Urb. 161. 6 Hanfeld (Gem. Starnberg, Ldkr. Starnberg), s. Urb. 57. 7 Meginwards Stiftung in Etterschlag (Gem. Wörthsee, Ldkr. Starnberg), vgl. Urb. 39. 8 Bischof Heinrich von Regensburg, f 1155 (s. oben Anm. 48, ferner: TROTTER, S.21 Nr. 32; OEFELE, S.19f. Nr. 18; TYROLLER, Genealogie, S. 153 Nr. 27).
270
Michael Borgolte
NECROLOGA
Mengoz conversus stre congregationis ter obiit. Mathildis conversa stre congregationis ror obiit.
NECROLOGB
nofra-
13.5.
III. Id.
14.5.
II. Id.
15.5.
Id. Mai.
16.5.
XVII. K. Iun.
Chonradus canonicus, huius loci quondam possessor1)12. [...] nostre congregationis soror obiit").
17.5.
XVI. K.
( f o l . 8)
18.5.
XV. K.
19.5.
XIIII. K.
20.5.
XIII. K.
21.5.
XII. K. XI. K.
22.5. 23.5. 24.5.
Mai
X. K. V i l l i . K.
noso-
Meinboto conversus nostre congregationis frater obiit. Gerdrudis conversa nostre congregationis soror obiit.
Òlshalchus de Walheshouin laicus obiit, qui dedit nobis predium Vorkaim1'9. Odalricus Schóhzugil laicus obiit, qui dedit nobis predium Aschah 10 . Berihta laica obiit. Gotescalchus subdiaconus obiit. Brigida laica obiit, que dedit predium Gezins k ) n . ( f o l . 44') Cónradus canonicusm)12, Bruninch laicus o(bierunt).
Reginboto cornes de Gieh obiit 13 . Mengoz, Lutwinus ex nostris l(aici) o(bierunt). Odalricus conversus obiit.
Richinza canonica obiit.
Hiltibrandus, Wernherus l(aici) o(bierunt). Wernherus conversus nostre congregationis frater obiit.
Sigeboto conversus, Tòta canonica o(bierunt) 14 .
i) k von derselben Hand aus h korrigiert. k) Eintrag wohl von anlegender Hand, aber vielleicht Nachtrag. 1) Folgt Textverlust durch Ausriß des Pergamentblattes; OEFELE, S. 15 Nr. 9, liest noch: obiit; von späterer Hand nachgetragen: sepultus in capitolio. m) Nachtrag von späterer Hand: Chönradus canonicus obiit, patruus Berhtoldi fundatoris nostri. n) Fehlt bei BAUMANN, Necrologium Diessense, S. 18. 9 Walchshofen (Gem. Aichach, Ldkr. Aichach-Friedberg), Gut in Farchant (Ldkr. GarmischPartenkirchen), s. Urb. 109. 10 Aschau (Gem. Schwaigen, Ldkr. Garmisch-Partenkirchen), s. Urb. 108. 11 Göthens (österr. Gerichtsbeyrk Innsbruck), s. Urb. 103. 12 Konrad II., Angehöriger des Gründergeschlechts von Dießen ( TROTTER, S. 20 Nr. 25; Konrad bei OEFELE, S. 15 Nr. 9, und bei TYROLLER, Genealogie, S. 150 Nr. 12). 13 Graf Reginboto von Giech, Schwiegervater Graf Poppos I. von Andechs (OEFELE, S. 22 Nr. 20; TYROLLER, Genealogie, S. 156 Nr. 40). 14 T. vielleicht die Schwester des Grafen Arnold III. (s. 8.2., vgl. TROTTER, S.20 Nr. 29; OEFELE, S. 15 Nr. 10).
Stiftergedenken in Kloster Dießen
25.5.
VIII. K.
26.5.
VII. K.
27.5.
VI. K. V. K.
28.5.
NECROLOGA
NECROLOGB
Irmgardis conversa nostra congregationis soror obiit.
Berewicus presbiter obiit0).
271
Hemma, Willibirch, Adelhait l(aice) o(bierunt). (fol.8')
Swicgerus conversus nostre congregationis frater obiit. Otto Comes, fundator loci istius, post monachus factus, obiit, sepultus
Wolfolt laicus obiit.
SewenP)15. 29.5.
IUI. K.
30.5.
III. K.
31.5.
II. K.
Mai
Albertus presbiter et canonicus obiit. Hiltigart conversa nostre congregationis soror obiit. Agnes conversa nostre congregationis soror obiit. Mathildis abbatissa de Otilinesstetin bone memorie obiiti)16. / Eberhardus prepositus 17 , Engelschalchusr) abbas o(bierunt)18. /
(fol.45)
o) So, nicht Borewicus, wie bei BAUMANN, Necrologium Diessense, S. 19. p) Zusat^ einer Hand des 13.Jh.: anno gracie M C XX II. q) Vor dem Namen Nachtrag von späterer Hand: Anno verbi incarnati Millesimo C sexagesimo; über dem Eintrag vielleicht von derselben, jedenfalls einer späten Hand: Sepulta ante altare sancti Iohannis Baptiste. r) So, und nicht Engelschalcus, wie bei BAUMANN, Necrologium Diessense, S. 19. 15 Graf Otto IV. von Wolfratshausen (s. TROTTER, S.21 Nr. 31; Otto I I I . bei OEFELE, J'. 18f. Nr. 17, und TYROLLER, Genealogie, S. 153 Nr. 26). Bei OEFELE auch weitere Quellen %um Begräbnisort Seeon. Für das Todesjahr 1135 (anstelle 1127 bei OEFELE) plädiert jet^t POLOCK (wie oben ANM. 28J bes. S. 314f. Vgl. Urk. 2. 16 Mathilde, Tochter Graf Bertolds I. (s. 27.6.) und der Sophia (s. 6.9.), Äbtissin von Edelstetten, f 1160 (s. TROTTER, S.23 Nr. 45; OEFELE, S.24f. Nr. 23; TYROLLER, Genealogie, S. 157 Nr. 44). Vgl. Urkk. 3, 7, dep. 4. 17 Propst des Augustinerchorherrenpriorats Rohr in Niederbajern (gegr. 1133), s. Necr. Maliersbergense und Necr. Windbergense (MGH Necr. 3, J . 264 b^w. 394), vgl. Necr. S. Rudberti Salisburgense (MGH Necr. 2, S.139). 18 Abt von Benediktbeuern, f 1138 (?), vgl. MGH SS 9, i". 236; MGH Necr. 3, S. 25, 146; 4, S. 46.
272
Michael Borgolte NECROLOGA
1.6.
K.Iun.
2. 6.
IUI. N.
3. 6.
III. N.
4. 6. 5.6.
II. N. N. Iun. V i l i . Id.
6.6.
Egelolfus puer obiit. /
/ Goh[...] lai(cus) obiitb). / (fol-9) Diemodis conversa nostra congregationis soror obiit.
11.6.
VII. Id. VI. Id. V. Id. m i . id. III. Id.
12. 6.
II. Id.
13. 6.
Id. Iun.
14.6. 15.6.
XVIII. K. lui. XVII. K. (fol.9>) XVI. K. XV. K. Mathildis conversa nostre congregationis soror obiit.
7.6. 8.6.
9.6. 10.6.
16.6.
17.6.
Juni
/ Aerbo laicus obiitc). / Hainricus, Sigefridus presbiteri obierunt. Richinza conversa nostre congregationis soror obiit. / Gripho iunior laicus, Gisila laica o(bierunt). /
NECROLOGB
Dheodericus comes nostras obiit»)1. Adelgoz presbiter et canonicus. Wicmannus. Chònradus. Hermannus. Chöno subdiaconus obiit.
Gerungus laicus obiit.
Berhta de Husin laica obiit2. Waltherus laicus obiit. Fridericus imperator obiit3. Odalricus conversus, Hiltiburch laica o(bierunt). ( f o l . 45')
Berhta canonica, Albrath laica o(bierunt). Vdalricus presbiter obiit. Bernolth laicus obiit.
a) Nachtrag von späterer Hand: frater Berhtoldi comitis, fundatoris nostri. b) Eintrag stark abgerieben und nicht mehr voll lesbar, fehlt bei BAUMANN, Necrologium Diessense, S. 19. c) Vielleicht Nachtrag der Anlagehand.
1 Graf Dietrich, Bruder Bertolds I. (s. 27. 6., vgl TROTTER, i'. 22 Nr. 37; OEFELE, 18 Nr. 15). Nach TYROLLER, Genealogie, S. 155 Nr. 34, dagegen Dietrich I I . von Wasserburg, Sohn Arnolds (Arnulfs, s. 8.2.). 2 Es kommen mehrere Orte Hausen in Betracht, an denen Dießen — wenn auch nachweislich T. erst später — begütert war, s. SCHLÖGL, Besit^liste (wie oben Anm.21) 176f. 3 Kaiser Friedrich I. Barbarossa, f 10. 6. 1190.
273
Stiftergedenken in Kloster Dießen NECROLOGA
18. 6.
XIIII. K.
19.6. 21.6.
XIII. K. XII. K. XI. K.
22. 6.
X. K.
23.6. 24.6. 25.6.
Villi. K. Vili. K. VII. K.
26.6. 27.6.
VI. K. V. K.
20. 6.
Juni
Eufemia abbatissa de Altinmunstir, nostre congregationis soror obiit anno verbi incarnati Millesimo CLXXXd)4. Gisila conversa nostr^ congregationis soror obiit.
NECROLOGB
Gerungus laicus obiit.
Gerbirch laica obiit. Hadewic conversa, Richinza laica, Albero Tomiche laicus o(bierunt)c\ Ortolfus laicus obiit. Eberhardus Salzburgensis archiepiscopus5. Otino diaconus obiit. ( f o l . 10) Ospirna conversa nostre congregationis soror obiit. Berhtoldus comes, fundator huius loci, post conversus nostr^ congregationis frater obiit^6. / Fridericus presbiter obiit. /
( f o l . 46) Ödalricus laicus obiit. Rödpertus, Ludewicus l(aici) o(bierunt).
d) Nachtrag späterer Hand: sepulta ante altare sancti Iohannis ewangeliste. e) t.e ausradiert. f) Über der Zeile von späterer Hand nachgetragen: Sepultus in capitolio; nach fr. e. von anderer späterer Hand: pater b(ea)te Machthildis abbatisse, qui dedit ecclesie nostre quattuor curias, duas in loco, qui dicitur P(r)vnnen iuxta Maenchingen, alias duas in Ekk iuxta Mammendorf, et quattuor mansus, vnum Dassen, alium in Fronried, tercium in P(r)vntal, quartum in Bozano/ vor dem Namen von späterer Hand: Anno gracie MCLI. 4 Eufemia, Tochter Bertolds /. (s. 27. 6.), Äbtissin von Altomünster, f 1180 ( TROTTER, S. 23 Nr. 46; OEFELE, S.25 Nr. 24; TYROLLER, Genealogie, S.157 Nr. 46). 5 Er^bischof Eberhard von Salzburg, f 1164. 6 Graf Bertold I. (bei OEFELE: Bertold II., bei TYROLLER: Bertold IV.), f 1151 (TROTTER, S.21 Nr. 35; OEFELE, S. 16 Nr. 13; TYROLLER, Genealogie, j". 153f. Nr. 30; Zweifel am Todesjahr bei ROMUALD BAUERREISS, Die geschichtlichen Einträge des „Andechser Missale" [Clm. 3005J, in: Studien und Mitteilungen %ur Geschichte des Benediktiner-Ordens 47, 1929, S. 52— 90, S.56 Anm.2). Vgl. zu Note f Tradd. 4ajb, ferner Tradd. 2, 11, 15, dep.4, Urk.2. Nach anderen Überlieferungen wäre B. in Seeon Mönch geworden und begraben: BAUERREISS, S. 56 mit Anm. 2.
274
Michael Borgolte
NECROLOGA 28. 6.
IUI. K.
29. 6.
III. K.
30. 6.
II. K.
7.7.
K. lui.
2. 7.
VI. N.
3. 7. 4. 7.
V. N. IUI. N.
5. 7. 6. 7.
III. N. II. N.
7. 7. 8. 7.
N. lui. Vili. Id.
9. 7. 10. 7.
VII. Id. VI. Id.
Juni
Baltwinus conversus nostre congregationis frater, Berhta conversa nostre congregationis soror o(bierunt). Luitoldusg) conversus nostre congregationis frater obiit.
Ödalricus conversus nostr? congregationis frater obiit. / ^Albertus laicus in Bozano post conuersus obiit2)1. / "'Gerdrudis conversa nostra congregationis soror obiit").
Reginoldus laicus obiit.
Gudra de Wolfratehusin laica obiit7. Thruta de Husin laica obiit8. Marquart conversus. Guntherus laicus obiit. Hiltibrant, Berhtoldus l(aici) o(bierunt). Ödalricus conversus obiit, dq, womit die aus Papyrus, Leder oder Pergament gefertigte Rolle bezeichnet wird. Liber, das lateinische Äquivalent in der Vulgata, hat den aus Pergament oder Papyrus gebundenen Codex im Auge. Philologisch betrachtet sind beide Übersetzungsversuche unzureichend. Der Sache nach dokumentieren sie eine buchgeschichtliche Zäsur, die in der Zeit zwischen dem 2. und 4. nachchristlichen Jahrhundert erfolgte und durch den „Übergang von der Rolle zum Codex" charakterisiert wird 172 . Auslegungs- und rezeptionsgeschichtlich bedeutsam ist dies: Lateinische und griechische Väter bezogen die Beschriftung der Tafel durch Isaias auf die Empfängnis Jesu im Schoß der Jungfrau. Hieronymus (f 419/20) schrieb in seinem IsaiasKommentar zu Is. 8,1: An dieser Stelle werde bildhaft die jungfräuliche Empfängnis beschrieben (sub figura partus describitur virginalis). Was aber in Wirklichkeit mit einem menschlichen Griffel geschrieben werde, sei der puer natus, der aus Maria geborene Gottessohn, der dem Teufel schnell seine Beute raube und seiner Herrschaft ein Ende mache 173 . Epiphanius von Salamis (f 403) hebt hervor, Isaias sei von Gott nicht aufgefordert worden, eine vollständige Papyrusrolle zu beschreiben, sondern nur ein neues, großes Stück davon (xö|iov x a p t o ß K a i v o ß iisya^ou) 174 . Die mariologische Tiefendimension dieses Textes tritt deutlich in den Blick, wenn der Begriff xö|ioc; in seiner etymologischen Grundbedeutung erkannt wird. Aufgrund seiner Abkunft von T £ | ! V E I V (schneiden) besitzt er einen Wortstamm, der mariologisch überhöht werden konnte; denn sowohl das Papyrusblatt als auch Maria waren ,abgeschnitten' — das Papyrusfragment von einer vollständigen Rolle, Maria vom fleischlichen Umgang mit Männern. Den Papyrus betrachtet Epiphanius als Chiffre für den unbefleckten ,Schoß' (|J.f|Tpa) der Jungfrau. Um kenntlich zu machen, daß der unbefleckte Schoß Mariens von Gott als Beschreibstoff benutzt werden konnte, habe, wie Epiphanius darlegt, der Prophet Isaias in seinem Bericht über den an ihn ergangenen Auftrag Gottes TÖ(j.o .
B e r k a , ß c m s i j a a . o*
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Dießener Traditionen- und Necrologienhandschrift von 1204/1210: Necrolog B (Bayer. Staatsbibliothek München, Clm 1018, fol. 39').
T A F E L XIII
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22
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V e r k ü n d i g u n g an Maria. Elfenbeinrelief, Anf. 12. J h . , Skulpturenabteilung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin (West). — Foto: Reinhard Friedrich, Berlin.
TAFEL XIV
23 Meister Bertram von Minden (um 1340 — 1414/15). Verkündigung an Maria, Tafel 19 aus dem Grabower Altar. Kunsthalle Hamburg. — Foto: Elke Walford, Fotowerkstatt Hamburger Kunsthalle.
TAFEL XV
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TAFEL XVII
TAFEL XVIII
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TAFEL XXI
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