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German Pages [577] Year 2022
Format: BEZ 155x230, Aufriss: HuCo
Désirée Schostak
Ritualbäder der Emanzipationszeit im Spannungsfeld von öffentlicher Wahrnehmung und jüdischem Selbstverständnis
BAND 32
In ihrer Studie spürt die Autorin denjenigen gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und religiösen Faktoren nach, die in ihrem Zusammenspiel die Transformation der Mikwe prägten. Sowohl die räumliche Anlage als auch das Verständnis des Rituals selbst wurden auf verschiedene Weise erneuert und dadurch den Bedingungen einer bürgerlichen Lebenswelt angepasst. Dabei richtet sich der Blick stets auf beide Seiten: Die deutsche Öffentlichkeit nahm die Mikwe hauptsächlich über die Ärzte als ein medizinisches Problem wahr, wohingegen die jüdische Gemeinschaft in einem allgemeinen Prozess der Reform alte Traditionen in einen neuen Wertehorizont ein zupassen suchte.
Schostak Der Weg der Mikwe in die Moderne
JÜDISCHE RELIGION, GESCHICHTE UND KULTUR
JRGK 32
Die Autorin Désirée Schostak studierte Anglistik und Germanistik in Würzburg sowie Jiddische Kultur, Sprache und Literatur in Düsseldorf. Mit der vorliegenden Arbeit promovierte sie an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, wo sie seit 2006 als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist, u. a. am Lehrstuhl für Geschichte des jüdischen Volkes.
Der Weg der Mikwe in die Moderne
ISBN 978-3-525-56059-4
9 783525 560594
9783525560594_Schostak_Mikwe_JRGK.indd 1,3
10.03.22 14:05
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Jüdische Religion, Geschichte und Kultur Herausgegeben von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher
Band 32
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Désirée Schostak
Der Weg der Mikwe in die Moderne Ritualbäder der Emanzipationszeit im Spannungsfeld von öffentlicher Wahrnehmung und jüdischem Selbstverständnis
Vandenhoeck & Ruprecht
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von Szloma-Albam-Stiftung Axel Springer Stiftung Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein Nicolas-Benzin-Stiftung
Mit 34 Abbildungen und 23 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Oben: Bauzeichnung der Bamberger Regenwassermikwe von 1832 (Stadtarchiv Bamberg, C 2 + 53865) Unten: Blick auf das Tauchbecken der Veitshöchheimer Mikwe (Foto: Ronald Grunert-Held) Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: le-tex publishing services, Leipzig Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0963 ISBN 978-3-666-56059-0
Inhaltsverzeichnis
Vorwort................................................................................................ 1.
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Einleitung .................................................................................... 11
Teil A: Mikwe, Kaltes Bad, Frauenbad … Zur Tradition des jüdischen Ritualbads 2.
3.
Der religionsgesetzliche Hintergrund .............................................. 2.1 Reinheit und Heiligkeit: Das rituelle Tauchbad im System der Bibel ..................................................................... 2.2 Reinheit der Familie: Konzeptionelle Verschiebungen seit Zerstörung des Zweiten Tempels ......................................... 2.3 „Eine Quelle oder eine Grube“: Grundlegende Vorschriften für die Anlage von Mikwen ................................... 2.4 Besondere Methoden beim Bau einer Mikwe: hamschacha, haschaka und sri‘a ................................................
33 34 42 54 63
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts........................................................... 69 3.1 Die äußere Anlage: Monumentalbauten und einfache Kellermikwen......................................................................... 70 3.2 Anlage und Beschaffenheit des Tauchbeckens............................. 79 3.2.1 Größe des Tauchbeckens und halachisches Mindestvolumen am Beispiel der Mikwen des württembergischen Jagstkreises ........................................ 82 3.2.2 Baulich-technische Details der Wasserversorgung und Notlösungen ............................................................ 104 3.3 Die Frage der Erwärmung........................................................ 109 3.3.1 Halachische Fragestellungen und die Theorie der Erwärmung.................................................................... 109 3.3.2 Praktische Aspekte der Erwärmung .................................. 125 3.4 Gebotserfüllung und Spiritualität.............................................. 137
6
Inhaltsverzeichnis
Teil B: Von der „Mördergrube“ zur modernen Mikwe: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess 4.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht..................... 149 4.1 Mikwen im württembergischen Jagstkreis: Der Prozess der Modernisierung bis 1846.................................................... 152 4.1.1 Bestandsaufnahme und erste staatliche Reglementierung seit 1821 ............................................... 153 4.1.2 Die Erweiterung der staatlichen Agenda in den 1830er Jahren ................................................................. 169 4.1.3 Die Frage der Erwärmung: Theorie und Praxis um 1839 ...... 175 4.1.4 Der württembergische Normalerlass von 1846.................... 181 4.2 Mikwen und staatliche Politik im Gebiet des Deutschen Bundes ... 185 4.2.1 Die Mikwe als Politikum: Das Verhältnis von Staat und Ärzteschaft zur jüdischen Gemeinschaft im Königreich Württemberg ................................................. 186 4.2.2 Die Situation der Mikwen in den Staaten des Deutschen Bundes .......................................................... 209
5.
Mikwen und Macht: Reibungsflächen im Modernisierungsprozess...... 237 5.1 Innerjüdische Konstellationen .................................................. 238 5.1.1 Strukturimmanente Schwierigkeiten beim Übergang zur ‚öffentlichen‘ Gemeindemikwe ..................... 239 5.1.2 Örtliche Mikwenpolitik: Interessengruppen und gesamtgesellschaftlicher Kontext....................................... 250 5.2 ‚Ecclesia und Synagoga‘: Christlich-jüdisches Zusammenleben auf dem Land................................................. 281
6.
Zwischen Gesundheit und Gebot: Der ideologische Wandel der Mikwe ................................................................................... 297 6.1 Das Bild der Mikwe unter den Vorzeichen von bürgerlicher Reinlichkeit und Gesundheitsfürsorge ..................... 298 6.1.1 Die Mikwe als Gegenort: Ärztliche Berichterstattung und medizinische Literatur 1777–1872 ..... 299 6.1.2 „Reinigkeit und Sittlichkeit“: Die Verbürgerlichung der Mikwe ...................................... 355
Inhaltsverzeichnis
6.2 Der innerjüdische Diskurs: Neue Wege zwischen Tradition und Moderne ........................................................... 390 6.2.1 Vom ‚geschöpften Wasser‘ zum Wannenbad: Die Rabbinerversammlung von 1845 ................................ 391 6.2.2 Danaidenfass, Hausmikwe und Co.: Mikwen als Reform-Objekt ............................................................... 407 6.3 Die Mikwe im Alltag des 19. Jahrhunderts ................................. 439 6.3.1 Gender-Aspekt und ‚Ästhetik‘ des jüdischen Ritualbads ...... 440 6.3.2 Von Mikwen und Bratwürsten, oder: Die Mikwe als jüdische Gretchenfrage? .............................................. 456 7.
Die Mikwe der Emanzipationszeit als Ausdruck und Symbol jüdischen Lebens – Bilanz einer Transformation zwischen Ritual und Raum .......................................................................... 471
Anhang I: Übersichtstabellen Tabelle 1a: Größe und Lage der Mikwen im Jagstkreis 1839........................ 483 Tabelle 1b: Erläuterung der mit *) gekennzeichneten Datierungen .............. 485 Tabelle 2: Jagstkreis – Entwicklung 1821 bis 1839 .................................... 487 Tabelle 3: Jagstkreis – Beschaffenheit der Mikwen um 1839 ...................... 491 Tabelle 4a: Medizinische Schriften zur Mikwe – Chronologie ..................... 497 Tabelle 4b: Medizinische Schriften zur Mikwe – thematische Aspekte.......... 499
Anhang II: Ausgewählte Quellen Nr. 1 Königreich Württemberg, Ministerialerlass vom 4. August 1846 (Normalerlass)........................................................ 503 Nr. 2 H. Cohen (Rappert), סדרי טהרה. Reinigungs-Ordnung zum Gebrauche der israelitischen Weiber, Marburg 1824............................ 507
7
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Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen ........................................................................................ 521 Literaturverzeichnis ............................................................................... 523 Abbildungsnachweis .............................................................................. 561 Register ................................................................................................ Personenregister ........................................................................... Ortsregister.................................................................................. Sachregister .................................................................................
563 563 568 572
Vorwort
Das Umschlagbild mit der Veitshöchheimer Grundwasser-Mikwe (unten) und der Bamberger Regenwasser-Mikwe (oben) setzt beispielhaft in Szene, wie man sich den Weg der Mikwe in die Moderne vorstellen kann. Zugleich deutet sich in seiner Zweiteilung und der Gegensätzlichkeit der beiden Anlagen die Grundspannung an, die diesen Weg kennzeichnet. Es handelt sich um eine Gratwanderung in einem komplexen Kräftefeld: zwischen Wahrung der Tradition einerseits und den Herausforderungen und Möglichkeiten der Moderne andererseits; zwischen jüdischem Selbstverständnis im Zeitalter der Emanzipation und dem aufmerksamen Blick der deutschen Öffentlichkeit; zwischen dem abstrakten Konzept eines religiösen Rituals und der Umsetzung im realen Raum. Die Analyse dieses Kräftefeldes ist das Thema meiner Untersuchung. Das vorliegende Buch stellt die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die 2018 an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg eingereicht wurde. Für den erfolgreichen Abschluss dieses Projektes war ich auf die Unterstützung sehr vieler Menschen angewiesen, und ihnen allen möchte ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen. Auch kleine Hilfestellungen, ob nun fachlich oder ganz praktisch, haben manchmal eine große Wirkung! Mein besonderer Dank gilt natürlich den BetreuerInnen meiner Arbeit, an erster Stelle Rabb. Prof. Dr. Birgit Klein vom Lehrstuhl für Geschichte des jüdischen Volkes an der Hochschule für Jüdische Studien. Sie hat die Arbeit von Anfang an begleitet und durch ihre kompetente fachliche Unterstützung wesentlich dazu beigetragen, dass sie Gestalt annehmen konnte. Gerade auch in der Endphase, als letzte, aber wichtige Details zu klären waren, war dies von unschätzbarem Wert. Meiner Zweitgutachterin Prof. Dr. Tanja Penter vom Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg danke ich für ihre große Offenheit gegenüber dem Thema und ihre Bereitschaft, sich auf das für HistorikerInnen ungewohnte und teils unwegsame judaistische Terrain zu begeben. Last but not least verdanke ich meinem Drittgutachter Prof. Dr. Michael Brocke, über lange Jahre Direktor des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, wertvolle fachliche Anregungen, Ratschläge und Ermutigungen. Auch über die Entfernung und den Abschluss der Arbeit hinweg halfen mir diese, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, und neben dem Wesentlichen auch das ‚Unwesentliche‘ ausreichend zu beachten. Eigens hervorheben möchte ich darüber hinaus die ProfessorInnen und Angehörigen der Hochschule für Jüdische Studien sowie die MitarbeiterInnen der Archive,
10
Vorwort
in denen ich forschen durfte bzw. die mir Akten aus ihren Beständen zur Verfügung gestellt haben. Hierzu zählen insbesondere die Staatsarchive Ludwigsburg und Würzburg. Möglich wurde die langjährige Forschungsarbeit zu einem großen Teil durch ein Stipendium aus Mitteln des Landes Baden-Württemberg im Rahmen der Landesgraduiertenförderung, das ich von März 2013 bis August 2015 erhalten habe. Bei Prof. Dr. Michael Brenner und Prof. Dr. Stefan Rohrbacher bedanke ich mich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Jüdische Religion, Geschichte und Kultur. Den Druck des Buches ermöglichten großzügige Zuschüsse seitens der SzlomaAlbam-Stiftung und der Axel Springer Stiftung, weitere Unterstützung kam von der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Nicolas-Benzin-Stiftung. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle auch bei denjenigen Personen und Institutionen, die Abbildungen zur Verfügung gestellt haben, um auf diese Weise das Buch für alle LeserInnen zu bereichern, vor allem wenn dies unentgeltlich geschah. Der Weg von meinen ersten Forschungen zum Thema bis zu deren Abschluss war nicht immer einfach, und so möchte ich zu guter Letzt auch meiner Familie danken: meinem Mann und meiner Tochter für ihre Hilfe in den kleinen und großen Dingen des Alltags und ihre Geduld besonders da, wo das gemeinsame Familienleben manchmal zu kurz kam; und meinen Eltern, die mir ermöglicht haben, mit dem Studium meinen Interessen nachzugehen, selbst wenn nicht immer klar war, wohin der Weg am Ende führt. Nur durch ihre kontinuierliche Unterstützung (in der Schlussphase der Promotion auch finanziell) war es mir möglich, über Jahre hinweg zu meinem Projekt zu forschen. Als Dank und Anerkennung hierfür möchte ich ihnen das vorliegende Buch widmen. Mein Wunsch und meine Hoffnung ist es, dass das überaus vielschichtige Thema der Ritualbäder im 19. Jahrhundert auch über den Fachkreis der Jüdischen Studien hinaus LeserInnen findet, und dass es ihnen neue Perspektiven auf das Judentum und die gemeinsame deutsch-jüdische Geschichte eröffnet. Heidelberg im Oktober 2021 Désirée Schostak
1.
Einleitung
ִגּלּוֵּליֶכם ֲאַטֵהר ֶאְתֶכם-ְו ָז ַרְקִתּי ֲﬠֵליֶכם ַמ ִים ְטהוֹ ִרים וְּטַה ְרֶתּם ִמכֹּל ֻטְמאוֵֹתיֶכם וִּמָכּל ְיה ָוה ִהיא ִתְתַהָלּל-ִאָשׁה ִי ְרַאת
Und ich werde reines Wasser auf euch sprengen, dass ihr rein werdet; von all euren Unreinheiten und von all euren Götzen werd’ ich euch reinigen. (Ez 36,25) Eine Frau, die den Ewigen fürchtet, die werde gerühmt. (Spr 31,30) Frühere Inschrift am Gebäude der Mikwe in Diersburg (Gemeinde Hohberg, BadenWürttemberg)1
Der in einen Stein gemeißelte hebräische Segensspruch der ehemaligen Mikwe in Diersburg, der sich an anderer Stelle bis heute erhalten hat,2 stammt aus dem Jahr 5611 nach jüdischer, d. h. 1850/1851 nach allgemeiner Zeitrechnung. Geschaffen in der Mitte eines Jahrhunderts, das für die jüdische Gemeinschaft im deutschsprachigen Raum enorme Herausforderungen und Veränderungen mit sich brachte, scheinen sich in den gewählten Bibelversen der Inschrift Tradition, bzw. die Besinnung auf traditionelle jüdische Frömmigkeit, und Vision für die Zukunft auf besondere Weise zu verbinden. Der Vers aus dem Buch Sprüche würdigt zunächst ganz unmittelbar traditionelle Werte, nicht zuletzt deshalb, weil er unweigerlich auch den gesamten Bibelabschnitt in seinem bis heute bewahrten ‚Gebrauchs-Kontext‘ ins Gedächtnis ruft, nämlich den häuslichen Schabbat-Abend, an dem der Ehemann mit dem Loblied eschet chajil3 (Spr 31,10–31) die vielen guten Eigenschaften einer frommen (Ehe-) Frau
1 In der Übersetzung der Bibelstellen folge ich Philippson für Ez 36,25 (Die Tora, S. 1101) bzw. Zunz für Spr 31,30 (Die Heilige Schrift, Bd. 4, S. 1117). Der hier zitierte hebräische Text richtet sich nach der Ausgabe Zunz, Bd. 3, S. 894 und Bd. 4, S. 1117. Vgl. hierzu auch unten Abschnitt Übersetzungen aus dem Hebräischen und Jiddischen. 2 Der Stein mit der hebräischen Inschrift wurde bereits um 1933 in eine Bachmauer unterhalb der Mikwe integriert, das Gebäude der Mikwe selbst in den 1980er Jahren abgerissen; siehe Hahn/Krüger, Synagogen in Baden-Württemberg, Bd. 2, S. 207; o.V., „Diersburg“. 3 Die Bezeichnung leitet sich ab von dem Beginn des Liedes (Spr 31,10); Zunz übersetzt hier „eine wackere Frau“ (Die Heilige Schrift, Übersetzung von Zunz, Bd. 4, S. 1116).
12
Einleitung
preist. Darüber hinaus nährt er wiederum auch selbst die jüdische Tradition, ‚konstruiert‘ diese in gewisser Weise sogar aktiv, indem er über den baulichen Kontext der Mikwe eine zusätzliche Botschaft vermittelt: Eine gottesfürchtige Frau, so die implizite Aussage, erfüllt eben auch gewissenhaft die Pflicht, sich monatlich nach Ende der Menstruation in der Mikwe, dem jüdischen Ritualbad, zu reinigen. Das in dem Lied besungene biblische Frömmigkeitsideal wird somit um diese Eigenschaft virtuell erweitert, und gleichzeitig das Konzept der Mikwe, das in seiner modernen Komplexität nicht biblisch ist, gewissermaßen unter der Hand biblisch legitimiert. Weil aber dieser erst künstlich geschaffene biblische Hintergrund der Mikwe völlig natürlich wirkt, nämlich ganz im Einklang mit dem hohen Stellenwert der Mikwe und der gelebten Tradition steht, festigt er wiederum die gängige Praxis der Mikwe. Das erste Zitat (Ez 36,25) hat hingegen einen universalen Charakter: nicht bezogen speziell auf die Frau, sondern auf die Zukunft ganz Israels. Der Prophet vergleicht Israel in dem Abschnitt, dem der Vers entnommen ist, explizit mit einer Frau während ihrer Menstruation: „Gleich der Unreinheit einer Frau in ihrem Monatsfluss war ihr Wandel vor mir.“ (Ez 36,17)4 . Das Volk als Ganzes hat sich von Gott und seinen Geboten abgewendet und bedarf demnach der Reinigung: „Von all euren Unreinheiten und von all euren Götzen werd’ ich euch reinigen.“ (Ez 36,25). Dies geschieht in einem zukünftigen Zeitalter, in dem Gott seine Treue zu Israel auch den anderen Völkern sichtbar machen wird (Ez 36,36).5 Interpretiert man das hebräische gilulim6 in der gemeißelten Inschrift im strengen Sinn als ‚Götzen‘, so könnte man in der Wahl dieses Verses möglicherweise einen bewussten Rückzug, eine Abkehr von der als Bedrohung empfundenen Öffnung der jüdischen Gesellschaft für die deutsche bzw. moderne westliche Kultur erkennen. Versteht man unter ‚Götzen‘ dagegen im weiteren Sinn alles, was die Beziehung zu dem Gott der Bibel gefährdet, so bleibt das universale Heilsversprechen – und die Mikwe
4 Die Tora, Übersetzung von Philippson, S. 1101. 5 Diese Auslegung zu dem Bibelvers Ez 36,25 findet sich auch in der populären jiddischen ‚Frauenbibel‘ Zenne-renne (Erstdruck um 1600), der traditionellen (teilweise noch heute gelesenen) SchabbatLektüre jüdischer Frauen, zum Wochenabschnitt ‚Mezora‘‘ (Lev 14,1–15,33). Obwohl der Wochenabschnitt zentral auch die rituelle Reinigung der Frauen nach ihrer Monatsblutung thematisiert, geht die Zenne-renne hierauf nicht weiter ein (und ebensowenig auf die beiden anderen Stellen in Leviticus, die den Geschlechtsverkehr mit einer Menstruierenden verbieten); siehe beispielsweise Jakob ben Isaak [Aschkenasi], Z’ena u-r’ena, f. 72r –72v ; für eine englische Übersetzung des Abschnitts siehe Faierstein (Hg.), Ze’enah u-Re’enah, S. 628–632. Zur literarischen und kulturellen Bedeutung der Zenne-renne siehe Turniansky, „Z.e’enah U-Re’enah“, S. 491f. 6 Der hebräische Begriff ist vermutlich eine verächtliche Bezeichnung für ‚Götzen‘, siehe Gesenius, Handwörterbuch, unter ‚‘גלול. Interessanterweise wird auf der erhaltenen Gedenktafel (neueren Datums) die Übersetzung ‚Beschmutzungen‘ gewählt, siehe die Abbildung in Historischer Verein Mittelbaden, Mitgliedergruppe Hohberg (Hg.), Diersburg, S. 199. Die gängigen deutschen Bibelübersetzungen enthalten hingegen den Ausdruck ‚Götzen‘ in irgendeiner Form, siehe BibleServer.
Einleitung
erscheint in diesem Kontext als ein Symbol, eine diesseitige Ankündigung des kommenden Heils.7 Diese zweifache Orientierung, einerseits der Bezug auf die jüdische Tradition, andererseits die durchaus zwiespältige Vision eines neuen Zeitalters, das Ringen um ein neues Verständnis der Vergangenheit sowie der eigenen Rolle in Gegenwart und Zukunft, kennzeichnet sowohl allgemein die jüdische Gemeinschaft im 19. Jahrhundert als auch speziell das Phänomen Mikwe. Insbesondere im Zeitraum etwa vom Ende des Alten Reiches bis zum Abschluss der Emanzipation der jüdischen Bevölkerung in den deutschen Staaten zwischen 1862 und 1869/71 erfuhr die Institution der Mikwe einen grundlegenden Wandel, der auch, aber nicht nur, äußerlich sichtbar ist: Einerseits wurden die noch an der Wende zum 19. Jahrhundert vorherrschenden Kellermikwen, d. h. höchst einfache Tauchbecken, meist in Kellern von Privathäusern untergebracht und von einer Quelle bzw. Grundwasser gespeist, unter dem Druck sowohl innerjüdischer als auch gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen äußerlich den modernen Vorstellungen eines rituellen ‚Bades‘ angepasst. Dies betraf – und hier zeigt sich der Einfluss der Medizin, speziell der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung gewinnenden Hygiene – in besonderer Weise die Erwärmung des Wassers und die Sorge für dessen Sauberkeit. Andererseits ließen die vielfältigen gesellschaftlichen Umbrüche der Zeit auch das religiöse Konzept der Mikwe nicht unberührt, das sich nun vor dem Hintergrund von Emanzipation und Akkulturation, und in einem zunehmend bürgerlichen Umfeld auch der jüdischen Bevölkerung, neu behaupten musste. Dabei stand das Thema der Ritualbäder zwar nicht gleichermaßen im Licht der Öffentlichkeit wie z. B. die Beschneidung, war aber dennoch ein wesentlicher Punkt auf der Agenda jüdischer Reformbestrebungen und wurde so auch bei der reformorientierten Zweiten Rabbinerversammlung in Frankfurt 1845 diskutiert. Die in dem genannten Zeitraum vollzogene umfassende Transformation der Mikwe ist das Thema der vorliegenden Studie: Welche baulichen Veränderungen galt es vor Ort zu verwirklichen, welche Fragen wurden hierbei aufgeworfen, welche Probleme waren zu bewältigen? Welche Rolle spielten Ärzte, staatliche Behörden und deren Vertreter bei dem Prozess? Wie nahm man auf jüdischer Seite diesen Wandel wahr und inwiefern wurde er aktiv getragen oder mitgestaltet?
7 Maimonides (R. Mose ben Maimon), der in Mischne Tora (auch bezeichnet als Jad ha-chasaka) den Aspekt der spirituellen Reinigung und die Bedeutung der Intention beim Akt des Untertauchens besonders betont, verweist in diesem Zusammenhang ebenfalls auf den zitierten Vers aus Ezechiel, siehe Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Bd. 16, Hilchot mikwot 11,15 (11,12); Zählung in Klammern nach der traditionellen Ausgabe. Für eine englische Übersetzung siehe die Ausgabe von Danby (Hg.), The Code of Maimonides, Bd. 10, S. 535; vgl. auch Baskin/Gibson/Kotlar, „Mikveh“, S. 225.
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Einleitung
Welche Veränderungen erfuhr die Institution der Mikwe im Bewusstsein der Gesamtgesellschaft einerseits, und jüdischer Männer sowie Frauen, für die sie ja fast ausschließlich bestimmt war, andererseits? In der Auseinandersetzung mit diesen Fragen wird sich zeigen, dass die Mikwe nicht zuletzt aufgrund ihres Doppelcharakters – Gebäude und rituelle Handlung – keineswegs als ein isoliertes Phänomen am Rande der großen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts steht, sondern vielmehr auf einzigartige Weise mit vielerlei Aspekten der Gesellschaft und Kultur des 19. Jahrhunderts verflochten ist. Die Modernisierung der Mikwe in Theorie und Praxis ist sowohl Teil der gewaltigen Aufgabe, der sich das Judentum der Emanzipationsepoche stellen musste, als auch Teil der Entwicklungen, die die Gesamtgesellschaft prägten und veränderten. Vor diesem Hintergrund ermöglicht die Beschäftigung mit der Thematik Mikwe zugleich einen Blick auf die jüdische Gesellschaft der Zeit und ihren Weg ins deutsche Bürgertum aus einer ungewöhnlichen Perspektive. Facetten des Wandels – thematischer Zugang
Infolge ihrer doppelten Erscheinungsform – einerseits Gebäude, andererseits rituelle Handlung – und der hieran anknüpfenden gesellschaftlichen Diskurse vollzieht sich auch der Wandel der Mikwe in Abhängigkeit von einer Vielzahl von Faktoren. Strenggenommen ist das Untertauchen, hebräisch tewila, die eigentliche rituelle Handlung, die Mikwe selbst hingegen einfach eine Wasseransammlung, in der das Untertauchen stattfindet. In dem Maße, wie das Untertauchen jedoch in einem speziell für diesen Zweck errichteten Gebäude stattfindet (und nicht mehr in einem natürlichen Wasserlauf bzw. Bassin), verschwindet die gedankliche Grenze zwischen dem Ritual des Untertauchens und dem hierfür nötigen ‚Utensil‘ des Wassers. Stattdessen verbindet das Konzept der neuzeitlichen Mikwe alle enthaltenen Aspekte sozusagen ‚unter einem Dach‘: Wasserbassin und zugehöriges Gebäude symbolisieren als gedachte Einheit den Akt der rituellen Reinigung. Schon aus diesem Grund berührt selbst ein äußerlicher Wandel der Mikwe, wie er seit Beginn des 19. Jahrhunderts unter staatlicher Aufsicht stattfand, stets auch deren Innerstes, das Wesen des rituellen Tauchbads. Allerdings stellt die in manchen Staaten des Deutschen Bundes verordnete behördliche Kontrolle eben auch nur die eine Seite des Wirkungsgefüges dar, dem die Mikwe in dieser Zeit unterworfen war. Daneben wirkten weitere Kräfte, innerjüdische wie gesamtgesellschaftliche, sowohl auf deren äußere Form wie auch das dahinterstehende religiöse Konzept. Die Analyse dieses komplexen gesellschaftlichen Gefüges ist das Thema des Hauptteils der vorliegenden Studie (Teil B Von der „Mördergrube“ zum modernen Ritualbad: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess). Um aber den hier beschriebenen Prozess überhaupt angemessen beurteilen zu können, ist es unerlässlich, zunächst den religionsgesetzlichen und historischen Hintergrund zu kennen, vor dem sich die Transformation der Mikwe abspielt.
Einleitung
Dieser wird in Teil A Mikwe, Kaltes Bad, Frauenbad … Zur Tradition des jüdischen Ritualbads in den für das Verständnis wesentlichen Aspekten skizziert. Zur Sprache kommen dabei sowohl grundsätzliche Bestimmungen des jüdischen Religionsgesetzes, das seine Wurzeln noch in der Antike hat (Kapitel 2 Der religionsgesetzliche Hintergrund), als auch die spezifische historische Entwicklung im Deutschen Reich (Kapitel 3 Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts). Der Schwerpunkt liegt bei diesen Betrachtungen auf der Möglichkeit zur Erwärmung des Mikwenwassers und der damit eng verbundenen Frage der Größe der Tauchbecken. Der Hauptteil nähert sich dem gesellschaftlichen Prozess der Umgestaltung der Mikwe aus drei verschiedenen Richtungen: der praktischen Modernisierung der Anlagen unter behördlicher Aufsicht (Kapitel 4), dem ideologischen Wandel der Mikwe in der bürgerlichen Gesellschaft (Kapitel 6), und der Schnittstelle zwischen obrigkeitlicher Politik einerseits und gesellschaftlicher Realität andererseits, wie sie in den ländlichen Gemeinden vor Ort entstand (Kapitel 5). Kapitel 4 ‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht beinhaltet zunächst eine detaillierte Beschreibung der Entwicklung im württembergischen Jagstkreis, beginnend bei den ersten staatlichen Inspektionen und Vorschriften zur Erwärmung der Mikwen 1821 bis zum Abschluss dieser Phase mit dem so genannten Normalerlass von 1846, einer auch über Württemberg hinaus bedeutenden Regelung zur Herstellung der Mikwen (Kapitel 4.1 Mikwen im württembergischen Jagstkreis: Der Prozess der Modernisierung bis 1846). Dieser am Beispiel des Jagstkreises für das Königreich Württemberg dokumentierte Prozess der behördlichen Aufsicht setzte in anderen deutschen Staaten (vor allem im Süden) etwa zeitgleich ein, während man beispielsweise in Preußen, somit großen Teilen Norddeutschlands, eine andere staatliche Politik verfolgte. Kapitel 4.2 Mikwen und staatliche Politik im Gebiet des Deutschen Bundes geht den möglichen Hintergründen für die unterschiedlichen Spielarten staatlicher Mikwenpolitik nach, indem einerseits das Agieren von Staatsbeamten, einschließlich der Ärzte, in Württemberg analysiert wird, andererseits die dortige Situation derjenigen in anderen Staaten gegenübergestellt wird. Im Mittelpunkt von Kapitel 5 Mikwen und Macht: Reibungsflächen im Modernisierungsprozess stehen lokale Konflikte, die sich aus dem staatlichen Anspruch zur Regulierung und spezifischen innerjüdischen Konstellationen bzw. ortspolitischen Faktoren ergaben, dabei aber für den Prozess der Modernisierung der Mikwen als charakteristisch gelten können. Die auftretenden Schwierigkeiten lagen einerseits in den traditionellen jüdischen Gemeindestrukturen und den von einzelnen Gruppen vertretenen Interessen begründet (Kapitel 5.1 Innerjüdische Konstellationen), entstanden aber andererseits auch durch das an dieser Stelle nötige Interagieren mit einzelnen christlichen Einwohnern bzw. der Ortsgemeinde (Kapitel 5.2 ‚Ecclesia und Synagoga‘: Christlich-jüdisches Zusammenleben auf dem Land). Bereits an die-
15
16
Einleitung
ser Stelle zeigt sich sehr deutlich, dass die praktische Modernisierung der Mikwe selbst in ländlichen Gebieten nicht losgelöst von innerjüdischen wie auch großen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, speziell dem Gesundheitsdiskurs der Aufklärung, betrachtet werden kann. So vollzogen sich etwa an der Wende zum 19. Jahrhundert zwei wichtige Entwicklungen: zum einen das Aufkommen warmer Badeanstalten anstelle der zunächst rein kalten Flussbäder, zum anderen, besonders unter dem Einfluss der Schriften Christoph Wilhelm Hufelands, eine Neubewertung des Bades, das nun nicht mehr im Sinne gängiger Abhärtungstheorien der Gesundheit dienen sollte, sondern nunmehr in besonderer Weise das bürgerliche Ideal der Reinlichkeit verkörperte. In diesem neuen bürgerlichen Umfeld musste das jüdische rituelle ‚Bad‘ sowohl den inneren Wandel der jüdischen Gesellschaft mit vollziehen als auch Vorbehalten und Vorurteilen von Seiten der christlichen Umgebung standhalten. Kapitel 6 Zwischen Gesundheit und Gebot: Der ideologische Wandel der Mikwe untersucht nun in erster Linie die Wahrnehmung und Neukonzeption der Mikwe vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Diskurse der Zeit, vor allem dem genannten medizinischen Diskurs sowie den Diskursen über Emanzipation und eine Reform des Judentums. Im Zuge der staatlichen Aufsicht und den in dieser Zeit veröffentlichten Schriften erschien die Mikwe überwiegend als negativ bewertete Örtlichkeit und in diesem Sinn ein ‚Gegenort‘ zur Welt des Bürgertums. Sie wurde aber, nicht zuletzt durch das Verdienst des jüdischen Arztes Moritz Mombert, im Verlauf der Emanzipationsepoche gewissermaßen ‚verbürgerlicht‘, in die moderne Lebenswelt integriert (Kapitel 6.1 Das Bild der Mikwe unter den Vorzeichen von bürgerlicher Reinlichkeit und Gesundheitsfürsorge). In den beiden folgenden Unterkapiteln rückt dann noch deutlicher die innerjüdische Perspektive in den Vordergrund, d. h. die Frage, wie man die modernen gesellschaftlichen Ansprüche mit religionsgesetzlichen Vorgaben in Einklang zu bringen suchte: einerseits auf der Ebene theoretischer Begründungen und der Suche nach innovativen technischen Lösungen, andererseits auf der Alltagsebene des individuellen Umgangs mit dem Ritual des Untertauchens. In diesem Zusammenhang werden unter anderem die Beratungen und Beschlüsse der Versammlung von reformorientierten Rabbinern in Frankfurt 1845 thematisiert, aber auch ein früher Richtungsstreit zwischen traditionellen und liberal eingestellten Juden, nämlich die Kontroverse um das von Rabbiner Hirsch Cohen in Geseke entworfene Modell einer ‚Fassmikwe‘ (Kapitel 6.2 Der innerjüdische Diskurs: Neue Wege zwischen Tradition und Moderne). Abschließend kommen knapp die Rolle der Mikwe als ‚Frauenbad‘ sowie deren Stellenwert im Leben der Frauen bzw. der Familien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Sprache (Kapitel 6.3 Die Mikwe im Alltag des 19. Jahrhunderts).
Einleitung
Die Transformation der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess – methodischer Zugang
Wie bereits an der hier skizzierten inhaltlichen Schwerpunktsetzung deutlich wird, ist das Ziel der vorliegenden Studie weder eine baugeschichtliche Analyse noch eine Aufarbeitung der (real vorgenommenen oder auch nur diskutierten) Veränderungen der Mikwe aus halachischer, d. h. religionsgesetzlicher Sicht, wenngleich beide Aspekte natürlich im erforderlichen Umfang berücksichtigt werden. Die eingenommene Perspektive ist vielmehr primär eine kulturgeschichtliche: Der Wandel der Mikwe im Zeitalter der Emanzipation soll vor dem Hintergrund sowohl politischer Entwicklungen als auch allgemein gesellschaftlicher Bedingungen betrachtet werden, d. h. insbesondere religiös-philosophischer und wissenschaftlicher Strömungen bzw. Tendenzen und deren Niederschlag in der Alltagswelt. Im Fokus der Arbeit steht die möglichst ganzheitliche Erforschung der Mikwe in den vielfältigen Wechselbeziehungen gerade ihrer doppelten Erscheinungsform, einerseits sichtbarer Baukörper, andererseits Idee oder Konzept einer spirituellen Reinigung, mit parallel stattfindenden gesellschaftlichen Entwicklungen. Hinter diesem Ansatz steht letztlich eine zentrale Frage, welche auch die hier getroffene Auswahl und Untersuchung der historischen Quellen stets begleitet und leitet: Warum findet ein grundlegender Wandel der Mikwe, sowohl bezogen auf ihre bauliche Anlage wie auch ihre Wahrnehmung bzw. Konzeption, gerade im Zeitraum von etwa 1800 bis 1870 und in der beschriebenen Weise statt? Warum nicht früher, oder später, oder gar nicht, oder ganz anders? Sucht man in den überlieferten Quellen eine Antwort hierauf, so kommt man nicht umhin, das Phänomen Mikwe und ihre Transformation in einem kausalen Zusammenhang mit wenigstens drei prominenten Diskursen zu begreifen: dem medizinischen Diskurs, dem Diskurs über eine Emanzipation der jüdischen Bevölkerung und dem Diskurs über eine Reform des Judentums; diese beziehen wiederum wesentliche Impulse aus dem allgemeinen Aufklärungsdiskurs bzw. können als Spezialfall hiervon angesehen werden. Den genannten drei Diskurssträngen wird innerhalb der vorliegenden Studie besondere Aufmerksamkeit zuteil, wobei allerdings die Frage der Emanzipation hinsichtlich der Mikwen eine Art undercover-Rolle spielt. Zwar zeigt sich die Macht des Emanzipationsdiskurses indirekt sowohl in medizinischen als auch reformerischen Schriften zur Mikwe, und mitunter scheint diese Thematik dort sogar offen auf, in der eigentlichen Emanzipationsdebatte jedoch tritt die Mikwe nicht wahrnehmbar in Erscheinung. Und hier deutet sich bereits eine Grenze für den Nutzen der Diskursanalyse, zumindest im engeren Sinn, als alleinige Methode zur Erschließung der Fragestellung an: Zweifellos unterlag die Mikwe eben auch deshalb einem Prozess der inneren wie äußeren Transformation, weil die jüdische Gesellschaft – teils aus einer inneren Dynamik heraus, teils als Reaktion auf Forderungen von außen – einen solchen durchlief. Dieser letzte Aspekt, nämlich die Bedeutung der Emanzipationsfrage
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für den Wandel der Mikwe, ist aber nicht unbedingt von vornherein offensichtlich und erschließt sich gerade nicht im Emanzipationsdiskurs selbst. Vielmehr lässt sich das, was sich in den Quellen als ‚Mikwendiskurs‘ präsentiert, weitestgehend den beiden großen Bereichen Medizin und jüdische Reform zuordnen, und erst in der Analyse dieser Diskursstränge gewinnt auch die Thematik der Emanzipation an Kontur. Um aber derartige sich im eigentlichen Mikwendiskurs zunächst nur unscharf abzeichnende Faktoren noch näher zu bestimmen, ist es nötig, die gesamten Produktionsumstände des Diskurses – d. h. eine äußerst vielschichtige gesellschaftliche Wirklichkeit – in geeigneter Weise in die Betrachtung mit einzubeziehen. Der Wandel der Mikwe vollzieht sich in einem komplexen gesellschaftlichen Wirkungsgefüge, bei dem einzelne Kräfte in Form von prominenten Diskursen besonders hervortreten; andere hingegen operieren mehr im Hintergrund, und ihr Einfluss ist möglicherweise nur in wenigen Momenten – gerade auch solchen der nichtdiskursiven ‚Wirklichkeit‘ – greifbar. Der Begriff des Diskurses selbst, und dessen genaues Verhältnis zu nichtdiskursiven Elementen oder der ‚Wirklichkeit‘ an sich, ist innerhalb von Michel Foucaults Werk, dem Ursprung oder Referenzpunkt sämtlicher diskursanalytischer Modelle, keineswegs unveränderlich oder gar fest konturiert.8 In einer der grundlegenden Schriften zur Entwicklung des Konzeptes, der Archäologie des Wissens, rückt Foucault davon ab, Diskurse nur als „Gesamtheit von Zeichen“, somit rein sprachliche Systeme zu verstehen; stattdessen seien sie „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“9 Soziokulturelle Wirklichkeit, so wie wir sie erfahren oder aus Quellen rekonstruieren können, entsteht in und mit dem Diskurs, der Diskurs (als sprachliches Zeichensystem) erfasst zugleich Wirklichkeit und schafft Wirklichkeit, indem sich in ihm Deutungszuschreibungen als Muster bilden und verfestigen. Von diesem Verständnis des Begriffs gehe ich aus, wenn ich den ideologischen Wandel der Mikwe unter anderem in einer Feinanalyse von zentralen Passagen in medizinischen Schriften sowie Texten jüdischer Aufklärer bzw. Reformer herausarbeite (Kapitel 6). Wie aber kann man dem Anspruch gerecht werden, im Diskurs manifeste Deutungsmuster nicht nur aufzudecken, sondern auch angemessen darzustellen? Jegliche Darstellung beinhaltet ja wiederum eine Ordnung oder Klassifizierung der Daten, somit ein gewisses Maß an Interpretation; mit anderen Worten ausgedrückt lässt sich auch festhalten, wie Reiner Keller in seinem Entwurf einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse schreibt: „Die in Diskursen prozes-
8 Vgl. zu diesem Aspekt etwa Siegfried Jägers Auseinandersetzung mit Foucaults Begriff des Dispositivs (Jäger, „Dispositiv“, S. 72–89). Eine systematische, auf Foucaults gesamtes Werk bezogene Analyse des Diskursbegriffs bietet Ruoff, Foucault-Lexikon, S. 91–100. 9 Foucault, Archäologie des Wissens, S. 74.
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sierten Deutungen der Welt lassen sich nur deutend erschließen.“10 Auf dieses wissenschaftliche Dilemma gibt es vermutlich keine oder doch keine einzig richtige Antwort, lediglich die (Heraus-)Forderung einer alle Arbeitsschritte begleitenden Selbstreflexion. Allerdings ist eben Diskursanalyse nach Keller, dem ich mich hierin anschließe, immer „mehr als Textanalyse“11 . Und mit diesem „Mehr“ trägt sie auch bereits ein gewisses Korrektiv in sich, welches die interpretierende Deutung eines Diskurses zumindest teilweise mitsteuert, diese nicht im völlig ‚luftleeren Raum‘ stattfinden lässt. Foucault hatte sich der Schwierigkeit einer genauen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Diskurs und Wirklichkeit durch die Einführung des so genannten „Dispositivs“ bis zu einem gewissen Grad entzogen, dabei allerdings mehr eine Verschiebung denn eine Klärung des Grundproblems bewirkt.12 Die Wissenssoziologische Diskursanalyse nach Keller bezieht die Produktionsumstände des Diskurses, somit die ‚Wirklichkeit‘, unter Weiterentwicklung des von Foucault eingeführten Dispositiv-Begriffs folgendermaßen mit ein: Die sozialen Akteure, die einen Diskurs artikulieren, schaffen eine entsprechende Infrastruktur der Diskursproduktion und Problembearbeitung, die mit dem Begriff des Dispositivs bezeichnet werden kann. Dispositive sind die tatsächlichen Mittel der Machtwirkungen eines Diskurses. Dispositive vermitteln als „Instanzen“ der Diskurse zwischen Diskursen und Praxisfeldern (Praktiken). Ein Dispositiv ist der institutionelle Unterbau, das Gesamt der materiellen, handlungspraktischen, personellen, kognitiven und normativen Infrastruktur der Produktion eines Diskurses und der Umsetzung seiner angebotenen „Problemlösung“ in einem spezifischen Praxisfeld. Dazu zählen bspw. die rechtliche Fixierung von Zuständigkeiten, formalisierte Vorgehensweisen, spezifische (etwa sakrale) Objekte, Technologien, Sanktionsinstanzen, Ausbildungsgänge u. a. Diese Maßnahmenkomplexe sind einerseits Grundlagen und Bestandteile der (Re-) Produktion eines Diskurses, andererseits die Mittel und Wege, durch die ein Diskurs in der Welt interveniert.13
Auch Foucault hebt in seinem Werk verschiedentlich die Verknüpfung des Diskurses mit Macht hervor, Keller sieht diese Seite des Diskurses gerade im Dispositiv, d. h. dessen „Infrastruktur“ verwirklicht: „Dispositive sind die tatsächlichen Mittel der Machtwirkungen eines Diskurses.“ Im Fall der Mikwe ist eine Anbindung des in Texten fassbaren Diskurses an vorhandene Machtstrukturen sogar besonders
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Keller, „Diskurse“, Abs. 15. Ebd., Abs. 43. Vgl. Jäger, „Dispositiv“, S. 74f; Keller, „Diskurse“, Abs. 42f. Ebd., Abs. 45 (Hervorhebungen im Original).
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augenfällig, da ein großer Teil der Texte über Mikwen gerade im Zusammenhang mit disziplinierenden Maßnahmen bzw. Kontrollmechanismen entstand, nämlich als (amts-)ärztliche Berichte im Zuge einer von behördlicher Seite verordneten Aufsicht über die Mikwen. Dieser Infrastruktur des Diskurses widmet sich Kapitel 4 zu Ritualbädern unter staatlicher Aufsicht, indem die behördliche Aufsicht insbesondere in Württemberg detailliert beschrieben wird; aufbauend hierauf lässt sich dann in Kapitel 6 der medizinische Diskurs in seiner Verzahnung unter anderem mit politischen Kursvorgaben und Machtstrukturen verstehen. Da sich das in medizinischen Schriften entworfene Negativbild der Mikwe hierbei in besonderer Weise der Kategorie Raum bedient, lassen sich darüber hinaus Impulse aus dem spatial turn für die Frage der Mikwe fruchtbar machen.14 Den in diesem Zusammenhang verwendeten Begriff des ‚Gegenorts‘ entwickle ich aus der Analyse des medizinischen Diskurses über die Mikwe, er korrespondiert jedoch auf einer bestimmten Ebene auch mit Michel Foucaults Konzept der Heterotopie als einem „anderen Ort“, d. h. einem realen Ort der Abweichung, den sich eine Gesellschaft schafft.15 Dem negativen Raumbild entgegengesetzt ist der Vorgang der Verbürgerlichung der Mikwe, d. h. ihre Integration in die entstehende moderne Lebenswelt. Diese vollzieht sich im Kontrast hierzu gerade nicht (nur) über die Kategorie Raum, d. h. die konkrete, sinnlich erfahrbare Seite der Mikwe, sondern auch über das ihr zugrunde liegende abstrakte Konzept einer spirituellen Reinigung. Die beiden Pole von negativem Gegenort und Verbürgerlichung, wie sie sich im Medizin- und im Reformdiskurs darstellen, erfassen jedoch bei Weitem nicht das gesamte gesellschaftliche Wirkungsfeld, in dem sich der Prozess der Transformation der Mikwe vollzieht. In der Frage nach weiteren Faktoren oder Produktionsumständen des Diskurses erweisen sich gerade die ländlichen Gemeinden als geeignetes ‚Versuchslabor‘, insofern als hier die Mischung von behördlichem Druck und innerjüdischen gesellschaftlichen Verschiebungen bestimmte ‚Reaktionen‘ hervorruft, die sich im Nachhinein analysieren lassen (Kapitel 5). An dieser Stelle, nämlich
14 Für das wissenschaftliche Potential dieses Ansatzes in der Erforschung der Geschichte der Juden in der christlichen Umwelt, als eines vielschichtigen und wandelbaren Prozesses des Aushandelns von Raum und dessen Grenzen, vergleiche die Einleitung zu dem Mitte 2017 erschienenen Sammelband von Simone Lässig und Miriam Rürup, Space and Spatiality in Modern German-Jewish History. Die Transformation der Mikwe im 19. Jahrhundert wird in den einzelnen Beiträgen des Bandes nicht thematisiert, aber die von Lässig/Rürup vorgenommene Formulierung weiterer Ziele scheint mir genau das zu umreißen, was sich für die Mikwe beobachten lässt: „Moreover, it would be enlightening to investigate the ways and the extent to which Jews and non-Jews engaged in boundary drawing or attempted to transcend previously held positions and to explore how Jews have managed (or perhaps failed) to preserve what was their own in a space defined from without, in a form respected by those both within and without.“ (Lässig/Rürup, „Introduction“, S. 15). 15 Foucault, „Von anderen Räumen“, S. 320.
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ihrem praktischen Niederschlag in der ländlich geprägten Lebenswelt jüdischer Frauen und Männer, wird die Verknüpfung der verschiedensten Diskurse bzw. Diskursstränge untereinander und ihre Wechselwirkung mit weiteren gesellschaftlichen Gegebenheiten jeglicher Art besonders deutlich sichtbar. Das in Foucaults Theorie nicht erschöpfend begründete Verhältnis von Diskurs und Wirklichkeit beschreibt Foucault selbst als ein „Mehr“, das den eigentlich sprachlichen (zeichenhaften) Diskursen innewohnt: „Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben.“16 Foucaults „Mehr“ findet sich im Fall der Mikwe gerade in dem ländlichen Mikrokosmos als Brennglas der ‚großen‘ gesellschaftlichen Diskurse und Entwicklungen, aber auch überall dort, wo Anspruch und Realität aufeinanderprallen bzw. allgemein in Momenten des Konflikts, beispielsweise der Auseinandersetzung zwischen orthodoxen und liberalen Juden um das unkonventionelle Modell einer Fassmikwe. In der Zusammenschau aller behandelten Aspekte präsentiert sich die Transformation der Mikwe besonders an diesen Punkten als ein umfassender gesellschaftlicher Prozess, der auf essentielle Weise mit den gesamtgesellschaftlichen und innerjüdischen Herausforderungen des 19. Jahrhunderts verknüpft ist. Die Frage der historischen Quellen
Insofern als die Mikwe nicht primär in ihrer innerjüdischen Bedeutung, sondern vielmehr in ihrem gesamtgesellschaftlichen Kontext untersucht wird, ist es nötig, für die Darstellung ein politisch und gesellschaftlich möglichst homogenes Gebiet zu wählen. Ich beschränke mich für diesen Zweck grob auf das Gebiet des heutigen Deutschland, wobei ich mit dem damaligen Königreich Württemberg einen deutlichen Schwerpunkt im Südwesten setze. Andere Staaten des Deutschen Bundes werden exemplarisch mit berücksichtigt. Basis für die vorliegende Untersuchung ist dabei ein sehr uneinheitliches Quellenkorpus, das sich größtenteils drei Bereichen zuordnen lässt: 1) Obrigkeitliche Quellen. Hierzu zählen die staatliche Gesetzgebung, darüber hinaus aber vor allem die unzähligen Verwaltungsakten, die den Vorgang der behördlichen Aufsicht über die Mikwen dokumentieren; neben den Stimmen von Staatsbeamten, darunter insbesondere die zuständigen Amtsärzte, begegnet in diesen Dokumenten teilweise auch die jüdische Perspektive, beispielsweise in Berichten von Gemeindevorständen oder Gutachten von Rabbinern. In dem hier schwerpunktmäßig betrachteten Gebiet, nämlich dem württembergischen Jagstkreis, genossen die Vorsteher der jüdischen Gemeinden schon seit 1812 eine Art
16 Foucault, Archäologie, S. 74 (Hervorhebungen im Original).
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Beamtenstatus, der sie darauf verpflichtete, für die Einhaltung der staatlichen Vorschriften Sorge zu tragen; spätestens 1831 waren die Gemeinden dann nicht mehr autonom, sondern über die so genannte Israelitische Oberkirchenbehörde vollständig in den staatlichen Verwaltungsapparat eingegliedert (vgl. hierzu Kapitel 4.2.1). Aus diesem Grund bilden sich auch innerjüdische Konflikte um die Modernisierung der Mikwen, wie sie in Kapitel 5 thematisiert werden, zu einem beträchtlichen Teil in der obrigkeitlichen Überlieferung ab, und sind dort möglicherweise sogar umfassender dokumentiert als in den jeweiligen jüdischen Gemeindearchiven, die häufig ganz oder teilweise zerstört wurden.17 2) Medizinische Schriften zur Mikwe von jüdischen und nichtjüdischen Autoren, stellenweise ergänzt durch einschlägige Abhandlungen zur Wirkung der Bäder. Von seiner Wirkungsgeschichte her am bedeutendsten ist in dieser Rubrik der etwa 120 Seiten starke kleinformatige Band des jüdischen Arztes Alfred Mombert Das gesetzlich verordnete Kellerquellenbad der Israelitinnen18 von 1828, der sich ausschließlich der Mikwenproblematik widmet. Daneben wurde das Thema größtenteils in kleineren Schriften bzw. Aufsätzen in medizinischen Fachzeitschriften behandelt. 3) Veröffentlichungen zur Mikwe aus jüdischer Hand. Dies umfasst insbesondere die Protokolle und Aktenstücke der Rabbinerversammlung von 184519 sowie weitere publizierte Schriften zum Thema Mikwe oder Frauengebote, darüber hinaus auch Zeitungsberichte und -notizen verschiedenster Art. Die nötige Einschränkung des Quellenmaterials ergibt sich aus der beschriebenen Konzeption der Arbeit, wonach der Wandel der Mikwe als ein umfassender gesellschaftlicher Prozess verstanden und analysiert wird. In diesem Zusammenhang stellt die staatliche Aufsicht über Mikwen nur eine, wenn auch prominente Komponente dar, die es in ihrem Wesen zu erfassen gilt. Dies geschieht, indem in einem mikrohistorisch orientierten Ansatz zunächst die Quellen aus einem eng
17 Im Interesse einer möglichst umfassenden Erschließung des Quellenmaterials wäre eine Sichtung und Auswertung der noch vorhandenen innergemeindlichen Überlieferung selbstverständlich eine wünschenswerte Ergänzung. Tatsächlich gibt es in den Jerusalemer Central Archives for the History of the Jewish People zu etwa der Hälfte der hier betrachteten Gemeinden des Jagstkreises Bestände. Allerdings verzeichnen die Findbücher für diese Gemeinden keine Akten zu Mikwen, so dass zwar einzelne Funde möglich sind, eine umfangreichere Dokumentation zur Mikwenthematik hingegen nicht zu erwarten ist. Da der Rechercheaufwand gegenüber dem zu erwartenden Ertrag somit relativ hoch wäre, kann dies im Rahmen der vorliegenden Studie nicht geleistet werden. 18 Moritz Mombert, Das gesetzlich verordnete Kellerquellenbad der Israelitinnen. Dient es zur Gesundheit und Reinigung des Körpers, oder ist es als eine bis jetzt unerkannt gebliebene Quelle unzähliger Krankheiten zu betrachten, woraus besonders die venerische Seuche und andere ansteckende Krankheiten mitgetheilt werden können? Wie sind diese Gefahren zu vermeiden?, Mühlhausen 1828. 19 Protokolle und Aktenstücke der zweiten Rabbiner-Versammlung, abgehalten zu Frankfurt am Main, vom 15ten bis zum 28ten Juli 1845, Frankfurt a.M. 1845.
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umgrenzten Gebiet, nämlich dem württembergischen Jagstkreis, möglichst umfassend erschlossen werden. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse werden sodann auf eine breitere Basis gestellt, indem auch die Entwicklung in anderen deutschen Gebieten untersucht wird, ohne jedoch ähnlich ins Detail zu gehen; vielmehr sollen hier nur einzelne Zeugnisse, etwa Berichte oder Verordnungen, genügen, um die Entwicklung schematisch zu erfassen und der in Württemberg gegenüberzustellen. Das gewählte Gebiet bietet sich deshalb für die Analyse besonders an, weil das Königreich Württemberg einer der Staaten war, in denen jüdische Ritualbäder relativ früh einer umfassenden behördlichen Kontrolle unterlagen. Da der Jagstkreis unter den württembergischen Kreisen sowohl prozentual als auch in absoluten Zahlen den größten jüdischen Bevölkerungsanteil aufwies, stellt das ausgewertete Material bei aller bleibenden Unsicherheit doch eine zuverlässige Grundlage für weitere Betrachtungen dar. Für die Auswahl der Schriften jüdischer Provenienz ist das wichtigste Kriterium das der Öffentlichkeit. Zwar wirft der Wandel der Mikwe im 19. Jahrhundert auch Fragen auf, die auf rein religionsgesetzlicher Ebene und in der Auseinandersetzung mit der eigenen jüdischen Tradition zu erörtern sind, jedoch ist der Fokus der vorliegenden Arbeit ein anderer: nämlich der dynamische Wandlungsprozess der Mikwe, wie er sich gerade im Spannungsfeld von innerjüdischen und gesamtgesellschaftlichen Kräften bzw. Entwicklungen herausbildet. Es werden daher im Wesentlichen nur solche Zeugnisse in die Untersuchung mit einbezogen, die auf irgendeine Weise in der damaligen deutschen Öffentlichkeit ihre Spuren hinterlassen haben. Andere, d. h. insbesondere hebräischsprachige Dokumente werden hingegen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Berücksichtigung finden. Dies betrifft an erster Stelle hebräische Responsen, d. h. Antworten von Rabbinern auf religionsgesetzliche Fragen, aber auch gedruckte hebräische Werke zu Mikwen wie beispielsweise Schlomo Ganzfrieds Lechem we-simla (1861) oder die Behandlung des Themas innerhalb von Chaim Halberstams Diwre chajjim.20 Vielmehr sollen einzelne hebräische Responsen lediglich an solchen Stellen als Korrektiv mit erfasst werden, wo der Blick auf den religionsgesetzlichen Hintergrund für das Verständnis des dargestellten Prozesses unerlässlich ist. Anders als hebräische Texte bilden die hier hauptsächlich betrachteten deutschsprachigen Dokumente niemals eine rein innerjüdische Auseinandersetzung mit dem Thema ab, sondern stehen immer bereits im Kräftefeld gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen. Insofern als ein nichtjüdisches Lesepublikum zumindest potentiell mitgedacht werden muss, weisen diese Schriften somit einen Doppelcharakter
20 Schlomo Ganzfried, Sefer lechem we-simla. Hilchot nidda tewila u-mikwa’ot, Betlen 1908; Chaim Halberstam, Diwre chajjim, New York 2004. Die Jahresangabe 1861 entnehme ich den Angaben bei HebrewBooks sowie Levinger, „Ganzfried, Solomon ben Joseph“, S. 379f.
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auf: Verständigung oder Vergewisserung nach innen, und zugleich Repräsentation jüdischer Anliegen nach außen. Dabei muss sich dieser Vermittlungscharakter in der Schrift selbst nicht manifestieren, erhält aber innerhalb des größeren Kontextes etatistischer Emanzipationsgesetzgebung und der Frage, inwieweit die jüdische Bevölkerung tatsächlich befähigt ist, zu vollberechtigten Staatsbürgern zu werden, unweigerlich Gewicht. Bauliche Zeugnisse werden als Quellen nicht herangezogen, da sie zwar einen Eindruck von den jeweiligen räumlichen Gegebenheiten vermitteln, viele Details des originalen Zustandes heute aber nicht mehr erhalten oder rekonstruierbar sind. Baupläne oder Skizzen sind zwar prinzipiell von Interesse, insbesondere da, wo vorliegende Beschreibungen den Gegenstand nur ungenügend erhellen, finden aber in der vorliegenden Darstellung keinen nennenswerten Niederschlag. Für die hier behandelten Fragestellungen wird schriftlichen Quellen hingegen eindeutig der Vorzug gegeben, da sie teilweise sehr detailliert auf die bauliche, d. h. insbesondere technische Einrichtung eingehen und somit Informationen liefern, die anders nicht mehr zugänglich sind. Auch sollen in der vorliegenden Arbeit nicht vorrangig einzelne baulich-technische Details interessieren, sondern hiervon ausgehend vielmehr die vielen Facetten des Wandels der Mikwe und die Frage, wie diese Einrichtung von den damaligen Zeitgenossen – jüdischen wie nichtjüdischen – wahrgenommen und beurteilt wurde. Die Mikwe im Fokus der Forschung
Bezeichnenderweise steht auch das erwachende wissenschaftliche Interesse an der Geschichte der Mikwen in Deutschland unter dem Vorzeichen der Medizin, genauer der Stuttgarter Ausstellung für Gesundheitspflege 1914. Ähnlich wie bei der drei Jahre zuvor in Dresden veranstalteten Internationalen Hygiene-Ausstellung sollte auch hier dem jüdischen Beitrag zur Hygiene durch eine eigene Abteilung Rechnung getragen werden.21 Entsprechend der Absicht der Stuttgarter Ausstellungsmacher, hierfür „vorwiegend spezifisch Württembergisches“22 zu berücksichtigen, plante Rabbiner Dr. Hermann Kroner (1870–1930) nach eigenen Angaben eine umfassende geschichtliche Abhandlung zu württembergischen Mikwen als Begleitband zur Ausstellung; aufgrund der nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehenden Quellen wurde hieraus allerdings nicht mehr als eine acht Seiten umfassende Broschüre.23
21 Zu der jüdischen Abteilung bei der Dresdner Ausstellung vgl. Nikolow, „Körper“, S. 45–51. Zu der Stuttgarter Ausstellung siehe Kroner, „Die jüdische Abteilung“. 22 Ebd., Sp. 570. 23 Kroner, Ritualbäder, S. 1. Hermann Kroner war der Sohn des württembergischen Rabbiners und Oberkirchenrates Dr. Theodor Kroner und wirkte selbst als Rabbiner in Oberdorf-Bopfingen; zu seinen biografischen Daten siehe „Kroner, Hermann, Dr.“, in: BHR 2,1, S. 352f.
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Tatsächlich kann sich Kroner in seiner Geschichte der jüdischen Ritualbäder in Württemberg nur an wenigen Stellen auf konkrete Akten stützen und muss sich stattdessen vielfach auf mündliche Auskünfte verlassen, so dass seine Darstellung neueren Erkenntnissen der Forschung nur bedingt standhalten kann. Nichtsdestotrotz findet man sein Echo noch bis in die 1960er Jahre hinein in lokalgeschichtlichen Werken zu jüdischen Gemeinden, die seine Aussagen teilweise fast wörtlich und unkritisch übernehmen und hierdurch ein mehr oder weniger verzerrtes Bild entstehen lassen. So paraphrasiert beispielsweise ein Werk über die Heilbronner Juden Kroners Text folgendermaßen: „Seit dem hierbei bedeutungsvollen Jahre 1810 drang man darauf, daß die Heizanlagen verbessert würden. Die Bäder wurden auch heller und luftiger.“24 Inwiefern das Jahr 1810 für die württembergischen Mikwen „bedeutungsvoll“ war und die Anlagen „heller und luftiger“ werden ließ, führt weder der Autor Hans Franke noch vor ihm Kroner genauer aus. Immerhin nennt Franke im Anschluss hieran ebenfalls den Ministerialerlass von 1821, der auch nach heutigem Forschungsstand als Ausgangspunkt für zahlreiche Modernisierungen von württembergischen Landmikwen gelten kann. Erst ab den 1990er Jahren rückten Mikwen verstärkt in den Blick der Forschung, so dass neben lokalgeschichtlich orientierten Studien, die der Mikwe unterschiedlich viel Raum geben, auch deutlich umfangreichere, oder doch systematischere und wissenschaftlich fundierte Werke zu Mikwen entstanden. Den Auftakt bildete der von Georg Heuberger herausgegebene Begleitband zur Ausstellung des Frankfurter Jüdischen Museums von 1992, betitelt Mikwe. Geschichte und Architektur jüdischer Ritualbäder in Deutschland.25 Hierin besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Hannelore Künzl zu Mikwen in Deutschland.26 Wenngleich Künzls Datierungen nicht mehr an allen Stellen dem neuesten Stand der Forschung entsprechen mögen,27 bietet ihre Darstellung noch immer einen wertvollen Gesamtüberblick über die (bau-)historische Entwicklung der Mikwen seit dem Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Dass die angeführten Beispiele dabei aus sehr unterschiedlichen Gebieten stammen, lässt sich gleichermaßen als Stärke wie auch Schwäche der Arbeit ansehen, da die einzelnen Mikwen aufgrund der räumlichen Entfernung teilweise wenig miteinander verbindet, und die charakteristische Entwicklung in einer bestimmten Region somit kaum Kontur erhält. Eine entgegengesetzte Perspektive nehmen die Veröffentlichungen von Thea Altaras zu hessischen Mikwen
24 Franke, Juden in Heilbronn, S. 52. 25 Georg Heuberger (Hg.), Mikwe. Geschichte und Architektur jüdischer Ritualbäder in Deutschland, Frankfurt a.M. 1992. 26 Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 23–88. 27 Laut einer neueren Studie ist beispielsweise die Mikwe in Offenburg abweichend von Künzl nicht als mittelalterlich einzustufen; vgl. hierzu genauer Kapitel 3.1.
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von 199428 sowie die Bände der Reihe Gedenkband der Synagogen in Deutschland zu Baden-Württemberg und Bayern ein: nicht Gesamtschau, sondern stattdessen eine auf die einzelnen Gemeinden und ihre Einrichtungen bezogene Darstellung, die sehr viele lokalgeschichtlich bedeutsame Details enthält. Während die Publikation von Joachim Hahn und Jürgen Krüger zu Baden-Württemberg (2007)29 Mikwen allerdings noch recht knapp behandelt, basieren besonders die Bände II und III des 2021 abgeschlossenen bayerischen Gedenkbuchs mit dem Titel Mehr als Steine … Synagogen-Gedenkband Bayern30 auf einer äußerst umfangreichen und detaillierten Auswertung von Archivmaterial zu Franken (2010: Band II zu Mittelfranken; 2015 und 2021: Bände III.1 und III.2 zu Unterfranken). Auf diese Weise leisten sie einen kaum hoch genug zu schätzenden Beitrag nicht nur zur Geschichte der Synagogen, sondern auch der reichen süddeutschen Mikwenlandschaft. Insofern als man in den Bänden zu Mittel- und Unterfranken insbesondere auch der Erneuerung der Mikwen im 19. Jahrhundert als Folge der behördlichen Aufsicht Beachtung schenkt, eröffnen diese erstmals großflächig eine Perspektive auf die Mikwe, welche über die bis dahin im Wesentlichen bau- und kunsthistorisch orientierte Forschung hinausgeht.31 Nichtsdestotrotz sind sie natürlich in erster Linie lokal verortet und bleiben dabei ihrem Anspruch verhaftet, die Geschichte der einzelnen Gemeinden zu dokumentieren. Vor allem die andere Seite des Konzeptes Mikwe – nicht sichtbarer Baukörper, sondern rituelle Handlung – kann in diesem Rahmen keine angemessene Berücksichtigung finden. Während nun die Erforschung anderer jüdischer Rituale, insbesondere der Beschneidung, bedingt durch den cultural turn der Kulturwissenschaften Aufwind erfuhr,32 existiert bisher keine ganzheitliche umfassendere Darstellung zu Mikwen 28 Altaras’ Band zu Mikwen wurde erstmals 1994 als Fortsetzung ihres Buches zu hessischen Synagogen veröffentlicht: Thea Altaras, Das jüdische rituelle Tauchbad und: Synagogen in Hessen – Was geschah seit 1945? Teil II, Die Blauen Bücher, Königstein im Taunus 1994. Eine erweiterte Neuauflage von 2007 fasst dann beide Bände in einem: Dies., Synagogen und jüdische Rituelle Tauchbäder in Hessen – Was geschah seit 1945?, aktualisierte und erweiterte Ausgabe, aus dem Nachlass hg. von Gabriele Klempert und Hans-Curt Köster, Die Blauen Bücher, Königstein im Taunus 2007. 29 Joachim Hahn/Jürgen Krüger, „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...“. Synagogen in BadenWürttemberg, 2 Bde., Gedenkbuch der Synagogen in Deutschland Bd. 4, Stuttgart 2007. 30 Wolfgang Kraus u. a. (Hgg.), Mehr als Steine ... Synagogen-Gedenkband Bayern, 3 Bde., Gedenkbuch der Synagogen in Deutschland Bd. 3, Lindenberg im Allgäu 2007–2021. Da der zweite Teil des Bands zu Unterfranken erst im April 2021 erschien, konnten die hierin enthaltenen Informationen zu Mikwen für die vorliegende Arbeit nicht mehr systematisch ausgewertet werden, sondern nur als nachträgliche Ergänzung in die Darstellung mit einbezogen werden. 31 Altaras bezieht diesen Aspekt in Synagogen und jüdische Rituelle Tauchbäder in Hessen zwar ebenfalls schon teilweise ein, schenkt ihm aber deutlich weniger Raum. Bei Künzl begegnet er in Ansätzen. 32 Stellvertretend für die Behandlung der Beschneidung möchte ich zwei neuere Monographien nennen: Robin Judd, Contested Rituals. Circumcision, Kosher Butchering, and Jewish Political Life in Germany, 1843–1933, Ithaca/London 2007; Eberhard Wolff, Medizin und Ärzte im deutschen Juden-
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in Deutschland. Lediglich Thomas Schlich wählt einen solchen auf die Kulturgeschichte hin ausgeweiteten Blickwinkel in seinem Aufsatz Die Medizin und der Wandel der jüdischen Gemeinde. Das jüdische rituelle Bad im Hygienediskurs des 19. Jahrhunderts (deutsch 1996).33 Hierin setzt er sich unter anderem mit der zentralen Schrift Momberts Das gesetzlich verordnete Kellerquellenbad der Israelitinnen auseinander, so dass seine in der Medizingeschichte verwurzelte Forschung eine wichtige Basis auch für die vorliegenden Ausführungen bietet. So verdienstvoll Schlichs Veröffentlichung jedoch ist, bietet sie in mancher Hinsicht dennoch eine zu stark eingeschränkte Sicht auf die Mikwe im medizinischen Diskurs der Zeit. Indem die bereits dort betrachteten Texte nun vor einem größeren Hintergrund untersucht und durch eine judaistische Perspektive ergänzt werden, soll die vorliegende Arbeit zu einem noch differenzierteren Verständnis des Phänomens beitragen. Aus dem Bereich der Judaistik selbst kommende Studien konzentrieren sich tendenziell stärker auf den Bereich nidda, d. h. die religionsgesetzlichen Vorschriften für die Frau während der Zeit ritueller Unreinheit, weniger das äußere Erscheinungsbild der Mikwe und ihre Wahrnehmung als Ort einer rituellen Handlung, so beispielsweise die Monographie von Charlotte E. Fonrobert zur Spätantike, Menstrual Purity. Rabbinic and Christian Reconstructions of Biblical Gender (2000).34 Bei der Frage nach der konkreten Anlage von Mikwen liegt der Schwerpunkt in der Erforschung der Antike,35 während gerade die Neuzeit, und speziell die Moderne, im Allgemeinen wenig beachtet wird. Neben den Darstellungen zu Mikwen in der Antike und ritueller Reinheit gibt es zahlreiche kürzere Beiträge zu verschiedensten Themen in Zeitschriften und Sammelbänden. Einen gut ausgewählten Querschnitt durch das Spektrum historisch orientierter sowie auch ethnographisch bzw. anthropologisch ausgerichteter Studien bietet die von Rahel R. Wasserfall herausgegebene
tum der Reformära. Die Architektur einer modernen jüdischen Identität, Jüdische Religion, Geschichte und Kultur Bd. 15, Göttingen 2014. Einen kurzen Überblick über die wesentlichen Konstanten der Beschneidungsdebatte im 19. Jahrhundert, unter Berücksichtigung spätantiker Wurzeln und ihrer Fortsetzung in der Gegenwart, enthält auch Robert Jüttes Band Leib und Leben im Judentum (S. 243–251). 33 Thomas Schlich, „Die Medizin und der Wandel der jüdischen Gemeinde: Das jüdische rituelle Bad im Hygienediskurs des 19. Jahrhunderts“, in: Jütte, Robert/Kustermann, Abraham P. (Hgg.), Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart, Aschkenas Beiheft 3, Wien u. a. 1996, S. 173–194. Eine leicht abweichende englische Version erschien bereits ein Jahr zuvor unter dem Titel „Medicalization and Secularization: the Jewish Ritual Bath as a Problem of Hygiene (Germany 1820s–1840s)“, in: Social History of Medicine 8,3 (1995), S. 423–442. 34 Charlotte E. Fonrobert, Menstrual Purity. Rabbinic and Christian Reconstructions of Biblical Gender, Contraversions. Jews and Other Differences, Stanford 2000. 35 Vgl. hierzu die Bibliographie in dem Artikel von Baskin/Gibson/Kotlar, „Mikveh“, S. 230.
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Anthologie Women and Water. Menstruation in Jewish Life and Law (1999).36 Für die an Popularität gewinnende essayistische bzw. an persönlicher spiritueller Erfahrung interessierte Richtung der Beschäftigung mit Mikwen sei stellvertretend die Sammlung von Rivkah Slonim genannt: Total Immersion. A Mikvah Anthology (1996).37 Wenngleich auch die vorliegende Studie natürlich nicht umhin kommt, bestimmte Schwerpunkte zu setzen, versucht sie doch, die hier aufgezeigte Lücke in der bisherigen Forschung zur neueren Geschichte der Mikwen in Deutschland an einer prominenten Stelle zu schließen. Indem verschiedenste Perspektiven zusammengeführt werden, soll ein Gesamtbild der Mikwe und ihres Wandels im 19. Jahrhundert entworfen werden, das sowohl Innen- als auch Außenperspektive, den innerjüdischen wie auch den gesamtgesellschaftlichen Blick auf die Mikwe angemessen erfasst. Zur Übertragung deutscher handschriftlicher Quellen, älterer Drucke und hebräischer Begriffe
Ziel der Übertragung deutscher handschriftlicher Quellen ist die buchstabengetreue Wiedergabe des Textes in seiner letztgültigen Form. Da die Genese des Textes für die hier behandelten Fragestellungen so gut wie keine Rolle spielt, werden durchgestrichene Wörter oder Passagen normalerweise einfach ignoriert; ebenso werden textlich nicht relevante Wortdopplungen (am Seitenumbruch bzw. unbeabsichtigt) nicht transkribiert. Von mir vorgenommene inhaltliche Kürzungen werden durch eckige Klammern ‚[…]‘ als Auslassung markiert; dies betrifft auch unleserliche Stellen. Unsichere Lesungen werden mit ‚[?]‘ nach dem jeweiligen Wort gekennzeichnet. Kleinere Fehler und Eigenarten in der Schreibweise der Wörter und der Interpunktation werden in der Regel unkommentiert übernommen, lediglich offensichtliche Fehler werden durch ‚[sic]‘ gekennzeichnet. Werden an einer Stelle zum Zweck der besseren Lesbarkeit Ergänzungen vorgenommen, so erscheinen diese in eckigen Klammern (beispielsweise ‚u[nd]‘). Hervorhebungen im Original werden mit geeigneten textgestalterischen Mitteln wiedergegeben, ebenso werden bestimmte Zeichen (unter anderem diakritische) oder heute nicht mehr übliche Buchstabenkombinationen vereinfacht bzw. leicht verändert transkribiert. Ein Hinweis auf den Text in der Vorlage erfolgt in den hier aufgeführten Fällen nicht:
36 Rahel R. Wasserfall (Hg.), Women and Water. Menstruation in Jewish Life and Law, Brandeis Series on Jewish Women, Hanover/London 1999. 37 Rivkah Slonim (Hg.), Total Immersion. A Mikvah Anthology, New York/Jerusalem 2 2006.
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Original Unterstreichung Sperrsatz Großbuchstaben andere Schriftart (z. B. lateinische Buchstaben statt Kurrentschrift) „n“ bzw. „m“ mit Dopplungsstrich doppelter Bindestrich „=“ kleines „e“ über Vokal „¨y“ Ligatur „ſz“ / Kombination „ſs“ Ligatur / besonderes Schriftzeichen für „etc.“
Umschrift Unterstreichung Sperrsatz Großbuchstaben Kursive „nn“ bzw. „mm“ einfacher Bindestrich „-“ „ä“ / „ö“ / „ü“ „y“ „ß“ „etc.“
Soweit zutreffend bzw. anwendbar gelten die hier aufgestellten Regeln auch für die Übertragung älterer gedruckter Quellen, in denen beispielsweise Umlaute durch ‚e‘ über dem Vokal wiedergegeben werden, oder die Kombination von langem und rundem ‚s‘ auftreten kann. Die Transkription hebräischer Namen oder Begriffe verfolgt vorrangig den Zweck einer möglichst korrekten lautlichen Wiedergabe und orientiert sich hierbei an einem deutschsprachigen Lesepublikum. Sie erfolgt nach den Konventionen des Faches Geschichte des jüdischen Volkes an der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg.38 Auch bei der Nennung von traditionellen jiddischen Werken mit hebräischen Titeln verfahre ich so (und nicht nach den Regeln des YIVO), sofern ich diese selbst transkribiere. Übersetzungen aus dem Hebräischen und Jiddischen
Hebräische oder jiddische Quellen erscheinen grundsätzlich in Übersetzung, sehr häufig (vor allem bei näher betrachteten Texten) zusammen mit dem Originalwortlaut; bei deutschen Übersetzungen, für die kein deutschsprachiger Titel als Beleg genannt wird, handelt es sich um eine Übertragung der Verfasserin. Lediglich im Fall des jiddischen Brantspigel zitiere ich anstelle einer Übersetzung die Transkription von Sigrid Riedel39 und ergänze diese durch einzelne Worterklärungen. Für die deutsche Wiedergabe hebräischer Bibelstellen greife ich auf drei jüdische Übersetzungen des 19. Jahrhunderts zurück und verwende jeweils denjenigen Text, der mir am besten geeignet erscheint, um einen an dieser Stelle wichtigen Aspekt herauszustellen.40
38 Siehe Schostak, „Form-Megille“, S. 35f. 39 Sigrid Riedel (Hg.), Brantspigel, transkribiert und ediert nach der Erstausgabe Krakau 1596, Europäische Hochschulschriften Bd. I/1375, Frankfurt a.M. u. a. 1993. 40 Diese sind: 1) Die Tora. Die Fünf Bücher Mose und die Prophetenlesungen (hebräisch-deutsch) in der revidierten Übersetzung von Rabbiner Ludwig Philippson, hg. von Walter Homolka, Hanna Liss und Rüdiger Liwak, Freiburg u. a. 2015. 2) Die Heilige Schrift, vollständiger, hebräisch vokalisierter Text
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Einleitung
gemäss der masoretischen Überlieferung mit der neu korrigierten und revidierten Übersetzung von Leopold Zunz, 4 Bde., Basel 1997. 3) Pentateuch und Haftarot, mit deutscher Übersetzung von J. Wohlgemuth und J. Bleichrode, Haftarot übersetzt von L.H. Löwenstein und S. Bamberger, Basel 1997.
Teil A: Mikwe, Kaltes Bad, Frauenbad … Zur Tradition des jüdischen Ritualbads
2.
Der religionsgesetzliche Hintergrund
Die Ursprünge dessen, was wir heute als Mikwe bezeichnen, reichen zurück bis zum Beginn der Welt, wie er in der biblischen Schöpfungsgeschichte geschildert wird: „Und Gott nannte das Trockene Erde und die Sammlung [ ]מקוהder Wasser nannte er Meere, und Gott sah, dass es gut sei.“1 (Gen 1,10). Das hebräische Wort ( מקוהmikwe, Plural mikwot oder mikwa’ot), von dem sich der auch im Deutschen geläufige Begriff Mikwe ableitet, beschreibt also zunächst einfach eine Ansammlung, insbesondere eine Ansammlung von Wasser.2 Aber nicht nur die Beschaffenheit der Mikwe, auch ihre besondere Bedeutung zeichnet sich bereits in den ersten Versen des biblischen Textes ab: Noch vor der Erschaffung der Kontinente als Lebensraum für den Menschen, als die Erdkugel noch vollständig von Wasser bedeckt war, da ‚schwebte‘ Gottes Geist über diesem Wasser (Gen 1,2) – im Element des Wassers trat demnach die irdische, physische Welt erstmals in direkten Kontakt mit der Sphäre des Göttlichen.3 Nun nimmt Wasser innerhalb der Schöpfung, und für diese, zweifellos eine einzigartige Stellung ein, nicht nur nach biblischem Verständnis, doch der biblische Bericht verweist hier gerade auf die weniger offensichtliche spirituelle Dimension des Wassers. Einerseits wesentliche Grundlage allen natürlichen Lebens, ist Wasser andererseits noch viel mehr, und diese Seite bewahrt es in der Mikwe: Das Wasser der Mikwe ist kein gewöhnliches Wasser, sondern vielmehr ein Medium, es ermöglicht eine ‚Kontaktzone‘, einen das Physische transzendierenden Raum der Begegnung zwischen Mensch und Gott. Heute versteht man unter einer Mikwe ein nach speziellen Vorschriften angelegtes rituelles Tauchbad, das entweder aus einer natürlichen ‚Wasseransammlung‘ (Regenwasser) oder aber aus so genanntem ‚lebendigen Wasser‘ (Quell- oder Grundwasser) besteht. Mikwen in diesem Sinn existieren in Deutschland seit der Gründung jüdischer Gemeinden im deutschen Sprachraum im Mittelalter, erinnert sei an dieser Stelle nur an die aus dem 12. Jahrhundert stammenden Monumentalbauten in Speyer, Köln und Worms, die ältesten erhaltenen Mikwen in
1 Die Tora, Übersetzung von Philippson, S. 79. 2 Vgl. hierzu Gesenius, der מקוהin Gen 1,10 mit „Versammlung“ des Wassers angibt (Handwörterbuch, unter ‚)‘מקוה, sowie Jastrow, Dictionary, unter ‚‘מקוה. 3 Vgl. das Interview mit Rabbiner Julian-Chaim Soussan in: o.V., „Teschuwa“, S. 12. Die präzise Bedeutung des häufig mit ‚schweben‘ übersetzen hebräischen Verbs ist nicht bekannt, vgl. Gesenius, Handwörterbuch, unter ‚‘רחף.
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Teil A: Zur Tradition des jüdischen Ritualbads
Deutschland.4 Im folgenden Kapitel soll nun in knapper Form Grundsätzliches zur religiösen Tradition des Ritualbads skizziert werden: Was verbirgt sich seit biblischen Zeiten hinter dem Konzept des Tauchbads, und welche religionsgesetzlichen Vorgaben gelten bis heute für die Anlage von Mikwen?
2.1
Reinheit und Heiligkeit: Das rituelle Tauchbad im System der Bibel
In der nichtjüdischen Umwelt haben sich für die Mikwe im Laufe der Jahrhunderte eine ganze Reihe von Bezeichnungen (teilweise regional gefärbt) herausgebildet, die jeweils einen bestimmten Aspekt dieses Phänomens zur Geltung bringen, so wie er von Außenstehenden wahrgenommen wurde: angefangen bei dem mittelalterlichen ‚Judenbrunnen‘, über ‚Judenbad‘5 , ‚Kaltes Bad‘6 , ‚Frauenbad‘ bzw. ‚Weiberbad‘, ‚Tunke‘ (‚Dunke‘, ‚Dunge‘), ‚Ducke‘, ‚Tauche(r)‘, ‚Tünche‘,7 bis hin zu dem erst im 19. Jahrhundert aufkommenden Begriff ‚rituelles Bad‘ bzw. ‚Ritualbad‘. Auch die Tatsache, dass Frauen die Mikwe heimlich, nach Einbruch der Nacht, besuchten, bildete ein markantes Merkmal, das sich in dem für Ettenheim (Baden) 1778 belegten Begriff „diebs bad“ erhalten hat.8 Der Großteil der Bezeichnungen, vor allem die am häufigsten belegten, enthalten dabei den irreführenden, aber im Deutschen kaum vermeidbaren Bestandteil ‚Bad‘ (bzw. ‚Brunnen‘). Tatsächlich handelt es sich bei der in der Mikwe vollzogenen Handlung eben nicht um ein Bad im üblichen Sinn mit dem Zweck der körperlichen Reinigung, sondern um ein rein rituelles ‚Untertauchen‘, hebräisch ( טבילהtewila), wie in den übrigen aufgeführten
4 Die Mikwe von Speyer entstand wahrscheinlich zwischen 1110 und 1120, die sehr ähnliche von Worms im Jahr 1185/86, die Anlage von Köln in der heute sichtbaren Form um 1170; siehe Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 28–32. 5 Für Judenbad und ähnliche Bezeichnungen in hessischen Ortschaften vgl. Altaras, Synagogen, S. 38. 6 Der Begriff Judenbad kann prinzipiell sowohl ein jüdisches Badehaus als auch eine Mikwe bezeichnen, vgl. Martin, Badewesen, S. 141f. Um diese Verwechslung zu vermeiden, wird für Mikwe stattdessen auch die Bezeichnung Kaltes Bad verwendet. Über die parallele Verwendung der Begriffe Kaltes Bad, Weiberbad und Mikwe in Frankfurt am Main berichtet Johann Jakob Schudt 1714 in Jüdischer Merckwürdigkeiten, S. 421f (6. Buch, Kapitel 24). 7 Die hier genannten Begriffe Tunke (Dunke), Tauche(r) und Tünche entstammen Akten aus dem südwestdeutschen Raum (Württemberg); für Tauche, Dunke, Tünche siehe beispielsweise den Bericht des württembergischen Medizinal-Collegiums vom 16.2.1843 (möglicherweise handelt es sich hierbei um das Kopierdatum), StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des Medizinal-Collegiums vom 16.2.1843[?]; für Taucher siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Ärztlicher Bericht über die Mikwe in Michelbach vom 30.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 14.3.1839). Regionale Entsprechungen finden sich z. B. für Franken in den Begriffen ‚Judendauch(e)‘, ‚Dauche‘ und ‚Duk‘ (Pretzfeld, Lkr. Ebermannstadt), siehe Daxelmüller, Jüdische Kultur in Franken, S. 115f. 8 Die Bezeichnung entstammt der Chronik von Johann Conrad Machleid, zit. nach: Weis, „Ettenheim“, S. 94 (Anm. 27). Für die Erklärung des Wortbestandteils ‚Dieb‘ siehe DWB 2, unter ‚Diebsweg‘.
Der religionsgesetzliche Hintergrund
Bezeichnungen betont. Dieses Untertauchen erfolgt nach der vorhergehenden gewissenhaften körperlichen Reinigung, und zwar in Wasser, das ganz bestimmte Eigenschaften hat, nämlich so genanntes ‚lebendiges Wasser‘ bzw. Wasser, das sich auf natürliche Weise ‚gesammelt‘ hat – und somit an das Wasser aus den Tagen der Schöpfung erinnert. Bevor ich jedoch auf die äußerst komplexen Vorschriften für diese Art von Wasser näher eingehe, soll zunächst die Frage nach dem Zweck einer Mikwe weiter verfolgt werden. Ist dieser also nicht die körperliche Reinigung, so könnte man vermuten, dass es sich um eine Art spirituelle Waschung handelt, zumal auch der für die Diersburger Mikwe gewählte Segensspruch aus Ezechiel einen solchen Bezug nahezulegen scheint. Der Prophet rügt in diesem Zusammenhang ja explizit das – offensichtlich unmoralische – Verhalten Israels, welches das Volk (metaphorisch) verunreinigt (Ez 36,17). Auch wenn man von dem christlichen Verständnis der Taufe ausgeht, die sich ja letztlich aus der jüdischen Praxis entwickelt hat, könnte man zu dem Schluss gelangen, dass es sich jüdischerseits ebenfalls um ein eine Art Reinwaschen von Sünde handelt.9 Jedoch ist hier sowohl das Prophetenwort als auch der Verweis auf das Christentum irreführend. Vielmehr stehen die Bestimmungen rund um die Mikwe zunächst ausschließlich innerhalb des großen Komplexes von Vorschriften zu kultischer (oder ritueller) Reinheit, die einen zentralen Aspekt des biblischen Judentums während der Zeit der Wüstenwanderung sowie des ersten und zweiten Tempels bilden, wenngleich sich sekundär auch die erstgenannte Deutung entwickeln konnte. Diese ist beispielsweise in einem jiddischen Sprichwort belegt: „In der mikwu lost men iber ale awejrojss.“ (In der Mikwe lässt man alle Sünden zurück.)10 Rituelle Reinheit und Unreinheit als Symbolsystem
Was ist oder bezweckt nun rituelle Reinheit? Die wichtigsten Aspekte finden sich bereits angedeutet in folgender Definition von ritueller Reinheit und Unreinheit als
9 Die christliche Taufe geht dem Neuen Testament zufolge auf Johannes den Täufer zurück, der das rituelle Untertauchen im zeitgenössischen Judentum als ein „eschatologisches Bußsakrament“ praktizierte. Als Bekehrungsritus mit Bekenntnischarakter löste die Taufe bereits früh das konkurrierende Ritual der Beschneidung vollständig ab, welches Judenchristen bei bekehrten Heiden anfangs für notwendig hielten. So wird beispielsweise nach Luthers Glaubenslehre der Mensch durch den Akt der Bekehrung, der sich in der Taufe abbildet, neu (d. h. seelisch rein) geboren: „Was bedeutet denn solch Wassertaufen? Es bedeutet, daß der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten; und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinheit vor Gott ewiglich lebe.“ Siehe Betz, „Ritus/Ritual“, Sp. 553; Luther, Der kleine Katechismus, unpag. 10 Sprichwort und Auslegung zitiert nach Bernstein, Jüdische Sprichwörter, S. 168. Die von Bernstein gesammelten Sprichwörter stammen aus dem osteuropäischen Raum.
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Teil A: Zur Tradition des jüdischen Ritualbads
[…] a symbolic system according to which a pure person or object is qualified for contact with the Temple and related sancta (holy objects and spaces) while an impure person or object is disqualified from such contact. Ritual impurity arises from physical substances and states associated with procreation and death, not in themselves sinful.11
Dieses auf den Jerusalemer Tempel bezogene „Symbolsystem“ soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Die biblischen Vorschriften zu ritueller Reinheit und Unreinheit finden sich vor allem im Buch Leviticus, von Mary Douglas zu Recht als eine Art „KultHandbuch“12 bezeichnet, wo sie neben den vielfältigen Opfervorschriften großen Raum einnehmen. Beides, Opfervorschriften und Reinheitsgebote, regeln gewissermaßen den Kontakt zur Gottheit, indem sie der Begegnung einen kultischen Rahmen verleihen. Eine der Grundregeln dieses Kontaktes ist dabei das Beachten der strikten Trennung von Rein und Unrein, Heilig und Profan, sowie insbesondere das Fernhalten von allem Unreinem vom Stiftszelt bzw. Tempel.13 In diesem Sinn interpretiert auch Maimonides (1135–1204), der wohl bekannteste jüdische Gelehrte des Mittelalters,14 die Reinheitsvorschriften, wobei er eine zusätzliche psychologische Erklärung anbietet: „Sie haben alle im allgemeinen den Zweck, uns von dem Betreten des Heiligtums abzuhalten, und zwar, wie ich zeigen werde, damit wir es in der Seele hochhalten und Scheu und Ehrfurcht davor empfinden.“15 Nun geht es aber nicht allein um das Fernhalten von allem Unreinen vom Tempel, sondern um wesentlich mehr, nämlich in letzter Konsequenz um Heiligkeit. Gott ist heilig, deshalb soll auch das Volk, in dessen Mitte er wohnt, heilig sein: „Und der Ewige redete zu Moscheh, indem er sprach: Rede zu der ganzen Gemeinde der Söhne Jisraels und sprich zu ihnen: Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, der Ewige, euer Gott.“16 (Lev 19,1f). Wie aber ist Heiligkeit zu erreichen? Das Buch Leviticus bietet hierfür zwei sehr unterschiedliche Antworten: einerseits Kult, d. h. vor allem Opfervorschriften und die Vorschriften zu Reinheit und Unreinheit, die
11 Hayes, „Purity“, S. 746. 12 Douglas, „Poetic Structure“, S. 239. 13 Vgl. für diesen Aspekt auch Milgroms schematische Gegenüberstellung von Heiligkeit und Unreinheit in „The Dynamics of Purity“, S. 29, sowie Hayes, „Purity“, S. 746f. 14 Maimonides, nach der Abkürzung seines jüdischen Namens (Rabbi) Mose ben Maimon auch als Rambam bezeichnet, galt schon zu Lebzeiten als eine herausragende religionsgesetzliche Autorität; geboren und aufgewachsen in Cordoba (Spanien), verbrachte er die meiste Zeit seines Lebens in Fustat (Kairo), wo er unter anderem auch als Arzt tätig war; siehe Johann Maier, „Einleitung. Zu Person und Werk des Mose ben Maimon“, in: Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, S. XI–LXVIII. 15 Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, Drittes Buch, S. 217; vgl. auch ebd. Kapitel 27, besonders S. 303–306. 16 Die Tora, Übersetzung von Philippson, S. 487.
Der religionsgesetzliche Hintergrund
den Hauptteil des Buches ausmachen – und andererseits eine auf sozialer Verantwortung und Gerechtigkeit basierende Gesellschaft. Letztere Verbindung ergibt sich dadurch, dass Gerechtigkeit das bestimmende Thema der auf Lev 19,1f folgenden Verse ist; die zitierte Aufforderung zu Heiligkeit bildet gerade den Auftakt zu einem Kapitel, in dem die Grundregeln für eine gerechte Gesellschaft skizziert werden.17 Nicht umsonst bildet dieser Vers bzw. das gesamte Kapitel 19 eine der zentralen Stellen im biblischen Buch Leviticus, wie Mary Douglas in Poetic Structure in Leviticus aufzeigt: zentral nicht im streng formalen Sinn, wohl aber bezogen auf die inhärente Struktur von Leviticus, die ringförmig ist, und deren einzelne Elemente vielfach aufeinander verweisen.18 Demnach ist Lev 19 mit dem Thema Gerechtigkeit strukturell auf den Hauptteil des Buches mit seinen verschiedensten ReinheitsBestimmungen bezogen: „the meaning of purity emerges as equivalent to the meaning of righteousness, and by negative analogy the meaning of impurity matches unrighteousness. The Lord is just, everything belongs to him, and purity means justice at all levels of existence.“19 Erweitert man nun Douglas’ strukturelle Analogie von Reinheit und Gerechtigkeit um den oben eingeführten Begriff der Heiligkeit als oberstem Ziel für Israel, so ergibt sich folgender Zusammenhang: Reinheit verweist (im Text strukturell) auf Gerechtigkeit, und Gerechtigkeit ist eine unerlässliche Voraussetzung für Heiligkeit – oder anders und weniger schematisch ausgedrückt: Heiligkeit, wie von Gott für Israel gefordert, ist nicht denkbar ohne soziale Gerechtigkeit, die Reinheitsvorschriften hingegen sind nur der äußere, kultische Ausdruck einer auf Gerechtigkeit gegründeten Gesellschaft.20 Zu einem ähnlichen Schluss gelangt letztlich auch Hyam Maccoby in Ritual and Morality. The Ritual Purity System and its Place in Judaism, wenngleich er andere Akzente setzt. Maccoby argumentiert in seinem Buch für den engen Bezug von Ritual und Heiligkeit einerseits, und die strikte Trennung von Ritual und Moral andererseits, sowohl in Leviticus als auch in der rabbinischen Literatur.21
17 Douglas, „Poetic Structure“, S. 252. In diesem Kontext ist es nicht uninteressant, dass sich das auch im Judentum zentrale Gebot, „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Lev 19,18), gerade in dem von Kultvorschriften bestimmten Buch Leviticus findet; siehe hierzu auch Maccoby, Ritual and Morality, S. 203. 18 Douglas, „Poetic Structure“, S. 247 und 252. 19 Ebd., S. 252. 20 Und somit ist letztlich auch die zentrale Aussage des Buches Leviticus durchaus im Sinne der immer wieder Gerechtigkeit und soziale Verantwortung einfordernden Propheten. 21 Maccoby, Ritual and Morality, S. 204. Auch wenn Maccobys Methodik ebenso wie manche der Folgerungen, die er aus der radikalen Trennung von Ritual und Moral ableitet, nicht unumstritten sind, so erscheinen doch bestimmte Punkte berechtigt und bieten eine neue, durchaus bereichernde Perspektive. Vgl. hierzu beispielsweise Klawans (Rez.), „Rethinking Leviticus“, S. 96–101. In ihrer ausführlichen Rezension des Werks arbeitet Christine Hayes besonders die teilweise Nähe von
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Teil A: Zur Tradition des jüdischen Ritualbads
Insbesondere der Bereich rituelle Reinheit ist, so Maccoby, zunächst in keiner Weise verbunden mit Fragen der Moral, sondern vielmehr eine Frage des richtigen Benehmens im Angesicht des höchsten Königs: „It is simply the protocol for entry into the palace of the King.“22 Nichtsdestotrotz erhält das Doppelkonzept Ritual/ Heiligkeit seine Berechtigung erst vor dem Hintergrund moralisch verantwortlichen Handelns, und gerade dies ist der Sinn von Leviticus 19: Why then does Leviticus break out into overt morality in its central chapter? It is not to give us the ritual all over again, this time in plain language. It is to tell us what the ritual is for. The ritual marks out the Israelites as a holy people. But this holiness would be of little use if it did not result in a higher moral standard. This is what the prophets are saying; in effect, ‚You, of all people, should know better.‘ But the priestly authors of Leviticus are saying the same thing, in their own way. ‚All these ritual observances mark you out as a special, chosen, dedicated group. But what is the point of this dedication? So that you can be motivated by esprit de corps and sense of specialness to show the world what is meant by love of neighbour, love of justice, and abandonment of violence.‘23
Der Exkurs zu Gerechtigkeit in Kapitel 19 fungiert demnach an zentraler Stelle als Ermahnung, nicht den höheren Sinn der Kultvorschriften außer Acht zu lassen – Israel als ‚Priesternation‘ (vgl. Ex 19,6) soll den anderen Völkern ein Vorbild sein. Die biblischen Wurzeln der Mikwe
In diesem System von rituellen Reinheitsvorschriften kommt nun das Konzept der Mikwe zum Tragen, wenngleich es historisch noch etwas verfrüht ist, von Mikwen zu sprechen. Da in der vorliegenden Arbeit von Mikwen der Moderne die Rede sein soll, die hauptsächlich von Frauen besucht wurden und werden, soll an dieser Stelle die wichtigste biblische Quelle, die die Unreinheit von Frauen betrifft, zitiert werden (Lev 15,19–30): 19
Wenn eine Frau den Fluss hat, Blut fliesst aus ihrem Körper, so soll sie sieben Tage in ihrer Absonderung bleiben, und jeder, der sie berührt, ist bis zum Abend unrein. 20 Und alles, worauf sie während ihrer Absonderung liegt, wird unrein, und alles, worauf sie sitzt, wird unrein. 21 Und jeder, der ihr Lager berührt, wasche seine Kleider und bade sich in
Maccobys Thesen zu denen von Jacob Milgrom heraus und kritisiert, mit explizitem Verweis auf die Forschung von Klawans, die von Maccoby vorgenommene Kategorisierung der Verbindung von Sünde mit Unreinheit in Lev 18 und 20 als rein metaphorisch: „One does not prove that sin and impurity are divorced by positing that texts joining sin with impurity are intended metaphorically.“; siehe Hayes (Rez.), „Hyam Maccoby. Ritual and Morality“, S. 290 (Hervorhebung im Original). 22 Maccoby, Ritual and Morality, S. 206. 23 Ebd., S. 205 (Hervorhebungen im Original).
Der religionsgesetzliche Hintergrund
Wasser, und er bleibt bis zum Abend unrein. 22 Und jeder, der irgend ein Gerät berührt, auf dem sie sitzt, wasche seine Kleider und bade sich in Wasser, und er bleibt bis zum Abend unrein. 23 Wenn er also auf dem Lager ist oder auf dem Gerät, auf dem sie sitzt, und es berührt, so ist er bis zum Abend unrein. 24 Wenn aber jemand bei ihr liegt, so kommt die Unreinheit ihrer Absonderung auf ihn, und er ist sieben Tage unrein; und jedes Lager, auf dem er liegt, wird unrein. 25
Wenn aber bei einer Frau der Blutfluss viele Tage, ausser der Zeit ihrer Absonderung, fliesst, oder er fliesst über die Absonderungszeit hinaus, so soll sie alle Tage ihres unreinen Flusses wie in den Tagen ihrer Absonderung sein; sie ist unrein. 26 Jedes Lager, auf dem sie in den Tagen ihres Flusses liegt, sei gleich ihrem Lager während der Absonderung, und jedes Gerät, auf dem sie sitzt, sei unrein, sowie es unrein wird während ihrer Absonderung. 27 Und jeder, der sie berührt, wird unrein; er wasche seine Kleider und bade sich in Wasser, und er bleibt bis zum Abend unrein. 28 Wenn sie aber von ihrem Flusse rein geworden, so soll sie sieben Tage zählen; nachher wird sie rein. 29 Und am achten Tage nehme sie zwei Turteltauben oder zwei junge Tauben und bringe sie zum Priester an den Eingang des Stiftszeltes. 30 Und der Priester bringe die eine als Sündopfer und die andere als Ganzopfer dar, und der Priester erwirkt ihr Sühne vor dem Ewigen wegen ihres unreinen Flusses.24
Der biblische Text unterscheidet an dieser Stelle zwischen dem gewöhnlichen monatlichen Zyklus (Vers 19–24), beschrieben als „Absonderung“ (hebräisch nidda), und unregelmäßigen Blutungen, die nicht hiermit in Verbindung gebracht werden können (Vers 25–30). Im ersten Fall bedeutet dies, dass die Frau von Beginn der Blutung gerechnet sieben Tage lang rituell unrein ist; die Zahl Sieben ist dabei vermutlich entweder den natürlichen Gegebenheiten geschuldet (normalerweise endet die Periode nach maximal sieben Tagen) oder aber dem Bedürfnis nach einer symbolträchtigen Zahl, wobei das eine das andere natürlich nicht ausschließt.25 Nach Ablauf dieser Zeitspanne gilt die Frau wieder als rein. Im biblischen Text ist somit für eine auch einfach als nidda Bezeichnete,26 d. h. eine Frau mit ‚normaler‘ 24 Pentateuch, Übersetzung von Wohlgemuth und Bleichrode, S. 36. 25 Zur Symbolik der sieben Tage siehe Cook, „Body Language“: Die Systematik der 7+1, d. h. sieben Tage und ein besonderer, achter Tag, entspricht der priesterlichen Symbolik und findet sich in verschiedenen Ausprägungen, so unter anderem dem Bund der Beschneidung am achten Tag, Schabbatjahr und Erlassjahr (nach 7x7 Schabbatjahren), 7x7+1 Tage von Pessach bis Schawu‘ot (Wochenfest), Weihung der Priester nach sieben Tagen der Reinigung (Lev 8–9). „The eighth day is consistently the day of purification and consecration, a day one enters the timelessness of ritual space, Gan Eden.“ (Cook, „Body Language“, S. 51); vgl. ebenfalls Meacham, „History“, S. 26. 26 Die Wurzel des Wortes bedeutet in etwa so viel wie ‚absondern‘. In dem zitierten Textabschnitt erscheint das hieraus abgeleitete Nomen nidda lediglich als Abstraktum für den Zustand der ‚Absonderung‘, darüber hinaus verwendet man es aber auch konkret für eine Frau ‚in ihrer Absonderung‘, eine ‚Abgesonderte‘. Dessen ungeachtet findet sich in der antiken rabbinischen Literatur kein Hin-
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Teil A: Zur Tradition des jüdischen Ritualbads
Monatsblutung, kein abschließendes Reinigungsritual vorgeschrieben, ebensowenig für die hier als zweite Kategorie eingeführte so genannte sawa, eine Frau mit Blutfluss „ausser der Zeit ihrer Absonderung […] oder […] über die Absonderungszeit hinaus“ (Vers 25). Vielmehr kann dies nur als Analogieschluss aus anderen Bibelstellen abgeleitet werden, wo ebenfalls von Körperausflüssen die Rede ist,27 z. B. der nächtliche Samenerguss beim Mann (Lev 15,16), bzw. als Schluss vom Leichten auf das Schwere (kal wa-chomer 28 ): Wenn sich schon derjenige, der das Schlaflager berührt, waschen muss (Vers 21), dann sicher auch die primäre Trägerin der Unreinheit.29 Beide, sowohl nidda als auch sawa, übertragen ihre Unreinheit (in abgeschwächter Form) auf Personen sowie Bett und Sitzmöbel, mit denen sie in Berührung kommen. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Formen der Unreinheit besteht in der bei der sawa längeren Wartezeit (sieben Tage nach Aufhören des Blutflusses) sowie dem zusätzlich vorgeschriebenen Opfer. Die hier getroffene Unterscheidung des normalen (nidda) und krankhaften (sawa) Blutflusses lässt sich auch für den Mann beobachten, wo entsprechend der (unwillkürliche) Samenerguss als normaler körperlicher Vorgang gedeutet wird (somit analog zur nidda), während ein krankhafter Ausfluss aus dem Geschlechtsorgan (bei dem als saw bezeichneten Mann) eine ähnliche Prozedur erfordert wie bei der sawa (Lev 15,1–18). So wie die Frage des vorgeschriebenen Reinigungsrituals für die Frau nur indirekt aus dem Text ermittelt werden kann, so erschließt sich auch dessen genaue Ausführung nur über die parallele mündliche Überlieferung, die so genannte ‚mündliche Tora‘. Der jüdischen Tradition gemäß erhielt Moses auf dem Sinai nicht nur den vollständigen Wortlaut des Pentateuch (die ‚schriftliche Tora‘), sondern lernte auch bereits sämtliche Erklärungen und Auslegungen, wie sie später von Gelehrten diskutiert werden sollten. Diese mündliche Tora wurde um 200 n.d.Z. erstmals in den sechs ‚Ordnungen‘ der Mischna verschriftlicht, die wiederum ihre Fortsetzung im Talmud bzw. dessen beiden Ausgaben (Palästinischer und Babylonischer Talmud) fand. Der Talmud, der in seinem Aufbau der Mischna folgt und auch deren Text enthält, dokumentiert die hieran anknüpfenden Diskussionen in den beiden großen jüdischen Lehrhäusern der Epoche, wobei der spätere und wesentlich umfangrei-
weis auf einen realen Ausschluss der Frau, vielmehr bezeichnet nidda primär einfach eine Frau während der Zeit ihrer Menstruation; vgl. Fonrobert, Menstrual Purity, S. 16–19. 27 Siehe Ta-Shma/ Baskin, „Niddah“, S. 254. 28 Für dieses Prinzip sowie weitere rabbinische Methoden der Schriftauslegung siehe Stemberger, Einleitung, S. 29–42; speziell für die genannte Methode siehe ebd., S. 29. 29 Vgl. auch Meacham, „History“, S. 27f.
Der religionsgesetzliche Hintergrund
chere Babylonische Talmud (abgeschlossen um 500 n.d.Z.) als der bedeutendere gilt.30 Aber auch die in Mischna und Talmud formulierten Lehren, die als mündliche Tora den Pentateuch ergänzen und in religionsgesetzlicher Hinsicht die gleiche Autorität besitzen, bedurften fortan einer weiteren Systematisierung und Präzisierung, um ihre korrekte Umsetzung in dem jeweiligen Alltag der Menschen zu gewährleisten. In seiner grundlegenden Systematisierung der Überlieferung, genannt Mischne Tora (wörtlich ‚Wiederholung der Lehre‘) oder auch Jad ha-chasaka (‚Die starke Hand‘), widmet Maimonides im 12. Jahrhundert dem Thema ‚Mikwen‘ ein eigenes Kapitel und schließt damit eine bestehende Lücke, da der Talmud das entsprechende Mischna-Traktat nicht kommentiert. Hierin erläutert Maimonides unter anderem die praktische Ausführung des im Pentateuch vorgeschriebenen Badens:31 Ueberall, wo die Tora ein Baden des Körpers oder ein Waschen der Gewänder zur Beseitigung der Unreinheit vorschreibt, ist damit stets das vollständige Untertauchen in eine Wasseransammlung gemeint. Wenn es auch (Lev. 15,11) von dem Flussleidenden […] heisst: „der seine Hände nicht in Wasser abgespült hat“, so ist damit doch gemeint, dass er seinen ganzen Körper untertauchen muss, und ebenso ist es bei allen anderen Unreinen, wenn selbst der ganze Körper untergetaucht ist mit Ausnahme der Spitze des kleinen Fingers, verbleibt er dennoch in seiner Unreinheit.32
Genauere Bestimmungen der mündlichen Lehre, die das „vollständige Untertauchen in eine Wasseransammlung“ betreffen, sollen in Kapitel 2.3 behandelt werden. Neben der Verunreinigung durch (aus dem Geschlechtsorgan austretende) Körperflüssigkeiten kann kultische Unreinheit auch durch andere Faktoren bewirkt werden.33 Sämtliche Arten von Verunreinigung, die biblisch ein Tauchbad erfordern, stehen letztlich in irgendeiner Form mit Fortpflanzung oder Tod in Verbindung,34 die schwerwiegendste Form der Verunreinigung ist nach rabbinischem
30 Bestimmungen zu Mikwen und Reinheitsvorschriften für Frauen finden sich vor allem innerhalb der sechsten Ordnung mit dem Titel ‚Reinheiten‘ in den Traktaten nidda (Mischna und Talmud) und mikwa’ot (nur Mischna). Für die Entstehung von Mischna und Talmud siehe die jeweiligen Kapitel in Stemberger, Einleitung, für ihre Datierung insbesondere S. 126 und 228. 31 Für die talmudische Auslegung des „Waschens“ als Untertauchen in einer Mikwe siehe z. B. babylonischer Talmud, bPes 109a–b. 32 Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 1,2 (1,2). Die deutsche Übersetzung der Stelle entnehme ich Hoffmann/Cohn/Auerbach (Hgg.), Mischnajot, Bd. 6, S. 444. 33 Für eine Auflistung der Grundkategorien siehe Liss, TANACH, S. 115. 34 Hierzu zählen außer der Verunreinigung durch die genannten Körperflüssigkeiten (bzw. Kontakt mit Trägern, auch Gegenständen, dieser Unreinheit) das Berühren von Toten, von Aas und bestimmte
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Teil A: Zur Tradition des jüdischen Ritualbads
Verständnis das Berühren einer Leiche.35 Auch hierin zeigt sich die inhärente Logik des Systems: Um sich dem ewigen, heiligen Gott zu nähern, muss der Mensch kultisch rein sein, d. h. die menschliche Vergänglichkeit, die sich besonders in den körperlichen Vorgängen von Geburt und Tod ausdrückt, zumindest für den Augenblick, symbolisch durchbrechen.36 Aus diesem Grund war beispielsweise für das gesamte Volk Israel während der Wüstenwanderung eine „außerordentlich intensive Reinigung“ nötig, so Jacob Milgrom in seinem kurzen, aber grundlegenden Aufsatz über Reinheit innerhalb des priesterlichen Symbolsystems: „They bathe and launder two days in succession. The purpose is explicit: to be sufficiently pure to receive God’s presence in their midst (Exod 19:10–11).“37 Das fundamental Neue an diesem priesterlichen System, was Israel von den sie umgebenden Völkern unterschied, war dabei die vollständige Abkopplung der Kategorie ‚Unreinheit‘ von allem Dämonischen, wie Milgrom betont. Die Reinigungszeremonie erfolgt erst nach Beendigung eines bestimmten körperlichen Zustandes wie z. B. Aussatz, sie ist „Ritual und nicht Therapie“ mit dem Zweck, Israel seine Bestimmung immer wieder symbolisch vor Augen zu führen.38 In diesem sehr speziellen kultischen System aber, das dem Volk Israel einen (damals ungewöhnlichen) Weg der Begegnung mit dem einen und ewigen Gott weist, besteht zunächst keinerlei Verbindung zwischen ritueller Unreinheit und Sünde. Vielmehr entsteht Sünde im biblischen Reinheits-Kontext erst dadurch, dass eine Person im Zustand ritueller Unreinheit entweder geheiligten Raum (den Tempel) betritt oder aber in Berührung mit geweihten Speisen, z. B. im Tempel dargebrachten Opfern, kommt.39
2.2
Reinheit der Familie: Konzeptionelle Verschiebungen seit Zerstörung des Zweiten Tempels
So weit, so gut. Nun stellen sich aber zwei sehr berechtigte Fragen: Inwiefern kann man aus der zitierten Bibelstelle die jahrhundertelange Tradition der Nutzung der
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Hautaussätze. Siehe zu diesem Aspekt insbesondere Hayes, „Purity“, S. 746–748; für eine detaillierte Liste siehe Liss, TANACH, S. 116. Hayes, „Purity“, S. 747. Vgl. für diesen Gedanken auch ebd., S. 746. Milgrom, „The Dynamics of Purity“, S. 31. Ebd., S. 30 und 32. Vgl. Hayes, „Purity“, S. 746; Meacham, „History“, S. 27. Vgl. ebenso Hanna Liss, die gerade auch in ihrer Interpretation der oben zitierten Bibelstelle (Lev 15,19–24) zu dem Schluss kommt, dass rituelle Unreinheit als Kategorie nur in Bezug zu geheiligtem Raum in irgendeiner Weise relevant ist („Ritual Purity“, S. 341f).
Der religionsgesetzliche Hintergrund
Mikwe vor allem durch Frauen ableiten? Und warum wurde diese Praxis nicht bereits in der Antike wieder aufgegeben? Schließlich entfällt mit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 n.d.Z. die Grundlage für sämtliche hiermit verbundenen kultischen Handlungen, also auch die Opfer- und Reinigungsvorschriften. Die Antwort auf beide Fragen ergibt sich aus einem besonderen Umstand der Vorschriften bezüglich der nidda: Die einzige Ausnahme von der oben genannten Regel, wonach rituelle Unreinheit nicht mit Sünde in Verbindung gebracht werden darf, stellt der Geschlechtsverkehr mit einer Frau während der Zeit ihrer Menstruation dar; dies ist als solches ausdrücklich verboten (Lev 18,19; Lev 20,18) und damit Sünde.40 Und hierin liegt ein Grund für das Fortbestehen der Reinigungsvorschriften rund um die Mikwe bis in die heutige Zeit: Gerade deshalb, weil der Geschlechtsverkehr mit einer nidda nicht nur kultisch verunreinigt, sondern darüber hinaus auch eine Gesetzesübertretung darstellt, für die jeglicher kultische Bezug zum Jerusalemer Tempel fehlt, hat sich dieser spezielle Komplex von Reinigungsvorschriften unabhängig vom Fortbestehen des Tempels erhalten. Die Frau muss sich nach beendeter Periode rituell reinigen, um die (für Mann und Frau gleichermaßen!) schwere Sünde des Beischlafs mit einer nidda, wörtlich einer ‚Abgesonderten‘, zu vermeiden. Sämtliche anderen Verunreinigungen, etwa durch Berührung mit Toten oder durch Aussatz, stehen hingegen einzig und allein im Kontext kultischer Vorschriften; da sie auf den Tempel und dort verrichtete Ritualhandlungen bezogen sind, sind sie heute nicht mehr verpflichtend bzw. können überhaupt nicht mehr durchgeführt werden. Dies ist jedoch nur ein Aspekt dieser Frage, die tatsächlich sehr viele Facetten aufweist. Einerseits sozusagen ‚passives Überbleibsel‘ der Zerstörung des Tempels und der hierauf bezogenen Vorschriften, zeigt das Fortbestehen der Vorschriften um Mikwe und nidda andererseits auch eine aktive, bewusste Politik: nämlich als Maßnahme, um dem Verlust an Autonomie und Selbstachtung infolge der Zerstörung des Tempels entgegenzuwirken.41 Als punktuelles Bewahren des von Gott gegebenen Auftrags zur Heiligkeit gerade auch in der Diaspora kommt der Praxis der Mikwe nach Zerstörung des Tempels somit eine Bedeutung zu, die sie
40 Vgl. Fonrobert, Menstrual Purity, S. 20f; Maccoby, Ritual and Morality, S. 38f. Für den impliziten Widerspruch der drei Bibelstellen zum Geschlechtsverkehr mit einer Menstruierenden (Lev 15,24; Lev 18,19; Lev 20,18; wobei nur die beiden letztgenannten dies als Sünde bezeichnen) vgl. Biale, Women, S. 155–158. Manche Bibelübersetzungen, z. B. die Luther-Übersetzung von 1984, lösen diesen Widerspruch bereits auf, indem sie Lev 15,24 gemäß der traditionellen jüdischen Interpretation übersetzen, „Und wenn ein Mann bei ihr liegt und es kommt sie ihre Zeit an bei ihm“; zitiert nach der online-Ausgabe Luther 1984, unpag. 41 Vgl. zu dieser Idee Cook, „Body Language“, S. 56f.
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innerhalb des noch intakten Kultsystems kaum besessen haben dürfte.42 Hier zeigt sich, was sich auch an anderer Stelle bemerken lässt: Ähnlich wie der häusliche Tisch seither den einstigen Altar symbolisiert (bChag 27a), so bewirkt auch hier die Zerstörung des Tempels eine Verschiebung des Kults vom öffentlichen Raum hin zur Privatsphäre;43 jeder Jude bzw. jede Jüdin steht in der Durchführung des häuslichen (privaten) Rituals, wie zuvor die Priester im Tempel, in gewisser Weise stellvertretend für das gesamte Volk. Einhergehend mit der Bewahrung der Vorschriften für die Reinigung der Frau ist jedoch auch eine mehr oder minder starke Akzentverschiebung. Einerseits spielt die Übertragung der kultischen Unreinheit der Menstruierenden, etwa durch Berührung, nun vom Prinzip her keine Rolle mehr (da kein Tempel vorhanden ist, den man im unreinen Zustand betreten könnte). Andererseits wird stattdessen der moralisch-ethische Aspekt besonders hervorgehoben, d. h. der sexuellen Enthaltsamkeit des Ehepaares während der vorgeschriebenen Zeitspanne besonderes Gewicht beigemessen.44 Um hier die Gefahr der Übertretung zu minimieren, wurden die Regeln des häuslichen Zusammenlebens entsprechend abgeändert, der körperliche Kontakt zwischen Mann und Frau während dieser Zeit streng geregelt.45 Eine bewegende Stelle in den Memoiren der Glikl bas Juda Leib, entstanden um 1700, zeugt nicht allein von der Beachtung dieser Vorschriften bei den Asch-
42 Hiervon zeugt beispielsweise auch die Bedeutung der Mikwe als ein wesentliches Kennzeichen des Judentums, neben Schabbat und Beschneidung, im babylonischen Talmud (bMe‘ila 17a); für eine Diskussion dieser Stelle siehe Fonrobert, Menstrual Purity, S. 39. 43 Vgl. hierzu Cook, „Body Language“, S. 57; Liss, „Patterns“, S. 272; Biale, Women, S. 148. 44 Bestärkt wurde der rein moralische Impuls noch durch die bereits in der Antike vorhandene Vorstellung, dass der sexuelle Kontakt mit einer Menstruierenden aussätzige Kinder hervorbringe, eine Idee, die unter anderem in der vermutlich aus dem 9.–10. Jahrhundert stammenden anonymen Schrift Baraita de-nidda oder auch im Sefer Brantspigel begegnet (siehe Koren, Forsaken, S. 29 und 33; Riedel [Hg.], Brantspigel, S. 246f und 259; ebenso Buxtorf, Synagoga Judaica, S. 615; zu Baraita de-nidda siehe auch weiter unten in diesem Kapitel). Der Gedanke bewahrt sich bis ins 19. Jahrhundert, wo er 1828 auch dem jüdischen Arzt Moritz Mombert dazu dient, die Gesetze um Mikwe und nidda als ein reines Gebot der Vernunft zu erklären, das schon zu Moses’ Zeiten einer umfassenden Gesundheitsfürsorge diente: Gemäß der Humoralpathologie müsse man bei einer Zeugung während der Menstruation die Übertragung des noch im weiblichen Körper vorhandenen „Giftes“ auf das Kind befürchten, das folglich bereits „mit vergifteten Säften auf die Welt kommen“ würde. Dieses verdorbene Blut sei eine der Ursachen für den Aussatz, der bei den Israeliten einst verbreitet war und den Moses durch bestimmte Hygieneregeln, darunter die Mikwe, zu bekämpfen suchte (Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 28f; vgl. zu diesem Aspekt auch Kapitel 6.1). 45 Vgl. bKet 61a; für eine ausführlichere Darstellung dieser Talmudstelle und bei Raschi siehe Biale, Women, S. 158–162. Für die frühneuzeitliche aschkenasische Praxis siehe Riedel (Hg.), Brantspigel, S. 244–264; ebenso Buxtorf, Synagoga Judaica, S. 614–617 (Kapitel 31). Im orthodoxen Judentum sind bis heute die entsprechenden Vorschriften des Schulchan Aruch, Jore de‘a 195, maßgeblich; vgl. ebenso Ganzfried, Kizzur schulchan aruch, S. 889–894.
Der religionsgesetzliche Hintergrund
kenasim der Frühen Neuzeit, sondern auch von der enormen Selbstdisziplin, die dem Ehepaar hierdurch abverlangt wird. Selbst in der Sterbestunde des Mannes siegt die Frömmigkeit des Paares über den natürlichen Wunsch nach Intimität, als Glikl fragt: „Mein Herz, soll ich euch anfassen?“ Ich war nämlich unrein []טריפה. Da sagte er zu mir: „Der Himmel bewahre, mein Kind, es wird ja nicht so lange dauern, bis du ins Tauchbad gehst.“ – was er leider [wörtlich: ‚unserer vielen Sünden wegen‘] nicht mehr erlebt hat.46
Auch diejenigen biblischen Vorschriften, die die Länge der Absonderung betreffen, wurden verschärft. Noch während der Zeit der Tannaiten, d. h. der Lehrer der Mischna, galten die biblischen sieben Tage, jedoch bereits am Ende dieser Periode, Anfang des 3. Jahrhunderts n.d.Z., kam eine neue Regelung auf, die auf einen Ausspruch von Jehuda ha-Nasi zurückgeht (bNid 66a), der traditionell als der Redaktor der Mischna betrachtet wird.47 Aufgrund der potentiellen Verwechslungsgefahr von ‚normaler‘ (nidda) und krankhafter Blutung bei Frauen (sawa) entfiel fortan die Kategorie der normalen Menstruation, stattdessen wurden auch Frauen mit völlig regelmäßiger Monatsblutung grundsätzlich wie eine sawa behandelt.48 Die Folge ist, dass die monatliche Zeit der sexuellen Enthaltsamkeit entsprechend der biblischen Regelung für die sawa deutlich verlängert wurde. Zu den eigentlichen Tagen der Menstruation49 kommen seither (bis heute) noch weitere sieben Tage, in denen kein Blut mehr sichtbar sein darf (so genannte ‚reine‘ oder ‚weiße‘ Tage).50
46 Turniansky (Hg.), Glikl, S. 366. 47 Meacham, „History“, S. 30f, sowie Appendix S. 255f; vgl. hierzu auch Ta-Shma/Baskin, „Niddah“, insbesondere S. 255. 48 Meacham, „History“, S. 29–31, 255f (Appendix). Nach bNid 66a erlegen sich die Frauen die strengste Auslegung der Regel selbst auf, vgl. auch Biale, Women, S. 152f. Für die im orthodoxen Judentum bis heute gültige Auslegung der Vorschriften für eine nidda siehe SchA, Jore de‘a 183–200. Eine knappe, gut lesbare Zusammenstellung bietet der für heutige orthodoxe Jüdinnen verfasste Band von Auriel Silbiger, Die reine jüdische Ehe. 49 Für die Tage der Menstruation wird ein Minimum von fünf Tagen angenommen, d. h. die Zählung der ‚reinen‘ Tage darf, auch bei bereits ausbleibender Blutung, frühestens nach fünf Tagen beginnen, vgl. Ganzfried, Kizzur schulchan aruch, S. 914f; Silbiger, Ehe, S. 6–8. Sefer Brantspigel geht sogar von sieben ‚unreinen‘ Tagen aus, siehe Riedel (Hg.), Brantspigel, S. 252. Dies wird vermutlich abgeleitet von den Vorschriften nach der Geburt eines Jungen, wonach die Frau für sieben Tage als unrein gilt (Lev 12,2), bevor am achten Tag die Beschneidungszeremonie stattfindet. Im Kommentar der Zenne-renne zu dieser Bibelstelle ist zu erkennen, wie sich die beiden Systeme vermischen, hier heißt es im Wochenabschnitt ‚Tasria‘‘: „The Torah commanded seven days of impurity for the woman, and seven days of purity after the seven days of impurity.“; Faierstein (Hg.), Ze’enah u-Re’enah, S. 622 (Hervorhebungen im Original). 50 SchA, Jore de‘a 183 und 196; Ganzfried, Kizzur schulchan aruch, S. 914–919.
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Am Abend des siebten reinen Tages in Folge,51 nachdem die Frau sich täglich zweimal auf kleinste Anzeichen von Blut hin untersucht hat, findet das rituelle Untertauchen in der Mikwe statt. Volkstümliche Vorstellungen und Bräuche
Eine über den beschränkten Kontakt zum Ehemann hinausgehende räumliche oder kultische Absonderung der nidda, ein sich Fernhalten von der Gemeinschaft, vom öffentlichen Gebet oder speziell der Torarolle, ist dagegen religionsgesetzlich in keiner Weise begründet noch geboten.52 Nichtsdestotrotz existieren Hinweise auf solche Praktiken in Schriften aus unterschiedlichen Zeiten und Regionen, wobei die Entstehungshintergründe der Werke und die Akzeptanz der geschilderten Vorschriften nicht immer leicht zu beurteilen sind. Extreme Positionen bezüglich der nidda werden insbesondere in dem vermutlich aus dem 9.–10. Jahrhundert53 stammenden Werk Baraita de-nidda vertreten, das der Frau in dieser Zeit nicht nur den Synagogenbesuch, sondern sogar das häusliche Anzünden der Schabbatkerzen, eine der drei religiösen Hauptpflichten der Frau, und anderes verbietet.54 Obwohl diese Schrift höchstwahrscheinlich nur die Ansichten einer sehr kleinen Minderheit von Rabbinen, möglicherweise aus dem 2. Jahrhundert n.d.Z.55 , widerspiegelt, ist ihr Einfluss gerade in den Diskussionen aschkenasischer Gelehrter des Mittelalters spürbar.56 Tatsächlich äußern sich in einer solchen geforderten weiter gehenden
51 Genaugenommen nach Einbruch der Nacht und somit (nach jüdischer Zählung) am achten Tag nach Beginn der ‚reinen Tage‘. Zur Symbolik des achten Tages siehe weiter oben, Abschnitt Die biblischen Wurzeln der Mikwe (Anm. 25). 52 Vgl. Fonrobert, Menstrual Purity, S. 19, sowie Maccoby, Ritual and Morality, S. 40f: Der Grund, warum Frauen in orthodoxen Synagogen bis heute nicht zur Tora-Lesung aufgerufen werden, kann nicht, wie oft irrtümlich angenommen, aus den Reinheitsvorschriften abgeleitet werden, die Berührung der Torarolle auch durch eine Frau während ihrer Menstruation ist nicht verboten. Der Ursprung dieser talmudischen Vorschrift liegt vielmehr in der damaligen gesellschaftlichen Situation begründet, vgl. die Talmudstelle bMeg 23a: „Die Rabbanan lehrten: Jeder ist zu den sieben [die zur Tora-Lesung aufgerufen werden] zulässig, selbst ein Minderjähriger und selbst eine Frau; jedoch sagten die Weisen, eine Frau dürfe aus Achtung vor der Gemeinde aus der Tora nicht vorlesen.“ (Der Babylonische Talmud, Bd. 4, S. 96). Der Aufruf einer Frau zum Lesen aus der Tora könnte demnach den Anschein erwecken, dass nicht genügend gebildete Männer anwesend sind, um diese religiöse Pflicht zu erfüllen. Für die Entwicklung dieses Verbots von der Entstehungszeit des Talmud bis in die Frühe Neuzeit siehe auch die Darstellung von Shaye Cohen, „The Separation of Menstruants“, sowie Marienberg, „Menstruation“. 53 Maccoby, Ritual and Morality, S. 33; Ta-Shma/Baskin, „Niddah“, S. 256. 54 Vgl. hierzu die zitierten Ausschnitte aus dem Werk bei Koren, Forsaken, S. 29f; siehe auch Ta-Shma/ Baskin, „Niddah“, S. 256; ebenso Baskin, „Immersion“, S. 134. 55 Maccoby, Ritual and Morality, S. 34. 56 Ta-Shma/Baskin, „Niddah“, S. 256; insbesondere übernahm man das Verbot des Synagogenbesuchs vor dem abschließenden Tauchbad in der Mikwe (ebd.). Ein Beispiel für diese Tradition bildet
Der religionsgesetzliche Hintergrund
Absonderung der nidda nicht primär jüdische Vorstellungen, sondern vielmehr eine in vielen alten Kulturen verbreitete abergläubische Furcht vor Menstruierenden, die ihren Niederschlag bereits im Talmud findet;57 Spuren dieser volkstümlichen Furcht finden sich noch in den frühneuzeitlichen Schriften, wie beispielsweise dem äußerst populären Sefer Brantspigel (Erstdruck 1596), ein in Jiddisch verfasstes Moralbuch, das sich besonders an eine weibliche Leserschaft richtet:58 un’ das blut von irer zeit oder von der gebürd das is eitel [nichts als] bös blut. es komt von ursprung des ergsten [schlimmsten] ort an ainer vrauen der possuk [Bibelvers] spricht mekor domeho [ihre Blutquelle (Lev 20,18)]. das ist teutsch von ursprung ir blut. spricht rabi Jochonon das blut komt fon Chawo [Eva] her das si die schlang hot ver gift. das wüsen [wissen] leut das das blut is eitel gift un’ sein seforim [Bücher] die schreiben das man kann ainem menschen mit ver geben das er stirbt.59
Der Einfluss der nichtjüdischen Umwelt auf die Beurteilung der Gefahr, die von solchem Blut ausgeht, lässt sich zuweilen auch an dem Umstand beobachten, dass zwischen einer Menstruierenden und einer Frau während der ‚weißen Tage‘ (d. h. nach beendeter Menstruation aber vor dem Untertauchen in der Mikwe) unterschieden wird.60 Eine derartige Unterscheidung ist gemäß der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, letztlich unsinnig: Die nach der Halacha einzig relevanten Kategorien sind vielmehr ‚rein‘ (d. h. nach dem rituellen Untertauchen) und ‚unrein‘ (davor), und die einzige Gefahr besteht, seit Zerstörung des Zweiten Tempels, darin, dass das Paar durch Geschlechtsverkehr im unreinen Zustand der Frau gegen ein
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der Sefer ha-rokeach des R. Elasar von Worms (ca. 1165–ca. 1230); siehe [Elasar ben Jehuda von Worms], Ha-rokeach, Hilchot nidda 318 (die Stelle findet sich in englischer Übersetzung bei Baskin, „Immersion“, S. 140, zu Person und Werk R. Elasars von Worms siehe Dan, „Eleazar ben Judah of Worms“, S. 303–305). Allerdings ist der direkte Einfluss nicht sicher belegt; vielmehr weisen manche der mittelalterlichen Quellen darauf hin, dass dies zunächst als freiwilliger Brauch unter besonders frommen Frauen entstanden sein könnte, vgl. Baumgarten, Practicing Piety, S. 21, 28f. Für diese Vorstellung sowie ihren Niederschlag im Talmud vgl. Fonrobert, Menstrual Purity, S. 35f; Maccoby, Ritual and Morality, S. 36. Für verschiedene Ausprägungen der Idee in der Antike, wonach das „Gift“ in der Frau sich unmittelbar auf Personen und Dinge der Umgebung übertrage (selbst „durch den Anblick“), siehe auch Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 24f. Tatsächlich muss man wohl davon ausgehen, dass das Lesepublikum von jiddischer Literatur der Epoche sehr viel größer war als bisweilen vermutet und sich nicht auf Frauen und wenige ungebildete Männer beschränkte, vgl. Faierstein, „Brantshpigl“, S. 181. Zu Inhalt und Bedeutung des Werkes siehe Dinse, Entwicklung des jiddischen Schrifttums, S. 116f, der jedoch die von Riedel verwendete Erstausgabe von 1596 nicht verzeichnet. Transkription des jiddischen Textes nach Riedel (Hg.), Brantspigel, S. 250f. Die Worterklärungen in eckigen Klammern wurden von mir zum leichteren Verständnis hinzugefügt. Vgl. Maccoby, Ritual and Morality, S. 34f, wo sich Maccoby auch auf die Ergebnisse von Yedidiah Dinari bezieht.
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religiöses Gebot verstößt (und hierfür mit der schweren göttlichen Strafe der ‚Ausrottung‘ (karet) rechnen muss61 ); dies zu vermeiden ist Sinn und Zweck sämtlicher Vorschriften für eine nidda. Die bei orthodoxen Juden bis heute verbindliche Kodifizierung der Halacha, der Schulchan Aruch (Erstdruck Venedig 1565), zeugt von dieser Ambivalenz, indem der ab 1569–71 enthaltene Kommentar die volkstümliche, halachisch nicht korrekte Unterscheidung zwischen einer nidda und einer Frau während der ‚weißen Tage‘ anspricht. Der Verfasser dieser Mappa genannten Anmerkungen,62 R. Moses Isserles (1525/1530–1572), berichtet, dass sich Frauen in dem von ihm beschriebenen polnisch-deutschen Raum während der Zeit ihrer Menstruation, nicht aber der ‚weißen‘ Tage, vom Gottesdienst fernhielten.63 Eine Ausnahme stellten die höchsten Feiertage (נוראים )בימיםdar, an denen selbst einer nidda der Synagogenbesuch erlaubt sei, da es die Frau ansonsten zu sehr betrüben
61 Die biblische Strafe der ‚Ausrottung‘ (karet) nach Lev 20,18 wird nicht von einem irdischen Gericht vollstreckt, sondern gemeinhin als Verkürzung der eigenen Lebensdauer, Kinderlosigkeit oder ein früher Tod der Nachkommenschaft interpretiert; siehe Cohn, „Todesstrafe“, Sp. 967f. Für die verbreitete Vorstellung, dass aus der sexuellen Verbindung mit einer nidda aussätzige Kinder hervorgehen, siehe oben Anm. 44. 62 Der Schulchan Aruch, wörtlich ‚Gedeckter Tisch‘, des R. Josef Karo (1488–1575) basiert auf der sephardischen Tradition des jüdischen Religionsgesetzes (Halacha), d. h. der von Juden aus Spanien und Portugal und deren Nachkommen geprägten Kultur. Die bezeichnenderweise Mappa, ‚Tischtuch‘, genannten Ergänzungen berücksichtigen dagegen die Bräuche von Aschkenas, d. h. der Juden in Mittel- und Osteuropa. Seit dem gemeinsamen Erstdruck der beiden Werke in Krakau 1569–71 verwendet man den Titel Schulchan Aruch auch als Bezeichnung für das Gesamtwerk. In den Kommentaren des aus Krakau stammenden Moses Isserles zeigt sich häufig die gegenüber den sephardischen Bräuchen strenger werdende Praxis der polnischen und deutschen Juden der Frühen Neuzeit. Zu dem Gesamtwerk und seinen Verfassern siehe Rabinowitz, „Shulhan Arukh“, S. 529f; Tamar u. a., „Caro, Joseph ben Ephraim“, S. 488–491; Tal/Derovan, „Isserles, Moses ben Israel“, S. 770–772. 63 Isserles, in: SchA, Orach chajjim 88,1; vgl. auch Ganzfried, Kizzur schulchan aruch, S. 894. Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Sefer ha-agur (um 1487) des im 15. Jahrhundert lebenden deutschen Rabbiners Jakob Landau. Landau spricht genau die später in Sefer Brantspigel, Synagoga Judaica und Jüdisches Ceremoniell genannten Punkte an, nämlich Synagogenbesuch, Nennen des heiligen Namens, Berühren von heiligen Gegenständen bzw. Büchern: „Im Sefer ha-mikzo‘ot [11. Jahrhundert] schrieb er, dass eine Frau nicht in die Synagoge gehe an allen Tagen ihres Sehens [von Blut], bis sie Weiß anlegt, so wie es heißt: Sie rühre nichts Heiliges an, aber Raschi hat es erlaubt. In Sche‘arim mi-Dura [Scha‘are Dura des Isaak ben Meir Düren] steht, dass es ihr an den Tagen ihrer Absonderung verboten ist, den göttlichen Namen zu nennen und ebenso an ihren Tagen des Weißanlegens.“ (Landau, Sefer ha-agur, Hilchot tewila 1388). Zur Bedeutung des in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts lebenden R. Isaak ben Meir Düren und seines einflussreichen Werkes Scha‘are Dura, siehe Ta-Shma, „Dueren, Isaac ben Meir“, S. 41f; zu Landau siehe ders., „Landau, Jacob“, S. 462. Vgl. zu dieser Passage, speziell in Scha‘are Dura, auch Baumgarten, Practicing Piety, S. 30f; zu dem in spätmittelalterlichen aschkenasischen Schriften häufig angeführten Sefer ha-mikzo‘ot siehe ebd. S. 31, 238 (Anm. 67).
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würde.64 Halachisch, dem Religionsgesetz nach, sei es jedoch richtig, dass eine nidda den Gottesdienst ohne jede Einschränkung besuchen dürfe. Anzumerken ist hierbei, dass Isserles die Tendenz zur Erleichterung auch schon in einer bedeutenden Vorlage, nämlich bei R. Israel Isserlein (1390–1460) findet; letzterer befürwortet das Fernbleiben der Frauen aber grundsätzlich und ist nur hinsichtlich der Feiertage zu Zugeständnissen bereit.65 Nach Elisheva Baumgarten entstand dieser Brauch, trotz der unübersehbaren Parallele zur Baraita de-nidda, im späten 11. bis 12. Jahrhundert zunächst als freiwillige Selbstbeschränkung einiger Frauen, die dadurch ihre besondere Frömmigkeit zum Ausdruck bringen wollten; spätestens zu Beginn des 14. Jahrhunderts bildete er dann im deutschen Raum mehr oder weniger die Norm.66 Moses Altschuls volkstümliches Sefer Brantspigel, erstmals erschienen 25 Jahre nach Isserles’ Kommentar, ermahnt jüdische Frauen andererseits wieder zu der von Isserles als falsch bewerteten Praxis; hier scheint sich die Linie von den mittelalterlichen Diskussionen über die Vorschriften aus Baraita de-nidda fortzusetzen: ain vrau di blut sicht den selbigen tag sol si nit in di schul [Synagoge] gen un’ kain tfilo [Gebet] tun. un’ kain schem [Namen Gottes] nenen. un’ kain sefer [religiöses Buch] an rüren ales was hailig is un’ lernen es vom possuk [Bibelvers] in Ki Sasria (u)bechol kodesch lo tigo. das is teutsch un’ an aler hailikait nit du solst an rüren [Lev 12,4]. ain tail sein es matir [erlauben es] un’ ai nit. aber rabonim [die Rabbiner] schreiben welche vrau dran gewarnt is [verlängert] ir leben.67
64 Der implizite Widerspruch dieser Regelung – gerade an den höchsten Feiertagen, Tagen der Umkehr und Buße, wird den Frauen etwas eigentlich Verbotenes erlaubt – wurde bereits im 17. Jahrhundert von dem Italiener Schabbtai Beer in seinem Werk Be’er esek thematisiert, vgl. hierzu Marienberg, „Menstruation“, S. 11f. Eines der Argumente, die Beer gegen diesen Brauch anführt, ist, dass es mithin logischer wäre, ‚unreine‘ Männer vom Kontakt mit heiligen Gegenständen fernzuhalten, da diese ja am Gottesdienst aktiv mitwirkten, siehe ebd. Für einen Abriss des Verbots für Menstruierende, die Synagoge zu besuchen, auch unter dem Aspekt der ‚Unreinheit‘ bei Männern durch Samenerguss siehe Shaye Cohen, „The Separation of Menstruants“; für eine Erörterung der mittelalterlichen Diskussionen hierüber siehe Baumgarten, Practicing Piety, S. 21–34. 65 Für eine englische Übertragung der Stelle aus Isserleins Sefer trumat ha-deschen siehe ebd., S. 32, zu Isserleins Leben und Werk vgl. Katz, Simha/Keil, „Isserlein, Israel ben Pethahiah“, S. 768–770. Zu der Passage bei Isserles vgl. auch Marienberg, „Menstruation“, S. 10f, sowie Biale, Women, S. 168f. 66 Baumgarten, Practicing Piety, S. 28f, 33. 67 Transkription des jiddischen Textes nach Riedel (Hg.), Brantspigel, S. 244f (Hervorhebung im Original). Die Worterklärungen in eckigen Klammern wurden von mir zum leichteren Verständnis hinzugefügt.
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Interessanterweise findet sich bei der Beschreibung dieser noch strengeren Sitte sowohl der Hinweis auf die abweichende rabbinische Lehrmeinung68 als auch der indirekte moralische Appell an die Frauen, der die Belohnung durch ein längeres Leben in Aussicht stellt. Die Passage findet sich, fast wörtlich ins Deutsche übertragen, in dem nur wenige Jahre später, 1603, erstmals veröffentlichten Werk Synagoga Judaica des Basler Hebraisten Johannes Buxtorf (1564–1629); sie lautet hier folgendermaßen (zitiert nach der Ausgabe von 1643):69 Ein Fraw / die unrein ist / darff nicht in die Schul gehen / nicht baetten / auch den Namen Gottes nicht nennen / kein heilig Buch anruehren / wie geschrieben stehet: Kein Heiliges soll sie anruehren / und zum Heiligthumb soll sie nicht kommen. Etliche Rabbinen haben solches gleichwol erlaubet: aber die Heiligsten schreiben / welche Frawe hieran gewahrnet seye / die lebe desto laenger.70
Beide Autoren, Buxtorf und Moses Altschul, beziehen sich auf seinerzeit bekannte ausführliche Darstellungen für Frauen zum Thema nidda. Buxtorf verweist am Ende des zitierten Abschnittes71 auf „ein besonder Buechlin in Teutscher Spraach / mit Hebræischen Buchstaben / von der Weiber Sitten geschrieben / wird Frawenbuechlin genennt: Wer kan, mag es laesen / zu Franckfurt findet man es bey den Juden.“72 Gewöhnlich versteht man unter der Bezeichnung ‚Frauenbüchlein‘ das von dem polnischen Rabbiner Benjamin Aaron ben Abraham Slonik (ca. 1550 – ca. 1619) verfasste Seder mizwot naschim (Erstdruck Krakau 1577), das in jiddischer Sprache die religiösen Hauptpflichten für Frauen erläutert und bis ins 18. Jahrhundert, mehrfach neu aufgelegt, als religiöses Hausbuch fungierte.73 Allerdings stellt Sloniks Buch nur die Umarbeitung eines erstmals 1552 in Venedig im Druck erschienenen gleichnamigen Werkes dar, und auch dieses greift wiederum auf handschriftliche Bearbeitungen des Stoffes zurück.74 Wertet man nun Buxtorfs Hinweis auf Frankfurt nicht als eine zufällige Angabe für das Vorkommen eines dieser beiden Werke (möglicherweise der Größe der Gemeinde geschuldet), so könnte man dort eine weitere Version des ‚Frauenbüchleins‘ vermuten, wofür auch die Angabe im Sefer Brantspigel sprechen würde. Dort nennt Altschul „unseren Lehrer, der Meister,
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Vgl. hierfür Isserles’ Kommentar zu SchA, Orach chajjim 88,1. Vgl. auch Schudt, Merckwürdigkeiten, Bd. 2, S. 420 (6. Buch, Kapitel 24). Buxtorf, Synagoga Judaica, S. 614. Kapitel 31, „Von Weiblicher Unreinigkeit / und wie sich die Juedischen Weiber darbey verhalten“. Buxtorf, Synagoga Judaica, S. 617. Zu Slonik und seinem Werk siehe Shulman, „Slonik (Solnik), Benjamin Aaron ben Abraham“, S. 675f. Zu den verschiedenen Auflagen des Frauenbüchleins und verwandten Schriften siehe Dinse, Entwicklung des jiddischen Schrifttums, S. 92f und S. 235f. 74 Ebd., S. 92.
Der religionsgesetzliche Hintergrund
Herr Elieser aus der Heiligen Gemeinde Frankfurt“ als Verfasser eines nicht näher bezeichneten Bandes zu den Vorschriften für eine nidda.75 Hiermit könnte Elieser ben Naftali Herz Treves, gest. 1566, gemeint sein; als Vorsteher des Frankfurter Lehrhauses trug er den Ehrentitel „unser Lehrer, der Meister“, der auch auf seinem Grabstein genannt wird.76 In jedem Fall kann man aus den beiden Hinweisen auf Frankfurt schließen, dass Fragen der nidda in der relativ großen Gemeinde der dortigen Judengasse einige Beachtung fanden. In der Folgezeit avancierte Buxtorfs Werk zu einem immer wieder neu aufgelegten Standardwerk über das frühneuzeitliche Judentum aus christlicher Perspektive;77 auf diese Weise erscheint die Passage über die „Reinigung der Weiber“, leicht abgeändert,78 auch in dem erstmals 1717 veröffentlichten Buch Jüdisches Ceremoniell von Paul Christian Kirchner – allerdings nicht in dem ursprünglichen Text des Konvertiten Kirchner, sondern in den Anmerkungen des christlichen Hebraisten Sebastian Jacob Jungendres, die seit der Neuauflage des Buches von 1724 mit abgedruckt wurden. Jungendres, der nach eigenen Angaben auch ‚Feldforschung‘ betrieben und jüdische Zeitgenossen befragt hat,79 bezieht sich an dieser Stelle jedoch einzig und allein auf Buxtorf. Man kann somit zumindest vermuten, dass die in Synagoga Judaica beschriebene Praxis der Absonderung der Frau von Gottesdienst und Gebet nicht immer der tatsächlichen Lebenswelt jüdischer Frauen in der Frühen Neuzeit entsprach: Möglicherweise war sie zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht mehr üblich oder doch nur regional oder lokal verbreitet, so dass Kirchner sie selbst nicht kannte bzw. nicht erwähnenswert fand. Eventuell wurde die Vorschrift sogar schon zu Buxtorfs Zeiten nur von wenigen Frauen beachtet; ein Befund von Evyatar Marienberg weist ebenfalls in diese Richtung und darüber hinaus: Demnach wäre es sogar schon im 15. Jahrhundert üblich gewesen, dass Frauen
75 Siehe Riedel (Hg.), Brantspigel, S. 245. Natürlich wäre es ebenso möglich, dass es sich bei der Frankfurter Ausgabe nicht um eine eigenständige Bearbeitung, sondern nur um eine Neuauflage der früheren Drucke handelt; die Formulierung im Brantspigel, „hot gemacht ain buch […] un’ hots losen druken […]“ (ebd.) scheint aber dieser Annahme eher zu widersprechen. Auch die späteren Auflagen des ‚Frauenbüchleins‘, teils unter der Bezeichnung Sefer mizwot ha-naschim wie die Ausgabe Frankfurt 1767/68, weichen mehr oder weniger voneinander ab, was somit auch dem Einfluss der nicht mehr erhaltenen ersten Frankfurter Edition geschuldet sein könnte. 76 Siehe Brocke, Friedhof Frankfurt, S. 119; ebenso o.V., „Elieser ben Naftali Treves [13.09.1566]“. 77 Zum Einfluss von Buxtorfs Werk vgl. das Vorwort von Sebastian Jacob Jungendres in: Kirchner, Jüdisches Ceremoniell, f. A2r –B2v , hier f. Bv . 78 „Sie durften auch nicht in die Schule [d. h. Synagoge] kommen, nicht beten, noch den Namen GOttes nennen, noch auch ein heiliges Buch anrühren, weil III. B. Mos. XII.4. es heiset: Er soll kein Heiliges anrühren, noch in das Heiligthum kommen; und ob es schon einige zulassen, so sagen sie doch, daß diejenige Weiber, welche sich dessen, enthalten, desto länger leben werden.“; siehe Kirchner, Jüdisches Ceremoniell, S. 205 (Anm. b), Hervorhebungen im Original. 79 Siehe das Vorwort von Jungendres in Kirchner, Jüdisches Ceremoniell, f. A3v .
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während der Zeit der nidda (zumindest mancherorts) die Synagoge besuchten. Marienberg bezieht sich hierbei auf eine Stelle im bekannten Sefer ha-agur des deutschen Rabbiners Jakob Landau, das dieser ca. 1487 in Italien verfasste.80 Nach einer kurzen Zusammenfassung verschiedener Lehrmeinungen schließt Landau das Thema folgendermaßen ab: Aber ich, der Autor, habe in meinem Land gesehen, dass die Frauen in die Synagoge zu gehen pflegen [nohagin], beten und alles sagen, was innerhalb der Keduscha zu antworten ist,81 nur hüten sie sich, nicht die Torarolle anzusehen, während der Vorsänger sie dem Volk zeigt.82
Nimmt man diesen Hinweis auf eine frühe Aufgabe der strengen Praxis ernst, so wäre die Ermahnung in dem etwa zeitglich mit Buxtorf, um 1600, entstandenen Sefer Brantspigel weniger ein Hinweis auf eine weit verbreitete Praxis, als im Wesentlichen ein (nicht mehr ganz zeitgemäßer) Appell zu besonderer Frömmigkeit, was ja dem Genre der Mussar-Literatur, volkstümlichen Moralbüchern religiös-ethischen Inhalts, durchaus gemäß ist. Die Mikwe in der Moderne
Noch ein weiterer Umstand weist auf die Bedeutungsverschiebung hin, die das Konzept der nidda seit Zerstörung des Tempels vor nunmehr knapp 2.000 Jahren erfahren hat: Nur verheiratete Frauen suchen die Mikwe auf. Für unverheiratete Frauen und Mädchen besitzen hingegen die gesamten Vorschriften bezüglich der nidda keine Gültigkeit, da rituelle Reinheit oder Unreinheit in diesem Fall, ohne die Frage der Wiedererlaubnis sexueller Beziehungen, belanglos ist.83 Der erste Gang einer Frau in die Mikwe findet aus diesem Grund vor ihrer Hochzeit statt. Abgesehen von der durch Menstruation verursachten rituellen Unreinheit sind
80 Siehe Marienberg, „Menstruation“, S. 12; zu Person und Werk Jakob Landaus siehe Ta-Shma, „Landau, Jacob“, S. 462. 81 Wörtlich: ‚alles antworten, was in der Keduscha ist‘. Keduscha bedeutet die gemeinsame Heiligung Gottes durch die versammelte Gemeinde Israels gemäß der Aufforderung in Lev 22,32. Im Rahmen der öffentlichen Wiederholung des zunächst leise gesprochenen Hauptgebets, der Amida (auch ‚Achtzehn-Gebet‘ genannt), wird in einem Wechselvortrag von Vorbeter und Gemeinde diese Heiligung performativ vollzogen, indem man das Lob Gottes durch die Engel imitiert, so wie es Jesaja und Ezechiel in ihren Visionen beschreiben. Höhepunkt sind die Worte nach Jes 6,3: „Kadosch kadosch kadosch“ (‚Heilig, heilig, heilig‘); zur Bedeutung von Amida und Keduscha vgl. Donin, Jüdisches Gebet, S. 68–138, hier besonders S. 116–121. 82 Landau, Sefer ha-agur, Hilchot tewila 1388; vgl. auch oben Anm. 63, wo der Anfang des Abschnittes zitiert wird. 83 Für diesen Aspekt, sowie den bewussten Aufschub des Untertauchens durch die Frau als Druckmittel gegenüber dem Ehemann, siehe die kurze Darstellung bei Biale, Women, S. 164f.
Der religionsgesetzliche Hintergrund
auch nach der Geburt eines Kindes spezielle Vorschriften zu beachten, die auf Lev 12,1–8 zurückgehen und die nach rabbinischer Tradition das abschließende Untertauchen in einer Mikwe vorsehen.84 Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts fasst man den gesamten als nidda bezeichneten Komplex der Reinigungsvorschriften für die Frau auch zunehmend unter dem Begriff taharat ha-mischpacha, im Deutschen ‚Reinheit des Familienlebens‘ oder wörtlich ‚Reinheit der Familie‘.85 Darüber hinaus ist die Mikwe in nachbiblischer Zeit auch Bestandteil von zwei weiteren ‚Übergangs-Ritualen‘: Das Untertauchen von Konvertiten (Frauen und Männer) markiert rituell deren Eintritt ins Judentum und den damit verbundenen spirituellen Neubeginn, während das Untertauchen von bestimmten Küchenutensilien, die von Nicht-Juden erworben wurden, diese für die orthodoxe Küche tauglich macht.86 Auch manche Männer benutzen zu bestimmten Gelegenheiten noch immer die Mikwe. Biblisch ist ein nicht näher definiertes Reinigungsbad gemäß Lev 15,1–18 nach Samenabgang jeglicher Art vorgesehen, in der besonders ‚wirksamen‘ Form des Bades in „lebendigem Wasser“ nach diesem Text zunächst nur bei krankhaftem Ausfluss aus dem Glied (d. h. für den so genannten saw).87 Genau wie die Regeln für die nidda waren auch diese auf den Tempeldienst bezogen. Allerdings wurden die Vorschriften für Männer innerhalb der takkanot Esra nochmals ausgeweitet, d. h. in einer Anordnung, die man im Talmud Esra zuschreibt und die demnach im Zuge der Neuordnung des Kultus nach dem persischen Exil entstanden wäre: Männer sollten nur in rituell reinem Zustand am Gebet oder Torastudium teilnehmen, was ein morgendliches Tauchbad nach ehelichem Verkehr oder nächtlichem Samenerguss erforderte.88 In der neuen Situation der Synagogen und Lehrhäuser nach Zerstörung des Zweiten Tempels wurde diese Anordnung von den Rabbinen diskutiert und interpretiert, galt aber bereits im Mittelalter als wieder aufgehoben, weshalb sie außerhalb von besonderen Gruppierungen kaum praktiziert wurde bzw. wird.89 Dennoch scheinen die anhaltenden Diskussionen der Gelehrten über diese Vorschrift dazu beigetragen zu haben, dass sich auf deutschem Boden etwa ab dem 12. Jahrhundert der Brauch entwickelte, vor dem Versöhnungstag90 ein Tauchbad
84 85 86 87 88
Vgl. hierfür Baskin/Ta-Shma, „Niddah“, S. 256, sowie Biale, Women, S. 151f. Vgl. Meacham, „History“, S. 32, sowie Kapitel 6.3.1. Vgl. hierfür Posner in: ders./Baskin, „Ablution“, S. 262. Vgl. mMiqw 1,7f sowie Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 1,5 (1,5). bBQ 82 a–b, bBer 22b; vgl. Posner in: ders./Baskin, „Ablution“, S. 262, sowie Shaye Cohen, „The Separation of Menstruants“, S. 106f. 89 Vgl. Posner in: ders./Baskin, „Ablution“, S. 262. 90 Am Versöhnungstag, dem höchsten jüdischen Feiertag, nach biblischem Verständnis der ‚allerhöchste Schabbat‘ (שבת שבתון, Lev 16,31) reinigte der Hohepriester sich an „heiliger Stätte“, bevor er das Sühneopfer für das Volk darbrachte (Lev 16,24; Die Tora, Übersetzung von Philippson, S. 479).
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zu nehmen (vgl. hierzu Kapitel 6.3.1).91 Streng orthodoxe Juden beachten dies noch heute und tauchen vor den hohen Festen in der Mikwe unter, einige chassidische Gruppierungen auch vor jedem Schabbat.92
2.3
„Eine Quelle oder eine Grube“: Grundlegende Vorschriften für die Anlage von Mikwen
In dem bisher betrachteten Buch Leviticus, aber auch an anderen Stellen des Pentateuch, findet sich nichts darüber, wie oder wo bzw. ob überhaupt ein rituelles Untertauchen, wie es später die Überlieferung des Talmud fordert, stattfand. Die wohl anschaulichste Beschreibung über die tatsächliche Praxis entstammt der bekannten Episode über König David nach 2 Sam 11,2–4: 2
Und es geschah, um die Zeit des Abends, da stand Dawid auf von seinem Lager, und lustwandelte auf dem Dache des Hauses des Königs, und sah eine badende Frau von dem Dache aus; und die Frau war sehr schön von Gestalt. 3 Und Dawid schickte und erkundigte sich nach der Frau; und es hiess: das ist ja Bat Scheba, Tochter Eliam’s, die Frau Urijah’s, des Chitti. 4 Da schickte Dawid Boten und liess sie holen und sie kam zu ihm, und er lag bei ihr; sie hatte sich aber gereinigt [wörtlich: ‚geheiligt‘] von ihrer Unreinheit, und sie kehrte nach ihrem Hause zurück.93
Zwar ist es naheliegend anzunehmen, dass es sich bei dem von David beobachteten abendlichen Bad (Vers 2) gerade um die im Fortgang der Erzählung (Vers 4) genannte rituelle Reinigung handelt, rein textlich ist dieser Zusammenhang allerdings nicht zwingend gegeben; bei dem Waschen in Vers 2 könnte es sich ebenso gut um einfache Körperpflege94 handeln, während das rituelle Bad zu einem anderen Zeitpunkt (unbeobachtet) stattfand. Nichtsdestotrotz zeugt der Bericht von der zentralen Stellung eines abschließenden Reinigungsrituals nach beendeter Menstruation: Dem Verfasser des biblischen Buches (bzw. dieses Verses) ist es offensichtlich wichtig, den knappen Hinweis in seine Erzählung einzubauen, dass die spätere Mutter von König Salomon, Batseba, sich den jüdischen Vorschriften
91 Zugleich verschob sich der Hauptfokus auf den unwillkürlichen Samenerguss, vgl. Baumgarten, Practicing Piety, S. 26f. 92 Vgl. Posner in: ders./Baskin, „Ablution“, S. 262. 93 Die Heilige Schrift, Übersetzung von Zunz, Bd. 2, S. 515f. 94 Das verwendete Verb rachaz, ‚waschen‘, bezeichnet sowohl rituelles Waschen wie auch einfache Körperpflege, siehe Hayah Katz, „He shall bathe in water“, S. 370. Für eine ausführlichere Diskussion des Begriffs und seiner Verwendung von der biblischen bis zur rabbinischen Literatur siehe Adler, „Hellenistic Origins“, S. 2–6, sowie Ilan, „Since When“, S. 87–93.
Der religionsgesetzliche Hintergrund
gemäß verhalten hat (und auf Davids Konto neben dem begangenen Ehebruch nicht noch die schwere Sünde des Beischlafs mit einer nidda kommt, was nach Lev 20,18 mit karet, ‚Ausrottung‘, zu bestrafen wäre).95 Der hebräische Text verwendet hier in Vers 4 ein von der Wurzel ‚heilig‘ abgeleitetes Wort: „“והיא מתקדשת מטמאתה, wörtlich ‚und sie hatte sich von ihrer Unreinheit geheiligt‘; die Verwendung des Begriffs an anderen Stellen des Pentateuch (sowie analog des pi‘el לקדש, ‚jemanden heiligen‘) impliziert mehr als das passive Beenden eines unerwünschten Zustands, nämlich eine aktive Handlung, ein bewusstes ‚sich heiligen‘.96 Insofern ist diese Stelle ein (wenn auch noch so geringer) biblischer Hinweis darauf, dass Frauen tatsächlich, wenigstens zur Zeit des letzten Schreibers (vermutlich 6. Jahrhundert v.d.Z.), irgendeine Form von Reinigungsritual praktizierten97 – die besagte Stelle in Lev 15,19–24 schreibt dieses, wie oben dargestellt, für eine nidda nicht explizit vor. Vor diesem Hintergrund ist es dann letztlich unerheblich, ob Vers 2 gemäß
95 Auch wenn die traditionelle jüdische Auslegung im Allgemeinen dahingeht, König David in dieser Sache von Schuld frei zu sprechen, siehe Ta-Shma, in: Halpern u. a., „David“, S. 444–458, hier S. 452f. Ein anderer möglicher Grund, warum der Verfasser diesen Hinweis in die Erzählung einbaut, ist auszuschließen, dass der daraufhin von Batseba geborene Sohn nicht von König David stammt. Manche historisch-kritischen Bibelauslegungen betonen auch die für eine Empfängnis günstige Zeit nach beendeter Periode bzw. anschließender Reinigung, vgl. Smith, A Critical and Exegetical Commentary on the Books of Samuel, S. 317f. Der günstigste Zeitpunkt ist jedoch (in der Regel) nach einer Zeitspanne von etwa 12–14 Tagen, d. h. nach beendeter Periode und anschließendem Zählen von sieben ‚reinen‘ Tagen; geht man allerdings davon aus, dass zur Zeit des Verfassers, d. h. spätestens 6. Jahrhundert v.d.Z., allein die biblischen sieben Tage Gültigkeit besaßen, so wäre ein Hinweis auf das gerade erfolgte Tauchbad nicht gleichbedeutend mit einer Aussage über die erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine Schwangerschaft; zur Datierung des Buches vgl. Anm. 97. Für die Bedeutung der Strafe der ‚Ausrottung‘ vgl. Anm. 61. 96 Vgl. hierzu unter anderem Ex 19,10 und Ex 19,22, die Vorbereitung für die Erscheinung Gottes auf dem Sinai: „Und der Ewige sprach zu Moscheh: Geh zu dem Volke und heilige es heute und morgen, und dass sie ihre Gewänder waschen“; „Und auch die Priester, die treten vor den Ewigen, sollen sich heilig halten, dass der Ewige nicht einbreche unter sie.“ (Die Tora, Übersetzung von Philippson, S. 327–329). In Ex 19,10 ist das auch sonst bei Reinigungsritualen geforderte Waschen der Kleider explizit genannt. 97 Tal Ilan vermutet, dass Tauchbäder zunächst ausschließlich für Männer vorgesehen waren und die Nutzung durch Frauen erst sehr viel später – nämlich in der Zeit des Zweiten Tempels, als auch erstmals spezielle Mikwenanlagen aufkamen – üblich wurde. Diese These, die sie auf der Grundlage von Nicole J. Ruanes Forschung entwickelt und durch ihre eigene Analyse rabbinischer Texte weiter untermauert, lässt sich allerdings aufgrund der vorhandenen Quellenlage nicht völlig zweifelsfrei belegen (vgl. Ilan, „Since When“, S. 87–89). Aber selbst wenn die Anfänge der heutigen rabbinischen Reinigungsvorschriften für Frauen in dieser Periode und im Zusammenhang mit der Entstehung von Mikwenanlagen um 100 v.d.Z. zu sehen sind, würde dies eine frühere Praxis (weniger streng formuliert bzw. eingefordert) nicht unbedingt ausschließen. Für die Datierung des biblischen Buches siehe Gottwald, „Samuel, Book of “, S. 758, für die Frage der Anfänge der Mikwe und die frühesten nachgewiesenen Anlagen siehe Adler, „Hellenistic Origins“, S. 7–10.
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der Intention des Verfassers die rituelle Reinigung beschreibt; ein mit der jüdischen Tradition vertrauter Rezipient liest diese Interpretation in jedem Fall mit, und das Bad Batsebas wird somit, im Sinne der Rezeptionsästhetik, zur frühesten Schilderung der Nutzung der ‚Mikwe‘ durch eine Frau.98 Ob und in welcher Weise Frauen zur Zeit Davids oder noch des Ersten Tempels tatsächlich ein Reinigungsritual vollzogen, lässt sich historisch jedoch nicht mit ausreichender Sicherheit rekonstruieren. Möglicherweise muss man auch mit Praktiken rechnen, die von dem heute üblichen vollständigen Untertauchen stark abweichen, wie Hayah Katz in ihrer Untersuchung von archäologischen Spuren aus der Zeit argumentiert. Katz’ These, wonach in jedem Privathaus ein Übergießen oder Besprenkeln des Körpers mit Wasser stattfinden (und so von König David beobachtet werden) konnte, gründet sich im Wesentlichen auf zwei Punkte:99 1) Die Tatsache, dass archäologische Grabungen keine für das Untertauchen geeigneten Badanlagen aus dieser Epoche zutage gefördert haben. 2) Den Umstand, dass im Pentateuch nur an wenigen Stellen und für ganz bestimmte Bestandteile des Reinigungsrituals explizit ‚lebendiges (Quell-)Wasser‘ vorgeschrieben sei: Sowohl bei der Reinigung von Leprakranken als auch nach Berührung von Toten werde in einem ersten Schritt lebendiges Wasser aus einem Gefäß auf die Person gesprenkelt, erst anschließend finde ein Waschen in nicht weiter spezifiziertem Wasser statt. Lediglich für den saw, einen Mann mit krankhaftem Ausfluss aus dem Geschlechtsorgan, sei das vollständige Untertauchen in lebendigem Wasser vorgeschrieben. Aus den Vorschriften für Verunreinigung infolge von Lepra oder Kontakt mit Toten folgert sie nun, dass auch in Fällen von gewöhnlichen Verunreinigungen ein Untertauchen in lebendigem Wasser nicht unbedingt erforderlich war; vielmehr habe man sich an normalen Waschgewohnheiten orientiert und sich deshalb, in Abhängigkeit von den lokalen Gegebenheiten (Vorhandensein natürlicher Quellen), sehr häufig auf das Übergießen des Körpers mit Wasser beschränkt. Allerdings beruht Katz’ Argumentation auch auf der stillschweigenden Annahme, dass es sich bei dem beobachteten Bad Batsebas tatsächlich um die rituelle Reinigung handelt,
98 Lediglich in dem apokryphen Buch Judit wird ebenfalls von einem Reinigungsbad berichtet, in diesem Fall ist explizit von einer Quelle die Rede, vgl. Judit 12,7–9: „So blieb sie [Judit] drei Tage lang im Lager und ging jede Nacht in das Tal von Betylua und nahm ihre Abwaschungen im Lager an der Wasserquelle vor. Wenn sie dann (aus dem Wasser) hinausgestiegen war, bat sie den Herrn, den Gott Israels, er möge ihr den Weg zur Rettung ihrer Volksgenossen bahnen. So kehrte sie rein zurück und blieb in ihrem Zelte, bis sie gegen Abend ihre Speise zu sich nahm.“; zitiert nach: Menge-Bibel, unpag. Vgl. hierzu auch die knappe Anmerkung bei Hayah Katz, „He shall bathe in water“, S. 380 (Anm. 36), sowie Adler, „Hellenistic Origins“, S. 4. 99 Siehe hierfür und im Folgenden Hayah Katz, „He shall bathe in water“, S. 376–380.
Der religionsgesetzliche Hintergrund
nicht um ein einfaches Waschen zum Zweck der Körperpflege.100 Wäre letzteres der Fall, so ließe sich aus dieser Episode nichts weiter über Ort und Praxis der rituellen Reinigung einer nidda ableiten, und für die von ihr vermutete Methode des Besprenkelns fehlte nach wie vor jeglicher Hinweis. Das Nichtvorhandensein entsprechender Badeeinrichtungen innerhalb der Städte in dieser Zeit würde dann vielmehr einen anderen Schluss nahelegen, nämlich den von Ronny Reich in seiner grundlegenden Arbeit zu Mikwen in Israel ab der Zeit des Zweiten Tempels vertretenen Standpunkt: Demnach wurde ein Reinigungsritual bei alltäglichen Verunreinigungen bis in die Zeit des Ersten Tempels noch nicht strikt beachtet; wurde es praktiziert, dann ausschließlich in Quellen bzw. natürlichen Wasserläufen außerhalb des Stadtgebiets.101 Erst für die Zeit des Zweiten Tempels von ca. 100 v.d.Z. bis zu dessen Zerstörung im Jahr 70 n.d.Z. liefert die Archäologie zahlreiche Hinweise auf Aussehen und Nutzung von Mikwen. Zu den ältesten im biblischen Land Israel erhaltenen Mikwen, die noch aus der Zeit vor Zerstörung des Tempels stammen, zählen unter anderem die Anlagen in Masada, in Gamla (Golanhöhen) und auf dem Herodion südlich von Jerusalem.102 Das erste Jahrhundert n.d.Z. scheint der früheste Höhepunkt der Nutzung von Mikwen der Art zu sein, wie wir sie heute noch kennen, d. h. von speziell für das rituelle Untertauchen errichteten Anlagen; diese sind besonders zahlreich in Privathäusern in und um Jerusalem.103 Ein regelrechter Reinheits-Boom scheint sich hierin zu manifestieren, der nach Shimon Gibson möglicherweise bereits An-
100 Ebd., S. 377. Darüber hinaus wird auch die Frage der Entstehung des Buches in keiner Weise angesprochen und damit die Möglichkeit außer Acht gelassen, dass es sich bei dem Hinweis auf die rituelle Reinigung Batsebas um die literarische Aussage einer wesentlich späteren Epoche handelt. 101 Vgl. ebd., S. 370f, wo Reichs These kurz zusammengefasst ist (Ronny Reich, Miqwa’ot (Jewish Ritual Immmersion Baths) in Eretz Israel in the Second Temple and Mishnaic and Talmudic Periods, Diss., Hebrew University Jerusalem 1990 [hebr.]). 102 Zu diesen frühesten Mikwen sowie weiteren antiken Anlagen siehe Künzl, „Antike Mikwen“, S. 11. Vgl. ebenso Adler, „Hellenistic Origins“, S. 7–10, und seine Annahme, dass die Entstehung der ersten Mikwenanlagen (spätestens zwischen 100 und 50 v.d.Z.) auf Einflüsse aus der hellenistischen Badekultur zurückzuführen ist. Nach Adlers Theorie hat sich die Praxis des jüdischen Tauchbads möglicherweise in drei Schritten entwickelt, nämlich: (1) Übergang vom einfachen Waschen zum Bad, sodann (2) vollständiges Untertauchen in einer eigens hierfür erbauten Mikwe („ritualization“), schließlich (3) Verbot des Übergießens mit (typischerweise warmem) Wasser, wie es im griechischen Sitzbad üblich war. Das rabbinische Verbot von ‚geschöpftem‘ Wasser wäre demnach als „hyper-ritualization“ zu verstehen, d. h. als weitere Abgrenzung des neu geschaffenen Rituals des Untertauchens vom profanen Bad (ebd., S. 15–19). Dem lässt sich hinzufügen, dass ein solcher Ursprung der Mikwe vielleicht sogar einen weiteren Erklärungsansatz für die Frage liefert, warum nicht nur geschöpftes Wasser verboten ist, sondern mitunter auch die Erwärmung des Mikwenwassers als problematisch angesehen wurde. 103 Gibson, in: Baskin/Gibson/Kotlar, „Mikveh“, S. 228f.
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zeichen einer inneren Revolte gegen die römische Fremdherrschaft trägt.104 Die wohl bekannteste ‚öffentliche Mikwe‘ stellt hingegen der Siloah-Teich südöstlich des Tempelbergs in Jerusalem dar, der vermutlich dazu diente, großen Pilgerscharen zur Zeit der Wallfahrtsfeste die rituelle Reinigung zu ermöglichen.105 Man kann davon ausgehen, dass die überaus vielfältigen und komplexen Vorschriften für Bau und Nutzung von Mikwen, die erstmals innerhalb der Mischna im Traktat Mikwa’ot 106 um 200 n.d.Z. schriftlich fixiert wurden, in diesen frühen Anlagen noch kaum Anwendung fanden; vielmehr scheinen diese Normen bis zu einem gewissen Grad lediglich „rabbinischen Idealismus“107 widerzuspiegeln. Nichtsdestotrotz folgen auch diese einfachen Mikwen bereits bestimmten Prinzipien, die sich indirekt aus dem Pentateuch herleiten lassen und ihren Niederschlag in der mündlichen Lehre gefunden haben. Verschiedene Arten von Wasser
Für das rituelle Untertauchen stehen zwei prinzipiell verschiedene Arten von Wasser zur Verfügung, nämlich das Wasser einer Quelle, ma‘ajan ()מעין, und Regenwasser, das sich auf natürliche Weise gesammelt hat; im eigentlichen, ursprünglichen, Sinn handelt es sich nur bei einer solchen Ansammlung ( )מקוהvon Regenwasser um eine ‚Mikwe‘. Den höchsten Grad der Reinheit erzielt gemäß der Mischna hingegen reines Quellwasser aus einem ma‘ajan;108 nur dieses ist in der Lage, den männlichen saw von seiner Unreinheit zu reinigen: , אבל הזבה ושאר הטמאין.(הזב אין לו טהרה אלא במעין שהרי נאמר בו במים חיים )שם ]ויקרא[ טו יג . טובלין אף במקוה,בין אדם בין כלים
Der saw kann einzig und allein in einer Quelle rein werden, von ihm wird gesagt „in lebendigem Wasser“ (Lev 15,13); aber die sawa und alle übrigen Unreinen, sowohl Menschen als auch Gerätschaften, tauchen auch in einer Mikwe unter.109
104 Ebd., S. 229. 105 Ebd., S. 227; Avi-Yonah/Gibson, „Shiloah, Siloam“, S. 447f. Avi-Yonah/Gibson weisen darauf hin, dass es neben der bekannten Darstellung im Johannes-Evangelium über die Heilung eines Blinden im Teich von Siloah (Joh 9,7–11) noch ein weiteres, nicht-kanonisches Fragment eines Evangeliums gibt, das ein rituelles Untertauchen im ‚David-Teich‘, vermutlich der Siloah-Teich, beschreibt. 106 Für den Text des Traktats inklusive deutscher Übersetzung siehe Hoffmann/Cohn/Auerbach (Hgg.), Mischnajot, Bd. 6, S. 444–503. Die Einleitung von John Cohn bietet eine knappe Übersicht der wichtigsten Vorschriften für Mikwen. 107 Gibson in: Baskin/Gibson/Kotlar, „Mikveh“, S. 229. 108 mMiqw 1,8. 109 Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 1,5 (1,5).
Der religionsgesetzliche Hintergrund
Für die seit der Tempelzerstörung im Jahr 70 n.d.Z. einzig noch zum Untertauchen verpflichtete nidda eignen sich somit sowohl Mikwen auf Quellwasserbasis wie auch solche aus angefallenem Regenwasser. Worauf gründet sich aber überhaupt die Vorschrift, dass ein Tauchbad entweder in einer Quelle oder einer (Regenwasser-) Mikwe geschehen muss? Hier ist zum einen die bereits in obigem Zitat aus Hilchot Mikwa’ot genannte Stelle Lev 15,13 zu nennen, wonach der saw sich in majim chajjim ()מים חיים, wörtlich „lebendigem Wasser“ reinigen muss; dieses wird als frisches, d. h. unverdorbenes und unablässig aus einer Quelle sprudelndes Wasser interpretiert.110 Als Quelle, ma‘ajan, werden sodann im weiteren Sinn auch Bäche und Flüsse angesehen, die ja durch Zufluss aus einer oder mehreren Quellen entstehen;111 das Meer und Seen gelten hingegen als Ansammlung.112 Zum anderen leitet sich die Vorschrift für das Wasser eines Tauchbads aus einem weiteren Abschnitt des biblischen „Kult-Handbuches“ ab, Leviticus 11, in dem es um reine (für den Verzehr geeignete) und unreine Tiere geht. Auch das Aas der unreinen Tiere verunreinigt alles, was es berührt, seien es Menschen oder Gegenstände, etwa ein Gefäß, in das ein solches totes Tier fällt – mit folgender Ausnahme: „Doch eine Quelle oder eine Grube, in der sich Wasser angesammelt hat, bleibt rein.“113 (Lev 11,36). Der hebräische Text verwendet hier die Begriffe ma‘ajan ( )מעיןund bor mikwe-majim (מקוה־מים )ובור, d. h. eine Zisterne, allgemein auch Grube114 , in der sich Wasser sammelt. Dies wird so verstanden, dass sich auch das Regenwasser auf natürliche Weise gesammelt haben muss und nicht mit Hilfe von Gefäßen in die Mikwe transportiert wurde; auch dieses bewahrt somit, wie das Wasser einer Quelle, gewissermaßen seinen ursprünglichen, natürlichen (Schöpfungs-) Zustand.115 Prinzipiell verboten ist nach Auffassung der Rabbinen sämtliches von Menschenhand hinzugefügtes, so genanntes geschöpftes Wasser116 110 Siehe mMiqw 1,8 und 5,4, hierzu auch Anm. 39 in Hoffmann/Cohn/Auerbach (Hgg.), Mischnajot, Bd. 6, S. 469. 111 Für die Problematik bei dieser Klassifizierung siehe Kapitel 3.2.2. 112 Siehe mMiqw 5,4 und den Kommentar hierzu in Hoffmann/Cohn/Auerbach (Hgg.), Mischnajot, Bd. 6, S. 469 (Anm. 34). Folglich eignet sich das Meer unter anderem nicht zur Reinigung eines saw, siehe mMiqw 5,4 und Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 9,15 (9,12). Nichtsdestotrotz gelten ansonsten die Regeln für Quellen, d. h. das Wasser muss nicht stillstehen, vgl. auch SchA, Jore de‘a 201,5. 113 Pentateuch, Übersetzung von Wohlgemuth und Bleichrode, S. 24. 114 Siehe Gesenius, Handwörterbuch, unter ‚‘בור. 115 Vgl. Pollak, „Die Rabb.-Vers. (Beschluß)“, S. 183. 116 Maimonides schreibt, dass rein biblisch jegliches Wasser, das sich angesammelt hat, zum Untertauchen geeignet ist, vorausgesetzt die nötige Menge ist vorhanden; nach Auffassung der Rabbinen ist jedoch geschöpftes Wasser verboten, was durch Analogieschluss ebenfalls biblisch begründet wird: „Obwohl die Untauglichkeit von geschöpftem Wasser auf den Worten der rabbinischen Gelehrten beruht, lehrten sie dies als Analogieschluss, denn es heißt ‚Doch eine Quelle oder eine Grube, in der sich Wasser ansammelt, bleibt rein‘ (Lev 11,36).“ Siehe Mose ben Maimon, Sefer mischne
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(menschliche Einwirkung ist jedoch in einem gewissen Rahmen gestattet, hierzu weiter unten). Für beide Arten von Mikwen, solche auf Quellwasser- und solche auf Regenwasserbasis, gelten verschiedene Vorschriften hinsichtlich ihrer Anlage. Ein wesentlicher Unterschied leitet sich schon von den Begriffen selbst her: ‚Lebendiges Wasser‘ aus einer Quelle ist (gewöhnlich) in Bewegung, eine Ansammlung von Regenwasser hingegen darf nicht fließen, sondern muss stehen – und diese aschboren genannte Grube entsprechend abgedichtet sein (z. B. mit einer Kalkschicht), um ein Lecken zu verhindern, andernfalls wäre sie untauglich für das rituelle Untertauchen.117 Die Frage des Mindestvolumens
Der zweite grundlegende Unterschied zwischen ma‘ajan und Regenwasser-Mikwe bezieht sich auf die für das rituelle Untertauchen nötige Wassermenge. Beide, sowohl Quelle als auch Regenwasser-Mikwe, müssen ein bestimmtes Mindestmaß an Wasser enthalten, nämlich so viel, dass ein Mensch vollständig darin untertauchen kann.118 Von rabbinischen Gelehrten wurde die hierfür nötige Wassermenge zusätzlich genau festgelegt; sie wird mit 40 se’a angenommen, was einem Volumen von drei Kubik-ama (‚Ellen‘) entspricht (jeweils ein ama in der Fläche und drei ama in der Höhe).119 Das genaue Volumen der beiden antiken Maßeinheiten ist nicht bekannt,120 und entsprechend schwanken die Angaben für die gültige Wassermenge einer Mikwe in der modernen Literatur zwischen knapp 300 und 1.000 Litern. Hanna Liss nennt beispielsweise 268,5 Liter, was das kleinste vermutete Mindestmaß darstellen dürfte.121 Bashan u. a. in der 2. Auflage der Encyclopaedia Judaica geben für ein se’a nach einer weithin akzeptierten Berechnung 7,3 Liter an;122 demnach würde eine Mikwe mit 40 se’a ca. 292 Liter fassen. Im Midrasch Numeri Rabba (Parascha XVIII), der traditionellen allegorischen Deutung des 4. Buches Moses, wird ein
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118 119 120 121 122
tora, Hilchot mikwot 4,1–3 (4,1f); Übersetzung von Lev 11,36 nach Pentateuch, Übersetzung von Wohlgemuth und Bleichrode, S. 24. Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 9,8 (9,8); SchA, Jore de‘a 201,2; für den Begriff aschboren vgl. SchA, Jore de‘a 201,2: „eine tiefe Stelle, an der sich das Wasser sammelt“. Für eine knappe Zusammenfassung verschiedener rabbinischer Ansichten, wann Wasser in einer Mikwe als ‚fließend‘ gilt, siehe Jachter, „Mikvaot Part 2“, unpag. bEr 4b u.ö.; Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 4,1 (4,1). bYom 31a; bChag 11a; bEr 4b; bPes 109a–b; Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 4,1 (4,1) und 9,8 (9,8); SchA, Jore de‘a 201,1. Für biblische und allgemein antike Maßeinheiten siehe Bashan u. a., „Weights and Measures“, S. 700–709. Liss, TANACH, S. 117; dies., „Patterns“, S. 272. Bashan u. a., „Weights and Measures“, S. 702.
Der religionsgesetzliche Hintergrund
se’a als das Volumen von 144 Eiern angegeben.123 Nimmt man als Maßstab ein heutiges Hühnerei, so lägen 40 se’a demnach ebenfalls in dieser Größenordnung (knapp 300 Liter bei einem Ei mit 50 cm3 Volumen bis etwa 400 Liter bei 70 cm3 ). Andere Quellen deuten auf ein abweichendes Maß hin. Ein in Qumran gefundenes Gefäß mit einem Volumen von 35,65 Liter trägt die Aufschrift „2 se’a und 7 log“ (ein log ist ein relativ kleines Hohlmaß, möglicherweise ca. 0,3 Liter).124 Errechnet man auf dieser historisch ebenfalls plausiblen Basis das nötige Wasservolumen für eine Mikwe, so erhält man 713 Liter (35,65 Liter mal 20), wovon noch 140 log abzuziehen sind; bei einem angenommenen Maß von 0,3 Liter für ein log erhielte man somit ca. 671 Liter als Entsprechung von 40 se’a. Da die Frage des genauen Maßes nicht mit genügender Sicherheit beantwortet werden kann, werden beim Bau moderner Mikwen 40 se’a nach gängiger Praxis mit 1.000 Litern gleichgesetzt, um so eine unbeabsichtigte Gebotsübertretung zu vermeiden.125 Mikwen aus früheren Jahrhunderten fassten jedoch häufig nur eine kleinere Wassermenge (hierzu ausführlicher Kapitel 3.2.1). Auch hinsichtlich der Notwendigkeit der Mindestmenge von 40 se’a gibt es unterschiedliche Auffassungen. Maimonides bezieht diese Vorschrift allein auf eine Regenwasser-Mikwe:126 […] המקוה אינו מטהר אלא בארבעים סאה והמעין מטהר בכל שהוא,מה בין מעין למקוה
Wie unterscheiden sich Quelle und Mikwe: Die Mikwe reinigt nur dann, wenn sie 40 se’a fasst, die Quelle hingegen reinigt so, wie sie ist.127
In den bis heute maßgeblichen Vorschriften des Schulchan Aruch hat sich hingegen eine strengere Auslegung durchgesetzt, die direkt zu Beginn des betreffenden Kapitels über die Vorschriften zur Mikwe (Jore de‘a 201) wiedergegeben wird; demnach
123 Siehe Wünsche (Hg.), Bibliotheca Rabbinica, Bd. 4, S. 453. Ebenso Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 3, S. 52. Genaugenommen bezieht man sich auf das Gewicht des Eies, das man aber der Einfachheit halber mit dem Volumen gleichsetzen kann (hierzu genauer Kapitel 3.2.1). 124 Vgl. Bashan u. a., „Weights and Measures“, S. 702f. 125 Für die moderne Praxis vgl. Jachter, „Mikvaot Part 2“, unpag. 126 Auch der international als Fachmann für den Neubau von Mikwen anerkannte Rabbiner Meir Posen führt in dem Begleitband zur Ausstellung Mikwe des Jüdischen Museums der Stadt Frankfurt am Main 1992 diese Meinung an (Posen, „Mikwe“, S. 2 und 4). Er bezieht sich hierin auf das Werk des im 12. Jahrhundert lebenden provencalischen Gelehrten Abraham ben Dawid von Posquières, Sefer ba‘ale ha-nefesch, das die Vorschriften für die nidda behandelt; siehe Abraham ben Dawid, Ba‘ale ha-nefesch, Scha‘ar ha-majim, S. 85. 127 Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 9,8 (9,8).
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Teil A: Zur Tradition des jüdischen Ritualbads
gilt die Mindestmenge von 40 se’a nicht nur für eine Regenwasser-Mikwe, sondern ebenso für eine Quelle: אין האשה עולה מטומאתה ]…[ עד שתטבול כל גופה בבת אחת במי מקוה או מעיין שיש בהם ארבעים סאה
Die Frau erhebt sich nicht von ihrer Unreinheit […], bis sie ihren ganzen Körper auf einmal im Wasser einer Mikwe oder einer Quelle, die 40 se’a enthalten, untergetaucht hat.128 Das Verbot von ‚geschöpftem Wasser‘
Darüber hinaus ist nach rabbinischer Auslegung so genanntes ‚geschöpftes Wasser‘ (שאובין )מיםverboten.129 Jedoch darf man unter Beachtung bestimmter Regeln dem ursprünglich vorhandenen Wasser auch geschöpftes Wasser hinzufügen, d. h. Wasser, das mit Hilfe von ‚Gefäßen‘ bzw. von Menschenhand in das Becken transportiert wird. Enthält eine Mikwe bereits die vorgeschriebenen 40 se’a koscheren, d. h. für das Untertauchen geeigneten Wassers, so kann nach Belieben jegliches Wasser hinzu gegossen werden – egal wie viel, die Mikwe bleibt in diesem Fall koscher; andernfalls, bei weniger als 40 se’a, bewirkt sogar die kleine Menge von drei log geschöpftem Wasser, dass die Mikwe passul ist, d. h. ‚ungeeignet‘ für das rituelle Untertauchen – sogar dann, wenn anschließend die fehlende Menge durch koscheres Wasser ergänzt würde.130 Auch mehr als 20 se’a koscheren Wassers können schon ausreichen, um eine taugliche Mikwe herzustellen. Um dies zu erreichen, darf das zusätzliche, geschöpfte Wasser jedoch nicht direkt in die Mikwe gegossen werden, sondern muss in einigem Abstand über den Boden geleitet werden und auf diese Weise in die Mikwe fließen; diese Methode nennt man hamschacha ()המשכה. Nach mehrheitlicher Auffassungen ist eine Quelle hinsichtlich des Zugebens von geschöpftem Wasser weniger problematisch, da sie hierdurch in keinem Fall untaug-
128 SchA, Jore de‘a 201,1. 129 Vgl. SchA, Jore de‘a 201,3 und Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 4,2f (4,2). Ob das Verbot geschöpften Wassers biblisch oder rabbinisch ist, hängt nach Moses Isserles (SchA, Jore de‘a 201,3) von der vorhandenen Menge koscheren Wassers ab: Ist die größere Menge koscheres Wasser, so ist das Verbot lediglich rabbinisch, eine ausschließlich aus geschöpftem Wasser bestehende Mikwe hingegen ist auch gemäß der Tora verboten. Für eine kurze Zusammenfassung abweichender Ansichten siehe Jachter, „Mikvaot Part 3“, unpag.; siehe auch Anm. 116 zu geschöpftem Wasser. 130 Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 4,10 (4,6).
Der religionsgesetzliche Hintergrund
lich wird;131 in seinem Kommentar zum Schulchan Aruch weist R. Moses Isserles jedoch darauf hin, dass sich aus Rücksicht auf die gegenteilige Meinung in der aschkenasischen Praxis die strengere Ansicht etabliert hat, wonach geschöpftes Wasser sogar eine Quelle untauglich machen kann.132 Als ‚geschöpft‘ gilt sämtliches Wasser, das von einem Menschen ‚transportiert‘ wurde,133 das über ein Gefäß gelaufen ist oder sich in einem Gefäß gesammelt hat, das für das Aufnehmen einer Flüssigkeit bestimmt war.134 Dies betrifft in gleichem Maße das Zufügen von zusätzlichem Wasser zu einem Tauchbecken wie auch den Bau des Beckens selbst. Auch dieses darf kein Gefäß sein,135 also nicht vorgefertigt und dann in die Erde eingelassen sein.
2.4
Besondere Methoden beim Bau einer Mikwe: hamschacha, haschaka und sri‘a
Da Regenwasser besonders im biblischen Land Israel, Erez Israel, und angrenzenden Gebieten nicht immer in ausreichendem Maß zur Verfügung steht, wurden bereits in der Antike Methoden erörtert, wie eine taugliche Mikwe selbst mit wenig koscherem Wasser hergestellt werden kann. Die Mischna deutet in dem Traktat Mikwa’ot drei solcher Möglichkeiten an, wie gewöhnliches, d. h. geschöpftes Wasser, in Verbindung mit dem koscheren Wasser einer Mikwe ebenfalls für das rituelle Untertauchen tauglich wird. Im Talmud und späteren rabbinischen Schriften werden diese dann ausführlicher erörtert. hamschacha
Nach der oben bereits genannten Methode der hamschacha ()המשכה136 wird eine Regenwasser-Mikwe, die mehr als die halbe Mindestmenge koscheren Wassers (21 se’a) enthält, mit geschöpftem Wasser aufgefüllt, und zwar in der Weise, dass das Wasser über den Boden in das Tauchbecken fließen muss; auch die Zuleitung über
131 Isserles in SchA, Jore de‘a 201,40; vgl. für diese Auffassung auch Posen, „Mikwe“, S. 4. Die Mischna lässt für das rituelle Untertauchen ebenfalls eine Quelle zu, die „wenig Wasser enthält und zu der man mehr geschöpftes Wasser (als sie enthält) hinzugegossen hat“, jedoch gilt für sie dann die Regel einer Regenwasser-Mikwe, dass das Wasser stehen muss und nicht mehr fließen darf (aschboren), siehe mMiqw 1,7; Übersetzung nach Hoffmann/Cohn/Auerbach (Hgg.), Mischnajot, Bd. 6, S. 451. 132 SchA, Jore de‘a 201,40. 133 Ebd. 201,39f. 134 Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 4,3–9 (4,2–5) und 6,1–4 (6,1–4); SchA, Jore de‘a 201,8. 135 SchA, Jore de‘a, 201,6f. 136 Der Begriff leitet sich ab von der Wurzel ( משךmaschach), ‚ziehen‘.
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Teil A: Zur Tradition des jüdischen Ritualbads
spezielle Röhren ist möglich.137 Hinsichtlich der Frage, ob dabei eine bestimmte Mindeststrecke zurückgelegt werden muss und wie groß diese ist, existieren verschiedene Meinungen; teilweise wird dieser Mindestabstand mit drei Handbreit angesetzt.138 Zudem muss nach manchen Auffassungen der Boden porös sein, also Wasser aufnehmen können. Diese strengere Regelung befürwortet unter anderem Moses Isserles in seinen Anmerkungen zum Schulchan Aruch.139 Offensichtlich gab es auch bestimmte rabbinische Autoritäten, die sogar ein Tauchbad als rituell tauglich anerkannten, das einzig und allein mit Hilfe der hamschacha-Methode bereitet wurde, somit völlig aus ursprünglich geschöpftem Wasser besteht. Maimonides, der von dieser extremen Ansicht berichtet, verwirft sie jedoch sogleich wieder: Es handele sich hier um die Auffassung „einiger weniger Weiser des Westens“, und man habe noch nie davon gehört, dass dies tatsächlich auch praktiziert worden sei.140 Prinzipiell wäre eine solche von der gängigen Norm abweichende Praxis in den Gemeinden von Aschkenas durchaus vorstellbar, da insbesondere im Gebiet des Alten Reiches bereits im 12. Jahrhundert eine Vielfalt an lokalen Bräuchen (minhagim, Sg. minhag) vorhanden war, die in der Folgezeit in den so genannten Minhagim-Büchern ihren Niederschlag fanden.141 Die Tatsache, dass sich diese ‚Spur‘ offenbar verliert, scheint jedoch eher darauf hinzuweisen, dass Maimonides nicht nur aufgrund der räumlichen Entfernung seines Wirkungsortes Fustat (Kairo) keine Gemeinde(n) kennt, die nach dieser Methode verfahren – vermutlich war diese Ansicht wirklich nur Stoff für Diskussionen unter wenigen Gelehrten, oder sie blieb zumindest ohne sichtbare Außenwirkung. Nichtsdestotrotz wird das Verbot eines Tauchbads, das nur mit Hilfe von hamschacha-Wasser bereitet wurde, sowohl in den Tosafot142 als auch von vielen nachmittelalterlichen Autoritäten als lediglich rabbinisches Verbot betrachtet;143 anders als bei einem biblischen Verbot, das wesentlich strenger beachtet werden muss, kann in einem diesbezüglichen Zweifelsfall nachsichtig entschieden werden. Moderne Mikwenanlagen machen
137 Siehe bTem 12a–b; Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 4,14 (4,8); SchA, Jore de‘a 201,44; vgl. auch mMiqw 2,7 sowie die Anmerkungen von Hoffmann/Cohn/Auerbach (Hgg.), Mischnajot, Bd. 6, S. 455. 138 SchA, Jore de‘a 201,45; für eine kurze Zusammenfassung der verschiedenen Standpunkte, auch bezüglich der Beschaffenheit des Bodens, vgl. Jachter, „Mikvaot Part 3“, unpag. 139 SchA, Jore de‘a 201,46. 140 Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 4,16 (4,9). Diese Stelle wird auch in Kapitel 6.2.1 noch thematisiert. 141 Vgl. hierzu Ta-Shma/Klein/Roth, „Minhagim Books“, S. 278f. 142 Tosafot sind mittelalterliche Kommentare zum Talmud, die in der Auseinandersetzung mit Raschis Auslegung entstanden, siehe Ta-Shma, „Tosafot“, S. 67–70. Vgl. auch Anm. 159 zu Tosafisten in Kapitel 3. 143 Siehe Jachter, „Mikvaot Part 3“, unpag.
Der religionsgesetzliche Hintergrund
sich diesen Umstand häufig zunutze, indem sämtliches (koscheres) Wasser auf seinem letzten Wegstück mittels hamschacha in das Tauchbecken gelangt und somit im Falle einer ‚Panne‘ schlimmstenfalls rabbinisch, nicht aber gemäß der Tora als untauglich gilt.144 haschaka
Eine zweite, für den Bau heutiger Mikwen ebenfalls unerlässliche Methode, ist die der Verbindung, wörtlich ‚Berührung‘,145 zweier nebeneinander liegender Wasserbecken, haschaka ( )השקהgenannt. Berührt sich das Wasser des einen Beckens auf vorgeschriebene Weise mit dem des zweiten Beckens, so gelten beide gewissermaßen als eine Mikwe. Auf diese Weise genügt es, dass das eine Becken mit 40 se’a koscherem Wasser gefüllt ist, während das andere gewöhnliches Leitungswasser enthält – denn einer tauglichen Mikwe mit 40 se’a Wasser darf, wie beschrieben, beliebig viel gewöhnliches Wasser hinzugefügt werden, ohne dass die Mikwe dadurch passul würde. Nur das Becken mit Leitungswasser wird zum rituellen Untertauchen genutzt; und da dieses Wasser weniger kostbar ist, kann es beliebig oft durch frisches Wasser ersetzt werden und so ein auch aus heutiger Sicht ausreichendes Maß an Hygiene gewährleisten.146 Hinsichtlich der genauen Details der Verbindung zwischen den Becken gehen auch hier die Meinungen auseinander. Die Mischna nennt als Maß für die Verbindung ein Schlauchrohr (הנוד )שפופרת, in dem zwei Finger ausreichend Platz finden.147 Nicht nur das Maß selbst ist umstritten, auch die Frage, ob die Verbindung beim Untertauchen noch bestehen muss, oder ob eine einmalige Berührung des Wassers beider Becken ausreicht.148 Im 19. Jahrhundert, als verstärkt nach modernen technischen Lösungen für einen höheren Komfort gesucht wurde, war diese Fragestellung erneut von Bedeutung; hierauf soll in Kapitel 6.2.2 noch eingegangen werden. Die meisten modernen Mikwen folgen der strengeren Auffassung, wonach die Verbindung auch während des Untertauchens bestehen muss; hier findet sich ein Verbindungsloch von mindestens 5 cm Durchmesser direkt unterhalb der Wasseroberfläche.149 Ein Beispiel für ein innovatives 144 Ebd. 145 Die Bezeichnung der Methode als haschaka geht auf das Verb ( נשקnaschak), ‚berühren; küssen‘, zurück; zur rabbinischen Deutung des Begriffs siehe Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 1, S. 13. 146 Für weitere Details siehe Jachter, „Mikvaot Part 3“, unpag. 147 mMiqw 6,7. Der Begriff הנוד שפופרתbezeichnet nach Jastrows Wörterbuch das Mundstück einer Lederflasche. Ich wähle hier und anderswo die Übertragung nach John Cohn, der dies mit ‚Schlauchrohr‘ übersetzt, d. h. „Ein Rohr, das man in die Oeffnung eines Schlauches hineinsetzt, wenn man ihn füllen will.“; siehe Hoffmann/Cohn/Auerbach (Hgg.), Mischnajot, Bd. 6, S. 476; Jastrow, Dictionary, unter ‚‘שפופרת. 148 Zu den verschiedenen Lehrmeinungen sowie der heutigen Praxis vgl. Jachter, „Mikvaot Part 3“, unpag. 149 Vgl. Posen, „Mikwe“, S. 5.
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Teil A: Zur Tradition des jüdischen Ritualbads
Verfahren dieser Art ist die so genannte Lubawitscher Mikwe, die auf den fünften Lubawitscher Rebbe Schalom Dow Bär Schneersohn (1860–1920) zurückgeht.150 Bei diesem Mikwentyp, nach dem die Anhänger der Chabad-Lubawitsch-Bewegung bis heute weltweit Ritualbäder bauen, wird der Regenwasser-Tank (bor haschaka) nicht wie gewöhnlich neben, sondern unter dem Tauchbecken angebracht; da das erwärmte Leitungswasser eine geringere Dichte aufweist als das kalte Regenwasser, ist bei dieser Konstruktion die Gefahr geringer, dass der Regenwasser-Tank, das koschere ‚Herz‘ der Mikwe, sich allmählich mit Leitungswasser auffüllt und dadurch untauglich wird.151 Als eine Vorsichtsmaßnahme, die ‚doppelte Sicherheit‘ gewährleistet, werden gewöhnlich sowohl das Leitungswasser als auch das koschere Regenwasser nach der Methode der hamschacha in die jeweiligen Becken geleitet, so auch bei der Lubawitscher Methode.152 sri‘a
Eine weitere Methode, die bei der Anlage moderner Mikwen verwendet wird, soll ebenfalls der Vollständigkeit halber erwähnt werden. Zwar wird auch diese Möglichkeit bereits in der Mischna beschrieben,153 jedoch spielt sie – anders als die beiden zuvor genannten Praktiken – in dem für die vorliegende Arbeit untersuchten Quellenmaterial zu Mikwen der Emanzipationsepoche so gut wie keine Rolle. Die hauptsächlichen Befürworter dieser als sri‘a ( )זריעהbezeichneten Methode waren nach Howard Jachter zwei bekannte Rabbiner und geachtete Vertreter der jüdischen Tradition bzw. Orthodoxie: der in Frankfurt am Main aufgewachsene Moses Sofer (1762–1839), auch Chatam Sofer genannt, der später hauptsächlich in Pressburg/Bratislava tätig war, und der ab 1933 in Bne Brak wirkende Avraham Jeschajahu Karelitz (1878–1953), bekannt als Chason Isch.154 Ihre Lehrmeinung, die ausschließlich die Methode der sri‘a zulässt und haschaka ablehnt, bestimmte nachhaltig den Mikwenbau im Königreich Ungarn bzw. in Palästina und später Israel. Andere Vertreter dieser Methode setzten das Verfahren ebenfalls in Verbindung mit haschaka ein.155 Das Prinzip der sri‘a-Methode, was so viel wie ‚Aussäen‘ bedeutet,
150 Jachter, „Mikvaot Part 5“, unpag. 151 Vgl. ebd. für weitere Details, sowie Y. Katz, Sefer Mikwe, Bd. 1, S. 53–98; für eine schematische Skizze siehe ebd., S. 55. 152 Vgl. Jachter, „Mikvaot Part 3“, unpag. 153 mMiqw 6,8. 154 Zu der Bedeutung von Chatam Sofer und Chason Isch für den Mikwenbau vgl. Jachter, „Mikvaot Part 4“, unpag., sowie ders., „Mikvaot Part 5“, unpag. Zu Leben und Wirken der beiden Rabbiner allgemein siehe Samet, „Sofer, Moses“, S. 742f; „Sofer, Moses“, in: BHR 1,1, S. 816–821; Hacohen/ Derovan, „Karelitz, Avraham Yeshayahu“, S. 805f. 155 Vgl. hierfür die knappe Zusammenstellung bei Jachter, „Mikvaot Part 5“, unpag.
Der religionsgesetzliche Hintergrund
besteht darin, eine koschere Mikwe zum Überlaufen zu bringen, indem geschöpftes Wasser hinzugefügt (‚ausgesät‘) wird. Auch das auf diese Weise in ein zweites (völlig leeres) Becken überlaufende Wasser bildet in Folge eine taugliche Mikwe, sobald sich 40 se’a angesammelt haben.156 Von den halachischen Problemen, die in diesem Fall zu entscheiden sind und zahlreiche Diskussionen herausfordern, soll nur beispielhaft eines genannt werden: Wie kann eine solche Regenwasser-Mikwe koscher sein, da das Wasser per definitionem doch stehen muss, hier während des Vorgangs der sri‘a jedoch in Bewegung ist?157 Alle drei genannten Methoden sind prinzipiell sowohl für Quellwasser als auch Regenwasser geeignet, bieten sich jedoch besonders für Regenwasser-Mikwen an, die im Gebiet des Alten Reiches vor dem 19. Jahrhundert vermutlich sehr selten waren. Erst mit der Modernisierung der Mikwen im Laufe des 19. Jahrhunderts gewannen diese Methoden vermehrt an Bedeutung, insbesondere deshalb, weil ein solcher Mikwentyp andere Möglichkeiten bot, das Wasser zu erwärmen oder regelmäßig auszutauschen, als eine Quellwasser-Mikwe. Die komplexe Systematik der Mischna und die hieraus abgeleiteten, bis heute andauernden rabbinischen Diskussionen, in welcher Weise auch geschöpftes Wasser zulässig ist, verweisen dabei sowohl auf ganz praktische Probleme bei der Herstellung einer koscheren Mikwe als auch die dahinter stehende Idee: Die Basis eines rituellen Tauchbads, egal ob Quelle oder Regenwasser-Mikwe, soll Wasser sein, das auf natürliche Weise, ohne menschliches Zutun, in das Becken gelangt ist. Nur solch ‚ursprüngliches‘ Wasser vermag den Menschen rituell zu reinigen.
156 Vgl. Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 4,11 (4,6). 157 Hierfür sowie für weitere Details und Probleme im Zusammenhang mit der Methode siehe Jachter, „Mikvaot Part 4“, unpag., und ders., „Mikvaot Part 5“, unpag.
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3.
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Für die jüdischen Gemeinden, die seit dem Mittelalter im deutschen Sprachraum existierten, war die Anlage einer tauglichen Mikwe zugleich eine fundamentale religiöse Pflicht und häufig keine leichte Aufgabe. Bereits die ältesten noch erhaltenen Anlagen, die aus dem 12. Jahrhundert stammenden Mikwen von Speyer, Köln und Worms,1 zeugen auf ihre Weise von der Ambivalenz zwischen der selbstbewussten Behauptung jüdischer Tradition in einer christlich geprägten Umwelt und den hiermit verbundenen Schwierigkeiten. In allen drei Fällen handelt es sich um imposante bautechnische Leistungen: tief in die Erde gegrabene und ausgemauerte Schächte mit Treppenanlagen, die zu einem Becken mit Grundwasser führen. Sowohl die bauliche Gesamtkonzeption als auch die Details der Anlagen, etwa die Gestaltung der Würfelkapitelle der Säulen im Vorraum der Mikwe von Speyer,2 lassen auf den hohen Stellenwert schließen, der dieser religiösen Pflicht beigemessen wurde; auch der Wohlstand der Gemeinde sowie deren Selbstbewusstsein dürften nicht unbedeutend gewesen sein, waren die Bauten doch freistehend und somit für jedermann sichtbar. Stephanie Fuchs und Annette Weber weisen in diesem Zusammenhang auf den Umstand hin, dass die genannten Monumentalmikwen vermutlich nicht zufällig gerade in den traditionsbewussten Gemeinden am Rhein entstanden. Möglicherweise manifestiert sich hierin zugleich der Einfluss der in diesem Raum im 12. und 13. Jahrhundert wirkenden Bewegung der Chasside Aschkenas, deren mystisch geprägtes Frömmigkeitsideal unter anderem dem Konzept ritueller Reinheit große Bedeutung zumaß,3 und die vor diesem Hintergrund auch die Kategorie Raum wieder neu bzw. verstärkt an der Unterscheidung ‚sakral‘–‚profan‘ ausrichtete, so Hanna Liss.4 Ausgeführt wurde die Arbeit an den Mikwen allerdings nicht von jüdischen, sondern von christlichen Steinmetzen und Bauleuten – Juden waren aufgrund des Zunftzwangs von den meisten handwerklichen Berufen ausgeschlossen.5
1 Speyer um 1110 bis 1120, Worms 1185/86, Köln um 1170; für eine Beschreibung der Mikwen einschließlich Datierung siehe Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 27–32. 2 Vgl. ebd., S. 29, sowie die Abbildungen im Katalogteil von Heuberger (Hg.), Mikwe, S. 131–143. 3 Fuchs/Weber, „Dort im Geklüft“, S. 30. Für die enorme Bedeutung der Mikwe, wie sie sich speziell auch im Sefer Chassidim widerspiegelt, siehe Weber, „Neue Monumente“, S. 59f. 4 Vgl. Liss, „Patterns“, S. 274. 5 In Speyer lässt sich sogar eine unmittelbare Verbindung zwischen den Baumeistern des Doms und der nicht weit entfernten Mikwe feststellen, vgl. Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 28, sowie den Katalogteil von Heuberger (Hg.), Mikwe, S. 133.
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Auch durften die Anlagen nur innerhalb des Judenviertels und somit in einiger Entfernung vom Rhein errichtet werden, was eine entsprechend größere Grabungstiefe nötig machte, um zum Grundwasser zu gelangen. In dem hier folgenden Kapitel soll ein knapper Überblick über Mikwen im Gebiet des Alten Reiches seit dem Mittelalter gegeben werden, wobei der Schwerpunkt der Betrachtung auf der inneren Einrichtung liegt. Insbesondere interessiert deren ‚technische‘ Ausstattung, d. h. die Anlage des Beckens und die hiermit verbundene Problematik der Erwärmung des Wassers. Hinsichtlich der äußeren Anlage und der handwerklich-künstlerischen Ausgestaltung, d. h. der bau- bzw. kunstgeschichtlichen Entwicklung, wird keine systematische oder vollständige Darstellung angestrebt; vielmehr dienen die genannten Beispiele lediglich dazu, diese exemplarisch nachzuvollziehen und dabei besonders die Situation im südwestdeutschen Raum (heutiges Baden-Württemberg) ab dem 18. Jahrhundert zu beleuchten.6 Ebenso möchte ich in diesem Zusammenhang einige zentrale Aspekte der Praxisseite skizzenhaft darstellen: Wie gestaltete sich das Untertauchen in einer Mikwe konkret, auf welche Weise war das religiöse Gebot in der Lebenswelt von Frauen vor der Moderne verankert, und welche Frömmigkeitsideale verband man hiermit?
3.1
Die äußere Anlage: Monumentalbauten und einfache Kellermikwen
Die von Hannelore Künzl als „Monumentalanlagen“ klassifizierten mittelalterlichen Mikwen lassen sich in zwei Typen unterteilen, die bis Ende des 13. Jahrhunderts, eventuell noch im frühen 14. Jahrhundert, nebeneinander entstanden; ein einheitlicher mittelalterlicher Mikwentyp hat sich nicht durchgesetzt.7 Die älteste erhaltene Mikwe ist die wahrscheinlich zwischen 1110 und 1120 entstandene romanische Anlage in Speyer. Hier führt zunächst eine lange gerade Treppenanlage mit Tonnengewölbe hinab zu einem kleinen Vorraum, dann gelangt man über eine weitere Treppe, die im Halbkreis verläuft, zu dem Badeschacht mit dem Tauchbecken. Von dem Vorraum aus, der nach Künzl möglicherweise als Umkleidemöglichkeit diente, kann man durch zwei offene Fenster direkt auf den Badeschacht blicken. Eine fast identische Anlage findet sich in Worms (1185/86). Der zweite Typ, für den die Mikwe von Köln (um 1170) das früheste bekannte Beispiel darstellt, unterscheidet sich grundlegend dadurch, dass die Treppe zum Tauchbecken ganz oder größtenteils innerhalb des Badeschachts, also an dessen vier Wänden entlang verläuft. Auch
6 Für detailliertere Darstellungen dieses Aspekts sei insbesondere auf die überregionalen Untersuchungen von Künzl, „Mikwen in Deutschland“, und Altaras, Synagogen, für Hessen verwiesen. Für einen sehr knappen Überblick siehe Künzl, „Die Mikwen“, S. 190–192. 7 Für den Begriff „Monumentalanlagen“ vgl. Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 25 und 34; für die Datierung und detaillierte bauliche Beschreibung der Mikwen vgl. ebd., S. 27–34.
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Abb. 1 Friedberg, Mikwe von 1260: Blick auf den Badeschacht
in Köln gibt es vor der Treppe, die zum Tauchbecken führt, noch einen unterhalb des Bodenniveaus gelegenen Vorraum. Die eindrucksvollste Anlage dieses Typs stellt zweifellos die um 1260 entstandene Mikwe von Friedberg (Hessen) dar, deren Badeschacht knapp 25 Meter tief in die Erde reicht und der in seiner gesamten Höhe von der Treppenanlage eingefasst ist (vgl. Abb. 1).8 Die Tauchbecken werden, wie es bei mittelalterlichen Mikwen die Regel ist, von Grundwasser gespeist.9 Da der Grundwasserspiegel im Laufe eines Jahres recht unterschiedlich sein kann, sind auch im Bereich des Beckens Stufen oder Absätze vorhanden, um so je nach Wasserhöhe ein geeignetes Bodenniveau zum Untertauchen zu schaffen. Während die Anlagen von Speyer und Worms in ihrer Bauart sehr ähnlich sind, weisen andere Mikwen, egal welchem Typ sie zuzuordnen sind, mehr oder weniger bedeutende bauliche Eigenheiten auf. Sämtliche Monumentalanlagen, zu denen noch Andernach unweit von Koblenz (Typ Köln, vermutlich noch 13. Jahrhundert) gehört, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie als „selbständige unterirdische Großanlagen“10 mit einem von außen sichtbaren Überbau geschaffen wurden. Die von Künzl 1992 noch als mittelalterlich eingeschätzte Mikwe von Offenburg im heutigen Baden-Württemberg (Typ Speyer, nach Künzl 13. oder sehr frühes 14. Jahrhun-
8 Zur Geschichte des Friedberger Ritualbads vgl. Altaras, Synagogen, S. 380–382. 9 Vgl. Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 26 und 31. 10 Ebd., S. 34.
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dert11 ) stammt nach neuesten Erkenntnissen von Monika Porsche aus dem 16. oder 17. Jahrhundert, wahrscheinlich aus der Zeit nach 1637, als sich Juden erneut in Offenburg niederließen.12 Daneben gab es immer auch einfachere Anlagen in Kellerräumen wie die erst vor einigen Jahren wiederentdeckte Erfurter Mikwe, deren erste Bauphase in die romanische Zeit datiert wird; 1248 ist sie erstmals urkundlich belegt.13 Die unter anderem noch von Künzl vertretene Annahme, dass sich unterhalb der heutigen Würzburger Marienkapelle neben der Synagoge ebenfalls eine Mikwe befand, die man auf das 12. Jahrhundert schätzte, ließ sich hingegen inzwischen mithilfe archäologischer Methoden widerlegen.14 Auch bei diesen kleineren Kellermikwen handelte es sich in der Regel nicht um ‚Privatmikwen‘ in dem Sinn, dass sie nur von den Bewohnern eines bestimmten Hauses genutzt wurden. Sichtbar ist dies beispielsweise bei der in Rothenburg ob der Tauber nach Verlegung des Judenviertels neu errichteten Mikwe aus dem frühen 15. Jahrhundert; der direkte Zugang zur Mikwe, der von der Judengasse her erfolgt, lässt auf die Nutzung durch weitere Familien schließen.15 Solche Kellermikwen, mehr oder weniger schmucklose Räumlichkeiten mit einem kleinen Tauchbecken – in Rothenburg 111 cm lang und 95 cm breit16 – bestimmten fortan das Bild. Die zunehmende Unsicherheit jüdischen Lebens, die Verfolgungen und Vertreibungen des Spätmittelalters, insbesondere seit den Pestpogromen von 1348/49, machten jedoch nicht nur den Bau von Monumentalmikwen unmöglich; selbst einfache Anlagen entstanden im 15. Jahrhundert nur selten.17 Infolge der endgültigen Vertreibung der Juden aus den meisten deutschen Städten bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts bildeten sich in der Folgezeit kleinere ländliche jüdische Gemeinschaften.18
11 Ebd., S. 29–31. 12 Diese Einschätzung basiert auf den Forschungsergebnissen von Porsche, „Die Offenburger Mikwe“, S. 248f; vgl. auch Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 1, S. 105f, die sich der Umdatierung durch Porsche anschließen. 13 Vgl. Sczech, „Mikwe“, S. 73–77. 14 Vgl. Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 34f; zum aktuellen Stand der Forschung siehe Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. III/1, S. 491. 15 Vgl. Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 36f; Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 1, S. 43. 16 Vgl. Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 36. 17 Vgl. Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 1, S. 44. 18 Vgl. ebd., S. 58–71, insbesondere die Übersicht über die Opfer des sog. Rintfleisch-Pogroms von 1298 sowie die Karte für Verfolgungen und Vertreibungen der Juden im süddeutschen Raum S. 64f; siehe allgemein auch Breuer, „Prolog: Das jüdische Mittelalter“, S. 57–60.
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Jüdische Einrichtungen seit der Frühen Neuzeit: Zwischen Verborgenheit und Öffentlichkeit
Wichtig ist festzuhalten, dass keine der bekannten mittelalterlichen Mikwen, ob eigenständiger Bau oder Kellermikwe, in direkter baulicher Verbindung mit einer Synagoge angelegt war, auch wenn diese möglicherweise in unmittelbarer Nähe lag;19 ein zusammenhängender Baukomplex von Mikwe und Synagoge wurde im Gebiet des heutigen Deutschland erst ab dem 18. Jahrhundert üblich.20 Mancherorts bildeten sich auf diese Weise (vor allem im süddeutschen Raum21 ) schon kleine Gemeindezentren wie in Veitshöchheim bei Würzburg, wo vermutlich um 1730 zeitgleich Synagoge, Mikwe und Wohnung mit Schulzimmer für den Religionslehrer, der ebenfalls Vorsänger und Schächter war, entstanden.22 Obwohl die Mikwe hier im Erdgeschoss desselben Gebäudes gelegen ist und direkt vom Hof her betreten wird, handelt es sich, wie üblich, um eine Grundwassermikwe (vgl. Abb. 2 sowie die untere Abbildung auf dem Cover). Ähnlich war die Situation im kurpfälzischen Eppingen (Landkreis Heilbronn), wo man über einer bereits vorhandenen Kellermikwe 1772 ein neues Gebäude mit Synagoge, Schule und Rabbinerwohnung errichtete.23 Jedoch besaßen viele kleinere süddeutsche Gemeinden im 18. Jahrhundert noch keine eigenständige Synagoge, sondern nur einen (in einem Wohnhaus untergebrachten) Betsaal; auch bei der Synagoge in Eppingen handelt es sich um ein gewöhnliches Fachwerkhaus, das nach außen hin nicht als Sakralbau erkennbar ist.24 Erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden im Zuge zunehmender Toleranz seitens der weltlichen Herrschaft vermehrt auch freistehende Synagogenbauten errichtet; beispielhaft hierfür ist die Synagoge von Michelbach an der Lücke (Landkreis Schwäbisch Hall) aus
19 Vgl. Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 34. 20 Wenngleich sich in der von Künzl als Übergangsphase gewerteten Zeit des 15. und 16. Jahrhunderts bereits eine Tendenz zu solchen Baukomplexen abzeichnet, vgl. Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 51. Auch die 1602 neu errichtete Mikwe in der Frankfurter Judengasse, die gemeinsam mit der Synagoge um einen Hof gruppiert ist, veranschaulicht diese Entwicklung; vgl. Lenarz, „Mikwen in Frankfurt“, S. 94. 21 Vgl. Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 62–70. 22 Vgl. Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. III/1, S. 821. Ob die Mikwe tatsächlich aus der Bauzeit der Synagoge stammt, ist nicht völlig sicher; allerdings beurteilt Künzl einen nachträglichen Einbau als eher unwahrscheinlich („Mikwen in Deutschland“, S. 64f); siehe ebenso o.V., „Veitshöchheim“, unpag. Der Gebäudekomplex ist bis heute als Museum zur jüdischen Lokalgeschichte erhalten. 23 Vgl. Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 1, S. 99–101, sowie (mit anderem Baujahr) Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 47f. 24 Für die Situation der jüdischen Gemeinden im 18. Jahrhundert siehe Liberles, „An der Schwelle zur Moderne“, S. 94–96, sowie Lowenstein, „Anfänge der Integration“, S. 193f.
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Abb. 2 Veitshöchheim, Schnittrekonstruktion der Mikwe
dem Jahr 1756 zu nennen, die älteste erhaltene Synagoge in Baden-Württemberg.25 Bezeichnenderweise wurde dieser frühe jüdische Sakralbau, ein schlichtes Gebäude mit rechteckigem Grundriss, einer kleinen Apsis an der Ostwand als Tora-Nische, hohen Rundbogenfenstern und einem Krüppelwalmdach, noch nicht direkt an der Straße, sondern etwas versteckt in einem Garten errichtet. Dieser typisch fränkische Bautyp mit Walmdach oder Krüppelwalmdach sollte in der Folgezeit die im ländlichen Baden und Württemberg entstehenden Synagogen prägen.26 Ein ähnlicher Kompromiss zwischen Verborgenheit und Öffentlichkeit findet sich auch bei der Synagoge von Edelfingen (heute ein Ortsteil von Bad Mergentheim), die 1791
25 Für die Entstehung eigenständiger Synagogen in Südwestdeutschland sowie das genannte Beispiel Michelbach an der Lücke siehe Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 1, S. 99–104. 26 Ebd., S. 102.
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errichtet wurde27 und mit angegliederter Schule und Mikwe ebenfalls als ländliches Gemeindezentrum fungierte. Wenngleich diese in einer Beschreibung von 1928 als (regional typische) „Scheunensynagoge“28 bezeichnet wird, so war sie doch aufgrund der Fassadengliederung mit relativ hohen Fenstern im Untergeschoss auch von außen wenn nicht als Sakralbau, dann zumindest als ein besonderes Gebäude erkennbar; allerdings stand sie nicht direkt an der Straße, sondern war durch das an ihrer Giebelseite angebaute Vorderhaus mit Schulzimmer und Lehrerwohnung relativ unauffällig.29 Die Mikwe befand sich nach einer Schilderung von 1839 […] unter der Synagoge, welche zu den in Edelfingen am tiefsten gelegenen Gebäuden gehört. Von ebener Erde aus, an der untersten Treppe der Staffel, die in die Synagoge führt, gelangt man in ein drei Treppen tiefes, finsteres Gelaß, das unmittelbar unter des Vorsängers Wohnzimmer sich befindet […].30
Vermutlich handelt es sich somit bei dem auf einem Foto von ca. 1930 sichtbaren Kellereingang um den Zugang zur Mikwe.31 Ein dem gegenüber sehr ungewöhnliches Beispiel eines Synagogenneubaus aus dem Jahr der Französischen Revolution, bei dem eine Mikwe ebenfalls direkt integriert wurde, findet sich im Wörlitzer Schlosspark des Fürsten Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau (1740–1817).32 Hier entstand 1789/90 in dessen Auftrag – vom Aufklärungsgedanken der Toleranz geleitet – eine als Rundbau angelegte Synagoge, die der Architekt Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff dem römischen Vesta-Tempel nachempfunden hat. Nicht nur die Form der Synagoge ist in dieser Zeit einzigartig, auch das Becken der Mikwe ist rund und befindet direkt unterhalb der Synagoge, genau in deren Mittelpunkt – eine interessante architektonische Verbindung, die einigen Deutungsspielraum zulässt.
27 Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 24f. 28 Die Bezeichnung entstammt der Beschreibung einer Schabbatfeier in Edelfingen von S. Schachnowitz (Nachruf für Sally Ottensoser): S-tz [S. Schachnowitz], „Nachruf “, S. 18; die Quelle wird ebenfalls auszugsweise zitiert bei Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 24, sowie bei Alemannia Judaica: o.V., „Edelfingen“, unpag. 29 Für ein Foto, das das Gebäude um 1930 zeigt, siehe ebd., sowie Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 24. 30 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Hoering über die Mikwe in Edelfingen vom 29.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839). 31 Für den Nachweis der Abbildung siehe Anm. 29. Hahn/Krüger gehen hingegen von einem „Badhaus“ aus, das sich „etwas unterhalb der Synagoge“ befand und von dem nichts mehr erhalten ist (Synagogen, Bd. 2, S. 25). 32 Für die Datierung und allgemeine Beschreibung der Anlage inklusive der Mikwe siehe Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 65–67; für eine kunsthistorische Einordnung in den Synagogenbau der Neuzeit siehe Knufinke, „Ritualbauten“, S. 136f.
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Häufiger als die erst neu entstehende Kombination von eigenständiger Synagoge und Mikwe waren jedoch im 18. Jahrhundert aller Wahrscheinlichkeit nach auch weiterhin unabhängige Einrichtungen von Mikwen im Keller eines Privathauses, wenngleich dieses möglicherweise einen Betsaal beherbergte. Laut den von Altaras erhobenen Befunden für Mikwen in Hessen finden sich mehr als 65 % der Mikwen unter einer „Synagoge (Privatsynagogen und Gebäude mit eingerichteten Betstuben eingeschlossen), angelehnt an diese oder im Hinterhof derselben“33 . Allerdings handelt es sich hierbei, soweit ersichtlich, um eine Statistik aus der Retrospektive, die damit für einen konkreten Zeitraum wenig aussagekräftig ist und den Zustand frühestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts widerspiegeln dürfte.34 Man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass es zu Beginn des 19. Jahrhunderts, vor den Schließungen infolge amtlicher Auflagen, im süddeutschen und hessischen Raum noch viel mehr kleine Mikwen in Privathäusern gab, als heute bekannt sind; aufgrund vorgenommener baulicher Veränderungen ist die Anlage oft nicht mehr sichtbar und wird möglicherweise niemals entdeckt werden. Die obrigkeitlichen Akten der 1820er und 30er Jahre, wie sie in Württemberg im Zuge der Modernisierung von vorhandenen Mikwen angelegt wurden, vermitteln entgegen der Aussage von Altaras den Eindruck einer damals noch relativ großen Zahl an Kellermikwen ohne direkten Bezug zu Synagoge oder Betsaal. Die für einige Landgemeinden typischen Mikwe-Häuschen, d. h. eigenständige kleine Gebäude, die mancherorts noch zu sehen sind, entstanden im Wesentlichen erst im 19. Jahrhundert, in der Regel etwa ab 1830–40.35 Konzipiert wurden solche ‚Badehäuschen‘ im ländlichen Württemberg bereits ab den frühen 1820er Jahren,36 was möglicherweise auch in anderen Gegenden der Fall war; bis zur Verwirklichung
33 Altaras, Synagogen, S. 46. 34 Weder an dieser Stelle noch in der Übersichtstabelle (ebd., S. 421–431) ist ersichtlich, für welchen Zeitraum die Zahl von 65 % zutrifft. Demnach zeigt sich in der Statistik lediglich, wie Altaras auch im Fortgang der Darstellung schreibt, eine allgemeine Tendenz zur Zentrierung von Gemeindeeinrichtungen (S. 46). 35 Künzl nennt als Beginn die Mitte des 19. Jahrhunderts („Mikwen in Deutschland“, S. 82). Dies scheint mir insgesamt ein wenig zu spät angesetzt, wie auch bereits dokumentierte Beispiele von Mikwe-Häuschen aus verschiedenen Regionen zeigen, so beispielsweise für Thüringen (Berkach 1838; ebd., S. 84), Schwaben (Mönchsdeggingen 1841; ebd.), Franken (Erlangen-Büchenbach 1831; Kraus u. a. [Hgg.], Synagogen, Bd. II, S. 196) und Hessen (Laubach 1811; Heppenheim erster Bauplan 1837, fertiggestellt 1842; Altenstadt 1838; Altaras, Synagogen, S. 203, 274–276, 371). Daneben gibt es vereinzelt Beispiele von noch älteren freistehend errichteten Anlagen wie im hessischen Spangenberg (möglicherweise Anfang 18. Jahrhundert, erneuert ca. 1830–40; ebd., S. 170) und Dreieich-Sprendlingen (vermutlich 18. Jahrhundert, sicher vor Mitte des 19. Jahrhunderts; ebd., S. 364). 36 So in Braunsbach, Mulfingen und Nagelsberg (StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 1.6.1822).
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dauerte es allerdings bisweilen ein knappes Jahrzehnt, wie in Nagelsberg37 oder Neunkirchen38 , wo für ca. 1830/31 bzw. 1832/33 Neubauten belegt sind. Teilweise wurden diese Badehäuschen in unmittelbarer Nähe der Synagoge oder direkt als Anbau an diese geschaffen wie in Ernsbach und Braunsbach,39 so dass auch auf diese Weise ländliche Gemeindezentren entstehen konnten. Ein etwas früheres Beispiel, bereits 1811 errichtet, findet sich im hessischen Laubach; an anderer Stelle wieder aufgebaut, ist das Häuschen bis heute zu sehen.40 Die bekannten Bauten sind zumeist sehr schlicht, wie etwa das Badehaus in Berkach (Thüringen) von 183841 oder ähnliche Beispiele aus Hessen und Süddeutschland. Das MikweHäuschen in Westheim bei Hammelburg (Abb. 3) wurde bis 1913 genutzt, als aufgrund behördlicher Anordnung ein Neubau an anderer Stelle entstand; seine Entstehungszeit ist nicht genauer bekannt.42 Ausnahmen von dieser Regel stellen die Mikwe von Mönchsdeggingen (1841) mit Walmdach und einigen Elementen maurischen Stils dar,43 sowie die aufgrund ihrer Form, einer Backstein-Kuppel, außergewöhnliche Mikwe von Schwedt an der Oder (um 1862).44 Neben diesen steinernen Häuschen gab es bis ins 19. Jahrhundert
37 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Fichtbauer vom 8.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 23.2.1839). Laut Dr. Fichtbauers Bericht wurde in Nagelsberg „vor 8 Jahren“ eine vorschriftsmäßige Mikwe errichtet. Der Ort ist heute ein Stadtteil von Künzelsau. 38 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Bauer über die Mikwe in Neunkirchen vom 10.1.1839 (Anlage zum Bericht des Bezirksamts Weikersheim vom 14.1.1839). Dr. Bauer gibt an, dass das Bad seit „etwa 6 Jahren“ besteht. Neunkirchen ist heute ein Stadtteil von Bad Mergentheim; der exakte Standort der Mikwe ist verzeichnet bei Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 28. 39 Die genaue Lage dieser beiden Mikwen geht aus den vorhandenen Akten nicht völlig eindeutig hervor, jedoch handelt es sich vermutlich beide Male um Anbauten. Über Ernsbach heißt es 1822, dass das Häuschen hinter der Synagoge auf einem freien Platz entstehen soll, 1839 wird die Mikwe beschrieben als „auf der östlichen Seite der Synagoge befindlich und an dieselbe angebaut“; siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Oehringen vom 20.6.1822; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Schott über die Mikwe in Ernsbach vom 9.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Oehringen vom 10.1.1839). Im Falle von Braunsbach wird die Lage des steinernen Badehauses 1822 nicht weiter bezeichnet, 1840 wird berichtet, dass die Mikwe an die Synagoge „anstoße“; siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 1.6.1822; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Auszug aus dem Medizinal-Visitations-Protokoll, K. Oberamt Künzelsau, vom 21.5.1840/4.6.1840. 40 Siehe hierzu Altaras, Synagogen, S. 203. 41 Siehe Kahl, „Berkach“, S. 44f; vgl. auch Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 84. 42 Vgl. Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. III/2.1, S. 371f. Eine Entstehung noch im 18. Jahrhundert, wie im Synagogen-Gedenkband genannt, lässt sich aufgrund äußerlicher Merkmale vermuten, ist aber bisher nicht sicher belegt. 43 Vgl. ebd., S. 84f. 44 Vgl. ebd., S. 85; für weitere Details und Abbildungen der Anlage siehe Nathan, „Gegen das Vergessen“, S. 36f.
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Abb. 3 Westheim bei Hammelburg, Mikwe-Häuschen, Paulstraße 10, im Mai 2019
auch noch einfache, schuppenartige Überbauten.45 In Michelbach an der Lücke etwa sollen noch 1839 möglicherweise mehrere solcher Mikwen, ebenerdig in „luftzugigen Holzlagern“ untergebracht, existiert haben.46 Von Ettenheim (Baden) wird überliefert, dass das ursprünglich wahrscheinlich hölzerne Badehäuschen im Stadtgraben 1778 von unbekannten Tätern umgeworfen wurde, woraufhin die Gemeinde noch im gleichen Jahr ein steinernes Gebäude errichten konnte, das heute allerdings ebenfalls nicht mehr erhalten ist.47 Somit konnten wenigstens ausnahmsweise auch bereits vor dem 19. Jahrhundert steinerne Mikwe-Häuschen entstehen, beispielsweise dann, wenn wie in Ettenheim ein hölzerner Behelfsbau ersetzt werden musste.48
45 Vgl. Altaras, Synagogen, S. 43. 46 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Ärztlicher Bericht über die Mikwe in Michelbach vom 30.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 14.3.1839). 47 Siehe zu diesem Vorfall Weis, „Ettenheim“, S. 91. 48 Für weitere Beispiele vgl. oben Anm. 35.
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3.2
Anlage und Beschaffenheit des Tauchbeckens
Bei den vor dem 19. Jahrhundert errichteten Mikwen handelt es sich ganz überwiegend um Anlagen, die von Quell- oder Grundwasser gespeist wurden, was hinsichtlich der Konstruktion und Fragen der halachischen Zulässigkeit die einfachere Variante darstellt.49 Im Gegensatz zu den mittelalterlichen Monumentalmikwen war das Tauchbecken einer typischen Kellermikwe, vor allem im ländlichen Bereich, meist relativ klein. Innerhalb des in der Regel mit Steinen ausgemauerten Beckens50 führten mehrere Treppenstufen aus Steinquadern in das Wasser; je nach den Gegebenheiten waren die Stufen relativ hoch und schmal, bedingt durch die geringe Beckenlänge bzw. den wenigen darüber hinaus zur Verfügung stehenden Raum.51 Der Boden des Tauchbads konnte mit Steinplatten oder Pflaster befestigt sein, wie etwa im württembergischen Bieringen und anderen Orten des Jagstkreises,52 aber auch aus einfachem Kies (Beispiel Burghaslach, Mittelfranken53 ) bzw. Kiessand mit
49 Vgl. auch Jachter, „Mikvaot Part 2“, unpag. Nach Jachter errichten sogar manche chassidische Gruppierungen neuerdings wieder Mikwen auf Quellwasserbasis und nicht mit angesammeltem Regenwasser. 50 In dem Bericht des württembergischen Medizinal-Collegiums an das Innenministerium von 1843 heißt es, dass die Mikwen des Jagstkreises (soweit aus den vorliegenden Berichten ersichtlich) sämtlich mit Steinen ausgemauert sind, siehe StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des Medizinal-Collegiums vom 16.2.1843[?]. 51 Die Zahl der Treppenstufen wird in den Quellen nicht allzu häufig angegeben, zudem beruht auch die Beckenhöhe wohl oft auf einem Schätzwert. Bei der beispielsweise für Ernsbach genannten Zahl von drei Stufen erhält man bereits bei der Beckenhöhe von ca. 86–115 cm (3–4 Fuß) eine Tritthöhe zwischen 21,5 cm und 28,7 cm (ich gehe bei meinen Berechnungen davon aus, dass der Beckenrand nicht als Stufe gewertet wurde); in Wiesenbach wird die Beckenhöhe bei gleicher Stufenzahl mit 3,5 Fuß (ca. 1 m) angegeben, die Stufenhöhe beträgt somit ganze 25 cm. Der Bericht zur Mikwe von Berlichingen aus dem Jahr 1840 gibt zwar kein konkretes Maß für die Stufenhöhe, bezeichnet diese aber als „sehr hoch“; siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Schott über die Mikwe in Ernsbach vom 9.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Oehringen vom 10.1.1839); Bericht von Dr. Baumann über die Mikwe in Wiesenbach vom 20.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 14.3.1839); Auszug aus dem Medizinal-VisitationsProtokoll, K. Oberamt Künzelsau, vom 21.5.1840/4.6.1840. Fotos archäologischer Ausgrabungen sowie Rekonstruktionsskizzen derartiger Treppenverläufe in hessischen Mikwen finden sich bei Altaras, für einen Treppenverlauf mit vergleichbarer Tritthöhe (ca. 22 bis knapp 30 cm) siehe z. B. Altaras, Synagogen, S. 318. Bei der Umrechnung alter Maße beziehe ich mich, sofern nicht anders angegeben, hier und anderswo auf die Werte der Tabelle in Kapitel 3.2.1.2. 52 Die Mikwen des Jagstkreises wiesen, soweit dieses Detail in amtlichen Berichten berücksichtigt wurde, einen solchen befestigten Untergrund auf, siehe StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des Medizinal-Collegiums vom 16.2.1843[?]. Zu Bieringen siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Wanner über die Mikwen in Berlichingen und Bieringen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 10.2.1839). 53 Vgl. Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 133.
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kleineren Steinen bestehen (Beispiel Erlangen-Büchenbach54 ); auch ein natürlicher Erdboden war möglich, wie das Beispiel von Colmberg (Mittelfranken) zeigt, wo das in einem Stall ebenerdig angelegte Becken „einen sumpfigen ungeplatteten Boden“55 aufwies. Berücksichtigt man, dass das Wasser natürlich nicht bis zum Beckenrand stehen konnte, so war eine wirklich komfortable Wasserhöhe für das vorgeschriebene vollständige Untertauchen wohl in vielen Fällen (mit einer Beckenhöhe von 85–115 cm oder maximal 4 Fuß) nicht gegeben, schon gar nicht die halachisch vorgeschriebene Mindesthöhe. Diese ist individuell festgelegt als Nabelhöhe plus eine Handspanne (seret),56 liegt also für normal große Erwachsene bei mindestens ca. 115 cm. Zwar lässt der Schulchan Aruch im Kommentar von Moses Isserles sogar das Untertauchen im Liegen zu, dies gilt jedoch nur für den Notfall:57 , אפילו צריכה להשתטח על פניה מחמת שאין המים עמוקים,מיהו אם אין מקוה אחרת ואי אפשר לתקן :[…] טובלת שם,אם מתכסה גופה בדרך זה בפעם אחת
Wenn jedoch keine andere Mikwe vorhanden ist und [diese] nicht instand gesetzt werden kann, selbst wenn sie sich der Länge nach mit dem Gesicht nach unten ausstrecken muss, weil das Wasser nicht tief [genug] ist, wenn auf diese Weise ihr Körper zu einem Zeitpunkt [vollständig] bedeckt ist, so taucht sie dort [gültig] unter […].58
Der 1864 erstmals veröffentlichte Kizzur Schulchan Aruch, der auf der Basis von Josef Karos und Moses Isserles Werk die wichtigsten Religionsgesetze knapp für den Laien zusammenfasst,59 beschreibt neben dieser Alternative für extreme Fälle noch eine weitere Möglichkeit: Wenn das Wasser nicht wie vorgeschrieben bis über die Nabelhöhe steht, so ist es erlaubt, durch vorheriges langsames Hinsetzen den Körper
54 Vgl. ebd., S. 196. 55 StA Nürnberg, Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. V, Nr. 312 I: Schreiben Carl Diez’ an die Regierung des Rezatkreises vom 22. November 1828, zit. nach: Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 151. 56 Vgl. SchA, Jore de‘a 201,66. Der Kizzur Schulchan Aruch gibt dagegen Nabelhöhe plus drei Handbreit an (Ganzfried, Kizzur schulchan aruch, Bd. 2, S. 927). 57 Halachisch korrekt ist das Untertauchen des ganzen Körpers auf einmal und im Stehen, vgl. hierzu Pollak, „Die Rabb.-Vers. (Beschluß)“, S. 184. 58 SchA, Jore de‘a 201,66. Abgesehen von Doppelpunkten entstammt die Interpunktation des hebräischen Textes nicht der Vorlage, sondern wurde von mir zum Zweck der besseren Lesbarkeit ergänzt. 59 Zum Kizzur Schulchan Aruch und seinem Verfasser Schlomo Ganzfried (1804–1886) siehe Levinger, „Ganzfried, Solomon ben Joseph“, S. 379f.
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
gleichmäßig mit Wasser zu bedecken, um dann anschließend unterzutauchen.60 Die Tatsache, dass diese Variante gegenüber der Vorlage des Schulchan Aruch neu hinzukommt und in einem Werk anschaulich erläutert wird, das sich als Praxisbuch versteht (und bis heute weit verbreitet ist), lässt letztlich nur einen Schluss zu: dass nämlich die bis ins 19. Jahrhundert vorgefundene Realität diese ‚Sitz-Technik‘ erforderte, zumindest an manchen Orten oder zu bestimmten Zeiten. Die heute noch erhaltenen Becken bzw. die historischen Beschreibungen von Beckenhöhe und Wasserstand (hierzu auch weiter unten in Kapitel 3.2.1) bestätigen diese These und deuten zugleich darauf hin, dass dies in der Praxis relativ häufig gewesen sein dürfte. Schwieriger ist die historische Bedeutung der ‚Liege-Technik‘ zu beurteilen, die in beiden Werken genannt wird. War dies tatsächlich bis ins 19. Jahrhundert eine gängige Methode oder nahm der aus Ungarn stammende Verfasser des Kizzur Schulchan Aruch, Rabbiner Schlomo Ganzfried (1804–1886), sie möglicherweise nur der Vollständigkeit halber (aus Rücksicht auf seine bedeutende Vorlage) mit auf? Bei den hier betrachteten Mikwen der württembergischen Untersuchung von 1839 weisen nur zwei sicher die nötige Länge von mehr als zwei Metern auf,61 wobei es jedoch eher den Anschein hat, dass sich die Treppenstufen auch im Beckenbereich befanden und so das Untertauchen im Liegen verhinderten; auch ist fraglich, ob man bei der Anlage einer Mikwe jemals diese Möglichkeit mit einplante. In Kapitel 3.2.1 zur Größe des Tauchbeckens und dem halachischen Mindestvolumen wird unter anderem diesem Aspekt nachgegangen. Möglicherweise hatte der Verfasser des Kizzur Schulchan Aruch bei seiner Anweisung auch weniger befestigte Anlagen in Kellern im Sinn, sondern einfache Behelfskonstruktionen oder das nach wie vor praktizierte Untertauchen in Bach- und Flussläufen. Diesem Aspekt widmet sich anschließend Kapitel 3.2.2, das allgemein baulich-technische Details der Wasserversorgung und Notlösungen zum Inhalt hat.
60 Da sich die Frau aufgrund der fehlenden Wasserhöhe beim Untertauchen stark bücken muss, befürchtet man, dass sich am Körper Falten bilden und manche Stellen möglicherweise nicht mit dem Wasser in Berührung kommen. Das vorherige Hinsetzen bewirkt, dass auch in den Falten Wasser vorhanden ist; vgl. Ganzfried, Kizzur schulchan aruch, Bd. 2, S. 927f. 61 Es handelt sich dabei um die Mikwen von Edelfingen und Laudenbach; eventuell hatte auch das Tauchbecken in Bieringen eine ausreichende Länge, das in dem Bericht als tief und sehr lang, groß genug für mehrere Frauen, beschrieben wird; siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Wanner über die Mikwen in Berlichingen und Bieringen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 10.2.1839).
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3.2.1
Größe des Tauchbeckens und halachisches Mindestvolumen am Beispiel der Mikwen des württembergischen Jagstkreises
Ungleich bedeutender als die Wasserhöhe ist jedoch die in dem Becken vorhandene Wassermenge. Der Theorie nach sollte das Tauchbecken zu jeder Zeit mindestens das im Talmud vorgeschriebene Maß von 40 se’a Wasser enthalten. Wie setzte man aber diese Regel in der neuzeitlichen Praxis um, war doch der genaue Inhalt dieses Hohlmaßes ebenso unbekannt wie die Länge der antiken Elle (ama), welche ebenfalls der Volumenbestimmung dienen sollte?62 Einen wichtigen Hinweis bietet natürlich die Größe der erhaltenen oder in Quellen beschriebenen Becken. Aber lässt sich hieraus bereits auf das einst beim Bau zugrunde gelegte – bis heute nicht sicher bestimmte – Mindestvolumen schließen? Drei Gründe erschweren den Umgang mit den uns vorliegenden Daten. Erstens sind die überlieferten Quellen, archivalische wie bauliche, nur bedingt aussagekräftig. Die heute noch sichtbaren Mikwen zeigen jeweils nur den letzten baulichen Stand; bei den kleineren Kellermikwen handelt es sich dabei häufig um den des späten 19. oder beginnenden 20. Jahrhunderts, wobei ältere Formen des Tauchbeckens bestenfalls rekonstruierbar sind. Hinzu kommt, dass der genaue Wasserstand früherer Zeiten, besonders aber mögliche Schwankungen im Jahresverlauf, weitgehend unbekannt ist. Bei schriftlichen Quellen stellt sich andererseits immer die Frage, wie genau bzw. zuverlässig die Angaben sind: Wurde gemessen oder nur geschätzt? Wie sorgfältig und zutreffend ist die Beschreibung der Anlage? Auch hier fehlen in aller Regel wichtige Details, die eine exakte Berechnung des Wasservolumens ermöglichen würden. Und wie sind extrem niedrige Wasserstände zu beurteilen, von denen teilweise berichtet wird? Kann man in solch einem Fall davon ausgehen, dass die vorhandene Wassermenge noch der vermuteten halachischen Norm entsprach? Zweitens stellt sich die Frage, inwieweit man für frühere Zeiten überhaupt ein einheitliches Mindestvolumen annehmen kann. Ist es nicht möglich, oder sogar wahrscheinlich, dass man hier angesichts der Unsicherheit in Bezug auf die antiken Maße zu unterschiedlichen Ergebnissen kam, zumal die von Region zu Region abweichenden Maßeinheiten einen Vergleich erschwerten? Darüber hinaus darf man drittens auch die Möglichkeit nicht ganz außer Acht lassen, dass man das talmudische Quantum von 40 se’a im Falle von Kellermikwen, die sich aus Grund- bzw. Quellwasser speisten, nicht unbedingt als verbindlich betrachtete. Zwar widerspricht der Schulchan Aruch gleich zu Beginn der Vorschriften über Mikwen einer solchen Auslegung, jedoch gab es eben auch ältere
62 Für die Problematik der Bestimmung des gültigen Mindestmaßes und die hiermit verbundenen Fragen siehe oben Kapitel 2.3.
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Traditionen, die hinsichtlich der nötigen 40 se’a zwischen Quell- und Regenwasser unterscheiden. So muss eine Quelle unter anderem nach Maimonides lediglich so viel Wasser enthalten, dass die untertauchende Person hiervon vollständig bedeckt ist.63 Die Größe des Beckens wäre dann mehr oder weniger beliebig und das uns vorliegende Material hätte so gut wie keine Aussagekraft. Wollte man sich dem beim Bau zugrundegelegten Mindestvolumen systematisch über die Größe der Becken nähern, so müsste in einem ersten Schritt gefragt werden, ob sich regional definierte Konstanten ausmachen lassen, die auf das in einem bestimmten Raum gültige Mindestvolumen schließen lassen; in einem zweiten Schritt wären dann möglicherweise vorhandene Abweichungen, etwa bei besonders kleinen Mikwen, zu analysieren. Dies kann im Rahmen der vorliegenden Studie, die über kein ausreichend großes Korpus an Beispielen verfügt, nur in sehr beschränktem Rahmen und auf der Grundlage von behördlichen Berichten aus dem württembergischen Jagstkreis von 1839 geleistet werden. Zwar enthält nur ein Teil der vorliegenden Berichte, deren Gegenstand die Gesamtqualität der Anlagen war, auch konkrete Angaben über die Beckenmaße64 (vgl. hierzu ebenso die beiden Tabellen 1a und 1b in Anhang I); der große Vorteil gegenüber archäologischen Befunden ist jedoch der, dass uns in diesem Fall (soweit angegeben) auch der tatsächliche Wasserstand bekannt ist, in jedem Fall aber von einer intakten Mikwe berichtet wird, die in dem vorgefundenen Zustand tatsächlich benutzt wurde.65 Problematisch erscheinen mir hingegen in diesem Zusammenhang die von Evyatar Marienberg angestellten Berechnungen von Mikwenvolumen, die auf zwei Illustrationen des 18. Jahrhunderts beruhen (vgl. Abb. 4 und 5).66
63 Siehe ebd. 64 Diese finden sich in der Akte StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405. Sieben der 19 Mikwen, für welche konkrete Maße angegeben werden, wurden erst zwischen etwa 1800 und 1832 errichtet (Berlichingen, Creglingen, Laudenbach 1, Neunkirchen, Wachbach, Weikersheim, Ernsbach). Über die Entstehungszeit der anderen liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor, aufgrund ihrer Lage (überwiegend im Kellergeschoss) ist jedoch eine frühere Datierung in vielen Fällen wahrscheinlich; zur Datierung der einzelnen Anlagen und anderen Details siehe Tabelle 1a und 1b in Anhang I. Zum Hintergrund dieser und ähnlicher Untersuchungen siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Dekret der K. Regierung für den Jagstkreis in Ellwangen vom 28.12.1838, sowie weiter unten Kap. 4.1. 65 Die Daten zu Mikwenmaßen entstammen Berichten der Oberämter Öhringen, Mergentheim, Künzelsau, Gerabronn, Hall und Ellwangen, was den nördlichen Jagstkreis größtenteils abdeckt. Der Großteil der Daten geht wiederum auf das Oberamt Mergentheim zurück, was vermutlich damit zusammenhängt, dass dieses als (vermutlich) einziges Oberamt einen Fragenkatalog zur Beurteilung der Mikwen erstellte, in dem auch dezidiert nach der Größe des Beckens gefragt wurde; siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Wundarzt Kleinhanns über die Mikwe in Markelsheim vom 15.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839). 66 Marienberg, „La synagogue des femmes“. Bei der ersten Illustration handelt es sich um die bekannte Abbildung in Paul Christian Kirchners Jüdisches Ceremoniell von 1734 (Kirchner, Jüdisches Ceremoniell, zu S. 204), bei der zweiten um diejenige von J.C. Müller in Johann Christoph Georg Bodenschatz’
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Abb. 4 „Reinigung der Weiber im Bad“, aus Paul Christian Kirchner, Jüdisches Ceremoniell (1734): warmes Vorbad (rechts) und Tauchbad in der Mikwe (links)
Aufrichtig Teutsch Redender Hebräer von 1756 (Bodenschatz, Aufrichtig Teutsch Redender Hebräer, Teil 4, zu S. 79).
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Abb. 5 „Von der Reinigung der Kindbetterinen“, Kupferstich von J.C. Müller aus J.C.G. Bodenschatz, Aufrichtig Teutsch Redender Hebräer, Teil 4 (1756)
Zwar geht es Marienberg nicht darum, auf diese Weise Aufschlüsse über das zugrundegelegte halachische Mindestvolumen zu erhalten; jedoch setzt er seine Ergebnisse eben auch hierzu in Beziehung, weshalb ich kurz darauf eingehen möchte. In beiden Fällen handelt es sich nach Marienberg vermutlich um quadratische
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Becken (auf einem der Bilder ist die Mikwe nicht vollständig zu sehen) mit einer ungefähren Kantenlänge von jeweils 2,5 bzw. 3 Metern. Gemessen an der Körpergröße von Frauen, die direkt am hinteren Beckenrand stehen, sind beide Maße möglicherweise ein wenig hoch gegriffen, mögen aber noch zutreffen. Für die Wassertiefe schätzt Marienberg im ersten Fall einen Meter, im zweiten Fall 60 cm, woraus er nun das Beckenvolumen errechnet. Nun hat aber ein Becken mit den Maßen drei auf drei Meter und der Tiefe 60 cm tatsächlich ein Wasservolumen von 5.400 Litern (und nicht von 540 Litern, wie Marienberg angibt)!67 Bezüglich der ersten Illustration, wo Marienberg 625 Liter annimmt, verhält es sich ähnlich.68 Die abgebildeten, quadratisch aussehenden Becken sind somit nicht nur bedeutend größer als die von realen Mikwen, zumindest von ländlichen Kellermikwen, wie sie im Folgenden betrachtet werden – auch ihr Volumen würde keineswegs in etwa mit dem halachischen Mindestmaß korrespondieren, wie Marienberg feststellt,69 sondern dieses um ein Vielfaches überschreiten. Dabei stellt sich nicht nur angesichts der Beckenvolumen von mehreren Tausend Litern, sondern ganz prinzipiell die Frage, inwiefern derartige Bilder überhaupt als naturgetreue Eindrücke von Mikwen zu werten sind, und nicht bezüglich mancher Details ein gewisses Maß an Vorsicht geboten ist. Form und Beckengröße der beiden dargestellten Mikwen könnten auch einfach bildgestalterischen Argumenten geschuldet sein, oder aber von zeitgenössischen Vorstellungen und Abbildungen inspiriert sein. So gibt es beispielsweise Illustrationen zum Schröpfen in etwa aus derselben Zeit, die ähnliche Becken- und Raumanlagen zeigen.70 Ungeachtet aller genannten Schwierigkeiten auch bei der Auswertung von Maßen realer Becken können bereits die wenigen uns vorliegenden Daten einigen Aufschluss geben. Zunächst lässt sich feststellen, dass sich die Beckengröße, zumindest was die Grundfläche angeht, meist in einem ganz bestimmten Rahmen bewegt. Gemäß den württembergischen Berichten maß das rechteckige Becken meist 3–4 Fuß (ca. 85–115 cm) in der Breite und 4–5 Fuß (ca. 115–145 cm) in der Länge, konnte aber auch bis zu 7 Fuß (2 m) lang sein. Die Beckenhöhe variierte deutlich stärker zwischen 3 Fuß (85 cm) und 9 Fuß (250 cm), wobei aber Höhen
67 Marienberg, „La synagogue des femmes“, S. 109. 68 Ebd., S. 106. Marienberg gibt hierfür das Maß „1 x 2 x 2,5 mètres“ an, wobei es sich vermutlich um einen Druckfehler handelt, es müsste eigentlich 1 x 2,5 x 2,5 heißen; hierauf weisen sowohl seine Annahme eines quadratischen Beckens als auch der von ihm ermittelte Volumenwert 625 Liter. 69 Ebd., S. 109. 70 Vgl. hierzu insbesondere die Illustration einer Badezelle in Aachen aus einem Werk von 1736 in Martin, Badewesen, S. 83; ähnlich auch ebd. S. 80.
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über 5–6 Fuß (145–170 cm) eher die Ausnahme darstellten.71 In ganz ähnlicher Weise trifft dies auch auf die von Thea Altaras für den hessischen Raum dokumentierten Mikwen zu, die jedoch über eine tendenziell etwas kleinere Grundfläche verfügten, nämlich 60–80 cm in der Breite und 80–140 cm (inklusive Treppenlauf) in der Länge. Die von Altaras genannte übliche Höhe von 80–160 cm entspricht in etwa den hier für Württemberg angegebenen Werten.72 Man kann also mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass man sich bei der Größe der Tauchbecken in aller Regel nicht nur an bestimmten Vorgaben (seien es nun halachische oder möglicherweise bautechnische) orientierte, sondern dass es sogar gewisse regionale Konstanten gab. Diese Annahme schließt selbstverständlich auch Abweichungen, selbst größere, nicht grundsätzlich aus, da ja beim Bau einer Mikwe die jeweiligen baulichen Gegebenheiten und insbesondere der lokale Wasserstand berücksichtigt werden mussten. Auf der Suche nach dem zugrundegelegten Mindestvolumen bieten sodann kleine Beckenvolumen einen Anhaltspunkt, wie sie im württembergischen Jagstkreis die Mikwen in Wiesenbach und Igersheim aufweisen. Für die Mikwen des Jagstkreises wäre das halachische Mindestmaß auf dieser Grundlage irgendwo im Bereich von 600 bis 700 Litern anzusetzen (zu den Details der genannten Mikwen und den vorgenommenen Berechnungen siehe weiter unten). Zwar mag dieses Ergebnis für sich genommen als relativ unsicher zu bewerten sein, doch deckt es sich immerhin grob mit einer Berechnung der Israelitischen Oberkirchenbehörde Württembergs von 1845, wonach das halachische Mindestvolumen von drei Quadratellen relativ genau zwei Eimer und vier Imi württembergischem Maß entsprechen soll.73 Dies wären in etwa 661 Liter.74 Traf der auf diese Weise für Württemberg, genaugenommen den dortigen Jagstkreis, ermittelte ungefähre Richtwert aber auch für andere Regionen zu? Schon die für den hessischen Raum genannte Tendenz zu insgesamt etwas kleineren Becken als in Württemberg spricht eher dagegen und lässt vielmehr vermuten, dass die kleinsten dort vorhandenen Becken ein nochmal geringeres Fassungsvermögen aufweisen. Ist diese Annahme richtig, so gibt es hierfür zwei grundsätzlich mögliche Erklärungen: 1) Es gab kein allgemein gültiges Mindestvolumen, sondern bestenfalls regionale Standards, die sich über einen gewissen Raum erstreckten und
71 In den Quellen werden Fuß-Maße angegeben, alle Angaben in cm sind ca.-Werte; ein württembergischer Fuß bzw. Schuh entspricht ungefähr 28,65 cm; siehe hierfür die Tabelle weiter unten Kapitel 3.2.1.2. 72 Siehe Altaras, Synagogen, S. 47. 73 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Note der Israelitischen Oberkirchenbehörde an das MedizinalCollegium vom 22.12.1845. 74 Ein württembergischer Eimer (Helleich-Maß) entspricht 16 Imi und enthält 293,927 Liter; siehe „Stuttgart“, in: Noback/Noback, Vollständiges Taschenbuch, Bd. 2, S. 1179–1196, hier S. 1193.
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sich aus der Vernetzung der Gemeinden untereinander erklären lassen. ODER: 2) Man ging zwar hier und dort von dem gleichen Mindestvolumen aus, aber das war so klein, dass dieser Aspekt beim Bau der Mikwe nicht besonders berücksichtigt werden musste. Stattdessen orientierten sich die Bauleute vor Ort einfach an ihren lokalen Messlatten; die regionalen Abweichungen wären demnach eine Folge der verschiedenen verwendeten Maße. Zieht man an diesem Punkt auch schriftliche Quellen heran, so ergibt sich für die neuzeitliche Realität ein nochmal komplexeres Bild, welches Facetten beider Theorien miteinander verbindet: Einerseits herrschte unter den Rabbinern keinesfalls eine einheitliche Meinung hinsichtlich der Frage des Mindestvolumens, sondern es hat ganz den Anschein, dass die beiden Pole des Mindestvolumens – zwischen ca. 300 und 700 bis 800 Liter, teils auch mehr75 – noch bis ins 19. Jahrhundert hinein mehr oder weniger unangefochten einfach nebeneinander existierten. Andererseits konnten die lokalen Maße durchaus die praktische bauliche Ausführung einer Mikwe beeinflussen. Hierauf weisen sowohl die zu einigen württembergischen Mikwen angestellten Berechnungen als auch bestimmte theoretische Schriften. Im Folgenden soll nun näher betrachtet werden, wie man mit der schwierigen Frage des Mikwenvolumens in ihrem doppelten Abhängigkeitsverhältnis, von unsicheren Vorgaben der Halacha einerseits und zeitgenössischen Maßen andererseits, in Theorie und Praxis umging. 3.2.1.1 Die Frage des Mindestvolumens in der Theorie
Um die in der Theorie vorkommende Spannbreite von etwa 300 Litern bis 1.000 Litern sowie die Volumen realer Mikwen besser beurteilen zu können, ist es hilfreich, sich zunächst eine ungefähre Vorstellung von den Abmessungen zu verschaffen. Das heute übliche Mindestvolumen von 1.000 Litern entspricht beispielsweise exakt einem Würfel mit einer Kantenlänge von einem Meter. Geht man von einem kleineren Mindestvolumen aus, so reduziert sich entsprechend eine der Kantenlängen, z. B. bei 700 Liter auf 70 cm. Nimmt man für das vom menschlichen Körper beim Untertauchen verdrängte Wasservolumen der Einfachheit halber 100 Liter an,76 so müsste ein für 700 Liter ausgelegtes Tauchbecken mit der Grundfläche von einem Quadratmeter demnach einen Wasserstand von mindestens 70 cm und eine
75 Vgl. hierzu Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 3, S. 54f. Demnach liegt die Untergrenze bei etwa 263 Litern (ama von 44,4 cm Länge), die Obergrenze bei etwa 1.079 Litern (ama von 71,12 cm Länge), berechnet mit einer ama zu 24 ezba. Bei Verwendung eines ama mit 24,5 ezba (wie der Schulchan Aruch vorgibt) werden die genannten Werte nochmal etwas größer. 76 Vgl. SchA, Jore de‘a 201,1. Das Körpervolumen eines Menschen in Liter entspricht in etwa seinem Körpergewicht in Kilogramm, ein 80 kg schwerer Mann hat also ein Volumen von etwa 80 Liter; vgl. Gladel, „Volumen“, unpag.
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Beckenhöhe von weiteren 10 cm, also mindestens 80 cm, aufweisen. Den unteren Grenzwert von knapp 300 Litern kann man sich hingegen gut als eine bis zum Rand gefüllte Badewanne normaler Größe vorstellen;77 wollte man in dieser Wassermenge untertauchen, müsste die Wanne allerdings wenigstens um ein Drittel größer sein, damit kein Wasser überläuft. Die enorme Komplexität des Themas Mindestvolumen im Spannungsfeld von unbekannten antiken und verschiedenen zeitgenössischen Maßen deutet sich beispielhaft in einer kurzen Diskussion in dem orthodoxen Blatt Der treue Zionswächter von 1846 an. Ihren Ausgangspunkt hat sie darin, dass der im mährischen Trebitsch tätige Rabbiner Joachim Pollak (1798–1879) in einem Beitrag zu Mikwen die Angabe 40 se’a mit „vierzig Maaß“ übersetzt.78 Der zunächst anonym bleibende Rezensent, Rabbiner Abraham Wechsler (1796–1850)79 aus dem mittelfränkischen Schwabach, kritisiert hieran, dass dies leicht missverstanden werden könne, da „z. B. hier zu Lande [ שיעור מקו׳das Mindestmaß für eine Mikwe] nicht aus 40, vielmehr aus circa 300 bayer. Maaßen besteht“.80 Wie allseits bekannt, fasst eine bayerische Maß etwa einen Liter, genau 1,069 Liter, so dass Wechsler demzufolge ein halachisches Mindestvolumen von etwa 321 Litern voraussetzt. Der als Vertreter der Orthodoxie geltende Wechsler hatte im Zuge der behördlichen Untersuchungen von Ritualbädern in seiner fränkischen Heimat ab 1829 zahlreiche Gutachten hierzu verfasst,81 war also zweifellos mit der Materie vertraut. Aber auch der ebenfalls orthodoxe Pollak wusste, wovon er sprach.82 Er rechtfertigt sich in einer der Folgeausgaben damit, dass „Maß“ die übliche Übersetzung sei,83 gibt aber auch seinerseits konkrete Umrechnungen der 40 se’a an. Demnach entspreche dies nach einer möglichen Berechnung 250 mährischen (d. h. zu dieser Zeit Wiener) Maß, nach einer anderen 253 13 mährischen Maß, somit gerundet zwischen 354 und 358 Litern. Beide Rabbiner waren sich also offensichtlich insoweit einig, dass das halachische Mindestmaß eher im unteren Bereich der genannten Skala liegt, wobei Pollak selbst schon zwei verschiedene Berechnungsmethoden als gleichberechtigt nebeneinanderstellt. 77 Dies ist natürlich nur ein sehr grober Annäherungswert, bezogen auf eine Wanne mit folgenden Maßen: Länge unten 120 cm, oben 160 cm, Breite unten 40 cm, oben 60 cm, Höhe 40 cm. Eine solche Wanne fasst etwa 280 Liter. 78 Siehe [Wechsler], „Aus Mittel- und Unterfranken“, S. 23. Zur Person Rabbiner Pollaks siehe „Pollak, Joachim“, in: BHR 1,2, S. 717f. 79 Zur Person Rabbiner Wechslers siehe „Wechsler, Abraham Josef “, in: BHR 1,2, S. 881f. Wechsler gibt sich erst im Anschluss an Pollaks Rechtfertigung als Verfasser zu erkennen, siehe Wechslar [Wechsler], „Sendschreiben“, S. 166f. 80 [Wechsler], „Aus Mittel- und Unterfranken“, S. 23. 81 Vgl. „Wechsler, Abraham Josef “, in: BHR 1,2, S. 881f, hier S. 882. 82 Vgl. hierzu auch weiter unten Kapitel 6.2.1. 83 Pollack, „Rechtfertigung“, S. 93.
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Komplizierter wird die Sache allerdings noch dadurch, dass Pollak sich zusätzlich auf seinen berühmten Lehrer Moses Sofer, genannt Chatam Sofer (1762–1839),84 beruft und aus dessen Responsen zitiert. Gemäß dem als talmudische Autorität weithin anerkannten Chatam Sofer gebe es prinzipiell zwei Möglichkeiten zur Bestimmung des Mindestmaßes, eine ebenfalls über das Flüssigkeitsmaß, eine andere über das Raummaß. Getrieben von dem Wunsch, „alles Gesetzlich-Religiöse genau bestimmen zu können“, habe der Chatam Sofer das Mindestvolumen von 40 se’a einst als 3.763.200 „mittelmäßige Tropfen“ eines Apotheker-Tropfglases ermittelt.85 Diese Angabe gibt einige Rätsel auf, läge doch, ausgehend von einem heutigen ‚Standard-Tropfen‘ mit 0,05 cm3 (d. h. 20.000 Tropfen pro Liter)86 das Wasservolumen einer Mikwe bei nur 188 Litern, was völlig ausgeschlossen ist. Grundlage für die vorgenommene Messung war dabei ein bestimmter Teil von einem Seidel (etwa 350 ml), nämlich ein Viertel, das 980 Tropfen enthalten haben soll.87 Da aber ein Viertel Seidel (ca. 87,5 ml) nach heutigem Standard 1.769 Tropfen enthält, während der Chatam Sofer nur 980 zählte, muss also sein Tropfen etwa die 1,8-fache Größe des heutigen gehabt haben. Unter diesen Voraussetzungen läge das Mindestvolumen gemäß dem Chatam Sofer etwa bei 338 Litern und damit in der gleichen Größenordnung wie bei seinem Schüler Pollak oder dem fränkischen Wechsler.88 Ungeachtet der bisher genannten Berechnungen, die alle auf dem Verhältnis antiker und zeitgenössischer Flüssigkeitsmaße basieren, gibt es allerdings die Ansicht, dass das nötige Wasservolumen einer Mikwe in erster Linie über das Raummaß, also die talmudische Einheit Kubik-ama (Elle) zu bestimmen ist.89 Ein bedeutender Vertreter dieser Meinung ist der Chatam Sofer selbst,90 und Pollak seinerseits weist in seiner Rechtfertigung ebenfalls darauf hin, dass das „Wassermaaß“, wie er es nennt, „zur Bestimmung des ]…[ שיעור מקוהnicht ausreicht“91 . Wie er in diesem Zusammenhang ausführt, ist es sogar verboten, das Wasser einer Mikwe auf
84 Zur Person des Chatam Sofer siehe „Sofer, Moses“, in: BHR 1,2, S. 816–821. 85 Pollack, „Rechtfertigung“, S. 93. 86 Der Wassertropfen eines heutigen Normaltropfenzählers hat bei 20 °C ein Gewicht von 0,05 g, d. h. ein Liter Wasser enthält 20.000 Tropfen; siehe Bultmann, Arzneiformenlehre, S. 43f. 87 Zwar ist die Lesung „ 14 “ Seidel aufgrund der Schriftqualität der Vorlage unsicher, jedoch finden sich diese und die übrigen Angaben im Werk eines anderen Schülers des Chatam Sofer bestätigt, nämlich bei Chiskija (Ezechias) Feiwel Plaut (1818–1894), der die Worte seines Lehrers zitiert; siehe Chiskija ben Riwka ben Chaim, Sefer likute chewer ben Chaim, Bd. 4, f. 3r (Nr. 89f). Zu seinen Lebensdaten vgl. „Plaut, Ezechias Feiwel“, in: BHR 1,2, S. 713 sowie BHR 2,2 S. 740. 88 Auch gibt der Chatam Sofer das halachische Mindestvolumen an anderer Stelle als 960 Seidel, d. h. in etwa 336 Liter, an; vgl. Sofer, Kowez tschuwot, Nr. 17. 89 Vgl. hierzu Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 3, S. 52f. 90 Siehe Sofer, Kowez tschuwot, Nr. 17; vgl. auch Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 3, S. 53. 91 Pollack, „Rechtfertigung“, S. 93.
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diese Weise, nämlich mit Gefäßen, zu messen, da es dann ja „geschöpft“ und somit rituell untauglich wäre – sehr wahrscheinlich ist auch dieser Aspekt einer der Gründe dafür, dass man das Raummaß gemäß bestimmten halachischen Autoritäten vorzog. Was heißt das nun konkret? Im Schulchan Aruch, dem für die Neuzeit maßgeblichen Gesetzeskodex, findet sich gleich zu Beginn der Vorschriften über Mikwen noch eine weitere Präzisierung der Wassermenge neben der antiken Berechnungsmethode als drei Kubik-ama, nämlich das Maß von 44.118 12 (genauer: 44.118,375) Kubik-ezba, errechnet aus der angegebenen Äquivalenz von einer ama (Elle) mit 24,5 ezba (Fingerbreit).92 Und für diese Fingerbreite, die nach Maimonides einer Daumenbreite bzw. „7 Gerstenkörnern mittlerer Größe“ entspreche, fand der Chatam Sofer, so Pollak in seiner Darstellung, ein ganz konkretes zeitgenössisches Maß, nämlich fast exakt ein Wiener Zoll (2,634 cm).93 Pollak, der das damals noch unveröffentlichte Gutachten seines Lehrers nur aus einer privaten Abschrift zitiert, präzisiert nicht weiter, aber offensichtlich fertigte der Chatam Sofer später sogar einen eigenen Zollstock mit seinem ezba-Maß an; dieser soll 2,7 cm gemessen haben, war also minimal größer als ein Wiener Zoll.94 Mit diesem Maß aber gelangt man zu einem völlig anderen Ergebnis für die halachisch vorgeschriebene Wassermenge einer Mikwe, nämlich ca. 868 Liter (44.118,375 Kubik-ezba), wenigstens aber 816 Liter, würde man vom Schulchan Aruch abweichen und wie gewöhnlich eine ama mit nur 24 ezba ansetzen (d. h. drei Kubik-ama sind 41.472 Kubik-ezba).95 Pollak nennt in seinem Artikel allerdings keinen konkreten Wert für diese Art der Berechnung auf Grundlage des Raummaßes, so dass der Widerspruch dem Leser nicht unbedingt ins Auge fällt. Selbstverständlich stellt dies, trotz der Autorität des Chatam Sofer, nur eine einzelne Meinung, zumal eine relativ späte, neben anderen dar, kann also keinesfalls verallgemeinert werden. Aber nichtsdestotrotz lässt sich an dieser Stelle sehr
92 Genannt wird an der entsprechenden Stelle (SchA, Jore de‘a 201,1) die Zahl 44.118 12 ; aus den Angaben im vorausgehenden Absatz (eine ama beträgt sechs Handbreit und einen halben Fingerbreit, somit 24,5 Fingerbreit) lässt sich jedoch der genauere Wert 44.118,375 ermitteln. Für die Gleichsetzung von einer Handbreit mit vier Fingerbreit und andere Relationen siehe Bashan, „Weights and Measures“, S. 701. Normalerweise entsprechen 24 Fingerbreit einer Elle (ama), im Fall der Mikwe nimmt man jedoch teilweise, als weitere Sicherheit, eine größere Elle von 24,5 Fingerbreit an; vgl. hierzu Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 3, S. 54–56. 93 Pollack, „Rechtfertigung“, S. 93 (Anmerkungen). 94 Siehe Sofer, Chatam Sofer, Bd. 1, Orach chajjim, Nr. 127; ders., Kowez tschuwot, Nr. 17. Die Bestimmung des ezba-Maßes in Zentimetern gemäß dem originalen Zollstock des Chatam Sofer findet sich in dem Werk Schi‘ur mikwe von Awraham Chaim Naeh, das auch eine schematische Zeichnung hiervon enthält (inklusive der sieben Gerstenkörner als Basisgröße); siehe Naeh, Sefer schi‘ur mikwe, S. 94. Vgl. hierzu auch Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 3, S. 55 (Anm. 3). 95 Vgl. zu dieser Thematik ebd., S. 55f.
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klar eine der Ursachen für die große Spannbreite des halachischen Mindestmaßes ausmachen, nämlich die Annäherung über das Flüssigkeitsmaß einerseits oder das Raummaß andererseits. Der Frage, wie einzelne Rabbiner mithilfe des Flüssigkeitsmaßes zu ihren jeweiligen Werten kamen, soll hier nicht nachgegangen werden; stattdessen möchte ich über die Äquivalenz von einem se’a mit 144 Eiern96 einen ungefähren Richtwert für diese Berechnungsmethode angeben. 40 se’a entsprechen demnach der Zahl von 5.760 Eiern, und die sich ergebende Spanne für das Mikwenvolumen wäre in etwa 288 Liter (Ei mit 50 cm3 ) bis 403 Liter (Ei mit 70 cm3 ). Diese Berechnung auf der Grundlage von (heutzutage) realistischen Eiergrößen deckt somit ziemlich genau den unteren Pol des Mindestvolumens von +/- 300 Litern ab. War aber denjenigen Rabbinern, die für die Anlage von Mikwen verantwortlich waren, die enorme Diskrepanz, die sich aus den unterschiedlichen Berechnungswegen ergab, bewusst? Der normale rabbinische ‚Schutzmechanismus‘ wäre in diesem Fall, sich nach dem größten bekannten Wert zu richten und das halachisch nötige Mindestvolumen entsprechend hoch anzusetzen. Nach diesem Prinzip, das man heute anwendet, indem man von 1.000 Litern ausgeht, verfuhr man teilweise auch schon im 19. Jahrhundert. In seinem Werk Darche tschuwa (wörtlich ‚Wege der Umkehr‘, Erstdruck Wilna 1892) setzt der zweite Rebbe der Munkáczer Chassiden Zwi Hirsch Schapira (1850–1913)97 die ihm bekannten widersprüchlichen Angaben folgendermaßen in Beziehung:98 Zwar gebe es verschiedene Berechnungen des halachischen Mindestvolumens, aber angesichts der Strafe des karet (d. h. der hohen religiösen Bedeutung der Mikwe) sei es nötig, die Ausführung des Gebots zu erschweren. Für ihn und seine Vorfahren bedeutete dies, dass man sich konkret nach der Berechnung des Chatam Sofer richtete, wonach das Maß ezba ziemlich genau einem mährischen (d. h. Wiener) Zoll gleicht und somit 40 se’a mehr als 800 Liter entsprechen. Allerdings ist ein solches Problembewusstsein wohl kaum durchgängig und nicht unbedingt für frühere Jahrhunderte vorauszusetzen. Vielmehr scheint ein Mindestvolumen, das man ohne Weiteres im unteren Bereich der Skala von etwa 300 Litern ansetzen durfte, selbst Mitte des 19. Jahrhunderts relativ verbreitet gewesen zu sein:
96 Vgl. hierzu Kapitel 2.3 sowie Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 3, S. 52. Genaugenommen wird ein se’a nicht mit dem Volumen, sondern mit der Masse von 144 Eiern gleichgesetzt. Da aber die Dichte eines Eies, je nach Alter, in etwa 1 g pro cm3 beträgt, lassen sich die beiden Werte für die angestellten Berechnungen problemlos austauschen. Ein Ei von 50 g hat also in etwa ein Volumen von 50 cm3 ; vgl. Grüninger, „Schwimmen oder Sinken“, unpag. 97 Zu Zwi Hirsch Schapira und der Dynastie der Munkáczer Chassiden siehe Gottlieb, „Shapira“, S. 398f. Die Angaben für den Erstdruck entnehme ich o.V., „Darchei Teshuva, First Edition“, unpag. 98 Schapira, Darche tschuwa, Bd. 7, Jore de‘a 201 Nr. 1 (10); vgl. Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 3, S. 54 (Anm. 3), der die Stelle gekürzt zitiert.
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Die Diskussion in dem orthodoxen Zionswächter sorgte für keinen weiteren Aufschrei unter der Leserschaft, und selbst im erbitterten Streit gegen Vertreter eines liberaleren Judentums wie Rabbiner Hirsch Cohen, den Erfinder einer ungewöhnlichen Fassmikwe, spielte die Frage des Mindestvolumens überhaupt keine Rolle (hierzu genauer Kapitel 6.2.2). Zwar mag es gut möglich sein, dass die orthodoxen Kritiker sich auf die Details von Cohens kompliziertem Verfahren nicht einließen, geschweige denn genauere Berechnungen anstellten; allerdings weist eben schon dieser Umstand, nämlich die Nichtbeachtung eines so entscheidenden Punktes, darauf hin, dass man das Mindestvolumen häufig recht niedrig ansetzte. 3.2.1.2 Die Frage des Mindestvolumens in der Praxis: Das Beispiel des württembergischen Jagstkreises
Nach dem bisher Gesagten wäre es somit einerseits sehr gut möglich, dass man auch bei der Anlage der Becken im Jagstkreis von einem Mindestvolumen um die 300 Liter ausging (wenn nicht immer, dann zumindest in Einzelfällen). Andererseits würden die kleinsten untersuchten Becken einen höheren Grenzwert, etwa im Bereich von 600 bis 700 Litern, nahelegen. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass der Jagstkreis vor seiner Zugehörigkeit zum Königreich Württemberg politisch keinesfalls ein einheitliches Gebiet darstellte, und schon deshalb mit Verschiedenheiten auch in Bezug auf das Mindestvolumen gerechnet werden muss. Darüber hinaus erschweren noch weitere Umstände eine klare Entscheidung für das eine oder andere Ende der Skala. Selbst wenn man etwa 300 Liter Wasser als zulässig betrachtete, dürfte die Anlage einer solchen Mikwe in der Praxis nur schwer realisierbar gewesen sein. Zwar ist dieses Volumen an sich vielleicht ausreichend, um einen Menschen vollkommen mit Wasser zu umgeben, aber dieser soll ja im Wasser stehen und sich auch nicht allzu sehr bücken, weshalb halachisch ein Wasserstand über der Nabelhöhe vorausgesetzt wird. Dies aber erfordert eine gewisse Anzahl von Treppenstufen und damit auch eine bestimmte Beckenlänge. Realistischer ist unter diesen Voraussetzungen wohl das etwa doppelte Wasservolumen. Und was wäre naheliegender, als ein Bassin dieser Größe dann mithilfe der lokalen zeitgenössischen Maße zu konstruieren? Nun ist es aber auch so, dass die gängigen Zollwerte im deutschsprachigen Raum sich größtenteils im Bereich von etwa 2,35–2,6 cm bewegten.99 Dies bedeutet, dass 44.118,375 Kubikzoll je nach Ort etwa 573 bis 775 Liter ausmachen; in Württemberg läge man bei einem Zoll von 2,387 cm ziemlich genau bei 600 Litern. Würde ein Rabbiner versuchen, ähnlich wie der Chatam Sofer das antike ezba-Maß zu
99 Siehe den Eintrag zu „Fuß, Schuh, Piè, Piede, Pied“ in Niemanns Handbuch, insbesondere die dort abgedruckte Übersichtstabelle (Niemann, Vollständiges Handbuch, S. 99–104).
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bestimmen, und läge sein Ergebnis nicht über dem jeweiligen lokalen Zollwert, so könnte man für einen Mikwenbau der Einfachheit halber die lokalen Maße von Zoll und Fuß verwenden, ohne das halachisch geforderte Volumen zu unterschreiten. Findet man also eine Region mit Mikwenbecken, die wie in Württemberg ca. 600 bis 700 Liter oder mehr fassten, so lässt sich nicht ohne Weiteres sagen, ob man hier bewusst eine rabbinische Entscheidung für diese Größenordnung zugrundelegte, oder von etwa 300 Litern Mindestmaß ausging und dann einfach mithilfe der lokalen Messlatten eine Mikwe von komfortabler Größe baute. Noch komplizierter wird die Sachlage in Württemberg dadurch, dass das Verhältnis von Elle zu Zoll (eine Elle als 25,7 Zoll) hier auch dem von ama zu ezba ähnelt, so wie es der Schulchan Aruch darstellt (ama als 24,5 ezba). Dies hat zur Folge, dass man, statt mit Zoll und Fuß zu rechnen, auch ein Becken von drei Kubikellen anlegen konnte, und in etwa den gleichen Volumenwert erhielt, genaugenommen etwas über dem erstgenannten lag (694 Liter). Aus halachischer Perspektive konnte dieser Umstand als ‚Zaun um die Tora‘ fungieren, d. h. man orientierte sich bei der Konstruktion an der Württemberger Elle und erzielte hierdurch mit noch größerer Sicherheit das eigentlich angenommene (etwas geringere) Mindestmaß auf der Grundlage des Zoll. Auch in anderen Gebieten, in denen das Verhältnis von Elle zu Zoll nur knapp über 24,5 lag, wie beispielsweise im früheren Fürstentum Ansbach, bot es sich an, so zu verfahren. Dies verdeutlicht auch die folgende tabellarische Aufstellung100 der in diesem Kapitel betrachteten Orte bzw. Regionen, die zum Vergleich noch Preußen enthält:
100 Die jeweils geltenden Maße Fuß, Elle und Maß werden in der Tabelle mit der gleichen Ziffernzahl wie in der Quelle angegeben (Ausnahme: preußischer Fuß), die hieraus errechneten Maße für Zoll und das Verhältnis von Elle zu Zoll wurden gerundet. Soweit nicht anders angegeben, beziehe ich mich bei Umrechnungen alter Werte immer auf diese Tabelle. Die Angaben zu Mergentheim stützen sich auf eine Auskunft des Stadtarchivs Mergentheim (Schmidt, „AW: Längenmaße“, Email); die Daten zu sämtlichen anderen Orten entnehme ich den Einträgen zu Stuttgart, München, Brünn, Ansbach, Berlin und Wien bei Noback/Noback, Vollständiges Taschenbuch, Bd. 1, S. 46, 113f, 170, 695f, sowie ebd., Bd. 2, S. 1191–1193, 1459, 1463.
Fuß (12 Zoll) 28,6 cm
28,64903 cm
29,185916 cm
29,956 cm
31,385 cm
31,611095 cm
Zoll
2,383 cm
2,387 cm
2,432 cm
2,496 cm
2,615 cm
2,634 cm
Ort / Region
Mergentheim / Igersheim 1742–1809 Württemberg 1851 Bayern 1851 Ansbach (alte Maße) Preußen 1851 Wien 1851 806 l
789 l
686 l
635 l
600 l
44.118,375 Kubik-Zoll 597 l
77,92135 cm
66,693878 cm
62,377 cm
83,30147 cm
61,4235 cm
57,2 cm
Elle
1.419 l
890 l
728 l
1.734 l
695 l
561 l
3 Kubik-Ellen
29,6
25,5
25,0
34,3
25,7
Verhältnis Elle–Zoll 24,0
1,145031 l („Quart“) 1,415131 l
1,3519 l
1,83704 l (Helleich) 1,06903 l
Maß
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
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Die Frage nach dem in Württemberg zugrundegelegten Mindestvolumen kann somit allein aufgrund des ausgewerteten Materials nicht sicher entschieden werden, vielmehr lassen die tatsächlichen Maße beide Möglichkeiten zu, eine weitgehend ‚freie Planung‘ wie auch eine gezielte Orientierung an einem Volumen irgendwo im Bereich von 600 bis 700 Litern. Zwar hat es den Anschein, dass man gerade bei den hier im Folgenden betrachteten kleineren Mikwen sehr bewusst auf ein bestimmtes halachisches Mindestvolumen hin plante. Um jedoch abzuwägen, ob es sich hierbei lediglich um Zufall handelt oder nicht, wäre die Auswertung einer größeren Zahl von Daten unerlässlich. Sehr kleine Beckenvolumen: Die Mikwe in Wiesenbach
Bei der Mikwe von Wiesenbach (heute Stadt Blaufelden, Landkreis Schwäbisch Hall) handelt es sich um eine vermutlich vor dem 19. Jahrhundert errichtete Mikwe,101 die sich in dem kleinen gewölbten Keller eines Bauernhauses befand; unter denjenigen Mikwen, für die der amtliche Bericht die exakten Maße nennt, hat diese das kleinste Beckenvolumen: Sie misst in der Fläche etwa 3,5 auf 4 Fuß (ca. 100 cm auf 115 cm), in der Tiefe ebenfalls 3,5 Fuß (d. h. 100 cm),102 berechnet auf der Grundlage des 1839 gültigen Württemberger Fußmaßes von 28,649 cm. Allerdings ist hierbei zu beachten, dass Wiesenbach ursprünglich nicht württembergisch war, sondern bis Ende des 18. Jahrhunderts zum Fürstentum Ansbach gehörte. Wurde die Mikwe also in dieser Zeit errichtet, so waren ihre Außenmaße möglicherweise volle Vielfache des Ansbacher Fußes von 29,956 cm und damit ein wenig größer, nämlich 105 cm auf 120 cm; eine größere Beckentiefe als die genannte (in württembergischen Fuß gemessene) ist hingegen eher unwahrscheinlich, da hierfür zum einen die Höhe der vorhandenen drei Stufen sogar etwas mehr als die bereits sehr steilen 25 cm103 betragen müsste, und sich zum anderen 25 cm als konkretes Maß gut anbieten, da dies sehr genau zehn Ansbacher Zoll entspricht. Bis an den Beckenrand gefüllt würde das Becken etwa 1.320 Liter fassen, wovon jedoch noch das von den Treppenstufen eingenommene Volumen abzuziehen ist; dieses beträgt für sämtliche drei Stufen in voller Breite etwa 395 Liter bei der angenommenen
101 Juden siedelten in Wiesenbach seit dem 16./17. Jahrhundert, vgl. Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 48. Über die Entstehungszeit der hier beschriebenen Mikwe ist nichts Genaueres bekannt, sicher ist nur, dass bereits 1821 eine Mikwe in Wiesenbach vorhanden war, siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 27.10.1821. 102 Siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Baumann über die Mikwe in Wiesenbach vom 20.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 14.3.1839). 103 Die Stufenhöhe errechne ich aus der Beckenhöhe. Die gleiche Stufenhöhe findet sich z. B. in dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden Tauchbad im hessischen Griedel (Gemeinde Butzbach), siehe Altaras, Synagogen, S. 386.
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maximalen Trittlänge von 25 cm (zehn Ansbacher Zoll).104 Dies lässt auf dem Beckengrund noch eine Standfläche von etwa 45 cm. Für einen Wasserstand, der zum Beckenrand hin noch genügend Platz zum Untertauchen bietet, erhält man somit folgende Werte:105 Wasserstand
Volumen (ca.) Volumen (ca.) Becken nach Ansbacher Maß Becken nach württ. Maß106 (Stufen 25 cm) (Stufen 23,87 cm) 92 cm 765 l 700 l 90 cm 740 l 680 l 87 cm 700 l 645 l 85 cm 675 l 620 l Wiesenbach Grundfläche in Fuß (cm): 3,5 x 4 (105 x 120 bzw. 100 x 115)
Interessanterweise entspricht der für den mehr oder weniger höchsten möglichen Wasserstand (vor dem Überlaufen) errechnete Wert von etwa 740 Litern relativ
104 Eine größere Trittlänge ist kaum anzunehmen, da 25 cm einerseits als relativ komfortabel gelten können (dies entspricht der Länge eines Fußes mit Schuhgröße 40), eine größere Länge andererseits die Standfläche auf dem Beckengrund unnötig verringern würde (kleiner als 45 cm). Zudem entsprechen 25 cm genau 10 Zoll, bieten sich also auch aus diesem Grund als Baumaß an. 105 Sämtliche errechneten Werte sind ca.-Angaben und unterliegen zudem der Unsicherheit, dass die in den Akten genannten Werte ebenfalls nur ungefähre Angaben sind, wobei ich jedoch davon ausgehe, dass die Berichterstatter in der Regel wirklich gemessen und nicht nur geschätzt haben; vgl. den Bericht von Dr. Wanner, wo dieser angibt, die Größe des Beckens könne aufgrund der „SeitenWölbungen u. des hohen Waßerstandes wegen nicht ausgemittelt werden“, StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Wanner über die Mikwen in Berlichingen und Bieringen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 10.2.1839). Insbesondere da die Berichterstatter 1839 mit dem im Königreich Württemberg geltenden Fußmaß maßen, die Erbauer des Beckens hingegen vermutlich häufig ganze Vielfache des seinerzeit üblichen Fußmaßes (mit leicht abweichendem Wert) verwendeten, kommt es sehr wahrscheinlich zu kleineren Ungenauigkeiten. Da jedoch bei größerem (oder kleinerem) Fußmaß nicht nur das Beckenvolumen, sondern in der Regel auch das Stufenvolumen entsprechend größer (oder kleiner) wird, relativiert sich dieser Berechnungsfehler bis zu einem gewissen Grad selbst. Entscheidende Abweichungen entstehen bei der Berechnung mit lokalen Längenmaßen lediglich dann, wenn aufgrund der geänderten Beckenmaße auch ein anderer Treppenverlauf (somit ein abweichendes Treppenvolumen) vermutet werden kann oder muss. 106 Da die Entstehungszeit der Mikwe nicht bekannt ist, sollen hier zur Sicherheit auch die Werte angegeben werden, die dann zutreffen würden, wenn die im Bericht von 1839 genannten Maße relativ exakt sind. In diesem Fall ist es jedoch nötig, die Trittlänge der Stufen etwas zu reduzieren, da bei drei Stufen à 25 cm sonst nur noch 40 cm Standfläche auf dem Grund blieben. Auch bietet es sich an, für die Trittlänge das württembergische Zollmaß zu Grunde zu legen. Bei der angenommenen maximalen Trittlänge auf dieser Basis von 23,87 cm (10 Württemberger Zoll) blieben somit immerhin 43 cm Standfläche.
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genau dem Volumen von drei Ansbacher Kubikellen (728 Liter).107 Sofern es sich hierbei nicht um einen Zufall – oder falsche Annahmen bezüglich der Treppengröße – handelt, könnte dies bedeuten, dass man sich bei der Umsetzung der halachischen Vorschrift, wonach eine Mikwe drei Kubik-ama enthalten soll, einfach an den lokalen Gegebenheiten orientierte und das antike Längenmaß ama (‚Elle‘) mit der zeitgenössischen regionalen Elle gleichsetzte. Eine Berechnung des halachisch nötigen Wasservolumens auf der Basis des lokalen Ansbacher Zollwertes von ca. 2,5 cm würde hingegen nur knapp 690 Liter ergeben. Ging man also bei der Planung davon aus, dass ezba und lokaler Zollwert vergleichbar waren, so konnte man die Mikwe auf zweierlei Art konstruieren: entweder mithilfe von Zoll- und Fußmaß oder aber als Becken mit drei Kubikellen. Ein Wasserstand von etwa 87 cm würde bereits die nötige Menge für ein halachisch gültiges Untertauchen garantieren – bei einem Wasserstand von 90 cm, d. h. genau drei Ansbacher Fuß, wäre auch der höhere Wert auf Grundlage der Elle erreicht, der halachisch zusätzliche Sicherheit bot. Es hat demnach ganz den Anschein, als ob man bei der Anlage bewusst für sehr klare Verhältnisse gesorgt habe – eine Voraussetzung dabei immer im Blick: Der Wasserstand durfte hier im Verlauf eines Jahres bestenfalls minimalen Schwankungen unterliegen, um die Tauglichkeit der Mikwe zu gewährleisten.108 Leider ist über den tatsächlichen Wasserstand nichts bekannt, so dass nicht geklärt werden kann, ob die Erbauer diesen Umstand bei ihrer Planung berücksichtigten. Jedoch bieten andere Mikwen wie beispielsweise in Igersheim und Laudenbach indirekt einen Anhaltspunkt dafür, dass andernorts Schwankungen des Grundwasserspiegels beim Bau durchaus eingeplant wurden. Trifft also die Annahme zu, dass man bei der Anlage des Wiesenbacher Beckens eine der beiden Berechnungsformeln auf der Grundlage des Schulchan Aruch verwendete (44.118,375 Kubikzoll oder drei Kubikellen), so kann man aus der hierfür äußerst knapp bemessenen Beckengröße die Vermutung ableiten, dass der Wasserstand in Wiesenbach tatsächlich relativ konstant war.
107 Die Ortschaft Wiesenbach gehörte bis Ende des 18. Jahrhunderts zum Fürstentum Ansbach; siehe Memminger, Beschreibung von Württemberg, S. 806. 108 Wurde die Mikwe hingegen erst nach 1810 und nach geltendem württembergischen Maß errichtet, so verschieben sich die Werte etwas (siehe obige Tabelle zu Wiesenbach). Da jedoch das halachische Mindestmaß auf der Basis des württembergischen Zoll relativ klein ist (600 Liter), ist ein gültiges Untertauchen bei der angenommenen Trittlänge (zehn Württemberger Zoll) ebenfalls bereits ab einem Wasserstand von ca. 85 cm möglich. Das Mindestvolumen auf der Grundlage der Elle (695 Liter) wäre nach dieser Berechnung hingegen erst bei 92 cm Wasserstand erreicht, was bei einer Beckenhöhe von einem Meter äußerst knapp ist. Nichtsdestotrotz könnte auch in diesem Fall die Formel von drei Kubikellen eventuell noch als Konstruktionsgrundlage gedient haben, wenn man eine minimal größere Beckentiefe annimmt. Bei einer Errichtung während der sehr kurzen Zugehörigkeit zum Königreich Bayern (1806–1810) würden sämtliche Werte irgendwo zwischen den für Ansbach und den für Württemberg errechneten liegen.
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Mikwen in L-Form: Beispiel Igersheim?
Die Mikwe von Igersheim (heute Main-Tauber-Kreis) weist die kleinste in der Untersuchung verzeichnete Grundfläche auf; sie beträgt noch etwas weniger als die der Wiesenbacher Mikwe, nämlich lediglich 3 auf 4 Fuß (ca. 85 cm auf 115 cm). Der höchste Wasserstand wird mit 5 Fuß (ca. 145 cm) beziffert bei einer Beckenhöhe von 5–6 Fuß (ca. 145–170 cm).109 Das Tauchbad befand sich ebenerdig in der Küche eines Privathauses, ermöglicht durch den offensichtlich relativ hohen Grundwasserstand an diesem Ort; der Wasserstand in der Mikwe bewegte sich den Angaben zufolge zwischen 3 Fuß (ca. 85 cm) und 5 Fuß (ca. 145 cm). Da über die Entstehungszeit der Mikwe nichts bekannt ist, in Igersheim aber spätestens ab 1742 das Mergentheimer Fußmaß von 28,6 cm verwendet wurde,110 treffen die hier mit dem württembergischen Maß von 28,649 cm angestellten Berechnungen zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit sehr genau zu. Man erhält demnach folgende witterungsabhängigen Grenzwerte für das Volumen: Wasserstand
Volumen gesamt (ca.) württ. Maß, OHNE Treppe 5 Fuß (145 cm) 1.434 l 3 Fuß (85 cm) 830 l Igersheim Grundfläche in Fuß (cm): 3 x 4 (85 x 115)
Der ungefähre niedrigste genannte Wasserstand liegt demnach deutlich über dem nötigen Mindestvolumen auf der Grundlage des württembergischen Zoll (600 Liter), wobei allerdings noch kein Treppenvolumen berücksichtigt ist. Nimmt man hier eine vergleichbar steile Treppe wie in Wiesenbach an, so muss man allerdings bereits bei einer Beckenhöhe von ca. 145 cm mit 5 Stufen rechnen (eine Stufenzahl ist in der Quelle nicht genannt). Jedoch ließe selbst eine extrem kurze Trittlänge von 20 cm111 nur noch 15 cm als Standfläche für das Untertauchen, so dass man vermuten muss, dass sich die Stufen in diesem Fall (zumindest teilweise) außerhalb der Fläche des eigentlichen Tauchbeckens befanden. Durch einen an der Längsseite des Beckens angebrachten Treppenzugang würden Stufen und Becken
109 Die Angaben zu Igersheim entnehme ich StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Wundarzt Hofman über die Mikwe in Igersheim vom 18.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839). 110 Igersheim gehörte bis 1809 zum Deutschordensamt Neuhaus. Während in diesem Gebiet zunächst drei verschiedene Fuß-Maße gebräuchlich waren (neben dem Mergentheimer Schuh noch der Creglinger mit 30,5 cm und der Auber Schuh mit 29 cm), wurden diese 1742 vereinheitlicht (vgl. Schmidt, „AW: Längenmaße“, E-mail). Ab 1809 galt dann der württembergische Schuh mit 28,649 cm als offizielles Maß. 111 Diese Trittlänge (entspricht Schuhgröße 32) kam durchaus vor, so z. B. bei der aus dem 19. Jahrhundert stammenden Mikwe im hessischen Griedel (Gemeinde Butzbach), die allerdings etwas niedriger war und somit mit nur vier Stufen auskam, siehe Altaras, Synagogen, S. 386.
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eine für Kellermikwen nicht ungewöhnliche L-Form bilden.112 Die unterste Stufe befand sich, als Podeststufe, möglicherweise in dem Becken, nämlich im Eck zwischen Becken und Treppenlauf. Ein solches Podest mit einer angenommenen Breite von zwei Fuß (57,3 cm)113 und der Höhe zehn Zoll114 (23,87 cm) hätte ein Volumen von ca. 118 Litern, es blieben also zum Untertauchen bei Niedrigwasser noch 712 Liter plus das Wasser im Treppenbereich115 (ca. 69 Liter), somit insgesamt ca. 780 Liter (in der Tabelle ‚Typ 1‘). Wasserstand
Typ 1 Typ 2 eine Podeststufe Podest + weitere Stufe 2 Fuß x 3 Fuß Treppenbreite 20 Zoll 57,3 cm x 86 cm 47,74 cm 3 Fuß (85 cm) 780 l 600 l Igersheim Grundfläche in Fuß (cm): 3 x 4 (85 x 115)
Für eine weitere Stufe im Beckenbereich (unterhalb des Eck-Podests) müsste man die Breite des Podests (und somit auch der hieran anschließenden Treppe) verringern, um am Grund noch genügend Standfläche zum Untertauchen zu haben (‚Typ 2‘); eine Treppenbreite von 20 Zoll (47,74 cm) mit der Trittlänge zehn Zoll (23,87 cm) würde noch eine Standfläche von etwa 43 cm lassen. Das Volumen bei Niedrigwasser liegt in diesem Fall fast exakt bei 600 Litern, also dem Mindestmaß auf Grundlage des württembergischen Zoll. Verwendet man für die Trittlänge der Stufen im Treppenschacht ein etwas größeres Maß, z. B. ein Fuß, so vergrößert sich auch das Wasservolumen nochmals geringfügig; ein größerer Auftritt unterhalb des Podests ist jedoch deshalb nicht möglich, weil die Standfläche zum Untertauchen dadurch extrem klein würde. Auch sind mehr als die hier angenommenen zwei Stufen innerhalb des Beckens (Podest eingerechnet) aus ebendiesem Grund nicht zu vermuten; wollte man dort noch eine weitere Stufe einbauen, so müsste man an dem Podest sparen, wodurch der hieran anschließende Treppenschacht extrem schmal würde.
112 Für noch sichtbare Beispiele dieses Beckentyps ebenfalls in der Main-Tauber-Region siehe die Fotos der Mikwen von Külsheim (erbaut 1815) und Wenkheim (um 1840) unter Alemannia Judaica: o.V., „Külsheim“, unpag.; o.V., „Wenkheim“, unpag. Für die Datierung der Anlagen siehe Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 268 und 513. 113 Dies entspricht zugleich der Breite der hieran anschließenden Treppe. 114 Die Beckenhöhe von fünf Fuß (143,25 cm) entspricht genau sechs Absätzen von zehn Zoll (23,87 cm), d. h. genau fünf Stufen mit dieser Höhe. 115 Ich nehme hier zur besseren Vergleichbarkeit der Typen 1 (mit Podeststufe) und 2 (mit Podest und weiterer Stufe) beide Mal eine Trittlänge von zehn Zoll (23,87 cm) für gewöhnliche Stufen an; im ersten Fall könnte die Trittlänge der Treppenstufen problemlos auch größer sein (z. B. ein Fuß), im zweiten Fall sind zehn Zoll jedoch die maximale Trittlänge für die Stufe unterhalb des Podests, um dort noch ausreichend Standfläche zu haben.
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Leider beschreibt der Verfasser, wie auch die der anderen Berichte, die Form nicht genauer; zwar bezeichnet er das Becken als „Oblongum“, also ein längliches Viereck,116 meint aber offensichtlich nur das Becken an sich ohne Treppenzugang, wenngleich dieses mit drei auf vier Fuß wenig ‚länglich‘ wirkt, fast eher ein quadratisches Grundmaß hat. Nichtsdestotrotz muss man mit einiger Sicherheit von einer L-Form ausgehen, da die nötige Stufenzahl sonst keinen Platz zum Untertauchen ließe. Gestützt wird diese Annahme auch durch die Schilderung der Mikwe von Berlichingen (heute Hohenlohekreis), die als „länglichtes [sic] Viereck“ beschrieben wird, aber bei der Breite von vier Fuß nur eine geringfügig größere Länge, nämlich viereinhalb bis fünf Fuß, aufweist.117 Auch hier finden die neun Stufen, die der Berichterstatter nennt, unmöglich ganz im Tauchbecken selbst Platz, so dass eine L-Form vermutet werden muss. Für die Mikwe von Igersheim bedeutet diese Annahme, dass der niedrigste genannte Wasserstand bei einer Anlage nach ‚Typ 2‘ ebenfalls ziemlich genau mit der halachisch vorgeschriebenen Wassermenge auf der Grundlage des württembergischen Zoll korrelierte. Langform und stark variierender Wasserstand: Die Mikwen in Laudenbach und Edelfingen
Relativ unklar hinsichtlich der Frage, ob die vorhandene Grundwassermenge immer dem vorausgesetzten halachischen Maß entsprach, sind die Verhältnisse in Laudenbach (heute Main-Tauber-Kreis): Die um 1826 in einem Wohnhaus errichtete Mikwe maß 3,5 Fuß (100 cm) in der Breite, 7 Fuß (200 cm) in der Länge und 5 Fuß (145 cm) in der Höhe, sie war somit eine der längsten Mikwen im nördlichen Jagstkreis.118 Während bei hohem Wasserstand das Becken laut Bericht vollständig gefüllt war, erreichte der Pegel bei Niedrigwasser gerade noch ein Drittel der Beckenhöhe, d. h. etwa 47 cm. Nimmt man an, dass die genannten sieben Stufen hier im Becken selbst angebracht waren (errechnete Stufenhöhe ca. 18 cm, angenommene Trittlänge 21,5 cm bzw. 9 Zoll119 ), so erhält man folgende Werte für das Volumen:
116 Siehe Meyers Konversations-Lexikon, unter ‚Oblongum‘. 117 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Wanner über die Mikwen in Berlichingen und Bieringen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 10.2.1839). Auch hier meint der Verfasser mit großer Sicherheit nur das Becken, nicht die gesamte Form mit Treppenzugang. 118 Die in diesem Abschnitt genannten Daten und Zitate entstammen, soweit nicht anders angegeben, StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Wundarzt und Geburtshelfer Schoninger über die Mikwe in Laudenbach vom 16.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839). 119 Dies ist m.E. die größte anzunehmende Trittlänge; sie ließe auf dem Grund noch 49,5 cm Standfläche. Zwar könnte man die Länge demnach noch minimal vergrößern, müsste dann aber mit ‚krummen‘ Maßen (nicht exakten Vielfachen von einem Zoll) bauen und rechnen. Eine kleinere
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Wasserstand Volumen (ca.) 145 cm 1.815 l 90 cm (5 Stufen) 835 l 80 cm 700 l 73 cm 605 l 72 cm (4 Stufen) 590 l 54 cm (3 Stufen) 385 l 47 cm 320 l 46 cm 310 l Laudenbach Grundfläche in Fuß (cm): 3,5 x 7 (100 x 200)
Demnach wäre erst ab einem Wasserstand von ca. 73 cm die vorgeschriebene Wassermenge von 600 Litern (berechnet auf der Grundlage des württembergischen Zoll) vorhanden. Natürlich ist es theoretisch auch hier denkbar, dass die Treppe ganz oder teilweise außerhalb des Beckens verlief, da der Kellerraum eine ausreichende Größe besaß; bei vollständigem Verlauf außerhalb wäre das Wasservolumen selbst bei 48 cm Höhe immer noch mehr als ausreichend (960 Liter plus das Wasser im Treppenbereich) und würde bei zwei Metern Länge ein relativ ‚komfortables‘ Untertauchen im Liegen gestatten. Möglich ist aber ebenso, dass die Mikwe bei einem Absinken des Wasserpegels unter 73 cm halachisch nicht mehr gültig war, dies jedoch eine absolute Ausnahmesituation darstellte; tatsächlich schreibt der Verfasser des Berichts, es sei „höchst selten nöthig, daß Wasser hinzugetragen werden muß.“120 Da ein ‚Hinzutragen‘ bei nicht ausreichendem Wasserstand halachisch natürlich nicht zulässig ist, muss offen bleiben, ob diese Angabe möglicherweise auf der irrtümlichen Annahme des nichtjüdischen Arztes beruht oder in irgendeiner Form auf der realen Praxis. Dass die Mikwe in diesen „höchst selten[en]“ Fällen tatsächlich aufgefüllt wurde, ist unter zwei bestimmten Voraussetzungen durchaus denkbar: Entweder man wählte eine Zuleitung über den Boden mittels hamschacha, was eine vorhandene Menge von etwa 310–330 Litern Grundwasser gerade noch erlauben würde. Oder aber man ging sowieso von einem gebotenen Mindestvolumen in dieser unteren Größenordnung aus; in diesem Fall wäre sogar ein ‚Hinzutragen‘ problemlos möglich, die Angabe des Arztes also völlig korrekt – und die Mikwe in Laudenbach somit ein Beispiel für ein sehr niedrig angesetztes halachisches Mindestvolumen. Wie die Form der Anlage und damit das Wasservolumen nun tatsächlich war, lässt sich mittels der vorhandenen Daten zwar nicht völlig eindeutig entscheiden, jedoch sprechen einige Punkte eher gegen die ‚Liege-Form‘ mit Treppenverlauf
Trittlänge würde hingegen die Wassermenge nur unwesentlich vergrößern, dabei aber zunehmend die Sicherheit der Benutzer(innen) gefährden. 120 Man könnte die Stelle auch so verstehen, dass in extrem seltenen Fällen der Wasserpegel sogar noch weiter sinkt (auf unter 30 cm), so dass die Menge selbst bei einem Treppenverlauf außerhalb des Beckens nicht mehr der Vorschrift genügt.
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ganz außerhalb des Beckens. Es sind dies: (1) Die Beckenbreite von einem Meter und die dadurch selbst bei Niedrigwasser enormen Wassermengen; eine Breite von etwa 80–90 cm (d. h. etwa 770–860 Liter plus das Wasser im Treppenbereich) wäre für das Untertauchen im Liegen immer noch ausreichend gewesen (wenn auch weniger komfortabel).121 (2) Die nötige Länge für einen Treppenschacht, der ganz außerhalb des Beckens verläuft, wäre zusätzlich wenigstens 1,5 Meter (für sieben Stufen). (3) Eine Formulierung in dem Bericht, aus dem die Daten stammen: „Das Frauenbad selbst oder der Wasserbehälter bildet eine 3 12 .’ breite 5.’ tiefe und 7.’ lange aus Sandsteinen aufgemauerte, mit Steinplatten auf dem Grund belegte Vertiefung, in welcher 7 Treppen angebracht sind.“122 Nichtsdestotrotz lässt sich jedoch festhalten, dass die überdurchschnittliche Größe bzw. Länge der Laudenbacher Mikwe – in der Grundfläche etwa doppelt so groß wie die in Igersheim – gewährleisten sollte, dass auch bei extrem niedrigem Wasserpegel das halachische Maß in der einen oder anderen Form, im Extremfall durch Zuleiten, noch vorhanden war. Eine ungewöhnliche Länge könnte somit auch andernorts auf einen sehr stark variierenden Wasserstand schließen lassen, und zumindest für die Mikwe von Edelfingen mit ebenfalls sieben Fuß trifft dies in ähnlicher Weise zu: Dort waren die Schwankungen sogar noch größer (fünf Fuß Differenz), während es sich in Laudenbach ‚nur‘ um dreieinhalb Fuß handelte; Mitte der 1870er Jahre wurde in Edelfingen schließlich ein leistungsfähiges Pumpwerk installiert, das die häufige Überschwemmung des gesamten Kellers verhindern sollte, dabei aber die finanziellen Möglichkeiten der kleinen Gemeinde bei Weitem überstieg.123 Inwiefern derartige lange Mikwen auch ein Untertauchen im Liegen ermöglichen sollten, kann auf der Grundlage der hier vorliegenden Daten zwar nicht mit absoluter Sicherheit entschieden werden, jedoch sprechen die vorliegenden Beschreibungen beider Tauchbäder sehr wahrscheinlich dagegen: In beiden Fällen wäre hierfür neben dem großen Wasserbehälter zusätzlich noch ein sehr langer Treppenlauf außerhalb des eigentlichen Beckens nötig gewesen – und nicht nur Experten hätten eine solche Anlage als ungewöhnlich sowohl in Form als auch Größe erkannt und in ihrer Beschreibung gewürdigt. Wenn nun aber die besondere Länge gar nicht das Untertauchen im Liegen gewährleisten sollte, warum wählte man dann diese Form? Auch ein ausreichend großes, annähernd quadratisches Becken hätte ein Ausglei-
121 Es sei denn, dass gelegentlich auch ein Wasserstand unter 48 cm auftrat und sich das „höchst selten[e]“ Hinzutragen von Wasser hierauf bezieht. Dies würde dann möglicherweise die Breite von einem Meter rechtfertigen. 122 Hervorhebung nicht im Original. 123 Vgl. hierfür Stadtarchiv Bad Mergentheim, Nr. H-52, Judenfrauen-Bad Edelfingen 1876: Bittschrift des israelitischen Kirchenvorsteheramtes in Edelfingen an das K. Ministerium des Kirchen- und Schulwesens vom 11.5.1876, sowie weitere Schriftstücke derselben Akte.
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chen des schwankenden Wasserstandes (und möglicherweise etwas mehr Komfort) garantiert. Die Erklärung für die schmale und lange Form ist vermutlich einfach die, dass man andernfalls von dem üblichen Baumuster abgewichen wäre, nach welchem sich die Breite einer Mikwe – in dem hier beschriebenen Raum – im Allgemeinen zwischen 3 und 4 Fuß bewegt. Dem stünde zwar nichts Grundsätzliches entgegen, jedoch hätte dies sowohl den aktiven Willen zur Neuerung als auch eine breitere Treppenanlage (die dann aber wieder viel Volumen ‚schluckt‘) bzw. ganz neue architektonische Lösungen erfordert, was bautechnisch sicher kein unbedeutendes Argument war. Selbst wenn diese Überlegungen natürlich nicht verallgemeinert werden können, so bieten sie vermutlich doch die Erklärung wenn nicht für alle, dann doch den überwiegenden Teil von Mikwen mit ungewöhnlicher Länge. Abschließend lässt sich zur Beckengröße und der damit verbundenen Frage des Mindestvolumens bei den hier betrachteten Mikwen des nördlichen Jagstkreises Folgendes festhalten: Bei aller Unsicherheit hinsichtlich der wenigen und regional begrenzten Daten sowie der angestellten Berechnungen entsteht doch der Eindruck, dass man die halachischen Vorschriften bezüglich der vorgeschriebenen Wassermenge nicht bloß im Auge hatte, sondern die Anlage des Mikwenbeckens zumindest mancherorts genauestens auf die lokalen Verhältnisse (d. h. den zu erwartenden niedrigsten Wasserstand) abstimmte. Man scheint sich hierbei entweder an die im Schulchan Aruch genannte Formel für die Berechnung des Mindestvolumens auf der Grundlage der Einheit ezba (gleichgesetzt mit Zoll) oder die einfachere Formel von drei Kubikellen gehalten zu haben. Andererseits ist auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass man hier und dort, trotz der Größe der Anlage, ein niedrigeres Mindestvolumen von etwa 300 Litern zugrundelegte. Einen Hinweis hierauf könnte der amtliche Bericht zur Laudenbacher Mikwe darstellen, zu der im Extremfall womöglich Wasser „hinzugetragen“ wurde. Dabei beruhen die in den Beispielen berechneten tatsächlichen Volumenwerte zwar zu einem beträchtlichen Teil auf Vermutungen bezüglich Treppengröße und -verlauf, jedoch sind die für die Berechnung angenommenen Maße nicht völlig ‚frei erfunden‘. Vielmehr orientieren sich diese an den realen (d. h. beschriebenen) Gegebenheiten und versuchen, in der Rekonstruktion des Tauchbeckens nicht nur optimale Nutzungsbedingungen zu schaffen, sondern auch die Perspektive der Bauplaner zu berücksichtigen, die nach Möglichkeit mit griffigen Maßen, d. h. vollen Vielfachen von Zoll und Fuß arbeiteten. 3.2.2
Baulich-technische Details der Wasserversorgung und Notlösungen
Teilweise war im oberen Bereich des Beckens, bisweilen direkt an der oberen Kante, ein Überlauf angebracht, um den angrenzenden Raum vor Überschwemmung zu schützen. So konnte beispielsweise in Waldmannshofen das Wasser ab einer Höhe von ca. fünf Fuß (140 cm) in den nahen Keller abfließen und wurde von dort nach
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
draußen geleitet.124 Bei den anderen in Tabelle 3 (Anhang I) aufgeführten Mikwen war dies in ähnlicher Weise noch in Laudenbach, Steinbach und Berlichingen der Fall. Auch ein regulärer Abfluss, der für die beständige Erneuerung des Wassers sorgte, konnte vorhanden sein, war jedoch bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts nur da die Regel, wo ein entsprechend starker Zufluss von Wasser dies möglich bzw. nötig machte. Ein Beispiel hierfür ist die Mikwe von Creglingen, die im Gebäude der 1800 eingeweihten Synagoge untergebracht war, und bei der eine Dohle – ein verdeckter Abzugsgraben, eine Rinne oder Röhre125 – das von der nahen Tauber von selbst hereinquellende Wasser wieder abtransportierte: Das Wasser quillt von der ungefähr 100 Schritte entfernt fließenden Tauber vonselbst in das Bad und fließt durch einen Dohl wieder ab, erneuert sich aber bald wieder von selbst durch den Zufluß von der Tauber her, braucht daher nicht sehr oft, ohne der Reinlichkeit Einhalt zu thun, ausgeschöpft zu werden.126
Auch eine nahe Quelle konnte so stark sprudeln, dass ein Abfluss unabdingbar war, wie die Beispiele der Mikwen von Weikersheim (im Gebäude der 1825 errichteten Synagoge integriert), Dünsbach127 sowie vermutlich Wachbach (im Keller der 1822/27 errichteten Synagoge)128 belegen; allerdings scheint die Dohle in Wachbach
124 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Wund- und Hebarzt Ludwig über die Mikwe in Waldmannshofen vom 14.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839). 125 Nach dem Grimmschen Wörterbuch ist eine Dohle ein „verdeckter abzugsgraben, wasser oder unreinigkeiten abzuführen, rinne, canal, cloaca; dann eine röhre zu gleichem gebrauch“; siehe DWB 2, unter ‚dole‘. 126 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Pflüger junior über die Mikwen in Creglingen und Archshofen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839). 127 Das Tauchbad in Dünsbach, das laut Bericht von 1839 von einer Quelle gespeist wurde, verfügte über „Vorrichtungen zum Abfluß und Reinigung des Bades“, siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Ärztlicher Bericht über die Mikwen in Dünsbach und Hengstfeld vom 6.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 14.3.1839). Es scheint sich bei dieser Mikwe um die gleiche zu handeln, die bereits 1821 begutachtet wurde und noch „von frühren Zeiten“ stammt; siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des Schultheißen von Dünsbach vom 10.10.1821 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 27.10.1821). 128 Datierung der Synagoge nach Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 28.
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erst nach 1839 angelegt worden zu sein.129 Über die Mikwe in Weikersheim heißt es in dem Bericht von Unteramtsarzt Dr. Krauß vom 9. Januar 1839: Vor Erbaung der Judenschuhle hatte die Israelitische Gemeinde zu Weikersheim in mehreren Kellern in Privathäusern sogenante Tauchen, welche blos aus 5’–6’ tiefen Gruben bestunden welche sich durch unterirdische Quellen füllten, und von Zeit zu Zeit ausgeschöpft und gereiniget wurden. – Bei Erbauung der hiesigen Sinagoge anno 1825 wurde indeß besonders darauf Bedacht genommen, im Erdgeschoß derselben ein zwäkmäsiges Frauen Baad einzurichten. Mann war so glüklich beim Keller Graben in dem Kalkstein eine reine Quelle zu finden – welche in ein besonders in den Felsen eingehauenes Appartement geleidet und daselbst gefast wurde. Dieses Baad nun ist 6–7’ tief 4’ breit, und hat beständigen Zufluß von reinem Quellwasser und zeigt[?] den nöthigen Abfluß durch eine Dohle. – 130
Wie aus den beiden hier zitierten und anderen amtsärztlichen Bericht hervorgeht, wurde der Frage des kontinuierlichen Wasseraustauschs im Zuge der staatlichen Aufsicht über die Mikwen besonderes Gewicht beigemessen. Nichtsdestotrotz scheint die Bauweise der hier genannten Tauchbäder, bei denen ein ständiger Wasseraustausch bereits sehr früh gewährleistet war, lediglich den lokalen Umständen geschuldet, d. h. einem relativ starken Zufluss durch eine nahe Quelle bzw. Flusswasser. Die staatliche Kontrolle der Mikwen im Königreich Württemberg setzte zwar bereits ab den 1820er Jahren ein, konzentrierte sich in dieser ersten Phase jedoch lediglich auf die Erwärmbarkeit des Badewassers.131 Die Frage nach der Qualität des Wassers und damit nach der Steuerung von Zu- und Ablauf war hier erst Ende des folgenden Jahrzehnts überhaupt von Interesse, Einzug in die staatliche
129 Der Bericht der Untersuchung von 1839 berichtet lediglich davon, dass die Mikwe einen starken Quellzufluss hat und deshalb fast wöchentlich mittels einer Pumpe ausgeschöpft werden muss, „damit der Wasser-Andrang nicht zu stark wird“; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Ärztlicher Bericht über die Mikwe in Wachbach vom 31.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839). Direkt vor der Synagoge und dem rituellen Bad befand sich ein Schachtbrunnen, der sein Wasser offensichtlich aus der gleichen Quelle bezog. Laut einer privaten Auskunft von Eggert Hornig, der die Außenanlage (nicht die Mikwe selbst) noch vor dem Abriss des Gebäudes 1987/1988 ansehen und fotografieren konnte, verfügte die Mikwe ebenfalls über eine Dohle, so dass vermutet werden muss, dass es sich hierbei um eine spätere Lösung handelt; Hornig, „Re: Frage zu Mikwen in Württemberg“, E-mail. Für ein Foto des Brunnenschachts siehe o.V., „Wachbach“, unpag. 130 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Krauß über die Mikwen in Weikersheim vom 9.1.1839 (Anlage zum Bericht des Bezirksamts Weikersheim vom 14.1.1839). 131 Vgl. hierzu StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Ministerialerlass an die K. Kreisregierung in Ellwangen vom 16.4.1821. Für eine systematische Darstellung der staatlichen Aufsicht über Mikwen im Jagstkreis siehe Kapitel 4.
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Reformagenda hielt sie erst in den 1840er Jahren.132 Wie sehr ein vorhandener Abfluss tatsächlich für frisches Wasser sorgte, war von den genauen lokalen Gegebenheiten abhängig und somit von Fall zu Fall vermutlich recht verschieden. So war zwar das Tauchbad in Dünsbach, das laut Bericht von 1839 von einer Quelle gespeist wurde, eine der wenigen Mikwen, die über „Vorrichtungen zum Abfluß und Reinigung des Bades“ verfügten;133 nichtsdestotrotz wurde hier 1849, nur zehn Jahre nach der staatlichen Untersuchung zu Anlage und Wasserqualität, im neu erbauten Schulhaus auch eine Mikwe neu eingerichtet.134 Was auch immer die genauen Gründe für den Neubau gewesen sein mögen: Mit moderneren Systemen, bei denen sowohl der Zufluss als auch der Abfluss des Wassers über verschließbare Röhren geschah, war ein einfacher Abfluss wie bei manchen ländlichen Mikwen jedenfalls nicht vergleichbar. Eine frühe Einrichtung dieser Art, deren erklärtes Ziel die Förderung von „Gesundheit und Reinlichkeit“ war, bestand in der Stadt Posen; sie wurde dort zwischen 1815 und 1828 auf Veranlassung des dortigen Rabbiners Akiba Eger (1761–1837) errichtet und nutzte das Flusswasser der Warthe.135 Prinzipiell konnten Rinnen oder Röhren dazu verwendet werden, das Wasser einer Quelle oder eines Flusses in die Mikwe zu leiten, sofern dabei bestimmte Regeln beachtet wurden: Weder durften diese als ‚Gefäß‘ gelten, also Wasser halten können, noch aus einem Material bestehen, das halachisch als empfänglich für ‚Unreinheit‘ galt.136 Die Regel stellte eine solche Wasserversorgung aber bis ins beginnende 19. Jahrhundert nicht dar, vielmehr drang das Wasser meist von selbst in das Becken ein, entweder von einer Quelle, von einem nahen Bach oder Fluss;137 unter den 34 Mikwen des Jagstkreises, deren Beschaffenheit 1839 untersucht wurde, scheint lediglich diejenige in Bieringen ihr Wasser über eine tönerne Zuleitung zu erhalten.138 Bezüglich der Tauglichkeit von Flusswasser galt es zunächst auch eine
132 Vgl. den 1839 im Auftrag des Oberamts Mergentheim erstellten Bericht von Wundarzt Kleinhanns, der auch den Fragenkatalog zur Beschaffenheit der Mikwen enthält; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Wundarzt Kleinhanns über die Mikwe in Markelsheim vom 15.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839). 133 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Ärztlicher Bericht über die Mikwen in Dünsbach und Hengstfeld vom 6.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 14.3.1839). 134 Vgl. Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 149. 135 Siehe Stern, „Akiba Eigers Gutachten“, S. 31 und 37. Vgl. hierzu auch kurz Kapitel 4.1.2; zur Person und Bedeutung Akiba Egers siehe „Eger, Akiba“, in: BHR 1,1, S. 259–263. 136 Vgl. hierzu SchA, Jore de‘a 201,36, und Stern, „Akiba Eigers Gutachten“, S. 33–37. 137 Vgl. StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des Medizinal-Collegiums vom 16.2.1843[?]. 138 Vgl. StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Wanner über die Mikwen in Berlichingen und Bieringen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 10.2.1839). Wann diese Anlage erbaut wurde, ist leider nicht bekannt. Möglicherweise handelt es sich um eine nach 1821 errichtete Mikwe, da Bieringen bei der Untersuchung der Mikwen des Jagstkreises 1821 nicht berücksichtigt wurde, wahrscheinlicher ist aber trotz allem ein früheres Baudatum; siehe
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grundsätzliche Frage zu klären. Konnte ein Fluss, der während heftiger Regenfälle oder zur Zeit der Schneeschmelze139 große Mengen von solchem ‚Fremdwasser‘, d. h. kein ursprüngliches Quellwasser, führte, noch als eine Quelle (ma‘ajan) angesehen werden? Entschied man diese Frage negativ, so war das Flusswasser (und damit auch jegliche Mikwe auf Flusswasserbasis!) zum Untertauchen ungeeignet, da nur Quellwasser fließen darf, Regenwasser jedoch stillstehen muss. Obwohl viele rabbinische Autoritäten seit dem Mittelalter die strenge Ansicht vertraten, dass das Flusswasser nur dann tauglich ist, wenn zumindest der größere Teil aus Quellwasser besteht, gab es immer auch die erleichternde Meinung,140 die auch Moses Isserles zulässt: Demnach ist ein Fluss, der niemals völlig austrocknet, auch ganzjährig zum Untertauchen geeignet, sofern dies dem örtlichen Brauch (minhag) entspricht.141 Diese Frage ist natürlich auch vor dem Hintergrund wichtig, dass bis ins 19. Jahrhundert nicht jeder Ort, an dem nur wenige jüdische Familien wohnten, überhaupt eine Mikwe besaß, man also unter Umständen in einem Fluss oder Bach untertauchen musste. Isserles berichtet in diesem Zusammenhang, dass es an den meisten Orten ohne Mikwe tatsächlich üblich sei, den Fluss ganzjährig zum Untertauchen zu nutzen.142 Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es zumindest in der wärmeren Jahreszeit nicht ungewöhnlich, auf fließende Gewässer auszuweichen; laut einem Bericht aus den 1830er Jahren „baden“ etwa die Frauen im hessischen Flörsheim und Heddernheim (heute Stadtteil von Frankfurt am Main) „im Sommer im Fluß“143 . Interessanterweise existierte nach ebendiesem Bericht zumindest in Flörsheim eine Mikwe, die aber offensichtlich im Sommer gemieden wurde, sei es aufgrund der Beschaffenheit der Anlage, sei es aufgrund der Wassertemperatur.144 Die Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts war in dieser Hinsicht sicherlich von Ort zu Ort sehr unterschiedlich, die Möglichkeit oder Notwendigkeit, einen Bach oder Fluss zu nutzen jedoch bei den ländlichen Juden in jedem Fall
139
140 141 142 143 144
hierzu genauer die Anmerkung zu Bieringen in der tabellarischen Auflistung von Ortschaften mit jüdischer Bevölkerung, Kapitel 4.1.1. Wenngleich der Status von Flüssen, die Schmelzwasser führen, umstritten ist, darf eine Mikwe sogar vollständig mit Schnee, Hagel oder Eis gefüllt werden, das mit Hilfe von Gefäßen herbeigetragen wurde; vgl. SchA, Jore de‘a 201,30. Für eine Auflistung der verschiedenen Positionen siehe Jachter, „Mikvaot Part 2“, unpag. SchA, Jore de‘a 201,2. Ebd. HHStA Wiesbaden, Bestand 211/7975; zit. nach Bembenek, „Badhaus“, S. 116. Für eine Beschreibung der Mikwen in Flörsheim siehe Altaras, Synagogen, S. 350f. Der Zustand der Mikwen in Hessen-Nassau wurde wie der in anderen deutschen Staaten als mangelhaft beschrieben (vgl. Bembenek, „Badhaus“, S. 116), was sehr wahrscheinlich einen Grund für den ‚Boykott‘ der lokalen Mikwe darstellte; unabhängig davon sind Oberflächengewässer im Sommer meist auch aufgrund der Wassertemperatur zu bevorzugen, siehe weiter unten Kapitel 3.3.2.
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
präsent, wie die Aussage des Rabbiners von Niederstetten (zuständig für die Dörfer im württembergischen Oberamtsbezirk Gerabronn) verdeutlicht: „Da wo keine besondern Anstalten sind, müße das Bad in der ersten besten Quelle geschehen. In den hiesigen Juden Gemeinden seyen durchaus derlei Anstalten.“145 Es kann vermutet werden, dass in solchen Fällen mitunter einfache Behelfskonstruktionen aus Holz dazu dienten, der Frau zumindest einen gewissen Schutz vor Wind und Wetter, den Gefahren des Wassers wie auch neugierigen Blicken zu bieten.146
3.3
Die Frage der Erwärmung
Sowohl der Raum, in dem sich das Tauchbecken befand, als auch das Wasser konnten prinzipiell erwärmt werden. Für die Heizung des Umgebungsraums waren hierbei lediglich die jeweiligen räumlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen, die Platz für einen Ofen sowie den nötigen Rauchabzug bieten mussten. In den mittelalterlichen Monumentalmikwen mit hohem Badeschacht, die vom Prinzip her begehbare Brunnen darstellten, war diese Möglichkeit somit von vornherein ausgeschlossen. Darüber, ob der Baderaum in den einfacheren Kellermikwen des Mittelalters bisweilen geheizt wurde, ist leider bisher zu wenig bekannt. Ein frühes Zeugnis einer solchen Anlage, von Künzl auf vermutlich 1585 datiert,147 findet sich im rheinland-pfälzischen Bacharach-Steeg: Ein Kaminabzug auf der einen Seite des Kellergewölbes, in dem sich auch das Mikwenbecken befand, verweist auf eine Feuerstelle. Da der Raum eine ausreichende Größe aufweist, ist es sehr gut möglich, dass auch das warme Vorbad in diesem geheizten Gewölbe stattfand.148 3.3.1
Halachische Fragestellungen und die Theorie der Erwärmung
Hinsichtlich der Erwärmung des Wassers musste hingegen zunächst die Frage nach der halachischen Zulässigkeit entschieden werden. Der Schulchan Aruch dokumentiert die diesbezügliche Rechtslage zu Beginn der Neuzeit knapp folgendermaßen: וכן למלאת מקוה מים חמין ולחברו,יש מי שאוסר להטיל יורה מלאה מים חמין לתוך המקוה לחממו [ ויש מקילין ומתירין להטיל חמין למקוה כדי לחממה ]הגהות מרדכי:] הגה:לנהר בשפופרת הנאד אז אין למחות, ומכל מקום יש להחמיר אם לא במקום שנהגו להקל.[דהלחות נדה בשם ראבי״ה וריב״א .[בידן ]בנימין זאב[; ובחמי טבריא מותר לכולי עלמא ]מרדכי בסוף שבועות
145 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Protokoll über die Vernehmung von Rabbiner Mahrum Wolf am 16.5.1821 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 17.5.1821). 146 Vgl. Altaras, Synagogen, S. 38. 147 Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 50. 148 Ebd.; Rekonstruktionsskizzen finden sich im Katalogteil des Bandes, S. 158f.
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[Josef Karo:] Manche verbieten es, einen Kessel voll heißen Wassers in die Mikwe zu geben, um sie zu erwärmen, und ebenso eine Mikwe mit heißem Wasser zu füllen und sie durch ein [Loch so groß wie ein] Schlauchrohr mit dem Fluss zu verbinden. Moses Isserles: Und manche erleichtern [die Ausführung des Gebots] und erlauben es, heißes Wasser in die Mikwe zu geben, um sie zu erwärmen [Haggahot Mordechai149 zu „Hilchot nidda“ im Namen von Rawja150 und Riba151 ]. Und in jedem Fall soll man sich an die strenge Auffassung halten, außer an einem Ort, wo man nach dem Brauch erleichtert,152 dann soll man sie nicht hindern [Benjamin Seew153 ]; aber die heißen Quellen von Tiberias sind nach Ansicht aller erlaubt [Mordechai am Schluss von „Schawuot“].154
149 Mordechai ben Hillel ha-Kohen (1240?–1298), von dem nur wenige persönliche Daten bekannt sind, lebte unter anderem in Goslar und Nürnberg, wo er bei den Rintfleisch-Pogromen den Märtyrertod starb. Bekannt wurde er als Verfasser von Sefer Mordechai (auch einfach bezeichnet als ‚der‘ Mordechai), einer umfassenden Sammlung von rabbinischen Diskussionen vor allem aus dem französischen und deutschen Raum, die von seinen Schülern herausgegeben wurde. Neben dem kompletten Werk existieren unzählige und sehr verschiedene gekürzte Versionen, darunter auch der Mordechai ha-katan von Samuel Schlettstadt (1376), den dieser um eigene Anmerkungen erweiterte (Haggahot Mordechai). Siehe Ta-Shma/Horowitz, „Mordecai ben Hillel Ha-Kohen“, S. 480f. 150 Elieser ben Joel ha-Lewi von Bonn (1140–1225), nach dem hebräischen Akronym seines Namens auch als Rawja bezeichnet, wirkte als rabbinischer Gelehrter an verschiedenen Orten im Deutschen Reich sowie in Frankreich und der Lombardei, ab 1200 auch als Rabbiner in Mainz. Sein Werk beeinflusste maßgeblich die halachische Literatur bis zur Veröffentlichung des Schulchan Aruch. Siehe Horowitz, „Eliezer ben Joel Ha-Levi of Bonn“, S. 326f. 151 Isaak ben Ascher ha-Lewi, bekannt unter dem Akronym Riba, lebte in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts bis zu Beginn des 12. Jahrhunderts in Speyer. Er war ein Schüler Raschis und verfasste als erster deutscher Tosafist Kommentare zu fast allen Traktaten des Talmuds, die jedoch nur teilweise in Sammlungen enthalten sind bzw. nur in späteren halachischen Werken zitiert werden. Siehe Havlin, „Isaac ben Asher Ha-Levi“, S. 39f. 152 Für die enorme Bedeutung von lokal oder regional beachteten Bräuchen (minhag, Plural minhagim) im Allgemeinen vgl. Herr/Elon, „Minhag“, S. 265–278. Zur Beachtung dieser Regel im Zusammenhang mit der Einführung von warmem Mikwenwasser siehe Marienberg, „Cold Water“, S. 24–31. 153 Benjamin Seew ben Matatias von Arta (Griechenland), 16. Jahrhundert, hielt sich im Laufe seines Lebens an verschiedenen Orten, unter anderem Venedig auf, kehrte aber schließlich in seine Heimatstadt Arta zurück, wo er als Rabbiner tätig war. Aufgrund seiner unabhängigen und teilweise liberalen Auslegungen des Religionsgesetzes war er nicht unumstritten, übte aber in dem nach ihm benannten Hauptwerk (Druck Venedig 1539) dennoch beträchtlichen Einfluss aus; siehe Horowitz, „Benjamin Ze’ev ben Mattathias of Arta“, S. 364. Zu Benjamin Seews Standpunkt in der Erwärmungsfrage, dessen zeitgenössische Beurteilung und Bedeutung für die weitere Entwicklung der Halacha siehe Marienberg, „Cold Water“, S. 24–26. 154 SchA, Jore de‘a 201,75. Abgesehen von Doppelpunkten entstammt die Interpunktation des hebräischen Textes nicht der Vorlage, sondern wurde von mir zum Zweck der besseren Lesbarkeit ergänzt;
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Josef Karo spricht hier zwei Methoden der Erwärmung an: die technisch aufwändigere einer Rohrverbindung mit einem Fluss (haschaka-Methode) und die des einfachen Zugießens von heißem Wasser. Wie bereits beschrieben, wurde in der Regel trotz der vorherrschenden Ansicht, wonach eine Quelle durch geschöpftes Wasser nicht untauglich wird, erschwert,155 und das Zugießen von Wasser nur entsprechend den Vorschriften gestattet. Dies bedeutet, dass auch eine Mikwe auf Quell- oder Grundwasserbasis zunächst das erforderliche Mindestmaß von 40 se’a enthalten musste, bevor man nach Belieben gewöhnliches Wasser hinzufügen konnte. Nichtsdestotrotz war die Frage, ob das Wasser einer Mikwe auf diese oder auch eine andere Weise erwärmt werden dürfe, unter den rabbinischen Autoritäten des Mittelalters noch umstritten. Da diese Thematik im beginnenden 19. Jahrhundert erneut eine wichtige Rolle spielte, wenn auch unter anderen Vorzeichen, sollen im Folgenden die wesentlichen halachischen Aspekte im Zusammenhang mit der Erwärmung problematisiert werden.156 Zwei Brüder, zwei Meinungen: Das Rätsel um das Verbot von Rabbenu Tam
Angesichts des klaren halachischen Rahmens fällt es schwer, für das Verbot der Erwärmung einen konkreten Grund ausfindig zu machen, wenn nicht den der Vorsicht: Da warmes Wasser sich (von Ausnahmen abgesehen) nicht auf natürliche Weise angesammelt haben kann, könnte das Wasser in der Mikwe für ‚normales‘, geschöpftes Wasser gehalten werden – und in Folge das diesbezügliche Verbot
die Quellenhinweise in eckigen Klammern entnehme ich den Anmerkungen der verwendeten Friedman-Edition. Das semantisch relativ unspezifische Verb להטילkann das Zufügen sowohl von festen als auch von flüssigen Stoffen beschreiben (vgl. Jastrow, Dictionary, unter ‚ )‘נטלund wird in diesen beiden Bedeutungen auch bereits in Mischna und Talmud verwendet, so unter anderem in mJoma 3,5/bJoma 34b, wonach einerseits heißes Wasser, andererseits erhitzte Eisenstücke das rituelle Bad für den Hohepriester erwärmen sollten (vgl. zu dieser Stelle unten Abschnitt Rabbenu Tams Verbot und die Praxis). Um die Verwendung unterschiedlicher hebräischer Verben für das Beimischen von heißem Wasser in den betrachteten Quellen auch im deutschen Text zum Ausdruck zu bringen, übersetze ich להטילneutral mit ‚geben‘. 155 SchA, Jore de‘a 201,40; siehe auch Kapitel 2.3. 156 Für eine umfassendere Erörterung verweise ich auf die Darstellung in dem hebräischen Artikel „Women, Men, and Cold Water: The Debate over the Heating of Jewish Ritual Baths from the Middle Ages to Our Own Time“ (2013), in welcher Marienberg insbesondere auch die Wechselwirkungen zwischen dem aschkenasischen und dem sefardischen Raum beschreibt. Einige zentrale Aspekte werden auch bereits in seinem früheren Aufsatz „Le bain des Melunaises“ besprochen.
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irrtümlich übertreten werden bzw. allmählich aus dem Bewusstsein der Menschen verschwinden. Diese Sorge liegt dem im Sefer Maharil ausgesprochenen Verbot des angesehenen Mainzer Talmudgelehrten R. Jakob ben Moses Molin (ca. 1360–1427)157 zugrunde: דנראה,מהר״י סג״ל אמר שאסור לשפוך מים חמין בתוך מקוה לפשרו בימי הגשמים בשעת הטבילה .כאילו טובלת במים שאובין
Mahari Segal [Jakob ben Moses Molin] sagte, dass es verboten ist, in der Regenzeit [d. h. im Winter] zum Zeitpunkt des Untertauchens warmes Wasser in die Mikwe zu gießen, um sie zu erwärmen, da es so aussieht, als würde sie in geschöpftem Wasser untertauchen.158
Etwas anders verhält es sich mit dem Standpunkt des bedeutendsten rabbinischen Gelehrten des 12. Jahrhunderts, nämlich des französischen Tosafisten159 R. Jakob ben Meir Tam, besser bekannt als Rabbenu Tam (ca. 1100–1171),160 jedoch ist auch in diesem Zusammenhang die Vorsicht das ausschlaggebende Moment. Überliefert wird das Verbot innerhalb des um 1200161 entstandenen Briefwechsels zweier
157 Jakob ben Moses Molin (geboren um 1360 in Mainz, gestorben 1427 in Worms), bekannt als Maharil, war der bedeutendste aschkenasische Talmudgelehrte seiner Zeit. Der von seinem Schüler Salman von St. Goar verfasste Sefer Maharil (bzw. Minhage Maharil) überliefert seine Lehrmeinungen und fand in der Folgezeit weite Verbreitung; auch Isserles’ Kommentar zum Schulchan Aruch verzeichnet viele der von ihm beschriebenen Bräuche. Siehe Kupfer, „Moellin, Jacob ben Moses“, S. 414f. 158 [Salman von St. Goar], Sefer Maharil, Hilchot nidda 7. 159 Tosafisten bezeichnet die Verfasser der Tosafot (wörtlich ‚Zusätze‘) bzw. auch allgemein die Vertreter dieser Lehr- und Auslegungsmethode des Talmud. Die Gruppe entstand im Umkreis der Schüler Raschis in der fragenden Auseinandersetzung mit dessen Talmudkommentar und hatte ihren Höhepunkt im 12. und 13. Jahrhundert, bedeutende Zentren waren in Nordfrankreich aber auch im deutschsprachigen Raum. Zu den wichtigsten Vertretern zählen unter anderem R. Jakob ben Meir (Rabbenu Tam), sein Bruder R. Samuel ben Meir (Raschbam), sein Neffe Isaak ben Samuel von Dampierre (Ri) und R. Meir ben Baruch von Rothenburg (Maharam). Zu dieser einflussreichen Bewegung siehe ausführlich Ta-Shma, „Tosafot“, S. 67–70. 160 Jakob ben Meir Tam, ein Enkel Raschis, wurde schon zu Lebzeiten als höchste rabbinische Autorität seiner Zeit betrachtet. Trotz der prinzipiellen Bereitschaft, seiner Führungsrolle gemäß auf die Bedürfnisse der Zeit zu reagieren, sind seine halachischen Entscheidungen teilweise sehr konservativ, besonders wenn dies die Bräuche einfacher, ungelehrter Menschen betraf. Diese Tendenz zeigt sich vor allem in dem erbitterten Streit mit R. Meschullam ben Natan von Melun, den er für die in Melun eingeführten Bräuche scharf kritisierte. Sein Hauptwerk ist der Sefer ha-jaschar, bestehend aus Responsen einerseits und Talmudkommentaren andererseits. Siehe Ta-Shma/Netzer, „Tam, Jacob ben Meir“, S. 491f. 161 Marienberg, „Le bain“, S. 94.
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Brüder und Schüler von Rabbenu Tam: R. Samson ben Abraham von Sens und R. Isaak ben Abraham. Beide Brüder, deren genaue Lebensdaten nicht überliefert sind, waren bekannte Tosafisten, wobei Samson als der bedeutendere gilt162 Die hier zitierte Stelle entstammt dem Sefer Rawja des R. Elieser ben Joel ha-Lewi aus Bonn (1140–1225), der ein Zeitgenosse von Samson und Isaak war: 163 אמרו לי שהיית רוצה. וראיתי תשובת ה״ר שמשון ב״ר אברהם נ״ע שהשיב לאחיו ה״ר יצחק וזהו לשונו ודבר זה ראוי לאסור יותר משום,להתיר למלאות מקוה מים חמין ולחברם אל הנהר בשפופרת הנוד ואני שמעתי ואיני יודע אם מר״ת עצמו או ממורי הקדוש שהיה כבר מקוה אחד […] גזירת מרחצאות והיו הנשים מחממות יורה מליאה מים ומשליכות למקוה לחמם בימות החורף ואסר להם ר״ת והטעם .ושמא מטעם זה אסר. לא נאמר לי
Auch habe ich die Antwort des Meisters R. Samson, Sohn des R. Abraham, seine Seele ist in Eden, gesehen, der seinem Bruder, dem Meister R. Isaak, folgendermaßen antwortete: Man sagte mir, Du habest erlauben wollen, eine Mikwe mit heißem Wasser zu füllen und dieses durch ein [Loch so groß wie ein] Schlauchrohr mit dem Fluss zu verbinden. Und dies verdient es mehr als das Verbot der Badehäuser verboten zu werden […]. Und ich habe gehört, und ich weiß nicht ob von Rabbenu Tam selbst oder von meinem heiligen Lehrer [R. Isaak ben Samuel von Dampierre?]164 , dass es schon eine Mikwe gab, wo die Frauen einen Kessel voll Wasser erwärmten und in die Mikwe schütteten, um [sie] im Winter zu erwärmen, und Rabbenu Tam hat [es] ihnen verboten; aber der Grund wurde mir nicht genannt, und vielleicht ist es aus diesem Grund verboten.165
162 Zu ihrem Leben und Werk siehe Havlin, „Isaac ben Abraham“, S. 38, und ders., „Samson ben Abraham of Sens“, S 752f. 163 Elieser ben Joel ha-Lewi von Bonn [Rawja], Sefer Rawja, Bd. 3, Nr. 991 (S. 307). Der Abschnitt findet sich (mit mehr oder weniger großen Abweichungen) unter anderem auch im Sefer or saru‘a, Sefer Mordechai und Sefer ha-agur; siehe Isaak ben Moses von Wien [Or Sarua], Sefer or saru‘a, Bd. 1, Hilchot nidda 366; Mordechai ben Hillel ha-Kohen, Mordechai, Hilchot mikwa’ot 750; Landau, Sefer ha-agur, Hilchot tewila 1405. Die Stelle wird ebenfalls zitiert und besprochen bei Marienberg, „Cold Water“, S. 9–12, sowie ders., „Le bain“, S. 94. 164 Nach Marienberg ist hier wahrscheinlich Isaak ben Samuel von Dampierre (bekannt als Ri, gestorben ca. 1185) gemeint, der Lehrer sowohl von R. Isaak ben Abraham als auch seines Bruders Samson; siehe Marienberg, „Le bain“, S. 94 (Anm. 12). Isaak ben Samuel von Dampierre war ein Neffe und Schüler von Rabbenu Tam und neben ihm einer der bedeutendsten Tosafisten seiner Zeit; siehe Ta-Shma, „Isaac ben Samuel of Dampierre“, S. 48. 165 Ich übersetze an dieser Stelle gemäß der Variante bei Mordechai (Hilchot mikwa’ot 750), der entgegen Rawja, Or saru‘a und Sefer ha-agur hier ‚( אסורverboten‘) schreibt. Bei Übersetzung als Aktiv (‚verbot‘) ist die Frage des Agens unklar. Denkbar wäre einerseits der erwähnte Lehrer, der demnach auf Rabbenu Tams lokales Verbot hin die Erwärmung allgemein verbieten würde. Marienberg vermutet, dass es sich hierbei um den Schüler Rabbenu Tams, Isaak ben Samuel von Dampierre (Ri), handeln könnte; allerdings widerspricht dies der Identifizierung des ‚Meister
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Aus Samsons Schreiben an seinen Bruder geht hervor, dass Isaak offensichtlich die auch später im Schulchan Aruch erwähnte Methode der Verbindung einer erwärmten Mikwe mit Flusswasser erlaubt. Samson verbietet sie jedoch entschieden und beruft sich dabei auf die bekannte Autorität des Rabbenu Tam: Dieser habe in einem konkreten Fall das Zugießen von heißem Wasser verboten, ohne dass der Grund hierfür bekannt ist – und für Samson (wie auch andere mittelalterliche Rabbiner) scheint dies Grund genug, um generell jegliche Erwärmung des Wassers abzulehnen.166 Auch die mittelalterlichen Anhänger von Rabbenu Tam befolgen somit das rabbinische Prinzip, einen so genannten ‚Zaun um die Tora‘ zu errichten, d. h. mit Hilfe von zusätzlichen Vorsichtsmaßnahmen das unwissentliche Übertreten eines Verbots zu verhindern – wenngleich ihre Entscheidung nicht auf eigenständiger Überlegung basiert (wie bei Jakob Molin), sondern auf der Autorität Rabbenu Tams und der Unsicherheit bezüglich seiner Lehrmeinung. Etwas mehr Einblick in die Brisanz der Frage wie auch die tatsächliche mittelalterliche Praxis gewährt in diesem Zusammenhang eine Glosse im Sefer ha-nejar 167 (um 1300), die einen Antwortbrief desselben Isaak ben Abraham enthält. Wenngleich Evyatar Marienberg die Passage bereits in seinen beiden dieser Thematik gewidmeten Aufsätzen zitiert,168 erscheint es mir lohnenswert, sie hier in voller Länge mit einzubeziehen, da einerseits wesentliche Elemente des Diskurses über die Erwärmung enthalten sind, und andererseits Marienbergs Befunde nicht sämtliche Details berücksichtigen:
Isaak‘ im Sefer ha-nejar (siehe unten) ebenfalls als Ri, da dieser dort die Erwärmung der Mikwe uneingeschränkt erlaubt. Andererseits könnte hier wieder Rabbenu Tam selbst gemeint sein, der warme Mikwen „aus diesem Grund“ verbot. In diesem Fall muss der Grund vermutlich in dem Verbot der Badehäuser gesehen werden, vgl. hierzu die folgende Anmerkung. 166 Marienberg merkt an, dass sich „aus diesem Grund“ möglicherweise auf das zuvor genannte Verbot der Badehäuser bezieht, d. h. man verbot die Erwärmung allein schon deshalb, weil so der Unterschied zwischen Mikwe und Badehaus zu verwischen drohte; vgl. Marienberg, „Cold Water“, S. 10 (Anm. 38). 167 Zur Bedeutung des anonymen Werks, das Bräuche aus dem deutschen und französischen Raum beschreibt, siehe Ta-Shma, „Sefer Ha-Neyar“, S. 240. 168 Zuletzt 2013 in „Women, Men, and Cold Water“ (S. 13f), in etwas gekürzter Form auch bereits 2002 in „Le bain des Melunaises“ (S. 96).
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הנה מאד תמהתי על דבר אשר.תשובה מרבי׳ יצחק בר׳ אברהם על חימום מי מקוה דטבילה נשים אסרת להחם המקוה במים חמים או באבנים חמים בעששיות של ברזל וכתבת לי דברים אשר לא שמעת האוזן כי ר״ח כתב בפי׳ אשר ר״ת כתבם בספר הישר שלו והעיד עליו עדים נאמנים וכל דבריו דברי קבלה והוא התיר הדבר בלא גמגום ואתה אוסר ולא ידעתי את הטעם הנקל הנקלה בעיניך לבטל והלא רבי׳ יצחק מורה כדברי והנהיג שיטתו במס׳ תענית גבי טבילה בחמין.בנות ישראל מפרייה ורבייה וגם הרב ז״ל מלוניי״ל כתב וזה לשונו לדידן נמי יכול להיות מקוה חם בי״ט דאין,מי איכא והתיר הדבר מים חמין ואפי׳ לרבנן יכול להחם בעששיות של ברזל או במקוה שלם ויחמוהו המים שאובין וזהו כדברי וגם ר״ת לא החמיר במלאו״ן לאסור רק התרה בהם להזהר במקוה שלם יען כי הם אינן בני תורה.ממש אבל לא להורות,ולא היו בקיאים בדיני׳ כי אולי יהיה המקוה חסר וישלימהו באותן מים שאובין חמין ואני, והלא כבר יצא מישיבת רבי׳ יצחק היתר גמור בדבר אשר עליו נאמר וצדיק יסוד עולם.איסור ,הקטן בכולם קבלתי כך ממנו ואין לסור ימין ושמאל כי כבר זרחה השמש עליו משא ישראל ואציליו 169 עכ״ל
Antwort unseres Meisters Isaak, Sohn des Abraham, zur Erwärmung des Mikwenwassers für das Untertauchen der Frauen. Siehe, ich bin sehr erstaunt darüber, dass Du verboten hast, die Mikwe durch warmes Wasser oder warme Steine [oder] durch Eisenstücke zu erwärmen; Du hast mir Dinge geschrieben, die unerhört sind.170 Denn Rabbenu Chananel171 schrieb klar, was Rabbenu Tam in seinem Sefer ha-jaschar 172 wiederholte173 […], und er erlaubte die Sache ohne Zögern, und Du verbietest? Auch verstehe ich den Grund nicht. Scheint es Dir etwa eine Kleinigkeit, die Töchter Israels von [dem Gebot] „Seid fruchtbar und mehret euch“ abzuhalten? Und lehrt etwa nicht unser Meister Isaak174 ebenso wie ich […] und erlaubte die Sache, und auch der Meister aus Lunel,175 sein Andenken zum Segen, schrieb folgendermaßen: Ihrer Meinung nach kann eine
169 Sefer ha-nejar, Hilchot nidda 29. Ich zitiere hier den vollständigen hebräischen Text, lasse aber im deutschen Text kleinere Abschnitte, die für die Argumentation nicht von Bedeutung sind, unübersetzt. 170 Die hebräische Grammatik an dieser Stelle (wie auch anderen Stellen der Glosse) ist fehlerhaft. Die wörtliche Bedeutung ist in etwa ‚Dinge, die das Ohr nicht gehört hat‘. 171 Gemeint ist Chananel ben Chuschiel, geboren in Kairouan, gestorben 1055/56. Sein weit verbreiteter Kommentar zum Talmud wurde besonders auch von den französischen Tosafisten rezipiert; siehe hierzu sowie zu seinem Einfluss allgemein: Ta-Shma, „Hananel ben Hushi’el“, S. 314f. 172 Nach Marienberg handelt es sich hier um eine heute nicht erhaltene Version des Sefer ha-jaschar; siehe Marienberg, „Le bain“, S. 96 (Anm. 17). 173 Wörtlich: ‚schrieb‘. 174 Nach Marienberg ist hier zweifellos Isaak ben Samuel von Dampierre (bekannt als Ri, gestorben ca. 1185) gemeint, der Lehrer sowohl von R. Isaak ben Abraham als auch seines Bruders Samson; siehe Marienberg, „Le bain“, S. 96 (Anm. 18). Vgl. zu dieser These auch oben Anm. 164 und 165. 175 Welcher Gelehrte hier gemeint ist, ist nicht eindeutig zu bestimmen, siehe Marienberg, „Le bain“, S. 96 (Anm. 19).
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warme Mikwe auch mit 19 se’a176 warmem Wasser [hergestellt werden]. Und sogar nach rabbinischer Auffassung kann man [sie] durch Eisenstücke erwärmen, oder bei einer vollen Mikwe erwärmt das geschöpfte Wasser sie, und dies entspricht genau meinen Worten. Und auch Rabbenu Tam folgte in Melun nicht der strengen Auffassung um zu verbieten, [sondern] warnte sie nur, auf eine volle Mikwe Acht zu geben, weil sie keine Torakundigen sind und nicht mit den [halachischen] Entscheidungen vertraut – denn möglicherweise könnte die Mikwe nicht voll sein und sie könnten sie mit eben diesem geschöpften warmen Wasser auffüllen – aber nicht, um ein [absolutes] Verbot zu lehren. Und ging von der Jeschiwa unseres Meisters Isaak etwa nicht bereits eine vollständige Erlaubnis der Sache aus […]? Und ich, der Geringste von allen, erhielt diese [Lehrmeinung] von ihm […].
Unter der Annahme, dass es tatsächlich nur eine einzelne Mikwe gab (so in Samsons Brief: אחד )מקוה, bei der Rabbenu Tam eingreifen musste, lässt sich die hier genannte Mikwe in Melun mit der aus Samsons Brief gleichsetzen,177 die von den Frauen mit heißem Wasser erwärmt wurde, und es stellt sich die Frage, welchem Lager Rabbenu Tam nun zuzurechnen ist. Leider hat sich, wie Marienberg schreibt, die von Isaak angeführte Version von Sefer ha-jaschar nicht erhalten,178 in der sich Rabbenu Tam ausdrücklich der Meinung Rabbenu Chananels angeschlossen 176 Die hebräische Grammatik ist an dieser Stelle problematisch, eine wörtliche Übersetzung ergibt m.E. keinen Sinn. Der Beginn des Satzes ( )נמי יכול להיות מקוה חם בי״טlegt jedoch nahe, dass das Auffüllen einer Mikwe von 21 se’a koscherem Wasser mit 19 se’a gewöhnlichem Wasser gemeint ist (was dann mittels hamschacha geschehen müsste). Ich vermute, dass der überlieferte Text im Fortgang fehlerhaft ist und übersetze entsprechend: Nimmt man für דאיןanstelle des dalet ( )דein samech ( )סan, so erhält man die Angabe s’in (Plural von se’a), was einen von der Argumentation her schlüssigen Text erzeugt: נמי יכול להיות מקוה חם בי״ט סאין מים חמין. Die verwendete Quellenedition, die verschiedene Handschriften berücksichtigt, gibt für diese Stelle keine alternative Lesart an. 177 So auch Marienberg, „Le bain“, S. 96, der die nötige Voraussetzung für seine These allerdings nicht thematisiert. Nichtsdestotrotz würde ich in der Frage des nicht genannten Adressaten von Isaaks Brief nicht so weit gehen wie Marienberg, der davon ausgeht, dass es sich bei Isaaks Schreiben „ohne Zweifel“ um seine Antwort auf Samsons Brief handelt (Marienberg, „Le bain“, S. 96; vgl. auch ders., „Cold Water“, S. 15). Angesichts der Tatsache, dass die angesprochenen Methoden der Erwärmung in beiden Briefen nicht identisch sind, scheint mir diese Schlussfolgerung etwas zu gewagt (auch wenn man natürlich annehmen kann, dass die thematische Diskrepanz auf die Überlieferung zurückzuführen ist, wir vermutlich nicht den Originalwortlaut der beiden Briefe kennen). Immerhin ist aber nicht auszuschließen, dass Isaak mehr als eine Anfrage erhielt, die der seines Bruders ähnlich war. Wie Marienberg schreibt, optierten viele mittelalterliche Autoritäten für das Verbot jeglicher Erwärmung des Wassers, da sie sich gewissermaßen nicht an Rabbenu Tam ‚vorbei‘ wagten („Le bain“, S. 95). Wenn Isaak also eine erleichternde Auffassung vertrat und eventuell praktizierte, dürfte er diesbezüglich noch weitere Anfragen, neben der seines Bruders, erhalten haben, und es liegt nahe, dass er auch in Antworten an andere Korrespondenten versucht, die missverstandene Position Rabbenu Tams klarzustellen. 178 Siehe Marienberg, „Le bain“, S. 96 (Anm. 17).
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haben soll, jedoch berichten auch andere Tosafisten über ihn, dass er eine ähnliche Position vertreten habe wie Chananel.179 Somit erscheint Isaaks Klarstellung des in Melun ausgesprochenen Verbots durchaus glaubwürdig, wonach dieses lediglich eine falsche Praxis unterbinden sollte. Der Fall Melun: Die Mikwe als ‚Hoheitsgebiet‘ der Frauen?
Was genau das halachische Problem in Melun war, lässt sich zwar nicht rekonstruieren, denkbar wären aber zwei Möglichkeiten: Einerseits könnte ganz allgemein die Befürchtung bestanden haben, dass den Verantwortlichen das nötige Wissen über Mikwen fehlte, und sie deshalb eine Mikwe von weniger als 40 se’a mit warmem Wasser auffüllen könnten; somit erschiene angesichts der Vorgänge, und im Hinblick auf potentielle Nachahmer, eine vorbeugende Maßnahme in Form einer Verwarnung angebracht.180 Andererseits könnte sich auch bereits eine alternative Praxis etabliert haben, die das Eingreifen Rabbenu Tams akut erforderte – was umso wahrscheinlicher ist, als der dortige Rabbiner Meschullam ben Natan wegen verschiedener von ihm eingeführter Bräuche von Rabbenu Tam hart angegriffen wurde.181 Denn offensichtlich gab es neben der Möglichkeit, einer vollen Mikwe gewöhnliches Wasser beizumengen, auch noch eine weitere, ebenfalls diskutierte Methode, die Isaak in seinem Brief dem „Meister aus Lunel“ zuschreibt, nämlich das Auffüllen von nur 21 se’a koscherem Wasser.182 Dass die fehlenden 19 se’a warmes Wasser in diesem Fall mittels der bereits im Talmud genannten Methode der hamschacha183 zugeleitet werden, wird hier zwar nicht ausgesprochen, ist aber zu vermuten. Über die Frage, in welchem Umfang hamschacha-Wasser zuzulassen ist, und ob ein Verbot biblisch oder ‚nur‘ rabbinisch ist, herrschen bis heute verschiedene Ansichten,184 und auch im Mittelalter wurde dieser Problemkreis immer wieder – nicht nur unter den Tosafisten – diskutiert.185 Auch der als Rawja bekannte Elieser ben Joel ha-Lewi von Bonn, der nicht der Gruppe zuzurechnen ist, geht in seiner ausführlichen Erörterung der Erwärmungsfrage auf diese Methode ein, nachdem er den oben zitierten Brief Samsons (sicher als einer der ersten)186 in voller Länge wiedergegeben hat. 179 Siehe Marienberg mit Verweis auf Tosafot zu bNidd 66b („Le bain“, S. 93 Anm. 9). 180 Marienberg weist darauf hin, dass Rabbenu Tam die Gemeindemitglieder von Melun für sehr ungebildet hielt, siehe Marienberg, „Le bain“, S. 98. 181 Vgl. oben Anm. 160 zu Rabbenu Tam, sowie Ta-Shma, „Meshullam ben Nathan of Melun“, S. 78f. 182 Vgl. zu dieser Interpretation oben Anm. 176. 183 bTem 12a–b. 184 Siehe oben Kapitel 2.4 (Abschnitt zu hamschacha). Auf die Frage wird auch weiter unten im Kontext des innerjüdischen Diskurses im 19. Jahrhundert (Kapitel 6.2) noch eingegangen. 185 Siehe Jachter, „Mikvaot Part 3“, unpag. 186 Da Elieser ben Joel ha-Lewi von Bonn vor Beginn seiner Rabbinertätigkeit in Köln im Jahr 1200 Reisen unter anderem nach Frankreich unternahm, ist es nicht auszuschließen, dass er Isaak
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Nach Rawjas Ansicht ist hamschacha erlaubt, wenn die Mikwe bereits 21 se’a koscheres Wasser enthält,187 somit auch das Zuleiten von warmem Wasser mittels dieser Methode. Wenn nun Rabbenu Tams Warnung, stets „auf eine volle Mikwe Acht zu geben“, eine ganz konkrete Reaktion auf diese Problematik darstellt, so könnte dies wiederum zwei Gründe haben: Entweder er lehnte das hamschacha-Prinzip grundsätzlich ab, oder aber er hielt es angesichts der Umstände für angebracht, diese kompliziertere Methode, die ein größeres halachisches Wissen und mehr Sorgfalt erfordert, für die Praxis in den Gemeinden auszuschließen. Wie sah aber diese Praxis aus? War es bis dahin so, dass eine einmal errichtete Mikwe auf Quellwasserbasis relativ ‚pflegeleicht‘ war und im Normalfall keiner besonderen Aufsicht bedurfte, so stellte sich nun, aufgrund der Erwärmung, ganz neu auch die Frage der Verantwortung für den korrekten Betrieb – wodurch im ‚Präzedenzfall‘ von Melun ebenfalls die Rolle der Frauen auf die Tagesordnung rückte. Könnte es somit sein, dass Rabbenu Tam speziell die Frauen des Ortes als Verantwortliche für die Zubereitung des Tauchbads im Auge hatte, als er warnte, „auf eine volle Mikwe Acht zu geben“? Seine unmittelbare Begründung, „weil sie keine Torakundigen [wörtlich ‚Söhne der Tora‘] sind“ (תורה בני אינן הם כי )יען, würde einer solchen Annahme nicht unbedingt widersprechen; in gewisser Weise wäre der Begriff ‚Söhne der Tora‘ sogar sehr passend, würde er doch die ungeheure Tragweite der Entscheidung hervorheben, vor die sich Rabbenu Tam gestellt sah: Darf man die Erwärmung der Mikwen erlauben – und damit den Frauen (in Melun und anderen Gemeinden, die ihrem Beispiel folgen könnten) einen religiös hoch sensiblen Bereich bedenkenlos überlassen? Frauen verfügten im Normalfall über keine profunde halachische Bildung, waren eben keine ‚Söhne der Tora‘, und ein gewisses Unbehagen der Rabbiner angesichts einer Entwicklung, die das traditionelle Rollenmuster punktuell erschütterte und den Frauen ein neues Wirkungsfeld eröffnete, wäre durchaus verständlich. Die analoge Bezeichnung bzw. Formulierung, sie seien keine ‚Töchter der Tora‘ (תורה )בנות, würde diese besondere Problematik hingegen nicht zum Ausdruck bringen, da die mangelnde Qualifikation der Frauen hierdurch nicht als Grundsatzfrage thematisiert wird; vielmehr würde die Aussage, sie seien ‚keine Töchter der Tora‘ die Frauen Meluns lediglich an ihrem eigenen Standard messen, sie also gegenüber anderen Frauen als ungebildet darstellen.188
ben Abraham sogar persönlich kennenlernte, zumindest aber aufgrund dieser Reisen und seiner Kontakte mit der Antwort Isaaks bekannt wurde. Seine Formulierung im Sefer Rawja, „Auch habe ich die Antwort des Meisters R. Samson […] gesehen“, impliziert eine relative Nähe, räumlich oder zumindest zeitlich, zu dem Original (siehe oben Abschnitt Zwei Brüder, zwei Meinungen). 187 Elieser ben Joel ha-Lewi von Bonn, Sefer Rawja, Nr. 991 (S. 309f). Er folgt somit dem Standpunkt von R. Elieser ben Jakob in der talmudischen Diskussion nach bTem 12a–b. 188 Allerdings gibt es im gesamten Korpus des Online Responsa Projects der Bar-Ilan University (Stand August 2017) nur relativ wenige Belege für den Begriff ‚Töchter der Tora‘ (sowohl im Singular als
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Angesichts dieses akuten Problems und der damit einhergehenden Einschränkung rabbinischer bzw. allgemein männlicher Autorität handelt Rabbenu Tam pragmatisch: Er äußert gemäß der Darstellung im Sefer ha-nejar kein Verbot, wohl aber die deutliche Mahnung, „auf eine volle Mikwe Acht zu geben“, um auf diese Weise falsche oder doch problematische (möglicherweise schon eingeführte) Praktiken zu unterbinden und die Gefahr einer Gesetzesübertretung auf ein Minimum zu reduzieren – denn einer „vollen“ Mikwe, d. h. einem Becken mit wenigstens 40 se’a koscherem Wasser, darf man ohne jegliche Einschränkung gewöhnliches (geschöpftes) Wasser hinzufügen. Dabei ist natürlich einzuräumen, dass der Text (zumindest in der Form, wie er überliefert ist) mit „sie“ und „Söhne der Tora“ (תורה בני אינן )הםprimär wohl die Männer der Gemeinde bezeichnet, deren halachisches Wissen Rabbenu Tam für nicht ausreichend hielt. Ein eindeutiger Hinweis, dass stattdessen die Frauen gemeint sein könnten, ist nicht vorhanden,189 wenngleich das an zwei Stellen des Satzes verwendete Personalpronomen ‚sie‘ ( )הםimmerhin mehrdeutig ist und seine Bedeutung möglicherweise sogar im Satzverlauf ändert, der folgendermaßen lautet: Rabbenu Tam „warnte sie nur, auf eine volle Mikwe Acht zu geben, weil sie keine Söhne der Tora sind und nicht mit den [halachischen] Entscheidungen vertraut“. Das erste ‚sie‘ könnte sich prinzipiell auf die Männer, aber auch die gesamte Gemeinde (Männer und Frauen) beziehen. Will man hingegen annehmen, dass die Bedeutung des Pronomens konstant ist und beide Male einzig und allein auf die Männer verweist, so müsste man die erste Satzhälfte dahingehend interpretieren, dass nur sie als vollberechtigte Mitglieder der Gemeinde für deren Einrichtungen verantwortlich waren und deshalb angesprochen werden – so zumindest in der Theorie! In der Praxis waren es allerdings gerade die Frauen, die das warme Wasser hinzufügten, und diesen Praxisaspekt enthält wiederum der Fortgang der Begründung – wenngleich ebenfalls ohne eindeutige Benennung des Agens: „möglicherweise könnte die Mikwe nicht voll sein und sie könnten sie mit eben diesem geschöpften warmen Wasser auffüllen“ (im Hebräischen וישלימהוohne Personalpronomen). Man muss hier also entweder einen ein- oder mehrmaligen unterschwelligen Wechsel der Gruppe, auf die sich Rabbenu Tams Aussage bezieht, innerhalb des Satzes annehmen, oder aber ‚sie‘ alternativ immer als Gesamtheit der Gemeinde (Männer und Frauen) verstehen. Geht man davon aus, dass es sich um einen kohärenten Text handelt, wäre Letzteres das Naheliegende.
auch im Plural), darunter keine innerhalb der ‚Referenzgruppe‘, d. h. der Literatur zu Halacha und minhagim. Der Begriff scheint in der Zeit um 1200 mehr oder weniger ungebräuchlich bzw. die Frage der religiösen Bildung der Frauen keiner Erörterung wert. 189 Zwar ist die Form אינןrein grammatikalisch betrachtet feminin, wird jedoch im rabbinischen Schrifttum auch bei maskulinem Agens verwendet; hier erscheint sie in einer typischen Verbindung mit dem maskulinen Personalpronomen הם.
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Aber dennoch: Selbst wenn die weibliche Kompetenzerweiterung im Sefer hanejar textlich nicht (oder nicht deutlich) zum Ausdruck gebracht wird und das Problem zunächst einmal darin bestand, dass in diesem speziellen Fall die Männer als zu ungebildet galten, so ändert das doch nichts an der geschilderten Umbruchsituation, die eine möglichst ‚störungssichere‘ Lösung für die Zukunft erforderte. Was Rabbenu Tam über die Ungebildetheit der Gemeindeglieder hinaus ganz konkret Sorge bereitet, ist der tagtägliche Betrieb der fortan erwärmten Mikwe – und sein Verbot bzw. seine Warnung wäre damit eben auch dem Umstand geschuldet, dass die Frauen hier plötzlich in einem gänzlich neuen Bereich agierten, welcher der Kontrolle der (halachisch mehr versierten) Männer bis zu einem gewissen Grad entzogen war. Dass dem nicht nur so war, sondern die faktische ‚Eroberung‘ der Mikwe durch die Frauen von den halachischen Autoritäten zudem bewusst wahrgenommen wurde, zeigt immerhin die Wortwahl in dem zuerst zitierten Schreiben Samsons bei Rawja. Hier ist nun ausdrücklich von den Frauen die Rede (und nicht etwa einem unbestimmten ‚sie‘), heißt es doch, „dass es schon eine Mikwe gab, wo die Frauen einen Kessel voll Wasser erwärmten und in die Mikwe schütteten“.190 Die Formulierung „dass es schon eine Mikwe gab“ scheint zudem darauf hinzudeuten, dass das Phänomen der Frauen, die das Mikwenwasser erwärmten, unter den Zeitgenossen ein Novum war – was wiederum die Annahme rechtfertigt, dass es sich bei der Mikwe von Melun in Isaaks Antwort wirklich um die gleiche handelt. Was aber, wenn unsere Annahme falsch ist, die beiden Briefe in Wirklichkeit von zwei unterschiedlichen Fällen berichten? In diesem Fall hätte Rabbenu Tam vermutlich wirklich ein Verbot ausgesprochen, dessen Hintergründe nach wie vor unbekannt sind, und die Gegner der Erwärmung könnten diesen Punkt für sich verbuchen. Allerdings würde dies zugleich bedeuten, dass es Ende des 12. Jahrhunderts unter französischen Juden bereits wenigstens zwei ‚Modellversuche‘ gab, die Mikwen mit Hilfe von heißem Wasser zu erwärmen, das Phänomen also nicht nur eine einzelne – besonders unwissende oder besonders häretische – Gemeinde betraf. Ein weiteres Detail würde ebenfalls für den Umstand sprechen, dass das Wasser bereits im Hochmittelalter an einigen Orten erwärmt wurde, auch wenn man davon ausgehen muss, dass, wie Marienberg schreibt, das unerklärte Verbot Rabbenu Tams dies häufig verhinderte.191 Isaak ben Abraham argumentiert gemäß der Glosse im Sefer ha-nejar, man dürfe die Frauen nicht von dem biblischen Gebot „Seid fruchtbar und mehret euch“ (Gen 1,28) abhalten, das erste Gebot, das den Menschen gegeben wurde.192 Innerhalb einer rein ‚akademischen‘ Auseinandersetzung ginge ein solches Argument aber letztlich ins Leere, vielmehr erhält dieses 190 Elieser ben Joel ha-Lewi von Bonn, Sefer Rawja, Nr. 991 (S. 307); Hervorhebung nicht im Original. 191 Marienberg, „Le bain“, S. 99. 192 Nach jüdischer Auslegung sind strenggenommen nur die Männer verpflichtet, dieses Gebot zu erfüllen; diese sind jedoch auf die Frauen und deren gewissenhaftes Einhalten der nidda-Vorschriften
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erst Gewicht angesichts einer bestimmten gesellschaftlichen Situation, nämlich der realen Gefahr, dass eine ernst zu nehmende Zahl von Frauen die kalten Mikwen boykottieren und stattdessen gar nicht untertauchen.193 Rabbenu Tams Verbot und die Praxis
Interessanterweise wurde allerdings in späteren halachischen Erörterungen allein die Verbotsversion tradiert, während Isaaks Klarstellung der Vorgänge in Melun offenbar keinen nennenswerten Niederschlag fand.194 So findet sich erstere, außer bei Rawja, noch in weiteren einflussreichen mittelalterlichen Werken: im Sefer or saru‘a des R. Isaak ben Moses aus Wien (ca. 1180–ca. 1250), im Sefer Mordechai des R. Mordechai ben Hillel ha-Kohen (ca. 1240–1298), das in der Folgezeit im deutschen Raum eines der bedeutendsten Referenzwerke darstellte, sowie in dem weit verbreiteten Sefer ha-agur (um 1487) von R. Jakob Landau.195 Allerdings – und hier relativiert sich der Befund über die größere Verbreitung der Verbotsversion dann wieder – erlaubt Rawja, dessen Werk für die Entwicklung der Halacha bis zum Erscheinen des Schulchan Aruch als zentral gilt,196 das Erwärmen des Wassers, und auch sein Schüler Isaak ben Moses von Wien folgt ihm hierin. Die beiden populären Anthologien stehen hingegen für die andere Tradition, die des Verbots, wobei sich Landau in seiner ‚Sammlung‘ (so die Bedeutung von agur) an dieser Stelle ausschließlich auf Sefer Mordechai als Quelle bezieht; in seiner Behandlung der Erwärmung versammelt er nicht, wie andernorts in seinem Werk, verschiedene Lehrmeinungen des 14. und 15. Jahrhunderts,197 sondern zitiert ausschließlich den besagten Brief Samsons. Nichtsdestotrotz konnte sich die liberale Position, wie sie von Rawja vertreten wird, dagegen behaupten, und das nicht zuletzt über das Sefer Mordechai, findet sich doch in einer gekürzten Variante hiervon, dem Mordechai ha-katan von 1376, wiederum die Erlaubnis der Erwärmung mit Verweis auf Rawja. Und gerade auf dieses Werk, genaugenommen die hierin vorgenommenen Ergänzungen des R. Samuel Schlettstadt, Haggahot
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angewiesen. Hierzu sowie zur traditionellen Rolle der Geschlechter im jüdischen Haus vgl. Herweg, Die jüdische Mutter, S. 18–34, speziell S. 31. Nach Marienberg hat Isaak verstanden, dass „die Frage nicht rein intellektueller Natur ist“ („Le bain“, S. 98). Vgl. ders., „Cold Water“, S. 12, 16. Isaak ben Moses, Sefer or saru‘a, Bd. 1, Hilchot nidda 366; Mordechai ben Hillel ha-Kohen, Mordecai, Hilchot mikwa’ot 750; Landau, Sefer ha-agur, Hilchot tewila 1405. Zu Isaak ben Moses von Wien und seinem Werk siehe Havlin, „Isaac ben Moses of Vienna“, S. 45f; zur Überlieferung von Sefer Mordechai siehe knapp Menges, „Mordechai ben Hillel“, S. 90; zu Jakob Landaus Sefer ha-agur siehe Ta-Shma, „Landau, Jacob“, S. 462. Vgl. Horowitz, „Eliezer ben Joel ha-Levi of Bonn“, S. 327. Vgl. Ta-Shma, „Landau, Jacob“, S. 462.
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Mordechai genannt,198 bezieht sich schließlich Moses Isserles zwei Jahrhunderte später in seinem Kommentar zum Schulchan Aruch. Isserles erhebt die Praxis des Zugießens von heißem Wasser hiermit endgültig in den Rang allgemeingültiger Halacha, wenn auch eingeschränkt als Zugeständnis an die Gemeinden, die dies traditionell praktizieren. Wie verhält es sich aber mit anderen Methoden der Erwärmung, insbesondere den von Isaak ben Abraham im Sefer ha-nejar genannten? Darüber, in welchem Umfang mitunter auch solche alternativen Verfahren zum Einsatz kamen, gibt es letztlich keine gesicherten Erkenntnisse, und es scheint einiges dafür zu sprechen, dass es sich beim Einbringen von heißen Steinen oder Eisenstücken in das Wasser (beide angesprochen im Brief R. Isaaks) in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich, in Marienbergs Worten um „une création littéraire“199 handelt, und nur bedingt um eine tatsächliche Praxis. Von den hier betrachteten mittelalterlichen Schriften erwähnt lediglich Elieser ben Joel ha-Lewi, Rawja, die Methode der heißen Steine. Hinweise auf heiße Eisenstücke finden sich dagegen nicht ganz so selten, knüpfen sich doch an diese Technik, die auf eine antike baraita zurückgeht, d. h. eine nicht in die Mischna aufgenommene Lehre, häufig die Argumente für oder auch gegen die Erwärmung von Mikwen. In den beiden Komponenten des Talmud, der früheren Mischna und den hieraus entsprungenen Diskussionen der Gemara, finden sich die Techniken des Zugießens von heißem Wasser und die der heißen Eisen erstmals gegenübergestellt; es korrigiert hier gewissermaßen die in der Gemara aufgegriffene baraita die Lehre der Mischna: [Mischna Joma 3,5:] WAR DER HOCHPRIESTER ALT ODER EMPFINDLICH, SO BEREITETE MAN IHM HEISSES WASSER VOR UND GOSS ES IN DAS KALTE, UM DIE KÄLTE ZU MILDERN. [Gemara:] Es wird gelehrt: R. Jehuda sagte: Man erhitzte Eisenblöcke am Vorabend des Versöhnungstages und legte sie in das kalte Wasser, um die Kälte zu mildern.200
Die Methode R. Jehudas beseitigt somit die potentielle Gefahr, dass das Wasser der ‚Mikwe‘, in der sich der Hohepriester am Versöhnungstag rituell reinigen musste, durch geschöpftes Wasser untauglich wurde oder auch nur der Anschein erweckt wurde, es handle sich um geschöpftes Wasser – und diskreditiert dadurch zugleich das Verfahren, die Mikwe mit heißem Wasser zu erwärmen. Wie bereits erwähnt,
198 Samuel Schlettstadt, Haggahot Mordechai, Nidda, in: Mordechai ben Hillel ha-Kohen, Mordecai; zur Überlieferung des Sefer Mordechai vgl. oben Anm. 149. 199 Marienberg, „Le bain“, S. 97. 200 bJoma 34b; deutsche Übersetzung nach: Der Babylonische Talmud, Bd. 3, S. 82, 91 (Hervorhebung des Mischnatextes im Original).
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
verbietet der Maharil genau aus diesem Grund – weil ein falscher Eindruck entstehen könnte – ein solches Erwärmen der Mikwe. Sein Schüler Salman von St. Goar, der diese und andere seiner Lehrmeinungen im Sefer Maharil aufzeichnet, fügt dem Verbot allerdings auch die gegenteilige Interpretation auf der Grundlage des zitierten Mischnatextes hinzu, die ebenfalls als Lehrmeinung kursiert: אם היה כהן גדול זקן או,ואני המלקט בתר לקוטים ראיתי כתב בספר אגודה במסכת יומא סימן ו׳ , יש מביאין ראיה מכאן לנשים בחורף לעשות כן,איסטניס מחמין לו חמין ומטילין תוך הצונן להפג צינתן .עכ״ל
Und ich, der arme Sammler, der nur die Nachlese hält,201 habe gesehen, dass er im Sefer agudda (Massechet Joma Siman 6)202 schrieb: Wenn ein Hohepriester alt oder gebrechlich war, bereitete man ihm heißes Wasser und goss es in das kalte Wasser, um seine Kälte zu mildern; manche leiten hieraus einen Beweis ab für die Frauen, es im Winter so zu tun; bis dahin seine Worte.203
Noch wichtiger innerhalb der mittelalterlichen Diskussionen, ob eine Erwärmung des Wasser zulässig ist, dürfte jedoch die bereits erwähnte Auslegung des Rabbenu Chananel ben Chuschiel (gestorben 1055/56) sein. Obwohl Rabbenu Chananel in Kairouan (Tunesien) wirkte, übten seine Schriften, besonders sein Talmudkommentar, großen Einfluss auch auf die Gemeinden in Europa aus, und wurden unter anderem von den Tosafisten, aber auch anderen Gelehrten im Gebiet des Heiligen Römischen Reiches rezipiert.204 In seinem Kommentar interpretiert er auch folgende talmudische Diskussion, in der von der Frau eines Exilarchen des 4. Jahrhunderts die Rede ist, die sich zunächst weigert, das Tauchbad sofort nach Beilegung des Streits mit ihrem Ehemann zu nehmen:
201 Die verwendete Bescheidenheitsformel ist typisch für den Verfasser, Salman von St. Goar, ansonsten in dieser Form hingegen nicht geläufig. Sie geht zurück auf den talmudischen Ausdruck לקוטי ‚( בתר לקוטיÄhrensammler nach Ährensammler‘; bBM 21b) und bezeichnet vor allem die armen Ährensammler. In der hier gewählten Übersetzung richte ich mich nach der Erklärung bei Jastrow, Dictionary, unter ‚‘לקוטא. 202 Siehe [Alexander Suslin ha-Kohen], Sefer ha-agudda, Seder mo‘ed, Joma 6. Zum Verfasser des Sefer ha-agudda Alexander Suslin ha-Kohen, gestorben 1349 in Erfurt, siehe Klausner, „Alexander Suslin Ha-Kohen of Frankfurt“, S. 630f. 203 [Salman von St. Goar], Sefer Maharil, Hilchot nidda 7. Im Anschluss an Goldschmidts oben zitierte Übersetzung von mJoma 3,5 gebe ich להטילhier mit ‚gießen‘ wieder. Zur Frage der Übersetzung von להטילsiehe oben Anm. 154. 204 Siehe Ta-Shma, „Hananel ben Hushi’el“, S. 314f.
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Einst ereignete es sich ja, daß die Frau des Exilarchen Abba Mari schmollte, und als R. Nahman b. Jiçhaq sie besänftigen ging, sprach sie zu ihm: Weshalb schon jetzt, es hat Zeit bis morgen. Er wußte, was sie meinte, und sprach zu ihr: Fehlen dir Kessel, fehlen dir Schüsseln, fehlen dir Diener?205
Obwohl der talmudische Kontext nahelegt, dass R. Nachman mit seiner Frage nach den Wasserkesseln und Dienerinnen auf das Haarewaschen (als Vorbedingung für das Tauchbad) abzielt,206 bezieht Rabbenu Chananel dies stattdessen auf das Mikwenwasser: פי׳ עבדים היתה חסורה שישמשו לך או יורות לא היו לך להחם לך חמין להטילם בצונן אם את מתייראה .מן הצינה וכו׳
Er [Rabbenu Chananel] legte es [folgendermaßen] aus: Fehlt es dir etwa an Dienern, um dir behilflich zu sein, oder hast Du keine Kessel, um dir heißes Wasser zuzubereiten und in das kalte Wasser zu geben, wenn du dich vor der Kälte fürchtest? Usw.207
Für Rawja, nach dem Chananels Auslegung hier zitiert wird, ist diese Stelle ein wichtiger Beweis in seiner Argumentationskette: Demnach ist das Zugeben von heißem Wasser auch ohne die zuvor von ihm betrachtete Methode der hamschacha möglich, und wenn also diese Art der Erwärmung erlaubt ist, dann erst recht das Verwenden von heißen Eisenstücken wie im Fall des Hohenpriesters (und eben auch von heißen Steinen). Nichtsdestotrotz wird die Möglichkeit, die Mikwe durch feste Gegenstände wie Eisen oder Steine zu erwärmen, auch hier nur als theoretische Möglichkeit erörtert. Abgesehen von den eher spärlichen Hinweisen in schriftlichen Quellen stellt sich auch die Frage, wie effektiv das Einbringen von festen erhitzten Gegenständen wirklich ist. Tatsächlich finden sich in Quellen vereinzelt Hinweise auf seine solche Praxis, leider jedoch ohne weitere Details.208 Da bereits für eine geringfügige Er-
205 bNid 67b-68a; deutsche Übersetzung nach: Der Babylonische Talmud, Bd. 12, S. 571. 206 Die talmudische Diskussion dreht sich um den richtigen Zeitpunkt für das Haarewaschen und das anschließende Untertauchen in der Mikwe bzw. den erlaubten zeitlichen Abstand dazwischen. Die Frage einer Erwärmung der Mikwe wird hier nicht explizit thematisiert. 207 Elieser ben Joel ha-Lewi von Bonn, Sefer Rawja, Nr. 991 (S. 310). 208 So berichtet beispielsweise eine Schrift des 16. Jahrhunderts aus dem sefardischen Raum über die Verwendung von heißen Steinen, und Meir von Rothenburg schreibt, er habe die Methode erhitzter Eisen bei französischen Juden beobachtet (siehe Marienberg, „Cold Water“, S. 17, 25). In der Frühen Neuzeit sei letzteres unter anderem in Prag, aber auch anderen Städten, gebräuchlich gewesen, wie R. Jakob Reischer (ca. 1670–1733) einem Korrespondenten aus Fürth mitteilt; siehe
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
höhung der Wassertemperatur eine erhebliche Menge an Backsteinen nötig wäre, verweist Hannelore Künzl diese Methode gänzlich in den „Bereich der Phantasie“.209 Nichtsdestotrotz gilt es hierfür eine reale Parallele zu berücksichtigen: Die Idee zur Verwendung heißer Steine könnte möglicherweise der zeitgenössischen Praxis in mittelalterlichen Badestuben entstammen. Zum Herstellen von Dampf für die üblichen Schweißbäder wurden dort in einem Ofen erwärmte Steine (wie Mauer-, Kiesel- oder Backsteine) mit heißem Wasser übergossen;210 auch Wasserbäder konnten nach einer Quelle von 1549 „von fewer erhitzigten dingen / darinn glüendig abgeleschet“211 erwärmt werden. Eine Übernahme dieser Technik für die Erwärmung der mittelalterlichen Kellermikwen, die neben den baulich-technischen Beschränkungen auch über weniger ‚Personal‘ verfügten, scheint allerdings nur sehr bedingt möglich. Ebensowenig vermag die Archäologie in der Frage einer Verbreitung dieser aufwändigen Praxis weiterzuhelfen, da eindeutige Überreste in Form von Steinen schwer zu finden bzw. als solche zu identifizieren sein dürften; Hängevorrichtungen könnten aber sowohl für Steine als auch anderes, beispielsweise Behälter mit warmem Wasser gedient haben.212 Angesichts dieser Sachlage liegt es nahe anzunehmen, dass die heißen Steine in der Hauptsache als zusätzliche zeitgenössische Variante im Gefolge der talmudischen Eisenstücke mit diskutiert wurden; als reale Praxis dürften sie sich hingegen ebensowenig wie die Eisenstücke wirklich bewährt haben. 3.3.2
Praktische Aspekte der Erwärmung
Diejenige Methode, die allem Anschein nach seit dem Mittelalter bis in die Neuzeit regelmäßig praktiziert wurde und von der wir noch aus Quellen des 19. Jahrhunderts erfahren, ist das einfache Zugießen von heißem Wasser. Selbstverständlich darf man auch hier kaum davon ausgehen, dass auf diese Weise eine angenehme Badetemperatur erreicht wurde. Abhängig von der Größe des Tauchbeckens und der Strömungsstärke des Grund- oder Quellwassers lässt sich bestenfalls eine moderate Wirkung erzielen. Als theoretischer Richtwert kann hier die von Stephanie Fuchs und Annette Weber angestellte Berechnung dienen, wonach bereits
209 210 211 212
Reischer, Schewut Jaakow, Teil 3, Nr. 82. Zu Reischers Biographie und Werk siehe Shilo, „Reischer, Ya‘akov ben Yosef “, unpag. Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 28; ebenso Altaras, Synagogen, S. 36. Martin, Badewesen, S. 89, 123–125, 159–161, 176. Die Abbildungen Nr. 40 (S. 89) und 86 (S. 176) zeigen kartoffelgroße Feldsteine. Ryff, Badenfart, Kap. 3; vgl. auch Martin, Badewesen, S. 161, der die Stelle zitiert. Altaras schließt derartige Hängevorrichtungen für Wasserkessel nicht aus, siehe Altaras, Synagogen, S. 36. Darüber hinaus könnten Hängevorrichtungen auch nur für das Untertauchen von Küchengerätschaften verwendet worden sein.
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24 Liter kochendes Wasser ausreichen, um 400 Liter Wasser von 10 °C auf 15 °C zu erwärmen.213 Allerdings muss man davon ausgehen, dass die Temperatur des Grundwassers bisweilen deutlich unter den dort angenommenen 10 °C liegt – Altaras gibt beispielsweise für die mittelalterliche Mikwe von Friedberg einen mittleren Wärmegrad von 7,5 °C an214 –, zudem bleibt eine mögliche Strömung des Wassers bei dieser Modellrechnung unberücksichtigt. Auch bieten 400 Liter (abgesehen von der diesbezüglichen halachischen Problematik) zum vollständigen Untertauchen eines Erwachsenen extrem wenig Platz: Bei der normalerweise vorausgesetzten Wasserhöhe von etwa 120 cm bliebe für die Grundfläche eines solchen Behälters gerade noch 55 cm auf 60 cm, bei niedrigerem Wasserstand entsprechend etwas mehr, wobei sich in einer tatsächlichen Mikwe die Raumverhältnisse nochmals anders gestalten würden, da sich ein Teil des vorhandenen Wassers im Treppenbereich befindet. Für reale Bedingungen hinsichtlich der Erwärmung bietet die bereits im vorherigen Abschnitt betrachtete Mikwe von Laudenbach einen guten Anhaltspunkt, da wir in diesem Fall auch die Kapazität des 1839 vorhandenen Kessels kennen, der etwa zwei Imi (36,74 Liter)215 fasste.216 Wie auch der berichtende Amtsarzt anmerkt, reicht dieses Volumen bei hohem Wasserstand unmöglich aus, um ausreichende Temperaturen zu erzielen; möglich und realistisch (allerdings unter Idealbedingungen, d. h. einer kaum merkbaren Strömung) sind hingegen folgende Werte, die durch Zuschütten von 40 Litern Wasser mit einer Temperatur von 90 °C erreicht werden:217
213 Fuchs/Weber, „Dort im Geklüft“, S. 28. 214 Altaras, Synagogen, S. 380; Ludwig Euler schreibt hingegen 1860, dass das Wasser dort „selbst im höchsten Sommer nie über 6 12 Grad Wärme hat“; siehe Euler, „Judenbad“, S. 294. Sehr wahrscheinlich bezieht er sich hierbei auf die damals noch verbreitete Temperaturmessung in Réaumur, was 8,125 °C entsprechen würde. Allerdings ist die Betonung „selbst im höchsten Sommer“ irreführend, da aufgrund der großen Tiefe der Friedberger Mikwe eine Temperaturschwankung von Sommer und Winter kaum merkbar sein dürfte. Martin gibt in Deutsches Badewesen 1906 eine mittlere Temperatur von 6 °R (Réaumur) an, was den von Altaras auch für heute genannten 7,5 °C entspricht (Martin, Badewesen, S. 140). Zu den jahreszeitlichen Temperaturschwankungen vgl. auch den entsprechenden Abschnitt im Jahresbericht des Hessischen Landesamts für Umwelt und Geologie 2008 von Wolf-Peter von Pape, „Temperatur des Grundwassers“, insbesondere S. 59–62. 215 Ein Imi entspricht ca. 18,37 Litern. Für die im Württembergischen üblichen Flüssigkeitsmaße sowie die Unterscheidung zwischen Helleichmaß (dem Hauptmaß) und Trübeichmaß siehe Noback/ Noback, Vollständiges Taschenbuch, Bd. 2, S. 1193. 216 Siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Wundarzt und Geburtshelfer Schoninger über die Mikwe in Laudenbach vom 16.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839). 217 Die Berechnung beruht auf der vereinfachten Richmannschen Mischungsregel bei zwei Stoffen mit gleicher spezifischer Wärmekapazität; siehe o.V, „Wärmeaustausch zwischen Körpern“, unpag.
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Kessel: 40 Liter
Wasserstand
Volumen (ca.)
AusgangsAusgangsAusgangstemperatur temperatur temperatur 10 °C 8 °C 6 °C 145 cm 1.815 l 11,7 °C 9,7 °C 7,8 °C 90 cm 835 l 13,7 °C 11,7 °C 9,8 °C 80 cm 700 l 14,3 °C 12,4 °C 10,5 °C 73 cm 605 l 15,0 °C 13,1 °C 11,2 °C Laudenbach Grundfläche in Fuß (cm): 3,5 x 7 (100 x 200)
Die tatsächliche Erwärmung des Wassers liegt somit im Bereich von 4,5–5 °C für den vermuteten ‚halachischen Normbereich‘ des betrachteten Gebiets (ca. 600 bis 700 Liter), bzw. bei knapp 4 °C im Falle einer etwas größeren Ausgangsmenge von 835 Litern. Selbstverständlich konnte das Wasser im Becken zunächst bis zu dem tatsächlich zulässigen Mindestvolumen ausgeschöpft werden, um anschließend die Mikwe effektiver zu erwärmen. Inwieweit dieser Aufwand betrieben wurde bzw. werden konnte, hing allerdings stark von den jeweiligen lokalen Gegebenheiten und dem Vermögen der Nutzerin ab, wie auch der Rabbiner Marum Wolf von Niederstetten 1821 zu Protokoll gibt: Das Waßer dörfe gewärmt werden. Müste aber aus dem Waßerbehälter genommen und wieder in denselben geschüttet werden. Doch habe es nichts zu sagen, wenn anderes warmes Waßer zugeschüttet werde. Da dieses nun Kosten verursache, so geschehe es nur von den reichern Juden, die wenig vermöglichen, gebrauchen es kalt.218
Mit der im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch Pumpen vielerorts erwirkten Erleichterung wurde die Methode, das zu wärmende Wasser direkt aus dem Becken zu entnehmen, sehr wahrscheinlich zur Regel und garantierte so zumindest die unter den gegebenen Umständen maximal mögliche Erwärmung.219 Wenn zu diesem Zweck nicht spezielle Markierungen am Beckenrand angebracht waren, die den Mindestwasserstand anzeigten, so dienten vermutlich die Treppenstufen als Anhaltspunkt. Die hier genannte Menge von etwa 40 Litern warmem Wasser ist im Vergleich zu den wenigen anderen genannten Kesselgrößen noch gering: Die entsprechenden
218 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Protokoll über die Vernehmung von Rabbiner Mahrum Wolf am 16.5.1821 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 17.5.1821). Zu Rabbiner Wolf (1758–1829) vgl. „Wolf, Marum“, in: BHR 1,2, S. 911. 219 Der früheste in dieser Untersuchung gefundene Hinweis auf die Verwendung von Pumpen zu diesem Zweck entstammt einem Gutachten des Vice-Ober-Landrabbiners Meyer Simon Weyl (Berlin) aus dem Jahr 1806. Allerdings scheint es sich hierbei um eine andere Technik, eine Art Durchlauferhitzer zu handeln; siehe „Antwortschreiben des Vice-Ober-Landrabbiners und der Assessoren“, in: Heinemann (Hg.), Sammlung, S. 333–335. Zu Rabbiner Weyl siehe auch Kapitel 5.1.1.
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Berichte für Archshofen und Neunkirchen geben einen Württembergischen Eimer (293,9 Liter), für Creglingen immerhin einen Viertel Eimer (knapp 75 Liter) an, wobei aber die Beckengrößen dieser Tauchbäder nicht bekannt sind. Wenngleich die um 1826 errichtete Laudenbacher Mikwe bereits über eine moderne Röhrenleitung verfügte, die das erwärmte Wasser ins Tauchbad transportierte, handelt es sich bei der verwendeten Kesselgröße demnach eher um eine Minimallösung, die prinzipiell auch in älteren Anlagen praktizierbar war, sofern es eine Feuerstelle gab. Auch ein deutlich größerer Kessel ist für frühere Jahrhunderte durchaus vorstellbar, wie das Beispiel der Creglinger Mikwe zeigt: In dieser technisch weniger fortschrittlichen Anlage, entstanden um 1800, wurde offensichtlich fast die doppelte Wassermenge, etwa 75 Liter, nach wie vor einfach in das Becken geschüttet, nicht geleitet.220 Bei einem Wasservolumen wie in der Laudenbacher Mikwe ließen sich mit diesem Kessel folgende Wärmegrade erzielen (Zuschütten von 75 Litern Wasser mit einer Temperatur von 90 °C): Kessel: 75 Liter
Wasserstand
145 cm 90 cm 80 cm 73 cm
Volumen (ca.)
AusgangsAusgangsAusgangstemperatur temperatur temperatur 10 °C 8 °C 6 °C 1.815 l 13,2 °C 11,3 °C 9,3 °C 835 l 16,6 °C 14,8 °C 12,9 °C 700 l 17,7 °C 15,9 °C 14,1 °C 605 l 18,8 °C 17,0 °C 15,3 °C Laudenbach Grundfläche in Fuß (cm): 3,5 x 7 (100 x 200)
Bei einem mittleren Grundwasservolumen von 600 bis 700 Litern ist somit eine Erwärmung um 8 °C bis 9 °C möglich, bei 835 Litern immerhin noch um fast 7 °C. Für die kältesten Tage des Jahres (hier angenommene Ausgangstemperatur 6 °C) bedeutet dieses Kesselvolumen allerdings immer noch, dass die Temperaturen je nach Wasserstand nur zwischen 9 °C und 15 °C erreichen. Die Wassertemperatur in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren
Wie der Bericht des Bayerischen Landesamts für Wasserwirtschaft von 2001 zur Temperatur des Grundwassers in Bayern zeigt, muss in einer Tiefe bis zu fünf Meter unter der Erdoberfläche im Extremfall sogar mit einer Wassertemperatur
220 Während für die Anlagen von Archshofen, Neunkirchen und Laudenbach Leitungssysteme erwähnt bzw. impliziert werden, heißt es im Creglinger Bericht, dass man das Wasser des Kessels in das Becken schütten muss; siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Pflüger junior über die Mikwen in Creglingen und Archshofen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839); Bericht von Wundarzt und Geburtshelfer Schoninger über die Mikwe in Laudenbach vom 16.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839); Bericht von Dr. Bauer über die Mikwe in Neunkirchen vom 10.1.1839 (Anlage zum Bericht des Bezirksamts Weikersheim vom 14.1.1839).
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
von nur etwa 4,5 °C gerechnet werden; bei der überwiegenden Zahl der Fälle dürfte allerdings der witterungsbedingte (im Jahresverlauf zeitlich versetzt auftretende)221 Minimalwert noch über 6–8 °C liegen,222 so dass für das erwärmte Wasser theoretisch Temperaturen bis etwa 17 °C möglich sind. Selbstverständlich kann man von dem Ergebnis der bayerischen Untersuchung nur sehr bedingt auf die tatsächliche Wassertemperatur von Kellermikwen früherer Jahrhunderte und anderer Regionen schließen, die im Winter bisweilen sogar so stark auskühlten, dass das Wasser mit einer Eisschicht überzogen war; nichtsdestotrotz werden die heutigen Messdaten insofern bestätigt, als Fälle mit extremen Temperaturwerten auch in dem betrachteten Quellenmaterial eher die Ausnahme bezeichnen und nicht den Regelfall. Unter den etwa 35 Mikwen, die im württembergischen Jagstkreis in den Monaten Januar und Februar (teilweise auch März) 1839 inspiziert wurden, wird das Zufrieren des Wassers nur für Bieringen vermeldet.223 Zwar lässt dieser Umstand an sich noch nicht die Interpretation zu, dass die anderen Mikwen des Jagstkreises generell vor Minustemperaturen geschützt waren, jedoch sollte man annehmen, dass die nicht unkritischen Inspektoren einen derart offensichtlichen Missstand in ihrem Bericht vermerkt hätten. In einer Untersuchung der Mikwe in Erlangen-Büchenbach vom November 1828, die von dem Bayerischen Staatsministerium des Innern veranlasst wurde, wird die genaue Temperatur des Wassers und des Kellerraums genannt. Demnach betrug die Temperatur des Wassers am Tag der Besichtigung 7 °C, die der Luft 11 °C; auch hier konnte die Wassertemperatur im Laufe des Winters noch deutlich absinken, wie es weiter unten in dem Bericht heißt: „Wenn die Kälte heftig ist
221 Der Erdboden gibt die durch Sonneneinstrahlung aufgenommene Wärme in bodennahen Schichten zeitversetzt an das Grundwasser ab; die Phasenverschiebung liegt bei einem Grundwasserniveau von zehn Metern unter Gelände bei sechs Monaten, vgl. hierzu die Darstellung des Hessischen Landesamts für Umwelt und Geologie von Wolf-Peter von Pape, „Temperatur von Grund- und Quellenwasser“, unpag. 222 Diese Annahme stützt sich auf die Ergebnisse einer an 95 Messstellen in Bayern durchgeführten Untersuchung der Grundwassertemperaturen; siehe Bayerisches Landesamt für Wasserwirtschaft (Hg.), Grundwassertemperatur-Tiefenprofilmessungen, insbesondere S. 14–17. Zwar ist das Ergebnis der Untersuchung weder repräsentativ noch ohne Weiteres auf andere Regionen (und Zeiten) übertragbar, es vermittelt aber dennoch einen guten Eindruck von der Streuung der Werte. Laut den erhobenen Daten betrug die tiefste Temperatur bei 59 dieser Messstellen mindestens 8 °C (gemessen wurde an vier Tagen in verschiedenen Quartalen, meist in den Monaten Februar, Mai, August und November). Temperaturen unter 6 °C traten hingen in nur drei Fällen auf (ebd., Tabelle 1, S. 16). Bezogen auf die verschiedenen Tiefen unter Bodenniveau lag der tiefste aller ermittelten Wert bei 4,3 °C, gemessen im Februar bei einer Tiefe von zwei Metern unter Gelände (ebd., Tabelle 2, S. 17). 223 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Wanner über die Mikwen in Berlichingen und Bieringen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 10.2.1839); für eine Übersicht der untersuchten Mikwen siehe Tabelle 3 in Anhang I.
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gefriert das Wasser im Bad, so daß das Eis manchmal ausgehauen werden muß.“224 Ein Distriktsarzt aus Marktsteft, der 1812 im Auftrag der Großherzoglichen Landesdirection in Würzburg sämtliche acht Mikwen seines Bezirks zweimal untersuchte, gibt an, dass die Temperatur „meistens +4° R“, d. h. etwa 5 °Celsius, betrug und sich im Winter an „einigen“ Orten Eis bildete.225 Aufgrund der Datierung des Berichts und die Bezugnahme auf den Befehl der Landesregierung vom 29. Januar 1812 lässt sich der Zeitpunkt der Messung als Februar bis Ende April angeben. Unter einer solchen Eisschicht betrug die Temperatur aufgrund der so genannten Dichteanomalie des Wassers zumindest am Grund der Mikwe noch 4 °C.226 Wie tief die Wassertemperatur allerdings im Winter wirklich sank, wie viele Mikwen sogar zufrieren konnten und wie häufig dies der Fall war (jeden Winter – und über längere Zeit? oder nur in besonders strengen Wintern?), lässt sich jedoch weder auf der Grundlage der vorhandenen Quellen noch der modernen Messdaten beantworten, auch nicht ansatzweise. Nichtsdestotrotz können letztere dazu beitragen, die für die Wassertemperatur der Mikwen maßgeblichen Faktoren in ihrer Wirkung besser zu beurteilen: nämlich Witterungseinflüsse, die Bodenbeschaffenheit und damit die Grundwassertemperatur einerseits, sowie andererseits die Tiefe der Anlage. Selbst an ein und demselben Ort konnte sich die Wassertemperatur von zwei Mikwen spürbar unterscheiden, wie in einem Bericht zu den Tauchbädern in Colmberg (Mittelfranken) angedeutet wird. Hier waren dem zur Untersuchung beauftragten Landgerichtsarzt zufolge im November 1828 noch zwei Mikwen im Gebrauch: die eine mit etwa vier Fuß (120 cm) tiefem, „quellenreinem“ Wasser und scheinbar ohne erkennbaren Makel, die andere zwar ebenfalls mit einer „hellen“ Wasserfläche, dabei aber beim Betrachter „Schauder“ erregend. Ganze zehn Fuß (ca. drei Meter) tief, drohe der Frau, die die zwölf „schmalen und hohen Stufen“ herabsteigt „bey dem geringsten Straucheln des Fußes die augenscheinliche Lebensgefahr.“ Aufgrund der Größe des Beckens sei an „Erwärmung des Badewassers
224 StA Nürnberg, Reg. v. Mfr., K.d.I., Abg. 1932, Tit. V, Nr. 312 I: Schreiben des Landgerichtsphysikatsverwesers von Herzogenaurach an die Regierung des Rezatkreises vom 29.11.1828, zitiert nach: Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 196. Der Wasserspiegel der Mikwe lag den Angaben in dem Bericht zufolge bei etwa 120 cm unter Bodenniveau, der Grund des Beckens bei etwa drei Metern; somit befand sich das Wasser in einer relativ oberflächennahen Schicht, die besonders stark den Witterungseinflüssen unterliegt. 225 Es handelt sich um die Orte Marktbreit, Obernbreit, Mainbernheim, Marktsteft, Rödelsee, Hohenfeld (zwei Mikwen) und Sickershausen; siehe StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirection vom 28.4.1812; Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirection vom 21.9.1812. 226 Wasser weist bei 4 °C die größte Dichte (somit das größte Gewicht) auf, so dass sich im Winter das schwere Wasser mit 4 °C auf dem Grund ansammelt, während die leichteren, kälteren Wasserschichten weiter oben liegen; zur Dichteanomalie des Wassers siehe o.V., „Anomalie des Wassers“, unpag.
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[…] gar nicht zu denken, jedoch ist das Wasser in diesem Bade gar nicht kalt, und wahrscheinlich deswegen vorgezogen.“227 Leider fand diese Untersuchung, anders als die von 1839 in Württemberg, im November statt, einem Monat, in dem das Grundwasser in Oberflächennähe aufgrund der im Sommer aufgenommen Sonnenenergie noch relativ warm sein kann. Aus diesem Grund ist nicht völlig klar, wie genau die Aussage zu interpretieren ist, dass das Wasser in der tiefen Mikwe „gar nicht kalt“ sei: War es an dem beschriebenen Tag tatsächlich wärmer als das in dem flacheren Becken der anderen nutzbaren Mikwe? War es nur überraschenderweise wärmer, als man aufgrund der Außentemperaturen vermuten würde? Oder bezieht sich diese Angabe (auch) auf Aussagen der Frauen, die die tiefere Mikwe deshalb bevorzugten, weil sie gerade in den kältesten Monaten tatsächlich wärmer war als die andere? Festzuhalten ist, dass sich die beiden noch aktiven Mikwen nicht nur hinsichtlich ihrer Beckentiefe, sondern auch der absoluten Tiefe unter Bodenniveau stark unterschieden. Während sich die flachere Mikwe in einem sechs Stufen tiefen Keller befand, d. h. etwa 140–170 cm unter Bodenniveau, lag die von den Frauen bevorzugte mehr als fünf Meter tief, der Beckengrund derselben zwischen acht und neun Metern.228 Geht man davon aus, dass letztere tatsächlich in den Wintermonaten weniger frostige Temperaturen hatte, so ist es sehr wahrscheinlich gerade die Lage von mehr als fünf Metern Tiefe, die sich hier vorteilhaft auswirkte, wie der Bericht des Bayerischen Landesamtes für Wasserwirtschaft beispielhaft zeigt. Im Februar, bezogen auf das Grundwasser einer der kältesten Monate, kann das Wasser in diesen tieferen Bodenschichten Temperaturen noch bis zu 11 °C erreichen, im November hatte das Wasser an derselben Messstelle (Vach, Lkr. Fürth) sogar 12 °C.229 Zwar geht man im Allgemeinen davon aus, dass erst ab etwa 20 Metern Tiefe die Grundwassertemperatur ganzjährlich auf niedrigem Niveau konstant ist,230 was somit nur wenige Mikwen betrifft (wie die extrem tiefe Anlage im hessischen Friedberg mit einer Wassertemperatur von etwa 7,5 °C); jedoch können offensichtlich gerade Mikwen von mehr als fünf Metern Tiefe von ihrer Lage profitieren und im Winter spürbar wärmeres Wasser aufweisen
227 StA Nürnberg, Reg. v. Mfr., K.d.I., Abg. 1932, Tit. V, Nr. 312 I: Schreiben Carl Diez’ an die Regierung des Rezatkreises vom 22.11.1828, zitiert nach: Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 151. 228 Die Meterangaben sind Schätzungen auf Grundlage der Angaben in dem genannten Bericht, siehe ebd. 229 Bayerisches Landesamt für Wasserwirtschaft (Hg.), Grundwassertemperatur-Tiefenprofilmessungen, S. 38. Einen ähnlichen Temperaturverlauf für Februar, wenn auch nicht ganz so hohe Ergebnisse, zeigen die Messstellen Am Weiher (ebd., S. 44), Wachendorf (ebd., S. 48, Monat März) und Sindelsdorf (ebd., S. 50); vgl. auch die idealtypische Darstellung der „Temperaturprofile im Untergrund zu verschiedenen Jahreszeiten“ (ebd., S. 8). 230 Ebd., S. 8.
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als oberflächennahe Tauchbecken.231 Der Bereich von etwa 2–3 Metern unter der Erdoberfläche scheint hingegen gerade die Schicht mit dem kältesten Grundwasser zu sein mit Temperaturen, die im Februar bis auf knapp 4 °C abfallen können.232 Kreative Lösungen
Auch wenn somit, je nach den lokalen Verhältnissen, kaum eine wirklich angenehme Temperatur erzeugt werden konnte, war die erzielte Erwärmung offensichtlich in manchen Fällen ausreichend, um eine weitere Frau hiervon profitieren zu lassen. So berichtet 1812 Distriktsarzt Dr. Weinrich im unterfränkischen Marktsteft, dass man den Mikwen in seinem Bezirk an einigen Orten heißes Wasser zugoss, „und manche ärmere Jüdin benutzt dann die Gelegenheit, sich auch in diesem gewärmten Waßer unterzutauchen.“233 Da der Zeitpunkt zum Untertauchen allerdings individuell festgelegt ist, bedeutet dies, dass sich die Frauen nicht nur untereinander absprechen, sondern ärmere Jüdinnen möglicherweise ihr Tauchbad um einige Tage verschieben mussten. Dies ist halachisch nicht ohne Weiteres möglich, jedoch konnten die Rücksicht auf die Gesundheit oder die geschäftliche Abwesenheit des Ehemanns im Einzelfall eine solche Entscheidung erleichtern. Der Fortgang des Berichts zeugt dann allerdings wieder von der harten Realität der Mehrzahl der armen Frauen: Der größere Theil der Judenweiber aber muß sich mit dem eiskalten Waßer begnügen. An einem Orte erzählte man mir, daß man der schon entkleidet in das Bad hinabsteigenden Frau ein Geschirr mit kaltem Waßer nachgöße, welches freilich eine ganz zwecklose Hülfe ist.234
231 Vgl. auch den Kommentar von Jungendres, wonach man für die Anlage von Mikwen so tief grub, „als es sich schicken will, damit sie im Winter nicht zufrieren.“ (Kirchner, Jüdisches Ceremoniell, S. 176 [Anm. a]). 232 Ebd., S. 17 (Tabelle) und S. 33–39 (Temperaturkurven für Februar an verschiedenen Messstellen). 233 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirection vom 28.4.1812. Auch in dem Schriftverkehr der Regierung in Würzburg mit dem Innenministerium infolge des ‚Mombert-Erlasses‘ heißt es 1829, dass arme Frauen oft gezwungen sind, entweder kalt oder in „schon von andern gebrauchtem Bade zu tauchen“. Eine direkte Bezugnahme auf das Gutachten Weinrichs von 1812 scheint hier nicht vorzuliegen, die Aussage sich stattdessen auf neu eingegangene Berichte zu stützen; nichtsdestotrotz ist es natürlich möglich, dass auch dort nur alte Befunde wiederholt werden, diese Praxis also nicht unbedingt auch 1829 bzw. an anderen Orten bestand; siehe StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht der K. Regierung des Mainkreises vom 26.9.1829. 234 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirection vom 28.4.1812.
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Dass es an dieser Stelle „mit kaltem Waßer“ heißt, und nicht mit ‚heißem‘ oder ‚warmem‘, lässt sich wohl nur als Flüchtigkeitsfehler interpretieren. Auch bezüglich des in aller Regel nicht geheizten Umgebungsraums suchte man sich nach Kräften zu behelfen, „und sollte es nur durch gewärmte Steine seyn, auf welche die Frau, wenn sie aus dem Bade kommt, ihre Füße stellen kan.“235 Es ist anzunehmen, dass man sich andernorts auf ähnliche Weise bemühte, das Los der Frauen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln ein wenig zu erleichtern. War das Becken zu groß, um das Quellwasser durch Zuschütten einer relativ kleinen Wassermenge zu erwärmen, so bediente man sich bereits lange vor dem 19. Jahrhundert auch weiterer Hilfsmittel. So erfahren wir von der tatsächlich praktizierten Erwärmung des Wassers unter anderem wieder in Buxtorfs Synagoga Judaica, wo es heißt: „im Winter pflegen sie an etlichen Orten warme Wasser in den Badkasten zu schütten : an etlichen Orten baden sie im Win[t]er und Sommer in kaltem Wasser.“236 Mit „Badkasten“ ist hier entweder einfach das Becken selbst gemeint;237 andererseits existierten auch spezielle Badkästen, die vermutlich einem doppelten Zweck dienen konnten, nämlich zum einen der Sicherheit der Benutzer(innen), zum anderen der leichteren Erwärmbarkeit des Wassers. In einem Bauamtsbericht von 1771 zum Zustand der aus dem Jahr 1602 stammenden, ungewöhnlich großen und tiefen Mikwe in Frankfurt am Main wird eine bewegliche Holzkonstruktion beschrieben:238 Das Baadwasser selbsten ist Quell-Wasser und war an dem Tage der Besichtigung nur 5 Schuh tief [ca. 1,40 m], soll aber nach Aussage der Juden-Baumeister öfters bis auf 11 Schuh hoch [ca. 3,10 m] anwachsen; weilen nun dieses, wie leicht zu erachten, einen schreckhaften Anblick verursachet, so ist an beiden Seiten der obbeschriebenen Gallerie eine hölzerne Blendung befestiget, welche in der Mitte frei schwebet und nach dem Maase des Wassers aufgezogen oder herabgelassen werden kann, damit die herabsteigenden Weiber das Gewässer nicht völlig sehen und einen Abscheu fassen können.239
235 Ebd; vgl. zu diesem Aspekt auch Mezger, „Über die religiösen Bäder“, S. 117. 236 Buxtorf, Synagoga Judaica, S. 615. 237 Vgl. beispielsweise die Berichte zu Mergentheim vom September 1857, wo das Becken ebenfalls als Badkasten bezeichnet wird; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht des Oberamts Mergentheim vom 10.9.1857; Registratur-Anzeige der Kreisregierung in Ellwangen vom 22.9.1857. 238 Es handelt sich um die in unmittelbarer Nähe zur Synagoge aus dem Jahr 1462 errichtete Mikwe, die etwa acht Meter unter dem Straßenniveau gelegen haben muss, wie Michael Lenarz vermutet. 1854 wurde sie endgültig abgebrochen, um für die neue Hauptsynagoge Platz zu schaffen; siehe hierzu sowie allgemein zur Geschichte der Mikwen in Frankfurt am Main den Beitrag von Lenarz, „Mikwen in Frankfurt“, S. 94–97. 239 Bericht des Bauamts vom 17.9.1771, zit. nach: Euler, „Judenbad“, S. 295.
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Dass diese Konstruktion als eine höhenverstellbare Unterlage fungierte, mutmaßt auch schon Isidor Kracauer 1904 in seiner Abhandlung Die Geschichte der Judengasse in Frankfurt am Main.240 Ob es sich hierbei um einen typischen Badkasten handelt, lässt sich aus der Darstellung allerdings nicht erkennen, und auch der Frankfurter Johann Jakob Schudt, der die Mikwe zumindest von außen kannte und wahrscheinlich auch selbst besichtigt hatte, beschreibt die Konstruktion in seinen Jüdischen Merckwürdigkeiten leider nicht.241 Somit kann lediglich vermutet werden, dass sie über den Sicherheitsaspekt hinaus auch noch der Erwärmung des Wassers diente. Aus einem Bericht des Fürther Stadtgerichtsarztes Dr. Solbrig von 1828 über die Mikwe im dortigen ‚Schulhof‘242 geht eine derartige Nutzung hingegen zweifelsfrei hervor: Auf mein geäußertes Bedenken: ‚wie man diesen beträchtlichen Wasserstrom, der sich aus dieser kräftigen Quelle ergieße, baderecht erwärmen könne‘[,] zeigte man mir eine an 4 eisernen Ketten hängende hölzerne Brücke, welche über dem Wasserspiegel schwebt, und über welcher denn auch nur soviel Wasser sich befindet, daß es der kleinsten Person
240 Kracauer, „Judengasse“, S. 407 (Anm. 1); die entsprechende Stelle wird auch zitiert bei Lenarz, „Mikwen in Frankfurt“, S. 96. 241 Schudt, Merckwürdigkeiten, Bd. 2, S. 421f (6. Buch Kapitel 24). 242 Die Lage der Mikwe innerhalb des ‚Schulhofs‘, also dem Areal rund um die Hautsynagoge (‚Altschul‘), lässt sich nicht völlig zweifelsfrei bestimmen. Die von Solbrig 1828 besichtigte Anlage (vgl. folgende Anmerkung) befand sich nach seinen Worten „auf dem hiesigen Judenschulhofe, und zwar unterhalb des sogenannten, ‚obwohl seit 200 Jahren bestehenden‘ neuen Schulgebäudes, welches in nordöstlicher Richtung […] gelegen ist.“ Dies deutet auf die jüngere ‚Neuschul‘ hin, die zur Entstehungszeit des Berichts aber nur etwa 130 Jahre alt war und vor allem südlich der Hauptsynagoge lag. Aus diesem Grund, und weil ein anderer Text einen Hinweis auf ein Stiftungsgebäude enthält, bringt der Ortsartikel in Mehr als Steine die nördlich gelegene ‚Klaus‘ ins Spiel, d. h. die Bärmann-Fränkelsche Stiftung, aus der wahrscheinlich die berühmte Talmudhochschule hervorging (Kraus u. a. [Hgg.], Synagogen, Bd. II, S. 275, 327 [Anm. 175]). Dies wirft jedoch, abgesehen von der ebenfalls nicht ganz exakten Richtungsangabe, zwei andere Fragen auf: Wie wahrscheinlich ist es, dass sich eine der Hauptmikwen, wenn nicht gar die damalige Gemeindemikwe, unter einer Jeschiwa befand? Und wie ist in dem Fall Solbrigs Nennung des „sogenannten […] neuen Schulgebäudes“ – aller Wahrscheinlichkeit nach die ‚Neuschul‘ – zu werten? Gisela Blume vermutet die Mikwe deshalb, trotz der rätselhaften Angabe „nordöstlich“, unter der ‚Neuschul‘ („Mikwen in Fürth“, S. 63–69, speziell S. 64; für einen Beleg, dass es wenige Jahre später, 1831, nur eine aktive Gemeindemikwe gab, siehe S. 68). Dass sich unter der ‚Neuschul‘ einst eine Mikwe befand, berichtet bereits 1754 Andreas Würfel in Historische Nachricht Von der Judengemeinde in dem Hofmarkt Fürth. Demnach wurde das neue Gemeindehaus 1697 errichtet und beinhaltete außer dem Gottesdienstraum ursprünglich ein „Schlachthaus“, das jedoch 1717 geschlossen werden musste (S. 28, 62f). Unterhalb des auch „Kahls-Schule“ (von hebräisch kahal, ‚Gemeinde‘) genannten Gebäudes wurde offenbar in der Folgezeit, anstelle des Schlachthauses, die so genannte „Kahls-Mikveh“ angelegt (ebd. S. 28).
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nur bis an die Herzgrube dringen kann. Und somit ist auch die Möglichkeit für die vollkommene Herstellung des erforderlichen Wärmegrades gegeben.243
Offensichtlich stellte in Fürth nicht nur die Größe der Anlage, sondern zusätzlich der starke Strömungsgrad des Wassers ein Problem dar, dem man mit der künstlichen Verkleinerung des Beckens begegnete. Bediente man sich einer derartigen hölzernen Konstruktion, so galt es bestimmte halachische Vorgaben zu berücksichtigen, besonders dann, wenn es sich um einen regelrechten Kasten, und nicht nur eine bewegliche Unterlage handelte. In diesem Fall musste zweifelsfrei ausgeschlossen werden, dass er ein ‚Gefäß‘ darstellte, da das Untertauchen in Gefäßen ausdrücklich verboten ist. Dies erreichte man dadurch, dass man am Boden (unter Umständen auch an der Seite) des Kastens ein Loch bzw. mehrere Löcher anbrachte, die eine vorgeschriebene Größe aufweisen mussten und teilweise auch wieder auf eine bestimmte Weise verschlossen werden durften.244 Neben diesem ‚Alibi-Loch‘ war eine weitere Öffnung nötig, durch welche das Wasser in dem Kasten mit dem Wasser der koscheren Mikwe in Kontakt stand (haschaka-Prinzip). Zudem sollte die Holzkonstruktion als Bestandteil des Gebäudes gelten, musste also fest mit diesem verbunden sein. Von der aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stammenden Warburger Mikwe (Kreis Höxter, NordrheinWestfalen) hat sich der Boden eines hölzernen Badkastens erhalten, der durch einen späteren Anstieg des Grundwasserspiegels nötig wurde (vgl. Abb. 6).245 Die Regeln für einen zulässigen Badkasten sind dabei nicht nur recht komplex, sondern wurden auch keineswegs einheitlich beurteilt.246 Spätestens im 19. Jahr-
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Der in Blumes Artikel (S. 65) abgedruckte historische Plan einer Mikwe im ‚Schulhof ‘ stellt vermutlich diese Anlage dar, gibt aber weitere Rätsel auf. Er zeigt ein großes Kellergewölbe in normaler Tiefe (13 Stufen und ein Absatz), und unter diesem ursprünglichen Hauskeller eine in den Felsen gehauene Treppenanlage, die über 36 recht hohe Stufen (darunter ein Absatz) zum Grund des Tauchbeckens in etwas mehr als 12,20 m Tiefe führt. Dies würde sich soweit mit Solbrigs Darstellung von 1828 decken. Die von Solbrig beschriebenen Absätze nach jeweils acht Stufen sind jedoch nicht zu erkennen, ebenso wenig wie das neue (tiefere) Umkleidezimmer von 1824 (das kleine Tonnengewölbe mit Türöffnung unten im Plan bildet wahrscheinlich den im Schnitt sonst nicht sichtbaren Eingang zum Felsenkeller ab). Die Skizze entstand (aufgrund der verwendeten Meter-Angaben) vermutlich deutlich später, so dass diese Unstimmigkeiten wieder dafür sprechen würden, dass Solbrig doch eine andere Mikwe beschreibt (immer vorausgesetzt, man sieht hier tatsächlich die Mikwe unter der ‚Neuschul‘). Somit kann auch die Möglichkeit einer Mikwe im nordöstlichen Teil des ‚Schulhofs‘ nicht völlig ausgeschlossen werden, was anhand des vorhandenen Archivmaterials zu prüfen wäre. StA Nürnberg, Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. V, Nr. 312 I: Bericht des Fürther Stadtgerichtsarztes vom 18.11.1828, zit. nach: Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 282. Vgl. SchA, Jore de‘a 201,7 und 40. Vgl. Peine/Dubbi, „Warburg“, S. 161. Vgl. hierzu knapp Halberstam, Diwre chajjim, Jore de‘a, Teil 1 Nr. 46.
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Abb. 6 Warburg, Blick auf den Boden des hölzernen Badkastens; die seitlichen Leisten dienten der Befestigung der Holzwände
hundert, als eine Erwärmung des Wassers von den Frauen mehr und mehr gefordert wurde, darf man auch mit sehr kreativen Konstruktionen rechnen. So berichtet etwa der für seine Gelehrsamkeit bekannte und angesehene polnische Rabbiner Chaim Halberstam (1793–1876),247 nach seinem Hauptwerk auch als Diwre Chajjim bezeichnet, von einem Badkasten, dessen Boden man als Treppe gestaltet hatte, so dass er auf den Stufen der eigentlichen Mikwe zu stehen kam.248 Je nach Wasserstand konnte er so höher oder tiefer liegen bzw. auch ganz entfernt werden, wobei der Treppenboden alleine im Wasser zurückblieb. Der Diwre Chajjim, der persönlich eine sehr strenge Auslegung der Regel vertrat, wonach nur eine horizontale haschaka-Verbindung erlaubt ist, Wasser auf einer ‚Neigung‘ hingegen verboten (חיבור אינו )קטפרס, lehnte diese Lösung jedoch ab.249 Im Gebiet des Deutschen Bundes, wo es ab den 1820er Jahren in verschiedenen Staaten zu behördlichen Inspektionen und Vorschriften zur Erwärmung der Mikwen kam, sorgten zwei
247 Chaim Halberstam wirkte von 1830 bis zu seinem Tod als Rabbiner in Zanz (heute polnisch Nowy Sacz). Zu seinem Leben und Werk siehe Meislish, „Halberstam“, S. 264f. 248 Halberstam, Diwre chajjim, Jore de‘a, Teil 1 Nr. 97. 249 Die genannte Regel findet sich bereits in der Mischna (mToh 8,9). Zum Standpunkt des Diwre Chajjim in dieser Frage siehe knapp Jachter, „Mikvaot Part 5“ (Abschnitt The Lubavitch Mikva – „Bor Al Gabei Bor“ Style of Hashaka), sowie unten Kapitel 6.2.2.
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
ungewöhnliche Weiterentwicklungen der Idee der Badkästen für Aufsehen; hierauf gehe ich in Kapitel 6.2.2 noch ein.
3.4
Gebotserfüllung und Spiritualität
Einen der wichtigsten Aspekte der Nutzung von Mikwen spiegelt der Begriff ‚Frauenbad‘ wider, wird doch die Mikwe bis heute vor allem von weiblichen Besuchern frequentiert. Ist das Ideal des männlichen Juden traditionell das eines in jüdischer Gesetzestradition bewanderten Gelehrten, so verweist die traditionelle Rollenverteilung die Frau auf den Bereich des Hauses mit dem Ziel der Heiligung dieser Sphäre. Mehr als die Synagoge symbolisiert das jüdische Heim den Tempel, absorbiert gewissermaßen die einst mit dem Tempelkult verbundenen Praktiken: „The home is the ritual space.“, wie Leslie A. Cook dies in ihrer Studie zu weiblichen Reinigungsritualen in Bibel und Mischna ausdrückt.250 In diesem Sinn sind die drei besonderen religiösen Pflichten (hebräisch mizwa, Plural mizwot) der Frau zu verstehen:251 das Absondern der challa (Teighebe, nach Num 15,17–21), das Einhalten der speziellen Vorschriften zu ehelicher ‚Absonderung‘ und Reinigung im Zusammenhang mit Menstruation bzw. nach einer Geburt (nidda), und das Anzünden der Schabbatkerzen (hadlakat ha-nerot), als Akronym der drei hebräischen Begriffe auch kurz bezeichnet als mizwot chanah. Dabei schaffen die Zeiten von Absonderung und Reinheit einen das eheliche Leben in grundlegender Weise bestimmenden Rhythmus, der von orthodox lebenden Jüdinnen und Juden bis heute als sinnstiftend und erfüllend wahrgenommen werden kann. Gemäß dem Or Sarua, R. Isaak ben Moses aus Wien (ca. 1180 – ca. 1250), erleben der Mann und die durch das Untertauchen in lebendigem Wasser „erneuerte“ Frau auf diese Weise monatlich von neuem ihren Hochzeitstag: „Monat für Monat erneuert sich die Frau, indem sie untertaucht, kehrt zu ihrem Ehemann zurück, und ist ihm so lieb wie am Tag ihrer Hochzeit.“252 Die reale Vorfreude auf die körperliche Wiedervereinigung mit dem Ehemann drückt sich beispielsweise 250 Cook, „Body Language“, S. 57 (Hervorhebung im Original). 251 Aufgrund ihrer Mutterrolle ist die jüdische Frau im Gegensatz zum Mann von sämtlichen religiösen Pflichten befreit, die an feste Zeiten gebunden sind; vgl. Herweg, Die jüdische Mutter, S. 94, sowie allgemein das Kapitel zu Priesterschaft der Frau und Heiligung der Familie (ebd., S. 88–101). 252 Isaak ben Moses, Sefer or saru‘a, Bd. 2, Hilchot rosch chodesch 454, auf der Grundlage von bNid 31b. Wörtlich heißt es: „Monat für Monat erneuert sich die Frau und taucht unter und kehrt zu ihrem Ehemann zurück und ist ihm so lieb wie am Tag ihrer Hochzeit.“ Die im Text gewählte Übersetzung (sie erneuert sich, indem sie untertaucht) basiert nicht zuletzt auf der Interpretation des Folgesatzes, wonach die erneuerte Frau das besondere Verlangen ihres Mannes hervorruft; der beschriebene monatliche Wandel der Frau muss demnach direkt mit dem Besuch der Mikwe in Verbindung stehen und kann nicht einfach (nur) Folge natürlicher (körperlicher) Vorgänge sein
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auch darin aus, dass manche Frauen direkt nach Beendigung der Menstruation ein erstes Wannenbad nahmen und sich anschließend attraktiv kleideten, wie ein Schüler Raschis (1040–1105)253 im Hinblick auf den Stellenwert des Tauchbades kritisiert: At the time of their impurity they would change their clothing and dress in dirty clothes so as to be repulsive to their husbands, and thus they would not come to intimacy that might lead to sin. And after their period would cease and they would begin their seven days, they would wash and dress in nice clothes, because it was difficult for them to be repulsive to such a degree.254
Zwar entsprach die Glaubenspraxis mittelalterlicher Frauen nicht zu jeder Zeit und an allen Orten den gängigen rabbinischen Vorstellungen hiervon, wie Shaye J.D. Cohen anhand der hier ausschnittsweise zitierten Passage sowie von drei weiteren Quellen anschaulich darstellt.255 Aber nichtsdestotrotz kann man davon ausgehen, dass die Frauen ihre religiösen Pflichten, so wie sie dieselben verstanden, in aller Regel gewissenhaft beachteten;256 aufgrund ihres die Zeit strukturierenden und prägenden Charakters machten die Gebote um nidda und Mikwe somit einen nicht unwesentlichen Teil ihres Lebens – und ihres Selbstverständnisses als Frau – aus. Dabei stellte die traditionelle rabbinische Erklärung, wonach die Menstruation eine Strafe für die von Eva begangene Sünde ist,257 innerhalb des weiblichen Kosmos bestenfalls eine Facette neben anderen dar. In den von Chava Weissler untersuchten neuzeitlichen Frauengebeten, den so genannten techinot (jiddisch tkhines), deutet man das Tauchbad nur an wenigen Stellen dieser frauenfeindlichen Vorstellung
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wie im Falle des Mondes, mit dem die Frau verglichen wird. Für eine Interpretation dieser Stelle bei Or Sarua siehe auch Puterkovsky, „Rosh Hodesh“, S. 11f. R. Salomo ben Isaak, nach seinem hebräischen Namensakronym meist kurz Raschi genannt, ist einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten des Mittelalters. Er studierte an den Talmudhochschulen in Mainz und Worms, zu denen er auch nach der Rückkehr in seine Heimatstadt Troyes, um 1065, Kontakt hielt. Bekannt ist er vor allem für seine Kommentare zu Bibel und Talmud, die noch heute studiert werden; vgl. Rothkoff u. a., „Rashi“, S. 101–106. Für die vollständige Passage und deren Interpretation siehe Shaye Cohen, „Purity, Piety, and Polemic“, S. 84–87. Ebd. Zu dem in Ägypten praktizierten und 1176 von Maimonides streng verbotenen Reinigungsritual des sakh, d. h. des Besprenkelns mit Wasser durch eine andere Frau, siehe auch die ausführliche Analyse von Krakowski, „Maimonides’ Menstrual Reform in Egypt“. Ebd., S. 97. Vgl. hierzu beispielsweise das Sefer Brantspigel, wo diese Deutung den Auftakt der Unterweisungen zu nidda und Mikwe bildet; Riedel (Hg.), Brantspigel, S. 245. Für eine Diskussion dieses Aspektes in der rabbinischen Literatur der Antike siehe Fonrobert, Menstrual Purity, S. 30–35.
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gemäß als nötigen Akt der Reue und Wiedergutmachung.258 Vielmehr ermöglichen die von den Frauen persönlich gesprochenen Texte, die in der Umgangssprache und nicht in Hebräisch verfasst waren, gerade auch eine positive Identifikation mit der eigenen Aufgabe als jüdische Frau und Mutter. Im Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot des Untertauchens erfährt sich die Frau nicht primär als Tochter Evas, sondern behauptet sich ihren Platz in der Gemeinschaft frommer jüdischer Frauen: „I have waited until the time until which every pious woman in Israel waits, according to the commandment of our sages in accord with our holy Torah. Now comes the time that I must purify myself […].“259 An anderer Stelle wird das Untertauchen in der Mikwe zum spezifisch weiblichen Beitrag innerhalb der großen Aufgabe des jüdischen Volkes, nämlich Reinheit und Heiligkeit:260 God, my Lord, I, – – – daughter of – – – [the woman inserts her own name here] have kept Your commandment today with love, and have purified myself from my uncleanness, to come in purity to have intercourse with my husband, with great cleanliness, and with pure thoughts, so as to bring my husband in good will to fulfill your commandment to multiply the world and to fill it (cf. Gen 1:28). Merciful God, send me Your angels that they may meet me before I come to my husband, and that I may meet nothing unclean. Purify my heart and my thoughts that I may think no evil while he has intercourse with me, and may his whole deed be done in great cleanliness, not wantonly or brazenly. Send me the good angel to wait in the womb to bring the seed before You, Almighty God, that You may pronounce, from this seed will come forth a righteous man, and a pious man, a fearer of Your holy Name […].261
258 Vgl. zu diesem Aspekt Weissler, „Mizvot“, S. 107–110. 259 Seyder Tkhines u-Vakoshes, no. 91, zit. nach: Weissler, „Traditional Piety“, S. 260. 260 Vgl. zu diesem Aspekt oben Kapitel 2.1. Welche zentrale Bedeutung der Mikwe – und damit den Frauen – hiermit innerhalb des göttlichen Heilsplans zukommt, zeigt sich auf besondere Weise auch in der Entwicklung der frühen amerikanischen Mikwen, die Laura Arnold Leibman in ihrem Aufsatz „Early American Mikva’ot: Ritual Baths as the Hope of Israel“ anhand von sechs Beispielen aus dem 17. und 18. Jahrhunderts aufzeigt. In der stark mystisch geprägten frühen jüdisch-amerikanischen Gemeinschaft spielten Mikwen von Anfang an eine wichtige Rolle und wurden – abweichend von ihrem Amsterdamer Vorbild – vorzugsweise von Flusswasser, d. h. lebendigem Quellwasser gespeist, möglicherweise als Betonung der Hoffnung auf messianische Erlösung gemäß Ezechiels Vision vom dritten Tempel (Ez 47,2–5). Durch ihre monatliche rituelle Reinigung in der Mikwe waren die Frauen die zentralen Träger bzw. Garanten dieser Hoffnung bzw. sämtlicher Hoffnungen, die sich mit dem Leben in der neuen Welt verbanden. Vgl. Leibman, „Early American Mikva’ot“, besonders S. 67–70, 77, 86. 261 Seyder Tkhines [1752] 9b / Seyder Tkhines u-Vakoshes, no. 93, zit. nach: Weissler, „Traditional Piety“, S. 260f.
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Die Verantwortung gegenüber der folgenden Generation, welche die Frau vor allem in der frühkindlichen Erziehung wahrnimmt, beginnt also nicht erst mit der Geburt, sondern schon mit der tewila, dem Gang in die Mikwe!262 Der Zeitpunkt für das Tauchbad ist im Normalfall nach Einbruch der Nacht, nachdem sieben ‚weiße‘ Tage in Folge gezählt wurden.263 Um anschließend wieder als rein zu gelten, muss die Frau vom Wasser der Mikwe vollkommen umgeben sein, es darf sich also keinerlei Hindernis zwischen dem Wasser und der Haut befinden. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, dass dem Untertauchen ein warmes Bad und eine genaueste Untersuchung des Körpers vorausgeht.264 Das Vorbad, das möglichst unmittelbar vor dem religiösen Ritual stattfinden soll, kann prinzipiell auch zuhause genommen werden. In modernen Mikwen stehen hierfür eigene Badezimmer bereit, hinsichtlich der Praxis früherer Jahrhunderte gibt es verschiedene Modelle. Im Mittelalter konnte die körperliche Reinigung in einem öffentlichen Badehaus geschehen, das sich, sofern es sich um ein jüdisches handelte, teils in großer räumlicher Nähe zur Mikwe befand wie beispielsweise in Köln.265 Mit dem Niedergang der mittelalterlichen Badekultur blieb nur noch die Möglichkeit eines häuslichen Bades, das sich die Frau entweder in ihrem Haus oder, sofern möglich, von der Mikwenwärterin im Gebäude der Mikwe bereiten ließ. Neben den jiddischen Frauengebeten erfolgte die Unterweisung der Frauen in der Neuzeit ebenfalls durch Moralbücher wie das bekannte Sefer Brantspigel von 1596, das dem Thema nidda und Mikwe ein eigenes Kapitel widmet. In enger Verquickung von Ermahnungen, moralisierenden Anekdoten und praktischen Anweisungen entsteht hier ein komplexes Bild der weiblichen Lebenswelt, das anders als die techinot auch Licht auf ganz konkrete äußere Umstände wirft. Beim Untertauchen in der Mikwe sollte die Frau demnach Folgendes beachten: un’ wen si sich towel [untertauchen] will sein do mus si sich hüten das si nit stet auf leim [Lehm] das es ir nit klebt zwüschen den zehen. un’ sol di füs nit ser zu houf halten. un’ di arum [Arme] mus si antpor halten do mit das di brüst nit aso hert am leib ligen un’ das waser kann der zwüschen. un’ man sol ain judin der bei haben das si ir zu sicht das si sich recht towel is [untertaucht]. un’ sicht das ir niks von irem leib herousen bleibt afilu
262 Ähnlich auch Riedel (Hg.), Brantspigel, S. 257f; vgl. hierzu allgemein Herweg, Die jüdische Mutter, S. 71–79, speziell zum Einfluss der Mutter auf das Kleinkind ebd. S. 79. Ausführlicher zu jüdischen Idealvorstellungen von Kindern sowie der vorgeburtlichen Beeinflussung von dessen Eigenschaften siehe Berger, Moralliteratur, S. 250–267. 263 Für die Regel und mögliche Ausnahmen vgl. Ganzfried, Kizzur schulchan aruch, Bd. 2, S. 930f. 264 Vgl. ebd. S. 920–929; für eine kurze moderne Zusammenstellung siehe Silbiger, Ehe, S. 14–19. 265 Vgl. hierzu die Karte des mittelalterlichen Judenviertels in Köln in Gechter/Schütte, „Ursprung“, S. 119 (Mikwe Nr. 9, Warmbad Nr. 10; für die Beschreibung der unmittelbaren Umgebung der Synagoge siehe S. 137).
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ain [selbst kein] ainzik hor. […] un’ wen si sich hot gar recht unter geschlagen [getaucht] so mus die judin [d. h. die Begleiterin] sprechen recht aso is gleich aso vil as sprech sie koscher oder tohor [rein]. die chachme ha-Kabolo [Weisen der Kabbala, Mystiker] schreiben wen man her niden schraiet zu rechten koscher do schrait man oben im himel auch koscher. schwaigt man do schwaigt man oben auch. un’ komt niks gutes der von. […] un’ wen sie ous dem waser get do sol si sich zu deken wen schon [obwohl] kain man derbei is den [denn] die malochim [Engel] die ain menschen belaiten [begleiten] zu der mizwo [Gebotserfüllung] sein der bei […]. un’ wen si unzüchtig ist un’ get naket so genen die malochim [Engel] hinwek. un’ di ruchos roos [bösen Geister] blosen si an das si wider unrain wert. un’ wert nit tragen [schwanger]. wert si den tragen so tragt sie was selzams un’ tragt nit ous. un’ si macht di brocho [Segensspruch] noch der twilo [Untertauchen] oder wen si stet im waser so dekt si den kopf zu un’ macht brocho. is das waser gar louter [klar] das si kann sehen den leib so sol si es trüb machen mit dem fus.266
Muss die Frau heutzutage lediglich bei dem vorausgehenden Bad streng darauf achten, alles zu entfernen, was der Haut anhaftet und so eine Barriere zwischen dem Mikwenwasser und dem Körper darstellen würde, so drohte in früheren Jahrhunderten anschließend erneut Gefahr: Der Boden der Mikwe selbst konnte lehmig sein.267 Damit das Wasser alle Stellen des Körpers bedeckt, ist auch die Körperhaltung beim Untertauchen auf das Genaueste geregelt; unter anderem sollen, wie der Brantspigel angibt, die Füße nicht zu dicht beieinander stehen. Bliebe nur ein einziges Fleckchen Haut, z. B. durch eine zu starke Krümmung des Körpers, oder ein einzelnes Haar unbenetzt, so wäre das Tauchbad ungültig, die Frau nach wie vor rituell unrein.268 Seit der Zeit des R. Meir von Rothenburg (ca. 1215–1293)269 , einem Schüler des oben genannten Or Sarua aus Wien, war es deshalb üblich, dass eine andere Frau über das vorschriftsmäßige Untertauchen wachte270 und es durch ihren Ausruf beglaubigte bzw. rechtskräftig machte: „wen man her niden schraiet zu rechten koscher do schrait man oben im himel auch koscher.“ Als Begleiterin wählte man sich anfangs offensichtlich einfach eine befreundete jüdische Frau, die wenigstens zwölf Jahre alt war und so das Alter der religiösen Mündigkeit
266 Riedel (Hg.), Brantspigel, S. 256. Die Worterklärungen in eckigen Klammern wurden von mir zum leichteren Verständnis hinzugefügt. 267 Vgl. auch Ganzfried, Kizzur schulchan aruch, Bd. 2, S. 926f. 268 Für eine übersichtliche Darstellung der genauen Vorschriften beim Untertauchen siehe Silbiger, Ehe, S. 19–24. 269 Zur Bedeutung des Maharam siehe Agus, „Meir ben Baruch of Rothenburg“, S. 780–783; für eine neuere Darstellung, die besonders sein Wirken im süddeutschen Raum hervorhebt, siehe Heil, „Und nach ihm wird an jedem Ort entschieden“, S. 25–42. 270 Shaye Cohen, „Purity, Piety, and Polemic“, S. 95. Siehe auch die folgende Anmerkung.
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erreicht hatte,271 später übernahm diese Aufgabe zunehmend eine hierfür angestellte Mikwenwärterin. Die hier im Mittelalter ansatzweise präsente Funktion des social bonding, d. h. die Festigung von bestehenden sozialen Bindungen über diesen Freundschaftsdienst, ging auf dem Weg in die Neuzeit weitgehend verloren,272 und führte dann nicht selten zu Spannungen um das Amt und die Person des ‚Mikwenpersonals‘.273 Möglicherweise spielte bei dieser Akzentverschiebung von Freundin zu professioneller Begleitung auch der Umstand mit eine Rolle, dass eine Erwärmung des Mikwenwassers mehr und mehr Standard wurde bzw. zumindest angeboten werden musste, was dann häufig die spezielle Aufgabe der Mikwenwärterin war. Als tatkräftige Hilfe ist sie genaugenommen lediglich für den Fall gefordert, dass „eine Frau das Untertauchen nur durch Hilfeleistung einer anderen Frau vornehmen kann“, wie Rabbiner Seligmann Bär Bamberger (1807–1878) festhält.274 Geläufige Bezeichnungen wie „Duckerin“275 oder „Stoßfrau“276 lassen jedoch erahnen, dass die Mikwenfrauen tatsächlich bis in Bambergers Tage recht häufig Hand anlegten, was sich vielleicht (auch) aus der geringen Größe bzw. Wassertiefe der üblichen Kellermikwen erklären lässt. Eine anschauliche Darstellung dieser Praxis findet sich in Kirchners Jüdisches Ceremoniell von 1734,277 wobei die Mikwenwärterin wie in der Abbildung selbst im Wasser stehen konnte, dies aber für die Ausübung ihrer Pflicht nicht nötig war.278 Nach dem Untertauchen spricht die Frau den für die Erfüllung dieses Gebots vorgeschriebenen Segensspruch: „Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns durch Seine Gebote geheiligt hat und uns die Tewilah [das Tauchbad]
271 Vgl. hierzu Landau, der dies als Regel des R. Meir von Rothenburg überliefert (Sefer ha-agur, Hilchot tewila 1387). Im Sefer mizwot naschim heißt es, dass notfalls auch der eigene Mann das Untertauchen bezeugen darf, wenn keine andere (volljährige) Jüdin dabei sein kann, bzw. im schlimmsten Fall jegliche Aufsicht entfallen kann (da christliche Frauen nicht zugelassen sind); [Slonik], Sefer mizwot ha-naschim, § 27. Der Hinweis auf die Ausgabe Krakau 1595 (und damit indirekt Slonik als Verfasser) findet sich auf der zweiten Seite des Werkes. 272 Shaye Cohen, „Purity, Piety, and Polemic“, S. 95. 273 Vgl. zu diesem Aspekt auch Kapitel 5.1.1. 274 Bamberger, Amirah le-beth Jakob, S. 42. Seligmann Bär Bamberger, bekannt als der Würzburger Raw, war seit 1840 Distriktsrabbiner in Würzburg und gilt als ein bedeutender Vertreter der süddeutschen Orthodoxie; vgl. „Bamberger, Seligmann-Bär“, in: BHR 1,1, S. 167–170. Zu seiner Bedeutung für das fränkische Judentum vgl. Wilke, „Landjuden“, S. 89–91. 275 Vgl. Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 54, 57. 276 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des Medizinal-Collegiums vom 16.2.1843[?]. 277 Kirchner, Jüdisches Ceremoniell, zu S. 204. Wie bereits in anderem Zusammenhang (Kapitel 3.2.1) erwähnt, muss offen bleiben, inwieweit die dargestellten Räumlichkeiten einer realen Mikwe entsprechen. Zumindest zeigt die Abbildung (Abb. 4) eine eher ungewöhnliche Anlage, sicher keine Kellermikwe. 278 Vgl. auch Shaye Cohen, „Purity, Piety, and Polemic“, S. 95.
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
befohlen hat.“279 Da sie währenddessen nicht auf ihren nackten Körper sehen soll, ließ sich in früheren Jahrhunderten offensichtlich aus der Not eine Tugend machen, indem man mit dem Fuß etwas Schlamm vom Boden aufwühlte, wenn das Wasser nicht ohnehin schon trüb war.280 Anschließend tauchte man dem jeweiligen Brauch gemäß häufig ein zweites oder gar drittes Mal unter.281 Nach volkstümlicher Vorstellung, wie sie sich im Sefer Brantspigel niederschlägt, ist die Frau nach dem Tauchbad besonders gefährdet. Zwei kritische Momente drohen das Ziel, nämlich eine geglückte Schwangerschaft und die Geburt eines gottesfürchtigen Kindes, möglichst eines späteren Gelehrten, zu vereiteln.282 Zum einen könnten böse Geister sie direkt beim Heraussteigen aus dem Becken anhauchen und hierdurch wieder unrein machen. Schutz bieten die von Gott eigens geschickten Engel, vor denen man sich aber umgehend züchtig bedecken muss. Zum anderen könnte ihr auf der Straße etwa ein unreines Tier begegnen, woraufhin sie das Tauchbad wiederholen müsste. Als Vorbild für die Leserinnen wählt der Brantspigel an dieser Stelle eine Frau, die für ihre besondere Achtsamkeit nach dem Besuch der Mikwe belohnt wird; ihr Wunsch nach einem Kind wird von ‚Gott erhört‘, weshalb sie den Jungen, der später zu einem bedeutenden Rabbiner heranwächst, ‚Jischmael‘ nennt: un’ as si get ous dem waser do sol si sich begegenen mit der judin do mit ir niks unrains begegent. un’ das di judin nit unrain is von irer zeit [Periode] den si möcht si mekane sein [beneiden] un’ geb ir ain ain ho-ro [böses Auge]. di Gemoro [Gemara]283 brengt wi sich die muter von rabi Jischmoel hot ser gehüt wen si is ous der twilo [Tauchbad] gangen. ain mol is ir begegent ain hunt. auch ain mol ain chasir [Schwein] as oft hot si sich wider towel gewesen [untergetaucht] vil mol do haben di malochim [Engel] vür si gebeten un’ gesprochen her von aller welt wi lang sol sich di chassido [Fromme] noch mezaer [betrübt] sein. do schikt ha-kadosch boruch hu [der Heilige, gelobt sei Er] malochim [Engel] vom himel di begegenten ir un’ vürten si an haim zu irem man. do wurd si tragen [schwanger] un’ gewan [gebar] ain köstlichen sun un’ his Jischmoel drum das ha-kadosch boruch hu [der Heilige, gelobt sei Er] hot der hört ire gebet. un’ dernoch his man in rabi Jischmoel. […] un’ wen si haim get do sol si stil gen un’ schweigen bis an haim. un’ der haim sol si niks übrigs reden […] un’ sol sich nit losen merken as wen si zu twilo
279 Die Übersetzung des hebräischen Segensspruches entnehme ich Silbiger, Ehe, S. 20. 280 Vgl. hierzu auch Ganzfried, Kizzur schulchan aruch, Bd. 2, S. 933. 281 Vgl. ebd., sowie StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des Medizinal-Collegiums vom 16.2.1843[?], wo dreimaliges Untertauchen genannt wird. 282 Riedel (Hg.), Brantspigel, S. 257. 283 Die Gemara, wörtlich so viel wie ‚Vollendung‘, bezeichnet die Weiterentwicklung der mündlichen Lehre, die erstmals in der Mischna verschriftlicht wurde. Mischna und Gemara bilden zusammen den Talmud.
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Teil A: Zur Tradition des jüdischen Ritualbads
[Tauchbad] wer gangen un’ sol Gotes vorcht auf sich haben un’ gute gedanken das si sich hot towel gewesen [untergetaucht] le-schem schomaim [zur Ehre des Himmels] nit fon wol lust wegen. neuert [sondern] zu meren mit guten somen [Samen].284
In einer anderen Variante der Erzählung über Jischmaels Mutter, wie sie das ‚Frauenbüchlein‘ Sefer mizwot ha-naschim (Ausgabe Frankfurt 1767/68) berichtet,285 schickt Gott sogar den ranghöchsten Engel persönlich, damit er sie vor weiteren unerwünschten Begegnungen bewahrt und ihr einen Sohn verspricht. Anschließend erscheint der Engel noch einmal bei der Beschneidung des Jungen, wird sein Gevatter und später sein persönlicher Lehrer.286 Die besondere Aufgabe des jüdischen Volkes besteht in „Heiligkeit und Reinheit“, und für die Frauen gilt es diese, mit Blick auf die kommende Generation, ganz besonders bei der Empfängnis zu verwirklichen, wie das Sefer mizwot ha-naschim in der abschließenden Ermahnung, es Jischmaels Mutter gleich zu tun, betont.287 Gefährdet wird der durch das Tauchbad erreichte persönliche Status und das Schicksal des ungeborenen Kindes aber nicht nur durch das, was der Frau im Anschluss begegnet, sondern auch durch ihr eigenes Verhalten. Einerseits beeinflusste nach volkstümlichem Glauben der Charakter und die Gestalt des (ersten) Lebewesens, das die Frau auf dem Heimweg erblickte, direkt das später gezeugte Kind. Wäre dies beispielsweise ein Hund, dann könnte das Kind, so fürchtete man, einem Hund ähnlich sehen, während ein frommer Gelehrter einen ebenso frommen und gelehrten Sohn zur Folge hätte.288 Andererseits musste die Frau streng darauf achten, sich auf dem Nachhauseweg wie auch in ihrem Haus besonders züchtig zu verhalten, was dann ebenso für den sexuellen Akt (und beide Partner!) galt.289 Nur durch ein solches Betragen, beginnend mit dem sofortigen Bedecken des Körpers beim Herauskommen aus dem Wasser, ließ sich die nötige Reinheit bewahren, um gottesfürchtige und gelehrte Nachkommen zu zeugen. Die etwa im 13. Jahrhundert aufkommende Regelung, dass die Frau eine Begleiterin bei sich haben sollte, ist somit sicher auch vor diesem Hintergrund zu sehen. So heißt es im Sefer Maharil:
284 Riedel (Hg.), Brantspigel, S. 256f. Die Worterklärungen in eckigen Klammern wurden von mir zum leichteren Verständnis hinzugefügt. 285 Der Verfasser des Brantspigel war vermutlich mit dem Inhalt des Sefer mizwot ha-naschim (oder zumindest einem ähnlichen ‚Frauenbüchlein‘) vertraut, die Geschichte findet sich aber unter anderem auch in dem frühmittelalterlichen Werk Baraita de-nidda; vgl. zu ‚Frauenbüchlein‘ und Baraita de-nidda Kapitel 2.2. Zu Hintergrund und Stellung der Erzählung sowie der Bedeutung Rabbi Jischmaels in der rabbinischen Literatur siehe Koren, Forsaken, S. 37–39. 286 [Slonik], Sefer mizwot ha-naschim, § 33. 287 Ebd. 288 Vgl. Koren, Forsaken, S. 37f. 289 Vgl. Riedel (Hg.), Brantspigel, S. 257f.
Anlage und Nutzung von Mikwen vom Mittelalter bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Einer Frau begegnete ein Hund, nachdem sie das Tauchbad genommen hatte, und man fragte den Maharasch290 , ob sie ein zweites Mal untertauchen sollte, worauf er antwortete: Weil ihre Freundin bei ihr war, ist sie offenkundig vor dem Hund zuerst ihr begegnet.291
Die Frauen sollten in der Realität nicht, wie Jischmaels Mutter, endlosen Proben ihrer Frömmigkeit ausgesetzt sein, sondern möglichst unbehelligt nach Hause gelangen! Trotzdem das Wasser der Kellermikwen, wie wir aus den hier zitierten Quellen und besonders auch Beschreibungen des 19. Jahrhunderts erfahren, teilweise alles andere als ‚sauber‘ schien, war es verboten, nach dem rituellen Tauchbad nochmal ein gewöhnliches Bad zu nehmen. Die für die Frühe Neuzeit verbindliche Regelung stellt sich nach dem Schulchan Aruch folgendermaßen dar: מותרת ליכנס למרחץ כדי שתחמם עצמה ]מרדכי[; אבל לחזור,ולאחר הטבילה במי מקוה כשרים : וכן נהגו,[ יש אוסרים ]מרדכי בשם רשב״ט,ולרחוץ אחר כך
[Moses Isserles:] Und nach dem Tauchbad im koscheren Wasser einer Mikwe darf sie in ein Badehaus gehen, um sich zu wärmen [Mordechai]; aber danach nochmals zu baden, wird von manchen verboten [Mordechai im Namen von Raschbat292 ], und so ist es Brauch.293
Hintergrund des Verbots ist die schon in der Antike geäußerte Befürchtung, dass sich durch eine solche Praxis die Koordinaten des Systems allmählich verschieben könnten, so dass schließlich das reinigende Bad nach dem rituellen Untertauchen
290 R. Schalom ben Jizchak von Neustadt (ca. 1350–ca. 1413), auch bezeichnet als Maharasch von Wien (Neustadt), war ein Lehrer des Maharil (R. Jakob ben Moses Molin); siehe Horowitz, „Shalom ben Yizhak of Neustadt“, S. 390. 291 [Salman von St. Goar], Sefer Maharil, Hilchot nidda 3. 292 Über den Tosafisten Raschbat oder Samuel ben Natronai (etwa 1100–1110 bis vor 1175) gibt es nur wenige verlässliche Informationen. Sowohl sein Schwager als auch sein Schwiegervater waren bekannte Tosafisten, er selbst studierte in Regensburg und hielt sich unter anderem in Bonn, Mainz und Köln auf. Seine Lehrmeinungen waren hoch angesehen; siehe Ta-Shma, „Samuel ben Natronai“, S. 774. Zur Identifizierung des Raschbat als Samuel ben Natronai siehe Bacher/Lauterbach, „Samuel ben Natronai“, S. 26. 293 SchA, Jore de‘a 201,75. Abgesehen von den Doppelpunkten entstammt die Interpunktation des hebräischen Textes nicht der Vorlage, sondern wurde von mir zum Zweck der besseren Lesbarkeit ergänzt; die Quellenhinweise in eckigen Klammern entnehme ich den Anmerkungen der verwendeten Friedman-Edition. Zu den mittelalterlichen Lehrmeinungen siehe knapp Landau, Sefer ha-agur, Hilchot tewila 1400.
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Teil A: Zur Tradition des jüdischen Ritualbads
als das Eigentliche und Wesentliche betrachtet würde.294 Dass der Vorbehalt nicht unbegründet ist, vielmehr die Nähe des Rituals zu einem gewöhnlichen Bad als potentielle Gefährdung desselben immer gegeben ist, zeigen nicht zuletzt die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, die Inhalt des zweiten Teils dieser Studie sind. Ein Grund für das Phänomen ist sicher darin zu sehen, dass in der Praxis des Rituals weibliche und männliche Sphäre bzw. konkrete körperliche Erfahrung und religiöse Theorie nicht unbedingt zur Deckung kommen. Frauen verbinden möglicherweise, wie Cohen schreibt, ‚Unreinheit‘ generell in stärkerem Maß mit Schmutz und entsprechend ‚Reinheit‘ mit körperlicher Reinigung295 – mehr als die Männer, für die der Zustand einer nidda bloße Theorie bleibt. Ein weiterer Grund sind die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, und auch aus dieser Richtung blies der Mikwe seit dem Zeitalter jüdischer Aufklärung und Emanzipation ein heftiger Wind entgegen.
294 bShab 14a. 295 Shaye Cohen, „Purity, Piety, and Polemic“, S. 97; vgl. zu diesem Aspekt auch die Studie der israelischen Soziologin und Anthropologin Inbal Cicurel, die säkulare und traditionell lebende Jüdinnen nordafrikanischer Herkunft in Israel interviewte (Cicurel, „Rabbinate“, S. 182).
Teil B: Von der „Mördergrube“ zur modernen Mikwe: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
4.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
Besonders ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts tauchen sowohl in ärztlichen als auch behördlichen Berichten teilweise drastische Bezeichnungen für die vorgefundenen Mikwen auf, die unter anderem mit Ausdrücken wie „Spelunken“ oder „Mördergruben des Frauengeschlechts“1 belegt werden. Die Ausdrücke kommen natürlich nicht von ungefähr, sondern haben ihren Ursprung in der Konfrontation von Ärzten mit realen Mikwen, die sie häufig im Auftrag des Staates zu inspizieren hatten, zu diesem Zeitpunkt bereits mehr oder weniger voreingenommen oder beeinflusst durch entsprechende Berichte in medizinischen Fachkreisen; auch die mit der Angelegenheit betrauten Beamten konnten in ihren Darstellungen zu ähnlichen Beurteilungen kommen. Möglicherweise hat das Bild der Mikwe als Mördergrube dabei in der christlichen Umwelt schon eine gewisse Tradition, in jedem Fall begegnet der Begriff bereits in einem Bauamtsbericht der Stadt Frankfurt am Main aus dem Jahr 1771 über die nahe der Synagoge gelegene Mikwe von 1602; immerhin hatten sich hier tatsächlich innerhalb von nur dreißig Jahren (1741 und 1771) gleich zwei tödliche Unfälle ereignet.2 Andernorts kursierten wohl nicht selten Schauergeschichten über Mikwen, ohne dass ein realer Hintergrund auszumachen war, wie einem Urteil des Historikers und Lehrers Heinrich Ehrmann zur Friedberger Mikwe von 1927 entnommen werden kann. Wenngleich diese Mikwe aufgrund ihrer außerordentlichen Tiefe von fast 25 Metern als einzigartig gelten muss, und Ehrmann den Blick in den Badeschacht selbst als „grandios und schaurig zu gleicher Zeit“ erlebt, seien doch „alle Erzählungen, daß eine Braut beim Baden verunglückt sei, […] Legenden, die auch bei anderen Mikwaus [Mikwen] wiederkehren.“3 Als literarische Fortsetzung derartiger Legenden kann auch die moderne Erzählung Das Frauenbad von 1994 gelten, in der Valentin Senger gleich
1 Die beiden Begriffe im Speziellen entstammen behördlichen Berichten aus dem Jagstkreis, jedoch verwendeten auch Ärzte ähnlich ausdrucksstarke Bezeichnungen (siehe hierfür Kapitel 6.1.1): StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839; Bericht der K. Regierung für den Jagstkreis in Ellwangen vom 13.5.1842; Note der K. Regierung für den Jagstkreis in Ellwangen an das Medizinal-Collegium vom 13.5.1842; Bericht des Regierungsrats über die Mikwe in Ernsbach vom 15.8.1853; Bericht des K. Oberamts Oehringen vom 4.9.1853. 2 Siehe Bericht des Bauamts vom 17.9.1771, zitiert bei: Euler, „Judenbad“, S. 295; vgl. auch Lenarz, „Mikwen in Frankfurt“, S. 94–97. 3 Der Begriff „Mikwaus“ gibt die geläufige westjiddische Aussprache von ‚Mikwot‘ wieder; siehe Ehrmann, „Das Judenbad zu Friedberg“, unpag.
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
eine ganze Kette von verschiedensten Unglücksfällen seit dem Bau der Friedberger Mikwe im Jahr 1260 beschreibt und mit den historischen Fakten verquickt.4 Dass dann etwa fünfzig Jahre nach dem letzten Frankfurter Vorfall nicht eine einzelne, erwiesenermaßen gefährliche Mikwe im Fokus (und der Kritik) der staatlichen Behörden stand, sondern man eine jüdische Einrichtung gleich per se in mehreren deutschen Staaten auf den Prüfstand stellte, ist dabei zweifellos ein Novum. Nichtsdestotrotz erklärt sich dieser spontane staatliche Eingriff in eine bis dahin mehr oder weniger unbeachtete jüdische Domäne bis zu einem gewissen Grad aus gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen, deren Wurzeln ein ganzes Jahrhundert tiefer reichen: In die Zeit, in der die Bevölkerung eines absolutistischen Staates als Produktionsfaktor interessant wurde, fallen auch die ersten Formen eines staatlichen Gesundheitswesens, versinnbildlicht etwa in der 1727 von König Friedrich Wilhelm I. als Staatskrankenhaus ins Leben gerufenen Berliner Charité.5 Erklärtes Ziel der Einrichtung war, neben der Eindämmung epidemischer Gefahren im Speziellen, generell die Erhaltung der Gesundheit der arbeitenden Bevölkerung. Über den sich hierin manifestierenden ökonomischen Aspekt hinaus lieferten die Ideen der Aufklärung noch eine weitere Legitimation staatlicher Einmischung in die Gesundheitsfürsorge. Insofern als „Körper und Geist, Leib und Seele“6 als Einheit betrachtet wurden, war die körperliche Gesundheit zugleich auch eine Voraussetzung für moralische Integrität; bei Descartes ist Medizin gar das Mittel, um die Menschheit als solche zu veredeln.7 Auf diese Weise förderte der Staat mit Hilfe der Medizin nicht nur das Wohlergehen der einzelnen Untertanen, sondern zugleich das Gemeinwohl eines in physischer und moralischer Hinsicht gesunden und kräftigen Staatskörpers. In Ausnahmefällen konnte sich diese unter dem Begriff ‚Medizinische Polizei‘8 subsumierte staatliche Gesundheitspolitik auch bereits vor dem 19. Jahrhundert auf die jüdische Gemeinschaft ausweiten und Angelegenheiten betreffen, die seit jeher rein innerjüdisch geregelt wurden, wie im Falle der Kontroverse um die ‚frühe Beerdigung‘ bei den Juden.9 Nicht zuletzt unter dem Einfluss von Johann Peter Franks sechsbändigem Werk System einer vollständigen medicinischen Polizey, das zwischen 1779 und 182710 4 Siehe Senger, „Frauenbad“. Für die Einschätzung, wonach „auch mehrere Teile der Erzählung Sengers“ als Fortführung solcher Legenden ohne historische Grundlage anzusehen sind, vgl. Kingreen, Judenbad, S. 22 (vgl. zu Sengers Erzählung auch ebd., S. 12f, 41f). 5 Zu den Hintergründen wie auch zu anderen neu entstehenden Krankenhäusern vgl. Wolfgang Eckart, Geschichte der Medizin, S. 180–183. 6 Labisch, „Hygiene“, S. 268. 7 Ebd., S. 269. 8 Zur Entstehung von Medizinalbehörden und Medizinischer Polizei vgl. zusammenfassend Boschung, „Aufklärungsmedizin“, S. 120; ebenso Labisch, „Hygiene“, S. 269. 9 Vgl. hierzu weiter unten Kapitel 4.2.1. 10 Vgl. Boschung, „Aufklärungsmedizin“, S. 120.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
veröffentlicht wurde, entwickelte sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine viele Lebensbereiche einschließende öffentliche Gesundheitspflege. Ihrem Anspruch nach war die Medizinalpolizei dabei stets „Gestaltungskonzept, Mittel der Herstellung optimaler Lebensbedingungen für alle“, wie auch „moralisches Erziehungsinstrument“, so Gerd Göckenjahn in seiner einschlägigen Untersuchung der Beziehung zwischen Medizin und Staat seit dem Zeitalter der Aufklärung.11 In dem Maße aber, wie der staatliche Anspruch auf eine Reglementierung der Gesundheitsfürsorge umfassender wurde, und zudem auch jüdische Einwohner zu nützlichen Bürgern erzogen werden sollten, gerieten folglich auch jüdische Institutionen verstärkt in den Fokus staatlicher Gesundheitspolitik. Das Phänomen der Mikwe im Zeitalter der Emanzipation ist somit nicht isoliert zu betrachten. Wenn deren gesundheitsschädlicher Zustand von Behördenvertretern verurteilt, mitunter auch die Einrichtung an sich in Frage gestellt wird, so muss dies durchaus differenziert und im Gesamtgefüge der gesellschaftlichen Entwicklung gesehen werden. So konnten zeitgleich beispielsweise auch Schulgebäude in ähnlich drastischen Schilderungen wie Mikwen negativ bewertet werden, etwa die israelitische Schule im württembergischen Ernsbach (heute Stadt Forchtenberg), die in einem „ganz ungesunden“ und „dumpfen“ „Kerker“ untergebracht sei; aufgrund der möglichen Überschwemmung drohe Lebensgefahr.12 Dabei steht die Untersuchung von Gebäuden wiederum in Zusammenhang mit der kritischen Betrachtung sämtlicher menschlicher Lebensumstände, darunter auch der modernen Wohnverhältnisse, wie sie bereits Frank in seinem System einer vollständigen medicinischen Polizey vornimmt. Frank kommt dabei zu ähnlichen Urteilen auch für nichtjüdische Räume, etwa in dem Vergleich der lichtarmen Gassen zwischen hohen Mietshäusern mit einer „Gruft“, in der sich „Ausdünstungen“ sammeln und ein „stinkendes Luftbad“ verursachen.13 Im Folgenden soll nun danach gefragt werden, wie sich die Erneuerung der Mikwen unter staatlicher Aufsicht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konkret gestaltete und inwieweit (gesellschafts-) politische Tendenzen diesen Prozess mit bestimmten. Zu diesem Zweck werden zunächst die in einem eng umgrenzten Raum (dem württembergischen Jagstkreis) erfolgten Maßnahmen einer detaillierten Betrachtung unterzogen (Kapitel 4.1), um sodann in einem zweiten Schritt danach zu fragen, wie sich das Erwachen des staatlichen Interesses an den Mikwen, im Wesentlichen ab den 1820er Jahren, erklären lässt (Kapitel 4.2). Hierbei soll besonders auch die Rolle der Ärzte genauer untersucht werden, deren Motivation und Einfluss vielschichtig war. Sie agierten grundsätzlich in einem komplexen 11 Göckenjahn, Kurieren, S. 109. 12 Vgl. Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 126; die Zitate entstammen behördlichen Akten und wurden von mir leicht gekürzt dieser Darstellung entnommen. 13 Frank, System einer vollständigen medicinischen Polizey, Bd. 3, S. 898.
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
Spannungsfeld zwischen verschiedensten persönlichen (auch beruflichen) Interessen, ihrer moralischen Verpflichtung als Arzt, und häufig ihrer Funktion als Staatsbediensteter, der im Rahmen bestimmter gesundheitspolitischer Zielsetzungen zu handeln hatte. Sie konnten die Frage der jüdischen Ritualbäder allein aus der medizinischen Perspektive her angehen (wenigstens theoretisch), oder sie, auf welche Weise auch immer, als Teil eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses begreifen, nämlich der Debatte über die Emanzipation der jüdischen Bevölkerung. Der Schwerpunkt der Betrachtung wird allgemein auf dem süddeutschen Raum liegen, in erster Linie wiederum Württemberg, sodann (in geringerem Umfang) Baden und Bayern; andere Staaten im Gebiet des heutigen Deutschland werden in angemessenem Rahmen ebenfalls berücksichtigt, um auf diese Weise das für den Süden entworfene Bild in einen größeren Zusammenhang zu stellen.
4.1
Mikwen im württembergischen Jagstkreis: Der Prozess der Modernisierung bis 1846
Die frühesten umfassenden staatlichen Initiativen zu einer Aufsicht über die vorhandenen Mikwen stammen aus den frühen 20er Jahren des 19. Jahrhunderts und konzentrieren sich allesamt auf den süddeutschen Raum. Den Anfang machte das Königreich Württemberg mit einem Erlass des Ministeriums des Innern an alle Kreisregierungen vom 20. August 1821, ein Jahr später folgte das Großherzogtum Baden, mit etwas zeitlichem Abstand auch das Großherzogtum Hessen (1825) sowie das Königreich Bayern (1828). Wenngleich das Interesse an einer gesetzlichen Regelung somit erst für die 1820er Jahre ausgemacht werden kann, waren die Regierungen mancher Staaten bereits in den vorausgegangenen beiden Jahrzehnten mit dem Thema der jüdischen Ritualbäder konfrontiert worden. Dass dies durchaus auf Resonanz treffen konnte, zeigt das Beispiel des Großherzogs Ferdinand von Würzburg aus dem Jahr 1812, so dass auch frühe Reaktionen anderer Staaten nicht ganz auszuschließen sind. Allzu großen Einfluss auf die tatsächliche Situation der Ritualbäder dürfte jedoch auch dessen Entschließung vom 29. Januar 1812 zunächst nicht gehabt haben, da einerseits das Großherzogtum Würzburg nur bis 1814 bestand, andererseits auch keine konkreten Maßnahmen angeordnet wurden. Einstweilen sollten vielmehr die zuständigen Distriktsärzte die jüdischen Frauen zu bestimmten „Vorsichtsmaßregeln“ anhalten, die gleichermaßen von der ernsthaften Sorge um die Gesundheit der Betroffenen wie von der Unkenntnis der realen Voraussetzungen zeugen: So wird unter anderem nicht nur eine Badetemperatur von 26–28 Grad Réaumur (32,5–35 °C) empfohlen, was bei den vorhandenen Kellermikwen in der Regel unmöglich zu leisten war, sondern schwachen und kranken Frauen sogar das „heilsamere“ (jedoch halachisch nicht zulässige) häusliche Wannenbad nahege-
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
legt.14 Nichtsdestotrotz legte diese Empfehlung den Grundstein für die Erneuerung der jüdischen Tauchbäder im Gebiet des einstigen Großherzogtums Würzburg, worauf an anderer Stelle (Kapitel 4.2.2) noch einzugehen ist. Im Folgenden soll nun das Königreich Württemberg, und speziell der dortige Jagstkreis, als Beispiel für eine frühe umfassende staatliche Mikwenpolitik näher betrachtet werden. Wie ging man dort zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Frage der Modernisierung der Mikwen an? Wie wurden Mikwen in der unmittelbaren Anschauung vor Ort bewertet, und welche praktischen Konsequenzen zu deren Umgestaltung zog man daraus? 4.1.1
Bestandsaufnahme und erste staatliche Reglementierung seit 1821
Wesentlich zielgerichteter als der frühe Auftakt im Großherzogtum Würzburg war das Vorgehen in Württemberg ab 1821, wo man zuerst genaue Erkundigungen einholte, bevor sich die Regierung anschließend zu konkreten Schritten entschloss. Dies geschah in dem relativ kurzen Zeitraum von nur vier Monaten, beginnend im April desselben Jahres, als das Ministerium des Innern mit Datum vom 16. April 1821 folgendermaßen verfügte: Es ist angezeigt worden, daß in einigen Gegenden des Königreichs unter den Juden der unnatürliche Gebrauch bestehe, daß die Judenfrauen zu jeder Jahreszeit, selbst im strengsten Winter, nach der monatlichen Reinigung oder nach einem Wochenbett, im kalten Waßer sich baden. Man[?] findet sich daher veranlaßt, der K. Regierung des Jagst Kreises den Auftrag zu ertheilen, Erkundigung einzuziehen und in Bälde zu berichten, a.) ob in den Juden Gemeinden ihres Bezirks – und wo – diese für das Leben und die Gesundheit höchstschädliche Sitte bestehe, b.) auf welche Vorschrift sich dieselbe gründe, und c.) ob die Verwandlung derselben in den Gebrauch eines warmen Bades, wie solche schon längst bey einzelnen Juden Gemeinden geschehen ist, irgend einen erheblichen Anstand oder Widerspruch finde.15
Innerhalb des 1806 neu entstandenen Königreichs Württemberg war der Jagstkreis derjenige Verwaltungsbezirk mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil, sowohl prozentual als auch absolut. In Alt-Württemberg hatten sich bis zu Beginn
14 Verordnung „Den Gebrauch der kalten Tauchbäder bei den Judenweibern betr.“ vom 29. Januar 1812, in: Döllinger, Sammlung, S. 148f, hier S. 148. 15 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Ministerialerlass an die K. Kreisregierung in Ellwangen vom 16.4.1821.
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
des 19. Jahrhunderts aufgrund des nach wie vor bestehenden Ansiedlungsverbots lediglich 534 Jüdinnen und Juden aufgehalten, erst durch die Gebietserweiterungen infolge des Pressburger Friedens von 1805 bis zum Pariser Vertrag von 1810 kamen weitere ca. 7.000 hinzu.16 1832 zählte das Königreich bereits mehr als 10.000 jüdische Einwohner: Unter der Gesamteinwohnerzahl von 1.578.047 fanden sich 10.670 Juden, 1.081.283 Lutheraner, 484.376 Katholiken, 1.338 Reformierte und 380 Angehörige anderer christlicher Konfessionen.17 Mehr als 40 % der jüdischen Einwohner Württembergs lebten in der Zeit von etwa 1820 bis 1840 in den Dörfern und kleineren Städten des Jagstkreises, wobei sich die genauen Verhältnisse folgendermaßen darstellen: Bevölkerungszahl 182118 – 1840/4119
Einwohner insgesamt
davon jüdisch
jüdischer Bevölkerungsanteil
Württemberg
1821 1840/41
1.447.563 1.681.770
8.918 11.563
0,62 % 0,69 %
Neckarkreis
1821 1840/41
402.125 466.80620
2.012 2.507
0,50 % 0,54 %
Schwarzwaldkreis
1821 1840/41
376.212 452.515
1.466 1.857
0,39 % 0,41 %
16 Einwohnerzahlen nach: A. Tänzer, Juden in Württemberg, S. 10. 17 Memminger, Beschreibung von Württemberg, S. 331f. Die in der Auflistung der verschiedenen Religionsgemeinschaften angegebene Zahl von 0,670 Juden ist offensichtlich ein Druckfehler. Nimmt man die angegebene Gesamtsumme und subtrahiert hiervon die christlichen Bevölkerungsanteile, so ergibt sich für die jüdische Gemeinschaft die Zahl von 10.670. 18 Die Einwohnerzahlen für 1821 entstammen dem Königlich-Württembergischen Hof- und StaatsHandbuch (1824), S. 199, 259, 343, 445f. 19 Die Einwohnerzahlen der einzelnen Kreise entstammen Memmingers Beschreibung von Württemberg, S. 637, 688, 734, 779, die Gesamtzahlen für Württemberg sowie die Prozentangaben wurden von mir auf dieser Grundlage berechnet. Das Werk nennt keine Jahreszahl, auf die sich diese Angaben beziehen, vermutlich handelt es sich somit um relativ aktuelle Zahlen aus dem Erscheinungsjahr des Werkes 1841 oder kurz zuvor. In der Ausgabe der Israelitischen Annalen vom 28. Februar 1840 wird die Zahl der jüdischen Einwohner Württembergs mit „gegen 11,000 Seelen“ beziffert, was diese Annahme bestätigt; siehe o.V., „Aus dem Württembergischen“, 28.02.1840, S. 83. 20 Memminger (Beschreibung von Württemberg, S. 637) gibt die etwas abweichende Zahl von 466.252 an, was vermutlich ein Schreibfehler ist. Die stattdessen hier genannte Gesamtzahl für den Neckarkreis ist die Summe der bei Memminger genannten Einwohner nach Religionszugehörigkeit (434.252 Evangelische, 30.047 Katholiken, 2.507 Juden).
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
Bevölkerungszahl 182118 – 1840/4119
Einwohner insgesamt
davon jüdisch
jüdischer Bevölkerungsanteil
Donaukreis
1821 1840/41
340.258 387.192
1.643 2.342
0,48 % 0,60 %
Jagstkreis
1821 1840/41
328.968 375.257
3.797 4.857
1,15 % 1,29 %
Im Jagstkreis selbst konzentrierten sich die Ortschaften mit jüdischer Bevölkerung wiederum auf den nordöstlichen Teil und lagen somit in eben denjenigen Gebieten bzw. Oberämtern, die gänzlich neuwürttembergisches Territorium darstellten (vgl. die Karten Abb. 7 und 8; Abb. 7 enthält die genannten Gemeinden ab einer Größe von etwa 30–40 Mitgliedern).21 Die Oberämter im südlicheren Teil des Kreises (Schorndorf, Welzheim, Gaildorf, Gmünd, Aalen und Heidenheim), die zum Teil auch altwürttembergisches Gebiet waren, verfügten hingegen über keine Orte mit jüdischer Einwohnerschaft, und wurden in der von der Regierung des Jagstkreises eingeleiteten Untersuchung entsprechend nicht berücksichtigt.22 Insgesamt wurden im Jagstkreis auf diese Weise über die Verhältnisse in knapp 40 ländlich geprägten Gemeinden Erkundigungen eingezogen, somit etwa die Hälfte aller württembergischen Orte mit jüdischen Einwohnern.23
21 Eine Übersicht über die jüdischen Landgemeinden im gesamten Königreich Württemberg sowie Großherzogtum Baden nach 1810 bietet ein anderer Ausschnitt derselben Karte in Kaufmann, Juden in Baden, S. 54f. Einen guten Eindruck der geografischen Verteilung alt- und neuwürttembergischer Orte mit jüdischer Bevölkerung vermittelt die Karte „Orte mit jüdischen Gemeinden bzw. Synagogen um 1790“ im Einband der beiden Bände von Hahn/Krüger, Synagogen. 22 Die zu berücksichtigenden Oberämter sowie die Ausnahmen werden in der Textvorlage für die Adressierung des Ministerialerlasses an die einzelnen Oberämter genannt. Es heißt hier, dass dieser „an die sämtlich[en] OÄmter mit Ausnahme“ (doppelte Unterstreichung im Original) zu richten ist; StA Ludwigsburg E 175 Bü 4403: Adressierung des Ministerialerlasses an die Oberämter des Jagstkreises vom 28.4.1821. 23 Die Gesamtzahl bewegte sich zwischen 79 (1818) und 84 (1832). Eine amtliche Erhebung von 1818 zählte 79 Orte mit jüdischen Einwohnern (siehe A. Tänzer, Juden in Württemberg, S. 24). Für 1828 nennt Tänzer die auf amtlichen Erhebungen basierende Zahl von 80 Orten, darunter auch 11 Orte mit nur einzelnen Juden (ebd., S. 60). Die von Utz Jeggle genannte Zahl von nur 69 Ortschaften mit jüdischer Einwohnerschaft für 1828 ist ohne Beleg; sie beruht vermutlich auf Tänzers Angaben, die nicht korrekt wiedergegeben werden; siehe Jeggle, Judendörfer, S. 128. Gemäß der Auflistung in der „Verfügung des Ministeriums des Innern, die kirchliche Eintheilung der Israeliten des Königreichs betreffend“ vom 3. August 1832 waren Juden in Württemberg an insgesamt 84 Orten ansässig; siehe Abdruck der Verfügung bei F.F. Mayer, Sammlung, S. 78–80.
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
Abb. 7 Jüdische Gemeinden im nördlichen Baden und Württemberg um 1810/40
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
Abb. 8 Jüdische Gemeinden im württembergischen Jagstkreis 1821
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
Folgende acht Oberämter waren angehalten, bis Ende Mai an die Regierung des Jagstkreises Bericht zu erstatten (vgl. Abb. 8): Oberamt Crailsheim Ellwangen Gerabronn
Ortschaften mit jüdischer Bevölkerung24 Crailsheim mit Ingersheim25 , Deufstetten26 , Goldbach27 Lauchheim, [Regelsweiler]28 Dünsbach29 , Gerabronn, Hengstfeld30 , Michelbach an der Lücke31 , Niederstetten, Wiesenbach32
24 Bei den hier für das jeweilige Oberamt aufgeführten Ortschaften ohne Klammer handelt es sich um diejenigen, über die seit 1821 von behördlicher Seite Erkundigungen eingezogen wurden. Diese sind im Wesentlichen identisch mit den Orten, die auch 1832 im Zuge der Einteilung jüdischer Wohnorte in Rabbinatsbezirke erfasst wurden (siehe die vorausgehende Anmerkung). Nur in wenigen Fällen (Regelsweiler, Altkrautheim, Bieringen, Craintal) gibt es Abweichungen, wobei Regelsweiler, Altkrautheim und Craintal wahrscheinlich deswegen nicht in den Berichten von 1821/22 auftauchen, weil dort keine Mikwen vorhanden waren (siehe auch die Anmerkungen zu dem jeweiligen Ort). 25 Heute Stadt Crailsheim. 26 Heute Gemeinde Fichtenau; alternativ auch bezeichnet als Unterdeufstetten, vgl. F.F. Mayer, Sammlung, S. 79. 27 Heute Stadt Crailsheim. 28 Heute Gemeinde Stödtlen. Die in Regelsweiler ansässigen Juden, um 1760 nur wenige Familien, gehörten zunächst der Gemeinde im sehr nahegelegenen fränkischen Mönchsroth an. Als in Mönchsroth eine neue Synagoge gebaut wurde (1761 eingeweiht), wurde in deren Keller auch eine Mikwe mit angelegt; darüber hinaus existierten dort noch zwei ältere Mikwen in Privathäusern. In dem Bericht des Oberamts Ellwangen vom 17. Mai 1821 wird die kleine Ortschaft nicht erwähnt; es ist deshalb davon auszugehen, dass aufgrund der geringen Personenzahl (1821 lediglich sechs laut Königlich-Württembergischem Hof- und Staats-Handbuch) auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts kein Ritualbad vorhanden war, und die Frauen stattdessen eine der Mikwen in Mönchsroth besuchten. Siehe Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 422–425 (zur Geschichte der Gemeinde Mönchsroth und ihrer Einrichtungen); StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Ellwangen vom 17.5.1821; Königlich-Württembergischs Hof- und Staats-Handbuch (1824), S. 278. 29 Heute Gemeinde Gerabronn. 30 Heute Gemeinde Wallhausen. 31 Heute Gemeinde Wallhausen. 32 Heute Gemeinde Blaufelden.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
Oberamt Hall Künzelsau
Ortschaften mit jüdischer Bevölkerung Unterlimpurg33 (Hall), Steinbach34 Ailringen35 , [Altkrautheim]36 , Berlichingen37 , [Bieringen]38 , Braunsbach, Dörzbach, Hohebach39 , Hollenbach40 , Laibach41 , Mulfingen, Nagelsberg42
33 Heute Stadt Schwäbisch Hall. Die in unmittelbarer Nähe der ehemaligen Reichsstadt Hall (heute Schwäbisch-Hall) gelegene Ortschaft Unterlimpurg erhielt 1541, als sie an Hall kam, Vorstadtrecht; sie unterstand in der Folgezeit jedoch nicht den Stadtbehörden, sondern dem Amt Schlicht. Auf diese Weise konnte sich hier, anders als im eigentlichen Stadtgebiet, wo Juden bis zum Ende der Reichsstadt 1802 nicht zugelassen waren, bereits im 18. Jahrhundert eine kleine Gemeinde etablieren, die seit 1738/39 über einen kunstvoll ausgemalten Betsaal verfügte. Die Zahl der ab 1802 in Hall selbst ansässigen Juden ist schwer feststellbar, da in statistischen Angaben des 19. Jahrhunderts nicht zwischen Hall und Unterlimpurg unterschieden wird; es scheint sich im Wesentlichen um einige wenige Personen zu handeln, die aus Unterlimpurg übergesiedelt waren. Noch 1821 zählte die gesamte Gemeinde nicht mehr als 24 Personen, 1845 waren es 40 (die im Königlich-Württembergischen Hofund Staats-Handbuch genannten Bevölkerungszahlen beziehen sich auf eine Erhebung von 1821; Sauer nennt die Zahl 24 ohne Quellenangabe für 1824). Über eine eigene Mikwe verfügten die wenigen 1821 in Hall lebenden Juden offensichtlich nicht, da nach dem Oberamtsbericht vom 25. Mai 1821 das „Baden“ der „Judenweiber“ in Unterlimpurg und Steinbach stattfand, während Hall nicht eigens erwähnt wird. Nichtsdestotrotz wird in einem weiteren Bericht des gleichen Jahres (datiert 10. Dezember 1821) offensichtlich schon Hall als die ‚Hauptgemeinde‘ betrachtet, wenn dort nicht mehr von den Mikwen in Unterlimpurg und Steinbach, sondern in Hall und Steinbach die Rede ist. In der „Verfügung des Ministeriums des Innern, die kirchliche Eintheilung der Israeliten des Königreichs betreffend“ von 1832 werden schließlich nur noch Hall und Steinbach als Orte mit jüdischer Einwohnerschaft genannt. Siehe Moser, Beschreibung des Oberamts Hall, S. 119, 127f; Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 429; Königlich-Württembergisches Hof- und Staats-Handbuch (1824), S. 302, 343 u.ö.; Sauer, Gemeinden in Württemberg, S. 162; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Hall vom 25.5.1821; Bericht des K. Oberamts Hall vom 10.12.1821; F.F. Mayer, Sammlung, S. 79. 34 Heute Stadt Schwäbisch Hall. 35 Heute Gemeinde Mulfingen. 36 Heute Stadt Krautheim. Die eingesehenen Berichte des Oberamts Künzelsau aus dem Jahr 1821 nennen die Gemeinden nicht, auf die sich ihre Untersuchungen beziehen, lediglich in einem oberamtlichen Bericht vom 1. Juni 1822 sind die einzelnen Ortschaften angegeben. Altkrautheim wird jedoch auch hier nicht erwähnt, sondern erst in einem Oberamtsbericht vom 23. Februar 1839, wo es heißt, dass hier keine Mikwe vorhanden ist. Man kann somit mit einiger Sicherheit annehmen, dass hier noch nie eine Mikwe bestand, zumal die jüdische Einwohnerzahl offensichtlich sehr gering war; 1821 lebten hier gemäß dem Königlich Württembergischen Hof- und Staats-Handbuch von 1824 nur neun jüdische Einwohner. In der Ausgabe dieses Handbuchs von 1815 heißt es zu Altkrautheim, dass die Juden „sich zu der Schule in dem nahegelegenen Großherzl. Badenschen Orte Krautheim“ halten. In Krautheim bestand Anfang des 19. Jahrhunderts eine relativ große Gemeinde (1791: 63 Personen, 1825: 57 Personen, 1841: 87 Personen), deren Wurzeln bis ins Mittelalter zurückreichen, so dass dort vermutlich auch vor der 1860 neu gebauten Mikwe schon ein rituelles Bad vorhanden war. Dieses wurde dann aller Wahrscheinlichkeit nach – aufgrund der räumlichen Nähe und des Besuchs der dortigen Synagoge – bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts auch von den wenigen Altkrautheimer Jüdinnen und Juden genutzt. Laut der Darstellung von Dr. Fichtbauer in der Anlage zu dem genannten Oberamtsbericht wohnte 1839 in Altkrautheim lediglich noch
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
Oberamt Mergentheim
Neresheim Öhringen
37 38
39 40 41 42 43 44
Ortschaften mit jüdischer Bevölkerung Archshofen43 , [Craintal]44 , Creglingen, Edelfingen45 , Igersheim, Laudenbach46 , Markelsheim47 , Mergentheim, Neunkirchen48 , Wachbach49 , Waldmannshofen50 , Weikersheim Aufhausen51 , Oberdorf52 , Pflaumloch53 Ernsbach54
ein einziger „alter Jude mit seiner alten Frau, welche kein Reinigungs Bad mehr nöthig hat, im biblischen Sinne genommen.“ Denkbar ist allerdings auch, dass 1822 noch eine Mikwe bestand, diese jedoch aus unbekanntem Grund – wie im Fall von Bieringen, siehe die dortige Anmerkung – nicht in den Bericht aufgenommen wurde, und dann noch vor 1839 auf Veranlassung der Behörden geschlossen wurde. Siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 1.6.1822; E 175 Bü 4405: Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 23.2.1839; E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Fichtbauer vom 8.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 23.2.1839); Königlich-Württembergisches Hof- und Staatshandbuch (1824), S. 311; Königlich Württembergisches Hof- und Staats-Handbuch (1815), S. 359; zu Einwohnerzahlen und Geschichte der Gemeinde Krautheim siehe Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 264f. Heute Gemeinde Schöntal. Heute Gemeinde Schöntal; Bieringen wird wie Altkrautheim im Oberamtsbericht von 1822 nicht genannt, sondern erst 1839 (siehe oben Anmerkung zu Altkrautheim). 1839 verfügte Bieringen, anders als Altkrautheim, jedoch über eine Mikwe, deren Zustand als insgesamt sehr schlecht beurteilt wurde. Dabei deuten einige Aspekte der Beschreibung darauf hin, dass es sich nicht um eine erst neu (nach 1822) entstandene Mikwe handelt: (1) die Anlage in einem Privathaus, (2) das sehr große (damit schlecht wärmbare) und durch Seitenwölbungen unregelmäßige Becken, (3) „eine alte verfaulte hölzerne Einfaßung, die ehemals einer Thüre zur Aufnahme diente, seit vielen Jahren aber ohne solche seyn soll“, (4) sowie insbesondere das Fehlen eines Kessels für die Erwärmung des Wassers. Vor diesem Hintergrund ist unklar, warum Bieringen in dem Bericht von 1822 nicht erwähnt wird. Wenngleich das Königlich-Württembergische Hof- und Staats-Handbuch für das Jahr 1821 lediglich vier jüdische Einwohner verzeichnet, waren Juden in Bieringen bereits seit über 200 Jahren ansässig; 1839 waren es immerhin wieder 45 Personen und die Gemeinde somit in etwa so groß wie die in Hollenbach oder Laibach. Siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Wanner über die Mikwen in Berlichingen und Bieringen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 10.2.1839); E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Fichtbauer vom 8.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 23.2.1839); Königlich-Württembergisches Hofund Staats-Handbuch (1824), S. 312; Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 419f. Heute Gemeinde Dörzbach. Heute Gemeinde Mulfingen. Heute Gemeinde Dörzbach. Heute Stadt Künzelsau. Heute Stadt Creglingen. Heute Stadt Creglingen. Der ehemals Archshofen zugehörige Ort Craintal erscheint in keinem der oberamtlichen Berichte. Es ist deshalb davon auszugehen, dass keine Mikwe vorhanden war, zumal die Gemeinde nur wenige Mitglieder umfasste: 1833 lebten hier 13 jüdische Einwohner, das Königlich-Württembergische Hof- und Staats-Handbuch von 1824 nennt keine Einwohnerzahl für Craintal, sondern nur die Gesamtzahl der in Craintal und Archshofen lebenden Juden, die mit 98 beziffert wird; siehe o.V., „Archshofen mit Craintal und Waldmannshofen“, unpag.; KöniglichWürttembergisches Hof- und Staats-Handbuch (1824), S. 318.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
Da jedoch offensichtlich nicht alle von den Oberämtern angeforderten Berichte fristgemäß eingereicht wurden, konnte auch die Auswertung der Kreisregierung erst am 24. Juli 1821 fertiggestellt und an das Königliche Ministerium des Innern in Stuttgart weitergeleitet werden. Nach einer ausführlichen Erörterung des religionsgesetzlichen Hintergrunds jüdischer Tauchbäder heißt es hier zur Situation in den Gemeinden des Jagstkreises: In den sämtlichen Orten des Jagst Kreises, wo sich Juden-Gemeinden befinden […], besteht daher noch die Sitte, daß der größte Theil der Judenfrauen |: denn der vermöglichen giebt es in diesen Gemeinden nur wenige :| auch zur Winterszeit im kalten Waßer baden. Nur zwey Gemeinden machen hievon eine Ausnahme. Es sind die Juden Gemeinden Pflaumloch […] und Lauchheim […], woselbst Einrichtungen für warme Bäder vorhanden sind.55
Davon, dass sich die Kellergewölbe prinzipiell zur Einrichtung „warmer Bäder“ eignen, zeugen laut dem Bericht die genannten Beispiele der Mikwen in Pflaumloch und Lauchheim; auch sei die Erwärmung des Wassers ohne eine Verletzung der „Ceremonialgesetze“ möglich, so dass man abschließend eine Verordnung empfiehlt, wonach […] in allen wohlhabenderen Juden-Gemeinden die bestehenden Bade-Gewölbe zur Zubereitung warmer Bäder eingerichtet werden müßen, und daß zur Winterszeit alle Weiber der Israeliten nur gewärmter Bäder sich bedienen, und da, wo keine Einrichtung zu warmen Bädern getroffen werden kann, sie gehalten seyn sollen, durch Hinzugießen siedend gemachten Waßers das zum Bade gebraucht werdende Quell-Waßer zu erwärmen[.]56
45 46 47 48 49 50 51 52
53 54 55 56
Heute Stadt Bad Mergentheim. Heute Stadt Weikersheim. Heute Stadt Bad Mergentheim. Heute Stadt Bad Mergentheim. Heute Stadt Bad Mergentheim. Heute Stadt Creglingen. Heute Stadt Bopfingen. Heute Stadt Bopfingen. Teilweise wird der Ort auch als Oberndorf bezeichnet, so beispielsweise in der Verfügung von 1832 zur Neueinteilung der jüdischen Gemeinden; siehe „Verfügung des Ministeriums des Innern, die kirchliche Eintheilung der Israeliten des Königreichs betreffend, vom 3. August 1832“, in: F.F. Mayer, Sammlung, S. 78–80, hier S. 80. Heute Gemeinde Riesbürg. Heute Stadt Forchtenberg. StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht der K. Regierung des Jagstkreises in Ellwangen vom 24.7.1821. Ebd.
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
Der Erlass des Innenministeriums vom 20. August 1821
Was die Kreisregierung hierbei im Auge hatte, war allem Anschein nach eine sehr moderate Reform der bestehenden Anlagen. Während alle „wohlhabenderen“ Gemeinden ihre Mikwe so einrichten sollten, dass das Wasser vor Ort erwärmt werden konnte, sah man da, wo das nicht möglich war, nur eine Notlösung vor: Gemeinden ohne ausreichende Mittel sollten lediglich die schon mancherorts übliche Methode des Zugießens von heißem Wasser auf alle Gemeindemitglieder, auch die ärmeren, ausweiten. Da die Kellergewölbe von den wenigen genannten Ausnahmen abgesehen keine Feuerstelle aufwiesen und häufig nur mit enormem Kostenaufwand entsprechend hergerichtet werden konnten,57 bedeutete dies in der Praxis, dass das heiße Wasser aus der nächstgelegenen Küche mehr oder weniger weit herbei transportiert werden musste, im Extremfall sogar von den umliegenden Häusern, wie es beispielsweise von Creglingen berichtet wird.58 Das erklärte Ziel sämtlicher Maßnahmen war es, auf die eine oder andere Weise zu gewährleisten, dass alle Frauen ein warmes „Bad“ erhielten. Der daraufhin am 20. August 1821 ergangene „Erlaß des Ministeriums des Innern an die Kreis-Regierungen, den Gebrauch erwärmten Wassers für die den jüdischen Frauen obliegenden Bäder betreffend“, verpflichtete sich diesem Grundsatz, ging allerdings nicht auf die von der Regierung des Jagstkreises vorgenommene Differenzierung ein, sondern war allgemeiner formuliert: […] so wird die Kreis-Regierung hiedurch beauftragt, die geeigneten Einleitungen zu treffen, damit an allen Orten, wo Juden ansäßig sind, Einrichtungen, wenn sie noch nicht bestehen, zur Erwärmung des Bad-Wassers gemacht werden, deren sich auch die armen jüdischen Frauen zu bedienen haben, und daß dadurch das schädliche Baden im kalten Wasser zur rauhen Jahrszeit gänzlich abgestellt werde. Die Kreis-Regierung hat hiebei die Mitwirkung der Rabbinen und der Vorsteher der Juden-Gemeinden besonders in Anspruch zu nehmen, und nöthigenfalls dafür Sorge
57 Neben Pflaumloch und Lauchheim verfügte auch Weikersheim noch über eine wärmbare Mikwe; siehe hierzu Kapitel 5.1.1. 58 Im amtsärztlichen Bericht zur Mikwe in Creglingen vom 5. Februar 1839 heißt es, dass der vorhandene Kessel zu klein ist, um das Wasser ausreichend zu erwärmen, so dass sich die wohlhabenderen Frauen zusätzlich „heißes Wasser von ihrer Behausung aus zutragen“ lassen. Da laut Oberamtsbericht von 1821 auch damals, vor der behördlich angeordneten Einrichtung zur Erwärmung, im Winter schon heißes Wasser beigemischt wurde, kann man mit einiger Sicherheit annehmen, dass dies teilweise ebenfalls aus umliegenden Häusern herbeigetragen wurde. Auch über die Mikwe im hessischen Hattersheim wird noch 1837 berichtet, dass das gewärmte Wasser mit Eimern herbei getragen wurde; siehe StA Ludwigsburg E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 24.5.1821; E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Pflüger junior über die Mikwen in Creglingen und Archshofen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839); Zink, „Mikwot im Main-Taunus-Kreis“, unpag.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
zu tragen, daß die ganz armen Juden-Gemeinden von ihren Glaubens-Genossen hierin unterstüzt werden. […] Uebrigens wird die Kreis-Regierung von selbst Bedacht darauf nehmen, sich des Erfolgs ihrer Einleitungen zu vergewissern.59 Umsetzung der Vorgaben – die Politik der Kreisregierung
Obwohl der Wortlaut hier sehr wahrscheinlich an „allen Orten“ mit jüdischer Einwohnerschaft spezielle, d. h. feste Einrichtungen zur Erwärmung fordert,60 verfolgte die Kreisregierung auch bei der Umsetzung des Erlasses eine der tatsächlichen Situation, nämlich der Mittellosigkeit vieler Gemeinden, mehr angemessene Politik der kleinen Schritte. Die Tatsache, dass auch die Aufsicht über die Umsetzung der angeordneten Maßnahmen Sache der Kreisregierung war, gab ihr den hierfür nötigen Entscheidungsspielraum, und so heißt es in dem Schreiben an die einzelnen Oberämter, denen der Inhalt des Erlasses mitgeteilt wurde, im Anschluss daran eher vermittelnd: Die Art der deshalb zu treffenden Einrichtung hängt jedoch ganz von der lokalen Beschaffenheit der in den einzelnen Orten schon bestehenden jüdischen Bäder und von den Vermögens Umständen der Mitglieder der einzelnen Juden Gemeinden ab. Es sind daher für jede Juden-Gemeinde des O. Amtes die hiefür geeigneten Anordnungen speziell zu treffen […].61
59 „Erlaß des Ministeriums des Innern an die Kreis-Regierungen, den Gebrauch erwärmten Wassers für die den jüdischen Frauen obliegenden Bäder betreffend, vom 20. August 1821“, in: F.F. Mayer, Sammlung, S. 25f. 60 In dem eingegangenen Bericht der Kreisregierung vom 24. Juli bezeichnet das Wort „Einrichtung“ zweifelsfrei eine feste, technisch fortgeschrittene Vorrichtung zur Erwärmung des Wassers im Unterschied zur einfachen Praxis des Zugießens von heißem Wasser („da, wo keine Einrichtung zu warmen Bädern getroffen werden kann, sie gehalten seyn sollen, durch Hinzugießen siedend gemachten Waßers das zum Bade gebraucht werdende Quell-Waßer zu erwärmen“). Die Maßgabe des Innenministeriums, wonach „an allen Orten, wo Juden ansäßig sind, Einrichtungen, wenn sie noch nicht bestehen, zur Erwärmung des Bad-Wassers gemacht werden“ sollen, ist in dieser Hinsicht leider weniger eindeutig formuliert; da sie aber auf der Empfehlung der Kreisregierung basiert, kann man mit einiger Berechtigung annehmen, dass man diesen zentralen Begriff einheitlich verwendete. Auch die Tatsache, dass der Erlass die Unterstützung armer Gemeinden durch ihre Glaubensgenossen einfordert, darf als Indiz dafür gelten, dass man unter „Einrichtungen“ tatsächlich kostspielige Baumaßnahmen verstand. Das Innenministerium scheint hier – bewusst oder unbewusst – relativ pauschal eine Regelung zu verordnen, die nicht genauer auf die geschilderte Situation vor Ort eingeht; genaugenommen müsste man die Formulierung „an allen Orten, wo Juden ansäßig sind“ sogar so verstehen, dass selbst an denjenigen Orten mit sehr wenigen jüdischen Einwohnern, die bisher überhaupt keine Mikwe hatten, ein wärmbares Bad einzurichten ist. 61 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Schreiben der K. Kreisregierung in Ellwangen an die einzelnen Oberämter vom 6.9.1821.
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
Lediglich für das Oberamt Hall findet sich der Zusatz, dass in Steinbach und Unterlimpurg die „Errichtung einer gemeinschaftl. warmen Tunke“ nach Kräften zu unterstützen sei, da dies ein von den Gemeinden schon länger gehegter Wunsch sei, und dem Vernehmen nach auch ausreichende finanzielle Mittel vorhanden waren.62 Die Kreisregierung sah ihre Aufgabe offensichtlich darin, das in den einzelnen Gemeinden Mögliche zu realisieren, ohne dabei einen übermäßigen Druck auszuüben. Zu diesem Zweck wurden nun im Folgenden, wie im Erlass des Innenministeriums angeordnet, die Rabbiner und Vorsteher der Gemeinden einberufen. Beispielhaft für die im Jagstkreis vorgefundene Situation soll hier der Bericht des Oberamts Künzelsau vom 9. November 1821 stehen, der bis zu einem gewissen Grad auch die Lage im gesamten Kreis widerspiegelt: Die einbestellten Gemeindevertreter erkannten „allerseits die Vorsorge der Königlichen Regierung mit geziemendem Danke, und bezeigten sich willig und bereit, die ihnen […] gemachten Vorschläge in Ausführung zu bringen.“ Allerdings seien sämtliche vorhandenen Bäder Kellermikwen; Einrichtungen zur Erwärmung könnten deshalb nur dann getroffen werden, wenn die Keller gewölbt waren und nicht noch für andere Zwecke genutzt wurden, was allerdings sehr oft der Fall war. Aus diesem Grund müssten entweder neue Badehäuser gebaut werden, oder in geeigneten Häusern (mit Quelle oder Bachanschluss) feuerfeste Gewölbe eingerichtet werden. Einstweilen sehe man deshalb vor, dass einfach „das Waßer in den über den Bädern befindlichen Küchen erwärmt und durch Röhren in die Bäder geleitet“ werde; auch sollten Arme unterstützt werden, indem „das Holz auf Kosten der Judengemeinde, welche solche nach ihrer Steueranlage mit ihren übrigen GemeindeBedürfnißen umlegt, angeschafft wird.“63 Der zuständige Oberamtmann werde für die Umsetzung der gemachten Vorschläge Sorge tragen. Tatsächlich geschah in den etwa zehn jüdischen Gemeinden des Oberamts Künzelsau in der Folgezeit bis etwa 1830 auch nur in wenigen Fällen etwas Konkretes: Lediglich in Berlichingen, Braunsbach und vermutlich Mulfingen wurden um 1822 Renovierungsarbeiten bzw. Neubauten in Angriff genommen, während fünf Gemeinden einen Erlass erwirken konnten, der sie vorläufig von entsprechenden Baumaßnahmen befreite; für Details zu den einzelnen Ortschaften siehe hier und im Folgenden auch Tabelle 2 zur Situation im Jagstkreis ab 1821 (Anhang I). Im Falle dieser fünf Orte war die Kreisregierung bereit, die Aussetzung des Befehls gegenwärtig „zwar geschehen [zu] laßen“, jedoch sollte dort die oben genannte Notlösung gelten, wonach die Bäder „während der rauhen Jahreszeit gehörig erwärmt“ wurden und die Armen dabei die „erforderl. Unterstützung“ erhielten; die
62 Ebd. 63 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 9.11.1821.
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Judenvorsteher waren „dafür verantwortlich zu machen, daß diese Vorschriften genau beobachtet werden.“64 Trotz der in allen Oberämtern des Jagstkreises vom Prinzip her ähnlich schwierigen Ausgangslage zeigen sich in der Praxis Unterschiede bei der Umsetzung des Erlasses. In fast allen Oberämtern mit nur einzelnen Gemeinden (Neresheim, Öhringen, vermutlich Hall), aber auch Mergentheim mit elf Gemeinden, kam man den staatlichen Vorgaben ganz überwiegend schon in den frühen 1820er Jahren N bezeichnet), flächendeckend nach, sei es durch einen Neubau (in Tabelle 2 als oder durch eine nachträgliche Einrichtung zur Erwärmung des Wassers (in der E ). Im Oberamt Ellwangen mit der einzigen Gemeinde Lauchheim exisTabelle tierte bereits eine wärmbare Mikwe. Sämtliche Orte in den Oberämtern Crailsheim und Gerabronn, insgesamt weitere zehn, erzielten hingegen einen Erlass der Vorschrift, wie schon im Fall der ärmeren Gemeinden des Oberamts Künzelsau (in der Tabelle ). Das große Schlusslicht bildete hierbei das Oberamt Gerabronn, wo sämtliche sechs Gemeinden einen Aufschub erwirken konnten, bevor schließlich Niederstetten als einzige die in der Synagoge geplante Mikwe vermutlich um 1824 realisierte.65 Angesichts der insgesamt nicht sehr vielversprechenden Ausgangslage in den Gemeinden (Armut bzw. wenige Frauen) hatte der zuständige Oberamtmann dort am 27. Oktober 1821 bei der Regierung angefragt, „ob der hohe Befehl mit Strenge vollzogen oder ob den größtentheils ganz armen Juden Gemeinden bei dem herschenden Geld-Mangel einige Frist gegeben werden soll?“66 Die Kreisregierung, die im Allgemeinen mit den Oberämtern an einem Strang zog, gab diesem Gesuch unter der üblichen Auflage (Erwärmung der Bäder im Winter, Unterstützung der ärmeren Gemeindemitglieder) statt.67 Anders im Falle des Oberamts Crailsheim: Während der zuständige Oberamtmann den Vorschlag der Gemeindevorsteher von Crailsheim mit Ingersheim, Goldbach und Deufstetten, im Winter Holz für Arme auf Gemeindekosten bereit zu
64 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Schreiben der K. Kreisregierung in Ellwangen an das Oberamt Künzelsau vom 11.6.1822. 65 Niederstetten wollte ursprünglich 1822 die vorhandene Mikwe zur Erwärmung einrichten, bat dann aber in diesem Jahr um Aufschub, um stattdessen einen Neubau in der seit 1820 geplanten Synagoge zu errichten. Letztere wurde 1824 fertiggestellt; über das genaue Entstehungsjahr der Mikwe, die im Hof der neuen Synagoge verwirklicht wurde, ist nichts bekannt. Siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 27.10.1821; Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 2.8.1821; Schreiben der K. Kreisregierung in Ellwangen an das Oberamt Gerabronn vom 10.8.1822; zur Geschichte der Synagoge und der Gemeinde allgemein vgl. Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 351f. 66 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 27.10.1821. 67 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Schreiben der K. Kreisregierung in Ellwangen an das Oberamt Gerabronn vom 24.11.1821; Schreiben der K. Kreisregierung in Ellwangen an das Oberamt Gerabronn vom 10.8.1822.
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stellen, als ausreichend beurteilte,68 zeigte sich die übergeordnete Kreisregierung hier zunächst nicht nachsichtig; dies sei der Situation einer Gemeinde wie der Crailsheimer durchaus nicht angemessen: Es erscheint aber ein solche Masregel immer sehr mangelhaft und läßt sich nicht wohl einsehen, daß nicht wenigstens in der Stadt Crailsheim für die dortige und die Ingersheimer Juden-Gemeinde diese Errichtung eines warmen Bades sollte bewerkstelliget werden können, da sich hiezu etwa das Lokale der schon vorhandenen Juden-Tunke dürfte benützen laßen, u. die Judenschaft beyder Orte auf ungefähr 150. Seelen sich beläuft, die durch Unterstützung der darunter befindlichen wohlhabenden Mitglieder eine für die Judenfrauen so wohlthätige Masregel wohl sollte in’s Werk setzen können. Es hat daher das Ober-Amt näher zu prüfen, auf welche Weise in Crailsheim eine Vorkehrung zu Einrichtung von warmen Bädern sich treffen ließe, sofort hierüber mit dem JudenVorsteher in Rücksprache zu treten und in Gemeinschaft mit demselben erheben zu laßen, mit welchem Aufwand ein solches Bad eingerichtet werden könnte, und wie derselbe von der Judenschaft durch Beyträge der Einzelnen oder auch durch einen Zuschuß aus ihren öffentl. Kaßen bestritten werden könnte.69
Die auftragsgemäß einberufenen Vorsteher der Gemeinde erklärten daraufhin, dass die Juden in Crailsheim und Ingersheim dies unmöglich leisten könnten – die vorhandenen drei Mikwen in Privathäusern (davon nur zwei ‚aktive‘) könnten nicht entsprechend eingerichtet werden, als einzige praktikable Lösung bliebe deshalb ein Anbau an die Synagoge, dies aber sei zu kostspielig und zudem „in feuerpolizeilicher Hinsicht“ nicht zulässig.70 Die Kreisregierung ließ es angesichts der geschilderten Umstände „vor der Hand dabey bewenden“,71 die Angelegenheit war jedoch nicht abgeschlossen. Es folgte wenigstens eine amtsärztliche Untersuchung im Jahr 1825 und die erneuerte behördliche Auflage zur Einrichtung einer vorschriftsmäßigen Mikwe, sowie die daraufhin vom Vorsteher eingereichte Bitte, dies der Gemeinde zu erlassen.72 Eine den Anforderungen genügende wärmbare Mikwe richtete die Gemeinde vermutlich erst in den 1830er Jahren ein, indem
68 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Crailsheim vom 16.10.1821. 69 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Schreiben der K. Kreisregierung in Ellwangen an das Oberamt Crailsheim vom 6.11.1821. 70 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Oberamtliches Protokoll, Crailsheim 10.12.1821 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Crailsheim vom 10.12.1821). 71 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Schreiben der K. Kreisregierung in Ellwangen an das Oberamt Crailsheim vom 18.12.1821. 72 Belegt ist eine Medizinal-Visitation im Jahr 1825, siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Crailsheim vom 26.11.1825.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
der bereits 1821 angesprochene Anbau an die Synagoge realisiert wurde.73 1839 heißt es im Bericht des zuständigen Oberamtsarztes, „daß hier in Crailsheim seit einigen Jahren eine ganz dem Zweck entsprechende Badeanstalt vorhanden ist, wovon nicht nur die hiesigen sondern auch die benachbarten Frauen zu Ingersheim Gebrauch machen.“74 Fazit
Betrachtet man die Ausgangslage im gesamten Jagstkreis, so kann man die Politik der Kreisregierung in den 1820er Jahren trotz aller Schwierigkeiten als erfolgreich bezeichnen, insbesondere was die ersten Jahre angeht: 1821 waren in den etwa 40 Ortschaften mit jüdischer Einwohnerschaft noch so gut wie keine wärmbaren Mikwen vorhanden, und da, wo das Wasser (mit mehr oder weniger großem Aufwand) überhaupt erwärmt wurde, geschah dies nur für die wenigen wohlhabenderen Jüdinnen. Zwar bestand eine generelle Bereitschaft, die Anlagen gemäß der behördlichen Vorgabe technisch nachzurüsten, jedoch waren viele Gemeinden relativ klein, arm oder verschuldet. Nichtsdestotrotz waren bereits 1822 immerhin bis zu 13 Mikwen so hergestellt, dass das Wasser durch eine geeignete Einrichtung erwärmt werden konnte, hinzu kamen bis 1826 vermutlich nochmal acht den Vorgaben entsprechende Neubauten an Orten, wo bisher keine solche Einrichtung bestand, bis 1831 weitere zwei. Berücksichtigt man die zum Teil thematisierte Mitnutzung der Mikwe durch die Mitglieder nahe gelegener Gemeinden, so waren bis 1831 somit knapp 25 Gemeinden ‚versorgt‘.
Einrichtung zur Erwärmung Neubau*) Mitnutzung
bis 1822 10–13
2
bis 1826
1827 bis 1831
später
7–875
2
1834 (1) 1830er (1) 1
)
* Neubauten werden an dieser Stelle nur dann aufgeführt, wenn es sich um die erste Baumaßnahme an einem Ort handelt (also noch keine Einrichtung zur Erwärmung des Wassers vorhanden war); Grundlage: Tabelle 2 (Anhang I).
73 Über die Lage der Mikwe wird 1839 nichts berichtet, jedoch heißt es 1863, als die Synagoge restauriert wurde, dass in diesem Zusammenhang „das bisher dort befindliche Frauenbad daraus entfernt“ wurde; stattdessen sollte in einem nahe gelegenen Garten ein Badehäuschen gebaut werden; siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 842: Bericht des K. Oberamts Crailsheim vom 26.11.1863. 74 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Horlacher vom 23.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Crailsheim vom 24.1.1839). 75 Nr. 8 ist Mergentheim, wobei dieses Bauvorhaben wahrscheinlich nicht ausgeführt wurde; erst für 1848/49 ist ein Neubau belegt; siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 10.9.1857.
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Mit dem Jahr 1826 scheint die erste große Modernisierungswelle bereits mehr oder weniger beendet zu sein. Diejenigen Gemeinden, die es sich leisten konnten, hatten ihr Bauprojekt abgeschlossen, und wenn nach 1831 überhaupt noch Neubauten errichtet wurden, dann sicher nur in sehr geringer Zahl.76 Immerhin bewirkte die fortgeführte staatliche Aufsicht, dass bis 1839 nur vier der zu diesem Zeitpunkt noch vorhandenen 34 Tauchbäder nicht wärmbar waren, drei davon im schon zuvor säumigen Oberamt Gerabronn gelegen.77 Auch wenn man nicht gerade von einem Bauboom sprechen kann, zeugt die relativ große Zahl der frühen Mikwenneubauten, bis zu acht in den ersten fünf Jahren, doch davon, dass die behördliche Anordnung bei den jüdischen Gemeinden prinzipiell auf offene Ohren stieß. Die geänderte gesetzliche Lage erzeugte hier offensichtlich den nötigen Druck, um latent oder offen vorhandene Wünsche seitens der Judenschaft zu verwirklichen. Dies wird besonders deutlich im Fall von Steinbach und Unterlimpurg, die schon im Mai 1821, also noch vor der Verordnung zur Einrichtung warmer Bäder, ihr deutliches Interesse daran bekundeten, wie auch in Ernsbach, wo sich der Vorsteher in ähnlicher Weise für eine Modernisierung aussprach, „wenn eine solche Anstalt befohlen wird.“78 Als Thema präsent war die Erwärmung der Mikwe auch in anderen Gemeinden des Jagstkreises schon seit einigen Jahren, bestanden doch bereits drei moderne Anlagen (Lauchheim, Pflaumloch und eine private Einrichtung in Weikersheim79 ). An wenigstens zwei weiteren Orten, Crailsheim und Mergentheim, hatte es immerhin den Versuch gegeben, eine solche Mikwe einzuführen; hierauf wird in einem anderen Zusammenhang (Kapitel 5.1.2) noch einzugehen sein. Die Regierung des Königreichs Württemberg hatte somit einen Stein – der zuvor schon jüdischerseits hier und da leicht bewegt worden war – endlich und endgültig ins Rollen gebracht. Insofern, als die Kreisregierung des Jagstkreises in den folgenden Jahren konsequent eine Politik des Möglichen verfolgte und (nur) dort behutsam Druck ausübte, wo dies in Anbetracht der Umstände ratsam und angesichts der finanziellen Lage einer Gemeinde auch erfolgversprechend schien, wirkten nun staatliche und innerjüdische Kräfte optimal zusammen. Der entscheidende erste Schritt war getan, um die Jahrhunderte alte Einrichtung der ‚kalten Tauchen‘ in der Folgezeit einem grundlegenden Wandlungsprozess zu unterwerfen, an dessen Ende schließlich ein zeitgemäßes, wärmbares jüdisches Ritualbad stehen sollte.
76 Für die wenigen aus den Akten bekannten Neubauten nach 1831 siehe ebd. 77 Für eine Übersicht der 1839 noch aktiven Mikwen siehe Tabelle 3 (Anhang I). 78 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht der K. Regierung des Jagstkreises in Ellwangen vom 24.7.1821. 79 Zu Weikersheim vgl. Kapitel 5.1.1.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
4.1.2
Die Erweiterung der staatlichen Agenda in den 1830er Jahren
Ging es der württembergischen Regierung in den 1820er Jahren noch einzig und allein um die Frage der Erwärmung des Wassers, so erhielt die gesamte Thematik mit der 1828 veröffentlichten Schrift Das gesetzlich verordnete Kellerquellenbad der Israelitinnen des jüdischen Arztes Moritz Mombert (1799–1859)80 , zugleich ein rigoroser Verfechter der Aufklärung, eine völlig neue Dimension. Mombert kritisiert in dieser Abhandlung, wie auch einer kürzeren, 1830 in der medizinischen Fachpresse publizierten Schrift,81 auf schonungslose Weise die Rückständigkeit des rabbinischen Judentums, wie sie sich in der gesundheitsschädlichen Praxis der kalten und unhygienischen Frauenbäder äußert: In kleinern Orten bleibt das Wasser oft Jahrelang [sic] für alle Badende dasselbe (ich kenne ein solches, das nun – horribile dictu! – in 24 Jahren nicht ausgeschöpft und von dem entsetzlich angehäuften Schlamme gereinigt worden) die schmutzigste Frau aus der Hefe des Volks benutzt es, so wie die Reinlichkeit liebende, und diese muß nothwendig schon vor Eckel krank werden, wenn sie bedenkt, daß sie in einer Cloake, die oft den Schmutz einer ganzen Generation enthält, baden soll.82
Beide Texte dienten, wie auch Thomas Schlich in seinem Aufsatz Die Medizin und der Wandel der jüdischen Gemeinde festhält, in der Folgezeit gewissermaßen als Blaupause für die Beschreibung und Beurteilung von Mikwen.83 Zwar zielt Momberts Kritik hauptsächlich auf die schlechte Qualität des Wassers, aber auch die Gefährdung der Gesundheit durch die Kälte ist nach wie vor ein Thema, drastisch 80 Über Moritz Momberts Leben, geboren am 15.3.1799 in der kurhessischen Residenzstadt Kassel, ist nur sehr wenig bekannt. Wie Thomas Schlich schreibt, stammt er aus einer jüdischen Familie, die den „Eintritt in bürgerliche Verhältnisse“ geschafft hatte: Sowohl sein Vater als auch zwei Brüder waren als Arzt bzw. Zahnarzt tätig. Anders als den Brüdern gelang es ihm jedoch nicht, eine ärztliche Zulassung für seine Geburtsstadt zu erhalten, so dass er sich stattdessen im ebenfalls kurhessischen Wanfried an der Werra niederließ, wo er von 1824 bis kurz vor seinem Tod am 24.12.1859 als praktischer Arzt wirkte. 1839 wurde er Mitstifter des Meißnerschen ärztlichen Vereins in Kurhessen, der ihn 1859 zum Ehrenmitglied ernannte. Das bis heute erhaltene Grabmal auf dem jüdischen Friedhof von Kassel-Bettenhausen charakterisiert ihn als Mensch, den „hoher Edelsinn“ und „seltene Humanität gegen Arme“ auszeichnete; laut seinem Enkel, dem Schriftsteller und Lyriker Alfred Mombert (1872–1942), war die Erinnerung an ihn bei den älteren Bürgern Wanfrieds noch 1924 lebendig. Siehe Schlich, „Medizin“, S. 178; Alfred Mombert, Briefe an Vasanta, S. 120f, 124f (Anmerkungen zu den Briefen und Zetteln aus dem Jahre 1924); für seine Lebensdaten siehe die Abbildung seines Grabsteins unter: o.V., „Grabstein“ [Moritz Mombert]. 81 Moritz Mombert, „Das gemeinschaftliche Bad der jüdischen Frauen in Kellern; ein Gegenstand für die medicinische Polizei und für practische Aerzte“. 82 Ebd., S. 282f. 83 Vgl. Schlich, „Medizin“, insbesondere S. 178f.
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veranschaulicht in dem fortan viel zitierten Bild der „unglückseligen“ Frauen, die „im Winter oft eine und mehrere Stunden Wegs gehen müssen, die Axt in der Hand [...] einen Bach oder Fluß aufhauen, und sich hineintauchen“84 . Aber auch über den engeren medizinischen Fachkreis hinaus bewirkten Momberts Schriften ein erheblich gesteigertes Maß an Sensibilisierung für die beschriebenen Missstände; unter Berufung auf Mombert erweiterten sich nun die staatlichen Reformagenden für Mikwen um den Bereich der Hygiene. Konkret erging z. B. im Königreich Bayern 1828 eine Anordnung des Staatsministeriums des Innern, über den gesundheitspolizeilichen Zustand der Mikwen durch die Gerichtsärzte Erkundigung einzuziehen und notfalls für Abhilfe zu sorgen, verschickt an sämtliche Königlichen Regierungen zusammen mit einem Exemplar von Momberts Abhandlung.85 In Württemberg ist eine ähnliche direkte Reaktion der Regierung auf Momberts Schriften hingegen nicht festzustellen. Vielmehr scheint man hier zunächst einfach den bisherigen Kurs weiter verfolgt und die Umsetzung der Vorgaben von 1821 vorangetrieben zu haben, indem diejenigen Mikwen, bei denen noch Nachbesserungen nötig waren, in den 1830er Jahren von amtsärztlicher Seite begutachtet wurden, wie dies beispielsweise 1837 in Hengstfeld und Michelbach geschah, wo es nach wie vor keine Einrichtung zum Erwärmen des Wassers gab.86 Nichtsdestotrotz ist es auch hier – zumindest indirekt – dem Einfluss Momberts zuzuschreiben, dass die Regierung des Jagstkreises sich schließlich veranlasst sah, ein neues Kapitel der staatlichen Aufsicht über die jüdischen Ritualbäder aufzuschlagen und eine bezirksweite Inspektion der Ritualbäder anzuordnen. Dies geschah jedoch erst vergleichsweise spät, Ende Dezember 1838; in einem Dekret an die einzelnen Oberämter des Jagstkreises heißt es zum Hintergrund dieses Vorgehens: Nach den jüdischen Religionslehren sind die Judenfrauen bekanntlich verpflichtet, zu gewiesen [sic] Zeiten (kalte) Reinigungsbäder zu nehmen. Die Juden Gemeinden haben die Verbindlichkeit, die für diesen Zwek bestimmten Bade Anstalten einzurichten u. sie in einem solchen Zustand zu unterhalten, daß die Judenfrauen ihren Religionspflichten genügen können, ohne dabey an ihrer Gesundheit Schaden zu leiden. Dem Vernehmen nach sollen sich jedoch diese Bade Anstalten an den meisten Orten, wo sich Juden aufhalten, in einem so vernachläßigten u. gesundheitswidrigen Zustand befin-
84 Moritz Mombert, „Bad“, S. 293. Vgl. zu diesem Motiv auch genauer Kapitel 6.1.1.2, Abschnitt Der inszenierte Gang in die Mikwe. 85 „(Die Kellerquellenbäder der Israelitinnen betreffend.) Auf Befehl Seiner Majestät des Königs.“ (15.10.1828), in: Döllinger, Sammlung, S. 151. 86 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht der K. Regierung für den Jagstkreis in Ellwangen vom 13.5.1842.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
den, daß der Gebrauch des (kalten) Reinigungsbades sehr häufig mit den schlimmsten Folgen für die Gesundheit der Frauen verbunden ist. Die KreisRegierung sieht sich daher veranlaßt, das /–/ Amt zu beauftragen, durch Vernehmung der betreffenden Gesundheitsbeamten über alle in seinem Bezirk befindlichen jüdischen Frauenbäder, über deren Einrichtung u. Mängel sich zuverläßige Auskunft zu verschaffen und sofort unter Anschluß der dießfalls eingekommenen Äußerungen Bericht anher zu erstatten.87
Ist hier der Befund (der Zustand der Mikwen sei „vernachläßigt“ und „gesundheitswidrig“) wie auch der daraus resultierende Auftrag an die Oberämter (Anzeigen der „Einrichtung u. Mängel“) noch recht unscharf formuliert, so zeugen doch die eingehenden Berichte davon, dass inzwischen ganz andere Kriterien für die Beurteilung einer Mikwe galten, als noch im vorausgegangenen Jahrzehnt. Nur ein einziger der ausführlicheren amtsärztlichen Berichte versäumt es, auch auf die Wasserqualität bzw. die damit verbundene Frage der Reinigung einzugehen (es handelt sich um den Bericht zu Michelbach,88 siehe hierzu und im Folgenden auch Tabelle 3). Neben dem hieraus ablesbaren allgemeinen Problembewusstsein beeinflusste aber offensichtlich noch ein weiterer Umstand den Entschluss zu einer neuerlichen Inspektion der Bäder, entspricht doch der Text des oben zitierten Dekrets, von kleineren Anpassungen abgesehen, fast wortwörtlich einem anderen. Man hatte in der Frage der Mikwen also durchaus ein Auge auf die Vorgänge in anderen deutschen Staaten, in diesem Fall auf das Generalrescript, das am 6. März 1837 im Herzogtum Nassau an sämtliche Medizinalräte erging.89 Hintergrund dieses Schrittes war ein Schreiben des später als „Gründungsvater des Reformjudentums“90 geltenden Abraham Geiger an die Herzoglich-Nassauische Landesregierung vom 1. des Monats. Geiger, der ab 1832 als Rabbiner in Wiesbaden tätig war,91 berief
87 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Dekret der K. Regierung für den Jagstkreis in Ellwangen vom 28.12.1838. 88 Zwar fehlt diese Information auch für die Mikwen im Oberamt Crailsheim, jedoch enthält der entsprechende Bericht ganz generell keine konkreten Angaben. 89 Es heißt dort: „Nach den jüdischen Religionslehren sind die Judenfrauen bekanntlich ver= / pflichtet, zu gewissen Zeiten kalte Reinigungsbäder zu nehmen … Dem sicheren Vernehmen nach sollen sich jedoch diese Badeanstalten am [sic] den meisten / Orten des Herzogthums in einem so vernachläßigten und gesundheitswidrigen Zu= / stande befinden, daß der Gebrauch des kalten Reinigungsbades sehr häufig mit den / schlimmsten Folgen für die Gesundheit der Frauen verbunden ist. Wir sehen Uns / daher veranlaßt, … Sie aufzufordern, Uns über alle in Ihrem Be= / zirke befindlichen jüdische Frauenbäder, über deren Einrichtung und Mängel ausführ= lich Bericht zu erstatten.“ (HHStA Wiesbaden Abteilung 211/Band 7975: Generalrescript vom 6.3.1837, zit. nach: Zink, „diese kalten Bäder“, S. 47). 90 Michael A. Meyer, Antwort auf die Moderne, S. 138. 91 Ebd., S. 139. Zu Geigers Leben und Wirken allgemein vgl. ebd., S. 138–152.
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sich darin auf Klagen aus verschiedenen Gemeinden über die negativen Folgen der kalten Bäder, und appellierte an die Regierung: Es wäre im Interesse des Staates und der Humanität, daß von den Medicinalbeamten sorgfältiger über die jüdischen Frauenbäder gewacht werde, daß namentlich diese überall heizbar zu machen seien, den widerstrebenden Gemeinden aber die Bäder von Staats wegen geschlossen würden.92
Und obwohl sich in den hier betrachteten Akten aus Württemberg keine weiteren Spuren einer Anknüpfung an die nassauische Politik bezüglich der Mikwen finden, zeigen doch gelegentliche Hinweise an anderer Stelle, dass man innerhalb der Staaten des Deutschen Bundes, besonders im süddeutschen Raum, durchaus vernetzt war;93 das Vorgehen einzelner Staaten in der Frage der Mikwen ist somit keinesfalls isoliert zu betrachten, sondern kann erst im Rahmen des medizinischen wie auch politischen Gesamtdiskurses richtig eingeordnet werden. Inwieweit sich in den ärztlichen Beschreibungen von Mikwen darüber hinaus auch ganz konkret der Einfluss Momberts bemerkbar macht, soll an anderer Stelle (Kapitel 6.1.1) noch erörtert werden. Die Situation im Jagstkreis 1839
Da die eingehenden Berichte in Qualität und Umfang sehr verschieden sind, muss man wohl in den meisten Fällen davon ausgehen, dass die Ärzte im Jagstkreis 1839 keine genaueren (definitiv aber keine bezirksweit einheitlichen) Instruktionen erhielten, worauf zu achten sei. Lediglich für das Oberamt Mergentheim ist ein detaillierter Fragenkatalog überliefert, anhand dessen die Anlage zu beurteilen war. Neben Angaben zu Lage und Größe des Beckens wird hier insbesondere danach gefragt, ob es Quellwasserzufluss hat, ob ein Abfluss vorhanden ist, und wie lange das Wasser steht, bevor frisches „ergänzt“ wird; darüber hinaus waren alle Mängel anzugeben.94 Unter sämtlichen Oberämtern des Jagstkreises verfügte 92 HHStA Wiesbaden, Abteilung 211/Band 7975: Schreiben von Abraham Geiger vom 1.3.1837. 93 In Württemberg geschah dies bereits 1817 durch zwei Eingaben zum Frauenbad in Mergentheim (vgl. Kapitel 4.2.1.1), 1843 resümiert das württembergische Medizinal-Collegium in einem Bericht an das Innenministerium den Stand der Dinge in anderen Staaten (Baden, Großherzogtum Hessen, Bayern, und eben Herzogtum Nassau); siehe StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des MedizinalCollegiums vom 16.2.1843[?]. Im Großherzogtum Würzburg wandte man sich im Zusammenhang mit der Eingabe des Centchirurgen Kappler 1812 an zwei Stellen in Berlin und Kassel mit der Bitte um Informationen (vgl. Kapitel 4.2.2.2, Abschnitt Die Verordnung im Großherzogtum Würzburg vom 29. Januar 1812). 94 Der Fragenkatalog ist unter anderem enthalten im Bericht über die Mikwe in Markelsheim: StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Wundarzt Kleinhanns über die Mikwe in Markelsheim vom 15.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839).
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
Mergentheim nicht nur über die meisten Ortschaften mit Mikwe, sondern hatte in der Person des Dr. Bauer zugleich einen Oberamtsarzt, der sich bereits seit 1817 für die Verbesserung der Tauchbäder engagierte.95 Es ist somit durchaus vorstellbar, dass es seinem Einfluss ganz oder teilweise zu verdanken ist, dass man hier einen geeigneten Fragenkatalog entwarf, um die Situation der Tauchbäder im Oberamt Mergentheim zuverlässig zu erfassen. Das Bild, das die eingehenden Berichte vom Zustand der Mikwen im Jagstkreis 1839 entwerfen, ist allerdings ernüchternd. Während bei der Bestandsaufnahme von 1821 nur wenige grundlegende Details in Erfahrung gebracht wurden, liegen bei der neuerlichen Untersuchung zum Teil sehr ausführliche Berichte vor, die nicht nur die Wasserqualität und einzelne baulich-technische Merkmale ins Auge fassen, sondern zugleich den Zustand der Einrichtung als Ganzes kritisch beurteilen. Betrachtet man zunächst lediglich die Gesamtwertung der Anlage, so halten sich eindeutig positive und negative Beurteilungen in etwa die Waage (13 zu 15), daneben gibt es noch fünf ‚neutrale‘ Anlagen, die im Wesentlichen als gut gekennzeichnet werden, bei denen aber dennoch ausdrücklich Verbesserungen angemahnt werden.96 Diese ausgewogene Bilanz wird allerdings dadurch wieder relativiert, dass acht der 13 positiven Urteile nicht sehr aussagekräftig sind, da die Anlage entweder nicht persönlich besucht wurde (Pflaumloch) oder aber der Bericht so gut wie keine Details enthält. Der Verdacht, dass in diesen Fällen allein die Umsetzung der Ministerialverfügung zur Erwärmung von 1821 die Einstufung als zweckmäßig bewirkte, ist deshalb nicht von der Hand zu weisen, und wurde so auch in einer Stellungnahme des Medizinal-Collegiums von 1843 geäußert. Das in Stuttgart ansässige Collegium bezieht sich hierbei beispielhaft auf die Mikwe von Niederstetten, die 1839 als „ganz gut eingerichtet“ klassifiziert wurde (Wertung in Tabelle 3 als neutral), während sie bei einer neuerlichen Visitation 1841 „keineswegs die Zufriedenheit des Visitators sich erwarb.“97 Tatsächlich befinde sich der
95 Vgl. hierzu auch Kapitel 4.2.1.1. 96 Vgl. hierfür die Sparte „Bilanz“ in Tabelle 3. Die Klassifizierung in (positiv), (negativ) und (neutral) wurde von mir vorgenommen und beruht in erster Linie auf dem ‚Gesamteindruck‘ des Berichterstatters. Als positive Bilanz werte ich hierbei nur ein tendenziell positives Gesamturteil. Als neutral werte ich folgende Anlagen mit gemischtem Gesamteindruck: a) Anlagen, die ohne Konkretisierung als ‚ganz gut, aber Verbesserungen nötig‘ beschrieben werden; b) Anlagen, bei denen die Wasserqualität sehr gut ist (entweder aufgrund der natürlichen Gegebenheiten oder häufiger Reinigung), deren Räumlichkeiten aber negativ beurteilt werden, ohne dass jedoch Lebensgefahr besteht. Das Kriterium der Wassertemperatur kann für die Kategorisierung hingegen unberücksichtigt bleiben, da diese nur in zwei Fällen als wirklich ausreichend gewertet wird: in Archshofen (Gesamturteil positiv) und Michelbach, dessen Mikwe aber insgesamt als sehr mangelhaft eingestuft wird, die über keine geeignete Einrichtung zur Erwärmung verfügt und nur für wohlhabende Frauen geheizt wird. 97 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des Medizinal-Collegiums vom 16.2.1843[?].
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Großteil der Mikwen im Jagstkreis „in einem beklagenswerthen Zustand“, wie das Collegium urteilte. Selbst ungeachtet der Frage der Erwärmung waren gravierende Mängel eher die Regel als die Ausnahme, sowohl was die Qualität des Wassers anging als auch die der Räumlichkeiten: Nur in vier Fällen (von 34 vorhandenen Mikwen) konnte erstere uneingeschränkt als gut bezeichnet werden (Tabelle ), wobei dies in zwei der Gemeinden (Waldmannshofen und Edelfingen) offensichtlich allein dem starken Quellzufluss zu verdanken war; in Waldmannshofen wurde das Becken oft viele Jahre nicht, in Edelfingen gar nie gereinigt. An sieben Orten war das Wasser hingegen in höchstem Grad verunreinigt (Tabelle ), entweder durch Schlamm, der sich zumindest im Bodenbereich absetzte, oder durch Anzeichen von Fäulnis (Dörzbach); in Markelsheim und Mergentheim vergleicht der berichterstattende Arzt die Flüssigkeit gar mit einer Mistjauche. Eine regelmäßige Reinigung fand den Angaben zufolge in den allerwenigsten Gemeinden statt: nach jeder Nutzung in drei Fällen, täglich in einem, wöchentlich in zwei. Nur in acht Fällen werden Pumpen erwähnt, und man kann daraus mit einiger Sicherheit ableiten, dass in den übrigen Anlagen keine derartige Vorrichtung vorhanden, die Reinigung also mit einigem Aufwand verbunden war. Ein regulärer Abfluss war in den Mikwen des Jagstkreises, wie bereits beschrieben, noch nicht die Regel, noch weniger ein regulierbarer Zufluss mittels Röhren. Einzig und allein im Fall von Bieringen wird gesagt, dass das Wasser über tönerne „Teichel“, d. h. Röhren oder Rinnen, aus dem nahen Bach herbei geleitet wurde.98 Das Entstehungsjahr der Bieringer Mikwe ist leider nicht bekannt. Möglicherweise wurde sie erst nach 1822 errichtet, wofür dieses technische Detail sprechen würde, wie auch die Tatsache, dass der Ort in dem Oberamtsbericht zur Situation der Tauchbäder aus diesem Jahr nicht verzeichnet ist; andere Merkmale sprechen jedoch eher für eine frühere Bauzeit.99 Der Bau einer Anlage, in der sowohl der Zufluss als auch der Abfluss des Wassers über Röhren geschah, dieses somit regelmäßig völlig ausgetauscht werden konnte, war nicht nur technisch aufwändiger als ein gewöhnliches ‚Kellerquellenbad‘, sondern erforderte auch ein höheres Maß an halachischen Kenntnissen. Eine derartige Mikwe existierte schon relativ früh in der bedeutenden Gemeinde Posen, wo sie zwischen 1815 und 1828 unter Aufsicht des dortigen Rabbiners Akiba Eger errichtet worden war, wie aus einem von ihm verfassten Gutachten aus dem Jahr 1828 hervorgeht.100 Ihr Wasser erhielt die Anlage mittels Röhren aus der Warthe zugeleitet, und da die Magdeburger Gemeinde beim 98 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Wanner über die Mikwen in Berlichingen und Bieringen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 10.2.1839). Für die Bedeutung von Teichel als „röhre, rinne, tubus“ siehe DWB 2, unter ‚deuchel‘. 99 Vgl. oben Anm. 38. 100 Stern, „Akiba Eigers Gutachten“.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
Bau einer neuen Mikwe dieselbe Methode anwenden wollte, sich dagegen aber Widerstand regte, gelangte die Angelegenheit – über den Umweg der weltlichen Behörden – an den bei jüdischen wie auch christlichen Zeitgenossen hoch angesehenen Posener Rabbiner Akiba Eger, der darüber urteilen sollte.101 Eger galt damals nicht nur als „höchste talmudische Autorität“102 in Preußen, sondern wurde sogar von nichtjüdischer Seite als „Papst der Juden“103 betrachtet. In seinem Gutachten für die Magdeburger befürwortet Eger ausdrücklich eine solche Einrichtung in einem „trockenen und heitzbaren Zimmer zu ebener Erde“, da somit „nach jedem Bade die Reinigung des Bassins eintreten und die Erneuerung des Wassers erfolgen könne“.104 Unter anderem müsse man bei einer Anlage, die Flusswasser anstelle von Quellwasser nutzt, jedoch strengstens darauf achten, dass während der Nutzung die Abflussröhren absolut fest verschlossen seien.105 Die Mikwen des Jagstkreises waren hingegen auch 1839 noch weit von diesem modernen Ideal entfernt, dem sie weder hinsichtlich der Qualität des Wassers noch der Gesamtanlage entsprechen konnten. Ist hier von den Räumlichkeiten an sich die Rede, so werden diese durchweg negativ beurteilt: im besten Fall als unreinlich oder vernachlässigt, im schlimmsten Fall als lebensgefährlich (Bieringen, Braunsbach, Edelfingen, wobei an letzterem Ort die Gefahr von dem überfüllten Becken ausgeht). In der Summe sind die Anlagen in den Augen der Gutachter finster, feucht, kalt, schmutzig und ungesund, wenn nicht sogar lebensbedrohlich. 4.1.3
Die Frage der Erwärmung: Theorie und Praxis um 1839
Auch in der Frage der Erwärmbarkeit der Mikwen blieb die Realität hinter dem Anspruch des Ministerialerlasses von 1821 weit zurück. Immerhin hatte dieser bewirkt, dass zum Zeitpunkt der Inspektion von 1839 nur noch vier der bestehenden 34 Tauchbäder über keine Einrichtung zur Erwärmung des Wassers verfügten. Einige wenige der 1821 vorhandenen Mikwen (Ingersheim, Unterlimpurg, Ailringen, Laibach) waren vermutlich geschlossen worden, weil die Gemeinden sich aufgrund ihrer Größe und finanziellen Verhältnisse den Umbau nicht leisten konnten. Was genau verstand man aber 1839 unter einem ‚warmen Bad‘? Während zuvor das Wasser, wenn es überhaupt erwärmt wurde, in einer mehr oder weniger weit entfernten Küche erhitzt und dann zum Tauchbecken getragen werden musste, so erleichterte nun in der Regel eine zweckmäßige Einrichtung an Ort und Stelle diesen Prozess. Eine fast ideale Situation fanden die Frauen diesbezüglich in Oberdorf 101 102 103 104 105
Vgl. hierzu die Einleitung von Moritz Stern, ebd. S. 31. Ebd. Loewe, „Eger. Akiba E. der Jüngere“, Sp. 245. Stern, „Akiba Eigers Gutachten“, S. 32. Ebd., S. 35f; zu dem dahinter stehenden halachischen Prinzip vgl. SchA, Jore de‘a 201,2 und 50.
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vor, wo der vorhandene Ofen zugleich die Umkleidezimmer mitwärmte; über den erreichten Wärmegrad des Wassers wird allerdings nichts berichtet: Die eigentliche Dunke ist, hinlänglich geräumig, von großen Steinplatten gebaut. An einem meßingnen Hahnen kann man frisches kaltes Waßer und durch einen zweiten Hahnen gewärmtes Waßer nach Bedürfniß in die Dunke fließen laßen. […] Zunächst in Verbindung mit der Dunke sind zwey kleine erwärmte Zimmer in welchen sich die Frauen aus- und angleiden. Gleichsam in der Küche wird das Wasser in einem großen Keßel erwärmt und derselbe Ofen, welcher das Wasser im Keßel erwärmt, heizt auch die genannten 2 kleine Zimmer.106
Dass auch die Räumlichkeiten geheizt waren, stellte vermutlich nicht nur im Jagstkreis, sondern in Württemberg allgemein die Ausnahme dar, da der Erlass von 1821 dies nicht vorsah. Nur in sieben bis acht der Anlagen war zumindest eines der Zimmer (ein separates Ankleidezimmer oder der Mikwenraum selbst) warm.107 Häufiger als die Unterbringung in einer angrenzenden Küche war die Platzierung des Kessels direkt neben dem Tauchbecken, wie dies in vielen Fällen berichtet wird (siehe Tabelle 3),108 so dass sich das warme Wasser relativ schnell mittels Röhren zuleiten ließ; bei neun Anlagen ist explizit von einer Hahnenvorrichtung die Rede. Zudem konnte der Kessel in diesem Fall auch dazu dienen, die Umgebung mithilfe einer Eisenplatte zu heizen, wie dies in Laudenbach, Wachbach, Ernsbach und, eingeschränkt, in Braunsbach geschah (in der Tabelle 2in1 ). In den Fällen, wo auch das Aus- und Ankleiden im gleichen Raum stattfand, war auf diese Weise die gesamte Anlage zumindest notdürftig erwärmt.109
106 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Lohrmann vom 11.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 5.2.1839). 107 Vgl. Tabelle 3. Wird eine Beheizung der Räumlichkeiten nicht erwähnt, so kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass diese nicht stattfand. 108 Auch nach einem Bericht des württembergischen Medizinal-Collegiums von 1843 bildete die Anlage des Kessels im gleichen Raum die Regel; StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des Medizinal-Collegiums vom 16.2.1843[?]. 109 In Braunsbach wurde zwar auch der Mikwenraum mittels einer Eisenplatte am Herd mitgeheizt, das An- und Auskleiden fand jedoch in einem separaten (ungeheizten) Zimmer statt; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Bosch vom 21.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 23.2.1839). Zu den anderen genannten Orten vgl. StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Wundarzt und Geburtshelfer Schoninger über die Mikwe in Laudenbach vom 16.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839); Bericht über die Mikwe in Wachbach vom 31.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839); Bericht von Dr. Schott über die Mikwe in Ernsbach vom 9.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Oehringen vom 10.1.1839).
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
Die technische Einrichtung war somit auch Ende der 1830er Jahre noch äußerst bescheiden; ihr Hauptzweck war das Erwärmen des Wassers entsprechend den behördlichen Vorgaben. Zu diesem Zweck wurde das Wasser, das im Kessel erwärmt werden sollte, in den allermeisten Fällen vermutlich direkt dem Becken entnommen, da es in der Regel die nächstgelegene Wasserquelle darstellte. Zugleich konnte auf diese Weise ein höherer Wärmegrad im Tauchbecken erzielt werden. Wie bereits in Kapitel 3.3.2 dargestellt, beschreibt Rabbiner Marum Wolf, zuständig für Niederstetten und Umgebung, dieses 1821 als eine gültige bzw. gängige Methode, und laut einem amtlichen Bericht aus dem Oberamt Künzelsau von 1839 wurde es in Braunsbach auch tatsächlich so praktiziert: Neben dem Waßerbehälter ist ein Heerd angebracht, in welchem sich der Keßel befindet nebst einer eisernen Platte, welche zugleich das ganze untere[?] Bad-Kabinett erwärmt. Das Wasser wird aus dem Waßerbehälter, welcher durch eine Brunnenquelle versorgt wird, in den Keßel geschöpft, u. dann erwärmt wieder durch ein Hahnen in das Bad geleitet.110
Darüber, wie viel Wasser tatsächlich entnommen wurde bzw. werden durfte, finden sich leider keine Aussagen. Selbstverständlich konnte das Wasser bis zu dem halachischen Mindestvolumen von 40 seʾa abgeschöpft werden; akzeptierte man auch die Zuleitung von warmem Wasser zu nur 21 seʾa koscherem Wasser mittels hamschacha, so konnte zumindest in der Theorie nochmal eine deutlich höhere Temperatur erzielt werden. In der Praxis waren dem jedoch durch die Größe des vorhandenen Kessels und dem damit verbundenen Aufwand relativ enge Grenzen gesetzt, zumal beim Einsatz der hamschacha-Methode noch eine weitere technische Schwierigkeit hinzutrat: Es musste in diesem Fall darauf geachtet werden, dass die Entnahme nicht mit einem Behälter geschah, der als ‚Gefäß‘ galt; unbeabsichtigt zurücklaufendes Wasser würde ansonsten die bereits nicht mehr ausreichend gefüllte Mikwe untauglich machen.111 Die für den Jagstkreis überlieferten Kesselgrößen bewegen sich im Bereich von etwa 40 Liter (Laudenbach) bis fast 295 Liter (Archshofen und Neunkirchen).112 Lediglich in den beiden letztgenannten Orten wäre somit die Methode der Zuleitung einer größeren Menge von Wasser mittels hamschacha überhaupt von Interesse gewesen, und Archshofen ist auch tatsächlich einer der wenigen Orte, deren Mikwe 110 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Bosch vom 21.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 23.2.1839). 111 Pumpen aber sind, zumindest nach heutigem Verständnis, als Gefäße zu betrachten, vgl. Jachter, „Mikvaot Part 4“, unpag. 112 Eine moderne Badewanne fasst, zum Vergleich, bis zum Rand gefüllt etwa 280 Liter, vgl. Kapitel 3.2.1.1.
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1839 ohne Einschränkung als positiv gelten konnte. Die Größe des Kessels wird in dem amtlichen Bericht als ausreichend bewertet, wenngleich über die erreichte Badetemperatur nichts gesagt wird;113 ebensowenig ist leider die Größe des Beckens überliefert. Nichtsdestotrotz lässt sich diese Einschätzung aufgrund theoretischer Berechnungen der Mischungstemperatur sowie der Annahme, dass das Becken nicht ungewöhnlich groß war, leicht bestätigen; die im Becken erreichte Temperatur hätte demnach, unter normalen Bedingungen und Nutzung des vollen Kesselvolumens, sogar deutlich über 27 °C gelegen: Kessel: 295 Liter
Ausgangsvolumen 1
890 l
2
700 l
3
600 l
4
400 l
entspricht ca.
Ausgangstemperatur 10 °C 29,9 °C
Ausgangstemperatur 8 °C 28,4 °C
3 preuß. Ellen3 3 württ. 33,7 °C 32,3 °C Ellen3 (ham36,4 °C 35,0 °C schacha) (ham44,0 °C 42,8 °C schacha) Temperatur des erwärmten Wassers: 90 °C
Ausgangstemperatur 6 °C 26,9 °C 30,9 °C 33,7 °C 41,7 °C
Selbst bei einer Beckenfüllung von etwa 890 Litern kaltem Wasser (der Entsprechung von drei preußischen Kubik-Ellen) von 6 °C, könnte man durch Zuleiten von 295 Litern Wasser, auf 90 °C erhitzt, noch immer eine angenehme Mischungstemperatur von fast 27 °C erzielen. Bei nur 700 Litern Wasser mit einer Ausgangstemperatur von 10 °C erreicht man sogar 33,7 °C – ein theoretischer Wert, der allerdings durch die Messung von Landgerichtsarzt Dr. Gräf für die Mikwe im oberpfälzischen Sulzbach (heute Sulzbach-Rosenberg) um 1828 relativ exakt bestätigt wird.114 Würde man die Methode der hamschacha anwenden und durch Ausschöpfen ein sehr viel geringeres Ausgangsvolumen erzeugen, so läge die Temperatur sogar merklich über der 30 °C-Marke. Zeile 4 in der Tabelle enthält (annähernd) die Bedingungen für das obere Spektrum der Badetemperatur: 295 Liter warmes Wasser vermischen sich mit 400 Liter kaltem Wasser und erzeugen so das für Württemberg angenommene halachisch nötige Mindestvolumen von 600 bis 700 Litern. Legt
113 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Pflüger junior über die Mikwen in Creglingen und Archshofen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839). 114 Dr. Gräf maß für die 1822 neu errichtete Mikwe 8 Grad Réaumur (ca. 10 °C) Ausgangstemperatur und etwa 26 Grad Réaumur (ca. 32,5 °C) für das erwärmte Wasser. Um diese Temperatur zu erreichen, wurde das Wasser auch hier aus dem Becken entnommen, erhitzt und anschließend wieder dorthin zugeleitet. Siehe Wittmer, „Juden in der Oberpfalz“, S. 74f.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
man ein sehr großes Mindestvolumen von drei preußischen Kubik-Ellen zugrunde, so erreicht man mit Hilfe der hamschacha noch Temperaturen gemäß Zeile 3. Auch wenn man realistischerweise davon ausgeht, dass nicht das gesamte Kesselvolumen genutzt wurde, da das Erhitzen einer so großen Wassermenge einen erheblichen Aufwand bedeutet, lassen sich immer noch ausreichende Temperaturen erzielen. Nutzt man die halbe Kesselmenge (150 Liter), so könnte man in Württemberg einen Wärmegrad von über 20 °C erreichen, wie in der folgenden Tabelle dargestellt: Kessel: 150 Liter
Ausgangsvolumen 5
890 l
6
700 l
7
600 l
entspricht ca.
Ausgangstemperatur 10 °C 21,5 °C
Ausgangstemperatur 8 °C 19,8 °C
3 preuß. Ellen3 3 württ. 24,1 °C 22,5 °C Ellen3 (ham26 °C 24,4 °C schacha) Temperatur des erwärmten Wassers: 90 °C
Ausgangstemperatur 6 °C 18,1 °C 20,8 °C 22,8 °C
Jedoch muss selbst im Hinblick auf die Beispiele von Archshofen und Neunkirchen mit einer ausreichenden Kesselgröße die Frage, wie effektiv die Erwärmung des Wassers im Allgemeinen wirklich war, kritisch betrachtet werden. Zahlreiche Hinweise in den verschiedenen Berichten lassen vermuten, dass die Realität vieler Frauen noch weit von einem ‚warmen Bad‘ entfernt war, da sich in der Praxis das Heizen des vorhandenen Kessels nicht bewährt hatte. So wird über Steinbach berichtet, dass zwar im Winter etwas erwärmtes Wasser in das Bad gegossen wird, „immer aber bleibt die Temperatur desselben eine so niedrige, daß die Frauen nie ohne grossen Horror und wirklichen Frost sich zu reinigen im Stande sind.“115 In Berlichingen und Creglingen gibt man an, dass der Kessel zu klein ist: In Berlichingen werde das Wasser lediglich „etwas lauwarm“116 , in Creglingen ließen sich wohlhabendere Jüdinnen deshalb zusätzlich warmes Wasser aus ihren Häusern herbeitragen: Der Kessel zum Erwärmen des Wassers, das man in das Flußwasser des Bades schütten muß, ist zu klein, indem er zu wenig faßt, um das vorher in dem Bade befindliche kalte Wasser gehörig erwärmen zu können, er nimmt kaum 14 Würtemb. Eimer [ca. 75 Liter] Wasser auf. Die Vermöglicheren lassen sich daher, damit das Wasser besser erwärmt werde,
115 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Dürr über die Mikwe in Steinbach vom 19.3.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Hall vom 23.3.1839). 116 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Wanner über die Mikwen in Berlichingen und Bieringen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 10.2.1839).
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
noch außerdem, daß sie den Kessel schüren lassen, heißes Wasser von ihrer Behausung aus zutragen, die Aermeren müssen im Sommer ganz kalt baden und im Winter mit so viel Wasser vorlieb nehmen, als der kleine Kessel auf einmal erwärmt.117
Auch von anderen Mikwen wird berichtet, sie seien schlecht heizbar, da das Becken im Verhältnis zur Warmwassermenge zu groß war (Dörzbach, Mergentheim).118 In Edelfingen, mit einem ungewöhnlich tiefen Becken (etwa 2,50 Meter), war der Kessel gar noch nie benutzt worden, „da alle die Mühe scheuen, welche das Ausschöpfen von so vielem Wasser, daß der Rest desselben durch einen Kessel voll siedenden Wassers nur einigermaßen erwärmt werden kann, verursacht.“119 Wie die Mehrzahl der Anlagen verfügte auch die in Edelfingen 1839 über keine Pumpe, die diese Arbeit erleichtert hätte. Teilweise musste das erwärmte Wasser noch wie ehedem in das Becken geschüttet werden, da keine Röhrenleitung vorhanden war (Creglingen, eventuell Igersheim).120 Anders als in dem Ministerialerlass von 1821 gefordert, wurden arme Gemeindemitglieder auch nicht allerorts in ausreichendem Maße unterstützt. So heißt es in dem Bericht über Ernsbach, „daß jede Badende das Holz zum Heitzen der Badestube und Erwärmen des Wassers selbst beytragen muß, wodurch der üble Umstand eintreten soll, daß ärmere Frauen auch Winters im ungeheizten Badezimmer, und ungewärmtem Wasser baden müßen“.121 Abgesehen von der bereits genannten Mikwe in Archshofen wird in den Berichten nur ein weiteres Mal, nämlich im Fall von Michelbach, die Temperatur
117 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Pflüger junior über die Mikwen in Creglingen und Archshofen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839). 118 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Fichtbauer vom 8.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 23.2.1839); Stadtarchiv Bad Mergentheim, H 52: Bericht von Dr. Bauer über die Mikwe in Mergentheim vom 19.1.1843. 119 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Hoering über die Mikwe in Edelfingen vom 29.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839). In dem Bericht heißt es, der Kessel sei im Vorjahr „eingemauert“ worden. Es ist nicht klar, ob hiermit lediglich eine Verbesserung der schon länger bestehenden Einrichtung gemeint ist, oder ob tatsächlich erstmals ein Kessel angebracht worden war. Geplant war die Einrichtung zur Erwärmung bereits für 1822. 120 In dem Bericht zu Creglingen heißt es diesbezüglich unmissverständlich: „Der Kessel zum Erwärmen des Wassers, das man in das Flußwasser des Bades schütten muß, ist zu klein“; in Igersheim wird das Wasser aus dem Kessel, der sich neben dem Becken befindet, „ins Bad geleert“, was vermutlich ebenfalls bedeutet, dass es keine Rohrverbindung gab. Siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Pflüger junior über die Mikwen in Creglingen und Archshofen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839); Bericht von Wundarzt Hofman über die Mikwe in Igersheim vom 18.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839). 121 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Schott über die Mikwe in Ernsbach vom 9.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Oehringen vom 10.1.1839).
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
als „angenehm“ eingestuft.122 Allerdings erhält hiermit ausgerechnet eine solche Mikwe dieses Prädikat, deren Gesamtanlage als sehr mangelhaft beurteilt wurde, und die noch nicht einmal über die vorgeschriebene Einrichtung zur Erwärmung verfügte; das Wasser musste hier 1839 noch in traditioneller Weise in einer Küche erwärmt werden. Sämtliche anderen Gutachten schätzen die erreichte Erwärmung als unzureichend oder doch zumindest fraglich ein. Selbst in Neunkirchen mit ausreichend großem Kessel von 295 Litern zeigt sich der begutachtende Oberamtsarzt nicht zuletzt aufgrund der äußerst unzweckmäßigen Gesamtanlage skeptisch; insbesondere wegen der großen Tiefe des Beckens (12–15 Fuß, etwa 3,5 bis 4,5 Meter) und einer fehlenden Holzverkleidung kühle das Wasser auf dem Weg bzw. im Becken unnötig schnell aus.123 Darüber hinaus gibt es allerdings noch einen weiteren Umstand, der die Wirkung der Heizvorrichtung zumindest in Frage stellt, nämlich die Tatsache, dass der Kessel zum Zeitpunkt der Besichtigung nicht an Ort und Stelle war, vorgeblich eine Vorsichtsmaßnahme gegen Diebstahl. Vor dem Hintergrund der Berichte aus anderen Gemeinden ist man geneigt, auch dies als ein Indiz dafür zu werten, dass eine Heizung entweder gar nicht oder nur teilweise stattfand, erhöhte sich doch durch eine auswärtige Aufbewahrung nochmals der nicht geringe Aufwand für ein warmes Bad. Was sich hier wie in Archshofen mit gleicher Kesselgröße ebenfalls nicht beantworten lässt, ist die Frage, ob tatsächlich (immer? für alle Frauen?) die Kapazität des Kessels voll ausgeschöpft wurde. Angesichts der für das Heizen eines riesigen Kessels nötigen Holzmenge und dem Bericht über die Situation der ärmeren Frauen in Ernsbach ist nicht auszuschließen, dass auch hier Einsparungen an der Tagesordnung waren. 4.1.4
Der württembergische Normalerlass von 1846
Ungeachtet sichtbarer Fortschritte, welche zumindest die Situation mancher Nutzerinnen verbesserten, hatte sich der Anspruch des Ministerialerlasses von 1821, dass alle Frauen nur noch warm baden sollten, bis 1839 somit nicht verwirklichen lassen. In der Realität standen dem sowohl die unzweckmäßige Einrichtung vieler Anlagen als auch die Armut vieler Gemeinden im Weg. Aufgrund der zahlreichen Missstände, die in den 1839 angeforderten ärztlichen Gutachten beschrieben wurden, empfahl die Regierung des Jagstkreises in ihrem Bericht an das Innenministerium vom 13. Mai 1842, eine allgemeine Reform einzuleiten.124 Hiermit
122 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Ärztlicher Bericht über die Mikwe in Michelbach vom 30.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 14.3.1839). 123 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Bauer über die Mikwe in Neunkirchen vom 10.1.1839 (Anlage zum Bericht des Bezirksamts Weikersheim vom 14.1.1839). 124 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht der K. Regierung für den Jagstkreis in Ellwangen vom 13.5.1842.
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
war der entscheidende Anstoß gegeben für einen neuerlichen landesweiten Erlass des Innenministeriums. Zwar sollten bis dahin nochmal über vier Jahre vergehen, doch bildete der so erwirkte „Normalerlass“ (so die Bezeichnung des Ministeriums)125 vom 4. August 1846 zugleich das Ende des langwierigen Prozesses, in dem sich die württembergische Regierung um die Klärung der halachischen Vorgaben zu Mikwen wie auch des eigenen Standpunktes hierzu bemüht hatte. Im Ergebnis wurden nun verbindliche „Normen für die Einrichtung der Tauchbäder“ im Königreich Württemberg formuliert, die auch auf den Beschlüssen der Zweiten Rabbinerversammlung in Frankfurt von 1845 basierten, und deren Anwendung mit dem württembergischen Medizinal-Collegium sowie der Israelitischen Oberkirchenbehörde abgestimmt war. Die eigentlichen „Normen“ für die Einrichtung der Mikwen (Teil III des Erlasses) zielten im Wesentlichen darauf, durch genaue Vorschriften sowohl das Wasser als auch den Umgebungsraum stets rein und ausreichend warm zu halten; zudem achtete man darauf, durch das Anbringen von Vorhängen auch die Sittlichkeit nicht zu gefährden. Dem vorangestellt war darüber hinaus eine Auflistung der wichtigsten religionsgesetzlichen Prinzipien für die Anlage von Mikwen (Teil II), und an dieser Stelle griff man auf die Beschlüsse und publizierten Beratungen im Kontext der Rabbinerversammlung von 1845 zurück, ohne ihnen jedoch in ihrer ganzen Radikalität zu folgen. Vielmehr ließ man in Württemberg zwei Möglichkeiten zu: a) eine radikale Variante, wonach die traditionelle Mikwe durch ein einfaches Wannenbad ersetzt werden könnte, und b) eine gemäßigte Reform, die Neuerungen hinsichtlich der Anlage lediglich in einem gewissen Rahmen und „ohne Verletzung der Ritualgesetze“ vorsah, so der Anspruch des Erlasses. Konkret bedeutete dies Folgendes: 1) Mit der abschließenden Abstimmung der Rabbinerversammlung war für das Judentum im Gebiet des Deutschen Bundes 1845 eine völlig neue Situation entstanden, hatte man doch entschieden, dass auch ordinäres ‚geschöpftes Wasser‘ für die Herstellung eines rituellen Bades zulässig sei (für eine detaillierte Analyse der Beschlüsse siehe Kapitel 6.2.1). Aus dieser – halachisch problematischen und formal völlig unverbindlichen – Entscheidung leitete man nun in Reformkreisen ab, dass „der Absicht des talmudischen Gesetzes vollkommen Genüge geschehe, wenn die israelitische Frau anstatt des bisherigen Tauchbades eines einfachen Wannenbades sich bediene.“ Die Israelitische Oberkirchenbehörde Württembergs, als oberste staatliche Stelle für jüdische Religionsangelegenheiten, stufte ein gewöhnliches Bad sogar ausdrücklich als zweckmäßiger ein (Normalerlass, Teil II). Dieser 125 Vgl. Teil I des Erlasses, StA Ludwigsburg, F 188 Bü 1401: Erlass des Ministeriums des Innern an die vier Kreisregierungen vom 4.8.1846. Sofern nicht anders angegeben, beziehen sich die Ausführungen und Zitate in diesem Kapitel auf den Text des Normalerlasses; ein Abdruck der Quelle findet sich in Anhang II.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
Einschätzung entsprechend sollten die im Normalerlass aufgestellten Vorschriften für Mikwen auch nicht für alle Gemeinden verbindlich sein, sondern lediglich dann gelten, wenn man noch an der Tradition festhalten wollte.126 Ein Wannenbad anstelle der Mikwe war somit nicht nur auf individueller Ebene durch die Beschlüsse der Rabbinerversammlung zu rechtfertigen, sondern in Württemberg sogar von der höchsten religiösen Instanz offiziell erlaubt! Für die württembergischen Gemeinden bot sich hierdurch zwar theoretisch eine kostensparende Alternative zur Einrichtung einer Mikwe, in der Praxis war ihr Handlungsspielraum jedoch ungeachtet dieser Klausel sehr begrenzt, wie das Beispiel Creglingen vor Augen führt: Sobald ein Teil der Gemeinde dies wünschte, musste eine dem Normalerlass entsprechende Mikwe unterhalten werden.127 Lediglich in dem kleinen Marktflecken Sulzbach am Kocher (Oberamt Gaildorf, heute Sulzbach-Laufen), wo es allerdings keine jüdische Gemeinde gab, sondern nur einzelne Juden ansässig waren,128 nutzte man möglicherweise – in diesem Fall dann schon seit einigen Jahren – allgemein Wannenbäder anstelle einer Mikwe.129 2) Hinsichtlich der zugrundeliegenden halachischen Regeln unterschied sich eine auf dem Normalerlass basierende Mikwe in drei wesentlichen Punkten von den herkömmlichen Kellermikwen. Erstens erhielt sie ihr Wasser nicht mehr durch den freien Zustrom von Quell- oder Grundwasser. Stattdessen sollte Quell- oder Flusswasser mithilfe von „Teicheln [Röhren] oder Rinnen“ in das Becken gelangen, wobei „das Wasser des Badbehälters w ä hre nd d e s B ad e ns mit der Quelle oder dem Flusse in unmittelbarer Verbindung“ stehen muss, d. h. man nutzte die so genannte Methode der haschaka. In der Frage der Öffnung der Verbindung folgte man somit der strengeren Auffassung, während der Schulchan Aruch unter bestimmten
126 Vgl. die Überschrift von Teil III: „Normen für die Einrichtung der Tauchbäder, wo solche beibehalten werden wollen.“ 127 Zum Fall Creglingen vgl. Kapitel 5.1.2, Abschnitt Rabbiner, Gemeindevorsteher, Traditionalisten und Reformer – von unklaren Grenzverläufen. 128 Vgl. Königlich Württembergisches Hof- und Staats-Handbuch (1839), S. 315f. 129 Die wenigen Hinweise hierzu in behördlichen Berichten sind nicht völlig eindeutig. So heißt es zwar 1843 in einem Bericht des württembergischen Medizinal-Collegiums, dass man in Sulzbach bereits normale Wannenbäder verwende, jedoch scheint diese Aussage ausschließlich auf zwei frühere Berichte von 1839 und 1842 zurückzugehen. Im ersten der beiden, einem Bericht des Oberamts Gaildorf an die Kreisregierung, formuliert der Unterzeichner, dass „für die Frauen der wenigen, im dißeitigen Bezirke (in der Gemeinde Sulzbach) ansäßigen, Juden keine eigenen Bad Einrichtungen bestehen, daß sich die Frauen auf das Baden in Wannen beschränken müßen.“ Diese Aussage, auf welche dann der Bericht von 1842 aufbaut, lässt sich auch so interpretieren, dass nach Einschätzung des christlichen Beamten anstelle der fehlenden Mikwe Wannenbäder zu gebrauchen wären. Vgl. StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht des K. Oberamts Gaildorf vom 31.1.1839; Bericht der K. Regierung für den Jagstkreis in Ellwangen vom 13.5.1842; E 162 I Nr. 1395: Bericht des Medizinal-Collegiums vom 16.2.1843[?].
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Bedingungen selbst eine nur kurzfristig bestehende Verbindung der beiden Wassermassen erlaubt; auf die hiermit verbundene halachische Kontroverse, nämlich die nötige Größe der Verbindungsöffnung, geht man allerdings nicht ein.130 Alternativ konnte man anstelle der haschaka-Technik ein einfaches Becken mit Regenwasser verwenden. Zweitens machte man sich den Umstand zunutze, dass das Tauchbecken bei Anwendung der haschaka-Methode kein Minimum von 40 se’a koscherem Wasser enthalten muss.131 Demnach war es zulässig, „ein ganz geringes Maas“ von Flusswasser durch normales (erwärmtes!) Wasser zu ergänzen, um so die nötige Menge zum Untertauchen wie auch einen ausreichenden Wärmegrad zu garantieren. Als nötiges Gesamtvolumen hierfür nimmt man wieder traditionell 40 se’a an. Bei einer Mikwe auf Regenwasser-Basis war hingegen darauf zu achten, dass dieses Maß schon vorhanden war, bevor man gewärmtes (d. h. geschöpftes) Wasser hinzufügte. In einem dritten Punkt ging man allerdings entschieden über das bis hierher beschriebene Maß an halachischem Freiraum hinaus, indem man auch gewöhnliches („gepumptes“) Wasser zuließ, „wenn es nur nicht unmittelbar in den Badbehälter gepumpt, sondern mittelst Teicheln oder Rinnen hineingeleitet wird.“ Allem Anschein nach bezieht man sich mit dieser so bezeichneten „spätern rabbinischen Vorschrift“ auf eine umstrittene Auslegung der hamschacha-Methode, wonach über den Boden geleitetes gewöhnliches Wasser sogar ganz allein eine koschere Mikwe bilden kann. Diese bei Maimonides beschriebene Auffassung hatte man auch in einem Ausschussbericht der Rabbinerversammlung herangezogen,132 um den dort vertretenen Standpunkt der Zulässigkeit von ‚geschöpftem Wasser‘ weiter zu untermauern.133 Der Einfluss der Israelitischen Oberkirchenbehörde auf diesen halachischen zweiten Teil des Normalerlasses ist unverkennbar; er reflektiert zu großen Teilen diejenigen Positionen, die die Oberkirchenbehörde im Dezember 1845 in einer Antwort an das Medizinal-Collegium geltend machte, das bereits 1843 um eine Stellungnahme zu den religiösen Vorschriften bezüglich der Mikwen gebeten hatte.134 Auch die als Abschluss von Teil II vorgebrachte Auffassung, dass das Tauchbad an sich gar nicht biblisch gefordert ist, sondern sich nur später durch Talmud und
130 Vgl. SchA, Jore de‘a 201,52; zu den halachischen Diskussionen im Zusammenhang mit der Methode der haschaka siehe Jachter, „Mikvaot Part 3“, sowie Kapitel 6.2.2. 131 Vgl. SchA, Jore de‘a 201,52, sowie Kapitel 2.3. 132 Vgl. Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 359–371. Die am Ende von Teil II des Normalerlasses genannte Literaturangabe verweist neben dem eigentlichen Sitzungsprotokoll der Rabbinerversammlung auch auf den genannten Ausschussbericht. 133 Vgl. zu dieser Problematik Kapitel 6.2.1. 134 Siehe StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Note der Israelitischen Oberkirchenbehörde an das Medizinal-Collegium vom 22.12.1845.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
Tradition als Brauch verfestigte, geht auf die Oberkirchenbehörde zurück, die hierin den Argumenten der Rabbinerversammlung folgt. Auf Basis des eingegangenen Antwortschreibens erstellte dann das Medizinal-Collegium seinerseits eine Liste von konkreten Empfehlungen, die es Mitte 1846 an das württembergische Innenministerium richtete; diese haben ihren direkten Niederschlag in den praktischen „Normen für die Einrichtung der Tauchbäder“ (Normalerlass Teil III).135
4.2
Mikwen und staatliche Politik im Gebiet des Deutschen Bundes
Woher kommt aber überhaupt das plötzliche Interesse des württembergischen Staates an einem religiösen Akt und der zugehörigen Einrichtung, die jahrhundertelang vollkommen in der Zuständigkeit der jüdischen Gemeinschaft lag? Zwar war es auch in der Frühen Neuzeit nötig, für den Bau einer Mikwe die Erlaubnis desjenigen Schutzherren einzuholen, unter dessen Schutz eine Gemeinde stand; mit der Erteilung eines entsprechenden Privilegs (und der Regelung der fälligen Abgaben)136 endete dann allerdings dessen Interesse an der Anlage. Auch waren neuzeitliche jüdische ‚Kellerquellenbäder‘ nicht ohne Weiteres mit anderen jüdischen Einrichtungen zu vergleichen. Als einfache Grundwasserbecken in einem Privathaus beanspruchten sie weder möglicherweise knappe Ressourcen (Quellwasser), noch Land wie im Falle eines Friedhofs.137 Anders als Synagogen, die im ländlichen süddeutschen Raum etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts als solche erkennbar und damit Teil des öffentlichen Raums wurden, waren sie dem Blick der christlichen Mehrheitsgesellschaft in der Regel nach wie vor entzogen. Ein öffentliches Interesse, gar ein Ärgernis, wie es bisweilen der eruw – die jüdische
135 Siehe StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des Medizinal-Collegiums vom 2.6.1846. 136 So z. B. bei der 1778 errichteten Mikwe im württembergischen Jebenhausen, siehe Aaron Tänzer, Juden in Jebenhausen und Göppingen, S. 205f. 137 Die Friedhöfe jüdischer Landgemeinden der Neuzeit waren in aller Regel Verbandsfriedhöfe, die sich mehrere Gemeinden zur Bestattung ihrer Toten teilen mussten, und über deren Anlage die jeweilige Obrigkeit entschied. Häufig befinden sie sich deshalb abseits der Ortschaften auf einem Gelände, das sonst nicht bzw. schwer für Land- oder Forstwirtschaft nutzbar war. Vgl. hierzu und allgemein zu jüdischen Friedhöfen Brocke/Müller, Haus des Lebens, speziell S. 12–14.
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Schabbatgrenze z. B. in Form von gespannten Drähten – darstellte,138 begründete die Anlage einer solchen Mikwe somit in keiner Form. Dementsprechend war das im angehenden 19. Jahrhundert erwachende staatliche Interesse an den Mikwen – wie auch bereits anhand der zitierten Quellen deutlich wurde – kein primäres, sondern lediglich ein sekundäres: Wenngleich es die bauliche Einrichtung war, die im Fokus sämtlicher Maßnahmen stand, war das übergeordnete Ziel doch ein anderes, nämlich die Bewahrung der Gesundheit der Benutzerinnen. Aber auch über dieses unmittelbare humanitäre Anliegen hinaus, ein unverkennbares Erbe der Aufklärung, bleibt doch die Frage, wie oder warum es dazu kam, dass dieses Interesse gerade in dem beschriebenen Zeitraum, im Wesentlichen ab den 1820er Jahren, einsetzte. Worin bestanden ausschlaggebende Impulse, welche gesellschaftlichen und politischen Strukturen oder Prozesse trugen dazu bei, begünstigten möglicherweise die Entwicklung? Im Hinblick auf das Jahrhunderte alte Selbstbestimmungsrecht der jüdischen Gemeinden, das hier einen massiven Eingriff erfuhr, ist auch nach dem Umgang von Behörden und Regierungsvertretern mit den Gemeinden zu fragen, sowohl bezogen auf stattfindende Maßnahmen als auch ihre prinzipielle Haltung. Dies soll im Detail für das Königreich Württemberg analysiert werden, während die Situation in anderen Staaten des Deutschen Bundes nur beispielhaft und in groben Zügen dargestellt wird. Auf diese Weise lässt sich ein Gesamtbild, das aufgrund der unterschiedlichen politischen Gegebenheiten in den einzelnen deutschen Staaten alles andere als einheitlich ist, zumindest skizzieren. 4.2.1
Die Mikwe als Politikum: Das Verhältnis von Staat und Ärzteschaft zur jüdischen Gemeinschaft im Königreich Württemberg
Fast exakt ein Jahr bevor die württembergische Regierung 1821 in Sachen der Tauchbäder gesetzgeberisch aktiv wurde, war bereits eine Verfügung ergangen, die ebenfalls eine Angelegenheit von primär religiöser Bedeutung berührte und die Autonomie der jüdischen Gemeinden an dieser Stelle beschnitt. Jedoch handelte es sich bei der „Verfügung des Ministeriums des Innern, die Behandlung der Todten bei den Juden betreffend“ vom 28. August 1820 nicht um ein völlig neues Thema, sondern um die ausdrückliche Ermahnung, dass frühere Gesetze, die das Begraben von Scheintoten verhindern sollten, uneingeschränkt auch auf die
138 Ein Beispiel hierfür findet sich im mittelfränkischen Fürth, wo der Stadtmagistrat 1822 die Entfernung der Eruw-Drähte beschloss, weil diese „der Stadt das Ansehen eines Judenortes“ gaben; Beschluss des Stadtmagistrats vom 1.4.1822, zit. nach: Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 282; für eine kurze Darstellung der Vorgänge siehe ebd. Zum Phänomen eruw an verschiedenen Orten siehe Krings, „Eruv“; für eine Erörterung der antiken Grundlagen des eruw und den Praxisaspekt der Interaktion mit der nichtjüdischen Umwelt seit dem Mittelalter siehe Birgit E. Klein, „Der Ruf nach dem Eruv“.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
„jüdischen Glaubens-Genossen“139 anzuwenden seien. Jüdischerseits hatte erstmals 1772 eine Stellungnahme Moses Mendelssohns (1729–1786) das Thema der ‚frühen Beerdigung‘ bei den Juden in die Tagespolitik eingebracht und somit einen öffentlichen Austragungsort für die Kontroverse zwischen Traditionalisten und Maskilim, jüdischen Aufklärern, geschaffen.140 Nicht nur die im ausgehenden 18. Jahrhundert verbreitete Furcht vor dem Lebendig-Begraben-Werden machte das Thema innerhalb der jüdischen Gemeinschaft hochbrisant,141 vielmehr kristallisierten sich in der Frage nach dem Zeitpunkt der Beisetzung auf sehr anschauliche Weise zwei grundsätzliche Haltungen, deren Ringen miteinander das gesamte 19. Jahrhundert prägen sollte: nämlich ein Verständnis von Judentum, das sich ausschließlich den eigenen Traditionen verpflichtet sieht (spätere Neo-Orthodoxie), und ein solches, das bereit ist, überlieferte Praktiken im Licht moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse und gesellschaftlicher Entwicklungen neu zu bewerten und gegebenenfalls anzupassen (reformorientierte Strömungen). In konsequenter und radikaler Weise äußert sich letztere Haltung in der für die Beerdigungsdebatte zentralen Schrift Von der frühen Beerdigung der Juden (1787) des Berliner Maskil Marcus Herz (1747–1803); anders als zuvor noch Mendelssohn argumentierte der mit ihm befreundete Philosoph und bekannte Arzt von einem rein medizinischen, rationalistisch geprägten Standpunkt aus.142 Modernes medizinisches Wissen, wonach erst nach Verlauf von drei Tagen der Tod mit Sicherheit festgestellt werden könne, stehe zum Wohle des Menschen über dem Anspruch der jüdischen Tradition, die eine umgehende Beerdigung vorsah. Exemplarisch zeigt sich bereits hier, in der ersten öffentlichen Kontroverse zwischen jüdischen Aufklärern und Traditionalisten, wie gerade die Berufsgruppe der Ärzte in der Folgezeit in bestimmten Bereichen in Konkurrenz
139 „Verfügung des Ministeriums des Innern, die Behandlung der Todten bei den Juden betreffend, vom 28. August 1820“, in: F.F. Mayer, Sammlung, S. 24f. 140 Prägend für die Beerdigungs-Debatte wurde sodann die 1787 veröffentlichte Schrift des bekannten jüdischen Arztes und Freundes von Mendelssohn, Marcus Herz, Über die frühe Beerdigung der Juden. Für den Verlauf der Auseinandersetzung um Herz’ Schrift als Teil des Aufklärungsdiskurses siehe Feiner, Haskala, S. 415–422; eine stärker medizingeschichtlich orientierte Darstellung bietet Eberhard Wolff, Medizin, S. 166–196. Für eine ausführliche Erörterung sowohl der innerjüdischen Kontroverse als auch ihres gesamtgesellschaftlichen Kontextes siehe Krochmalnik, „Scheintod“. 141 Vgl. zur Aktualität des Themas in der damaligen deutschen Gesellschaft Krochmalnik, „Scheintod“, S. 109–120. Johann Peter Frank widmet der Problematik nicht nur den letzten Abschnitt von Band 4 (wo er ab S. 738 auch kurz auf die Beerdigung bei den Juden eingeht), sondern gar den gesamten fünften Band seines Werkes System einer vollständigen medicinischen Polizey; Frank, System einer vollständigen medicinischen Polizey, Bd. 4, S. 672–749; Bd. 5. 142 Vgl. Schulte, Die jüdische Aufklärung, S. 165; Krochmalnik, „Scheintod“, S. 140f; Eberhard Wolff, Medizin, S. 180. Für Mendelssohns Standpunkt siehe auch Altmann, Moses Mendelssohn, S. 288–295.
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zu der rabbinisch gebildeten Elite trat;143 auch in der Frage der Modernisierung der Tauchbäder sollten Ärzte, jüdische wie nichtjüdische, eine entscheidende Rolle spielen, und zwar sowohl auf nationaler wie auch lokaler Ebene. 4.2.1.1 Frühe Anstöße zu einer Reform und der Behördenweg
Der entscheidende Impuls für den landesweiten Ministerialerlass des württembergischen Innenministeriums vom 20. August 1821 ging ebenfalls von einem praktizierenden Arzt aus. Hinter der sachlichen Eingangsformel der Verfügung, „Es ist angezeigt worden“144 , mit der die Regierung des Jagstkreises bereits im April angewiesen wurde, über die vorhandenen Tauchbäder Erkundigungen anzustellen, verbirgt sich der kurze aber prägnante Bericht des im Oberamt Göppingen (Donaukreis) tätigen Oberamtsarztes Dr. Hartmann vom 20. Februar 1821: Noch immer besteht bei den Judenfrauen in Jebenhausen der Unfug, daß sie sich, auch im strengsten Winter und bei der abscheulichsten Witterung, nach der monatlichen Reinigung, oder nach einem Wochenbett, im kalten fließenden Wasser, in Beisein 2er Frauen als Urkunds-Personen baden müßen, ohnerachtet diese für Erhaltung der Gesundheit äußerst schädliche Sitte, bei andern aufgeklärteren Judenschaften längst dahin abgeändert worden, daß das Baden nicht mehr in kaltem, fließendem, sondern in erwärmtem Waßer geschieht, wie z.E. in Stuttgardt, Freudenthal u. a. Orten. Da ich nun so häufig die nachtheilige Folgen von diesem wiedersinnigem Gebrauch erfahren mußte, auch gegenwärtig eine junge Frau zu behandlen habe, welche nach geendigtem Wochenbett sich badete, und unmittelbar nach dem Bad einen Schlagfluß mit Halblähmung bekam, so halte ich es um so mehr für Pflicht, Königl. Hochloblichem Oberamt Anzeige davon zu machen, und um baldige Abhülfe dieser der Natur wiedersprechenden Sitte zu bitten als die zwekmäsige Abänderung – 1tens nicht gegen die jüdische ritus streitet, 2tens die Judenfrauen diese Abänderung sowohl einzeln, als in Gesamtheit wünschen, 3tens dieselbe auch wahrscheinlich längst von einem andern Rabbiner angeordnet worden wäre, wenn der gegenwärtige sich nicht im Hintergrunde der Aufklärung befände, u. 4tens die medizinische Polizei nicht die Untergrabung, sondern die Erhaltung der Gesundheit gebietet.145
143 Zu diesem Gedanken und speziell der Rolle der Ärzte in der Beschneidungsdebatte des 19. Jahrhunderts vgl. Eberhard Wolff, „Medizinische Kompetenz und talmudische Autorität“. 144 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Ministerialerlass an die K. Kreisregierung in Ellwangen vom 16.4.1821; für den vollständigen Text der Verfügung siehe oben Kap. 4.1.1. 145 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Eingabe von Dr. Hartmann vom 20.2.1821 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Göppingen vom 10.3.1821/17.3.1821).
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Jedoch war dies keinesfalls die erste Eingabe in Sachen Schädlichkeit der kalten Frauenbäder, die die württembergische Regierung erreichte. Bereits im November 1817 hatten drei um die Gesundheit ihrer Familienangehörigen besorgte Hausväter ihre Bitten um behördliche Anordnung des Gebrauchs warmer Bäder an die höchsten Stellen adressiert, nachdem sie mit ihrem Gesuch auf lokaler Ebene gescheitert waren. Ihre beiden Schreiben beziehen sich zuallererst auf die Situation in Mergentheim, wo „die Folgen der zeither bestandenen kalten Tauche zu merklich bey mehreren Weibern in Mergentheim sich sehr schädlich auf derselben Gesundheit äußerten.“146 Während das eine Schreiben von zwei am Ort ansässigen „Handelsjuden“, Samuel Hirsch und Samuel Jacob Jonas, verfasst wurde, stammt das andere von dem „Königlich Bayerschen Judenschafts Controlleur Meyer Fälklein zu Würzburg“, dessen Tochter Fany Hirsch in Mergentheim verheiratet war. Fälklein ist deshalb in der Lage, auf die Situation im benachbarten Bayern hinzuweisen, wo bereits verfügt worden sei, dass die Frauen „im ganzen Königreiche sich der warmen Tauchen zu bedienen“ haben.147 Der Behördenweg der verschiedenen Schreiben war in beiden Fällen, 1817 und 1821, im Prinzip vergleichbar: Beide Male zeigte sich das Königliche Medizinal-Collegium (bzw. dessen Vorläufer), als letzte Instanz vor dem Innenministerium, von der Richtigkeit der Darstellungen sowie der Schädlichkeit des derzeitigen Zustandes vollkommen überzeugt, man sprach sich klar für die Anordnung „warmer Bäder“ aus, überließ aber das weitere Vorgehen dem „Hohen Ministerium“.148 Nichtsdestotrotz entschloss sich letzteres 1817 lediglich zu einer Empfehlung der warmen Bäder für die Mergentheimer Juden, zu deren fester Einrichtung „aber die Judenschaft auf keinen Fall mit Zwang angehalten werden“ könne.149 Warum also wurde der Staat in dieser Sache erst 1821, und nicht bereits 1817, tätig? Die Entscheidung ging beide Male vom Ministerium des Innern aus, das in diesem Zeitraum dem Innenminister Christian Friedrich von Otto unterstand.150
146 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Eingabe von Meyer Fälklein vom 2.11.1817 (Anlage zum Bericht der K. Section des Medizinal-Wesens vom 10.11.1817); Eingabe von Samuel Hirsch und Samuel Jacob Jonas vom 6.11.1817 (Anlage zum Bericht der K. Section des Medizinal-Wesens vom 10.11.1817). Das Zitat entstammt dem Schreiben von Fälklein. 147 Ebd. 148 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht der K. Section des Medizinal-Wesens vom 10.11.1817; Votum des Medizinal-Collegiums vom 28.3.1821/4.4.1821. 149 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Entscheidung des Innenministeriums vom 14.11.1817; Schreiben des Innenministeriums an das K. Oberamt Mergentheim vom 19.11.1817. Das Zitat entstammt dem Schreiben an das Oberamt Mergentheim. 150 Minister von Otto unterzeichnete sowohl die Entscheidung des Innenministeriums vom 14.11.1817 als auch den Ministerialerlass an die Kreisregierung in Ellwangen vom 16.4.1821. Er bekleidete vom 10.11.1817 bis zum 29.7.1821 das Amt des Innenministers, anschließend war er Präsident des Geheimen Rates; vgl. Schwarzmaier/Taddey (Hgg.), Handbuch, S. 488.
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Ein nicht unbedeutender Unterschied bestand allerdings darin, dass hinter den Eingaben von 1817 einfache Privatpersonen standen, die auf diesem Wege ihre zuallererst persönlichen lokalen Interessen verfolgten. Zwar hatte sich auch bereits der in Mergentheim tätige Oberamtsarzt Dr. Bauer im Vorfeld für das Anliegen stark gemacht, war damals allerdings daran gescheitert, dass sich sowohl auf der Verwaltungsebene des Königlichen Oberamts Mergentheim als auch der Königlichen Landvogtei an der Jagst niemand für eine derartige Angelegenheit – das rituelle Bad einer lokalen Judengemeinde – zuständig fühlte.151 An der letztgenannten Stelle endete dann offensichtlich der Behördenweg; im Zusammenhang mit den Akten der Eingaben von 1817 und 1821 wird ein Schreiben von Dr. Bauer nicht überliefert, und auch das Medizinal-Collegium, dem 1843 eine umfangreiche Dokumentation der Entwicklung seit 1817 (inklusive der Schreiben von Fälklein und Dr. Hartmann) vorlag, erwähnt keine derartige Initiative Dr. Bauers.152 Die Eingabe Dr. Hartmanns von 1821 hingegen ging nicht allein von einem staatlich bestellten Oberamtsarzt aus, sondern formuliert darüber hinaus zumindest implizit auch einen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, wenn er unter anderem darauf hinweist, dass die Frauen sämtlich eine Reform wünschten und dies auch ausdrückliche Aufgabe der medizinischen Polizei sei. Das Oberamt Göppingen, das die Anzeige entgegennahm und samt Begleitschreiben an die Königliche Regierung des Donaukreises weiterleitete, bestätigte diesen Anspruch auch seinerseits, indem es schloss, es „lege diese Angelegenheit um so mehr zur höheren Verfügung vor, als hier von religiösen Gebräuchen die Rede ist, welche auf alle im Königreich befindliche jüdische Gemeinden Einfluß haben, und daher eine Behandlung nach allgemeinen Grundsäzen erfordern[.]“153 In ähnlicher Weise äußerte sich daraufhin auch die Kreisregierung, so dass die Anzeige endgültig dem Rang einer rein lokalen Initiative, wie der in Mergentheim 1817, enthoben war.154 Dass der Eingabe dann in letzter Instanz tatsächlich Erfolg beschieden war, hängt vermutlich auch mit der politischen und gesellschaftlichen Situation im Königreich zusammen, die sich für die jüdische Bevölkerung seit 1817 zwar nicht grundlegend geändert hatte, die aber doch Entwicklungen aufweist, welche eine Entscheidung für ein staatliches Eingreifen ab 1821 begünstigten. Die rechtliche Situation der Juden blieb von 1817 bis 1821 im Wesentlichen unverändert. Bereits seit der Entstehung des Königreichs 1806 galten Juden zunehmend als „Staatsangehörige im weiteren Sinne“ (Paul Tänzer), insofern als ihr Schutzverhältnis nun nicht mehr
151 StA Ludwigsburg E 175 Bü 4403: Bericht von Dr. Bauer vom 9.5.1821 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 24.5.1821). 152 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des Medizinal-Collegiums vom 16.2.1843[?]. 153 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des K. Oberamts Göppingen vom 10.3.1821/17.3.1821. 154 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht der K. Kreisregierung in Ulm vom 21.3.1821.
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gegenüber verschiedenen Schutzherren bestand, sondern gegenüber dem Staat.155 Zwar waren sie im Folgenden formal noch Schutzjuden, wurden aber in der Praxis „stillschweigend“156 mehr und mehr als Untertanen behandelt: Die nunmehr unmittelbaren Beziehungen der Juden zum Staate hatten zur Folge, daß allmählig immer mehr die Staatsgesetze auch auf die Juden ausgedehnt wurden. Ihre Besiehungen [sic] zum Staat kamen denjenigen der Untertanen immer näher, ja es hat sich seit 1806 die Anschauung eingebürgert, daß die Juden a ls Unte r t ane n z u b et r a chte n sind.157
Erst mit dem „Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ von 1828 erhielten Juden im Königreich Württemberg auch formal den Status von Untertanen, wenngleich dies nach wie vor bestimmten Einschränkungen unterlag, die das Gesetz letztlich als ein Erziehungsgesetz kennzeichnen.158 Auf dem Weg zu diesem Gesetz brachte die Entwicklung einer konstitutionellen Monarchie und der damit verbundene ‚Verfassungsstreit‘ neue Impulse für die rechtliche Situation der jüdischen Bevölkerung. Am 18. November 1817 erließ der König in diesem Zusammenhang ein Organisationsedikt, in dem Verwaltung und Rechtspflege in den Kreisen und Oberämtern neu geregelt wurden, und in dem auch die spätere Israelitische Oberkirchenbehörde bereits projektiert war, nämlich als „Commission für das Israelitische Kirchen-, Schul- und Stiftungswesen“159 . Was die äußeren Verhältnisse der Juden anging, so wurden diese jedoch trotz eines vorhandenen königlichen Entwurfs auch in der Verfassungsurkunde vom 25. September 1819 nicht neu geregelt.160 Erst 1820 kam wieder Bewegung in die Angelegenheit, als man auch in der Kammer der Standesherrn sowie der Kammer der Abgeordneten die „dringende“ Notwendigkeit spürte, „die bürgerlichen Verhältnisse der Bekenner des isr. Glaubens durch ein Gesetz zu bestimmen“.161 Ein daraufhin erstellter umfangreicher Bericht des Ministers des Innern Christian Friedrich von Otto kam zu dem abschließenden Urteil, dass weder religiöse noch sonstige Gründe der Erteilung staatsbürgerlicher Rechte an die Juden entgegen
155 Paul Tänzer, Rechtsgeschichte, S. 29; die Bezeichnung „Staatsangehörige im weiteren Sinne“ findet sich auch bei A. Tänzer, Juden in Württemberg, S. 12. 156 Für diese Einschätzung sowie Belege siehe Paul Tänzer, Rechtsgeschichte, S. 30. 157 Ebd., S. 29 (Hervorhebung im Original); vgl. auch ebd., S. 29–31. 158 Zum Inhalt des Gesetzes vgl. A. Tänzer, Juden in Württemberg, S. 32–37; zu dessen Wertung als Erziehungsgesetz siehe o.V., „Verhältnisse der Israeliten in Württemberg“, S. 314. 159 A. Tänzer, Juden in Württemberg, S. 23. 160 Ebd., S. 24f. 161 Schreiben der Kammer der Abgeordneten an den König vom 19.6.1820, zit. nach: A. Tänzer, Juden in Württemberg, S. 25.
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stünden, und eine Kommission wurde mit der Ausarbeitung eines entsprechenden Gesetzesentwurfs beauftragt. Von den ersten gemeinschaftlichen Beratungen im Februar 1821 bis zur Vorlage des Entwurfs vergingen nochmal etwas über drei Jahre; am 25. April 1828 schließlich erhielt das „Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ Gültigkeit.162 Somit waren im März 1821, als Dr. Hartmanns Eingabe die Königliche Regierung des Donaukreises und anschließend das Medizinal-Collegium erreichte, bereits erste Beratungen im Gange, die sich mit der konkreten gesetzlichen Regelung zu einer Neuordnung der „öffentlichen Verhältnisse“ der jüdischen Bevölkerung beschäftigten. An deren Ende sollte ein Gesetz stehen, das die Juden zwar als Untertanen anerkannte, dabei aber noch keine vollständige Gleichstellung mit der christlichen Bevölkerung beinhaltete, vielmehr ihre „unzweifelbare, und keiner Nachprüfung und keines Beweises bedürfende“ Erziehungsbedürftigkeit durch entsprechende Maßnahmen hervorhob.163 Insofern, als man aber zu diesem Zeitpunkt prinzipiell entschlossen war, die jüdische Bevölkerung auf lange Sicht vollständig in den württembergischen Staat einzugliedern, war es wahrscheinlicher, dass eine Eingabe hinsichtlich eines Missstands, der einen religiösen Brauch betraf, Berücksichtigung finden würde – zumal der für die diesbezügliche Entscheidung verantwortliche Innenminister von Otto durch seinen Bericht von 1820 selbst die Grundlage für den Prozess der bürgerlichen Gleichstellung gelegt hatte. Während man die Eingaben von 1817 noch abschlägig beschied mit dem Hinweis darauf, dass ein Zwang in dieser Angelegenheit nicht ausgeübt werden könne, so konnte bzw. wollte man der in Religionsangelegenheiten nach wie vor autonomen jüdischen Gemeinschaft 1821 etwas mehr abverlangen. Angesichts des formulierten Ziels, die jüdische Minderheit zu vollwertigen Staatsbürgern zu erziehen, zögerte der Staat zu diesem Zeitpunkt nicht länger, seine Autorität auch auf Gebiete auszuweiten, die zuvor noch unangetastet blieben. Nichtsdestotrotz war man sich des Umstands, hiermit möglicherweise in religiöse Belange einzugreifen, auf jeder Ebene durchaus bewusst, und man ging die Sache entsprechend vorsichtig an. Insbesondere wurde die Frage der religionsgesetzlichen Zulässigkeit von ‚warmen Bädern‘ im Vorfeld des Ministerialerlasses vom August nochmals umfassend geprüft, obwohl den Behörden von Anfang an verlässliche Hinweise vorlagen, dass solche schon existierten. Bis 1821 beschränkten sich derartige Einrichtungen innerhalb Württembergs auf einzelne, insbesondere auch größere jüdische Gemeinden; in der Eingabe Dr. Hartmanns werden 1821 Stuttgart und Freudental erwähnt, in
162 Vgl. ebd., S. 25–31, sowie Paul Tänzer, Rechtsgeschichte, S. 68–72. 163 A. Tänzer, Juden in Württemberg, S. 36.
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dem resultierenden amtlichen Schriftverkehr zudem Buchau und Laupheim.164 Die Mikwe der wenigen Juden in Stuttgart verdankte ihre Einrichtung vermutlich dem Einfluss dort ansässiger einflussreicher Familien wie der des Hofbankiers Kaulla;165 die übrigen drei Orte waren alle Rabbinatssitze und gehörten für damalige Verhältnisse zu den bedeutenderen Gemeinden.166 Darüber hinaus sind auch die im Jagstkreis 1821 vorhandenen drei warmen Mikwen in Lauchheim, Weikersheim und Pflaumloch zu nennen. Ob staatliche Behörden von letzteren beiden Kenntnis hatten, ist zweifelhaft.167 Im Fall von Lauchheim heißt es im Bericht des Oberamts Ellwangen vom 17. Mai 1821, die wärmbare Mikwe sei 1819 „auf Antrag des JudenVorstehers Isak Heß und durch amtliches Einschreiten“168 eingerichtet worden; allerdings ist wohl davon auszugehen, dass sich in diesem Zusammenhang die amtliche Kenntnis nur auf die unterste Verwaltungsebene erstreckte, da vor 1821 kein allgemeines behördliches Interesse an den jüdischen Ritualbädern vorhanden war. Um den Auftrag des Innenministeriums vom 16. April 1821 auszuführen und in Erfahrung zu bringen, ob die geplante Neuerung „irgend einen erheblichen Anstand oder Widerspruch finde“169 , wurden in der Regel die jeweiligen Judenvorsteher vor Ort befragt, teilweise auch die amtierenden Rabbiner wie der in Oberdorf
164 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Eingabe von Dr. Hartmann vom 20.2.1821 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Göppingen vom 10.3.1821/17.3.1821); Bericht der K. Kreisregierung in Ulm vom 21.3.1821. 165 Vgl. zur Familie Kaulla A. Tänzer, Juden in Württemberg, S. 8f, zur Gemeinde in Stuttgart allgemein auch Sauer, Gemeinden in Württemberg, S. 164–172. 166 Freudental hatte zwischen 204 (1807) und 278 (1824) jüdische Einwohner, Buchau im gleichen Zeitraum zwischen 345 und 504, Laupheim zwischen 270 und 464; siehe Sauer, Gemeinden in Württemberg, S. 34, 80, 118. Zur Größe und Bedeutung der Gemeinden innerhalb Württembergs zu Beginn des 19. Jahrhunderts siehe die Darstellung nebst Karte in Rohrbacher, Die jüdische Landgemeinde, S. 4–6. 167 Im Fall von Weikersheim lag diese Tatsache noch nicht einmal im Juli 1821 der Kreisregierung in Ellwangen vor, die in ihrem Bericht vom 24. des Monats nur Lauchheim und Pflaumloch erwähnt. Hintergrund ist aller Wahrscheinlichkeit nach der, dass es sich bei der Mikwe in Weikersheim um eine private Einrichtung der Familie des Hofagenten Pfeiffer handelt, die bei der behördlichen Untersuchung zunächst unberücksichtigt blieb (vgl. zu Weikersheim auch Kapitel 5.1.1); StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht der K. Regierung des Jagstkreises in Ellwangen vom 24.7.1821; Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 5.11.1821. Zu Familie Pfeiffer siehe Sauer, Gemeinden in Württemberg, S. 189f. 168 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Ellwangen vom 17.5.1821. Zu Isak Heß vgl. Kapitel 5.1.2, Abschnitt Rabbiner, Gemeindevorsteher, Traditionalisten und Reformer – von unklaren Grenzverläufen. 169 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Ministerialerlass an die K. Kreisregierung in Ellwangen vom 16.4.1821.
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(Oberamt Öhringen) und Niederstetten (Oberamt Gerabronn). Rabbiner Kunreuther aus Mergentheim wurde offensichtlich nicht persönlich vorgeladen, jedoch erreichten zwei frühere Stellungnahmen von ihm aus dem Jahr 1817 die Königliche Kreisregierung in Ellwangen.170 Demnach waren die jüdischen Gemeinden wie auch Rabbiner der Sache gegenüber prinzipiell aufgeschlossen, letztere bestanden lediglich auf dem Grundsatz, dass „die Einrichtung hiebey aber nur unter Anordnung des Rabbiners nach den jüdischen Gesetzen geschehen könne.“171 Das Haupthindernis für die flächendeckende Einführung warmer Tauchbäder bildeten, so das Fazit der Regierung des Jagstkreises, keine religiösen, sondern rein materielle Gründe, konkret „die Kosten der Einrichtung […] und der Aufwand für Holz“, teilweise auch der fehlende Raum in den Gewölben.172 Wie bereits weiter oben beschrieben, war auch das anschließende Vorgehen der Regierung des Jagstkreises bei der Umsetzung des Ministerialerlasses von 1821 von Zurückhaltung geprägt. Nicht wenigen Gemeinden wurde die Einrichtung zur Erwärmung des Wassers vorerst erlassen, da die allgemeine finanzielle Bedrängnis der Juden auch den Behörden hinreichend bekannt war; so berichtet etwa das Oberamt Neresheim am 9. Mai 1821 an die Kreisregierung: Gerade bei der gegenwärtigen Zeit, wo der Schacher und Güterhandel der Juden sehr beschränkt ist, ist auch der Erwerb für dieselbe in gleichem Grade beschränkt, gerade in dem gegenwärtigen Zeitpunkte wird die Ausführbarkeit der Errichtung warmer Bääder als GesundheitsAnstallt bei den ärmeren Juden Gemeinden um so schwieriger, als sie mit Gewinnung ihrer Nahrung und Leistung ihrer Abgaben, mehr als je zu thun haben.173
Für die Einhaltung der in einem solchen Fall gewöhnlich akzeptierten Notlösung, wonach für ärmere Nutzerinnen Holz auf Gemeindekosten bereitzustellen war, wurden die Judenvorsteher der jeweiligen Gemeinde verantwortlich gemacht. Diese hatten bereits seit 1812 eine Art Beamtenstatus, indem sie darauf vereidigt waren, für die Ausführung der königlichen Gesetze und Verordnungen Sorge zu tragen.174 170 StA Ludwigsburg E 175 Bü 4403: Schreiben von R. Kunreuther an Dr. Bauer vom 17.4.1817 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 24.5.1821); Schreiben von R. Kunreuther an Dr. Bauer vom 18.6.1817 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Oehringen vom 15.5.1821). Zu Rabbiner Kunreuther vgl. auch Kapitel 5.1.2, Abschnitt Rabbiner, Gemeindevorsteher, Traditionalisten und Reformer – von unklaren Grenzverläufen. 171 So die Darstellung in dem Bericht der Regierung des Jagstkreises; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht der K. Regierung des Jagstkreises in Ellwangen vom 24.7.1821. 172 Ebd. 173 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 9.5.1821. 174 Paul Tänzer, Rechtsgeschichte, S. 53, und A. Tänzer, Juden in Württemberg, S. 18. Die einschlägigen Verordnungen wie insbesondere die vom 20.10.1812, sind abgedruckt bei F.F. Mayer, Sammlung, S. 14.
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Die württembergische Regierung konnte somit bereits 1821, zehn Jahre vor der Einsetzung einer Israelitischen Oberkirchenbehörde, auf geeignete Verwaltungsstrukturen zurückgreifen, um selbst innergemeindliche jüdische Belange zu regeln; die spezifische Einrichtung des jüdischen Frauenbads war mit diesem Schritt de facto der alleinigen Zuständigkeit eines Rabbiners entzogen und zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden. Erleichtert wurde diese Entwicklung dadurch, dass „der Befehl zum Erbauen eines warmen Bades“ auch jüdischerseits nicht der Kompetenz des Rabbiners zugerechnet wurde, sondern „eine Sache der Vorgänger, oder vielmehr der ganzen jüdischen Commun ist“, wie Rabbiner Kunreuther 1817 mitteilte.175 Seitens der Gemeindevorsteher (oder „Vorgänger“) wiederum wurde diese Einmischung nicht nur stillschweigend akzeptiert, sondern der Staat bisweilen durchaus als Verbündeter angesehen, um die modernen Bäder gegen innerjüdische Vorbehalte durchzusetzen (hierzu sowie zur Rolle der jüdischen Gemeinschaft bei der Reform der Mikwen weiter unten in Kapitel 5.1). 4.2.1.2 Die Frage der Mikwe zwischen Medikalisierung und staatlicher Neukonsolidierung
Nicht nur vor dem Hintergrund, dass 1821 die Anzeige eines Arztes das ausschlaggebende Moment darstellte, muss über die genannten gesellschaftlich-politischen Faktoren hinaus auch nach dem Einfluss der Ärzteschaft gefragt werden. Sie waren es letztlich, die durch ihre Berichte im Rahmen der so genannten MedizinalVisitationen der 1830er Jahre den Prozess der Umgestaltung der Mikwen in Württemberg erneut in Gang brachten, nachdem sich dieser allein in der Frage der Erwärmung festgefahren hatte. Sie waren eine erste Anlaufstelle für Jüdinnen und Juden, die sich um ihre Gesundheit oder die ihrer Angehörigen sorgten, wie im Fall von Dr. Bauer 1817. Auf diese Weise erfüllten die Ärzte eine wichtige Mittlerrolle zwischen jüdischer Bevölkerung und Staat; sie machten den Staat auf gesundheitspolitische Missstände aufmerksam und setzten sich für das gesundheitliche Wohlergehen der Bevölkerung ein. Dies geschah jedoch zumeist nur punktuell, ohne langfristiges Engagement oder Vernetzung mit anderen Ärzten zur Durchsetzung einer gemeinsamen ‚Vision‘, in aller Regel auch nur in direkter Ausübung des ihnen von behördlicher Seite gegebenen Auftrags zur Beurteilung einer Mikwe in ihrem Bezirk. Wenngleich einzelne Ärzte in ihren Gutachten durchaus ihre Expertise in Gesundheitsfragen geltend machten, übten sie doch erst auf der Ebene des Medizinal-Collegiums einen unmittelbaren Einfluss auf politische Entscheidungen aus – und dass dieser begrenzt war, zeigen die Vorgänge um die Eingaben von 1817
175 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Schreiben von R. Kunreuther an Dr. Bauer vom 18.6.1817 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Oehringen vom 15.5.1821).
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und 1821, als mehr oder weniger gleichlautende Empfehlungen des MedizinalCollegiums dennoch zu unterschiedlichen Reaktionen des Innenministeriums führten.176 Anzeichen für eine gezielte Professionalisierungspolitik der Ärzteschaft, eine bewusste Festigung der eigenen Position im Rahmen eines Prozesses, der als ‚Medikalisierung‘177 der Gesellschaft beschrieben wird, lässt sich aus den vorhandenen Dokumenten in dieser Sache nicht erkennen. Nur wenige Ärzte agierten im Sinne eines aktiven Eintretens für die Verbesserung der Mikwen, während die Mehrzahl lediglich re-agierte, indem sie ihre amtsärztlichen Pflichten erfüllte. Insofern scheint auch hier zuzutreffen, was Francisca Loetz in ihrer umfangreichen Studie zur Medikalisierung 1750–1850 bezogen auf Baden feststellt, dass eher der Staat die Ärzte für seine Interessen funktionalisierte als umgekehrt.178 Tatsächlich waren die gesamtstaatliche Situation und die damit verbundenen Aufgaben in beiden Staaten in dieser Zeit in zentralen Punkten vergleichbar, was sich auch auf die Ziele und Struktur der Gesundheitsverwaltung auswirkte: […] so entstand [in Baden] seit Beginn des 19. Jahrhunderts eine klar hierarchisch strukturierte Gesundheitsverwaltung, die das territorial stark gewachsene Großherzogtum in ihren bürokratischen Griff nahm. Dieser Prozeß jedoch beruhte nicht auf spezifischen gesundheitspolitischen Konzepten, sondern war – wie in Württemberg und Bayern – Bestandteil der globalen Verwaltungsreformen des 19. Jahrhunderts und damit ein Element der inneren Staatsbildung.179
Auch die staatlichen Vorschriften für Mikwen in Württemberg sind durchaus in diesem Zusammenhang der inneren Konsolidierung des neuen, vergrößerten Staates zu sehen, erfüllten sie doch sogar einen doppelten Zweck: Einerseits bestätigten, festigten und erweiterten sie allgemein die bereits bestehenden Verwaltungsstrukturen; andererseits erprobte deren Anwendung ganz konkret die Tragfähigkeit der neuen Beziehung der jüdischen Gemeinschaft zum Staat, die mit Schaffung der Israelitischen Oberkirchenbehörde 1831 auch formal eine neue Rechtsgrundlage erhielt. Offiziell wurden die jüdischen Gemeinden Württembergs erst hierdurch vollständig in den Staatsapparat integriert; direkt dem Ministerium des Innern unterstellt, diente diese – 1817 bereits vorgesehene – Behörde unter Leitung eines
176 Diese Beobachtung deckt sich ebenfalls mit der in Enzyklopädie Medizingeschichte geäußerten Einschätzung, dass der politische Einfluss der Medizinal-Collegien im Allgemeinen sehr gering war; siehe Dross u. a., „Gesundheitswesen, öffentliches“, S. 488. 177 Für eine knappe medizingeschichtliche Einordnung des Begriffs siehe Wolfgang Eckart, Medizin, S. 192; für dessen Problematisierung innerhalb der neuesten Forschung vgl. Loetz, „Medikalisierung“. 178 Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 144. 179 Ebd., S. 153
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christlichen Regierungskommissärs dazu, das öffentliche religiöse Leben von zentraler Stelle aus zu organisieren und zu lenken.180 Da selbst rein religiöse Belange von der Oberkirchenbehörde nicht autonom geregelt werden konnten, setzte sich auf diese Weise der Erziehungscharakter des Gesetzes von 1828 auch im kultischen Bereich fort.181 Nichtsdestotrotz darf der Einfluss der Ärzte auf den Prozess der Modernisierung der Mikwen nicht verkannt werden. Allerdings lag ihre Bedeutung eben nicht in einem gemeinsamen, zielgerichteten Auftreten, weder innerhalb Württembergs noch anderswo, sondern sie fungierten gewissermaßen als Katalysator in dem beschriebenen gesellschaftlich-politischen Prozess. Aufgrund ihrer unbestrittenen medizinischen Expertise waren Einzelne in der Lage, in mehr oder weniger direkter Weise und abhängig von ihrem persönlichen Einsatz für die Sache, auf den staatlichen Kurs Einfluss zu nehmen, allen voran der jüdische Arzt Moritz Mombert mit seinen Schriften von 1828 und 1830. Darüber hinaus förderten sie in ihrer Gesamtheit maßgeblich das politische Bewusstsein auf jüdischer wie nichtjüdischer Seite dafür, dass die Jahrhunderte alte Einrichtung des kalten Frauenbads den bevorstehenden Eintritt der Juden in die bürgerliche Gesellschaft nur unter geänderten Vorzeichen überdauern konnte bzw. durfte. Bewusst oder unbewusst nahmen sämtliche Ärzte, die sich mit der Problematik des Frauenbades beschäftigten, somit Einfluss auf einen gesellschaftlichen Prozess, der sich in den größeren Zusammenhang der sogenannten Medikalisierung einordnen lässt. Während die deutsche Forschung Medikalisierung zumeist nur als die Geschichte der Disziplinierung bestimmter Bevölkerungsschichten durch eine gezielte staatliche Gesundheitspolitik versteht,182 bedarf dieses Konzept nach Loetz der Ergänzung: Disziplinierung ist nicht allein ein Vorgang, in dem Interessenkollektive gegen widerständige Kräfte Macht ausüben. Disziplinierung entsteht auch durch Herrschaftsausübung kraft „Autorität“ und die eigenständige „rationale“ Einordnung der Betroffenen in Herrschaftsverhältnisse.183
Nach diesem wechselseitigen Verständnis von Disziplinierung eignen sich nicht nur Staat und Ärzteschaft eine bestimmte Macht über die Bevölkerung an, sondern diese, hier die jüdische, trägt wiederum auch medizinische Ansprüche an die Ärzteschaft heran. Ärzte berichten (in Württemberg und anderswo) aufgrund ihres Kontaktes mit jüdischen Frauen von medizinischen Missständen, sie werden 180 Zu Struktur und Kompetenzen der Oberkirchenbehörde siehe Michael A. Meyer, „Jüdische Gemeinden im Übergang“, S. 116f. 181 Vgl. A. Tänzer, Juden in Württemberg, S. 69. 182 Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 47. 183 Ebd., S. 50.
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hierin bestärkt durch einschlägige Beiträge in Fachzeitschriften184 und Momberts einflussreiche Schrift von 1828. Ärzte – und in Folge Behörden – werden so Verbündete im innerjüdischen Kampf gegen die kalten und gesundheitsschädlichen Ritualbäder. In diesem Sinn ist Medikalisierung tatsächlich ein „wechselseitiger“ und „produktiver“185 Vorgang, der auch im Fall der Mikwen eine ganz eigene Dynamik entwickelte. Allerdings hat auch dieser für die betroffenen Frauen zunächst positive Vorgang wieder eine Kehrseite. Waren gesundheitliche Schäden infolge des Untertauchens in der kalten Mikwe zuvor primär tragisches Einzelschicksal (und nicht weiter thematisiert), so wurden diese nun erstmals ins Licht der Öffentlichkeit gerückt und in diesem Sinn von den Ärzten als Krankheit gewissermaßen völlig neu ‚erfunden‘. Krankheit ist aber nicht allein eine persönliche Befindlichkeit, sondern steht darüber hinaus „für die physischen, ökonomischen, politischen, moralischen und kulturellen Normvorstellungen einer Gesellschaft von Gesundheit und Krankheit.“186 Werden bestimmte Symptome als Krankheit gewertet, so lässt dies zugleich Rückschlüsse auf die Normen einer Gesellschaft zu, und in diesem Sinne sind Beschreibungen einer Krankheit und deren Ursachen auch Spiegelbild, gewissermaßen Diagnose, der Gesellschaft. Die ‚neue‘ Krankheit, ausgelöst durch Befolgen einer religiösen Vorschrift, passte natürlich umso weniger in eine aufgeklärte, in zunehmendem Maße gesundheitsbewusste Gesellschaft, als sie ein selbst verschuldetes Leiden war – und eine Einrichtung, die dies befördert, war folglich zu verurteilen.187 Zwar geriet das Wohlergehen der Frauen trotz der gesellschaftlich-politischen Dimension des Themas – der Debatte, inwieweit Juden zur vollständigen Emanzipation in der Lage seien – nie aus dem Blick der Ärzte, jedoch wurden sie bis zu einem gewissen Grad dennoch instrumentalisiert. Die an dieser Stelle eigentlich zu vollziehende strikte Unterscheidung zwischen einem einzelnen Missstand auf der einen Seite, und dem Judentum sowie dessen Anhängern auf der anderen Seite, gelang in den Darstellungen nicht immer. Vielmehr wurde
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Vgl. die Übersicht zu medizinischen Schriften in Tabelle 4 a und b (Anhang I). Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 50. Ebd., S. 51. Die Verantwortung des Einzelnen, Leben und Gesundheit durch vernünftiges, gesundheitsbewusstes Verhalten zu bewahren, war nicht nur Thema in ärztlichen Schriften seit der Aufklärung, sondern durchaus auch gesellschaftliche Realität. Beispielsweise beobachtet Loetz für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Markgrafschaft Baden-Durlach im Zusammenhang mit dem Auftreten der Ruhr das verstärkte Bemühen des Staates, gesundheitsbewusstes Verhalten als moralische Pflicht der Untertanen darzustellen. Bei Nichtbeachtung der staatlichen Ratschläge lud eine Person die „schwere Schuld des Selbstmords auf sich“ (Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 156, Hervorhebung im Original). Für den ideengeschichtlichen Aspekt der „Säkularisierten Gesundheit“ vgl. diesen Abschnitt bei Krauss, „Hygiene“, S. 95–98.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
die Mikwe auch als Ausdruck und Symbol religiös-kultureller Identität wahrgenommen, und entsprechend ist bei Kritik an der Einrichtung immer zu fragen, inwieweit sich diese auch auf das Judentum an sich bezieht und den Juden hiermit implizit die Fähigkeit zur Integration in die bürgerliche Gesellschaft abspricht. Wenngleich dieser Gedanke in der Regel nicht ausgeführt wird,188 ist in manchen ärztlichen wie auch behördlichen Berichten doch eine gewisse Ambivalenz spürbar und zeichnet so das Bild einer Gesellschaft, die sich in vielerlei Signalen des Umbruchs noch neu finden muss. 4.2.1.3 Die behördlichen Berichte als Spiegel gesellschaftlicher Umbrüche
In den allermeisten Fällen ist die Berichterstattung über die jüdischen Frauenbäder tatsächlich sehr sachlich, und zwar sowohl was die direkten ‚Augenzeugenberichte‘ der Ärzte angeht als auch die zwischenbehördlichen Schriftstücke von Verwaltungsbeamten. Die Ärzte handelten hier als Individuen, die sich allein oder vor allem anderen ihrem Berufsethos und dem damit verbundenen humanitären Anliegen verpflichtet sahen, sich für das Wohl aller Menschen einzusetzen, völlig unabhängig von gesellschaftlichen Entwicklungen oder politischen Vorgaben. Diesen Anspruch formuliert der in Münster tätige Arzt Herrmann Wolff gleichsam als Auftakt zu seinem 1838 in Henkes renommierter Zeitschrift für die Staatsarzneikunde erschienenen Beitrag zur Mikwenproblematik: „Sobald der Arzt einen Juden immancipirt, das heißt, sobald er ihn in die Hand nimmt, um seinen Puls zu fühlen, alsobald ist er auch e manc ipi r t, nemlich der Jude ist völlig gleichgestellt jedem anderen Staatsbürger“.189 Der nach wie vor präsente Impuls der Aufklärung verlieh dem originären ärztlichen Anspruch zugleich eine aktuelle gesellschaftspolitische Dimension, entsprach es doch dem Fortschrittsgedanken der Aufklärer, ganz allgemein eine bessere medizinische Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten.
188 In den hier betrachteten Dokumenten findet sich ein solch direkter Zusammenhang lediglich in einem im Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach in Auftrag gegebenen Gutachten; siehe Kapitel 4.2.2.3. 189 Die vollständige Passage lautet: „Mag auch in deutschen Kammern über die bürgerliche Gleichstellung der Juden herüber und hinüber debattirt und discutiert werden; mögen hier Verbesserungen, dort Rückschritte vorgenommen werden: bei den Aerzten, ich möchte sagen, bei den Aerzten allein, genießen die Juden vollkommen gleiche Rechte mit den übrigen Staatsangehörigen, wenn sie nemlich krank sind. Sobald der Arzt einen Juden immancipirt, das heißt, sobald er ihn in die Hand nimmt, um seinen Puls zu fühlen, alsobald ist er auch e manc ipi r t, nemlich der Jude ist völlig gleichgestellt jedem anderen Staatsbürger, das heißt, er kann vollkommen überzeugt seyn, daß die Kunst seines Arztes, sowie bei jedem Staatsbürger, so auch bei ihm, Alles aufbieten werde, seine Gesundheit wieder herzustellen, sein Leben zu erhalten. Dies beweist die hohe Stufe der Humanität der Aerzte.“; Herrmann Wolff, „Zustand der Judenfrauenbäder“, S. 173.
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Ob und inwieweit die Haltung der einzelnen Ärzte oder anderer Beteiligter dabei auch konkret von dem Ideengut der Aufklärung geprägt war, lässt sich auf der Basis der in diesem Zusammenhang betrachteten Schriftstücke zwar nicht immer entscheiden, jedoch stellt sich das behördliche Vorgehen von Anfang an sehr klar in diesen Begründungszusammenhang: Das „Baden“ der Judenfrauen im kalten Wasser sei eine „unnatürliche“, nämlich „für das Leben und die Gesundheit höchst schädliche Sitte“, wie es in der Einleitungsformel der Verfügung des württembergischen Innenministeriums vom 16. April 1821 heißt.190 Noch deutlicher bewegt sich die Anzeige von Dr. Hartmann,191 der Auslöser hierfür wie auch für sämtliche folgenden staatlichen Maßnahmen, in diesem ideologischen Rahmen, wenn hier nicht nur von dem „Unfug“192 der Juden in Jebenhausen die Rede ist, sondern deren Verhalten zugleich als „wiedersinnig“ bezeichnet wird, d. h. „dem gesunden menschenverstand, der vernunft widersprechend; verkehrt, absurd, irrsinnig“ – eine Bedeutung, die das Wort seit dem 18. Jahrhundert zunehmend erhielt.193 Hartmanns abschließender Appell, für Abhilfe zu sorgen, zeichnet zugleich das Kräftedreieck auf, innerhalb dessen der Kampf der aufgeklärten Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts gegen die kalten Mikwen stattfand: 1) der mit Vernunft begabte Mensch, der seiner „Natur“ gemäß (und nicht gegen sie!) zu handeln verpflichtet ist; 2) die Forderungen von „Ritus“ oder Religion (einschließlich der Rabbiner), die der Vernunft mitunter widersprechen; 3) der Herrschaftsanspruch und die Verantwortung des Staates, welche in der Einrichtung der „medizinischen Polizei“ ihren Ausdruck finden. Die Mikwe als Symptom religiöser Rückständigkeit
Eine ähnliche Haltung wie die Dr. Hartmanns spricht aus der Kritik Dr. Bauers aus Mergentheim an dem Tauchbad in Neunkirchen. Besonders in diesem Fall wird deutlich, wie wenig sich aus dem Umstand, dass Kritik geäußert wird, bereits auf die persönliche Haltung des Verfassers gegenüber der jüdischen Bevölkerung schließen lässt, besonders dann, wenn es sich um aufklärerische Vorbehalte handelt. Vielmehr mag sich hinter kritischen Tönen bisweilen auch eine starke persönliche Betroffenheit verbergen; in Dr. Bauers impliziter Kritik an der Irrationalität der
190 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Ministerialerlass an die K. Kreisregierung in Ellwangen vom 16.4.1821. 191 Für den vollständigen Text vgl. oben Kapitel 4.2.1.1. 192 Der Begriff ist im 19. Jahrhundert wesentlich vielschichtiger als heute. Nach dem Grimmschen Wörterbuch bezeichnet das Nomen in seiner Hauptbedeutung etwas Unpassendes „mit rücksicht auf sittlichkeit, sitte und practischen verstand“; die für Hartmanns Schreiben wohl zutreffende Bedeutungsnuance ist „übelstand, miszbrauch“; siehe DWB 24, unter ‚Unfug‘. 193 Siehe DWB 29, unter ‚widersinnig‘.
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religiösen Vorschriften zeichnet sich gerade auch das Ringen eines aufgeklärten, praktisch denkenden Arztes mit der für ihn befremdlichen jüdischen Religion ab: Die Zweckmäsigkeit der Bad Einrichtung selbst ist in mehreren Stücken schwer zu begreifen. – Es scheint selbst der menschliche Scharfsinn sich große Mühe gegeben zu haben, um mit unnöthigem Kostenaufwand etwas Unzweckmäsiges zu Stande zu bringen; wenn nicht etwa besondere Satzungen u. Deutungen des mosaischen Gesetzes einen Sinn bringen, in das für den gewöhnlichen Verstand unsinnig Erscheinende.194
Die Tatsache, dass Dr. Bauer sich über den ganzen Zeitraum seiner Tätigkeit – beginnend 1817, als seine Unterstützung von jüdischen Familien in Mergentheim gesucht wurde – für die Verbesserung der Mikwen einsetzte, spricht ebenfalls für eine solche Interpretation. In anderen Berichten werden hingegen offen „religiöse Vorurtheile“, „Mangel an Aufklärung“, „blinder Eifer“,195 der „Fanatismus der Rabbiner“196 oder die „beschränkten Ansichten der meisten Rabbiner“197 beklagt. Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört die Darstellung des Judentums als eine Religion, in der Frauen geringgeschätzt werden, da ihre Gesundheit durch die religiösen Gebote aufs Spiel gesetzt werde, wohingegen „die Erhaltung der Gesundheit eine der ersten Pflichten aller Religionen seye.“198 Auch diesbezüglich begegnet indirekte Kritik, wie weiter unten in dem zitierten Bericht Dr. Bauers:
194 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Bauer über die Mikwe in Neunkirchen vom 10.1.1839 (Anlage zum Bericht des Bezirksamts Weikersheim vom 14.1.1839). 195 Für die genannten drei Begriffe siehe StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht der K. Regierung des Mainkreises vom 26.9.1829. Vgl. auch den Artikel der Tageszeitung Das Inland von 1830, der die Ergebnisse der Untersuchungen im gesamten Königreich mit sehr ähnlichen Worten kommentiert: „Vorurtheile, Eigensinn und blinde Anhänglichkeit am Alten“ verhinderten oft die Einrichtung oder Nutzung von geeigneten Mikwen (o.V., „Ueber das bey den Juden gebräuchliche Keller-Quellenbad“, S. 22). 196 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Gutachten der Medizinischen Section des Großherzogtums Würzburg vom 27.11.1811. 197 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht der K. Regierung des Jagstkreises in Ellwangen vom 24.7.1821. 198 So die Feststellung des Landgerichts Alzenau in der Sitzung vom 16. Dezember 1822, in der ein Gutachten zum Zustand der Mikwen in Alzenau und Hörstein (heute Landkreis Aschaffenburg) vorgestellt wurde; StA Würzburg, Landratsamt Alzenau, Nr. 2100: Landgericht Alzenau, 16.12.1822, zit. nach: Körner, „Der Gesundheit sehr nachteilig“, S. 115.
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[…] wäre der einfachen Hausthüre von Brettern noch eine 2te (Doppelthüre) von Strohgeflecht beigegeben, (wie man sie ja auch an jeden Viehstall anzubringen, der Mühe werth hält) so könnte man eine recht leidlich erwärmte Luft in dem BadGemach erwarten.199
Offen ausgesprochen wird der Gedanke der Geringschätzung der jüdischen Frauen dagegen in dem frühen Bericht der Regierung des Jagstkreises in Ellwangen von 1821: Ein aufgeklärter Israelite, der, ohne genannt seyn zu wollen, seine Gedanken in einem übergebenen den Akten beyliegenden Aufsatze niederlegte, sucht diese Abänderung des mosaischen Gesetzes [d. h. die strengere Auslegung der Vorschriften für eine nidda] hauptsächlich in der Geringschätzung die die israelitischen Weiber schon von den Rabbinen des Mittelalters zu erdulden hatten, und die sich auch noch bis auf die jezigen Zeiten fortgepflanzt haben, wie die Verhältniße dieser Weiber sowohl in bürgerlicher als kirchlicher Hinsicht laut bezeugen.200
Leider ist der genannte Aufsatz nicht erhalten. Eindrücklich ins Bild gesetzt wurde diese Einschätzung schließlich in dem zusammenfassenden Bericht des Oberamts Mergentheim vom 23. Februar 1839, wonach die jüdischen Tauchbäder „wahre Spelunken sind, und zur MörderGrube des FrauenGeschlechts dienen.“201 Dem gab die Regierung des Jagstkreises in ihrem Bericht an das Innenministerium vom 13. Mai 1842 ausdrücklich recht, und der Begriff „Mördergrube des Frauengeschlechts“ avancierte seitdem in den amtlichen Berichten des Königreichs zum geflügelten Wort, das wenigstens bis 1853 noch zitiert wurde.202 Dass die Ansicht über die Verantwortungslosigkeit nicht nur über Württemberg hinaus verbreitet, sondern die damit einhergehende herablassende Haltung auch vollkommen ‚salonfähig‘ war, zeigt der gedruckte Jahresbericht des Großherzoglich badischen Landescommissärs für die Kreise Waldshut, Lörrach und Freiburg für das Jahr 1865: An diese und noch eine Anzahl kleinerer öffentlicher Bäder reihen sich die warmen israelitischen Frauenbäder an, welche, seit die Sanitätspolizei auch von ihnen Kenntnis nimmt, sich in menschlichem Zustande befinden, während sie früher beinahe ohne Ausnahme eher allem Andern, als Reinigungsanstalten glichen. Die israelitischen Frauen
199 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Bauer über die Mikwe in Neunkirchen vom 10.1.1839 (Anlage zum Bericht des Bezirksamts Weikersheim vom 14.1.1839). 200 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht der K. Regierung des Jagstkreises in Ellwangen vom 24.7.1821. 201 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839. 202 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht der K. Regierung für den Jagstkreis in Ellwangen vom 13.5.1842; Bericht des Regierungsrats über die Mikwe in Ernsbach vom 15.8.1853.
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erkennen mit Dank, daß die großh. Regierung die Sorge übernommen hat, deren sich ihre Glaubensgenossen entzogen.203 Die Mikwe als Symptom kulturell-sozialer Rückständigkeit
Gemessen am Maßstab der Aufklärung musste eine Religion, deren Anhänger an irrationalen Glaubensgeboten festhielten, als rückständig gelten. Neben dieser religiösen Rückständigkeit implizieren viele Berichte aber zugleich eine kulturell-soziale Rückständigkeit der Juden, die sich in dem Umstand äußert, dass die Mikwen sehr häufig vernachlässigt und ‚unrein‘ sind. Und während im ersten Fall „blinder Eifer“ das Abrücken von überholten Vorstellungen verhindert, ist es im anderen Fall die verbreitete (wenngleich nicht allgemeine) „Indolenz“204 , d. h. fehlende Bereitschaft oder Willenskraft der Juden, Veränderungen zu bewirken.205 Beispielhaft zeigt sich die Verbindung der beiden Ebenen (religiöse und kulturell-soziale Rückständigkeit) in dem Bericht des Oberamtsarztes Dr. Wolshofer über das Frauenbad in Hengstfeld. Die Kritik an den Grundsätzen der Religion versteckt sich auch hier in dem Vorwurf, die „Gesundheit ihrer Frauen“ leichtfertig aufs Spiel zu setzen, während die Passivität der Juden offen kritisiert wird: [In] Hengstfeld ist die Tauche noch kalt und ganz unrein, ob man gleich die Judenschaft daselbst schon öfters aufgefordert hat, für eine bessere und der Gesundheit ihrer Frauen ein zu erwärmendes Reinigungs Bad einzurichten; allein sie schützten immer die Kosten vor und dadurch war mit ihnen nichts anzufangen, wird nicht amtlich auf die Verbesserung gedrungen, so leisten sie gar nichts.206
So wie in diesem Bericht wird den Juden auch andernorts bis auf sehr wenige Ausnahmen nicht direkt der fehlende Sinn für Reinlichkeit vorgeworfen, sondern nur der diesbezüglich mangelhafte Zustand der jeweiligen Anlage vermerkt. Lediglich an zwei Stellen der hier untersuchten Schriftstücke ist nicht von Orten, sondern von den Jüdinnen und Juden selbst die Rede: In einem Bericht der Regierung des 203 Jahres-Berichte der Großherzoglich badischen Landes-Commissäre 1865, S. 31. 204 „Vorzüglich sind es Armuth, Localität, Indolenz u[nd] das Festhalten an alten Sazungen, die einer zweckmäsigen Reform entgegen stehen. […] Was die Indolenz der Juden betrifft, so ist sie nicht allgemein, und auf jeden Fall werden der gebildete Theil u[nd] die Frauen auf Seiten der Reform seyn […]“; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Note der K. Regierung für den Jagstkreis in Ellwangen an das Medizinal-Collegium vom 13.5.1842. 205 Für die Bedeutung des Wortes ‚Indolenz‘ siehe die ausführliche Erklärung in Brockhaus’ Conversations-Lexicon von 1819: „Empfindungslosigkeit, Unempfindlichkeit, Gefühllosigkeit, Gleichgültigkeit, Trägheit. Dieß sind die verschiedenen Worte und Begriffe, durch welche man die Indolenz zu erklären sucht.“ (Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie, unter ‚Indolenz‘). 206 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Wolshofer vom 1.3.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 14.3.1839).
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Untermainkreises in Würzburg von 1829 wird ganz offen ausgesprochen, dass „bei dem jüdischen Volke überhaupt der richtige Reinigkeitssinn nicht herrscht“.207 Des weiteren bemerkt der Regierungs-Medizinalreferent und Obermedizinalrat aus Fulda Dr. Schneider in den Annalen der Staats-Arzneikunde zur Situation in Kurhessen, dass „schmutzige“ Frauen „bei Jüdinnen gar keine Seltenheit“ seien.208 Mikwe und Judentum im Deutungsraster der Aufklärung
Nichtsdestotrotz darf man nicht verkennen, dass selbst das Detail der bloßen Unreinlichkeit der Anlagen aufgrund der Häufigkeit des Befundes nicht unbedeutend ist, da es hervorragend in das Schema der religiösen Rückständigkeit passt, dieses um die kulturell-soziale Komponente erweitert. Ganz unabhängig von der Intention des einzelnen Verfassers entsteht in der Summe ein Bild der Mikwe, die durch zweierlei gekennzeichnet ist: irrationale, veraltete Glaubensvorschriften und Unreinheit. Hinzu kommt, dass die Räumlichkeiten nicht nur als unrein, sondern sehr häufig auch als „dunkel“, „finster“, „düster“ oder „dumpf “209 beschrieben werden, letzteres in der Bedeutung von „drückenden, meist feuchten, moderigen dunst, düsterheit enthaltend oder verbreitend“210 – was natürlich bei Kellermikwen nicht weiter verwunderlich ist. Beispielhaft hierfür sei die Darstellung der Mikwe in Steinbach genannt, deren Lage „in einem düsteren, finstern, moderigen Keller“ Oberamtsarzt Dr. Dürr zum ausdrucksstarken Auftakt seines Berichtes macht, indem er gleich
207 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht der K. Regierung des Mainkreises vom 26.9.1829. 208 Schneider ergänzt die von Mombert übernommene bekannte Stelle, wonach „die schmutzige Frau aus der Hefe des Volks“ die Mikwen gemeinsam mit reinlichen Frauen nutzen, durch den Kommentar, erstere seien „bei Jüdinnen gar keine Seltenheit“ (J. Schneider, „Ueber die Schädlichkeit der Kellerbäder“, S. 541; Moritz Mombert, „Bad“, S. 282). 209 Eine Note des württembergischen Medizinal-Collegiums an die Oberkirchenbehörde hebt, über die nicht effektive Erwärmung des Wassers hinaus, 1843 folgende Mängel hervor: „die Einrichtung der meisten Tauchen in unterirdischen kalten dumpfen Räumen, der gewöhnliche Mangel an Heizvorrichtungen für die Badlokale, die große Unreinlichkeit, welche in letzteren sowohl als in den Bädern selbst zu herrschen pflegt, u. dgl. m.“ (StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Note des Medizinal-Collegiums an die Israelitische Oberkirchenbehörde vom 7.4.1843). Vgl. auch die Darstellung in einem Gutachten der Medizinischen Section in Würzburg von 1811, wo von „einem kalten, feuchten und dumpfen Lokale“ die Rede ist (StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Gutachten der Medizinischen Section des Großherzogtums Würzburg vom 27.11.1811). Ähnlich äußert sich auch ein Zeitungsbericht über die Ergebnisse ärztlicher Untersuchungen im bayerischen Rezatkreis ab 1828, wonach sich die Mikwen „fast ohne Ausnahme in finsteren, feuchten, dumpfigen und kalten Kellern“ befanden (o.V., „Ueber das bey den Juden gebräuchliche Keller-Quellenbad“, S. 21). 210 Siehe DWB 2, unter ‚dumpf, adj. und adv.‘
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drei Attribute aus dem genannten semantischen Feld vereint.211 In dem Bericht von Oberamtsarzt Dr. Bund über das Frauenbad in Lauchheim findet sich hingegen gleich eingangs in aller Deutlichkeit die Verknüpfung mit dem Attribut der Unreinlichkeit, ergänzt noch durch die implizite Botschaft der Gefahr, die von einer ungesicherten Treppe ausgeht: „Das Local ist eine Art von Keller, ungepflastert, finster, feucht und schmuzig, in welchen eine steinerne Treppe ohne Lehne hinabführt.“212 Die Beispiele ließen sich beliebig fortführen. Mit dieser Art von Charakterisierung bewegt man sich aber – bewusst oder unbewusst – im Bildraster der Aufklärung:213 Schmutz und Dunkelheit sind einerseits, sehr wahrscheinlich, real wahrgenommene Zustände,214 andererseits fügen sie sich auf völlig natürliche Weise in den verbreiteten ‚Betrachtungsmodus‘ der Aufklärung und entwickeln so ihre Leuchtkraft. Nicht zuletzt in der Zusammenschau mit den Texten Momberts, die weithin rezipiert wurden,215 dürfte diese spezielle Bildsprache eine größere Wirkung beim Rezipienten (der Beamtenschaft) erzielen, als es die direkte Aussage, es fehle der „richtige Reinigkeitssinn“ leisten kann. Der bei manchen Ärzten und Beamten vorhandene Vorbehalt der jüdischen Rückständigkeit in religiöser oder kulturell-sozialer Hinsicht wird somit mittels eines einfachen aber eindrücklichen Bildes transportiert bzw. verfestigt und durch das Deutungsmuster der Aufklärung zusätzlich legitimiert. Obwohl die hier betrachteten Berichte über den Zustand der Mikwen im Allgemeinen sehr neutral gehalten sind und nur an wenigen Stellen Kritik zum Vorschein kommt, ist dieser Blickwinkel einer christlichen Ärzte- und Beamtenschaft somit in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Zum einen zeichnen die Berichte in ihrer Summe das Bild, das derjenige Teil der Bevölkerung von der jüdischen Minderheit hat, der aufgrund seiner Bildung und beruflichen Tätigkeit aktiv an der Gestaltung einer neuen staatsrechtlichen Beziehung zur jüdischen Bevölkerung, sei es in Theorie oder Praxis, beteiligt war. Wo über die sachliche Darstellung hinaus eine persönliche Haltung spürbar ist, begegnet entweder die unverfälschte Ansicht des Verfassers oder aber das, was im Rahmen einer behördlichen Darstellung als
211 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Dürr über die Mikwe in Steinbach vom 19.3.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Hall vom 23.3.1839). 212 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Bund über die Mikwe in Lauchheim vom 20.3.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Ellwangen vom 3.4.1839). 213 Auch Schlich weist bereits auf die von den Aufklärern übernommene Lichtmetaphorik hin, wonach die Mikwe als „ein Ort der Dunkelheit“ charakterisiert wird; vgl. Schlich, „Medizin“, S. 181. 214 Die Frage nach dem tatsächlichen Reinlichkeitsgrad der Anlagen ist dabei natürlich schon deshalb schwer zu beantworten, weil keine Berichte aus anderer Perspektive, z. B. seitens der Nutzerinnen, vorliegen. Da die meisten amtsärztlichen Texte jedoch relativ nüchtern, keineswegs etwa polemisch, berichten, und die Kellergewölbe zudem häufig noch für andere Zwecke als das rituelle Untertauchen genutzt wurden, scheinen diesbezügliche Mängel durchaus glaubhaft. 215 Vgl. hierzu Kapitel 6.1.1.
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angemessen, ‚politisch korrekt‘ erschien; man erhält somit, zumindest ansatzweise, die damals verkehrsfähige Einstellung der staatstragenden Bevölkerungsschicht gegenüber den Juden. Zum anderen zeigt sich bereits hier, dass die Mikwe tatsächlich wesentlich mehr ist als eine verbesserungsbedürftige jüdische Einrichtung. Selbst in diesen ganz aus der Praxis stammenden und für einen sehr beschränkten Zweck erstellten Berichten erscheint das Ritualbad als ein aussagekräftiges Symbol oder Gradmesser der gesellschaftlichen Integration der Juden bzw. ihrer Fähigkeit hierzu, wenngleich der Wirkungsrahmen natürlich ein völlig anderer ist als der von programmatischen Schriften zur Mikwe, wie sie in Kapitel 6.1.1 thematisiert werden sollen. Was die Berichte interessant macht, ist dementsprechend nicht primär die Frage nach der Geisteshaltung des einzelnen Verfassers, sondern vielmehr die umgekehrte Blickrichtung: Welches überindividuelle ‚Bewusstsein‘ tritt hier zutage und wird in dem staatlich gelenkten Prozess der Modernisierung der Mikwen zugleich aktiv geformt? Diese bei der Beamten- und Ärzteschaft vorherrschende Haltung ist, wie beschrieben, charakterisiert durch eine Mischung von aufklärerischem Ideengut und teilweise materiellen Vorbehalten gegenüber der jüdischen Minderheit. Was die Berichte darüber hinaus in stärkerem Maß als ‚offizielle‘ Stellungnahmen zum Ausdruck bringen, sind die vielfältigen Nuancen bzw. die Dimension, in der sich die gedankliche Auseinandersetzung mit einer als fremd empfundenen Tradition abspielte: von aufklärerischem Ringen, über stereotype Vorurteile, bis zu herablassendem Spott, wie in der ironischen Darstellungsweise von Dr. Wanner: [zu Berlichingen] Der Boden derselben ist weder gepflastert noch gebrettert, sondern es liegt auf demselben blos ein kleines Stück Brett und auf diesem ein alter Sack, wahrscheinlich der Auskleideplatz für die badende Nymphen. – Nun führen 9 schlechte, rauhe steinerne Treppen zum eigentlichen BadeRaum /: resp. Loch :/ das ein länglichtes Viereck bildet […]. […] [zu Bieringen] Es befindet sich in diesem Bade kein Keßel zum Erwärmen des ZugußWaßers, es muß also die Badende Schöne wohlgemuth in das mit eiskaltem Waßer angefüllte Kellerloch steigen, dort nöthigenfalls noch vorher die Eisdecke einschlagen, um sich endlich dort – sage dreimal unter der strengen Kontrolle der Badefrau mit dem ganzen Körper unterzutauchen. Bey dem Hinuntersteigen hat sich aber die Badende noch wohl in Acht zu nehmen, daß sie kein Bein, oder gar den Hals bricht, denn vermög der sehr schlechten Beschaffenheit der beiden ersten Treppen, ist das Hinabsteigen in das BadGewölbe wirklich ein halsbrechendes Geschäft, und glücklich darf sich daher die gereinigte JudenSchöne schätzen, wenn sie diesem doppelt lebensgefährlichen Ackt mit heiler Haut entgeht. – Die Thüre zu der Bad Stube wird niemals verschloßen, es steht also auch von da aus der Unreinlichkeit Thür u. Angel offen. […]
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Beym Niederschreiben vorstehender Zeilen kann ich nicht unterlaßen, den innigen Wunsch auszusprechen: – die wie für Alles, so auch für die GesundheitsPolizey so große FürSorge der Hohen Regierung möchte in dem vorliegenden Falle mit aller Strenge zu Werke gehen, damit nicht etwa dies gute Werk – an der unzuverläßigen Willenskraft der Judenschaft wieder scheitern geht.216
Auch in Dr. Wanners Ausführung begegnen die bereits genannten Topoi: Unreinlichkeit sowie mangelnde Willensstärke als Charakteristika der Juden bzw. Geringschätzung der jüdischen Frauen (die man unnötigen Gefahren aussetzt) als Kennzeichen ihrer Religion. Zugleich spiegelt sich in seinen Assoziationen geradezu exemplarisch die Ambivalenz der Erfahrung des Fremden, das zugleich als verlockend und bedrohlich wahrgenommen wird:217 Den Ort, der nur unter Todesgefahr zu erreichen ist, belebt die Einbildungskraft des Betrachters mit badenden Nymphen und jüdischen Schönheiten. Andererseits zeigt sich an Schilderungen wie dieser möglicherweise auch symptomatisch ein Wesensmerkmal der Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts, nämlich eine gewisse Verunsicherung bei Teilen der christlichen Mehrheitsgesellschaft, deren Beziehung zur jüdischen Bevölkerung aufgrund der stattfindenden Umbrüche noch nicht fest umrissen war. So wie die jüdische Gemeinschaft noch keinen festen Platz in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft hatte, so musste auch das durch die Aufklärung und den angestoßenen Prozess der Emanzipation erforderliche neue Verhältnis zu ihnen erst noch konkrete Gestalt annehmen, sich langsam formen. Diese Art von Verunsicherung konnte sich durchaus in der von Dr. Wanner gewählten ironisch-spöttischen Haltung Luft machen, eine Ironie des Überlegenen, der aber seine Position in irgendeiner Form als bedroht wahrnimmt.218 Was darüber hinaus an dieser Stelle sehr deutlich wird, ist der erzieherische Anspruch, die Vorstellung von einem angesichts dieser Kombination von Rückständigkeit (religiös-kulturell-sozial) und fehlender Reife zur Strenge genötigten Staat. In gewisser Weise findet sich in den beiden Passagen aus Dr. Wanners Bericht somit auch die Komplexität der Position des württembergischen Staates in der Frage der Mikwen beispielhaft abgebildet. Dass ein damaliger Staat seine Bürger bis zu einem gewissen Grad bevormundete, war einerseits zunächst nichts Außergewöhnliches.
216 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Wanner über die Mikwen in Berlichingen und Bieringen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 10.2.1839). 217 Ich beziehe mich hierbei auf Waldenfels’ Bestimmung des Begriffs, vgl. Waldenfels, Topographie des Fremden, S. 44. Zur Darstellung des Fremden im medizinischen Diskurs über die Mikwe vgl. auch Kapitel 6.1.1.2, insbesondere die Abschnitte Die Bildsprache des Raumes (1–3) und Zwischen Ausgrenzung und Integration: Mikwen und Emanzipationspolitik. 218 Vgl. zu dieser Form von Ironie die Darstellung von Groeben/Scheele, Produktion und Rezeption von Ironie, S. 145, 158.
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Eine ähnliche Haltung dürfte auch vielen anderen gesundheitspolitischen Maßnahmen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zugrunde gelegen haben. Wie Francisca Loetz überzeugend für Baden darlegt, war die staatliche Gesundheitspolitik in diesem Zeitraum eine Mischung aus Fürsorge und Beschneidung individueller Freiheiten (was im Extremfall auch die Strafandrohung nicht ausschloss),219 basierend auf dem Fortschrittsgedanken der Aufklärung. Auch scheute der Staat in Einzelfällen nicht davor zurück, sich in Alltags-Angelegenheiten einzumischen, die einen direkten Bezug zur christlichen Religion aufwiesen. So verbot der badische Staat 1808 das Kirchenglockenläuten bei Gewitter wegen der damit verbundenen Gefahr, vom Blitz getroffen zu werden, und 1827 wurde das ‚Zügenläuten‘ für Sterbende mit einer zweifachen medizinischen Begründung untersagt: Dies sei nicht nur eine emotionale Belastung, sondern darüber hinaus werde durch den entstehenden Andrang im Zimmer des Sterbenden auch die Luft verdorben.220 Andererseits war der Umgang mit der jüdischen Bevölkerungsgruppe nichtsdestotrotz ein Sonderfall, ging man doch hier davon aus, dass diese generell noch zu erziehen sei, was sich nicht zuletzt in dem Erziehungscharakter des Gesetzes von 1828 äußerte. Dabei unterschied sich ihre Situation in der Praxis nicht unbedingt von der anderer Bevölkerungsteile, die in dem Prozess der Medikalisierung durch gezielte staatliche Disziplinierungs-Maßnahmen, einschließlich Sanktionen, zu einem politisch erwünschten Verhalten in Gesundheitsfragen erzogen werden sollten.221 Im Wesentlichen war hierbei der Umgang des Staates mit seinen Bürgern, jüdischen wie nichtjüdischen, respektvoll, insofern als er die besonderen Lebensumstände berücksichtigte;222 nicht nur das konkrete Vorgehen bei der Umsetzung von behördlichen Vorgaben, auch die Art und Weise der Berichterstattung über die Mikwen spiegelt im Großen und Ganzen eine solche Grundhaltung wider. Der große Unterschied liegt jedoch darin, dass der Staat mit diesen Maßnahmen nicht das Verhalten einzelner Untertanen im Blick hatte, sondern vielmehr die Disziplinierung einer bisher außerhalb stehenden und fest umrissenen Gruppe beabsichtigte; die jüdische Gemeinschaft als solche sollte ihres Sonderstatus enthoben und in die staatliche Verwaltungsstruktur eingebunden werden, was ab 1831 durch die Oberkirchenbehörde auch formal gegeben war. Die Reform der Mikwe, eine
219 Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 161–169. 220 Ebd., S. 159; zum Topos der verdorbenen Luft siehe auch Kapitel 5.2 (Beispiel Crailsheim). 221 Beispiele für einen indirekt ausgeübten staatlichen Zwang finden sich im Zusammenhang mit der Krätzekampagne von 1830 sowie der Pockenschutzimpfung bis in die 1830er Jahre in Baden; siehe Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 160–163. 222 Wie Loetz für Baden feststellt, waren Strafen oder Zwangsmaßnahmen gegen arme Bevölkerungsteile eine Ausnahme, vielmehr stellte sich der Staat auf die Seite der Armen, und räumte seinen Untertanen in medizinischen Einzelfragen auch durchaus Entscheidungsfreiheiten ein; siehe Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 164f.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
zunächst jüdische Aufgabe, wurde hier zur öffentlichen ‚Staatsangelegenheit‘, da ein solches Vorgehen nicht nur mit allgemeinen gesundheitspolitischen Zielen übereinstimmte, sondern darüber hinaus den jungen Staat in der Phase der inneren Konsolidierung stärkte. Unter dem Vorzeichen der vom Staat in Aussicht gestellten vollständigen Emanzipation avancierte die Mikwe so von einer rein innerjüdischen Religionsangelegenheit zu einem Thema von gesellschaftlicher Tragweite. 4.2.2
Die Situation der Mikwen in den Staaten des Deutschen Bundes
Im staatlich gelenkten Prozess der Modernisierung der Mikwen in Württemberg hatte man von Anfang an auch die benachbarten Territorien des süddeutschen Raums im Blick, in denen sich in etwa zur gleichen Zeit eine ähnliche Entwicklung vollzog. Wie bereits im vorausgehenden Kapitel angesprochen, zeigen sich insbesondere deutliche Parallelen zum Großherzogtum Baden, das in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht vor ähnliche Herausforderungen gestellt war; auch hier galt es, für das nach 1806 stark vergrößerte Gebiet der ehemaligen Markgrafschaft und seine Einwohner geeignete Verwaltungsstrukturen zu schaffen, die sich ebenso nach der Umwandlung in eine konstitutionelle Monarchie 1818 zu bewähren hatten. 4.2.2.1 Großherzogtum Baden
Anders als in Württemberg erlangten Juden im Großherzogtum Baden223 jedoch bereits innerhalb weniger Jahre, gemäß dem Judenedikt von 1809, eine weitgehende rechtliche Gleichstellung mit den christlichen Untertanen; zugleich wurde das Judentum als eine Konfession nicht nur anerkannt, sondern analog den christlichen Kirchen in den Staatsapparat eingebunden.224 An der Spitze des nunmehr hierarchisch geordneten Gemeindewesens stand fortan der ‚Oberrat der Israeliten in Baden‘, ab 1812 unter dem Vorsitz eines christlichen Ministerialkommissärs.225 Auf diese Weise verfügte der badische Staat wesentlich früher als sein Nachbar Württemberg über geeignete Mittel, um auch auf Entwicklungen im religiösen Bereich Einfluss zu nehmen, und tatsächlich wurde hier bereits 1822, auf der Grundlage von
223 Erste Ausführungen zu diesem Punkt erschienen 2016 im Rahmen einer online-Veröffentlichung für den Schulunterricht (Schostak, „Baden in Baden“, S. 21–24). 224 Für eine ausführliche Darstellung der rechtlichen Situation der Juden in Baden siehe Paulus, „Geschichte der Juden Badens“. 225 Vgl. Michael A. Meyer, „Jüdische Gemeinden im Übergang“, S. 115f; Paulus, „Geschichte der Juden Badens“, S. 33f. Für den größeren Zusammenhang der Emanzipation der Juden in Baden siehe Rürup, „Die Emanzipation der Juden in Baden“, in: ders., Emanzipation und Antisemitismus, S. 37–73.
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Vorschlägen des Oberrats der Israeliten, eine sehr weitreichende Verfügung, „Die religiösen Bäder der israelitischen Weiber betreffend“, erlassen, die fortschrittlichste Regelung, die für die damalige Zeit bekannt ist. Demnach war in sämtlichen jüdischen Gemeinden Badens innerhalb eines Jahres unter anderem dafür zu sorgen, „daß sowohl das Bad selbst, als das Badezimmer gehörig gewärmt werden kann.“226 Für die Einhaltung der halachischen Kriterien hatte der zuständige Bezirksrabbiner Sorge zu tragen. Während die Erwärmung des Wassers in jüdischen Gemeinden auch andernorts mitunter schon praktiziert oder zumindest thematisiert wurde, stellte die konsequente Forderung nach Beheizung auch des Umgebungsraums zu diesem Zeitpunkt ein Novum dar. Lediglich in einer entsprechenden Verordnung im Großherzogtum Hessen wurde dieser Punkt 1825 ebenfalls angemahnt; in anderen Gebieten setzte ein behördliches Interesse, das über die bloße Erwärmung des Wassers hinausging, noch später ein: in Bayern ab 1828/29, im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach nach 1829, in Württemberg gar erst mit den „Normen für die Einrichtung der Tauchbäder“ von 1846.227 Ungeachtet des hohen Anspruchs dürften sich in der praktischen Umsetzung der Vorschriften in den hauptsächlich ländlichen jüdischen Gemeinden Badens ähnliche Schwierigkeiten wie in Württemberg eingestellt haben, so dass eine rasche und flächendeckende Einrichtung warmer Ritualbäder nur langsam verwirklicht werden konnte. Auch räumt die Regelung von 1822 „ganz armen Gemeinden, welche zur Bestreitung des Aufwandes durchaus unvermögend sind, […] dispensationsweise eine ausgedehntere Frist zur Herstellung eines warmen Bades“ ein.228 Einen Eindruck davon, wie zögerlich die Verwirklichung in den ersten Jahren tatsächlich verlief, vermittelt eine Schilderung des badischen Amtsarztes für den Bezirk Ettenheim Dr. Peter Joseph Schneider.229 Ausgehend von seinen persönlichen Erfahrungen mit jüdischen Patienten und Patientinnen hinterfragt Schneider in seiner Schrift von 1825 die von ihm wahrgenommenen „Religionsgebräuche und Sitten des israelitischen Volkes“ aus ärztlicher Sicht kritisch;230 auf den genannten
226 „Verfügung des großherz. Ministerii des Innern vom 11. September 1822 an den israelitischen Oberrath. Die religiösen Bäder der israelitischen Weiber betreffend“, in: Eiseneck (Hg.), Sammlung, S. 319f, hier S. 320. 227 Siehe hierzu die folgenden Darstellungen sowie die tabellarische Übersicht in Kapitel 4.2.2.7. 228 „Verfügung des großherz. Ministerii des Innern vom 11. September 1822“, in: Eiseneck, Sammlung, S. 320. 229 Peter Joseph Schneider (1791–1871) war neben seiner Tätigkeit als Arzt, unter anderem in Ettenheim, auch als Verfasser zahlreicher Schriften hauptsächlich auf dem Gebiet der Staatsarzneikunde bekannt, sowie als Redakteur der Zeitung Annalen der Staatsarzneikunde. Zu seiner Biographie vgl. Pagel, „Schneider, Peter Joseph“, S. 143f. 230 Vgl. den Titel seiner 1825 veröffentlichten Abhandlung: P. J. Schneider, „Medizinisch polizeiliche Würdigung einiger Religionsgebräuche und Sitten des israelitischen Volkes, rücksichtlich ihres Einflusses auf den Gesundheitszustand desselben“. Hierin beschäftigt sich Schneider über die
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Erlass hin engagierte er sich für die Verbesserung der Mikwen, zeigte sich aber schnell ernüchtert. Seine „häufigen und angestrengten Bemühungen“ unter den etwa 3.000 Juden seines Bezirks blieben, so seine Darstellung, „fruchtlos“:231 Die allgemeine große Geldnoth ward endlich als der triftigste Grund gegen die Erbauung der warmen Bäder angeführt und vorgeschützt, und gegen ein solches inhaltsschweres Argument konnte ich freilich länger nicht mehr ankämpfen. […] Nur zu S ch m i ehe i m, wo der Sitz des Rabbiners ist, ward endlich ein wirklich niedliches jüdisches Badhaus erbaut, dessen Entstehung der Thätigkeit des sehr achtbaren und aufgeklärten Rabbiners Günsburger daselbst zu verdanken ist.232
Schneider gibt sich – mit dem der Aufklärung typischen Optimismus – dennoch zuversichtlich, dass die „wohlthätige Wirkung“ dieses positiven Beispiels über kurz oder lang erkannt und zur Einrichtung von weiteren zweckmäßigen Tauchbädern führen würde,233 und tatsächlich entstanden in den Folgejahren, nach Schneiders Veröffentlichung, in fast allen anderen Ortschaften seines Amtsbezirks mit jüdischer Bevölkerung neue Einrichtungen: bis 1827 in Rust und Kippenheim, sowie 1828 in Altdorf, wo er als Amtsarzt zuvor die Örtlichkeit geprüft und genehmigt hatte.234 Nichtsdestotrotz erhoben einige Gemeindemitglieder bereits 1834 schwerwiegende Vorwürfe gegen das Bad in Rust: Das Reinigungsbad dahier, ist nicht allein ein sogenanntes Strudelloch, welches sehr oft bereits eine Wassertiefe von zwey Mannshöhn erreicht, sondern winters Zeit müßen die Weiber die es unumgänglich zu besuchen haben erst das Eis aufschlagen laßen ungeachtet daß es nicht warm gemacht werden kann.235
Diese hier nur schlaglichtartig und für einen sehr begrenzten Raum beleuchtete Situation scheint allerdings keine Ausnahme darzustellen. Vielmehr deutet ein 1842 im Rahmen des Vereins badischer Medizinalbeamter gehaltener Vortrag darauf
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jüdischen Reinheitsgesetze hinaus noch mit der Beschneidung, den Speisegeboten, jüdischer Lebensführung, sowie Beerdigungsriten und Trauervorschriften. Ebd., S. 255. Ebd., S. 255f. Über Rabbiner Joseph-Josle Günsburger (1757–1842) ist nur sehr wenig bekannt, siehe „Günsburger, Joseph-Josle“, in BHR 1,1, S. 396. Ebd. S. 256. Lediglich über Ettenheim selbst ist bisher nichts bekannt; vergleiche hierzu die Darstellung von Weis, „Ettenheim“, S. 91–107. Zu Rust siehe auch Debacher „Rust“, S. 423–426. GLA Karlsruhe Abt. 360/1169, zit. nach: Debacher, „Rust“, S. 424; vgl. auch die Beurteilung durch das Physikat Ettenheim, ebd.
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hin, dass im gesamten Großherzogtum seit 1822 in der Realität nur geringe Fortschritte erzielt wurden, die Situation somit der in Württemberg relativ ähnlich war. Weder die Gesamteinrichtung dieser als „Höhlen des Schreckens“236 dargestellten Kelleranlagen, noch die Erwärmung von Mikwenwasser und Umgebungsraum sei im Allgemeinen zufriedenstellend, so der in Adelsheim tätige Arzt Dr. Gustav Mezger:237 In den von Schmutz aller Art starrenden Kellergewölben finden wir Gruben mit schlammigstem Wasser gefüllt, welches oft stinkt und nicht selten mit einer schillernden Haut bedeckt ist. […] Es ist dabei wahrhaft charakteristisch, dass, wo zum Beispiel die Einrichtung zur Heizung des Raums oder zur Erwärmung des Wassers getroffen ist, entweder der Kessel zu klein oder die Röhre zerbrochen oder der Kamin defect, kurz sicher ein Mangel angetroffen wird, der den Gebrauch entweder unmöglich oder nutzlos oder beschwerlich macht.238
Auch hinsichtlich der Erneuerung des Wassers und Reinigung der Becken herrschten nach wie vor große Defizite, so dass Mezger abschließend darauf drängt, die rituellen Bäder fortan mit größter Strenge zu beaufsichtigen und in Zusammenarbeit mit dem israelitischen Oberrat auf deren Verbesserung zu dringen.239 4.2.2.2 Königreich Bayern
Im Königreich Bayern bildete erst ein Erlass vom 15. Oktober 1828 den Auftakt zu einer umfassenderen staatlichen Aufsicht über die jüdischen Ritualbäder. Hierin wurden die einzelnen Kreise angewiesen, durch die zuständigen Gerichtsärzte in sämtlichen Bezirken den Zustand der Einrichtungen sorgfältig prüfen zu lassen und – „mit Rücksichtsnahme auf die israelitischen Religionsgebräuche“ – gegebenenfalls umgehend für Verbesserungen zu sorgen.240 Konkrete Vorgaben hinsichtlich des vorausgesetzten Standards enthielt die Verfügung allerdings nicht, vielmehr verwies 236 Mezger verwendet den Begriff insgesamt dreimal, davon zweimal in Verbindung mit der hierdurch hervorgerufenen Empfindung „Schauder“ (Mezger, „Bäder“, S. 143, 144, 148; siehe zu Mezgers Schrift auch Kapitel 6.1.1.2). 237 Mezger war als Amtsarzt für das badische Bezirksamt Adelsheim zuständig, und damit für 1.112 jüdische Einwohner im Jahr 1843; vgl. Hof- und Staats-Handbuch des Grossherzogthums Baden (1843), S. 272. Für die einzelnen Gemeinden (mit insgesamt elf Mikwen, so Mezger, „Bäder“, S. 141) siehe ebd., S. 272–274. 238 Mezger, „Bäder“, S. 143f. Mezger führt weiter aus, dass bei den meisten Anlagen der Umgebungsraum überhaupt nicht heizbar sei; ebd. S. 146. 239 Ebd., S. 148, 152f, 154f. 240 „(Die Kellerquellenbäder der Israelitinnen betreffend.) Auf Befehl Seiner Majestät des Königs.“ (15.10.1828), in: Döllinger, Sammlung, S. 151.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
sie stattdessen auf die im gleichen Jahr veröffentlichte, in der Folgezeit enorm einflussreiche Schrift Das gesetzlich verordnete Kellerquellenbad der Israelitinnen. Der ansonsten nicht weiter bekannte Verfasser Moritz Mombert, ein im kurhessischen Wanfried tätiger jüdischer Arzt,241 kritisierte hierin einerseits das kalte Wasser der traditionellen Tauchbäder, andererseits erstmals auch dessen Unreinheit als Quelle von Infektionskrankheiten. Dabei richtete sich sein dringender Appell zur Abhilfe nicht nur an den engeren Kreis der Ärzteschaft, sondern letztlich an jeden aufgeklärten Leser, der bereit war, selbst eine religiöse Einrichtung am Maßstab der Vernunft zu messen. Mombert mache es „den Staatsbehörden zur Pflicht, diese Kellerquellenbäder gesetzlich zu verbieten“, so eine Rezension im Summarium des Neuesten aus der gesammten Medicin, deren Fazit lautet: „Es verdient also die Schrift die höchste Beachtung von Seiten der legislativen und administrativen Behörden, so wie von Seiten der Aerzte“.242 In Bayern wurde diese für die Beurteilung der Mikwen zentrale Schrift den Kreisregierungen direkt mit dem Erlass von 1828 zugestellt, weshalb ich letzteren fortan auch einfach als ‚Mombert-Erlass‘ bezeichne. Wie die unmittelbar folgenden Untersuchungen in Bayern zeigen, dürfte sich die Situation der 1828/29 im Königreich vorgefundenen Mikwen von derjenigen im benachbarten Baden und Württemberg nicht wesentlich unterschieden haben. So waren allein im Rezatkreis, dem heutigen Mittelfranken, von den 182 inspizierten Tauchbädern 171 im „schlechtesten Zustande“, während nur vier als „zweckmäßig“ und weitere sieben als „erträglich“ eingestuft wurden.243 Mit 14.617 Juden im Jahr 1829 war dies immerhin derjenige bayerische Kreis mit der zweithöchsten jüdischen Einwohnerzahl nach dem Untermainkreis (heutiges Unterfranken)
241 Zu Momberts Biographie siehe oben Anm. 80. 242 O.V., „Das gesetzlich verordnete Kellerquellenbad der Israelitinnen“ (Rez.), S. 376. Hierbei ist anzumerken, dass Mombert 1828 zwar auch an die Behörden appelliert, als primärer Adressat werden aber im Vorwort nur drei Gruppen genannt, denen seine Schrift von Nutzen sein soll: dem „weiblichen Theile der israelitischen Nation“, „jüdischen Theologen“ und dem „ärztliche[n] Publikum“ (Mombert, Kellerquellenbad, Vorwort, unpag., S. 110); vgl. zu diesem Aspekt auch Kapitel 6.1.1.3 (Faktor 1). 243 Hierzu sowie zum Gesamtresultat der Untersuchungen im gesamten Königreich Bayern siehe den Artikel in Das Inland von 1830 (o.V., „Ueber das bey den Juden gebräuchliche Keller-Quellenbad“). Über das Ergebnis für den Rezatkreis berichtet auch Henkes Zeitschrift für die Staatsarzneikunde von 1836 im Kontext der Verordnung des Großherzogtums Hessen von 1825 (siehe Bopp, „Rückblicke auf das Großherzogthum Hessen“); die genannte Verordnung findet sich ebd., S. 423–426 („Verordnung Großherzlich Hessischen Ministeriums des Innern und der Justiz vom 10. Juli 1825. zweckmäßige Einrichtung der Judenbäder betr.“). Darüber hinaus enthält der SynagogenGedenkband zu Mittelfranken in den Beiträgen zu den einzelnen Ortschaften zahlreiche Auszüge aus den 1828/29 erstellten Berichten, die ein sehr anschauliches Bild der Situation vermitteln; Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II.
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mit einer Gesamtzahl von 17.769.244 Zu den wenigen wärmbaren Anlagen gehörten die in Ansbach, Erlangen-Büchenbach, Fürth, Thalmässing und Uehlfeld.245 Abgesehen von Fürth, der größten Gemeinde des Kreises und Sitz der auch überregional bedeutenden Talmudhochschule, genossen diese Gemeinden zwar keine Sonderstellung innerhalb der fränkischen Judenschaft, waren aber auch keine typischen kleinen Landgemeinden: So war Ansbach mit 395 jüdischen Einwohnern im Jahr 1810 verhältnismäßig groß246 und zugleich Rabbinatssitz, die Thalmässinger Juden ungewöhnlich wohlhabend,247 und Uehlfeld eine „traditionsreiche, aufgeschlossene Landgemeinde“248 , in der im Verlauf des frühen 19. Jahrhunderts gleich zwei der Reform nahestehende Rabbiner wirkten.249 Am 24. Januar 1829 erging im Rezatkreis eine dem gesetzten Ziel entsprechende Verfügung, deren Vollzug man im August nochmal anmahnte: man erwarte bis September desselben Jahres Bericht über den erzielten Erfolg.250 Bis zum Frühsommer 1830 sollten schließlich auch die Mikwen derjenigen Gemeinden zweckmäßig hergerichtet sein, die sich einstweilen Aufschub erbeten hatten, so dass „sodann die übrigen vorhandenen alten, der Gesundheit der Frauen höchst nachtheiligen Kellerquellenbäder außer Gebrauch gesezt werden“ könnten.251 Laut dem Aerztlichen Jahresbericht für Mittelfranken vom Jahre 1854/55 entsprachen die in Mittelfranken existierenden „Dunken“ spätestens zu diesem Zeitpunkt „durchgehends den Anforderungen der Gesundheitspolizei.“252 Wie man sich der Aufgabe ab 1829 stellte, lag offensichtlich zu großen Teilen in den Händen der jeweiligen Kreisregierung, die aber den höchsten staatlichen Stellen zur Berichterstattung verpflichtet war; so fordert man beispielsweise im Dezember 1829 von der Regierung des Oberdonaukreises, nachdem man sich wohlwollend über die erreichten Fortschritte geäußert hat, jährliche Berichte über den Fortgang der Bemühungen ein,253 und auch die Anweisung an die Polizei-
244 Für die Bevölkerungsentwicklung im Königreich Bayern siehe die Tabelle in Schwarz, Juden in Bayern, S. 349f. 245 Hierbei beziehe ich mich auf die Einzeldarstellungen in Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II. 246 Angaben nach Alicke, „Ansbach (Mittelfranken/Bayern)“, in: Lexikon der jüdischen Gemeinden, Bd. 1, Sp. 133-138, hier Sp. 134. 247 Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 641. 248 Ebd., S. 663. 249 Ebd., S. 671–673; zu Uehlfeld und Rabbiner Löwi siehe Kapitel 6.2.2.2. 250 Vgl. o.V., „Einl. Nr. 24149. Exp. Nr. 29243. (An sämmtliche Polizeibehörden des Rezatkreises. Die Kellerquellenbäder der Israelitinnen betr.)“ vom 11.8.1829, Sp. 1117f. 251 O.V., „Einl. Nr. 2239 u. 4503. Exp. Nr. 12340. (An die k. Polizeibehörden des Rezatkreises. Die Kellerquellenbäder der Israelitinnen betr.)“ vom 1.3.1830, Sp. 321f. 252 Eckart, „Aerztlicher Jahresbericht für Mittelfranken vom Jahre 1854/55“, S. 466. 253 O.V., „Bekanntmachung. An sämtliche kgl. Polizey-Behörden, und Gerichts-Physikate des Oberdonau-Kreises“ vom 7.12.1829, Sp. 1700f.
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behörden des Rezatkreises vom August 1829 zur umgehenden Berichterstattung ist in diesem Zusammenhang zu sehen.254 Da es in Bayern, anders als in Baden und Württemberg, keine oberste israelitische ‚Kirchenbehörde‘ gab, war es den Behörden allerdings nicht möglich, auf direkte Weise auf die jüdischen Gemeinden Druck auszuüben. Stattdessen musste man sich anderer Mittel bedienen, um die angesichts der verbreiteten Armut reformunwilligen Landgemeinden zum Handeln zu zwingen, wie das Landkommissariat Kirchheim (heute Kirchheimbolanden) im September 1829 der Regierung des Rheinkreises in Speyer nahelegte: Nach der Ansicht des unterzeichneten Landcommissariats kann in dieser Sache ein directer Zwang nicht wohl eintreten, die Israeliten bilden keine politischen Gemeinden, es müßte gegen die einzelnen eingeschritten werden, und man würde dabey auf Schwierigkeiten kommen, die nicht beseitigt werden können. In jedem Falle müßten hierüber ganz genaue, bis jetzt noch vermißte Vorschriften ertheilt werden; ohne diese können die Bürgermeister nicht weiter vorschreiten.255
Zwar hatte die Regierung des Rheinkreises bereits im April des Jahres eine sehr detaillierte „Anweisung über die Herstellung der Kellerquellenbäder der Israelitinnen“ erlassen, allerdings ohne in diesem Zusammenhang auch praktische Hilfestellungen für deren Umsetzung zu geben.256 Die Regierung besserte nach, und tatsächlich wurden in der Folgezeit zahlreiche Mikwen in der Pfalz zwangsweise geschlossen, wie das Landkommissariat Kirchheim im Fortgang des zitierten Schreibens auch konkret vorschlug; den betroffenen Gemeinden wurde die Möglichkeit zur Aufnahme von Krediten eingeräumt.257 Wie zu erwarten, wehrte man sich vielerorts gegen die verordnete Verschüttung, und die Umsetzung war vermutlich auch deswegen nicht einfach, weil viele der Mikwen zugleich für andere Zwecke genutzt wurden, z. B. als Getränkekühlschrank für eine Otterstadter Wirtschaft.258 Dass
254 Siehe oben Anm. 250. 255 Schreiben des Landcommissariats Kirchheim an die k. Regierung des Rheinkreises in Speyer, zit. nach: Kukatzki, Verbandsgemeinde Kirchheimbolanden, S. 27. 256 Gemeindearchiv Haßloch, 1A2, 329, 118: Anweisung über die Herstellung der Kellerquellenbäder der Israelitinnen, abgedruckt bei Theison, „Frauenbad Haßloch“, S. 269f; ebenso (jedoch mit falscher Jahresangabe) bei Kopp, Dorfjuden in der Nordpfalz, S. 214f. 257 Inwieweit derartige Kredite auch tatsächlich in Anspruch genommen werden konnten, bedürfte einer genaueren Untersuchung. Für den Neubau einer Mikwe in Homburg wurde der beantragte Kredit aus der „Kreishülfskasse“ verweigert, obwohl die Regierung der jüdischen Gemeinde 1832, unter dem Eindruck der europaweiten Choleraepidemie, ein Ultimatum gestellt hatte (siehe Blinn, Juden in Homburg, S. 117f). Vgl. auch die lokalgeschichtlichen Darstellungen zu Mikwen im Rheinkreis: Kukatzki, Otterstadter Judengemeinde; ders., Verbandsgemeinde Kirchheimbolanden; Kopp, Dorfjuden in der Nordpfalz; Theison, „Frauenbad Haßloch“. 258 Siehe Kukatzki, Otterstadter Judengemeinde, S. 19f.
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eine solche Situation in der Pfalz keinen Einzelfall darstellte (und auch andernorts nicht unüblich war),259 zeigt eindrücklich der Bericht des Kantonsarztes Dr. Zimmermann: In keinem derjenigen Orte der beiden Kantone Homburg und Waldmohr, wo Juden wohnen, mithin weder hier in der Stadt Homburg, noch in den Dörfern Brücken Steinbach und Glanmünchweiler finden sich wie man durch Authopsie sich überzeugt hat, eigene, blos einzig und allein zum Gebrauch der Israelitinnen bestimmte Kellerquellenbäder. Diese bedienen sich zu dieser Absicht gegen eine kleine Geldabgabe hier wilder und kalter und nothdürftig gedekter Felsenquellen, welche Christen angehören und noch zu mancherley anderem Gebrauch ZB zum Waschen, Tränken des Viehes etc. benützt werden.260
Für die Frauen kam noch erschwerend hinzu, dass diese Quellen teilweise so weit vom Wohnort entfernt lagen, dass eine Erwärmung durch Zugießen von heißem Wasser völlig ausgeschlossen war.261 Angesichts dieser Ausgangslage verwundert es nicht, dass die Regierung die „Anweisung“ von 1829 im Jahr 1838 nochmals wiederholen musste.262 Die Verordnung im Großherzogtum Würzburg vom 29. Januar 1812
Aber auch vor dem ‚Mombert-Erlass‘, durch den 1828 sämtliche Kreise des Königreichs zu einem Vorgehen gegen die Missstände bei Mikwen verpflichtet wurden,
259 Nicht selten erklärt sich auch die Verunreinigung des Wassers durch eine solche Mehrfachnutzung, wie z. B. bei der Mikwe in Marktsteft, die der Besitzer, ein Strumpfwirker, manchmal zum Waschen seiner Wolle verwendete. Hier wird 1812 angegeben, dass das Becken deswegen von Zeit zu Zeit entleert und gereinigt wird (siehe: StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirektion vom 28.4.1812). Vgl. auch die Darstellung in Das Inland über die Ergebnisse der Untersuchung in Bayern 1828/1829: o.V., „Ueber das bey den Juden gebräuchliche Keller-Quellenbad“, S. 21. 260 Landesarchiv Speyer, Best. H 3 Nr. 8237: Brief von Dr. Zimmermann an die Hohe Königliche Regierung, die Kellerquellenbäder der Israelitinnen in den beiden Kantonen Homburg und Waldmohr betreffend, vom 6.12.1828. Gernot Feifel zitiert die gleiche Stelle in seinem Artikel zu saarpfälzischen Kantons- und Bezirksärzten („Saarpfälzische Kantons- und Bezirksärzte“, S. 24f), Auszüge aus dem Bericht finden sich auch in dem Kapitel zur Mikwe in Homburg bei Dieter Blinn, Juden in Homburg, S. 116f. 261 Landesarchiv Speyer, Best. H 3 Nr. 8237: Brief von Dr. Zimmermann an die Hohe Königliche Regierung, die Kellerquellenbäder der Israelitinnen in den beiden Kantonen Homburg und Waldmohr betreffend, vom 6.12.1828. Zimmermann nennt als Beispiel den Ort Glanmünchweiler. 262 „Anweisung der königlich bayerischen Regierung über die Herstellung der Kellerquellenbäder der Israelitinnen. – (1838).“, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz (Hgg.), Dokumentation, Bd. 4, S. 98f. In diesem Zusammenhang wurden auch Gutachten von verschiedenen Rabbinern eingeholt, siehe ebd., S. 87–98.
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waren die Behörden bereits mancherorts mit dem Problem konfrontiert worden. Wie schon kurz angedeutet, war die Geschichte des württembergischen Jagstkreises auf besondere Weise mit Mainfranken, genauer dem Großherzogtum Würzburg und späteren Untermainkreis (heutiges Unterfranken), verbunden: So mussten die württembergischen Behörden 1817 vernehmen, dass man ihnen im benachbarten Bayern hinsichtlich der Erwärmung der Tauchbäder um einiges voraus war.263 Tatsächlich handelt es sich bei dem am 29. Januar 1812 von Großherzog Ferdinand von Würzburg erlassenen Dekret um eine der ersten, vielleicht sogar die erste Anweisung zur Untersuchung der jüdischen Ritualbäder durch staatlich bestellte Ärzte. Der Hintergrund war auch hier, wie neun Jahre später in Württemberg, die Anzeige eines Arztes, in diesem Fall des Centchirurgen und Geburtshelfers Anton Kappler zu Ebern, der sich Ende 1811 aufgrund seiner Erfahrungen mit jüdischen Patientinnen an die Großherzogliche Landesdirektion in Würzburg wandte.264 Wie in Württemberg scheute man jedoch auch hier zunächst vor allzu drastischen Schritten zurück, da sich einerseits die gutachtenden Ärzte nicht ausnahmslos von der schädlichen Wirkung der Tauchbäder überzeugt zeigten, und man andererseits ungern in jüdische Religionsangelegenheiten eingreifen wollte. So zollte das im Januar 1812 erlassene Dekret zwar der Kompetenz der Ärzte in gewissem Umfang Respekt, insofern als deren Empfehlungen zum Bereiten eines Tauchbades wenigstens als „Vorsichtsmaaßregeln“265 aufgenommen wurden – aber eben nicht als verbindlich angeordnet wurden. Ebensowenig wurde die von der Medizinischen Section dringend angeratene Untersuchung der Mikwen durch die Distriktsärzte befohlen, sondern stattdessen lediglich recht unverbindlich formuliert: Uebrigens werden Erfahrungen und Beobachtungen, welche die Districts-Aerzte über den Gebrauch der Tauchbäder bei den Judenweibern in Beziehung auf ihre Gesundheit zu machen Gelegenheit hatten, der großherzoglichen Landesdirektion sehr erwünscht sein.266
263 Siehe oben Kapitel 4.2.1.1. 264 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Eingabe von Centchirurg und Geburtshelfer Anton Kappler vom 12.11.1811. Zum Vorgehen im Großherzogtum Würzburg, insbesondere zum Erfolg der Maßnahme, vgl. auch die Darstellung in Das Inland: o.V., „Ueber das bey den Juden gebräuchliche Keller-Quellenbad“, S. 22. 265 So die Bezeichnung in der Entschließung Großherzog Ferdinands; StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Allerhöchste Entschließung vom 21.12.1811; vgl. ebenso „Den Gebrauch der kalten Tauchbäder bei den Judenweibern betr.“ vom 29. Januar 1812, in: Döllinger, Sammlung, S. 148f. 266 Ebd, S. 149.
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Eine Auseinandersetzung mit den religionsgesetzlichen Vorgaben hatte zum Zeitpunkt des Dekrets noch nicht stattgefunden, sondern geschah erst im Anschluss, wie die enthaltenen Empfehlungen der Ärzteschaft zeigen: Das Untertauchen sollte frühestens drei Tage nach Ende der Menstruation, im Winter nicht vor zehn Uhr morgens stattfinden, und kranke Frauen sich stattdessen eines Wannenbads bedienen. Im Laufe des Jahres 1812 erbat man dann entsprechende Stellungnahmen nicht nur von dem großherzoglichen Oberrabbiner Abraham Bing in Heidingsfeld, sondern darüber hinaus auch von dem Königlich Westfälischen Konsistorium der Israeliten in Kassel und der Religionsdeputation der Kurmärkischen Regierung in Berlin.267 Sämtliche Korrespondenten bestätigten in diesem Zusammenhang nicht nur, dass eine Erwärmung des Wassers erlaubt sei, sondern wiesen teilweise auch darauf hin, dass dies mancherorts bereits praktiziert wurde; in Heidingsfeld wurde die Mikwe laut Auskunft von dort lebenden Frauen ebenfalls bereits „jederzeit“ geheizt.268 Ebenfalls erst später, im Mai 1812, wurde aus der unverbindlichen Aufforderung vom Januar schließlich ein konkreter Befehl an die Distriktsärzte, über die zweckmäßige Einrichtung der Tauchbäder in ihrem jeweiligen Bezirk Bericht zu erstatten. In Folge der beiden Dekrete vom Januar und Mai 1812269 berichtete unter anderem der Distriktsarzt aus Marktsteft Weinrich wie gewünscht an die Großherzogliche Landesdirektion, erstmals am 28. April, dann erneut am 21. September; keine der von ihm untersuchten Mikwen in insgesamt sieben Ortschaften seines Bezirks
267 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Schreiben der Großherzoglichen Landesdirektion zu Würzburg an Oberrabbiner Bing vom 8.4.1812; Schreiben der Großherzoglichen Landesdirektion zu Würzburg an die Kurmärkische Kriegs- und Domänenkammer in Berlin (similiter die Präfektur zu Kassel) vom 9.12.1812. Abraham Bing (1752–1841) fungierte seit 1798 zunächst als fürststiftlich-würzburgischer Landesrabbiner in Heidingsfeld, ab 1813 dann in Würzburg selbst; zu seiner Biographie siehe „Bing, Abraham“, in: BHR 1,1, S. 192–194. 268 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Gutachten der Medizinischen Section des Großherzogtums Würzburg vom 27.11.1811. 269 Der Distriktsarzt in Marktsteft Weinrich berichtet am 21.9.1812 an die Großherzogliche Landesdirektion in Würzburg, dass er auf den am 26. Mai ergangenen „Befehl“ („No. 8035“) hin erneut sämtliche Judengemeinden des Landgerichts besucht habe. Diese neuerliche Anordnung vom Mai 1812 ist in dem betreffenden Aktenzusammenhang allerdings nicht überliefert. Das „Alphabetische Repertorium“ zu den Akten der großherzoglichen Zeit verzeichnet unter den Buchstaben I–J (Judenwesen) keine Akten zu Frauenbädern, die Akten selbst wurden während des Zweiten Weltkriegs vernichtet; aufgrund der komplizierten Beständestruktur des Staatsarchives Würzburg ist eine gezielte Recherche leider unmöglich. Da auch das Großherzoglich Würzburgische Regierungsblatt von 1812 sowie das Würzburger Intelligenzblatt des Jahres keinen Hinweis hierauf enthält, muss der Fund dieses Dokuments dem Zufall überlassen bleiben; StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirektion vom 28.4.1812; Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirektion vom 21.9.1812; Großherzoglich Würzburgisches Regierungsblatt, 10. Jahrgang (1812); Würzburger Intelligenzblatt 1812.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
sei für die Erwärmung eingerichtet.270 Wenngleich das Großherzogtum nur bis 1814 Bestand hatte, geriet das Dekret auch unter bayerischer Verwaltung nicht völlig in Vergessenheit. Ob es jedoch voll und ganz zutrifft, was Meyer Fälklein 1817 in seiner Eingabe an die Regierung in Württemberg behauptet, ist durchaus fraglich: Die medizinischen Resultate über die Schädlichkeit dieser kalten Tauchen haben die König. Bayersche Regierung bestimmt, zu verordnen, im ganzen Königreiche sich der warmen Tauchen zu bedienen, und es wurde sogar den Polizeybehörden zur Pflicht gemacht, auf den Fortbestand – und Erhaltung der Reinlichkeit derselben strenge zu sehen.271
Man muss davon ausgehen, dass die Mikwen auch nach 1814 – in gewissem Umfang – im Fokus der Gesundheitsbehörden lagen, und sich dieses Interesse auch nicht auf den Untermainkreis (die Gegend des früheren Großherzogtums) beschränkte;272 wenigstens im angrenzenden Rezatkreis fanden ebensolche Inspektionen statt. Die früheste ist nach den hier ausgewerteten Daten273 die von 1819 in Thalmässing (Rezatkreis), wo das damalige Tauchbad vom Landgericht Greding als gesundheitsgefährdend eingestuft wurde; nichtsdestotrotz zog sich die Einrichtung einer wärmbaren Mikwe auch hier noch bis 1827 hin.274 Jedoch scheinen sich diese frühen Initiativen ausschließlich auf die Verwaltungsebene der Landgerichte oder der Kreise beschränkt zu haben, ohne dass das Innenministerium hiervon Kenntnis hatte; eine allgemeine Verordnung von höherer Stelle gab es allem Anschein nach vor 1828 nicht. Hierfür spricht nicht allein die Tatsache, dass eine solche bisher nicht in einschlägigen Werken zitiert oder erwähnt wurde, beispielsweise auch Döllinger in seiner Sammlung der im Gebiete der inneren Staats-Verwaltung des
270 Es sind dies die Orte Marktbreit, Obernbreit, Mainbernheim, Marktsteft, Rödelsee, Hohenfeld und Sickershausen (heute Landkreis Kitzingen). 271 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Eingabe von Meyer Fälklein vom 2.11.1817 (Anlage zum Bericht der K. Section des Medizinal-Wesens vom 10.11.1817). 272 Ein Beispiel für eine solche frühe Initiative im Untermainkreis nennt Körner. Demnach beschäftigte sich das Landgericht Alzenau 1822 mit den Mikwen in Alzenau und Hörstein (heute Landkreis Aschaffenburg). 1825 untersuchte man die Mikwen im gesamten Untermainkreis, wobei es auch damals schon zu Schließungen kam (belegt für Kleinheubach und Wörth). Vgl. Körner, „Der Gesundheit sehr nachteilig“, S. 115f; Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. III/1, S. 194, 209, 408f, 473, vgl. ebenfalls Bd. III/2.1, S. 57, 117. 273 Ich beziehe mich hierbei auf die einzelnen Ortsartikel zu Mittelfranken im Synagogen-Gedenkband Bayern, Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II. Band I zu Oberfranken, der Oberpfalz, Schwaben, Oberbayern und Niederbayern enthält nur sehr wenige Angaben zu Mikwen, die Bände III.1 und III.2 decken die Gemeinden des früheren Untermainkreises ab. 274 Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 642.
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Königreichs Bayern bestehenden Verordnungen (1838) lediglich die Verordnungen von 1812 und 1828 angibt,275 sondern auch, dass man sich im Untermainkreis bis 1828 immer wieder auf die Verordnung von 1812 beruft. So berichtet die Regierung des Untermainkreises am 17. November 1828 in ihrem Schriftverkehr mit dem Innenministerium infolge des ‚Mombert-Erlasses‘, dass im Gebiet des ehemaligen Großherzogtums bereits eine entsprechende „Verordnung und Instruktion“ erlassen sei, nämlich die von 1812, und diese „für die ältern GebietsTheile des Kreises nur wieder in Erinnerung zu bringen und allenfalls hiebei noch weiter auf den Punkt der Reinigkeit, und Erwärmung des Waßers, für jede Badende, hinzuweisen sein dürfte“.276 Lediglich für die ab 1815 hinzugekommenen Gebiete müssten diese Vorschriften – auf Weisung des Innenministeriums hin – neu verfügt werden, weshalb eine Abschrift sogleich mitgeschickt wurde. Auch drei Jahre zuvor, im Jahr 1825, war die Verordnung von 1812 durch die Kreisregierung explizit wieder in Erinnerung gebracht worden; alle zuständigen Behörden des Untermainkreises wurden damals erneut zur Inspektion der vorhandenen Mikwen beauftragt. Auslösendes Moment hierfür war offenbar ein Bericht des Landgerichts Werneck an die Königliche Regierung, Kammer des Innern, in Würzburg über den Zustand der Mikwen in Werneck und Niederwerrn.277 Letztere ordnete für die betroffenen zwei Gemeinden an, dass binnen einer Frist von sechs Wochen Alternativen für die als untauglich befundenen Mikwen aufzuzeigen seien, da sie nach Ablauf dieser Zeit zu schließen seien; auch für Vorrichtungen zum Wasseraustausch nach jedem Gebrauch solle gesorgt werden.278 Ungeachtet dieser Aktion wurden kreisweit offensichtlich keine durchgreifenden Verbesserungen erzielt – jedenfalls wird dieser Schritt in dem Schreiben an das Innenministerium mit keinem Wort erwähnt, was
275 Döllinger, Sammlung, S. 148, 151. Die bezüglich der Mikwen teilweise sehr detaillierten Ortsartikel zu Mittelfranken im Synagogen-Gedenkband Mehr als Steine erwähnen keine kreis- oder landesweite Verordnung, und auch das Königlich-Baierische Regierungsblatt der Jahre 1815–17, also unmittelbar vor Fälkleins Eingabe in Württemberg, verzeichnet nichts; Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II; Königlich-Baierisches Regierungsblatt, Jahre 1815–17. 276 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht der K. Regierung des Mainkreises vom 17.11.1828. 277 Die Aufforderung zur kreisweiten Inspektion findet sich im Anschluss an den Bericht über den Zustand der Tauchen im Landgericht Werneck im Zusammenhang mit der Antwort der Regierung in Würzburg. Die angeordnete Untersuchung geschieht demnach mit „Zugrundlegung des Ausschreibens der vormaligen Landesdirecktion vom 29. Januar 1812“; StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: „Durch besondern Druck“ (Schreiben der K. Regierung des Mainkreises an das Landgericht Werneck vom 17.6.1825). Vgl. auch Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. III/1, S. 194, sowie Körner, „Der Gesundheit sehr nachteilig“, S. 113. 278 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Schreiben der K. Regierung des Mainkreises an das Landgericht Werneck vom 17.6.1825.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
bei vorweisbaren Erfolgen zu erwarten wäre.279 Vielmehr wurden erst 1829, nachdem das Innenministerium hierfür grünes Licht gegeben hatte, auf Grundlage der Verordnung von 1812 erneut die Gerichtsärzte instruiert, unter anderem für warme Bäder und Umgebungsräume zu sorgen, was dann offensichtlich auch vielerorts zu konkreten Maßnahmen führte.280 Die Mikwen-Politik der bayerischen Regierung
Eine Aufsicht über die bayerischen Kellerquellenbäder fand somit wenigstens auf Ebene der Landgerichte auch bereits vor 1828 statt. Der Frage, ab wann und in welchem Umfang dies in den einzelnen Landesteilen geschah, wäre durch entsprechende Archivrecherchen noch nachzugehen. Auch der 2010 erschienene Synagogen-Gedenkband Bayern Mehr als Steine, der die Situation der zahlreichen jüdischen Gemeinden des Rezatkreises (heutiges Mittelfranken) äußerst detailliert dokumentiert und den Bereich der Mikwen dabei angemessen berücksichtigt, liefert hierfür leider nicht in ausreichendem Maß Belege. Jedoch kann nach allen vorhandenen Hinweisen von einer flächendeckenden Verbesserung der Anlagen sicher nicht ausgegangen werden, allenfalls von punktuellen Maßnahmen. Dies änderte sich formal infolge des ‚Mombert-Erlasses‘; von nun an war die ‚Mission Mikwe‘ eine Staatsangelegenheit, über deren Gelingen das Innenministerium Rechenschaft forderte. Ein über die bloße Aufsichtsfunktion hinausgehendes Interesse an einer gesamtstaatlichen Instruktion bezüglich der Einrichtung der Mikwen, wie in Baden 1822 oder in Württemberg 1821 und 1846, bestand im Königreich Bayern aber allem Anschein nach dennoch nicht. Ein diesbezüglicher Impuls der Regierung in Würzburg in ihrem Bericht vom 26. September 1829 zu einer einheitlichen Regelung verhallte; stattdessen äußerte das Innenministerium in seiner Antwort vom 24. November lediglich sein Wohlwollen darüber, dass nun die „meisten dieser Bäder“ im Untermainkreis den Anforderungen entsprächen und forderte dazu auf, den eingeschlagenen Kurs weiter zu verfolgen.281 Die Darstellung aus Würzburg ist bezüglich der erzielten Erfolge etwas verhaltener, und man ist geneigt, auch die etwa zwei Wochen später, nämlich am 7. Dezember ergangene Weisung des Innenministeriums an die Regierung des Oberdonaukreises in diesem Licht zu betrachten.
279 Nichtsdestotrotz kam es zumindest vereinzelt zu Schließungen von Mikwen, vgl. oben Anm. 272. 280 Das Innenministerium äußert in seiner Antwort an die Regierung in Würzburg gar sein Wohlwollen darüber, dass nun die „meisten dieser Bäder“ den Anforderungen entsprächen; die entsprechende Darstellung aus Würzburg ist etwas zurückhaltender. Vgl. StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht der K. Regierung des Mainkreises vom 26.9.1829; Anweisung des bayerischen Innenministeriums an die K. Regierung des Mainkreises vom 24.11.1829. 281 Ebd.
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Auch hier zeigt man sich mit ähnlichen Formulierungen zufrieden darüber, dass die „meisten“ Anlagen bereits den Vorschriften entsprechend eingerichtet seien.282 Konnten aber tatsächlich innerhalb eines Jahres – ausgehend vom ‚MombertErlass‘ vom 15. Oktober 1828 – Erfolge in dem geäußerten Umfang erzielt werden? Oder zielte die Politik der Regierung vielmehr darauf, die Angelegenheit nicht über die Kreisebene hinausgehen zu lassen? Eine Anerkennung auch der religiösen Dimension der Mikwe hätte einen entsprechenden Regelungsbedarf von höchster Stelle zur Folge gehabt. Wollte man dies bewusst umgehen und stattdessen die Frage der jüdischen Ritualbäder weiterhin allein unter dem gesundheitspolizeilichen Aspekt betrachtet, und auf Kreisebene geregelt wissen, weil ja, anders als in Baden und Württemberg, die jüdischen Gemeinden nicht in den Staatsapparat eingebunden und entsprechende Verwaltungsstrukturen vorhanden bzw. zu festigen waren? Infolge des Edikts von 1813 genoss die jüdische Religionsgemeinschaft lediglich den Status einer Privatkirchengesellschaft,283 wobei die bayerische Regierung durchaus an der Entstehung eines aufgeklärten, reformorientierten Judentums interessiert war. So mussten die Rabbiner einer Gemeinde unter anderem von staatlicher Stelle bestätigt werden, eine wissenschaftliche Ausbildung nachweisen und ihren Wirkungskreis „ausschließlich auf die kirchlichen Verrichtungen“ beschränken, d. h. insbesondere auf ihre frühere Richterfunktion verzichten.284 Die 1831 von drei oberfränkischen Rabbinern entworfene Synagogenordnung, die für mehr Würde im Gottesdienst sorgen sollte und auf jüdischer Seite einen landesweiten Disput hervorrief, stieß bei den bayerischen Behörden prinzipiell auf Wohlwollen.285 Unter anderem als Reaktion auf die hierdurch angestoßene Diskussion erließ die bayerische Regierung eine Entschließung, wonach in allgemeinen Kreisversammlungen erstmals die wesentlichen Lehren und Praktiken des Judentums von Grund auf erörtert werden sollten. Nicht nur die Frage einer angemessenen Form des Gottesdienstes stand hierbei 1836 auf dem Programm; die eingeladenen Rabbiner, Lehrer und Vertreter der Kultusgemeinden sollten sich neben anderem auch mit einem weiteren Brauch auseinandersetzen, der im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend kritisch betrachtet wurde, nämlich der Beschneidung.286 Die religiösen Vorschriften bezüglich des Untertauchens in der Mikwe waren hingegen nicht Bestandteil der staatlichen Agenda.287 Man sah offensichtlich
282 O.V., „Bekanntmachung. An sämtliche kgl. Polizey-Behörden, und Gerichts-Physikate des Oberdonau-Kreises“ vom 7.12.1829, Sp. 1700f. 283 „Edikt die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreich Baiern betreffend“ vom 10.6.1813, in: Schwarz, Juden in Bayern, S. 341–348, hier S. 346 (§ 23). 284 Ebd., S. 347 (§ 26–30). 285 Vgl. hierzu Groiss-Lau, „Landgemeinden in Franken“, S. 117–119. 286 Vgl. Kapitel 1. 287 Vgl. „Bayern“ (Verfügung der K. Regierung des Untermainkreises vom 30.12.1835), Sp. 28.
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in dieser Sache keinen weiteren Handlungsbedarf, eine allgemein verbindliche Vorgabe blieb aus, und so oblag es auch nach dem ‚Mombert-Erlass‘ von 1828, wie bereits zuvor, im Wesentlichen der Initiative der einzelnen Kreisregierungen, konkrete Verbesserungsmaßnahmen herbeizuführen. 4.2.2.3 Großherzogtum Hessen und Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach
Zwei weitere Staaten des Deutschen Bundes, in denen relativ früh, d. h. bis etwa 1830 eine staatliche Aufsicht über die alten Kellerquellenbäder einsetzte, waren das Großherzogtum Hessen sowie das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach. Auch hier ist der Zusammenhang mit dem Prozess der Emanzipation der Juden unverkennbar, die Situation der Großherzogtümer in gewisser Weise vergleichbar mit der in Baden und Württemberg. Ähnlich wie dort war in Hessen „ein neues, mehrkonfessionelles und aus unterschiedlichen Herrschaften zusammengesetztes Staatsgebilde geschaffen worden […], dessen Regierung sich gezwungen sah, religiöse Duldsamkeit und Neutralität gegenüber ihren Untertanen zu üben.“288 In Sachsen-Weimar-Eisenach hatte sich infolge des Wiener Kongresses nicht nur das Staatsgebiet, sondern damit auch die Zahl der dort ansässigen Juden bedeutend vergrößert; eine Neuregelung des rechtlichen Status dieser Bevölkerungsgruppe war hier zugleich Teil eines „umfassenderen Reformprozesses“.289 In beiden Fällen folgte man dem in den Staaten des Deutschen Bundes vorherrschenden Prinzip einer aufgeklärt-etatistischen, d. h. allmählichen und mit erzieherischen Maßnahmen einhergehenden Emanzipation der jüdischen Bevölkerung.290 Konkrete Schritte hin zu einer rechtlichen Gleichstellung wurden zunächst nur zögerlich unternommen: in Hessen durch die individuelle Verleihung des Staatsbürgerrechts 1820 bzw. des Gemeindebürgerrechts 1821, in Sachsen-Weimar-Eisenach durch die Vereinheitlichung der Rechtssituation in der „Juden-Ordnung“ von 1823, die jedoch noch sehr viele und weitreichende Beschränkungen enthielt.291 Nichtsdestotrotz fielen in Sachsen-Weimar-Eisenach bereits 1850, noch vor dem Abschluss der Emanzipation in den Staaten des Norddeutschen Bundes 1869 bzw. des Deutschen Reichs 1871, sämtliche Schranken für eine umfassende Gleichstellung mit der christlichen Bevölkerung;292 die in Hessen 1848/49 erzielten Fortschritte hielten hingegen der
288 Battenberg, „Emanzipation der Juden in Hessen“, unpag. 289 Schramm-Häder, Emanzipation der Juden in Sachsen-Weimar-Eisenach, S. 255. 290 Die idealtypische Beschreibung der beiden Emanzipationsmodelle als aufgeklärt-etatistisch bzw. liberal-revolutionär geht zurück auf Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, S. 17. 291 Vgl. Schramm-Häder, Emanzipation der Juden in Sachsen-Weimar-Eisenach, S. 65–78. 292 Dies galt allerdings nur für inländische Juden; siehe ebd., S. 156. Für weitere Hintergründe und Details, z. B. die erst später erfolgte Aufhebung des Judeneids, siehe S. 154–162.
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politischen Entwicklung der Folgejahre nicht stand.293 Ungeachtet dieser erst später vollständig verwirklichten Hoffnungen waren die staatlichen Maßnahmen für eine verbesserte Einrichtung der Mikwen in Hessen relativ früh und umfassend, vergleichbar mit der Regelung in Baden. Bereits 1822 erkundigte man sich über den Zustand der vorhandenen Einrichtungen und untersuchte daraufhin beispielsweise das Frauenbad in Bürgel (heute Stadtteil von Offenbach).294 Gemäß der Verordnung von 1825 hatten die Mikwen sodann unter Aufsicht eines Amtsarztes zu stehen, Becken und Räumlichkeiten mussten wärmbar und für täglichen Wasseraustausch sollte gesorgt sein; diejenigen Einrichtungen, die nicht den Vorgaben entsprachen, waren innerhalb eines Jahres zu schließen.295 Die staatlichen Auflagen in Sachsen-Weimar-Eisenach deckten sich in ihrem Kern mit denjenigen in Hessen und Süddeutschland, wurden aber erst Anfang der 1830er Jahre verordnet, nachdem zu Beginn des Jahres 1829 – wenige Monate nach dem ‚Mombert-Erlass‘ in Bayern – erste Visitationen der vorhandenen Kellerquellenbäder stattgefunden hatten.296 Hier war die Situation in zweifacher Hinsicht eine besondere: Zum einen griff der Staat in seinem Anspruch, die jüdische Bevölkerung zu vollwertigen Bürgern zu erziehen, in massiver Weise auch in deren innere Religionsverhältnisse ein. So sollten gemäß der „Gottesdienstordnung“ von 1833 nicht nur die Predigt in Deutsch gehalten werden, sondern der Gottesdienst insgesamt fast ausschließlich in deutscher Sprache stattfinden; aus christlicher Sicht als unpassend empfundene Traditionen wie beispielsweise das ‚Schaukeln‘ oder Murmeln beim Gebet, das Lärmen am Purimfest oder das Zerbrechen eines Glases bei Hochzeiten wurden verboten, das Judentum somit insgesamt rationalisiert und ‚verchristlicht‘.297 Jüdischerseits reagierte man unter anderem mit passivem Widerstand – so musste zumindest anfangs einer der Mitschöpfer der Gottesdienstordnung, der Großherzogliche Landesrabbiner Mendel Heß298 ,
293 Zum vergleichenden Verlauf der Emanzipation in den Staaten des Deutschen Bundes siehe die Darstellung von Battenberg, „Judenemanzipation“; für Hessen siehe ders., „Emanzipation der Juden in Hessen“. 294 Vgl. Lammert, Bürgel am Main, S. 25. 295 „Verordnung Großherzlich Hessischen Ministeriums des Innern und der Justiz vom 10. Juli 1825. zweckmäßige Einrichtung der Judenbäder betr.“, in: Bopp, „Rückblicke auf das Großherzogtum Hessen“, S. 423–425. 296 Nach der Darstellung von Dr. Samuel Heß aus Lengsfeld erging im Januar 1829 ein entsprechender Auftrag der Großherzoglichen Landesdirektion in Weimar zur Untersuchung der Mikwen im Eisenachischen Kreis; siehe [Samuel] Heß, „Verbesserung der Kellerquellbäder-Einrichtung“, S. 298–302. 297 Dies ging soweit, dass man für Fehlverhalten Geld- und Gefängnisstrafen vorsah; vgl. SchrammHäder, Emanzipation der Juden in Sachsen-Weimar-Eisenach, S. 110–115. 298 Dr. Mendel Heß (1807–1871) war seit 1829 Landesrabbiner für Sachsen-Weimar-Eisenach, vgl. „Hess, Mendel, Dr.“, in: BHR 1,1, S. 432f, hier S. 432.
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seine deutsche Predigt vor leerem Haus abhalten.299 Zum anderen waren genau dieser einer Reform aufgeschlossene Rabbiner und sein Bruder, der Großherzogliche Amtsphysikus Samuel Heß,300 auch die Schöpfer der vom Staat erlassenen Vorschriften zur Herstellung der Mikwen. Wie sehr im großen Zusammenhang der jüdischen Emanzipationsbestrebungen auch die Situation der Mikwen eine Rolle spielte, und diesbezügliches ‚Wohlverhalten‘ von staatlicher Seite zumindest registriert wurde, zeigen die Vorgänge um den „Nachtrag zur Judenordnung“ 1833. Zwar erreichten die hierzu eingereichten jüdischen Petitionen keine direkte Verbesserung der rechtlichen Situation, doch war Großherzog Carl Friedrich immerhin bereit, einige der vorgebrachten Argumente nochmals prüfen zu lassen, indem er die Landesdirektion zu einem umfassenden Gutachten aufforderte.301 Dieser Bericht, der vor allem der Berufsstruktur der Juden viel Raum widmete, sich aber auch mit Erziehung und Kultus beschäftigte, lag schließlich 1835 vor; und während man sich mancherorts noch immer gegen die Regeln der Gottesdienstordnung von 1833 sträubte, gab es zumindest hinsichtlich der Ritualbäder im Eisenachischen Kreis Positives zu berichten: In Lengsfeld, Gehaus, Völkershausen und Aschenhausen seien die Ritualbäder „mit Bereitwilligkeit der Juden“302 bereits zweckmäßig eingerichtet worden. Ungeachtet der amtlichen Einschätzung war auch dieser Prozess zunächst begleitet von den hierfür typischen „Einreden und Hindernissen aller Art“, wie Dr. Heß in seinem Schreiben an den Herausgeber von Sulamith berichtet.303 4.2.2.4 Kurfürstentum Hessen
Etwas anders verhielt es sich im Kurfürstentum Hessen,304 wo es offensichtlich zu keiner Regelung von höchster staatlicher Stelle kam. Nichtsdestotrotz befassten sich auch hier – der Heimat von Moritz Mombert – einzelne Behörden, in enger Zusammenarbeit mit Amtsärzten, zumindest seit den frühen 1820er Jahren mit dem Zustand der Kellerquellenbäder, wie dies für die Provinz Niederhessen überliefert ist.305 Es ist naheliegend zu vermuten, dass hierin auch das Erbe des bis 1813 be299 300 301 302
Schramm-Häder, Emanzipation der Juden in Sachsen-Weimar-Eisenach, S. 122f. Zu seiner Person vgl. den kurzen Hinweis ebd., S. 209 (Anm. 24). Vgl. hierzu ebd., S. 119–123. So der Bericht der Landesdirektion, hier zitiert nach Schramm-Häder, Emanzipation der Juden in Sachsen-Weimar-Eisenach, S. 123. 303 Heß, „Verbesserung der Kellerquellbäder-Einrichtung“, S. 301. 304 Im Kurfürstentum Hessen gewährte man Juden ab 1833 (mit einigen Einschränkungen im religiösen Bereich) prinzipiell die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung, schloss hiervon jedoch ausdrücklich die jüdischen Nothändler aus. Zum Verlauf der Emanzipation in Kurhessen vgl. Kropat, „Emanzipation der Juden in Kurhessen und Nassau“, S. 335. 305 Vgl. die Vorgänge um die Mikwe in Rotenburg an der Fulda, wo Physikats-Assistent Dr. Wenderoth im April 1824 eine Eingabe bezüglich der Kellerquellenbäder an das Kreisamt richtete; Nuhn, Die
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stehenden Königlich Westfälischen Konsistoriums der Israeliten in Kassel spürbar ist. Allerdings hat sich, soweit bekannt, in dem öffentlich geführten Diskurs über Mikwen keine Information über das sonst vielbeachtete Vorgehen im Königreich Westphalen erhalten; ein knapper Hinweis auf einen Beschluss des Konsistoriums findet sich allenfalls in der Antwort der Judenältesten in Berlin auf eine Anfrage der Großherzoglichen Landesdirektion des Großherzogtums Würzburg. Als Reaktion auf das Schreiben des Centchirurgen Anton Kappler 1811 über die negativen Folgen der kalten Frauenbäder hatte die Großherzogliche Landesdirektion nicht nur den Großherzoglichen Oberrabbiner in Heidingsfeld um eine Stellungnahme gebeten, sondern sich Ende 1812 auch an die Kurmärkische Kriegs- und Domänenkammer in Berlin sowie die Präfektur des Fulda-Departements in Kassel gewandt. Sowohl das Konsistorium der Israeliten in Kassel als auch die Judenältesten in Berlin bestätigten in ihren Antworten vom Januar 1813, dass ein Erwärmen des Wassers prinzipiell zulässig sei, und in Berlin, Kassel und andernorts auch schon praktiziert werde.306 Die Judenältesten in Berlin verwiesen darüber hinaus auf entsprechende Beschlüsse, die man in Kassel gefasst habe: Indeßen soll dieser Gegenstand, der allerdings die Aufmerksamkeit der hohen Landes:Polizey verdient; bei dem Consistorium der Israeliten in Cassel, zur Sprache gekommen, und darüber Verordnungen abgefaßt sein, die dem Klima des Landes und dem Geiste der Zeit angemeßen sind.307
Ob die genannten Verordnungen auch im Druck erschienen sind, ist dem Verfasser jedoch nicht bekannt, und die parallel eingehende Antwort aus Kassel, unterzeichnet vom Präsidenten des Konsistoriums Israel Jacobson, erwähnt dergleichen mit keinem Wort. Vielmehr beschränkt sich Jacobson auf eine knappe Auflistung wichtiger halachischer Grundsätze für Mikwen und schließt folgendermaßen: Es kann übrigens das Waßer in der gesetzlichen Tauche durch anderes, hinzuzugießendes heißes Waßer nach belieben warm gemacht werden, wie solches auch wirklich hier zu
Rotenburger Mikwe, S. 29–33. Bei den Angaben zu Niederhessen beziehe ich mich ebenfalls auf die Darstellung von Nuhn. 306 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht des israelitischen Konsistoriums vom 12.1.1813 (Anlage zum Schreiben der Präfektur des Fulda-Departements in Kassel an die Großherzogliche Landesdirektion zu Würzburg vom 19.1.1813); Bericht der Judenältesten in Berlin vom 31.1.1813 (Anlage zum Schreiben der Kurmärkischen Regierung an die Großherzogliche Landesdirektion zu Würzburg vom 15.2.1813). 307 Ebd. Die Stelle findet sich auch in einer gedruckten Version des Berichts der Judenältesten, die 1912 in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums erschien (Ludwig Geiger, „Ein talmudisches Gutachten David Friedlaenders“, S. 164).
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Caßel und in mehreren Orten geschiehet. Nicht minder darf man sich eine gesetzliche Tauche in seinem Hause anfertigen laßen, und sich solcher bedienen, keines wegs aber ist, den Gesetzen zu wieder, zu gestatten, daß das Reinigen zu Hause ohne Tauche geschehe. Vielmehr haben sich diejenigen Frauen, die sich in einem Orte befinden, wo keine warm zumachende Tauche vorhanden, und denen, ihrer Gesundheit halber, das Reinigen im kalten Waßer vom Arzte untersagt ist, des Beischlafs so lange zu enthalten; bis ihre Gesundheit die gesetzmäßige Reinigung möglich gemacht hat.308
Sollten tatsächlich bereits bestimmte „Verordnungen“ beschlossen worden sein, so verwundert es, dass Jacobson sich in keiner Weise darauf bezieht, selbst wenn sie möglicherweise (zum damaligen Zeitpunkt) nicht veröffentlicht waren. Vor diesem Hintergrund scheint die Information aus Berlin zumindest fraglich, zumal auch die dem westfälischen Konsistorium ideologisch und personell nahestehende Zeitschrift Sulamith keine diesbezügliche Nachricht zu den Frauenbädern enthält.309 Dabei entspricht die von Jacobson in dem Schreiben vertretene Position durchaus der Linie der frühen Reformer, die keine substantielle Veränderung des Judentums, keine grundlegende Auseinandersetzung mit den halachischen Bestimmungen anstrebten, sondern lediglich eine kulturell-ästhetische Aufwertung, vor allem der äußeren Form des Gottesdienstes.310 Es wäre also, trotz fehlendem Hinweis, immerhin möglich, dass Jacobsons Antwort die im Konsistorium gefassten Beschlüsse wiedergibt, wobei deren Zugeständnis an den „Geist der Zeit“ in diesem Fall eben nicht über eine passive Reaktion hinausginge: kein aktives Einsetzen für die vermehrte Einrichtung wärmbarer Mikwen, sondern nur der erlaubte Aufschub des Tauchbads aus gesundheitlichen Gründen, d. h. das bedingte Anerkennen der ärztlichen Autorität innerhalb des von der Halacha vorgegebenen Rahmens. Den entscheidenden Impuls für ein konsequentes behördliches Vorgehen lieferte auch hier, ähnlich wie im Königreich Bayern, Momberts Buch Das gesetzlich verordnete Kellerquellenbad der Israelitinnen von 1828. Um sich über die Vorschriften hinsichtlich der Mikwen Klarheit zu verschaffen und allgemeine Regeln für deren Anlage aufzustellen, bat die niederhessische Regierung in Kassel als Folge den
308 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht des israelitischen Konsistoriums vom 12.1.1813 (Anlage zum Schreiben der Präfektur des Fulda-Departements in Kassel an die Großherzogliche Landesdirektion zu Würzburg vom 19.1.1813). 309 Die Bände von 1811 bis 1812 enthalten keine entsprechenden Nachrichten, 1813 erschien keine Ausgabe der Zeitschrift; siehe Sulamith 2 (1811) – 2 (1812). 310 Zu jüdischen Reformbestrebungen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts siehe Michael A. Meyer, „Jüdische Gemeinden im Übergang“, S. 125–134. Zum Königlich Westfälischen Konsistorium der Israeliten im Besonderen vgl. das entsprechende Kapitel in ders., Antwort auf die Moderne, S. 56–75.
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Rotenburger Rabbiner Israel Bär Levita311 im März 1829 um eine Stellungnahme zu dieser Schrift. Allerdings zeigte sich die Regierung unzufrieden mit Levitas Entwurf einer ‚Mustermikwe‘, unter anderem deshalb, weil der Entwurf nach wie vor eine unterirdische Anlage vorsah, und man ersuchte nun die Kurfürstliche Oberbaudirektion um eine Stellungnahme.312 Diese riet im September 1830 von einem festen Muster ab, vielmehr sollten bestimmte Vorgaben auf die lokal am besten geeignete Weise umgesetzt werden und dabei Folgendes beachtet werden: […] vor allem möchte Reinlichkeit, ein geräumiges, helles und gesundes Lokal, in Holz oder Steinen gefaßte Bäder, Wechsel des Wassers und geeignete Erwärmung des Lokals und des Wassers bei allen Anstalten dieser Art ausdrücklich vorgeschrieben und auf die Erfüllung dieser Vorschrift streng zu halten sein.313
Die Kasseler Regierung folgte dieser Einschätzung und erließ fast genau drei Monate später, am 21. Dezember 1830, eine entsprechende Verfügung an sämtliche Kreisämter der Provinz Niederhessen. Während die genaue Einrichtung nicht vorgeschrieben wurde, ordnete man an, „mit Nachdruck“ auf die Anlage zweckmäßiger Mikwen hinzuwirken; der Gebrauch derjenigen Mikwen, die als gesundheitsgefährdend eingestuft wurden, sei zu untersagen,314 und tatsächlich kam es in der Folgezeit auch zu Schließungen.315 Auch aus der Provinz Fulda sind Untersuchungen von Mikwen in den 1830er Jahren bekannt, ein ähnlicher Beschluss zur Verbesserung bzw. Schließung von unzweckmäßigen Anlagen ist für 1840 belegt.316 Noch 1842 beklagte allerdings der Regierungs-Medizinalreferent und Obermedizinalrat Dr. J. Schneider in Fulda, dass in ganz Kurhessen, im Gegensatz zu anderen Staaten, noch kein „wirkliches, ausführliches Landesherrliches Gesetz“ erfolgt sei;
311 Israel Bär Levita (ca. 1753 – nach 1831) wurde etwa 1817 Rabbiner im kurhessischen Rotenburg; nach einem seitdem anhaltenden Rechtsstreit mit seiner Gemeinde legte er 1831 sein Amt nieder (vgl. „Levita, Israel Bär“, in: BHR 1,2, S. 590). 312 Nuhn, Die Rotenburger Mikwe, S. 34–40. Zu den Details von Levitas Entwurf vgl. Altaras, Synagogen, S. 52, 55 (Anm. 29). 313 Schreiben der Kurfürstlichen Oberbaudirektion in Kassel vom 24.9.1830; zit. nach: Nuhn, Die Rotenburger Mikwe, S. 40. 314 Verfügung der Regierung der Provinz Niederhessen in Kassel vom 21.12.1830, zit. nach: Nuhn, Die Rotenburger Mikwe, S. 52. 315 Vgl. ebd., S. 64f. 316 Vgl. Altaras, Synagogen, S. 116–118. Der Beschluss vom 17. Juli 1840 erging nach einer bei Altaras zitierten Quelle (S. 118) von der Kurfürstlichen Regierung in Fulda, nicht der Regierung Kurhessens in Kassel.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
aus diesem Grund seien die bisher unternommenen behördlichen Bemühungen zur Verbesserung der Mikwen wenig erfolgreich gewesen.317 4.2.2.5 Herzogtum Nassau
Erst sehr spät, im März 1837, kam es im Herzogtum Nassau zu einer staatlichen Aufsicht über die kalten Frauenbäder. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, bewirkte hier nicht der Bericht eines Arztes, sondern das Schreiben des damals in Wiesbaden tätigen Rabbiners Abraham Geiger eine erste Inspektion der Mikwen durch die Amtsärzte.318 Eine „von Hoher Stelle“ ausgehende Verordnung befahl daraufhin „die sofortige Errichtung zweckgemäßer heitzbarer Badeanstalten, in welchen das zum Baden zu gebrauchende Wasser zugleich erwärmt werden kann“;319 ihre Kontrolle unterlag fortan der Sanitätspolizei.320 In Württemberg, wo man 1839 auch unter dem Eindruck der Vorgänge in Nassau eine neuerliche Inspektion der Mikwen des Jagstkreises angeordnet hatte, war man hierüber allerdings offenbar nicht informiert, jedenfalls berichtet das Medizinal-Collegium in seinem umfassenden Gutachten von 1843, dass ihm nicht bekannt sei, ob seit 1837 in Nassau bereits gesetzgeberische Maßnahmen ergriffen worden waren.321 4.2.2.6 Königreich Preußen
Einen gänzlich anderen Kurs als in den bisher betrachteten Staaten verfolgte man in Preußen. Hier erreichte 1817 ein Bericht der Königlichen Regierung zu Arnsberg
317 J. Schneider, „Ueber die Schädlichkeit der Kellerbäder“, S. 545f (Hervorhebung im Original). Das von ihm zu Beginn des Artikels genannte Jahr 1805 muss ein Schreibfehler sein, da er die von einem Kreisamt ergangene Anzeige in seiner Funktion als Medizinalreferent mit einem Hinweis auf Momberts Schrift von 1828 beantwortet (ebd. S. 538f). Er bezieht sich hier offensichtlich auf das genannte amtliche Vorgehen in den 1830er Jahren. 318 Siehe oben Kapitel 4.1.2. In einer Darstellung von 1864 mit dem Titel „Gebräuche und Missbrauche, Sitten und Religion“ gibt der Verfasser A. Lion sen. in Berlin abweichend den 6. März 1825 als Datum für eine nassauische Verordnung an. Dies scheint jedoch ein (Schreib-)Fehler zu sein, da andererseits Herrmann Wolff, der selbst als Arzt in Nassau tätig war und sich 1838 in einem Zeitschriftenartikel mit der dortigen Situation beschäftigt, hiervon nichts weiß, sondern vielmehr als Datum den 6. März 1837 angibt. Auch nennt Lion ausdrücklich Wolff als eine seiner Informationsquellen; siehe Lion, „Gebräuche und Missbräuche“, 11.12.1864, S. 525; Herrmann Wolff, „Zustand der Judenfrauenbäder“, S. 178. 319 Ebd., S. 179. 320 Vgl. „Antrag des Deputierten Johann Dietrich Dresel in der Landesdeputiertenversammlung des Herzogtums Nassau auf völlige Emanzipation der Juden. – Mai 1846, Wiesbaden“, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz (Hgg.), Dokumentation, Bd. 2, S. 209–225, hier S. 223. 321 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des Medizinal-Collegiums vom 16.2.1843[?].
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
das Ministerium des Innern, den diese Stelle unter Innenminister Friedrich von Schuckmann wie folgt abschlägig beschied: Das unterzeichnete Ministerium findet aus dem Bericht der Königl. Regierung zu Arnsberg vom 24sten v. M. keine Veranlassung, eine allgemeine gesetzliche Bestimmung wegen Abstellung des Badens der israelitischen Weiber in der von der Königl. Regierung angetragenen Art in Vorschlag zu bringen, da der Gegenstand von der Art ist, daß die Ausführung durch Gesetz weder ge- noch verboten werden kann, vielmehr nach wie vor der freien Willkür eines jeden Individui überlassen werden muß.322
Innerhalb der als Folge des Wiener Kongresses entstandenen preußischen Provinz Westfalen war die Stadt Arnsberg seit 1816 Regierungssitz für den gleichnamigen Regierungsbezirk. Die gesamte Provinz setzte sich aus historisch sehr unterschiedlichen Herrschaftsgebieten zusammen, was hinsichtlich der rechtlichen Situation der Juden für komplizierte Verhältnisse sorgte, die von der preußischen Regierung jedoch zu diesem Zeitpunkt bewusst nicht vereinheitlicht wurden.323 Auch hinsichtlich der kultischen Verhältnisse innerhalb der jüdischen Gemeinden verfolgte man von höchster staatlicher Stelle aus das Prinzip, den Status quo zu erhalten. Das Judentum, das lediglich als eine ‚Privatgesellschaft‘ geduldet war, sollte in seiner bisherigen, aus Sicht des protestantisch geprägten Staates unzeitgemäßen und unattraktiven Form gewissermaßen konserviert werden; auf diese Weise, so hoffte man, würden sich die aufgeklärten Juden über kurz oder lang dem Christentum zuwenden.324 Ließe man hingegen Änderungen des israelitischen Kultus zu oder ginge gar so weit, reformorientierte Strömungen staatlich anzuerkennen, so würden „die Juden der bürgerlichen Gesellschaft noch gefährlicher“, wie Minister von Schuckmann sich 1822 äußert.325 Auch 1815 war die hier an den Tag gelegte reformfeindliche Haltung Schuckmanns bereits prägend für die preußische Politik aus Berlin:326 Stände die neue Secte vom Staate als geduldet anerkannt nun erst da, so würde sie die mosaische Maske mit der lästigen Beschneidung wohl bald ablegen und wir hätten eine
322 „Das Baden der israelitischen Frauen betreffend. Reskript des Königl. Ministeriums des Innern an die Königl. Regierung zu Arnsberg“ vom 21.11.1817, in: Heinemann, Sammlung, S. 316f. 323 Vgl. hierzu Herzig, Judentum und Emanzipation, S. 16–23. 324 Vgl. das Schreiben Schuckmanns an Albrecht vom 2.12.1815, in: Michael A. Meyer, „Berlin“, S. 139–155, hier S. 152f. 325 Schreiben Schuckmanns an v. Witzleben vom 13.4.1822, zit. nach: Michael A. Meyer, „Berlin“, S. 155. 326 Vergleiche hierzu auch allgemein Michael A. Meyer, „Berlin“, sowie Herzig, Judentum und Emanzipation, S. 21.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
Gemeinde von Theophilanthropen, zu der mancher aus Eigennutz, um mit den reichen Juden in Geschäfts- und Familien Verbindung zu treten, und mancher aus neuerungssüchtiger Geckerei übertreten dürfte […].327
In der Provinz Westfalen verfolgte man zwar prinzipiell den von oben vorgegebenen restriktiven Kurs, überließ die Regelung der innergemeindlichen Angelegenheiten aber im Wesentlichen den jüdischen Gemeinden selbst; mitunter befürwortete man sogar – entgegen den Vorgaben aus Berlin – kultische Reformen, wie beispielsweise 1826 in der Frage der Einführung des Deutschen als Gottesdienstsprache.328 Als Erbe des ehemaligen Königlich Westfälischen Konsistoriums der Israeliten in Kassel mit Israel Jacobson an der Spitze, und unter Leitung von reformorientierten Rabbinern, Vorstehern und Laien konnte sich auf diese Weise bereits ab den 1820er Jahren in dem hauptsächlich ländlich geprägten Westfalen eine ausgesprochene Reformkultur entwickeln.329 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass auch schon 1817 die Frage der Erwärmung der Mikwen in der jüdischen Gemeinschaft so präsent war, dass man sich mit der Bitte um eine verbindliche Regelung an die Bezirksregierung wandte, die auch hier als Verbündeter für eine Modernisierung des Judentums angesehen wurde. Und wenngleich das preußische Innenministerium ein Einschreiten zugunsten der Reformer entschieden ablehnte, unterstützte die Regierung in Arnsberg ganz offensichtlich die diesbezüglichen Reformbestrebungen und förderte sie auch nach der Absage aus Berlin. So war es wieder die Regierung zu Arnsberg, die für die Verbreitung der 1824 im Druck erschienenen Schrift von Rabbiner Hirsch Cohen (Rappert) in den jüdischen Gemeinden des Bezirks sorgte. In seiner Reinigungs-Ordnung zum Gebrauche der israelitischen Weiber hatte der Geseker Reform-Rabbiner eine einfache und kostengünstig herzustellende, wärmbare Mikwe auf Regenwasser-Basis entworfen, die jedoch den Widerstand der Orthodoxen, allen voran des Münsteraner Oberrabbiners Abraham Sutro, hervorrief;330 auf diesen Aspekt soll in einem anderen Kontext näher eingegangen werden (Kapitel 6.2.2.1).
327 Schreiben Schuckmanns an Albrecht vom 2.12.1815, zit. nach: Meyer, „Berlin“, S. 152. 328 Vgl. Herzig, Judentum und Emanzipation, S. 19–22. 329 Zu nennen sind hier an prominenter Stelle Rabbiner Menachem Mendel Steinhardt, der Prediger und Obervorsteher Lazar Levy Hellwitz, Rabbiner Joseph Abraham Friedländer, sowie der Arzt Alexander Haindorf; vgl. Herzig (Hg.), Quellen, S. 20–25. Für die Entwicklung Westfalens zu einem Zentrum der Reform vgl. ebd., S. 25–28 und 41–52. 330 H. Cohen, סדרי טהרה. Reinigungs-Ordnung zum Gebrauche der israelitischen Weiber, Marburg 1824.
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4.2.2.7 Fazit: Zwei Modelle einer staatlichen Regulierung und deren Verlauf bis 1846
Auch wenn es natürlich einer weit detaillierteren Studie bedürfte, um die Beziehungen zwischen der Emanzipationspolitik eines Staates und den Maßnahmen bezüglich der Mikwen im Einzelnen zu untersuchen, so lassen sich doch selbst aufgrund der bisherigen Darstellung gewisse Zusammenhänge aufzeigen oder zumindest andeuten.331 Zusammenfassend kann man hinsichtlich der Staaten, in denen eine behördliche Aufsicht stattfand, zwei Modelle unterscheiden: In einer ersten Gruppe ergingen verbindliche Vorschriften von höchster Stelle und landesweit, meistens noch vor 1828; hierzu zählen das Königreich Württemberg (1821/ 1846), das Großherzogtum Baden (1822), das Großherzogtum Hessen (1825), das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach (nach 1829), und relativ spät auch noch das Herzogtum Nassau (ab 1837). In einer zweiten Gruppe erfolgte die Regelung nur dezentral, auf Ebene der verschiedenen Provinzen (Kurhessen) bzw. Kreise (Bayern); lediglich infolge von Momberts Schrift kam es hier einmalig zu landesweiten Inspektionen der Mikwen. Außerhalb dieser beiden Modelle steht das frühe Vorgehen der Behörden im Großherzogtum Würzburg. Um die Gesamtentwicklung besser nachvollziehen zu können, soll die folgende Tabelle das weiter oben Beschriebene nochmals knapp schemahaft abbilden: Jahr Ghzgt. Würzburg Kgr. Preußen Kgr. Württemberg Ghzgt. Baden Ghzgt. Hessen Kgr. Bayern Kft. Hessen Ghzgt. Sachsen-WeimarEisenach Hzgt. Nassau Kgr. Württemberg
landesweite Untersuchung
1812 1817 1821 1822 1825 1828+ 1828+ 1829+
✓ --✓ ? ? ✓ ? ✓
1837+ 1846
✓
Erwärmung des Wassers
heizbarer Raum
Wasseraustausch
--✓ ✓ ✓ (✓) (✓) ✓
---
---
✓ ✓ (✓) (✓) ✓
✓ (✓) (✓) ✓
✓ ✓
? ✓
? ✓
(✓) : keine gesamtstaatliche Regelung
Es fällt auf, dass die beiden Staaten, in denen das Judentum bereits früh mithilfe einer Oberkirchenbehörde (alternativ bezeichnet als Oberrat) in den Staatsapparat eingegliedert wurde, nämlich Baden und Württemberg, auch diejenigen sind, bei denen es als erstes zu einer gesamtstaatlichen Regelung kam. In Württemberg korrespondiert der Ministerialerlass vom April 1821 zur erstmaligen Untersuchung der 331 Erste Ausführungen hierzu erschienen 2020 in Schostak, „Entsakralisierung?“, S. 127–130.
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
Mikwen zudem zeitlich fast exakt mit den ersten Beratungen, die schließlich in dem „Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ von 1828 münden sollten. Zwar bildete den Hintergrund des Erlasses die Eingabe eines Arztes, der Zeitpunkt war somit nicht von der württembergischen Regierung selbst bestimmt – allerdings blieb eine frühere Eingabe, wenngleich mit anderem Hintergrund, 1817 noch ohne entsprechende Reaktion. Im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach ist der Zusammenhang zwischen dem erzieherischen Anspruch des Staates, der sich in einer aufgeklärt-etatistischen Emanzipationsgesetzgebung niederschlug, und der staatlich verordneten Reform der Mikwen noch offensichtlicher. Nicht nur waren die staatlichen Eingriffe in Kultusangelegenheiten der Juden hier allgemein sehr weitgehend, besonders in der Vorschrift der Verwendung des Deutschen im Gottesdienst, auch bezog man in dem genannten Gutachten von 1835, das über die erzielten Fortschritte hinsichtlich der „bürgerlichen Verbesserung“332 Auskunft geben sollte, ausdrücklich die Situation der Mikwen mit ein. Die Modernisierung der Mikwen wurde dort vorangetrieben, wo es in die staatliche Politik passte – und die zunächst innerjüdische bzw. ärztliche Vision auf diese Weise zur staatlich betriebenen ‚Mission Mikwe‘. Umgekehrt unterblieb eine Regelung dort, wo man nicht an einem modernisierten Judentum interessiert war, so dass sich verallgemeinernd ein Süd-Nord-Gefälle ausmachen lässt, in dem sich vor allem die größeren süddeutschen Staaten und Preußen gegenüberstanden. Dass die frühesten Impulse für eine staatliche Aufsicht über die Mikwen gerade aus ersteren stammen, ist dabei selbstverständlich auch der Dringlichkeit des Problems geschuldet, gab es doch gerade in den nördlichen Teilen Badens, Württembergs und Bayerns (einschließlich dem früheren Großherzogtum Würzburg), aber auch in den hessischen Gebieten, sehr viele kleine und kleinste Landgemeinden mit nur wenigen jüdischen Familien. Während in größeren bzw. wohlhabenderen Gemeinden teilweise schon vor 1820 wärmbare Mikwen eingerichtet waren, fehlten an solchen Orten in der Regel die Mittel, um dies zu verwirklichen. Dieses hier knapp skizzierte Bild wäre durch weitere Archivrecherchen noch zu differenzieren. Insbesondere stellt sich die Frage nach der Situation in denjenigen Staaten, die bisher ganz außer Acht gelassen wurden, weil sich – weder im öffentlichen Diskurs noch in den hier betrachteten Archivalien aus anderen Gebieten – prominente Hinweise darauf erhalten haben. Kam es hier zu einer behördlichen Aufsicht zumindest auf mittlerer und unterer Verwaltungsebene? Gerade auch vor
332 So die zeitgenössische Bezeichnung, die bereits Dohm in seiner einflussreichen Schrift von 1781 verwendet (vgl. Dohm, Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden). Zum Begriff „Verbesserung“ sowie allgemein dem Verlauf der Emanzipation der Juden im deutschsprachigen Raum vgl. Birgit E. Klein, „Emanzipation, 2. Judentum“.
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
dem Hintergrund der Vorgänge in Bayern und Kurhessen, wo konkrete Maßnahmen offenbar nicht zentral angeordnet wurden, ist durchaus mit lohnenswerten Ergebnissen zu rechnen. Wenngleich somit die Anfänge einer staatlichen Aufsicht über die Mikwen in den betrachteten Staaten bis in die frühen 1820er Jahren reichen, teils sogar in das vorausgegangene Jahrzehnt, waren doch weitere Faktoren nötig, um den Prozess voranzutreiben. Den wichtigsten Einschnitt bilden in diesem Zusammenhang Momberts Schriften von 1828 und 1830. Sie setzten nicht allein in der medizinischen Fachwelt neue Maßstäbe, sondern weckten – oder stärkten – darüber hinaus auch bei staatlichen Behörden das Bewusstsein für nötige Verbesserungsmaßnahmen und markierten so den Beginn einer neuen Phase in der Modernisierung der Mikwen. Auch in diesem Punkt bildete Preußen eine entschiedene Ausnahme. Momberts Appell an die Gesundheitsbehörden setzte der damals zuständige Minister Freiherr von Altenstein entgegen, dass die Beschneidung individueller Freiheitsrechte in diesem Fall nicht gerechtfertigt sei, und zudem gesetzliche Verbote gegen altüberlieferte religiöse Missbräuche keine Wirkung zeigten.333 Nur wenige Jahre später, unter dem Eindruck der europaweiten Choleraepidemie ab 1831/32, erhielt das von Mombert eingeforderte Vorgehen gegen die gesundheitsgefährdenden Kellerquellenbäder nochmals eine besondere Dringlichkeit. Da jedoch der Punkt ‚Hygiene‘ seither ohnehin im Blickfeld der Ärzte bzw. Gesundheitsbehörden lag, erübrigte sich eine grundlegende Neuausrichtung. Auch in Baden oder Württemberg, wo ein regelmäßiger Wasseraustausch bisher nicht angeordnet war, unterblieb eine umgehende Reaktion hierauf in Form einer Erweiterung der staatlichen Agenden. Allerdings waren die Behörden vor Ort alarmiert und unter Umständen weniger gewillt, bei der Umsetzung geforderter Maßnahmen auf mögliche Einwände Rücksicht zu nehmen, wie die Beispiele Fürth (Franken) und Homburg (Pfalz) zeigen. Die angesichts der Cholera von den Mikwen zu befürchtende Gefahr schildert anschaulich das Schreiben des Fürther Stadtmagistrats vom September 1831; die Fürther Mikwe im ‚Schulhof ‘ sei als „sehr gefahrendrohend“ einzuschätzen, […] weil nach den bekannten Erfahrungen, Erkältung, dumpfe Keller-Luft und Nässe, dann Unreinlichkeit und Zusammentreffen vieler Menschen in einem ungesunden Auf-
333 Dies geht aus einem persönlichen Schreiben hervor, das der Minister an Mombert richtet als Reaktion auf dessen Publikation von 1828; Mombert zitiert den Abschnitt in seiner Schrift von 1830 (Moritz Mombert, „Bad“, S. 278–280).
‚Mission Mikwe‘: Ritualbäder unter staatlicher Aufsicht
enthalts Orte, gar leicht diese Seuche entweder erzeugen, oder doch den menschlichen Körper für sie empfänglich machen können.334
Am 1. November wurde daraufhin die Schließung angeordnet.335 In Homburg wurde der schon seit dem ‚Mombert-Erlass‘ geforderte Neubau auf Druck der Behörden hin 1832 schließlich erstmals in Angriff genommen; Auslöser war hier der Bericht des zuständigen Kantonsarztes über verschiedene hygienische Missstände in Homburg, darunter auch die Mikwe, welche die Ausbreitung der bereits bis Paris vorgedrungenen Cholera beförderten.336 Nicht selten zog sich die Modernisierung der jüdischen Kellerquellenbäder noch bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hin, wobei jedoch die ‚dynamische‘ Phase der staatlichen Aufsicht, in der man den Prozess aktiv prägte, in der Regel weit vor 1850 abgeschlossen war. Den Schlusspunkt markiert wiederum Württemberg, wo es einzig noch nach 1840, als Spätfolge der Inspektionen im Jagstkreis von 1839, zu einer gesamtstaatlichen Neuregelung kam; diese „Normen für Einrichtung der Tauchbäder“ von 1846 gaben daraufhin Anlass für eine erneute Bestandsaufnahme und anschließende Auflagen an die Gemeinden zur Nachbesserung.337 Beispielhaft für die in Bayern mitunter noch lange vorhandenen Defizite kann die Mikwe im unterfränkischen Hörstein genannt werden, die noch 1879 von dem zuständigen Bezirksarzt als „wüstes Wasserloch“338 bezeichnet wurde, da hier unter anderem nicht nur die geforderte Auskleidung des Beckens mit Holz unterblieben war, sondern ebenso eine Wasserzuleitung mittels Hahn; die angemahnten Veränderungen wurden dann offensichtlich noch im gleichen Jahr ausgeführt.339 Selbst zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfügten jedoch manche Mikwen in ländlichen Gemeinden noch nicht über einen angemessenen technischen Standard, wie die Erinnerung von Klara Scheuer an das Ritualbad in Heldenbergen (Kurhessen) zeigt: Die Mikwe war ein kleines Haus neben der Synagoge, man ist innen einige Treppen hinuntergegangen, dort zog man sich aus, gewaschen hatten wir uns ja vorher zu Hause.
334 Staatsarchiv Nürnberg, Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. V, Nr. 312 II: Schreiben des Stadtmagistrats an die Regierung des Rezatkreises vom 14.9.1831, zit. nach: Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 287. 335 Für die Vorgänge um die Fürther Mikwe siehe ebd. Es handelt sich um die 1828 von Dr. Solbrig besichtigte Mikwe, deren genaue Lage innerhalb des ‚Schulhofs‘ jedoch unklar ist (vgl. Anm. 242 in Kapitel 3). 336 Vgl. hierzu Blinn, Juden in Homburg, S. 117f, 206 (Anm. Nr. 174). 337 Vgl. StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405. 338 Landratsamt Aschaffenburg, Bezirksamt Alzenau, Nr. 591/333: Bericht von Bezirksarzt Dr. Schmitt aus Alzenau vom 13.5.1879, zit. nach: Körner, „Der Gesundheit sehr nachteilig“, S. 121; vgl. ebenfalls Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. III/1, S. 95. 339 Vgl. ebd., sowie Körner, „Der Gesundheit sehr nachteilig“, S. 121f.
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Die Mikwe war ein längliches Becken, man ging da etwa 7 bis 8 Stufen zu dem Becken hinunter und ging hinein. Man mußte ganz untertauchen. Es war ein Ofen dort, eine Frau machte Wasser warm und schüttete es zu dem Wasser der Mikwe. Wir mußten eine Gebühr dafür bezahlen. Einige Frauen gingen regelmäßig einmal im Monat. Ich bin nur vor meiner Hochzeit im Jahre 1913 gegangen.340
Auch vor dem Hintergrund innerjüdischer Reformansätze, auf die in Kapitel 6.2 eingegangen werden soll, stellt die Mitte der 40er Jahre für die Geschichte der Mikwe eine Zäsur dar. 1845 wurde auf der Zweiten, in Frankfurt abgehaltenen Rabbinerversammlung, die Zulässigkeit von ‚geschöpftem Wasser‘ für die Herstellung von Tauchbädern diskutiert und, bei „motivirter Abstimmung“ positiv beantwortet; demnach konnte selbst ein einfaches Wannenbad das Untertauchen in der traditionellen Mikwe ersetzen – und das halachisch geforderte Ritualbad war fortan, zumindest in den Augen dieses Gremiums von reformorientierten Rabbinern, nicht länger ein Muss für eine jüdische Gemeinde.341 Wenngleich der innerjüdische Kulturkampf um die Mikwe hiermit bei Weitem nicht ausgetragen war, so bedeutete dieses Ergebnis doch einen entscheidenden Wendepunkt, insofern als nun ein authentischer jüdischer Standpunkt vorlag, den sich auch ein Staat für seine Gesetzgebung zu eigen machen konnte. Zwar war der staatliche Regelungsbedarf zu diesem Zeitpunkt im Wesentlichen schon beendet; dennoch fanden die Beschlüsse der Rabbinerversammlung noch einen direkten Widerhall in den auch über Württemberg hinaus bedeutsamen „Normen für die Einrichtung der Tauchbäder“, deren ungewisses Schicksal schon der Titel selbst programmatisch enthält – die Vorschriften sollten für Mikwen dort gelten, „wo solche beibehalten werden wollen.“342 Auf diese Weise besiegelten die Beschlüsse von 1845 formal und faktisch das Ende der dynamischen Phase einer aktiven staatlichen Auseinandersetzung mit den religionsgesetzlichen Vorgaben zu Mikwen.
340 Erinnerungen von Klara Scheuer, zit. nach: Kingreen, Jüdisches Leben in Windecken, S. 316. 341 O.V., „Die zweite Rabbinerversammlung. (Schluß)“, S. 494; vgl. zu diesem Aspekt ausführlicher Kapitel 6.2.1. 342 StA Ludwigsburg, F 188 Bü 1401: Erlass des Ministeriums des Innern an die vier Kreisregierungen vom 4.8.1846 (Teil III); Hervorhebung nicht im Original.
5.
Mikwen und Macht: Reibungsflächen im Modernisierungsprozess
Wie bereits am Beispiel des Königreichs Württemberg, aber auch von anderen Regionen deutlich wurde, stand der ab etwa 1820 einsetzenden Modernisierung der Mikwen vor allem die Armut vieler ländlicher Gemeinden im Weg. Daneben galt es auch bestimmte innerjüdische Widerstände zu überwinden. Diese konnten sich aus der traditionellen Organisationsform jüdischer Gemeinden ergeben, lagen aber auch in der spezifischen Zusammensetzung einer örtlichen Gemeinschaft begründet, wie dem Grad der Ausrichtung Einzelner an religiösen Vorgaben sowie dem Einfluss übergreifender bzw. gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen, denen sich auch die Juden dieser Epoche nicht entziehen konnten. Auf diese Weise kristallisierten sich an der Oberfläche der Mikwenproblematik zugleich zeittypische innerjüdische Spannungen: In dem Mikrokosmos der dörflichen oder kleinstädtischen Gemeinde wurden die feinen Risse innerhalb der traditionellen jüdischen Gemeinschaft auf exemplarische Weise sichtbar, einer Gemeinschaft, die sich unter dem doppelten Druck von außen und innen nicht nur in dieser Frage neu positionieren musste. War gar der Neubau einer Mikwe nötig, so verschärfte dies nicht nur intern die Problematik, sondern konnte darüber hinaus auch zu Konflikten mit der christlichen Umgebung führen, welche die potentielle Veränderung der Dorfstruktur teilweise als Bedrohung empfand. Im Folgenden sollen nun solche lokalen Reibungsflächen, die für den Prozess der Modernisierung der Mikwen als charakteristisch gelten können, in ihrem gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang betrachtet werden. Anders als bei der auf höherer Ebene stattfindenden ideologischen Auseinandersetzung mit dem Thema Mikwe und Reinheit (Kapitel 6), ging es vor Ort zunächst – oder auch – um die Durchsetzung sehr persönlicher, handfester Interessen, wobei diese aber nicht losgelöst von innerjüdischen bzw. gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen zu sehen sind. Aus diesem Grund wird insbesondere auf den infolge des Gesundheitsdiskurses der Aufklärung geänderten Stellenwert des Badens einzugehen sein, allgemein auch auf Reinlichkeitsvorstellungen und damit verknüpfte Themenkomplexe. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des großen gesellschaftlichen Panoramas ist das Mächteringen um die moderne Gestalt des alten ‚Frauenbads‘ somit mehr als nur ein Spiegelbild der ländlichen jüdischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sondern vielmehr Symbol: einer jüdischen Lebenswelt, die sich zwischen den Polen von noch immer bewahrten Formen traditioneller Frömmigkeit und den Anforderungen und Anfechtungen der im Entstehen begriffenen bürgerlichen Gesellschaft der Moderne zu behaupten hat.
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5.1
Innerjüdische Konstellationen
Gemäß dem jüdischen Religionsgesetz ist es Aufgabe der Gesamtheit der steuerpflichtigen Mitglieder einer Gemeinde, zur Einrichtung eines Ritualbads beizutragen. Auch diejenigen, die keinen unmittelbaren Nutzen hiervon haben, wie beispielsweise Witwer, sind nicht von dieser Pflicht befreit.1 Dieser noch im ausgehenden Mittelalter formulierte Anspruch der gemeinschaftlichen Fürsorge für die Mikwe, nicht zuletzt Ausdruck ihres hohen Stellenwerts für die jüdische Gemeinschaft, hielt allerdings der neuzeitlichen Realität im Heiligen Römischen Reich nicht unbedingt stand. Tatsächlich unterschied sich die Situation wohl vielerorts von dem Ideal einer gemeindeeigenen Mikwe, zumindest was die kleineren ländlichen Gemeinden angeht. Zwar ist kaum noch im Detail nachvollziehbar, wie viele der an solchen Orten vorhandenen Mikwen de facto Gemeindeeigentum waren, jedoch spricht ihre Lage bis ins ausgehende 18. Jahrhundert sehr häufig dagegen. Beispielhaft für diese Tendenz steht auch hier der württembergische Jagstkreis: Diejenigen Mikwen, die in öffentlichen Gebäuden, d. h. Synagogen, Schulen oder freistehenden Badehäuschen untergebracht waren, datieren frühestens aus dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts.2 Verbreiteter war hier bis zur Jahrhundertwende, wie vermutlich mehrheitlich in den ländlich geprägten Regionen des süddeutschen und hessischen Raums,3 die Anlage der Mikwe im Keller eines Privathauses, wobei selbst in relativ kleinen Ortschaften mehrere Kellerquellenbäder vorhanden sein konnten; in Michelbach mit 139 jüdischen Einwohnern im Jahr 18124 bestanden 1821 sogar sechs bis sieben private Anlagen neben der ‚öffentlichen‘ Mikwe im Haus des Lehrers.5
1 Sogar eine Minderheit kann in diesem Fall die Mehrheit zum Beitrag verpflichten; siehe SchA, Choschen mischpat 163,3; [Jehuda ben Elieser Minz], „Sche’elot u-tschuwot“, Nr. 7, in: Sche’elot u-tschuwot Mahari Minz u-Maharam Padu’a sz ״l; vgl. auch Stern, „Akiba Eigers Gutachten“, S. 38. 2 Vergleiche hierfür auch die beiden Tabellen 1 und 2 (Anhang I). Lediglich im Fall von Michelbach ist das Alter der im Schulhaus befindlichen Mikwe unsicher; alle anderen Mikwen in öffentlichen Gebäuden, deren Lage 1839 beschrieben wird, stammen aus der Zeit ab 1791. 3 Etwas anders stellt sich allerdings das Verhältnis in dem von Distriktsarzt Weinrich aus Marktsteft 1812 untersuchten Bezirk dar. Laut seinem Bericht an die Großherzogliche Landesdirektion in Würzburg waren von den untersuchten acht Ritualbädern drei sicher Eigentum der Gemeinde (Marktbreit, Obernbreit und Rödelsee), eine hingegen auch im Haus eines Christen untergebracht; siehe StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirektion vom 21.9.1812. Für die Situation in Franken, die auf diesen Aspekt hin noch nicht gezielt untersucht wurde, sei auf die einzelnen Ortsartikel in Mehr als Steine verwiesen; Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bde. II und III. Auch zu Hessen liegen diesbezüglich keine zuverlässigen Ergebnisse vor; vgl. hierzu sowie allgemein zu diesem Thema Kapitel 3.1. 4 Sauer, Gemeinden in Württemberg, S. 127. 5 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 27.10.1821.
Mikwen und Macht: Reibungsflächen im Modernisierungsprozess
5.1.1
Strukturimmanente Schwierigkeiten beim Übergang zur ‚öffentlichen‘ Gemeindemikwe
Die Mikwen in Wohnhäusern konnten primär oder ausschließlich für den privaten Gebrauch einer Familie bestimmt sein. In der Regel war jedoch die Mitnutzung durch andere Gemeindemitglieder in irgendeiner Form gewährleistet, sofern nicht ein weiteres Ritualbad im Ort vorhanden war, wie etwa das Beispiel Neunkirchen zeigt: Seit etwa 6 Jahren [d. h. etwa ab 1832] hat die dortige israelitische Gemeinde ein gemeinsames Frauenbad. Vor dieser Zeit bedienten sich die Judenfrauen eines Privatbades, welches der Vorsteher dieser Gemeinde, Löw Werthheimer, für den Zweck seiner Familie in seinem Hause auf eigene Kosten vorlängst errichtet hat.6
Bei einem entsprechenden Vermögen konnte ein solches Privatbad auch bereits sehr früh mit einer Einrichtung für die Erwärmung des Wassers ausgestattet sein. So handelte es sich bei einem der drei 1821 im Jagstkreis vorhandenen ‚warmen Bäder‘ um die Mikwe des Weikersheimer Hofagenten Pfeiffer, die allerdings 1839 laut einem ärztlichen Bericht schon nicht mehr bestand: Auser diesem öfentlichen Frauen Baad hat der verstorbene Hofagent Pfeifer in seinem Garten Salon ein sehr schönes zwekmäsiges und heizbaars Baad mit vielen Kosten einrichten und erbauen laßen .–. welches aber durch das Absterben dieser verehrlichen Familie,7 und den Verkauf alles [sic] Mobiliarien – worunter auch der Baad Keßel und Wannen begriffen wurden – wieder eingegangen ist.8
Während in dem ersten Bericht des Oberamts Mergentheim von 1821 nur davon die Rede ist, dass in Weikersheim „der Gebrauch des kalten Baades noch statthabe“ und die Privatmikwe des Hofagenten unerwähnt bleibt, heißt es dann in einem weiteren Bericht, datiert 5. November 1821, dass es den Weikersheimer Jüdinnen erlaubt sei, ebenfalls dieses geheizte Bad zu nutzen. Über die Hintergründe hierzu ist leider nichts weiter überliefert; möglicherweise handelt es sich um eine Übergangslösung,
6 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Bauer über die Mikwe in Neunkirchen vom 10.1.1839 (Anlage zum Bericht des Bezirksamts Weikersheim vom 14.1.1839). 7 Der letzte in Weikersheim ansässige Hoffaktor aus der Familie Pfeiffer war Aaron Pfeiffer, der 1837 starb; siehe Sauer, Gemeinden in Württemberg, S. 190. 8 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Krauß über die Mikwen in Weikersheim vom 9.1.1839 (Anlage zum Bericht des Bezirksamts Weikersheim vom 14.1.1839).
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die den Forderungen der Regierung genüge leisten sollte, bis schließlich 1825 die Mikwe in der neuen Synagoge fertiggestellt war.9 Die Frage der Finanzierung
Entsprach die Einrichtung einer Kesselanlage nicht wie hier dem Wunsch des (zugleich vermögenden) Eigentümers, so erschwerte die Unterbringung in einem Privathaus häufig die Modernisierung der Mikwe. Nicht selten war, aufgrund der Beschaffenheit des Kellers, ein Neubau unumgänglich, um den staatlichen Forderungen zu entsprechen, überforderte aber möglicherweise die finanziell nicht leistungskräftige Gemeinde.10 Mit dem Ministerialerlass vom August 1821 sahen sich die jüdischen Gemeinden Württembergs nun vor ein doppeltes Problem gestellt: Zum einen musste die vorhandene Mikwe grundlegend erneuert, bisweilen sogar durch einen Neubau ersetzt werden, zum anderen galt es der staatlichen Forderung nach Bereitstellung von warmen Bädern auch für die unvermögenden Frauen Folge zu leisten. Bisher waren einer Gemeinde durch die Mikwe aber im Allgemeinen keinerlei Kosten entstanden, im besten Fall diente diese sogar als Einnahmequelle für den Gemeindehaushalt, wie beispielsweise im alt-württembergischen Jebenhausen. Schon bald nach der Ansiedlung der ersten 20 Familien im Jahr 1777 durch den Freiherrn Philipp Friedrich von Liebenstein wurde dort gemäß dem erteilten Schutzbrief eine Mikwe errichtet, für die jährlich 2 fl. Abgaben an die Obrigkeit zu leisten waren.11 Die Gemeinde wiederum übertrug die Rechte an der Mikwe einem privaten Pächter, zumeist dem Vorbeter oder Gemeindediener, der hierfür einen festgesetzten Pachtzins zu entrichten hatte. Der Satz für diese offensichtlich nicht unrentable Einnahmequelle wurde mehrmals erhöht und betrug zuletzt, im Jahr 1836, 36 fl.12 Auch andernorts bedienten sich die Gemeinden ähnlicher Geschäftsmodelle, um vom Betrieb einer Mikwe zu profitieren, so etwa in Altona, wo ab 1685 die Einnahmen aus dem neu errichteten gemeindeeigenen Tauchbad maßgeblich zum Gemeindeetat beitragen sollten. In den unmittelbar vorausgehenden Jahren waren dort zwei Mikwen in Privathäusern in Betrieb gewesen, die jedoch von den Eigentümern im Einvernehmen mit der Gemeinde ähnlich einem Franchise-
9 StA Ludwigsburg E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 24.5.1821; Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 5.11.1821. 10 Im Jagstkreis war dies beispielsweise der Fall in Dünsbach, Hohebach, Crailsheim und Ingersheim; siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Oberamtliches Protokoll, Crailsheim 10.12.1821 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Crailsheim vom 10.12.1821); Bericht des Schultheißen von Dünsbach vom 10.10.1821 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 27.10.1821); Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 1.6.1822. 11 Sauer, Gemeinden in Württemberg, S. 82f; Aaron Tänzer, Juden in Jebenhausen und Göppingen, S. 205f. 12 Ebd., S. 206.
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Unternehmen geführt wurden und auf diese Weise ebenfalls die Gemeindekasse füllten.13 In kleineren Gemeinden hingegen waren die Rahmenbedingungen für die Nutzung der rein privaten Einrichtungen vermutlich in vielen Fällen nicht offiziell geregelt, zumal sich diese teilweise im Besitz von Christen befanden und mitunter dem ortsansässigen Rabbiner noch nicht einmal bekannt waren.14 In jedem Fall aber waren die zu entrichtenden Nutzungsgebühren von den Frauen selbst zu tragen, so dass der ursprüngliche Gedanke von der solidarischen Finanzierung des Frauenbads in der neuzeitlichen Realität kaum noch eine Rolle spielte, möglicherweise auch bei vielen in Vergessenheit geraten war. Vielmehr war der finanzielle Aufwand an den Besuch der (meist privaten) Einrichtung gekoppelt und deren Unterhalt damit in der Praxis, wenn auch nicht der Theorie, ausschließlich eine Privatangelegenheit der Betroffenen. Aus diesem Grund konnte eine Belastung der Gemeinschaft, wie sie staatliche Behörden forderten, auf Widerstand stoßen, wie Rabbiner Marum Wolf im württembergischen Niederstetten 1821 zu Protokoll gab: Dem Gebrauch der warmen Bäder, stehe blos der Kosten Aufwand im Weg. Eine Gemeinde wie die hiesige un[d] andere im OberAmt, könne diesen Aufwand nicht bestreiten. Besondern Anstand würde es haben, wenn der Aufwand auf gemeinschaftl. Kosten gehen sollte, da von jeher jede Familie besonders dafür zu sorgen gehabt habe.15
Dabei dürfte sich die Zahl derjenigen Steuerzahler, bei denen kein Familienmitglied auf die Einrichtung einer Mikwe angewiesen war, in Grenzen gehalten haben; allerdings bedeutete eine öffentliche Finanzierung eben auch, dass wohlhabendere Gemeindemitglieder im Verhältnis einen größeren Beitrag zu leisten hatten, unabhängig von der Häufigkeit des Mikwenbesuchs. Das bisherige System hingegen hatte diese Gruppe ganz klar begünstigt, indem man für eine höhere finanzielle Leistung auch einen größeren Service, nämlich eine gewärmte Mikwe, erhielt. Was auch immer der persönliche Hintergrund sein mochte, tatsächlich verschaffte sich
13 Die Bezeichnung Franchise-Unternehmen stammt ebenso wie die hier aufgeführten Details zu Altona von Debra Kaplan (siehe Kaplan, „To Immerse their Wives“, S. 268). 14 Von einem solchen Fall berichtet beispielsweise ein Rabbiner in einer Frage, die er an seinen bekannten Lehrer R. Jakob Emden (1697–1776) richtet. Demnach hatten die Frauen eines (nicht näher bekannten) Ortes in Mecklenburg-Schwerin den christlichen Eigentümer einer Mikwe gebeten, ihnen anstelle der unreinen alten eine neue Mikwe zu bauen, die zugleich leichter wärmbar sein sollte. Erst als diese bereits einige Zeit in Betrieb war, erfuhr der zuständige Rabbiner hiervon (siehe Emden, She’ilat ja‘awez, Teil 2, Nr. 53). 15 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Protokoll über die Vernehmung von Rabbiner Mahrum Wolf am 16.5.1821 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 17.5.1821).
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die Gruppe derjenigen, die einen gemeinschaftlichen Beitrag zu dieser Gemeindeeinrichtung ablehnten, mancherorts Gehör. So macht Distriktsarzt Weinrich in Marktsteft (Großherzogtum Würzburg) die „Hartherzigkeit und Kargheit“ mancher als einen der Gründe dafür aus, dass in seinem Bezirk 1812 noch keine warmen Tauchbäder eingerichtet waren, obwohl viele Frauen und ihre Ehemänner dies wünschten.16 Weinrich, der sich ein recht umfassendes Bild der Situation vor Ort gemacht und hierfür auch mit zahlreichen Jüdinnen gesprochen hat, ist bei seiner Einschätzung eher zurückhaltend. Nichtsdestotrotz scheint mir sein Urteil gerade auch deshalb nicht unbedeutend, weil es von einem christlichen Arzt stammt, der seinen Einblick in die jüdischen Gemeindestrukturen ausschließlich der Beschäftigung mit dem Thema der Mikwen verdankt. Selbst wenn der von ihm gewonnene Eindruck möglicherweise relativ subjektiv ist, und auf die Aussagen (oder seine Einschätzung) weniger zurückgeht, so zeigt er dennoch eine zumindest unterschwellig in den Gemeinden vorhandene Stimmung auf. Andernorts kam es auch zu offenem Widerstand, indem sowohl Einzelne, wie noch 1859 Mändlein Einhorn aus dem württembergischen Goldbach,17 als auch Teile der Gemeinde vor Gericht klagten. Aus diesem Grund wurde der Berliner Vize-Oberlandesrabbiner Meyer Simon Weyl18 zwischen 1806 und 1810 zweimal behördlicherseits um ein Gutachten gebeten: Erstmals hatte sich 1806 im preußischen Stargard (Pommern, heute polnisch Stargard Szczeciński)19 eine Gruppe gegen den geplanten Neubau einer wärmbaren Mikwe gestellt, 1810 wiederholte sich dies im brandenburgischen Nauen.20 Weyl urteilt beide Male unmissverständlich, dass „die Kosten des Badehauses überhaupt zu den allgemeinen Gemeindekosten gehören, wozu die ganze Gemeinde ohne Ausschluß kontribuiren muß“, und fügt hinzu, dass es ihn „befremdet, wie ein jüdischer Hausvater gegen diese allgemeine Usance und Pflicht sich opponiret.“21
16 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirektion vom 28.4.1812. 17 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht des K. Oberamts Crailsheim vom 12.7.1859. 18 Meyer Weyl (1744–1826) war seit 1809 Vize-Oberlandesrabbiner für Berlin und die Kurmark Brandenburg (siehe „Weyl, Meyer“, in: BHR 1,2, S. 900). 19 Zur Identifizierung als Stargard in Pommern vgl. das Anschreiben an Rabbiner Weyl: „Schreiben der Kurmärk. Kriegs- und Domainenkammer an den Vice-Ober-Landrabbiner, Herrn Meyer Simon Weyl und Assessoren in Berlin“ vom 6.1.1806, in: Heinemann, Sammlung, S. 332f. In Stargard lebten bereits um 1700 einige wenige jüdische Familien, 1812 waren es bereits 77 (siehe Alicke, „Stargard (Hinterpommern)“, in: Lexikon der jüdischen Gemeinden, Bd. 3, Sp. 3911–3914, hier Sp. 3912). 20 Wobei im Fall von Nauen nicht explizit gesagt wird, dass es um den Bau einer wärmbaren Mikwe geht; es kann dies aber vermutet werden. Beide Gutachten sind abgedruckt bei Heinemann, Sammlung, S. 333–336. 21 „Gutachten des Vice-Ober-Landrabbiners“ vom 5.3.1810, in: Heinemann, Sammlung, S. 336 (Hervorhebung im Original).
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Zugleich hebt auch er hervor, dass die jedesmal anfallenden Nutzungskosten von dieser Regelung ausgenommen sind: Wir fügen aber hinzu, daß die Kosten des Heizens, so wie das Honorarium der Frau, welche beobachtet, daß die Badende sich gehörig untergetaucht habe, von dem Individuum, das sich des Bades bedient, jedesmal geleistet werden müsse; hierüber waltet aber keine Streitigkeit ob, und ist aus dem Gutachten qu. zu ersehen, daß das Bad daselbst [in Stargard], so wie an allen Orten, wo dergleichen Bade-Anstalten sind, an eine ehrbare Matrone verpachtet ist, welche neben der Aufsicht auch die Heizung besorgt, und dafür von den jedesmal Badenden ein von den Aeltesten zu bestimmendes Honorar erhält.22
Wenngleich die Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts insofern eine besondere war, als der bequeme Status quo der vorherrschenden Eigenfürsorge plötzlich gefährdet war und die Frage der solidarischen Finanzierung eines (neuen) wärmbaren Tauchbads nun vielerorts auf der Tagesordnung stand, war der Protest hiergegen doch nichts Neues. Nach dem einschlägigen Responsum von R. Mahari Minz (geb. etwa 1408, gest. 1506 in Padua)23 zur Finanzierung der Frauenbäder bedienten sich Ehemänner auch schon zu seinen Lebzeiten des Arguments, dass ihre Frauen für das vorgeschriebene Ritualbad zu alt seien, um hiermit gegen ihre Beitragspflicht zu klagen.24 In diesem Licht betrachtet mag ein guter Teil der Gründe für den erneut aufkeimenden Widerstand gegen die gemeinschaftliche Umlage weniger den speziellen Zeitumständen, d. h. dem aus der bisherigen Praxis abgeleiteten ‚Gewohnheitsrecht‘, sondern einfach menschlichen Motiven geschuldet sein, genauer der Bereitschaft, die eigenen Interessen notfalls gegen das Gemeinwohl zu verteidigen. So vermutet auch Rabbiner Weyl hinter dem Protest in der relativ wohlhabenden Gemeinde von Stargard in Pommern eher „Zank- und Streitsucht“.25 Allerdings lässt Weyls Gutachten noch einen weiteren Aspekt durchscheinen, nämlich die Ansicht der protestierenden Minderheit, dass es sich bei dem Ritual des Tauchbads um eine bloße „Zeremonie“, nicht aber „wesentliches mosaisches
22 „Antwortschreiben des Vice-Ober-Landrabbiners und der Assessoren“ vom 10.4.1806, in: Heinemann, Sammlung, S. 333–335, hier S. 335 (Hervorhebung im Original). 23 Die Familie von R. Jehuda ben Elieser (oder Mahari) Minz stammte ursprünglich aus Mainz, wovon sich auch ihr Name ableitet. Er selbst wurde möglicherweise dort geboren, verbrachte aber die zweite Hälfte seines Lebens in Padua, wo er als Rabbiner und Leiter einer Talmudhochschule tätig war; siehe Eidelberg, „Minz, Judah ben Eliezer ha-Levi“, S. 303. 24 [Jehuda ben Elieser Minz], „Sche’elot u-tschuwot“, Nr. 7, in: Sche’elot u-tschuwot Mahari Minz u-Maharam Padu’a sz ״l. 25 „Antwortschreiben des Vice-Ober-Landrabbiners und der Assessoren“ vom 10.4.1806, in: Heinemann, Sammlung, S. 334.
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Gesetz“26 handelt. Weyl geht hierauf nicht weiter ein, und es muss letztlich offenbleiben, ob dies lediglich als ein oberflächliches, nur vorgeschobenes Argument dient, ein Mittel zum Zweck, oder ob sich in Stargard bereits 1806 eine kleine aufgeklärte Opposition gebildet hatte, die das Gebot der Mikwe grundsätzlich in Frage stellte. Das Anschreiben der Kurmärkischen Kriegs- und Domänenkammer, das die Situation in Stargard nicht nur umreißt, sondern Rabbiner Weyl zugleich den eigenen Standpunkt in dieser Angelegenheit nahelegen möchte, macht letztere Möglichkeit immerhin einigermaßen wahrscheinlich; es heißt hier: Die königliche Kammer […] giebt jedoch […] hiermit zu erkennen, daß es bei der Unmöglichkeit, in kleinen Städten Badeanstalten der gedachten Art einzurichten, nicht durchaus nothwendig zu sein scheint, daß eine solche Badeanstalt vorhanden, und daß es ferner für rathsam zu halten sei, zur Erleichterung der ärmern Familien, in Ansehung ihrer, zweifelhafte jüdische Ritual-Gesetze so wenig strenge als möglich auszulegen, indem in Religionssachen derjenige Zwang am meisten vermieden werden muß, welcher ohne unmittelbar auf die Sittlichkeit berechnet zu sein, mehr die Bequemlichkeit, wenn gleich bei einer übrigens nützlichen Sache, wie das Baden ist, berücksichtiget, welches der Arme auf einem wohlfeileren Wege bewirken könne.27
Die preußische Kriegs- und Domänenkammer setzt sich hier für die ärmeren jüdischen Gemeindemitglieder ein, ohne aber dabei die eigenen Interessen aus dem Auge zu verlieren: Wenn die geforderte Badeanstalt verzichtbar ist, dann nur deshalb, weil es sich a) um ein „zweifelhaftes“ Religionsgesetz handelt, und b) dieses keine direkte Auswirkung auf die „Sittlichkeit“ hat, somit auch nicht im Interesse staatlicher Ordnung aufrechterhalten werden muss. Woher stammt aber die Einschätzung der Vorschrift des Tauchbads als „zweifelhaft“? Bedenkt man, wie vorsichtig andere deutsche Staaten sich zu Beginn des Jahrhunderts der Frage des Stellenwerts der Mikwe innerhalb des jüdischen Ritualgesetzes näherten, so wäre eine derartig entschiedene Abwertung seitens einer staatlichen Stelle zu diesem Zeitpunkt zumindest außergewöhnlich, wenn auch natürlich nicht ausgeschlossen. Wahrscheinlicher ist es aber wohl, dass sich die Königliche Kammer hier den Standpunkt der Beschwerdeführer aus Stargard zu eigen macht, die ganz im Sinne der Maskilim, der jüdischen Aufklärer, und früher Reformer agieren: Das Judentum müsse von überflüssigem Ballast befreit werden, d. h. unnötigen oder unsinnigen Vorschriften, die das Ursprüngliche und Wesentliche, den moralischen Anspruch der Religion, zu verdecken drohen. Unter dieser Prämisse lässt sich die
26 Ebd. 27 „Schreiben der Kurmärk. Kriegs- und Domainenkammer an den Vice-Ober-Landrabbiner, Herrn Meyer Simon Weyl und Assessoren in Berlin“ vom 6.1.1806, in: Heinemann, Sammlung, S. 332f.
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Mikwe sodann auf eine Hygienemaßnahme reduzieren, deren Zweck auf andere Weise leichter erreicht werden kann. Diese und ähnliche Argumentationsmuster gewannen bis zur Mitte des Jahrhunderts an Bedeutung und bestimmten den innerjüdischen Diskurs über die Mikwe; hierauf soll an anderer Stelle (Kapitel 6.1.2) genauer eingegangen werden. Betriebsmodelle von ‚öffentlichen‘ Mikwen
Trotz des starken Impulses zur Schaffung neuer und damit gleichzeitig gemeindeeigener Einrichtungen, der von den staatlichen Forderungen nach wärmbaren Mikwen ausging, blieb die Realität hinter diesem Ideal zunächst zurück. Der wesentliche Grund hierfür war, wie bereits beschrieben, die Armut vieler ländlicher Gemeinden, die einen solchen Neubau verhinderte; und wenngleich mancherorts neue Einrichtungen entstanden, war die Situation in Württemberg somit noch 1843 nicht grundsätzlich verschieden von der zu Beginn des Jahrhunderts: Um diesen Religionsvorschriften Genüge zu leisten, bestehen nun in den meisten israelitischen Gemeinden unter dem Namen Tauchen (Dunken, Tünchen) eigenthümliche Badeanstalten. Sie sind entweder Eigenthum der Gemeinde u. in dem Synagogengebäude oder zuweilen in besonderen kleinen Gebäuden eingerichtet, oder sind sie im Besitz eines Mitgliedes der Gemeinde, das sie letzterer gegen einen Pachtzins zur Benutzung überläßt. Neben dem öffentlichen Frauenbad bestehen an mehrern Orten noch Privattauchen, zum Gebrauch einzelner Familien hergestellt.28
Zwar unterschied man nun das „öffentliche“ Frauenbad, wovon es in jeder jüdischen Gemeinde wenigstens eines geben musste, von den möglicherweise zusätzlich vorhandenen „Privattauchen“, jedoch war auch diese eine ‚offizielle‘ Gemeindemikwe häufig noch in einem Privathaus untergebracht. Lediglich der Betriebsmodus hatte sich in diesem Fall geändert: Der Eigentümer überließ sie gegen eine Pachtgebühr der Gemeinde, so dass diese nun offiziell der Hausherr war. Handelte es sich andererseits um Bauten im Besitz der Gemeinde, so bestand auch hier das althergebrachte System weiter, wonach die Mikwe Pächtern überlassen wurde, die für den täglichen Betrieb sorgten. Allerdings hatten sich gegenüber früheren Zeiten die Rahmenbedingungen für den Pächter, dessen Ziel es war, hierdurch ein rentables Einkommen zu erwirtschaften, verschärft. War eine Mikwe früher noch eine sichere und unkomplizierte Einnahmequelle, bei der eine turnusmäßige Reinigung nicht vorgesehen und die Erwärmung nur gegen individuelle Bezahlung stattfand, so musste er nunmehr den gehobenen Anspruch einer allzeit sauberen und warmen Badeeinrichtung erfüllen. Insbesondere in Zeiten, wo die Holzpreise sehr hoch
28 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des Medizinal-Collegiums vom 16.2.1843[?].
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waren, konnten oder wollten manche Pächter dem nicht nachkommen, wie Dr. Lohrmann 1839 anschaulich berichtet: Die Dunken werden von Zeit zu Zeit verakkordirt [d. h. zu einem bestimmten Preis vergeben]29 und wer für Heitzung der Zimmer u. Wärmung des Wassers am wenigsten nimmt, der bekommt sie. In Oberdorf muß jede Person für die einzelne Dunke 8x [Kreuzer] und in Aufhausen nur 7x bezahlen. Doch soll jede Frau etwas mehr; die Reichen 15–18x. geben. Bey dem jezigen hohen Holzpreiß könnte man freilich nicht jeder einzelnen Frau um 8–12x. ein frisch erwärmtes Wasser in der Dunke anschaffen. Wenn aber der Pächter unfleißig u. eigennützig seyn will, so läßt er das alte Wasser 8 Tage und vielleicht noch länger in der Dunke und man braucht dann jedesmal nur wenig heißes Wasser hinzufließen zu laßen, in welchem Fall aber, wie ich habe erzählen hören, das Wasser zulezt übel riechen soll.30
Auf diese Weise entstand vielerorts das bereits in Kapitel 4 entworfene Bild: Die Becken wurden nur selten in regelmäßigen Abständen gereinigt, und zahlreiche ärmere Frauen tauchten nach wie vor im kalten Wasser unter, auch deshalb, weil häufig das Holz noch nicht, wie gefordert, auf Gemeindekosten bereitgestellt wurde. Alternativ zu dem bei Lohrmann geschilderten Verfahren konnten die Mikwen auch demjenigen zur Pacht überlassen werden, der hierfür die höchste Summe bot, wie etwa im hessischen Rotenburg. Dennoch erhielt hier aufgrund der vorbildlichen Ausübung ihres Amtes ab 1835 über viele Jahre hinweg immer die gleiche Badefrau die Aufsicht über die Mikwe zugesprochen, obwohl höhere Gebote vorlagen,31 womit die Rotenburger Gemeinde zugleich ein positives Gegenbeispiel zur geübten Praxis setzte. Die nichtsdestotrotz offensichtlichen Nachteile des Systems veranlassten 1853 das Oberamt Münsingen im württembergischen Donaukreis, der Oberkirchenbehörde die Abschaffung der Verpachtung vorzuschlagen. Stattdessen sollte die Badewärterin aus Gemeindemitteln bezahlt werden: Da das israelitische Frauenbad in Buttenhausen in höchst vernachläßigtem Zustande ist, und durch die höchst zwekwidrige Maasregel der Verpachtung desselben die zum Baden verpflichteten Frauen, wie sich unzweifelhaft heraus stellt, sich in ein in hohem Grade unreines Wasser zu sezen genöthigt sind, so wird vom K. Oberamt unter Zugrundlegung des Ministerial-Erlasses vom 4. August 1846. zunächst die gründliche Restauration des
29 Für die Bedeutung des Wortes vgl. beispielsweise Pfälzisches Wörterbuch, unter ‚verakkordieren‘. 30 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Lohrmann vom 11.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 5.2.1839). 31 Siehe hierzu Nuhn, Die Rotenburger Mikwe, S. 67f.
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Bades angeordnet, und sodann befohlen werden, daß unter Aufhebung des Pachtverhältnisses und mittelst Belohnung der Badefrau aus der Gemeindecasse sämtliche Frauen die ihnen als Religions Cultus vorgeschriebenen Bäder unentgeldlich gebrauchen können. […] Was nun die Restauration des Bades betrifft, so wird Eine hohe Oberkirchenbehoerde aus den beigeschlossenen Acten entnehmen, daß eine wesentliche Verbesserung in so ferne eingetreten, als an der Stelle, wo seither ein Düngerhaufen unmittelbar an dem Badhaus angebracht war, wodurch unreine Flüssigkeiten in dasselbe eindringen konnten, ein 1.’. [sic] hoher Damm angelegt, und dadurch ein Schuzmittel gegen das Einströmen von Unreinlichkeiten geschaffen – so. [sic] daß nun wohl den medicinpolizeilichen Rüksichten Rechnung getragen worden ist. Dagegen konnte bis jezt in Absicht auf die Art und Weise der Benüzung des Frauenbads, so wie die Aufstellung und Belohnung der BadWartfrauen eine Aenderung nicht getroffen werden, indem die als unzwekmäßig bezeichnete Verpachtung des Bads – und der Abtrag einer Pachtsteuer an die Gemeinde von Seiten der aufgestellten BadWartfrauen – beibehalten werden will. Es scheint mir nun, daß Rüksichten der Schiklichkeit und des Anstandes eine Einrichtung in der Weise nicht mehr ausführen lassen, daß von denjenigen Frauen, welche das Bad gebrauchen, eine Abgabe zur Gemeindecasse erhoben werde, und es wollen auch die Kirchenvorsteher sich auf eine solche Einrichtung nicht einlassen, sondern es bei der bisherigen Verpachtungsweise fortbestehen lassen. Einer Verpachtung selbst möchte ich gerade das Wort nicht reden, weil auf diese Weise immerhin Unzuträglichkeiten entstehen dürften, es ist mir aber auch nicht bekannt, wie es dießfalls anderwärts gehalten werde, dagegen dürfte vielleicht der Vorschlag nicht unangemessen sein, wenn die sogenannten Wartefrauen von der Gemeinde aufgestellt – und aus der Gemeindecasse belohnt – gegen die Verpflichtung, das Badhaus stets rein zu halten, und die damit verbundenen Verrichtungen zu besorgen, in dem Badhaus aber eine Opferbüchse angebracht und den Badfrauen überlassen würde, zu Bestreitung der Kosten der Reinhaltung des Bads – und überhaupt der Wart – eine ihren Kräften entsprechende freiwillige Gabe in die Opferbüchse zu legen. Auf diese Weise könnte zwar allerdings für die Gemeinde ein Ausfall entstehen, welcher auf die übrigen Gemeindegenossen umgelegt werden müßte, indessen wird solcher wohl von keiner besondern Erheblichkeit sein, und wenn solcher auch je entsteht, so wird nicht ausser Acht zu lassen sein, daß die ganze BadEinrichtung als eine – auf religiösen Grundsätzen beruhende örtliche Anstalt zu betrachten ist, und sonach theilweise[?] aus Gesammt-Mitteln wird unterhalten werden müssen.32
32 StA Ludwigsburg, E 212 Bü 85: Bericht des K. Oberamts Münsingen an die Oberkirchenbehörde vom 4.4.1853.
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Das hier abschließend vorgebrachte Argument, dass die Mikwe eine unerlässliche religiöse Einrichtung und deshalb auch aus Gemeindemitteln zu finanzieren sei, fiel allerdings auf unfruchtbaren Boden. Vielmehr wurde dem Oberamt mitgeteilt, dass man das Kirchenvorsteheramt „daselbst nicht zu nöthigen weiß, die bisher beobachtete Art der öffentlichen Fürsorge für diese Einrichtung durch Verpachtung an Wartfrauen zu verlassen“33 . An anderer Stelle, im Zusammenhang mit der Beschwerde Mändlein Einhorns gegen die von ihm erhobenen Beiträge zum Mikwenneubau, führte die Kreisregierung aus, dass sie zwar verpflichtet sei, auf die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften zur Einrichtung von Ritualbädern zu dringen, Fragen im Zusammenhang mit der Finanzierung aber grundsätzlich in der Zuständigkeit des Kirchenvorsteheramts lägen.34 Die Ansicht, dass die bestehende Regelung grundsätzlich reformbedürftig sei, teilte man an übergeordneter Stelle offensichtlich nicht, sondern wollte stattdessen im Bereich der Aufsicht über die Arbeit der Wärterinnen für Verbesserungen sorgen.35 Der Vorstoß des Oberamts Münsingen zur konsequenten Umwandlung der Mikwe in eine von der Gemeinde nicht nur bereitgestellte, sondern auch aus eigenen Mitteln getragene Einrichtung konnte sich gegen das althergebrachte Pachtsystem nicht behaupten. Unter dem Druck staatlicher Auflagen ging der Großteil der Mikwen in Württemberg somit zwar in die rechtliche Verantwortung der ‚Kirchengemeinde‘ (sowie der Oberkirchenbehörde) über, aber nicht unbedingt in deren Privateigentum. Alte Verpachtungsstrukturen, inklusive der Gebühren für den Besuch, bestanden in der Regel auch für dieses ‚öffentliche‘ Tauchbad weiter, so dass sich für die Nutzerinnen äußerlich nicht unbedingt viel änderte. Lediglich an denjenigen Orten, an denen im Laufe der Zeit eine neue gemeindeeigene Mikwe errichtet wurde, gab es einen merkbaren formalen Einschnitt. Jedoch existierten andernorts auch bereits Modelle, nach denen grundsätzlich keine Nutzungsgebühren mehr erhoben wurden, wie an verschiedenen Orten Kurhessens, was allerdings nicht die Materialkosten für die Heizung des Bades mit einschloss; entgegen der hierbei üblichen Finanzierung durch Steuergelder wurde in Spangenberg einmalig bei der Eheschließung eine vermögensabhängige Abgabe fällig.36
33 StA Ludwigsburg, E 212 Bü 85: Weisung an das K. Oberamt Münsingen vom 18.4.1853 (in: Bericht des K. Oberamts Münsingen an die Oberkirchenbehörde vom 4.4.1853). 34 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Schreiben der K. Regierung für den Jagstkreis in Ellwangen an das K. Oberamt Crailsheim vom 29.7.1859. 35 StA Ludwigsburg, E 212 Bü 85: Weisung an das K. Oberamt Münsingen vom 18.4.1853 (in: Bericht des K. Oberamts Münsingen an die Oberkirchenbehörde vom 4.4.1853). 36 Für die genannten Regelungen in Kurhessen siehe Nuhn, Die Rotenburger Mikwe, S. 72.
Mikwen und Macht: Reibungsflächen im Modernisierungsprozess
Praktische Konsequenzen: Die Erfahrungswelt der Frauen
Ungeachtet der teilweise noch fortbestehenden alten Strukturen veränderte sich mit der Einführung der ‚öffentlichen‘ Mikwe in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermutlich dennoch in vielen Fällen die Erfahrung der Frauen in ähnlicher Weise, wie Debra Kaplan dies für die gemeindeeigene „kahalische“ Mikwe in Altona 1685 annimmt.37 War der Besuch einer Mikwe in einem privaten Wohnhaus zuvor ein informeller, rein privater Akt, so verlieh ihm die Zuständigkeit der Gemeinde für diese Einrichtung nun einen anderen Charakter: Möglicherweise war die Mikwe aufgrund von Schließungen die einzige noch bestehende vor Ort, die Mikwenwärterin war der Gemeinde gegenüber für den vorschriftsmäßigen Betrieb verantwortlich, die Gebühren wurden von oben festgelegt. Die Erfahrung der Frauen wurde infolgedessen sowohl strukturiert als auch vereinheitlicht, nicht zuletzt auch durch Badeordnungen wie die des Rabbiners Levita von 1829, die Betrieb und Nutzung der Rotenburger Mikwe (Hessen) detailliert regelte.38 Während dies einerseits gemeinschaftsbildend wirken mochte, wie Kaplan schreibt, konnte der Verlust der Wahlfreiheit andererseits aber auch zu verstärkten Reibungen führen. So entzündete sich beispielsweise in Archshofen 1892 an der Frage der Heizung des Bades ein offensichtlich bereits schwelender Konflikt privater Natur, infolgedessen es zu wüsten Beschimpfungen und Vorwürfen kam und die persönliche Eignung der Mikwenwärterin für ihr Amt in Frage gestellt wurde.39 Solche und ähnliche Streitereien mussten dann zwangsläufig auf der Ebene der Gemeinde, bis hin zum Kirchenvorsteheramt, ausgetragen werden, während früher potentiell andere Möglichkeiten der Konfliktlösung – bzw. Vermeidung – bereitstanden. Auch andernorts war es gerade die Frage der Bestellung der Badefrau, die für Spannungen innerhalb der Gemeinde sorgen konnte. Da den Hörsteiner Frauen in der neuen Nutzungsordnung verboten wurde, sich anstelle der von der Gemeinde angestellten Frau eine andere zur Begleitung frei zu wählen, kam es in dem unterfränkischen Städtchen 1842 zum Protest einer ehemaligen Mikwenwärterin, die hierin von drei Frauen unterstützt wurde; daraufhin ließ man sämtliche Frauen über die zukünftige Aufsichtsperson abstimmen und trug so dem Verlust der freien Wahl, in der sich das Verlangen nach einer persönlichen, auf Vertrauen basierenden Betreuung spiegelt, zumindest im Ansatz Rechnung.40 Neben der auf diese Weise starken Regulierung eines von Natur aus sehr persönlichen Rituals war die Situation im 19. Jahrhundert mit der in Altona ab 1685
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Vgl. Kaplan, „To Immerse their Wives“, S. 274. Die Rotenburger Badeordnung ist in Teilen abgedruckt bei Nuhn, Die Rotenburger Mikwe, S. 69. Stadtarchiv Bad Mergentheim, Nr. H-52: Abteilung Judenfrauen-Bad Archshofen 1892. Ein ausschlaggebendes Argument, das zur Durchführung einer allgemeinen Abstimmung führte, war der Vergleich des Amtes der Badefrau mit dem der (ebenfalls frei gewählten) Hebamme (siehe Körner, „Der Gesundheit sehr nachteilig“, S 121).
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zweifellos noch in einem weiteren Punkt vergleichbar, nämlich der Frage der rituellen und sozialen Kontrolle.41 Tatsächlich erleichterte die ‚Einheitsmikwe‘ des 19. Jahrhunderts den Rabbinern die halachische Aufsicht hierüber in erheblichem Maße und konnte so dazu beitragen, ihre Autorität in diesem Bereich zu stärken bzw. wieder vollständig herzustellen – während diese in der unstrukturierten Mikwenlandschaft der Neuzeit bisweilen umgangen worden war, wie beispielsweise der Fall zeigt, wo die Frauen eines Ortes in Mecklenburg-Schwerin ohne Wissen des Rabbiners von einem Christen eine neue Mikwe anlegen ließen.42 Zugleich erhöhte sich das Maß des sozialen Drucks auf die Frau durch die Gemeinschaft – wenn auch nicht unbedingt der tatsächliche, so zumindest der gefühlte –, gab es doch bei nur einer Mikwe vor Ort kaum noch Möglichkeiten, das Gebot des Untertauchens langfristig unbemerkt zu umgehen.43 5.1.2
Örtliche Mikwenpolitik: Interessengruppen und gesamtgesellschaftlicher Kontext
Wie bereits im Zusammenhang mit Rabbiner Weyls Gutachten von 1806 sichtbar wurde, muss man durchaus schon sehr früh mit einer aufgeklärten Opposition rechnen, welche die Mikwe als eine religiöse Einrichtung grundsätzlich ablehnte und sich deshalb möglicherweise gegen einen geplanten Neubau stellte. Selbst im ländlich geprägten Württemberg konnte eine solche Haltung begegnen, wie das Schreiben zeigt, das ein „aufgeklärter Israelite“ 1821 an die Regierung des Jagstkreises richtete. Leider hat sich die anonyme Schrift selbst, die dem innerbehördlichen Schriftverkehr mit dem Innenministerium ursprünglich als Anlage beigefügt wurde, nicht erhalten. Gemäß dem Bericht der Kreisregierung äußert der Verfasser darin die Ansicht, dass „das Baden der Frauen ganz aufgehoben werden könnte, ohne den ihnen zur Befolgung gegebenen göttlichen Gesetzen zu nahe zu treten.“ Allerdings bezweifle er, dass die Rabbiner dies zulassen würden, ebensowe-
41 Vgl. Kaplan, „To Immerse their Wives“, S. 275f. 42 Zu diesem Fall siehe oben Anm. 14. 43 So berichtet R. Jakob Reischer (ca. 1670–1733) über eine Frau aus einem der Dörfer im Umkreis von Worms, bezeichnet als Medinat Wirmaisa, sie habe die Mikwe aus Furcht vor dem kalten Wasser gemieden und dies vor ihrem Mann verheimlicht; erst später habe sich herausgestellt, dass sie keine Mikwe aufgesucht hatte. Dies sei kein Einzelfall gewesen, sondern soll sich in ähnlicher Weise auch in anderen Gegenden zugetragen haben; vgl. Reischer, Schewut Jaakow, Teil 3, Nr. 82 (die Quelle wird auch auszugsweise zitiert und kommentiert bei Marienberg, „Cold Water“, S. 27). Der aus Prag stammende Jakob Reischer wirkte ab 1709 als Rabbiner in Ansbach, sodann ab 1715 in Worms, und schließlich von 1718 bis an sein Lebensende in Metz (vgl. Shilo, „Reischer, Ya‘akov ben Yosef “, unpag.).
Mikwen und Macht: Reibungsflächen im Modernisierungsprozess
nig wie „die Verwandlung in ein gewöhnliches Hausbad“.44 Allerdings ist es wohl bezeichnend, dass der Schreiber unbekannt bleiben möchte, war doch über diese Eingabe hinaus ein aufgeklärter Widerstand gegen die vom württembergischen Staat verordnete Modernisierung der Mikwen nicht vernehmbar. Rabbiner, Gemeindevorsteher, Traditionalisten und Reformer – von unklaren Grenzverläufen
Tatsächlich verliefen in der frühen Auseinandersetzung um die Mikwen die Scheidelinien vor Ort keineswegs, wie man aufgrund des Schreibens vermuten könnte, zwischen rückwärtsgewandten Rabbinern und überzeugten Aufklärern bzw. Reformern. In dem Wirkungsgefüge von Befürwortern und Gegnern nahmen die örtlichen Rabbiner im Allgemeinen eine Fixposition ein: Sie vertraten den traditionellen – halachischen – Standpunkt, der eine Erwärmung des Wassers nicht ausschloss, verhielten sich dessen ungeachtet aber eher passiv, selbst dann, wenn sie wie der Mergentheimer Hirsch Lewi Kunreuther als „gelehrt“ und „gebildet“ geschätzt wurden;45 ähnlich wie Rabbiner Kunreuther beschränkte man sich, jedenfalls im Jagstkreis, darauf, auf Anfragen seitens der Behörden zu reagieren, indem man das gewärmte Bad als religionsgesetzlich zulässig erklärte, sofern diese Einrichtung unter Aufsicht eines Rabbiners getroffen wurde.46 Diejenigen, die sich mancherorts aktiv für die Einrichtung einer wärmbaren Mikwe einsetzten, waren insbesondere die Vorsteher sowie auch lokale Ärzte, Widerstand kam hingegen von Seiten einer nicht scharf umrissenen Gruppe konservativer Gemeindemitglieder. So war in Mergentheim offensichtlich Oberamtsarzt Dr. Bauer die erste Anlaufstelle für dieses Anliegen, noch bevor, wie in Kapitel 4.2.1 beschrieben, zwei betroffene Familien Ende 1817 auch persönlich Eingaben an die Regierungsstellen richteten.
44 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht der K. Regierung des Jagstkreises in Ellwangen vom 24.7.1821. 45 Hirsch Kunreuther (1771–1847) war ab 1813 für wenige Jahre Rabbiner in Mergentheim. Nicht nur in jüdischen Kreisen galt er, wie ein Schüler angibt, als außerordentlich gelehrt, auch legte er (als erster dokumentierter Fall) eine staatliche Rabbinerprüfung ab, die er mit der Note „gut“ bestand (vgl. „Kunreuther, Hirsch“, in: BHR 1,2, S. 553). Die hier zitierte Einschätzung Kunreuthers entstammt einem Schreiben von Dr. Bauer, siehe das in diesem Absatz folgende Zitat (Anm. 47). Eine Ausnahme von dem vorherrschenden passiven Verhalten bildete beispielsweise Rabbiner Günsburger im badischen Schmieheim, der sich nach dem Bericht von Dr. Schneider zwischen 1822 und 1825 aktiv für die Einrichtung einer wärmbaren Mikwe einsetzte (siehe oben Kapitel 4.2.2.1). Auf einer anderen Ebene agierte, wie ebenfalls bereits beschrieben, Abraham Geiger während seiner Amtstätigkeit als Rabbiner in Wiesbaden, indem er sich 1837 direkt an die Herzoglich-Nassauische Landesregierung wandte (Kapitel 4.1.2 und 4.2.2.5). 46 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Schreiben von R. Kunreuther an Dr. Bauer vom 17.4.1817 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 24.5.1821); Bericht der K. Regierung des Jagstkreises in Ellwangen vom 24.7.1821.
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Nach Dr. Bauers Darstellung wurde er erstmals im April 1817 „von mehreren hießigen Judenfamilien veranlaßt, ihren damaligen gelehrten und gebildeten Rabbinen Levi Kunreuther dahin zu vermögen, daß das […] Baden der Judenweiber, in kaltem Waßer, abgeschaft, und dafür das warme Bad eingeführt werde.“47 Dr. Bauer erkundigte sich daraufhin zunächst in zwei Schreiben an Rabbiner Kunreuther nach der religiösen Bedeutung der Tauchbäder sowie der Möglichkeit, anstelle von kaltem auch warmes Wasser zu verwenden. Auf dessen positiven Bescheid hin bemühte er sich sowohl innerhalb der jüdischen Gemeinde als auch bei zwei Regierungsstellen um die Einrichtung warmer Mikwen – allerdings ohne Erfolg: Obschon nun aus dieser [Rabbiner Kunreuthers Antwort auf das vorausgegangene Schreiben] klärlich hervorgeht, daß das warme Bad ohne Beeinträchtigung der Religion, wohl eingeführt werden kann, so zeigte sich doch bey weiterer Verhandlung, daß bey einem Großen Theil der Judenschaft die Einführung des warmen Bades als Neuerung betrachtet werde, und solches – aus Vorurtheil oder übertriebener Gewißenhaftigtkeit? – nicht aus eigenem Antriebe und freiwillig, sondern nur auf höhere Veranlaßung, durch Befehl z. B. des Oberamts, geschehen könne. Da nun das königliche Oberamt sich nicht hiezu für berechtiget hielt, so wendete ich mich mit meinem Ansinnen an die damals bestehende königliche Landvogtei, jedoch mit ganz gleichem Erfolg, und so mit blieb es beym Alten, obschon ich überzeugt bin, daß diese Angelegenheit durch eine polizeiliche Maßregel, worauf die Juden mit ihrem Rabbinen nur warteten, sogleich abgemacht geweßen wäre, zumal da zum neuen – warmen – Bade schon Holz und Steine in Vorrath herbey geschaft waren.48
Weder die Fürsprache eines Amtsarztes noch die Zustimmung ihres Rabbiners reichten in diesem Fall aus, um die Mehrheit der Gemeinde für den Bau eines warmen Tauchbads zu gewinnen, die, wie Bauer schreibt, aus „Vorurtheil oder übertriebener Gewißenhaftigtkeit?“ an dem Brauch des kalten Bades festhielt. Ähnlich wie aus Dr. Bauers Darstellung gewinnt man auch aus anderen Zeugnissen dieser Zeit den Eindruck, dass die Tradition des kalten Frauenbads in dem religiösen Empfinden vieler Landjuden noch sehr stark verankert war, wenngleich natürlich seit langem auch das Zuschütten von heißem Wasser praktiziert wurde.
47 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht von Dr. Bauer vom 9.5.1821 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 24.5.1821). Wahrscheinlich wurde Dr. Bauer allerdings einen Monat früher erstmals um Hilfe gebeten, da Rabbiner Kunreuther bereits am 17. April auf ein Schreiben von Dr. Bauer „vom 29. vorigen Monat[s]“ antwortet; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Schreiben von R. Kunreuther an Dr. Bauer vom 17.4.1817 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 24.5.1821). 48 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht von Dr. Bauer vom 9.5.1821 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 24.5.1821).
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Die Hintergründe für diesen Sachverhalt und die daraus resultierende Ablehnung einer gewärmten Mikwe, sogar trotz ausdrücklicher rabbinischer Erlaubnis wie im Fall von Mergentheim, sind nicht leicht zu ermitteln. Jedoch notiert Distriktsarzt Dr. Weinrich in diesem Zusammenhang eine interessante Beobachtung, die er im Zuge der 1812 veranlassten Untersuchungen im Großherzogtum Würzburg macht. In der Gemeinde Marktsteft, die gemeinhin als „nicht arm“ gelten konnte, ließ sich einzig und allein die Frau des Gemeindevorstehers, des „Barnas“, das Mikwenwasser wärmen, obwohl die Anlage – hier im Haus eines Christen untergebracht – eine Erwärmung leicht ermöglichte: „die übrigen vermöglichen Jüdinnen versagen sich diese Wohlthat aus Sparsamkeit, die armen aber entbehren sie aus Dürftigkeit.“49 Ist wirklich anzunehmen, dass diejenigen Frauen, die es sich nach Einschätzung Weinrichs bzw. seiner Informant(inn)en eigentlich leisten konnten, einzig und allein aus Sparsamkeit auf das angenehmere und gesündere warme Tauchbad verzichteten? Eine derartig übertriebene Sparsamkeit auf Kosten der Gesundheit scheint zumindest aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, allerdings ist diese Einschätzung natürlich kaum auf frühere Zeiten übertragbar.50 Nichtsdestotrotz wurden aber die negativen Folgen der kalten Frauenbäder spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts thematisiert, und waren vermutlich auch in Marktsteft nicht gänzlich unbekannt. Was könnte somit, außer Sparsamkeit, noch dazu geführt haben, dass die Frauen gesundheitliche Risiken missachteten und die traditionelle Methode des Zugießens von heißem Wasser ablehnten? Möglicherweise ist die Erklärung darin zu finden, dass sich in der neuzeitlichen Realität zwei Faktoren gegenseitig bestärkten, nämlich die weit verbreitete Armut, die eine solche Praxis oft nicht erlaubte, und altüberlieferte religiöse Vorbehalte, so dass das Ideal des kalten Tauchbads seine Stellung in den ländlichen Gemeinden länger bzw. stärker behaupten konnte, als dies vielleicht unter anderen Umständen der Fall gewesen wäre. Dieses somit auch der Not geschuldete Ideal mag der Grund dafür gewesen sein, dass sich manche Frauen – in Marktsteft und anderswo – auf die eine oder andere Weise mit den kalten Tauchen arrangiert hatten, eine auch von Weinrich beobachtete Gewöhnung oder Gleichgültigkeit, die von amtlicher Seite ebenfalls als „Indolenz der Juden“ beschrieben wurde.51 Tatsächlich hörte man laut Weinrich, der die anderen Ritualbäder in seinem Distrikt ebenfalls in Augenschein nahm, mancherorts
49 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirektion vom 21.9.1812. 50 Auch Weinrich thematisiert dieses Verhalten nicht weiter oder stellt es gar als ungewöhnlich bzw. unverantwortlich dar. Man muss also durchaus damit rechnen, dass man in dieser Hinsicht damals anders urteilte. 51 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Note der K. Regierung für den Jagstkreis in Ellwangen an das Medizinal-Collegium vom 13.5.1842. Die Stelle wird weiter unten in diesem Abschnitt zitiert; für
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keinerlei Klagen, wie etwa im Fall von Hohenfeld, wo man die vorhandenen zwei Tauchen selbst im Winter nur selten wärmte, obwohl dies leicht möglich gewesen wäre; diejenigen Frauen, die er sprechen konnte, wüssten nichts Nachteiliges über die kalten Bäder zu berichten.52 Selbstverständlich muss man auch damit rechnen, dass manche Frauen aus anderen Gründen keine Kritik an den ungeheizten Mikwen äußern wollten, worauf weiter unten (Abschnitt Die Position der Frauen) noch eingegangen wird. Was auch immer die genauen Gründe für die Ablehnung einer warmen Mikwe gewesen sein mögen: Sowohl der von einem Großteil der Gemeinde getragene Widerstand gegen Neuerungen in Mergentheim, als auch das Verhalten der Marktstefter Frauen deuten darauf hin, dass das Untertauchen im kalten Wasser zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht ausschließlich Folge der verbreiteten Armut war; vielmehr muss man mit weiteren Ursachen rechnen, die mit der bewahrten Familientradition, einer sich hierin ausdrückenden Frömmigkeit der jüdischen Landbevölkerung, oder allgemein einer konservativen Grundhaltung in Zusammenhang standen. Spürbar größeren Einfluss als Ärzte und Rabbiner, die eigentlichen Fachleute in Sachen Mikwe, übten häufig die jüdischen Gemeindevorsteher auf die lokale Politik aus, zumindest was den württembergischen Jagstkreis angeht. Unabhängig davon, dass sie in Württemberg ab 1812 als ‚quasi Beamte‘ für die Ausführung der staatlichen Bestimmungen zur Rechenschaft gezogen wurden,53 verfügten sie kraft ihres Amtes auch innerhalb der Judenschaft über die nötige Kompetenz,54 um sich bereits vor diesem Zeitpunkt aktiv für die Modernisierung des örtlichen Frauenbads einzusetzen. So verdankt sich die 1819 in Lauchheim errichtete Mikwe, eine der frühesten wärmbaren Anlagen des Jagstkreises, der Initiative des lokalen Vorstehers Isak Heß.55 Leider werden die genaueren Umstände nicht überliefert, jedoch engagierte sich der bekannte Lauchheimer Antiquar, seit 1817 Vorsteher in seinem Heimatort, auch anderweitig stark für die Belange der württembergischen Juden; so gehörte er unter anderem zu denjenigen fünf jüdischen Vertretern, die 1821 in der ersten Phase der Ausarbeitung des „Gesetzes in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ zu einer Anhörung eingeladen
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die Bedeutung des Wortes Indolenz siehe oben Kapitel 4.2.1.3, Abschnitt Die Mikwe als Symptom kulturell-sozialer Rückständigkeit. StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirektion vom 21.9.1812. Vgl. Paul Tänzer, Rechtsgeschichte, S. 53, und A. Tänzer, Juden in Württemberg, S. 18. Vgl. Rabbiner Kunreuther in seiner Stellungnahme gegenüber Dr. Bauer; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Schreiben von R. Kunreuther an Dr. Bauer vom 18.6.1817 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Oehringen vom 15.5.1821). StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Ellwangen vom 17.5.1821; Bericht des K. Oberamts Ellwangen vom 20.9.1821.
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wurden.56 In Crailsheim war es ebenfalls der „Barnas“, der sich bereits vor 1821 für eine wärmbare Mikwe einsetzte, wenn auch in diesem Fall vergeblich, da die finanziellen Mittel der Gemeinde hierfür nicht ausreichten.57 Unabhängig von dem tatsächlich Erreichten darf sicher ihre Rolle hinsichtlich der Stimmungsbildung in einer Gemeinde allgemein nicht unterschätzt werden; hierauf mag auch Dr. Weinrichs Wahrnehmung für das in seinem Bezirk liegende Rödelsee deuten: Mehrere Judenweiber daselbst wünschen diese Erwärmung […] sehr; der Vorsteher aber und die mehrsten übrigen Mitglieder der Gemeinde haben wenig Sinn dafür, so daß ohne einen ausdrücklichen Befehl von Seiten der Großherzoglichen Landes-Direction […] wenig zu hoffen ist.58
Nicht immer verlief diese Aufteilung der Zuständigkeiten, wonach die erforderliche Anlage oder Instandsetzung einer Mikwe dem Vorsteheramt oblag, während der Rabbiner sich traditionsgemäß die halachische Aufsicht vorbehielt, harmonisch. Die Vorsteher, die sich praktischen Aspekten verpflichtet sahen, und zudem unter dem Druck staatlicher Auflagen handelten, agierten so bisweilen eigenmächtig bzw. gegen die Interessen des örtlichen Rabbiners. Und wenngleich im frühen Prozess staatlicher Reglementierung im württembergischen Jagstkreis noch keine aufgeklärte Opposition vernehmbar war, konnten auf diese Weise schließlich dennoch latente Spannungen innerhalb der Gemeinden an die Oberfläche treten, die aus der allmählichen Aufspaltung des Judentums in eine orthodoxe und eine reformorientierte Richtung resultierten. Bis zu den 1840er Jahren hatte sich eine allgemeine Reformbewegung nicht nur formiert, sondern ihren Einfluss sogar in den württembergischen Beschlüssen zur Einrichtung der Mikwen von 1846, dem so genannten „Normalerlass“, geltend gemacht. An dieser von der Oberkirchenbehörde mit getragenen Regelung entzündete sich bereits im folgenden Jahr in Creglingen eine Auseinandersetzung zwischen dem Vorsteheramt und dem Rabbinat. Auf den Erlass der Behörden hin hatte hier der örtliche Vorsteher oberhalb des alten Beckens mit Quellwasser in Eigenregie einen hölzernen Kasten mit Warm-
56 Zu Heß allgemein siehe A. Tänzer, Juden in Württemberg, S. 23 (Anm. 6), zu seinem politischen Engagement ebd. S. 26f und passim. 57 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht der K. Regierung des Jagstkreises in Ellwangen vom 24.7.1821. 58 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirektion vom 21.9.1812. Vgl. auch die Darstellung in Mehr als Steine, wonach 1828 auf behördlichen Druck hin ein Kessel zur Erwärmung des Wassers installiert wurde; Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. III/2.2, S. 1000.
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wasserzuleitung anbringen lassen, obwohl Rabbiner Mainzer59 die geplante Anlage bei Gelegenheit einer kurzen Rücksprache (die ihm zufolge nur rein „zufällig“ stattfand)60 als rituell ungeeignet und auch dem Normalerlass nicht gemäß abgelehnt hatte.61 Inwieweit Vorsteher Amson hier tatsächlich unter Zugzwang stand, wie er vorgibt, ist auf Grundlage der vorhandenen Akten nicht zu entscheiden; fest steht nur soviel, dass wenigstens eine weitere Mikwe in der näheren Umgebung, nämlich im benachbarten Archshofen, ebenfalls noch nicht entsprechend dem Erlass von 1846 hergerichtet war, Creglingen somit sicher nicht das Schlusslicht bildete. Zum Eklat kam es dann, als Rabbiner Mainzer öffentlich gegen die fertiggestellte Einrichtung Stellung bezog, weshalb Vorsteher Amson bei der Oberkirchenbehörde Beschwerde gegen ihn einlegte und in diesem Zusammenhang Folgendes berichtet: Nun kommt der Rabbiner nach dem das Bad mit großem Kostenaufwand eingerichtet ist, und sagt zu den Leuten hier u. [in] Archshofen, daß das Frauenbad in Creglingen nicht rituell gemäß eingerichtet ist, die Frau, welche also dieses Bades sich bedient, habe so gut als keines genommen. Natürlich erregt dieses nammentlich in den Herz der Orthodoxen eine Apathie [sic; gemeint ist wohl ‚Antipathie‘] – ja eine Erbitterung gegen diese, so wie gegen jede neue Einrichtung. Noch mehr trägts dazu bei, daß die Isr. Kirchengemeinde Archshofen ihr Frauenbad trotz mehrmaliger Aufforderung von Seite des Königl. Oberamts, noch nicht nach benanten Ministerial Erlaß haben einrichten lassen. In Folge dieser Außerung des Rabbiener gebrauchen nun einige Frauen blos die kalte Quelle und einige das neu eingerichtete Bad, jene drohen den Kasten hinwegzureißen um bequemer die Quelle als Bad wie früher zu gebrauchen, einige verweigern sogar ihre Beiträge zur Kirchenpflege, weil der Aufwand zu diese Badeinrichtung daraus bestritten wurde.62
Offenbar waren selbst nach der öffentlichen Kritik des Rabbiners manche Frauen weiterhin bereit, das neu errichtete Bad zu gebrauchen – eine Einrichtung, bei der es sich um nichts anderes als eine gewöhnliche Badewanne handelte, wenngleich 59 Dr. Maier Mainzer (1798–1861) wurde 1825 von dem Königlich württembergischen Hofagenten Ezechiel Pfeiffer als Rabbiner nach Weikersheim gerufen, wo er eine Synagoge gestiftet hatte; 1832 wurde Mainzers Rabbinat zum Bezirksrabbinat erhoben, so dass er auch für Creglingen zuständig war. Mainzer war der erste Rabbiner Württembergs mit einer akademischen Ausbildung. Siehe „Mainzer, Maier, Dr.“, in: BHR 1,2, S. 639f. 60 StA Ludwigsburg, E 212 Bü 87: Bericht des Rabbinats Weikersheim vom 9.7.1848. 61 Ebd.; Mainzer kritisiert hierin folgende drei Punkte: Erstens bestehe beim Baden keine Verbindung mit der Quelle, zweitens werde das Wasser direkt in den Badbehälter gepumpt, nicht (nach der Methode der hamschacha) über den Boden geleitet, und drittens sei der Behälter ein Wassertrog aus Holz (und damit halachisch ein ‚Gefäß‘). 62 StA Ludwigsburg, E 212 Bü 87: Schreiben des Kirchenvorstehers in Creglingen an die Oberkirchenbehörde vom 11.6.1848.
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der Vorsteher selbst überzeugt war, den Vorgaben des Normalerlasses entsprochen zu haben. Rabbiner Mainzer bezeichnet die Anlage in seiner Darstellung der Vorgänge unmissverständlich als „Wannenbad“,63 so dass bei seiner Gemeinde diesbezüglich kein Zweifel herrschen konnte. Somit gab es zu diesem Zeitpunkt bereits eine Gruppe innerhalb der Creglinger Gemeinde, die sich von einer streng orthodoxen Lebensführung mehr oder weniger weit entfernt hatte und sich nicht scheute, dies auch öffentlich zu demonstrieren. Ein ernstzunehmender Teil der Gemeinde hingegen war nach wie vor der Tradition verpflichtet, nach Rabbiner Mainzer sogar „der bei weitem größte Theil“.64 Aus diesem Grund stellte sich die Oberkirchenbehörde in ihrer Antwort hinter Rabbiner Mainzer: Zwar stimme sie mit der zweiten Rabbinerversammlung darin überein, dass der Zweck, nämlich eine „Reinigung“ bereits durch ein Wannenbad erreicht werde. Für diejenigen, die darüber hinaus das den Ritualgesetzen entsprechende Mittel wollten, müssten aber Mikwen gemäß dem Normalerlass eingerichtet werden.65 Auf diese Weise waren die Gemeinden in Württemberg verpflichtet, selbst für eine kleine Zahl traditionell eingestellter Gemeindeglieder eine dementsprechende Mikwe zu unterhalten. In anderen Regionen hingegen konnte die Stimme Einzelner, sogar eines Rabbiners, übergangen werden, wenn eine Mehrheit keine Mikwe wünschte, wie dies 1886 in der Erlanger Neustadt der Fall war.66 Wie der zuständige Distriktsrabbiner Wolf Cohn67 selbst schreibt, war die Mehrheit der Gemeindemitglieder, wie häufig zu Ende des Jahrhunderts zumal in größeren Städten, nicht mehr religiös im traditionellen Sinn: Schon zu wiederholten malen ist an die israelitische Cultusgemeinde zu Erlangen die diesseitige Aufforderung ergangen, für Herstellung eines rituellen Bades Sorge zu tragen. Wohl würde dasselbe voraussichtlich von der Mehrzahl der Familien nicht benützt werden, da viele über die betreffende religiöse Verbindlichkeit sich hinwegsetzen; doch das kann den Wenigen, die ihrer religiösen Pflicht genügen wollen, das Recht nicht schmälern, darauf zu bestehen, daß ihnen von der Gesammtgemeinde die Gelegenheit dazu geboten werde.68
63 StA Ludwigsburg, E 212 Bü 87: Bericht des Rabbinats Weikersheim vom 9.7.1848. 64 Ebd. 65 StA Ludwigsburg, E 212 Bü 87: Anweisung der Oberkirchenbehörde an das Rabbinat Weikersheim vom 7.8.1848. 66 Die hier im Folgenden geschilderten Vorgänge in Erlangen beruhen auf der Darstellung in Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 201. 67 Wolf Cohn (1812–1888), geboren in Baiersdorf bei Erlangen, war zunächst Vorsänger an seinem Heimatort, seit 1848 dann auch Distriktsrabbiner (siehe „Cohn, Wolf “, in: BHR 1,1, S. 241f). 68 Stadtarchiv Erlangen, 6.A.III.12511: Schreiben des Baiersdorfer Distriktsrabbiners an den Erlanger Stadtmagistrat vom 19.10.1886, zit. nach: Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 201.
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Bei der in Folge einberufenen Gemeindeversammlung bestätigte sich die bereits zuvor vom Kultusvorstand geäußerte Skepsis: Von 39 Gemeindemitgliedern waren nur sieben erschienen, nur ein einziger stimmte für die Errichtung einer Mikwe. Angesichts dieses Abstimmungsergebnisses und der Tatsache, dass sowohl öffentliche Bäder vor Ort wie auch rituelle in der Umgebung vorhanden waren, bot der Vorstand als Kompromiss an, sich für einen Nutzungsvertrag mit der Gemeinde in Baiersdorf einzusetzen. Die Position der Frauen – die Mikwe als Symptom eines Generationenkonflikts?
Auf welche Weise aber traten die Frauen selbst in Erscheinung, was war ihre Position in der lokalen Auseinandersetzung um die Mikwe? Würde man zunächst vermuten, dass das berechtigte Anliegen der (weiblichen!) Nutzerinnen hauptsächlich bei manchen nicht betroffenen (männlichen!) Gemeindegliedern auf Widerstand stieß, so bedarf dieses Schema doch einer gewissen Korrektur. Tatsächlich gab es, wie bereits dargestellt, prinzipiell eine solche Gruppe, die eine solidarische Finanzierung der wärmbaren Mikwe aus „Hartherzigkeit“ oder anderen Gründen ablehnte. Unterstützung erfuhren die „Judenfrauen, welche diese neue Einrichtung sehnlichst wünschen“69 , selbstverständlich in erster Linie seitens „vieler für ihre Gattinnen besorgten Ehemänner“70 . Inwieweit Frauen dabei auch selbst aktiv handelten, ist aus den vorliegenden Zeugnissen leider nur sehr bedingt ersichtlich, was zu einem erheblichen Teil sicher auch damit zusammenhängt, dass ein solches emanzipiertes Frauenbild nicht dem Zeitverständnis entsprach und ein unabhängiges, selbstbewusstes Auftreten der Frauen ihrem Anliegen nicht förderlich sein konnte; vielmehr verfestigten sich in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft traditionelle Rollenmuster, wonach die Frau in Bescheidenheit ihren häuslichen Pflichten nachzukommen hatte, während die Sphäre öffentlichen Wirkens den Männern vorbehalten war.71 Unter diesen Vorzeichen und auf dieser Grundlage entsteht das sich in den ärztlichen Berichten abzeichnende typische Bild: Zwar vertrauten sich die Frauen mit ihren gesundheitlichen Problemen den lokalen Ärzten an, benannten mitunter auch klar deren Hintergründe, blieben darüber hinaus aber scheinbar völlig passiv – rein ‚Patient‘ – sogar in dem Sinn, dass sie noch nicht einmal ausdrücklich um Unterstützung bei der Bekämpfung der Ursache baten. So informiert etwa der Distriktsarzt aus Gerolzhofen 1812 die Großherzogliche Landesdirektion in Würzburg, er habe seit Beginn seiner Tätigkeit vor zwölf Jahren
69 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4404: Bericht von Dr. Fichtbauer über die Mikwe in Nagelsberg vom 26.3.1830. 70 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirektion vom 28.4.1812. 71 Vgl. hierzu Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert, S. 105.
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verschiedenste gesundheitliche Probleme bei Jüdinnen beobachtet, wie langwieriges Kopfweh, Hysterie, Entzündungen des Unterleibs, Kurzatmigkeit und anderes: „In vielen dieser Fälle gaben die Weiber selbst das kalte Tauchbad als Ursache an, in anderen war diese Ursache blos sehr wahrscheinlich.“72 In ähnlicher Weise berichtet Centchirurg Anton Kappler 1811 an dieselbe Stelle, er bekomme von Frauen „immer die Antwort, daß nichts als das kalte Tauchbad daran schuld seye.“73 Wurden die Ärzte daraufhin tätig, so geschah dies nach ihrer Darstellung entweder aus eigenem Antrieb heraus, wie im Fall des Centchirurgen Kappler 1811 und der entsprechenden Eingabe in Württemberg 1821,74 oder aber auf Veranlassung der betroffenen „hießigen Judenfamilien“, wie der Mergentheimer Dr. Bauer 1817 mitteilt.75 Die Rolle der Frauen bleibt bei dieser Formulierung Dr. Bauers ebenfalls unklar. Es ist vorstellbar, dass hier die Eheleute gemeinsam an Dr. Bauer herantraten; vielleicht waren es sogar nur (oder zuallererst?) die Frauen, und die Wortwahl „Familie“ eine behutsame Anpassung der Realität an die gesellschaftlich akzeptierte Norm. Andererseits kann es ebenso gut sein, dass Dr. Bauer den Begriff rein zufällig verwendet und auch hier, wie später in den Eingaben an die Regierung, die Männer allein agierten. Nur an äußerst wenigen Stellen schimmert schwach ein anderes Bild durch diese zunächst vollständig von männlicher Aktivität bestimmte Oberfläche und zeigt, dass die Frauen sich keinesfalls ganz passiv verhielten, sondern sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten durchaus Gehör zu verschaffen wussten. So heißt es in einer Note der Regierung des Jagstkreises von 1842 an das Medizinal-Collegium in Stuttgart: Vorzüglich sind es Armuth, Localität, Indolenz u[nd] das Festhalten an alten Sazungen, die einer zweckmäsigen Reform entgegen stehen. […] Was die Indolenz der Juden betrifft, so ist sie nicht allgemein, und auf jeden Fall werden der gebildete Theil u[nd] die Frauen auf Seiten der Reform seyn […].76
Darf man die Worte des Verfassers dahingehend interpretieren, dass die Gebildeten und die Frauen diejenigen waren, die sich nicht indolent, d. h. gleichgültig und träge verhielten – und sich infolgedessen auch für Änderungen einsetzen würden?
72 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht des Distrikts-Physikats Gerolzhofen vom 17.3.1812. 73 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Eingabe von Centchirurg und Geburtshelfer Anton Kappler vom 12.11.1811. 74 Vgl. Kapitel 4.2.1. 75 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht von Dr. Bauer vom 9.5.1821 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 24.5.1821). 76 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Note der K. Regierung für den Jagstkreis in Ellwangen an das Medizinal-Collegium vom 13.5.1842.
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Auch wenn diese Deutung, allein aufgrund der Formulierung, nicht unbedingt zwingend ist, so zeigt doch die explizite Nennung der Frauen als Unterstützer der Reform, dass man ihnen eine gewisse Bedeutung zumaß, sei ihr Wirken nun in irgendeiner Art öffentlich oder allein auf die häusliche Einflusssphäre beschränkt. Ein behördliches Gutachten aus dem fränkischen Rezatkreis beschreibt andererseits, wie der wesentliche Impuls zur Einrichtung einer wärmbaren Mikwe von den Frauen des Ortes ausging: Bereits 1823 habe man in Bechhofen „diese unreinen, und ungesunden Badgruben verbessern [wollen], indem die jüngern Judenfrauen den Wunsch für die warmen Bäder geäußert hatten. Diese sind aber von den ältern Frauen überstimmt worden.“77 Was hier in besonders drastischer Weise vor Augen tritt, ist durchaus kein Einzelfall: Anders als man zunächst vermuten würde, befürworteten die Frauen nicht ausnahmslos die Einführung einer wärmbaren Mikwe, sondern lehnten diese mitunter sogar vehement ab. Die bisher vorgenommene Unterscheidung verschiedener örtlicher Interessengruppen muss somit weiter differenziert werden, denn auch andernorts waren es tendenziell jüngere Frauen (und Männer), die eine Modernisierung der Mikwe wünschten.78 Nicht allein Frauen (als Nutznießer) und Männer (als Beitragszahler), sowie aufgeklärte / reformorientierte Gruppen und Vertreter der Tradition / Rabbiner standen sich in den Gemeinden potentiell gegenüber, sondern das hieraus resultierende Wirkungsgefüge bezog zudem noch Dynamik aus dem Gegensatz von Jung und Alt. Worin aber lag der Interessenkonflikt zwischen den Generationen begründet, wie stellte sich ihr Verhältnis dar? Auch nach den Beobachtungen Dr. Weinrichs gab es zwei Typen von Frauen: solche (meist ältere), die keinerlei Klagen über die kalten Mikwen hatten, und viele andere (meist jüngere), die laut oder verhalten deren schädliche Folgen beklagten: Es bleiben zwar dieselben [Nachtheile der kalten Tauchen] immer relativ, ie nachdem ein Weib robuster und unempfindlicher, oder delicater und schwächlicher ist, so daß manche, zumal ältere, härter erzogene und gewöhnte Weiber von der kalten Tauche, als einem ihnen höchst gleichgültigen, leichten Geschäfte sprechen, dagegen mehrere iüngere, nicht so abgehärtete Weiber, theils laut, theils auch nur in der Stille Klagen darüber führten und hartnäckige Migraine, besonders aber Unregelmäßigkeiten in der Menstruation
77 Staatsarchiv Nürnberg, Bezirksamt Feuchtwangen, Nr. 1370: Undatiertes Schreiben des Landgerichts Herrieden, zit. nach: Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 116. Für die weiteren Hintergründe siehe ebd., S. 116f. 78 Vgl. hierzu beispielsweise StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Wolshofer vom 1.3.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 14.3.1839).
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derselben zuschrieben, welche Unregelmäßigkeiten die Tauch-Ceremonie um so öfter nöthig machen […].79
Nach Weinrichs Darstellung hatten sich (wie bereits in anderem Zusammenhang thematisiert) manche Frauen im Laufe ihres Lebens mit dem kalten Tauchbad abgefunden – sei es aufgrund von Überzeugung, körperlicher Konstitution oder Gewöhnung –, so dass sie persönlich nichts Negatives zu berichten hatten. Auch eine Art Stolz mag bei älteren Frauen durchaus eine Rolle gespielt haben, d. h. sie fühlten sich gerade durch die Erfüllung dieser schwierigen religiösen Pflicht in ihrem Selbstwertgefühl als jüdische Frau bestärkt. Ein solches Phänomen beobachten Inbal Cicurel (2000) und Rahel Wasserfall (1981) unter Jüdinnen, die in den 1950er Jahren aus Marokko und Tunesien nach Israel einwanderten. Nach Cicurels Schilderung existierten in diesen Herkunftsländern nicht an allen Orten spezielle Mikwen, so dass sich die Frauen in einer vergleichbaren Lage befanden wie die deutschen Jüdinnen der Frühen Neuzeit, die in kalten Kellerquellenbädern oder gar natürlichen Wasserläufen untertauchen mussten: Thus, a woman who wanted to immerse may have had to walk long distances, sometimes on dangerous paths, avoiding snakes and rapists, in order to cut through ice and immerse in freezing water – and all that, of course, in the dark, because the halakhah rules that women may immerse only after sunset. This was very difficult for the women, but it contributed to their self-image and their image in the eyes of men as brave and dedicated to religion. They were presented as models of piety, willing to risk themselves to fulfill the commandment. Thus, we can see how niddah became a symbol of women’s spirituality and willingness for self-sacrifice – traits that probably matched the image of the ideal woman in these cultures.80
Eine ähnliche Beobachtung macht Wasserfall, die eine andere Gemeinschaft von Immigranten aus Marokko interviewte. Die Frauen der ersten Einwanderergeneration hätten häufig mit einem besonderen Stolz über die kalten Mikwen in Marokko berichtet, sich in gewisser Weise den jungen (in Israel aufgewachsenen) Frauen überlegen gefühlt, die im warmen Wasser untertauchten. Wie Wasserfall ebenfalls feststellt, symbolisiert das Einsetzen der Menstruation den Übergang vom Mädchen zur Frau, aber erst der Besuch der Mikwe macht aus der Frau eine jüdische
79 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirektion vom 21.9.1812. 80 Cicurel, „Rabbinate“, S. 180f (Hervorhebung im Original).
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Frau81 – die Mikwe kann somit als wichtiger Identitätsmarker fungieren, besonders innerhalb einer eher traditionellen, geschlossenen Gemeinschaft. An anderer Stelle beschreibt Weinrich hingegen noch eingehender die Ängste derjenigen Frauen, die unter dem kalten Wasser, möglicherweise auch dessen Folgen litten: Bey meinen nähren Erkundigungen hörte ich von mehreren Weibern bittere Klagen über das Lästige und Gesundheitswidrige solcher Ceremonie. Manche versicherten mich, daß sie Tage lang sich im Voraus darauf fürchteten, aber die meisten dieser Klagen brachten sie im Stillen, und gleichsam verloren vor, weil sie es nicht wagen, sie vor denen dieser Reinigung nicht bedürfenden Weibern und vor den Machthabern des Ceremonialgesetzes laut werden zu laßen.82
Warum sollten sich diese betroffenen Frauen aber gerade davor scheuen, vor den Frauen jenseits der Wechseljahre ihre Klagen laut werden zu lassen? Viel verständlicher wäre eine Scham gegenüber denjenigen Frauen, die noch regelmäßig die Mikwe besuchten, ohne zu klagen, obwohl sie vielleicht schon älter und gesundheitlich anfälliger waren. Es mag sein, dass Weinrich, selbst nur unbeteiligter Beobachter, die Situation falsch beurteilt oder aber das Gehörte ungenau wiedergibt. Eine andere Erklärung ist die, dass er mit „denen dieser Reinigung nicht bedürfenden Weibern“ ganz bewusst gerade die Gruppe der ältesten Frauen eines Ortes umschreibt.83 Demnach fungierten diese Frauen als weibliches Pendant zu den männlichen „Machthabern des Ceremonialgesetzes“, nicht nur syntaktisch sondern auch in der Realität: Innerhalb der Lebenswelt der Frauen bildeten sie den Maßstab des Handelns und waren angesehene Hüterinnen der Tradition, deshalb die Furcht der jüngeren Frauen.84 Die Situation der Frauen war somit in gewisser
81 Wasserfall, „Re: Menstruation and Identity“, E-Mail; dies., „Menstruation and Identity“, S. 614, 617f. 82 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirektion vom 28.4.1812. 83 Man fragt natürlich zu Recht, warum Weinrich dann nicht einfach ‚die ältesten Frauen‘ schrieb, sondern gerade diese Formulierung wählte. Möglicherweise wollte er hiermit (auf subtile Art) die Ironie sichtbar machen, dass gerade diejenigen, die über die Tradition wachen (Frauen jenseits der Wechseljahre und Rabbiner bzw. Gelehrte) selbst nicht der religiösen Pflicht des kalten Tauchbads unterliegen. 84 Auch Mombert spricht in seiner populären Schrift von 1828 derartige familiäre Zwänge an (Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 84f, 95). Besonders plastisch wird diese Konstellation in der Stellungnahme von Rabbiner Gosen, der als einziger Vertreter auf der Rabbinerversammlung von 1845 die Herstellung einer Mikwe mit geschöpftem Wasser ablehnt: „Die orthodoxen Frauen sowohl wie auch die freisinnigen werden sich ohnedieß nicht nach uns richten, es handle sich doch nur um solche, die Amtsrücksichten oder Rücksichten gegen fromme Verwandte haben.“ Während das offizielle Protokoll der Versammlung hier neutral „fromme Verwandte“ als Gegenspieler der jungen Frauen
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Weise paradox: Während die männlichen „Machthaber“, die Rabbiner, in aller Regel ja eine Erwärmung des Wassers zuließen, scheiterte ihr Protest bisweilen gerade an den Bewahrern der Tradition aus ihrem eigenen Geschlecht, die an dem kalten Tauchbad festhalten wollten.85 Der innerjüdische Kampf um die wärmbare Mikwe wird an dieser Stelle, in dem persönlichen Ringen der jungen Frauen um Befreiung aus gesellschaftlich-religiös bzw. familiär bedingten Zwängen, auch zum Generationenkonflikt.86 Sehr anschaulich fasst die Kluft zwischen den Generationen wiederum der in Ettenheim tätige Amtsarzt Dr. Schneider ins Bild, der seiner Enttäuschung über den mancherorts unüberwindbar scheinenden Widerstand Luft macht: Allein tauben Ohren gepredigt! – Mit Schrecken hörten die weißbärtigen Söhne Abrahams diese Neuerung an, und wußten Hunderterlei dagegen einzuwenden. Nichts desto weniger wurde ich einige Zeit nachher häufig von dem jüngeren Theile der Israeliten aufgefordert[,] mit aller Kraft und ohne Rücksicht der Aeußerungen ihrer Aeltesten einer so wohlthätigen und die Gesundheit befördernden und erhaltenden Anstalt Eingang zu verschaffen.87
angibt, enthält die in der Zeitschrift Der Orient berichtete Begründung von Gosens Ablehnung zugleich eine größere Polemik und ein ungleich höheres Konfliktpotential: „Die ganze Erleichterung [d. h. die Erlaubnis von geschöpftem Wasser] würde daher nur für die Fr aue n d e r R abbine r oder für solche, die nur aus Rücksicht ihrer Schwiegermütter sich des Bades noch bedienen, einige Folgen haben.“; vgl. Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 182; o.V., „Frankfurt a.M., 21. Juli (Schluß der Verhandlungen der RV.)“, S. 318 (Hervorhebung im Original). Auch an dieser Stelle findet sich eine Parallele zu den von Cicurel beschriebenen Immigrantinnen aus Nordafrika, bei denen häufig nicht die Mutter, sondern die Schwiegermutter eine Braut in den nidda-Vorschriften unterwies (vgl. Cicurel, „Rabbinate“, S. 180f). 85 Dass Frauen gerade die Ausführung eines religiösen Gebots, das sie selbst betrifft, in aller Strenge bewahren oder gar erschweren wollen, ist dabei nicht gänzlich ungewöhnlich. Einen Hinweis auf diese Tendenz liefert bereits die talmudische Diskussion über die Verlängerung der Zeit der Absonderung durch Hinzufügen der sieben ‚reinen‘ Tage: Dies hätten sich die Frauen selbst als Regel auferlegt (bNid 66a), nach Meacham „the only halakhic statement in the entire talmudic corpus made in the name of the daughters of Israel“ (Meacham, „History“, Appendix S. 256). Ebenso verhält es sich mit dem etwa ab dem späten 11. Jahrhundert im aschkenasichen Raum aufkommenden Brauch, während der Tage der eigentlichen Menstruation nicht am Gottesdienst in der Synagoge teilzunehmen (Baumgarten, Practicing Piety, S. 33; vgl. auch oben Kapitel 2.2). 86 Vgl. hierfür wiederum Cicurels Beobachtung, wonach ältere Immigrantinnen moralischen Druck auf die Generation der in Israel geborenen (häufig weniger religiösen) Frauen ausübten, indem sie bestimmte Geschichten von den negativen Folgen der Vernachlässigung des Tauchbads verbreiteten. Die Frage der Treue gegenüber der Tradition dient hier als ein Mittel der sozialen Kontrolle und der Festigung von Machtstrukturen; siehe Cicurel, „Rabbinate“, S. 180. 87 P.J. Schneider, Religionsgebräuche, S. 255.
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Was war der Grund dafür, dass die jüngere Generation dieser Zeit nicht weiter bereit war, den vorhanden Zustand der Frauenbäder, bzw. die damit einhergehende Tradition des ‚kalten Bades‘, uneingeschränkt zu akzeptieren? Der Umstand, dass sie (sowohl die Frauen, als auch indirekt ihre Ehemänner) die Leidtragenden waren, ist dabei sicherlich ein entscheidender Faktor, kann für sich genommen aber nicht als Erklärung dienen, schließlich waren auch ihre Eltern und Großeltern einmal jung gewesen. Vielmehr müssen noch andere Umstände hinzukommen, die sich teilweise auch in den zuletzt betrachteten Quellen andeuten. Zum einen hat es den Anschein, als ob die jüngeren Jüdinnen und Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein größeres Gesundheitsbewusstsein hatten, oder schlicht ‚ärztehöriger‘ waren, als noch die ältere Generation; in jedem Fall fielen die Argumente eines Arztes in dem von Dr. Schneider beschriebenen Fall offensichtlich auf fruchtbaren Boden, so dass sie schließlich – wenn auch nicht an Ort und Stelle und damit vor den versammelten Ältesten – seine Hilfe erbaten. Die gerade an dieser Stelle des Berichts nochmalige Betonung der Vorzüge einer wärmbaren Mikwe als „wohltätig“ und „die Gesundheit befördernd“ kann als ein Anhaltspunkt für dieses wachere Bewusstsein (eventuell auch die größere Beeinflussbarkeit) der jüngeren Generation gelten, Dr. Schneiders Formulierung ein mehr oder weniger wörtliches Echo der an ihn herangetragenen Bitte um Unterstützung darstellen. Zwar muss dies in letzter Konsequenz eine Vermutung bleiben, dafür spricht jedoch, dass die genannten Attribute an dieser Stelle eigentlich überflüssig sind; Dr. Schneider hätte alternativ ebenso folgendermaßen formulieren können: „Nichts desto weniger wurde ich einige Zeit nachher häufig von dem jüngeren Theile der Israeliten aufgefordert[,] mit aller Kraft und ohne Rücksicht der Aeußerungen ihrer Aeltesten einer solchen [zuvor beschriebenen] Anstalt Eingang zu verschaffen.“ Fragt man nach Gründen für die dennoch erfolgte ausdrückliche Nennung der Vorteile, so gibt es theoretisch drei Erklärungen: Sie erfolgt völlig willkürlich bzw. unreflektiert, sie zielt (als rhetorisches Mittel) allein auf den Leser, oder aber sie ist in irgendeiner Form bzw. in gewissem Grad Abbild der realen Vorgänge. Auch wenn die ersten beiden Gründe natürlich nicht ausgeschlossen werden können, so haben sie doch m.E. weniger Gewicht: Zum Einen formuliert der Verfasser allgemein sehr bewusst, häufig auch in bildhafter Ausdrucksweise (z. B. „die weißbärtigen Söhne Abrahams“), zum Anderen ist die Hervorhebung der Vorteile für den Leser nach der vorausgegangenen Argumentation kaum noch nötig und könnte bestenfalls dazu dienen, die oben beklagte Rückständigkeit der Älteren, die sich medizinisch begründeten Argumenten verschließen, weiter bloßzustellen; dies würde dann aber im Umkehrschluss bedeuten, dass die Jüngeren für Gesundheitsfragen aufgeschlossener waren, so dass der Verfasser auf diese Weise ebenfalls, wenn auch indirekt, einen Generationenwandel beschreibt. Zweifellos war die richtige persönliche Sorge für den Erhalt der Gesundheit ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zentrales Thema der Aufklärungsmedizin
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und erreichte in zahllosen Schriften selbst den medizinischen Laien, zumindest der gebildeten Schichten.88 Beispielhaft für diese Entwicklung soll nur einer der bedeutendsten Vertreter der medizinischen Aufklärung, Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836),89 genannt werden, dessen bekanntestes Werk 1796/97 unter dem bezeichnenden Titel Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern erschien; ab der dritten Auflage 1805 unter dem Titel Makrobiotik bekannt, erfuhr es noch zu seinen Lebzeiten zahlreiche Nachdrucke und wurde in viele Sprachen übersetzt.90 Wenig bis kaum bestimmbar ist hingegen, in welchem Ausmaß der mit dem gelehrten Gesundheitsdiskurs einhergehende allmähliche Bewusstseinswandel auch die einfache Bevölkerung erreichte: Inwieweit setzte sich auch bei ihnen bereits in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ein moderner, säkular bestimmter Gesundheitsbegriff durch, wonach Gesundheit in erheblichem Maß in der Verantwortung des Individuums lag und nicht primär in religiösen Begründungszusammenhängen zu sehen war? Zwar war die vormoderne tiefere Verwurzelung im Glauben keineswegs unvereinbar mit dem Bemühen um eine gesundheitsbewusste Lebensweise, und ein genereller „Fatalismus“ gegenüber Krankheiten selbst bei der größtenteils ungebildeten Landbevölkerung nicht anzutreffen, wie Michael Stolberg in seiner kurzen Darstellung zum Wandel des Gesundheitsdiskurses seit der Aufklärung belegt.91 Aber nichtsdestotrotz ist die zunehmende Wertschätzung der Gesundheit als ein oberstes bürgerliches Gut, das es durch eigenverantwortliches Handeln bzw. eine vernunftgemäße Lebensweise zu bewahren gilt, eine Entwicklung, die erst durch die europäische Aufklärung schrittweise möglich wird. Allerdings ist es für den etwa ab 1800 wahrnehmbaren Widerstand gegen das kalte Mikwenwasser auch nicht zwingend nötig, dass die einfache, auf dem Land lebende Bevölkerung mit derartigen Konzepten oder Gesundheitsregeln vertraut war, wenngleich es mit Sicherheit selbst im ländlich geprägten Jagstkreis jüdische Anhänger der (jüdischen wie allgemeinen) Aufklärung gab.92 Tatsächlich sind die populärmedizinischen Schriften in dem weitaus größeren Zusammenhang der Medikalisierung der Gesellschaft zu sehen, d. h. einer zunehmenden Professionalisierung seitens der Ärzteschaft und der sich ausdehnenden medizinischen
88 Vgl. Piller, Private Körper, S. 18f; ebenso, überblicksartig, zur gewandelten Einstellung zu Körper und Gesundheit im Zuge der Aufklärung Stolberg, „Körper“, insbesondere S. 305, 314. 89 Zu Person und Werk Hufelands siehe Wenzel, „Hufeland, Christoph Wilhelm“, S. 633–635, sowie Wolfgang Eckart, Geschichte der Medizin, S. 166–169. 90 Vgl. Michler, „Hufeland, Christoph Wilhelm“, S. 2. 91 Stolberg, „Körper“, S. 305f. Zu den diesbezüglichen typischen Vorurteilen, die von Ärzten der Aufklärungszeit vorgebracht wurden, siehe auch Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 137. 92 Vgl. den Bericht der Regierung des Jagstkreises vom Juli 1821, wonach ein „aufgeklärter Israelite“ sich anonym zu Mikwen geäußert hat; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht der K. Regierung des Jagstkreises in Ellwangen vom 24.7.1821.
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Kontrolle über zentrale menschliche Lebensbereiche im Rahmen der Entstehung eines öffentlichen Gesundheitswesens.93 Als „Öffentlichkeitskampagnen, Imagewerbung, Verkaufsstrategien der Profession“94 dienten auch die Gesundheitslehren aufgeklärter Ärzte zu einem guten Teil ihrer Professionalisierungspolitik, d. h. ihren Abgrenzungsbestrebungen gegenüber nicht akademisch ausgebildetem Heilpersonal95 und allen Formen von ‚Quacksalberei‘. Selbst wenn man davon ausgeht, dass außerhalb der gebildeten Schichten ein echter Bewusstseinswandel bisher kaum stattgefunden hatte, die ländliche Bevölkerung, auch die junge, in der ersten Jahrhunderthälfte größtenteils noch nicht gesundheitsbewusster war, so konnte sie doch nicht gänzlich unberührt bleiben von diesem vielschichtigen gesellschaftlichen Prozess, der den Kranken, nicht zuletzt durch gesetzliche Verordnungen,96 in zunehmendem Maße auf die akademisch gebildeten Ärzte verwies. Die Tatsache, dass bereits um 1800 jüdische Frauen vielerorts ihre Hoffnung in die medizinische Kompetenz der Ärzte setzten, ist somit sicher auch ein erster Erfolg dieser Professionalisierungstendenzen, war doch „die regelmäßige ‚Benutzung‘ der Ärzte in Problemen des Körperwohls […] noch keineswegs üblich.“97 1817 schließlich wandten sich jüdische Familien(väter) an den örtlichen Amtsarzt in Mergentheim, um konkrete Unterstützung bei der Einrichtung einer warmen Mikwe zu erhalten. Unabhängig davon, ob man akademisch geschulten Ärzten nunmehr eine größere Autorität in Gesundheitsfragen zugestand, oder sie als einflussreiche Vertreter einer sich formierenden staatlichen Gesundheitspflege sah,98 die genannten Beispiele zeugen von dem Vertrauen, das man jüdischerseits dieser akademisch gebildeten Ärzteschaft entgegenbrachte, die hierdurch häufig erstmals auf die Problematik der Mikwen aufmerksam wurde. In einer Zeit, in der die Sorge um die Gesundheit als gesellschaftspolitisches Thema gewissermaßen neu entdeckt wurde, und auch die Ärzte ihr Profil gegenüber anderem Heilpersonal noch schärfen mussten, um die
93 Für eine Problematisierung des Begriffs unter Bezugnahme auf die aktuelle Forschung siehe Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 44–56. 94 Göckenjahn, Kurieren, S. 85; vgl. auch Stolbergs Definition von ‚Professionalisierung‘ in Stolberg, „Heilkundige“, S. 71. 95 Zu dieser Gruppe gehörten im Wesentlichen „die für äußerliche Eingriffe lizensierten niederen Wundärzte (die Bader, Barbiere, Wundärzte zweiter und dritter Klasse oder Chirurgi […])“; Loetz, Vom Kranken zum Patienten, S. 55 (Hervorhebung im Original); vgl. auch ebd. S. 144f. 96 So wurden etwa in Baden, ähnlich wie in anderen deutschen Staaten, Wundärzte bis 1836 durch gesetzliche Regelungen nach und nach systematisch aus der öffentlichen Medizin ausgeschlossen; vgl. ebd. 97 Göckenjahn, Kurieren, S. 86. Zur Konkurrenzsituation der akademischen Ärzte mit kommerziellen und privaten Laienheilern vgl. auch ebd. S. 170f. 98 Für den wachsenden öffentlichen und politischen Einfluss der Ärzteschaft, ungeachtet ihrer nicht unbedingt gegebenen fachlichen Überlegenheit gegenüber anderem Heilpersonal, siehe Stolberg, „Heilkundige“, S. 72–76.
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eigene Position zu stärken, waren sie die idealen Verbündeten jüdischer Mikwenreformer. Dieser Vertrauensvorschuss, den die Ärzte allem Anschein nach genossen, hat aber bezogen auf die jüdische Gemeinschaft zugleich eine dynamische Qualität, die sich an anderer Stelle zeigt: Waren die Juden eines Ortes noch nicht in Sachen warmer Mikwe aktiv (zumindest nicht öffentlich), so konnte das Plädoyer eines Arztes bisweilen das ausschlaggebende Moment für einen Richtungswechsel bilden, wie im Fall von Dr. Schneider, dem es in den frühen 1820er Jahren gelang, die jüngere Generation eines Ortes zu überzeugen oder aber aus ihrer Reserve zu locken. Einmal für das Problem sensibilisiert, steht ebenfalls zu vermuten, dass zahlreiche Ärzte junge Frauen bzw. Paare zunächst auf rein persönlicher Ebene vor den gesundheitlichen Gefahren des Untertauchens im kalten Wasser warnten, ohne damit unbedingt an die Öffentlichkeit zu treten, somit gewissermaßen als ‚geheime‘ Multiplikatoren fungierten. Zwar lässt sich der tatsächliche Einfluss der Ärzte besonders in letztgenannter Hinsicht kaum nachvollziehen, doch muss man, wie die genannten Beispiele zeigen, den Einfluss der Ärzte oder allgemein des aufklärerischen Gesundheitsdiskurses besonders auf die jüngere Generation von Juden durchaus ernst nehmen. „Nöthige Erinnerung an die Bäder und ihre Wiedereinführung in Teutschland“ – Impulse aus der Badekultur
Andererseits war es auch nicht ausschließlich die junge Generation, deren Einstellung in Gesundheitsfragen sich unter dem Einfluss populärer Schriften oder im Kontakt mit einem Arzt geändert hatte, und die sich daraufhin für wärmbare Mikwen stark machte. Vielmehr gewann speziell das Thema ‚Baden‘, oder allgemeiner das Untertauchen des Körpers im Wasser, seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch gesamtgesellschaftlich an Bedeutung, und zwar zunächst nicht primär als eine Hygienemaßnahme im heutigen Sinn, sondern im Zusammenhang mit dem Gesundheitsdiskurs der Aufklärungszeit.99 Wurde die Wirkung einer größeren Menge von Wasser auf den Körper von Medizinern jahrhundertelang als mehr oder weniger gefährlich eingestuft, unter anderem deshalb, weil das Wasser über die Poren in den Körper eindringe und die Haut somit durchlässiger für Giftstoffe in der Luft mache, darunter auch die Pest,100 so unterlagen derlei Annahmen im 18. Jahrhundert einer teilweisen Korrektur. Wenngleich man nach
99 Für das noch im 18. Jahrhundert als Mittel zur Gesundheitsförderung, anstelle von körperlicher Reinigung, betrachtete Baden vgl. Frey, Der reinliche Bürger, S. 43f; für die hiervon weitgehend unberührten, dagegen auch von religiösen Konzepten bestimmten Badegewohnheiten ländlicher wie städtischer Unterschichten siehe ebd., S. 56–61. 100 Für die Vorstellung der Übertragung der Pest durch schlechte Luft und die größere Anfälligkeit des Körpers nach dem Baden siehe Vigarello, Wasser und Seife, S. 22f und passim; ebenfalls Frey, Der reinliche Bürger, S. 37f.
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wie vor von einer potentiell schädlichen Durchdringung des Körpers mit Wasser ausging, so war doch die Furcht vor der Übertragung der Pest und anderer Krankheiten im Wesentlichen gebannt, da die bewirkte Öffnung der Poren als weniger langanhaltend erschien als bisher vermutet.101 Darüber hinaus wandelte sich in der Aufklärungsmedizin grundlegend die Vorstellung vom menschlichen Körper an sich. An die Stelle der ängstlichen Sorge für eine Maschine, die es gewissenhaft zu warten galt, um ihre Funktion nicht zu beeinträchtigen, trat nun das Vertrauen in die körpereigenen Mechanismen: Der Körper sei widerstandsfähig und verfüge über „ungeahnte innere Ressourcen“, die es im Interesse einer bestmöglichen Gesundheit zu mobilisieren gelte.102 Auf diese Weise wurde es erstmals seit dem Niedergang der mittelalterlichen Badehäuser möglich, den positiven Effekten des Badens wieder größere Beachtung zu schenken;103 vor allem Kaltwasseranwendungen wurden mitunter fast als Allheilmittel betrachtet, am umfassendsten sicher in dem einflussreichen Werk Unterricht von Krafft und Würckung des frischen Wassers des Schweidnitzer Stadtphysikus Johann Siegemund Hahn (1696–1773),104 neben seinem Vater einer der Begründer der Wasserheilkunde, aber beispielsweise auch bei dem seinerzeit viel rezipierten Schweizer Arzt Samuel-Auguste-André-David Tissot (1728–1797).105 Diente nach Auffassung der Kaltwasserbefürworter das kalte Bad Kranken zur Genesung, Gesunden zur Abhärtung, so waren andererseits die warmen Bäder schädlich, und „die Städte, wo diese Gewohnheit stark in Uebung ist“, so Tissot 1786, seien durch verschiedene hierdurch begünstigte Krankheiten
101 Vigarello, Wasser und Seife, S. 118. 102 Zum physikalisch-mechanistischen Lebenskonzept, wie es vor allem von René Descartes (1596–1650) vertreten wird, siehe Wolfgang Eckart, Geschichte der Medizin, S. 142–147; zu neuen Konzepten in der Medizin seit der Aufklärung, wie Animismus, Vitalismus und Hufelands Lehre von der Lebenskraft, siehe dessen Kapitel 7.2 „Alte und neue Konzepte in der Medizin“, S. 159–172. Zum Wandel des Körperbildes im Zusammenhang mit der Badekultur vgl. Vigarello, Wasser und Seife, S. 154–158; das hier verwendete Zitat findet sich ebd., S. 156. 103 Allerdings ist anzumerken, dass auch im Mittelalter der Hauptzweck der Badehäuser nicht der der Reinigung war, sondern vielmehr in Geselligkeit und Vergnügungen (auch sexueller Art) bestand (vgl. Vigarello, Wasser und Seife, S. 39f). 104 Die beiden schon zu Lebzeiten so bezeichneten „schlesischen Wasser-Hähne“, (Johann) Siegemund Hahn (1664–1742) und sein jüngerer Sohn Johann Siegemund Hahn (1696–1773), werden in der Literatur häufig verwechselt, nicht zuletzt deshalb, weil ihre Schriften unter wechselnden Namenskombinationen bzw. Varianten erschienen. Das bekannteste ihrer Werke über Kaltwasseranwendungen, verfasst von Johann Siegemund Hahn (dem Sohn), wurde erstmals 1738 unter dem Titel Unterricht von Krafft und Würckung des frischen Wassers veröffentlicht, dann noch öfter teils auch unter anderen Titeln, zuletzt 1938; vgl. Averbeck, Kaltwasserkur, S. 137–144; Hahn, Krafft und Würckung des frischen Wassers. 105 Zu seinen biographischen Daten siehe Boschung, „Tissot, Samuel-Auguste-André-David“, S. 1399f.
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bereits merklich „entvölkert“.106 Tissots Szenario mag stark übertrieben sein, aber nichtsdestotrotz erfreute sich gerade das warme Bad in den gehobenen Schichten zunehmender Beliebtheit, so dass als sichtbares Zeichen dieses Trends erstmals 1761 ein ‚öffentliches Bad‘ entstand, das auch diese Möglichkeit anbot, nämlich die auf der Seine als Badeschiff errichtete Poitevinsche Badeanstalt in Paris.107 Der Preis war für einfache Leute unerschwinglich, für die Elite hingegen sollte der Besuch nach Poitevins Zielsetzung eine kostengünstige Alternative für den Besuch eines (entfernten) Thermalbads bieten, so dass hier nach wie vor der Aspekt der Gesundheitsförderung vor der körperlichen Reinigung im Vordergrund stand.108 Dass das Modell der rein kalten Flussbäder hingegen auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt war, führt anschaulich das Beispiel des nur wenige Jahre bestehenden, 1781 eröffneten, Ferroschen Badefloßes in Wien vor Augen. Anstelle des spartanischen kalten Gesundheitsbades votierte das sich etablierende städtische Bürgertum letztlich für die Annehmlichkeiten der warmen „Salonbäder,“109 hierin bestärkt und bestätigt durch den Pyrmonter Badearzt Heinrich Matthias Marcard (1747–1817), dessen Lehre das warme Bad auch auf theoretisch-wissenschaftlicher Ebene rehabilitierte.110 Spätestens mit Hufelands Plädoyer für die Wiedereinführung der Bäder in der Juli-Ausgabe des renommierten Journal des Luxus und der Moden 1790 hatte sich das Baden dann von dem bisherigen Kontext der Gesundheitsförderung durch Abhärtung bereits ein gutes Stück emanzipiert. Ausgehend von den „Modeübeln“111 seiner Zeit, zu denen Hufeland auch vielfältige Hautkrankheiten zählt, identifiziert er die jahrhundertelange Vernachlässigung der Hautkultur als eine der Hauptursachen hierfür. Wenngleich auch er die stärkende Wirkung des kalten Wassers anerkennt, empfiehlt er stattdessen die lauwarmen Bäder, da diese, unter Berücksichtigung des Klimas und der körperlichen Konstitution seiner Adressaten,112 regelmäßig und sogar täglich angewendet werden könnten. Ihren Hauptzweck, nämlich die „freye ungehinderte Ausdünstung“ sowie „Reinigung und Eröfnung
106 Tissot, Anleitung für das Landvolk in Absicht auf seine Gesundheit, Augsburg/Innsbruck 1766, S. 407. In der Auflage von 1786 benutzt man bereits die Bezeichnung „sehr bewährtes Hausarzneybuch“, vgl. ders., Anleitung für das Landvolk in Absicht auf seine Gesundheit, oder gemeinnützliches und sehr bewährtes Hausarzneybuch, besonders für das Volk auf dem Lande, Wien 1786. 107 Vigarello, Wasser und Seife, S. 127; Martin, Badewesen, S. 45f; Frey, Der reinliche Bürger, S. 221. 108 Vigarello, Wasser und Seife, S. 127. Ähnlich beschreibt auch Ackermann 1802 den Nutzen des Kohlschen Badeschiffs in Frankfurt am Main; vgl. Ackermann, Brunnen- und Badeanstalten, S. 17 (Anm.). 109 Hierzu sowie zur Entstehung der Salonbäder siehe Frey, Der reinliche Bürger, S. 219–233. 110 Für die gegensätzlichen Ansätze von Ferro und Marcard siehe ebd., S. 117. Zu den wenigen bekannten Lebensdaten Marcards siehe Böttcher, „Marcard, H(e)inrich Matthias“, S. 246. 111 Hufeland, „Nöthige Erinnerung an die Bäder“, 1790, S. 385. 112 Für eine detaillierte Darstellung des falschen Gebrauchs der kalten Flussbäder siehe die Kritik bei Zwierlein, Badeanstalten, S. 19–44.
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[sic] unsrer Haut“, erfüllten diese voll und ganz.113 Mit Hufelands ausführlicher Erörterung der Funktionen der Haut und der Betonung ihrer Bedeutung für den menschlichen Organismus ebnete er zugleich den Weg für die weitere Karriere des Wassers als wichtigstes Mittel bürgerlicher Körperhygiene. Gesundheit war selbstverständlich nach wie vor eine gewünschte Folge der Wasseranwendung, allerdings nur noch eine indirekte: Das unmittelbare Resultat war eine natürliche körperliche Reinheit, die sich von dem mithilfe von Puder und Parfum künstlich erzeugten Sauberkeitseindruck des Adels bewusst unterschied und in dem bürgerlichen Wertekanon einen hohen Eigenwert entwickelte: Aufs engste mit den inneren Werten „Wahrheit und Reinheit des Charakters verbunden“, war Reinlichkeit innerhalb des bürgerlichen Selbstentwurfs eine zentrale Tugend, die Hufeland als „beglückende Huldgöttinn [sic]“ erschien.114 Hufelands Augenmerk auf die Reinigung der Haut war dabei zwar nicht gänzlich neu, doch gelang es ihm mit seiner „Erinnerung an die Bäder“ von 1790, sowie der 1801 erneut abgedruckten, etwas erweiterten Abhandlung,115 bereits vorher vorhandene Tendenzen mit der aufkommenden bürgerlichen Badekultur wirksam zu verbinden.116 Tatsächlich entstanden ab den 1780er Jahren an sehr vielen Orten die auch von Hufeland geforderten Einrichtungen in Form von (kalten) Flussbädern, um die Jahrhundertwende schließlich auch zahlreiche Warmbadeanstalten, bisweilen selbst in kleineren Städten;117 in dem auf dem Main im Jahr 1800 angelegten Kohlschen Badeschiff in Frankfurt (Abb. 9) 113 Hufeland, „Nöthige Erinnerung an die Bäder“, 1790, S. 395. 114 Hufeland, „Einige Schönheitsmittel nicht aus Paris“, in: ders., Aufsätze, S. 1–28, hier S. 14. Nicht zufällig wählte man beispielsweise auch für das 1803 in Berlin errichtete Welpersche Bad die Form eines antiken Tempels. Wenngleich man hier und anderswo zunächst die griechische Göttin der Gesundheit, Hygieia, im Blick hatte, so nahm doch die Reinlichkeit, im Sinne von Hufelands Darstellung, mehr und mehr deren Platz ein; zur Beschreibung des Baus siehe Frey, Der reinliche Bürger, S. 224. 115 Hufelands „Erinnerung an die Bäder“ erschien 1801 erneut in zweifacher Form, nämlich sowohl als selbständige Schrift wie auch abermals in der Zeitschrift Journal des Luxus und der Moden. Beide Texte waren überarbeitet und ergänzt durch eine Anleitung zur Einrichtung häuslicher Bäder von Friedrich Justin Bertuch, dem Herausgeber des Journals. Darüber hinaus hatte Hufeland den Artikel in seiner ursprünglichen Form auch bereits 1797 in seiner Aufsatzsammlung Gemeinnützige Aufsätze zur Beförderung der Gesundheit und des Wohlseyns wieder abgedruckt. Siehe Hufeland, Nöthige Erinnerung an die Bäder, Weimar 1801; Hufeland/Bertuch, „Nöthige Erinnerung an die Bäder“, 1801; Hufeland, Aufsätze, S. 59–98. 116 So war beispielsweise bereits 1757 ein Aufsatz unter dem Titel Vom Nutzen der Reinlichkeit für die Gesundheit erschienen, in welchem der anonyme Verfasser das tägliche Waschen mit Seife als Mittel der Hautreinigung propagierte. Allerdings zielten derartige Empfehlungen regelmäßig nur auf die Reinigung bestimmter Körperstellen, nicht des ganzen Körpers; vgl. Frey, Der reinliche Bürger, S. 125. 117 Warme Badeanstalten gab es um die Jahrhundertwende beispielsweise in Bayreuth (1797), in Frankfurt am Main (Kohlsches Badeschiff, 1800) und Braunschweig (1802); vgl. Martin, Badewesen, S. 46. Schreger erwähnt für 1803 explizit Bayreuth, Frankfurt am Main, Berlin, Nürnberg, Celle
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richtete man sich gar ausdrücklich nach Hufelands Empfehlungen, lauwarmes Wasser zu verwenden.118
Abb. 9 Neue Badeschiffe am alten Schneidwall, Kohl’sche Badeanstalt, Frankfurt am Main, Kupferstich und Bremen; vgl. Schreger, Balneotechnik, S. 51f. Siehe auch das Kapitel zu Salonbädern bei Frey, Der reinliche Bürger, S. 219–233. 118 Zwierlein, Badeanstalten, S. 13.
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Insofern, als diese Entwicklung nicht das Ideenkonstrukt einzelner Ärzte war, sondern sich zudem sichtbar im realen Raum vollzog, konnte sie auch der jüdischen Welt nicht verborgen bleiben. Warme Bäder blieben zwar nach wie vor ein gewisser Luxus, ihre Zubereitung aber wurde nun erklärtes Interesse von Medizinern, Bauunternehmern und Ingenieuren. Wie weit der Anspruch der Befürworter des warmen Bades und ihr Vertrauen in die technische Durchführbarkeit ging, lässt sich daran ermessen, dass man bereits um die Wende zum 19. Jahrhundert die Anlage von häuslichen Badezimmern im Blick hatte. So wurde Hufelands Erinnerung an die Bäder in der erweiterten Fassung von 1801 um eine Nachschrift ergänzt, in welcher der Herausgeber des Magazins, Friedrich Justin Bertuch, die leicht zu treffende Einrichtung eines Hausbades „in jedem nur einigermaßen bequemen bürgerlichen Hause“ beschreibt.119 Diesen Vorschlag würdigte 1803 nochmals Christian Heinrich Theodor Schreger in seinem Werk Balneotechnik oder Anleitung Kunstbaeder zu bereiten und anzuwenden.120 Auch wenn dies größtenteils noch Utopie war, so zeugten dennoch, neben den ausgeführten Anlagen in Flussbädern, auch deren vielfältige Beschreibungen in der zeitgenössischen Presse und Literatur von dem neuerdings möglichen bequemen Genuss eines warmen Vollbades121 – und warum sollten derartige moderne technische Vorrichtungen nicht auch die Erwärmung jüdischer Tauchbäder ermöglichen bzw. erleichtern? Zwar dürfte ein expliziter Nachweis schwerfallen, inwieweit die aufkeimende Bademode und die hiermit verbundenen technischen Errungenschaften warmer Flussbäder zugleich Impulse für die Modernisierung der Mikwen lieferten, andererseits ist es kaum vorstellbar, dass die etwa zeitgleichen Anfänge dieser Anlagen auf reinem Zufall beruhen. Der früheste im Rahmen dieser Arbeit betrachtete Text, der eine solche Mikwe mit moderner Technik beschreibt, stammt aus dem Jahr 1806;122 um 1820, 119 Hufeland/Bertuch, „Nöthige Erinnerung an die Bäder“, 1801, S. 265. 120 Schreger, Balneotechnik, S. 53–55. 121 Vgl. beispielsweise Zwierlein, Badeanstalten (1803), oder die anonyme Veröffentlichung Die wichtigsten Bäder Europa’s. Zur Empfehlung der Bäder für Gesunde und Kranke (1820). 122 Es handelt sich hierbei um die bereits weiter oben erwähnte Mikwe von Stargard (siehe oben Kapitel 5.1.1, Abschnitt Die Frage der Finanzierung). Anders als die später im ländlichen süddeutschen Raum zur Erwärmung eingerichteten Mikwen verwendete diese allerdings nicht die auch für Flussbäder übliche Technik, wonach das Wasser in einem Kessel erwärmt und dann mittels Röhren und Hahn zugeleitet wurde. Vielmehr bediente man sich in Stargard einer Art ‚Durchlauferhitzer‘, d. h. das Wasser wurde direkt von der Mikwe (Quelle) in geheizte Röhren gepumpt und von dort wieder der Quelle zugeführt. Auch der Bericht der Judenältesten in Berlin von 1813, angeregt durch eine Anfrage der Großherzoglichen Regierung in Würzburg, nennt Röhren als eine mögliche Heizvorrichtung in wohlhabenden Gemeinden (neben Öfen); siehe „Antwortschreiben des Vice-Ober-Landrabbiners und der Assessoren“ vom 10.4.1806, in: Heinemann, Sammlung, S. 335; StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht der Judenältesten in Berlin vom 31.1.1813 (Anlage zum Schreiben der Kurmärkischen Regierung an die Großherzogliche Landesdirektion zu Würzburg vom 15.2.1813).
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dem Erscheinungsjahr des Handbuchs für die neue Bäderkultur Die wichtigsten Bäder Europa’s. Zur Empfehlung der Bäder für Gesunde und Kranke, verfügten auch viele größere bzw. bedeutendere jüdische Gemeinden über wärmbare Mikwen.123 Davon, dass man die entstehenden Badeanstalten an und auf Flüssen jüdischerseits tatsächlich auch unter dem Gesichtspunkt der Tauglichkeit als Mikwen betrachtete, zeugen darüber hinaus die Anfrage an die Rabbinerversammlung von 1845124 sowie eine Zeitungsmitteilung von 1841. Hierin berichtet ein anonymer Leser in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums über eine besondere Kooperation zwischen der jüdischen Gemeinde von Stettin und dem Betreiber des allgemeinen örtlichen Badehauses: Eine neue Einrichtung eines solchen Bades jedoch ganz den religiösen Vorschriften gemäß, befindet sich seit vergangenem Jahre in hiesigem Orte. Der Vorstand der hiesigen jüdischen Gemeinde hat nämlich mit dem Besitzer der hiesigen Badeanstalt die Herstellung eines Badehauses für die Gemeinde contrahirt, und sich zur jährlichen Abnahme einer bestimmten Anzahl Billette verpflichtet. Der Besitzer der Badeanstalt hat aber auch keine Kosten gespart um das Badehaus für die Gemeinde höchst zweckmäßig und elegant einzurichten. Dasselbe befindet sich auf dem O d e rst rome s chw i mme nd, und ist in Form eines Häuschens erbaut. Es befindet sich darin ein in den Fluß hineinreichender Kasten, welcher durch ein zu öffnendes Ventil mit dem Flusse in Verbindung steht. Der Kasten wird bei Benutzung des Bades, mit warmem Wasser gefüllt, und das Ventil während des Untertauchens der Badenden geöffnet, um so den religiösen Vorschriften zu genügen. Nach der Benutzung wird der Kasten durch Auspumpen und Durchströmen des Flußwassers gehörig gereinigt, und darf nach Bestimmung des Vorstandes das Bad nie von mehrere n Personen zu gleicher Zeit benutzt werden, sondern es muß zwischen jedem Bade gereinigt werden, worauf eine angestellte jüdische Bademeisterin zu sehen hat.125 Die Frage nach der körperlichen Konstitution der jungen Generation – zwischen Topos und Realität
Ebenso schwer bestimmbar wie der Einfluss der allgemeinen Badekultur auf die Lokalpolitik hinsichtlich der Mikwen ist ein weiterer Umstand, der aber auch deshalb nicht unerwähnt bleiben soll, weil er ebenfalls in einer der zitierten Darstellungen Dr. Weinrichs angesprochen wird. Es ist die Frage nach dem Körperempfinden bzw. dem Umgang mit dem eigenen Körper; insofern, als die Wahrnehmung von körperlichen Empfindungen auch von der Umgebung beeinflusst wird, steht dieser
123 Zu Beispielen für Mikwen vor 1820 in Württemberg siehe Kapitel 4.2.1.1. 124 Vgl. hierzu Kapitel 6.2.1. 125 L….L..y, „Stettin, 10. März (Privatmitth.)“, S. 182 (Hervorhebungen im Original).
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Komplex zugleich in enger Verbindung mit den oben thematisierten Aspekten von Gesundheitsbewusstsein bzw. ‚Ärztehörigkeit‘. Nach Dr. Weinrichs Beobachtung sind es „manche, zumal ältere, härter erzogene und gewöhnte Weiber, [die] von der kalten Tauche, als einem, ihnen gleichgültigen, leichten Geschäfte sprechen“, während vor allem jüngere Jüdinnen über die Kälte klagen. Wäre demnach die Ablehnung der kalten Mikwen auch auf einen deutlichen Wandel der körperlichen Konstitution bei der jungen Generation zurückzuführen? Oder war es stattdessen nur (oder auch) die geänderte Wahrnehmung von körperlichen Empfindungen als Folge einer Sensibilisierung der Jüngeren für Gesundheitsfragen, welche zu dem beschriebenen Generationenkonflikt um die Mikwe mit beitrug? Letztere Frage ist zu komplex, als dass eine Antwort auch nur skizziert werden könnte; nichtsdestotrotz könnte auch dieser Aspekt das Aufbegehren der Jüngeren bis zu einem gewissen Grad motiviert haben. Jedoch scheint Weinrichs Aussage eher in die erstgenannte Richtung zu deuten, so dass sich folgende Frage stellt: Waren junge Jüdinnen zu Beginn des 19. Jahrhunderts tatsächlich weniger körperlich abgehärtet als ihre Mütter und Großmütter? Auch hierauf ist eine Antwort schwierig bzw. unmöglich, allein schon deshalb, weil körperliche Empfindungen rein subjektiv, nicht messbar und somit kaum vergleichbar sind; hieraus folgt, dass verallgemeinernde Feststellungen wie die Dr. Weinrichs, selbst in größerer Zahl, nur bedingt Aussagekraft besitzen, und dies umso mehr, als das Thema der Abhärtung im Betrachtungszeitraum ideologisch vorbelastet ist. Weinrichs Darstellung impliziert, dass die älteren Jüdinnen in der Regel eine „härtere“ Erziehung erfahren hatten und deshalb besser an das kalte Wasser „gewöhnt“ waren. Inwieweit lassen sich hierfür in der medizinisch-philosophischen bzw. pädagogischen Literatur der Zeit weitere Anhaltspunkte finden? Tatsächlich propagierte die Erziehungsliteratur der Aufklärung, im Gefolge von John Locke, dem Pionier der modernen englischen Kindererziehung,126 sowie Jean-Jacques Rousseaus Emile auch in unzähligen Werken deutschsprachiger Philanthropen ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts „Naturnähe, Abhärtung und körperliche Ertüchtigung“ als erzieherische Grundprinzipien.127 Auch jüdischerseits hatte dieser ‚harte‘ Erziehungsstil, der gleichermaßen Körper und Charakter stärken sollte,
126 In seinem 1693 zunächst anonym erschienenen Werk Some Thoughts Concerning Education spricht Locke auch die unterschiedliche Erziehung von Jungen und Mädchen an: Während seine Ausführungen in erster Linie der Erziehung des männlichen Geschlechts dienen sollen, so sind deren Grundsätze doch teilweise universal, denn „where the difference of Sex requires different treatment, ’twill be no hard matter to distinguish.“ Siehe [Locke], Education, S. 5; zum Gedanken der harten Erziehung auch von Mädchen im Anschluss an Locke und Rousseau vgl. auch Frey, Der reinliche Bürger, S. 133. 127 Schmitt, Vernunft und Menschlichkeit, S. 22.
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Anhänger.128 Neben der damit einhergehenden Ablehnung einer ‚Verzärtelung‘ finden sich ab dieser Zeit, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, ebenfalls Klagen über eine wahrnehmbare ‚Verweichlichung‘ der Jugend. So bezeichnet beispielsweise bereits Johann August Unzer (1727–1799) in seinem populären Medicinischen Handbuch seine Zeitgenossen 1780 als „größtentheils verzärtelte Weichlinge“, ihre Kinder entsprechend als „Früchte von verzärtelten Stämmen“.129 Allerdings ist zu beachten, dass sich Unzers Kritik in erster Linie auf die besser gestellten Schichten bezieht, während ihm die Landbevölkerung aufgrund ihrer einfachen, urtümlichen Lebensweise als robust und gesund erscheint. Unter der Maske eines Traums formuliert Unzer in drastischer Anschaulichkeit den Unterschied zwischen den blassen, kränklichen Kindern städtischer Eliten und den gesunden, kräftigen Bauernkindern, die ohne eine besondere Pflege heranwachsen, von klein auf gewohnt, alles zu ertragen.130 In Unzers Gegenentwurf des Bauernkindes verschmelzen dabei zwei Konzepte, das Erziehungsideal der Aufklärung und die Abgrenzung der bürgerlichen Klasse gegenüber dem Adel: Das aufklärerische Erziehungsmodell auf der Grundlage von Naturnähe und Abhärtung wählt sich den ‚einheimischen Wilden‘ als neues Leitbild, analog Rousseaus idealisierender Vorstellung vom edlen Wilden, ohne dass jedoch Rousseaus pessimistische Kulturkritik in vollem Umfang zum Tragen käme.131 Das Bauernkind dient nicht dazu, die bestehende Gesellschaftsordnung grundlegend in Frage zu stellen, sondern vielmehr als nur punktuelles Ideal und Korrektiv der aufstrebenden bürgerlichen Klasse, die ihren Platz in der Gesellschaft gerade behaupten möchte, und in dessen Selbstentwurf Gesundheit (neben Reinlichkeit) einen besonderen Wert darstellt. Wichtig für die Beurteilung von Unzers Urteil über seine Zeitgenossen ist zudem der Rahmen, in dem er dieses ausspricht. Unzer schreibt allgemein als Arzt, dem die Sorge um die junge Generation am Herzen liegt, und der sich im Besitz der richtigen Mittel wähnt, um ihre Gesundheit nachhaltig zu verbessern. Konkret sieht er sich veranlasst, sich gegen die Kritik Ottos Freiherr von Münchhausen
128 Vgl. hierzu die Quellen in der Sammlung von Lohmann/Lohmann (Hgg.), Lerne Vernunft, insbesondere Simon Baras (1788). Ein jüdischer Arzt, der sich ausdrücklich auf das englische Vorbild bezieht und so auch tägliche kalte Bäder für Kinder fordert, ist der unter anderem in Mannheim tätige Elcan Isaac Wolf (vgl. ders., Von den Krankheiten der Juden, 1777, S. 24f; zu Wolf und seinem Werk siehe Kapitel 6.1.1.1). 129 Unzer, Medicinisches Handbuch, S. 45, 74. Mit der von ihm begründeten Zeitschrift Der Arzt wandte sich Unzer zwischen 1859 und 1864 speziell an das aufgeklärte bürgerliche Publikum; vgl. hierzu sowie allgemein seinem Leben den Artikel „Unzer, Johann August“, in: von Engelhardt (Hg.), Biographische Enzyklopädie, Bd. 2, S. 641f. 130 Unzer, Medicinisches Handbuch, S. 47f. 131 Vgl. Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen.
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(1716–1774)132 zu verteidigen, der für eine noch konsequentere Abhärtungspraxis eintritt; so befürwortet der Verfasser des populären Hausvaters, eines mit volkstümlichen Lebensweisheiten versehenen Lehrwerks für die Agrarwirtschaft, unter anderem auch das Eintauchen der neugeborenen Säuglinge in kaltes Wasser. Unzer rechtfertigt seine Bezeichnung dieser Gewohnheit als „unsinnig“ eben damit, dass nur ganz gesunde Kinder diese Prozedur unbeschadet überstehen. Solche Kinder, ebenso wie „eine Vernunft von Seiten der Erzieher, die ein genaues Mittel zu halten weiß“, seien aber äußerst selten.133 Mit dieser Ermahnung zur nötigen Rücksicht auf die individuelle Disposition der Kinder steht Unzer dabei nicht allein; die Frage des Badens, insbesondere von Säuglingen, bildete die Demarkationslinie, an der sich auch innerhalb des Erziehungsdiskurses Kaltwasserbefürworter und Gegner schwere Gefechte lieferten, wobei von drastischen Missbräuchen selbst mit tödlichem Ausgang berichtet wird.134 So sieht sich auch Marcard in seiner Abhandlung Über die Natur und den Gebrauch der Bäder von 1793 genötigt, der aus seiner Sicht übertriebenen Anwendung der kalten Bäder Schranken zu setzen: Weil das kalte Bad den Körper stärkt, so glaubte man nichts bessers thun zu können, als sich dessen zu allen Zeiten fleißig zu bedienen, und insonderheit von Jugend auf die Kinder daran zu gewöhnen; denn was ist wünschenswerther als stark zu seyn, und was kann man bessers für seine Kinder thun, als ihnen von Jugend auf einen starken Körper zu verschaffen. Aber man bedachte schwerlich genug, daß das kalte Bad auch noch andere erhebliche Würkungen auf den Körper habe, außer der stärkenden. Kalte Bäder sind ein Arzneymittel, das große Kräfte besitzt, und keine würksame Arzney kann allenthalben passen. Ich spreche zuerst vom kalten Baden der Kinder, weil mir da der größte und nachtheiligste Mißbrauch vorzugehen scheint. […] Für vortreflich [sic] halte ich die Lehre, daß man Kinder nicht weichlich erziehen […] müsse. Nach den ersten Tagen sollte man nie ein Kind anders als mit kaltem, jedoch eben noch nicht eiskaltem Wasser waschen, […] wenn nicht Krankheit es verhindert. […] Gegen den unbedingten Gebrauch der kalten Bäder für Kinder habe ich mich schon vor vielen Jahren aufgelehnt, und fand noch nie einen Grund meine Meynung hierüber zu ändern.135
132 Unzer, Medicinisches Handbuch, S. 73. Zur Biographie Münchhausens vgl. Leisewitz, „Münchhausen, Otto Freiherr von“, S. 7f. 133 Unzer, Medicinisches Handbuch, S. 73f. 134 Für einen Bericht über den Tod eines Kindes siehe das bei Winterfeld veröffentlichte „Fragment eines Briefes über die physische Erziehung, von einem Ungenannten“, in: ders., Ueber die physische Erziehung, S. 179–189, hier S. 183; vgl. auch Brinckmann, Erziehung, S. 120f.; Unzer, Medicinisches Handbuch, S. 77 (Anm. **). 135 Marcard, Gebrauch der Bäder, S. 422f.
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Über diese Praxis hinaus prangerte Marcard bereits 1785 allgemein die Nachteile der „sehr kühlen Erziehung der Jugend“136 an, die aufgrund ihrer undifferenzierten Härte den Zweck gerade verfehle: Aber hierin ohne Unterschied zu verfahren, jedes junge Kind über den Kopf ins kalte Wasser zu werfen, oder es den ganzen Winter in einem kalten kaum geheizten Zimmer fast ohne hinlängliche Kleidung frieren zu lassen, ist auch unrecht, kann üble Säfte und andre Schwäche nach sich ziehn […].137
Eine ähnliche Einschätzung, fast zeitgleich, findet sich in Lichtenbergs Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte von 1786, wo es heißt: Man hat in unsern Zeiten alle die Uebel empfunden, welche mit einer weichlichen und verzärtelten Erziehung verbunden sind, und man verfällt deshalb oft auf die entgegengesetzte Ausschweifung, und badet die Kinder zu allen Jahrszeiten in kaltem Wasser, ohne auf die ihnen eigenthümliche Beschaffenheit des Körpers zu sehen.138
Dass mit „jedes junge Kind“ durchaus auch Mädchen gemeint sein konnten, zeigt unter anderem das Beispiel Moritz Adolph von Winterfelds, der 1798 über die systematische Abhärtung seiner Tochter durch kaltes Wasser von Geburt an in Form eines Tagebuchs berichtet.139 Angesichts dieser Debatte, insbesondere der wiederholt und von verschiedenen Autoritäten vorgebrachten Kritik an einer übertriebenen Abhärtungspraxis muss man davon ausgehen, dass ein zumindest ernst zu nehmender Teil der Kinder in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts derartigen Abhärtungsmethoden unterworfen war. Nichtsdestotrotz war und blieb der Erziehungsstil der besser gestellten Schichten, sowohl des Adels als auch der wohlhabenderen Stadtbewohner, bis ins 19. Jahrhundert geprägt von „Verzärtelung und Weichlichkeit,“140 wie sie J.A. Beckh 1808 in seinem Ratgeber Ueber physische Erziehung der Kinder sehr plastisch beschreibt:
136 Ebd., S. 424. 137 Marcard, Beschreibung von Pyrmont, S. 17. 138 O.V., „Ueber die unmittelbare Wirkung der Luft auf die Oberfläche des menschlichen Körpers“, S. 82. 139 Winterfeld, Ueber die physische Erziehung; vgl. auch Brinckmann, Erziehung, S. 431. 140 Beckh, Erziehung, S. 15. Auch Frank spricht von „einer zur Mode gewordenen weichlichen Erziehung“, bezogen auf die städtische Jugend, die er dem gesunden Bauernkind gegenüberstellt (System einer vollständigen medicinischen Polizey, Bd. 2, S. 608); vgl. ebenso Hufelands Abschnitt zur Kindererziehung, vor allem im jugendlichen Alter, in seiner Makrobiotik (Teil 2, S. 102–129).
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Kein Wunder daher, wenn man solche verzärtelte Puppen oft bis in das Jünglingsalter wie kleine Kinder behandeln sieht; wenn man jede ihrer Bewegungen und geringen Anstrengungen zu verhindern sucht, um ihnen ja nicht zu schaden, allen ihren Thorheiten nachsieht, um sie nicht zu betrüben; ihnen jedes Begehren ablauscht, jeden Wunsch, um ihn sogleich zu erfüllen. Wenn man ihnen übrigens noch bei jeder Gelegenheit fein oft vorsagt, daß sie krank seyen; daß sie nicht an das Fenster gehen sollen, um sich nicht zu erkälten, und ja nicht schnell über das Zimmer, um sich nicht zu erhitzen, und was dergleichen Dinge mehr sind […].141
Auch Beckh, der sich in seiner Abhandlung maßgeblich an den pädagogischen Autoritäten seiner Zeit orientiert,142 beurteilt die physische Erziehung der Kinder der Landbevölkerung (wenn auch nicht kritiklos) als besser, da einem gesunden Heranwachsen zuträglicher. Ganz im Einklang mit der bürgerlichen Distanzierung von den Werten und Sitten der Aristokratie unterscheidet er zwischen dem verweichlichenden, schwächenden Luxus der Stadtbewohner, die deren Lebensstil nacheifern, und dem größtenteils noch ursprünglichen Leben der Landbewohner. Diese synchrone Differenzierung scheint aber zugleich, spätestens aus der Sichtweise des angehenden 19. Jahrhunderts und möglicherweise begünstigt durch die künstliche Schwelle der Jahrhundertwende, überlagert zu werden von einer diachronen Wertung, wonach man ‚früher‘ insgesamt gesünder lebte.143 Auch bei Beckh ist diese teilweise Verschiebung des Referenzrahmens zu beobachten, insofern als er in seiner Vorrede generell die „Abweichung von den strengeren Sitten und der einfacheren Lebensart unsrer Voreltern“ beklagt.144 Ein Hinweis darauf, wieweit die unterschiedliche Lebensweise und resultierende körperliche Robustheit der Generationen um 1800 bereits Topos-Charakter hatte, zeigt auch die Selbstverständlichkeit, mit der dies in einem literarischen Werk anzitiert werden konnte. In
141 Beckh, Erziehung, S. 13. 142 Vgl. auch die Rezension der Allgemeinen Literatur-Zeitung, die seinem Werk nichts Neues zugesteht, sondern es aus diesem Grund in „die Zahl der entbehrlichen Bücher“ einreiht. Die Neue Leipziger Literaturzeitung äußert sich im Prinzip ähnlich, hebt allerdings auch hervor: „Das Bekannte ist indessen deutlich und richtig darin vorgetragen, weshalb es Eltern, die keine andre Hülfsmittel haben, immer nützlich werden kann.“ Siehe o.V., „Nürnberg, b. Wittwer: Ueber (die) physische Erziehung der Kinder“ (Rez.), in: Allgemeine Literatur-Zeitung, Sp. 572; o.V., „Ueber die physische Erziehung der Kinder“ (Rez.), in: Neue Leipziger Literaturzeitung, Sp. 1224. 143 Ein frühes Beispiel solcher Kritik findet sich im Hannoverischen Magazin vom 2. August 1776. Hier heißt es, bezogen auf die Zeit Herzogs Ernst von Sachsen-Gotha (1601–1675): „Die Pflege der Kinder, und ihre erste Erziehung, war damals natürlicher, einfältiger, und härter; viele Fehler, die Weichlichkeit und Ueppigkeit nachmals eingeführt haben, und die wieder auszurotten das Hauptwerk der neuen physischen Erziehung ist, waren damals unbekannt.“ (o.V., „Fortsetzung des Aufsatzes von den Erziehungs- und Schulanstalten Herzogs Ernsts des Frommen“, Sp. 981f). 144 Beckh, Erziehung, S. vi.
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seinem Roman Herrmann Lange verwendet der seinerzeit als Bestseller-Autor und „Lieblingsdichter der Nation“ gefeierte August Lafontaine (1758–1831)145 dieses Motiv – wenn auch nicht, ohne die Gültigkeit in gewisser Weise in Frage zu stellen: Lieber Gott, seufzte Elisabeth; vor Zeiten hatten wir Mädchen zu nähen, zu spinnen, zu kochen. Aber jetzt? Es ist ja, als ob sie sonst nichts zu thun hätten, als in Gesellschaft zu gehen. Ja, vor Zeiten, da war es ganz anders, Herr Lange! Aber was fehlt denn Emilien? fiel Lebrecht ein. Herrmann antwortete schnell: „vielleicht eine kleine Erkältung. Und da steckt es eben! Man wurde ehemals härter erzogen; man wurde nicht sogleich krank. Ich wollte darauf wetten, Mamsell, daß Sie nie krank gewesen sind.“
Die als Mamsell angesprochene Elisabeth, eine als ältere Dame charakterisierte Verwandte von Emilies Vater, entlarvt die vermeintlich allgemeine Abhärtung der so erzogenen Generation jedoch als Klischee: Um Vergebung, Herr Lange; acht schwere Krankheiten habe ich gehabt. – Herrmann setzte sich zurecht, um zuzuhören. Elisabeth erzählte die Geschichten von allen acht, und am Ende von jeder sagte sie zu Emilien: der barmherzige Himmel bewahre dich vor dieser Krankheit!146
Vor dem hier skizzierten gesellschaftlichen Hintergrund, in dem die Kritik an Luxus und Verweichlichung gewissermaßen der Existenzmodus des aufgeklärten Bürgertums war, erscheint auch die Richtigkeit von Dr. Weinrichs Einschätzung zumindest fraglich. Wenn denn nun die ältere Generation tatsächlich noch eine wesentlich härtere Erziehung erfuhr (und diese Behauptung nicht zu großen Teilen dem von bürgerlichen Schichten getragenen aufklärerischen Erziehungsdiskurs entspringt, bzw. durch diesen künstlich bestärkt wird), dann dürfte dies dennoch kaum auf die Situation eines Großteils der ländlichen – jüdischen wie christlichen – Bevölkerung zutreffen, die mit der verfeinerten Lebensweise besser gestellter bürgerlicher Familien bis dahin kaum in Berührung kam. Johann Siegemund Hahn spricht der jüdischen Bevölkerung in seinem Unterricht von Krafft und Würckung des frischen Wassers von 1749 die bei Christen übliche „zärtliche Auferziehung“ gar gänzlich ab, was in diesem Fall allerdings von seiner Vorliebe für Kaltwasseranwendungen mitbestimmt sein dürfte. Weil, wie er schreibt, „besagte Nation so sehr
145 Zu Leben und literarischer Bedeutung Lafontaines siehe Sangmeister, „Lieblingsdichter der Nation“, unpag. 146 Lafontaine, Herrmann Lange, S. 164f. Für die Charakterisierung Elisabeths als „alte Dame“ siehe ebd., S. 159–163.
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dem kalten Baden und Waschen ergeben ist“, muss sie, seiner Theorie gemäß, auch gesünder sein, und diese Annahme schließt eine in der christlichen Bevölkerung praktizierte Verzärtelung ebenfalls aus.147 Möglicherweise hatte er auch einfach die materielle Situation der überwiegend auf dem Land angesiedelten Juden vor Augen. Tatsächlich wurden „Warnungen vor Verzärtelung“ sowie die Grundidee der Abhärtung auch von jüdischen Anhängern der Aufklärung ausgesprochen,148 so dass man in der jüdischen Erziehungsrealität ebenfalls einen gewissen Korrekturbedarf voraussetzen muss. Wie groß der Einfluss solcher Abhärtungstheorien war, lässt sich nach Ruth Berger nur schwer bestimmen,149 doch war ihr Wirkungsradius, aufgrund der fehlenden Relevanz für die in Dürftigkeit lebende Mehrzahl der Familien, vermutlich eher beschränkt. Auch wenn somit Weinrichs Einschätzung einer ‚verweichlichten‘ jungen Generation auf dem Land eher der Beliebtheit des Topos geschuldet sein dürfte, so ist dennoch nicht auszuschließen, dass die Töchter besser gestellter, städtischer Juden in gleichem Maß ‚verzärtelt‘ wurden wie christliche Bürgersöhne und -töchter. Ein kleiner Hinweis darauf, dass diese Art der Erziehung als Tendenz sehr wahrscheinlich auch in Teilen der jüdischen Bevölkerung vorhanden war, bildet Momberts Aussage in seinem einflussreichen Werk von 1828, wonach die „jungen, zärtlich und verweichlicht erzogenen“ Frauen besonders unter der Kälte der Mikwe zu leiden hätten.150 Dieser Umstand könnte für die relativ frühen wärmbaren Mikwen in größeren Gemeinden durchaus eine Rolle gespielt haben. Möglicherweise begünstigte noch ein weiterer Faktor in gewissem Umfang den Prozess, nämlich das Klima, das um 1810 merklich rauer wurde. Während die Jahre von 1781 bis 1810 eine relative Warmphase bildeten, herrschte von 1812 bis 1830 ein „quasi-eiszeitliches Klima“; vor allem die Sommer waren, unter anderem als Folge von äquatornahen Vulkaneruptionen und daraus resultierenden globalen Klimaveränderungen, bis 1820 deutlich zu kalt, und das auf den Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien folgende Jahr 1816 ging sogar als „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichte ein.151 Wie weiter oben für den württembergischen Jagstkreis gezeigt werden konnte, fallen viele der frühen jüdischen Initiativen zur Einrichtung wärmbarer Mikwen genau in die Zeit ab 1817, korrespondieren also mit dem plötzlichen heftigen Kälteeinbruch.
147 Hahn, Krafft und Würckung des frischen Wassers, S. 184 (Anm.). 148 Das Zitat entstammt einer Rede anlässlich der Einweihung der Königlichen Wilhelmsschule für jüdische Jungen in Breslau, siehe „Joel Löwe: In einem von der Vernunft zu bestimmenden Ebenmaße, 1791“, in: Lohmann/Lohmann (Hgg.), Lerne Vernunft, S. 428–431, hier S. 430; vgl. auch oben Anm. 128. 149 Berger, Moralliteratur, S. 284. 150 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 50. 151 Die Angaben beziehen sich auf Reith, Umweltgeschichte, S. 11.
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Wenngleich keiner der genannten Faktoren für sich genommen das Phänomen ausreichend erklären kann, warum in den jüdischen Gemeinden gerade zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Forderung nach wärmbaren Mikwen nicht nur hörbar, sondern auch vielerorts umgesetzt wurde, so bilden sie dennoch zusammen einen plausiblen Hintergrund für eine derartige Entwicklung. Klagen junger Frauen über das Untertauchen in der kalten Mikwe hatte es aller Wahrscheinlichkeit schon immer gegeben. Aber erst vor dem Hintergrund der medizinischen Aufklärung und der hiermit einhergehenden Professionalisierung der Ärzte, in einem Klima des politischen und gesellschaftlich-kulturellen Umbruchs, in der sich die jüdische Gemeinschaft mehr und mehr als Teil einer größeren Gesellschaft wahrnahm, konnten Forderungen nach Änderung sich ausreichend Raum verschaffen und, begünstigt durch bestimmte technische Innovationen, konkrete Formen annehmen.
5.2
‚Ecclesia und Synagoga‘: Christlich-jüdisches Zusammenleben auf dem Land
Insofern, als viele Mikwen zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch in (meist jüdischen) Privathäusern angelegt waren, und Neuanlagen häufig in Synagogen oder jüdischen Schulen integriert wurden, verlief der Prozess der Modernisierung der Mikwen in den Dörfern und Kleinstädten Württembergs größtenteils ohne besondere Anteilnahme der christlichen Umgebung. Lediglich da, wo die Frage eines geeigneten Bauplatzes im Raum stand, konnte dies zu Konflikten führen, wie im Folgenden am Beispiel des Jagstkreises dargestellt werden soll. Dabei waren Mikwen geeignet, in zweifacher Hinsicht ‚anzuecken‘: Nicht nur, dass sie – anders als eine Synagoge oder ein jüdischer Friedhof – kein unmittelbares Pendant in der christlichen Alltagskultur besaßen, somit als Ort des gemeinschaftlichen Gottesdienstes bzw. für den respektvollen Umgang mit Verstorbenen auch aus christlicher Perspektive unabdingbar waren; vielmehr konnten sie, wie sich zeigen wird, bestimmte dem Zeitgeist entsprechende Assoziationen wecken, und auf diese Weise latente Abwehrhaltungen bei der christlichen Einwohnerschaft mobilisiert werden. Vom „bösen Willen eines Christen“? – private Opposition in Aufhausen und Nagelsberg
So stellte sich in Aufhausen (Oberamt Neresheim) die Frage des Bauplatzes bereits 1821, wo man, trotz des hohen Anteils von armen Familien, einen Mikwen-Neubau
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ins Auge fasste.152 Die Schwierigkeit scheint zu einem wesentlichen Teil darin zu bestanden zu haben, dass der Raum innerhalb des Ortes stark begrenzt war – nicht nur Christen, sondern auch Juden weigerten sich, einen Teil ihres Gartens hierfür abzutreten. Auch die Wohnhäuser selbst kamen als Räumlichkeit offensichtlich nicht in Betracht, wobei hier auf christlicher Seite ein weiterer, nicht näher beschriebener Vorbehalt, hinzukam: „Die Judenhäuser sind schon so mit Menschen besezt, daß sie keinen entbehrlichen Plaz hiezu in ihren Häusern haben, und die Christen wollen eine solche Baad Anstalt in ihren Wohnungen nicht einrichten laßen.“153 Eine Lösung für das Problem fand sich in diesem Fall nur wenige Zeit später im Ankauf eines Grundstückes für den Neubau einer Synagoge, die zugleich Vorsängerwohnung und Tauchbad enthalten sollte, und die spätestens 1824 fertiggestellt wurde.154 1839 errichtete man dann gegenüber der Synagoge eine neue Mikwe.155 Im Oberamt Künzelsau unternahmen die Behörden ab 1830 einen erneuten Anlauf zur Einrichtung wärmbarer Mikwen in bisher säumigen Gemeinden. In diesem Zusammenhang wurde auch Oberamtsarzt Dr. Fichtbauer zu einem Gutachten über die Mikwe in Nagelsberg aufgefordert, woraufhin er nicht nur die „Schädlichkeit des Badens in der bis jetzt bestehenden Tünche“ bestätigte, sondern zugleich gegenüber der Regierungsbehörde sowie vor Ort einen Neubau forcierte.156 Mit sechs wohlhabenden Familien könne dies durchaus geleistet werden, so seine Argumentation; angesichts des ansehnlichen Teils „der Juden, welche die Kosten fürchten“ sei es allerdings nötig, hierfür von höchster Stelle „den strengsten Befehl zu ertheilen“.157 Obwohl Fichtbauer diesen Umstand in seiner Darstellung
152 Zu Aufhausen siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 9.5.1821; Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 23.10.1821; Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 30.10.1821. 153 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 23.10.1821. 154 In einem Oberamtsbericht vom August 1822 heißt es, dass der Neubau in Kürze fertiggestellt sein wird; nach Hahn/Krüger war dies vermutlich erst 1824 der Fall. Siehe (StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 1.8.1822); Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 51f. 155 Das Gebäude ist bis heute erhalten, vgl. ebd.; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Lohrmann vom 11.1.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 5.2.1839). 156 Ein unmittelbarer Zusammenhang mit Momberts Beitrag in der Zeitschrift für die Staatsarzneikunde ist hier ausgeschlossen, da der Auftrag des Kreis-Medizinalrats an das Oberamt Künzelsau zur Inspektion der Mikwe bereits im März erging, Momberts Artikel aber erst im letzten Vierteljahresheft von 1830 erschien; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4404: Anweisung des Kreis-Medizinalrats an das K. Oberamt Künzelsau vom 3.3.1830; Bericht von Dr. Fichtbauer über die Mikwe in Nagelsberg vom 26.3.1830; Bericht von Dr. Fichtbauer vom 29.3.1830 (Nachtrag zum Bericht über die Mikwe in Nagelsberg vom 26.3.1830). 157 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4404: Bericht von Dr. Fichtbauer über die Mikwe in Nagelsberg vom 26.3.1830.
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als das Haupthindernis einschätzte, gestaltete sich die Umsetzung noch aus einem anderen Grund schwierig. Wegen der besonderen Lage von Nagelsberg auf Felsgrund und an einem Berghang kam offensichtlich nur ein ganz bestimmter Bauplatz in Frage. Wie aus seiner Aufzeichnung hervorgeht, hatte man diesen Platz auch jüdischerseits schon im Blick: Zu einem ganz neuen Bade soll sich nach Aussage mehrerer Judenfrauen, welche diese neue Einrichtung sehnlichst wünschen, ein geeigneter Platz in Nagelsberg befinden. Denselben habe ich aber nicht sehen dürfen, weil er einem christlichen Einwohner gehört, und die Juden fürchten, daß wenn ich ihn für tauglich erklärt hätte, sie ihn viel theuerer bezahlen müßten.158
Die Sorge der Juden war durchaus berechtigt, da laut dem drei Monate später erstellten oberamtlichen Bericht tatsächlich „der Besitzer eine Summe fordere, welche den wahren Werth um das 10. fache übersteige.“ Das Oberamt Künzelsau bezeugt den Juden hierin allen guten Willen, um die als „menschenfreundlich und wohlthätig“ erkannte Anordnung zu befolgen: Man habe 50 fl. für den Bauplatz – nichts weiter als der „wüste und unbrauchbare Theil eines Gartens“ – geboten, „was wenigstens das 5.fache seines positiven Werthes ist“, der Besitzer aber habe erst 125 fl., dann 88 fl. gefordert, und zuletzt das Grundstück als unverkäuflich erklärt.159 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Gemeinderat von Nagelsberg sich offensichtlich um eine Vermittlung bemüht, ohne dass jedoch das genaue Ausmaß seiner Unterstützung für die jüdische Gemeinde deutlich würde. Auch in diesem Fall erfährt man aus den Quellen nur unzureichend über die Hintergründe des Widerstands, hier von Seiten eines einzelnen christlichen Einwohners. Alles scheint darauf hinzudeuten, dass dieser, in den Worten des Oberamtmanns, auf den „bösen Willen eines Christen“160 zurückzuführen ist, der die Notlage der Juden zu seinen Gunsten auszunutzen suchte. Auf welche Weise man schließlich zu einer Einigung gelangte, wird nicht berichtet. Kurz nachdem die Kreisregierung Druck machte, indem man die Benutzung der vorhandenen Mikwe verbot, gelang es der jüdischen Gemeinde, den besagten Bauplatz doch noch zu erwerben. Laut einem Bericht Dr. Fichtbauers an die Kreisregierung vom Februar 1839 wurde der geplante Neubau dann 1831 fertiggestellt.161
158 159 160 161
Ebd. StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4404: Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 29.6.1830. Ebd. StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Fichtbauer vom 8.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 23.2.1839).
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Städtebauliche Argumente und die „Hemmung des nöthigen Luftzugs“ – das Beispiel Crailsheim
Andernorts musste die jüdische Gemeinde mit ihrem Bauvorhaben auch gegen den Widerstand des Gemeinderats ankämpfen, so in Crailsheim. Hier war die bestehende Synagoge 1863 grundlegend restauriert und erweitert worden.162 Infolge dieser Umgestaltung empfand man offensichtlich auch die seit 1834 dort befindliche Mikwe als „unzweckmäßig“163 , stattdessen sollte in unmittelbarer Nähe ein eigenständiger Bau errichtet werden. Hiergegen regte sich nun – nachdem die Bauerlaubnis bereits erteilt war – Widerstand seitens des Gemeinderats sowie, laut oberamtlichem Bericht, einer „Menge anderer Nachbarn“.164 Gemäß der Argumentation des Gemeinderats stünden dem Bauvorhaben verschiedene gewichtige ästhetische bzw. städtebauliche Gründe entgegen, zudem die nötige Nutzung eines nahegelegenen Brunnens; die Anwohner brachten im Wesentlichen Aspekte des Brandschutzes vor. Sämtliche Einwände hielten der Überprüfung des Oberamts jedoch nicht stand, und sowohl die Kreisregierung als auch das ebenfalls hinzugezogene Innenministerium schlossen sich dessen Urteil vollkommen an. Mit dem entsprechenden Bescheid des Innenministeriums vom Beginn des neuen Jahres war die Beschwerde der Gegner dann zwar von höchster Stelle abgewiesen, jedoch nahm der Gemeinderat im Mai 1864 einen neuen Anlauf, um das Vorhaben zu verhindern, indem er nun Einspruch gegen zwei geänderte Details erhob: die Platzierung des Warmwasserkessels und der Eingangstür. Die Kreisregierung wies auch diesen neuerlichen Einspruch ab; ob das Bauvorhaben anschließend verwirklicht wurde, ist aufgrund der Aktenlage allerdings unsicher. Anders als an den zuvor genannten Orten lassen sich die Beweggründe für den hartnäckigen Widerstand gegen das Mikwenhäuschen in Crailsheim genauer bestimmen. Hauptantriebsfeder des organisierten Protests war zweifellos der Gemeinderat, der vermutlich bei den unmittelbaren Nachbarn um Unterstützung warb. Letztere hatten im Vorfeld „kaum etwas einzuwenden“, und auch die später von ihnen vorgebrachten Argumente erscheinen wenig stichhaltig, sodass die Einschätzung des Oberamts wohl zutrifft, wonach „der größere Theil [der Anwohner] offenbar bei demselben [Bauvorhaben] gar nicht interessirt ist.“165 Wie ernst es dem Gemeinderat um die Nutzung des Brunnenwassers tatsächlich war, lässt sich kaum entscheiden; wie aus dem Bericht des Oberamts an die Kreisregierung hervorgeht, war seine Hauptsorge indes eine andere, nämlich die befürchtete Veränderung des
162 Zur Geschichte der Synagoge vgl. Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 81–83. 163 StA Ludwigsburg, E 212 Bü 86: Bericht des K. Oberamts Crailsheim an die Oberkirchenbehörde vom 21.10.1863. 164 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 842: Bericht des K. Oberamts Crailsheim vom 26.11.1863. Die folgende Darstellung gründet sich auf diese und andere Akten im Bestand StA Ludwigsburg, E 175 Bü 842. 165 Ebd.
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Stadtbilds durch den Mikwenneubau. Eine solche Reaktion erscheint aber dem Oberamt als völlig unangemessen: Anbelangend den ersten Punkt der Beschwerde des Gemeinderaths [...], so muß hiedurch wohl Jeder, der die örtlichen Verhältnisse nicht kennt, auf den Gedanken gebracht werden, als ob es sich um einen lebhafteren Stadt-Theil mit ordentlicher Straße handle, wo SchönheitsRücksichten zu wahren seyen, und daß der Gemeinderath lebhaftes Interesse hege, solche auch hier wie überhaupt bei Bauwesen in der Stadt zur Geltung zu bringen. Wer diese Meinung hegte, würde sich bitter getäuscht finden, wenn er die Sache mit eigenen Augen ansehen könnte. Bezeichnend ist ja schon der Name dieser Gasse und Gegend, wo die Synagoge steht, indem sie die s.g. „Hölle“ heißt; während sodann von der Hauptstraße aus zwischen den Haus-Nummern 301. und 314. eine so enge Gasse führt, daß man mit einem Fuhrwerk wohl nicht durchkommen kann, ist gerade auf der Westseite der Synagoge ein ordentlicher freier Platz, und neben an auf der nördlichen Seite der Bauplatz, so daß gerade hier von einer Hemmung des nöthigen Luftzugs nicht die Rede seyn kann. Ebensowenig ist hier an Herstellung einer ordentlichen Baulinie zu denken, wie denn auch die auf der östlichen Seite anstoßende Werkstätte des G. Otterbach viel weiter vorsteht, als der Bauplatz, und einen weit häßlicheren Anblick gewährt, als das beabsichtigte kleine im Vergleich zierlich werdende Bauwesen. [...] Es ist geradezu unbegreiflich, wie der Gemeinderath behaupten mag, daß in Folge der Eisenbahn sich in diesem abgelegenen Winkel ein größerer Verkehr entwickeln werde; er kann fast nichts anders haben sagen wollen, als daß hie und da eine ortsunkundige Person sich hieher verirren könne, statt die eigentlichen & richtigen Weg zur Eisenbahn zu finden.166
Der Gemeinderat war offenbar bemüht, dem eigenen Standpunkt mit allen zur Verfügung stehenden Argumenten Nachdruck zu verleihen. Tatsächlich war von einem möglichen Anschluss an die Eisenbahnlinie, die von Heilbronn zukünftig bis nach Nürnberg führen sollte, ein wirtschaftlicher Aufschwung zu erwarten, für den man in Crailsheim (wie auch anderswo) frühzeitig Kräfte mobilisierte. Bereits 1857 hatte sich die Stadt mit einer Bittschrift an den württembergischen König gewandt, um den Streckenverlauf über Crailsheim gegenüber anderen diskutierten Varianten zu verteidigen.167 Crailsheim zählt zu den Gewinnern dieses harten Konkurrenzkampfes: Am 17. November 1858 wurde in dem sogenannten Zweiten Eisenbahngesetz endgültig zugunsten der ‚Kocherbahn‘ von Heilbronn über Hall nach Crailsheim entschieden, 1867 war der Streckenabschnitt von Hall nach Crailsheim schließlich
166 Ebd. 167 Schrenk, Eisenbahnlinie Heilbronn – Schwäbisch Hall, S. 48, 113.
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fertiggestellt.168 Allerdings erklären selbst die berechtigten Bemühungen um die wirtschaftliche Zukunft Crailsheims das Vorgehen des Gemeinderats gegen die geplante Mikwe nur unzureichend. Auch hier war der gewählte Bauplatz, nach Darstellung des Oberamts, der einzig mögliche und nicht zuletzt deshalb geeignet, „weil derselbe in einem abgelegenen Stadt Theile sich befindet, wo kein anderer Verkehr stattfindet, als der der Nachbarn und der durch den Besuch der Synagoge veranlaßte.“169 Dieses städtische Randgebiet wurde offenbar vom Gemeinderat zu einem schon damals bedeutenden und zukünftig boomenden Bezirk stilisiert, dessen städtebauliche Entwicklung im Interesse der Gemeinde mit besonderer Sorgfalt gesteuert werden müsse – eine Einschätzung, die weder das Oberamt noch die übergeordneten Stellen so nachvollziehen konnten. Angesichts der enormen Diskrepanz in der Beurteilung der fraglichen Baugegend ist es daher naheliegend, hinter der rigorosen Ablehnung des Mikwenhäuschens auch antijüdische Motive zu vermuten – eine Möglichkeit, die der Oberamtsbericht durch seine Formulierung zumindest in Betracht zieht: „Man sollte daher meinen, selbst prinzipielle Judenfeinde könnten keinen Grund ausfindig machen, diesem harmlosen Bauwesen, das die israelitische Gemeinde mit ziemlichen Opfern herstellen muß […], irgend welche Schwierigkeiten bereiten zu können.“170 Auf Grundlage der hier betrachteten Dokumente kann diese Frage zwar nicht entschieden werden, aber eines wird auf jeden Fall sehr deutlich: In der Zukunftsvision des Gemeinderats von einer wirtschaftlich florierenden, modernen Stadt hatte selbst ein eher unscheinbares, „zierliches“ Gebäude keinen Platz, sondern wurde als störend empfunden, wenn es sich dabei um eine Mikwe handelte – d. h. um einen Ort für ein jüdisches Ritual, das aus christlicher Sicht nicht immer unvoreingenommen betrachtet wurde. Wie sehr im Falle eines offen sichtbaren Mikwenhäuschens alte antijüdische Klischees und moderne Ängste eine Verbindung eingehen konnten, soll ausführlich anhand des abschließenden Beispiels der Gemeinde Oberdorf analysiert werden. Aber selbst in der Argumentation des Crailsheimer Gemeinderats findet sich eine kleine Spur dieser modernen Angst, wenn man unter anderem die „Hemmung des nöthigen Luftzugs“ als Grund für die Ablehnung der Mikwe anführt. Allein unter dem Gesichtspunkt der Mobilisierung von Ängsten betrachtet ist es letztlich auch unerheblich, ob man tatsächlich eine Verschlechterung der Luftqualität aufgrund des Bauwerks befürchtete, oder, was aufgrund der oben zitierten Gegendarstellung wahrscheinlicher ist, sich lediglich eines erfolgversprechenden Arguments bediente. Entscheidend ist vielmehr die hierdurch geschaffene Assoziation: Die geplante Mikwe bedeutete eine Luftverschlechterung und damit Gefahr.
168 Ebd., S. 37, 120, 136. 169 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 842: Bericht des K. Oberamts Crailsheim vom 26.11.1863. 170 Ebd.
Mikwen und Macht: Reibungsflächen im Modernisierungsprozess
So wie man in der Aufklärungspädagogik immer wieder die Wichtigkeit von frischer Luft für die gesunde körperliche Entwicklung der Kinder betonte, so sehr fürchtete man andererseits die negativen Folgen von schlechter oder verdorbener Luft, so dass das Thema der Reinheit der Luft seit etwa 1760 den öffentlichen Diskurs über Hygiene maßgeblich bestimmte.171 Die Erfindung des Eudiometers im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts schien es schließlich gar zu ermöglichen, die Qualität der Luft mit wissenschaftlichen Methoden, objektiv, zu messen, und spornte so die Gelehrten an, sich an den unterschiedlichsten Orten auf die „Jagd nach schlechter Luft“172 zu begeben. Wie sehr die Güte der Luft und ihr Einfluss auf die menschliche Gesundheit Ärzte und Forscher beschäftigte, zeigt unter anderem auch der 1813 fertiggestellte Neubau des Münchner Allgemeinen Krankenhauses, wo man zum Wohle der Kranken eine eigens entwickelte aufwändige Belüftungsanlage installierte, die den Praxistest allerdings nicht bestand.173 Zumeist beschränkte man sich jedoch darauf, die Entstehung von verdorbener, schädlicher Luft durch geeignete bauliche bzw. städtebauliche Maßnahmen zu vermeiden, wie sie auch Johann Peter Frank in seinem System einer medicinischen Polizey 1779 ausführlich beschreibt.174 Nach Frank fungierten die unbebauten Plätze als das „Luftmagazin“ einer Stadt, und der hierdurch genährte Zufluss an frischer Luft musste frei durch die Gassen und Straßen strömen können, ohne an irgendeiner Stelle behindert zu werden, etwa durch ein „blindes Ende“, d. h. das bebaute Ende einer Sackgasse.175 Dieses weithin anerkannte städtebauliche Prinzip diente auch dem Crailsheimer Gemeinderat als Grundlage seiner Argumentation, und die Mikwe erscheint in diesem Zusammenhang als Störfaktor – wenn auch ohne explizite Verwendung eines antijüdischen Klischees, das sich durchaus angeboten hätte, nämlich dem Vorwurf der Unreinlichkeit. So geht beispielsweise auch Frank mit völliger Selbstverständlichkeit von der „ursprünglichen Unreinlichkeit“ des jüdischen Volkes aus, welche für die verdorbene Luft in den Judengassen maßgeblich verantwortlich sei (wobei er immerhin einräumt, dass die obrigkeitliche Politik der Ausgrenzung, die den Juden ungesunde und räumlich begrenzte Wohnbezirke wie den in Frankfurt am Main zuwies, das Problem noch weiter verschärfe).176 Wenngleich derlei Vorurteile in Crailsheim wohl nicht laut wurden, zumindest nicht offiziell, war die vom Gemeinderat gewählte Argumentation dennoch geeignet, entsprechende
171 172 173 174
Vgl. hierzu Krauss, „Hygiene“, S. 101–104, sowie Frey, Der reinliche Bürger, S. 37, 105–108. Ebd., S. 108. Ebd., S. 103. Im dritten Band widmet sich die „Vierte Abtheilung. Von den Wohnungen der Menschen überhaupt, und ihrer nöthigen Besorgung“ ausführlich diesem Thema (Frank, System einer vollständigen medicinischen Polizey, Bd. 3, S. 817–1004). 175 Ebd., S. 885f. 176 Ebd., S. 957–959.
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Assoziationen hervorzurufen: Die geplante Mikwe stand ganz real ‚im Weg‘ – sie behinderte den freien, reinigenden Luftstrom, bewirkte Stagnation und Anreicherung der Luft mit krankmachenden Giftstoffen, beförderte also mithin Schmutz und Unreinlichkeit, die man in der christlichen Umwelt traditionell mit dem jüdischen Volk verband.177 Unreinlichkeit aber war nicht nur abstoßend, sondern zugleich gefährlich, so der moderne wissenschaftliche Konsens. Sie war nicht allein Quelle vielfältiger Krankheiten, sondern begünstigte darüber hinaus die Ausbreitung von Epidemien und gefährdete so das Bestehen der modernen Gesellschaft: […] so ist doch gewiß, daß, wenn ein einzler [sic] Mensch, durch Gewohnheit und eine ganze thierische Lebensart, gehärtet, sich noch wohl, ohne großes Nachtheil in Morast und Schlamme wälzen kann: ein gesellschaftliches Volk, aus solchen Individuen nicht bestehen könne, ohne daß das Gesundheitswohl des Ganzen, besonders in epidemischen Zeiten, unendlich zu leiden habe.178
An diesem Punkt stellt sich wiederum die Frage, ob das Argument der Luftstagnation somit nicht ein – zugegebenermaßen sehr subtiles – Spiel des Gemeinderats mit antijüdischen Ressentiments sein könnte, und damit zugleich Ausdruck tatsächlich vorhandener antijüdischer Gesinnungen, wie sie der oberamtliche Bericht zumindest nicht ausschließen mag. Dies muss dahingestellt bleiben. Sicher ist jedoch einerseits, dass derartige latent antijüdische Impulse, wenn sie tatsächlich intendiert waren, bei den höheren Verwaltungsebenen nicht auf fruchtbaren Boden fielen; andererseits aber zeigt das hier folgende Beispiel der Auseinandersetzung um den geplanten Neubau in Oberdorf, dass auch die unmittelbare Assoziation von Mikwe mit Schmutz und Unreinheit bei der nichtjüdischen Umwelt vorhanden war. Vor dem gesellschaftlichen Hintergrund der gehobenen Sorge um ein gesundes städtisches Lebensumfeld erhielten somit scheinbar neutrale und auf Fakten beruhende Behauptungen, wie die „Hemmung des nöthigen Luftzugs“ durch eine Mikwe, einen neuen Sinn; sie konnten das alte antijüdische Klischee der Unreinheit nähren bzw. neu mit Leben füllen, selbst wenn sie dies nicht bewusst taten. Gerade die Mikwe konnte unter diesen gesellschaftlichen Voraussetzungen zum Symbol so bezeichneter „hebräischer Unreinigkeit“179 pervertiert werden, wie dies 1822 in Oberdorf der Fall war.
177 Für dieses Stereotyp vergleiche beispielsweise die 1775, nur wenige Jahre vor Franks drittem Band, veröffentlichten Bemerkungen eines Reisenden, die Frank ebenfalls an dieser Stelle zitiert ([Grimm], Bemerkungen eines Reisenden, S. 44–46). Zur Tradierung dieses Vorurteils in der christlichen Umwelt vgl. Efron, „Der reine und der schmutzige Jude“. 178 Frank, System einer vollständigen medicinischen Polizey, Bd. 3, S. 919. 179 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Nachträgliche Erklärung des Oberdorfer Gemeinderats vom 30.9.1822 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 6.10.1822).
Mikwen und Macht: Reibungsflächen im Modernisierungsprozess
Die Mikwe als Ort „hebräischer Unreinigkeit“ – das Beispiel Oberdorf
Im Örtchen Oberdorf (Oberamt Neresheim, heute Stadt Bopfingen) plante man, trotz der vielen armen Gemeindemitglieder, zeitlich parallel zum nahe gelegenen Aufhausen bereits sehr früh einen Mikwen-Neubau.180 Zu diesem Zweck erwarb die Gemeinde im Mai 1822 einen Teil eines Gartens, der zu einem jüdischen Wohnhaus gehörte. In dem zur Erteilung der Baugenehmigung nötigen Prozess wurden von dem so genannten Untergangs-Gericht auch die vier unmittelbar betroffenen Nachbarn befragt, von denen drei verschiedene Einwände vorzubringen wussten (hier nach der Darstellung des Oberamts): Die Judenschafft […] hat von dem Untergangs-Gericht einen Augenschein des fraglichen Bauplatzes verlangt, und bey diesem haben nun der Friedrich Adam Böming, Salomon Jacob, Johann Georg Beck, und Johann Friedrich Schwenninger gegen die Auffürung des Bauwesens Protestation eingelegt. Sie fürten nemlich folgendes als Grund an: der erste [Friedrich Adam Böming], weil sein Garten, welcher angränze, wegen entzogenenen Sonnenscheines an seiner Fruchtbarkeit verliere, in der Folge bei einer Reparation an diesem Gebäude durch Hinüberfallen der Baumaterialien sein Eigentum beschädiget werde, durch Besuch der Dunge ihm an seinem GartenZaun und Vertrettung des Bodens Schaden zugefügt werde; der zweite [Salomon Jacob], weil ihm dadurch in seiner – gegen über liegenden Behausung alles Licht entzogen würde, und weil die – in der Mitte liegende – ohnehin immer sumpfige Straße durch den Ausguß des vielen – in der Dung erforderlichen Wassers noch mehr verunreiniget – und wegen Mangel der Sonne nie mehr austrocknen – und zu einer beständigen Morastpfitze werden würde, wodurch er und die übrige Nachbarschafft an der Gesundheit um so mehr leiden müßten, da, dem Vernehmen nach, in dieses Gebäude auch eine Herberge für die Betteljuden errichtet werden solle, wodurch die Unreinigkeit mitten im Orte bei den Nachbarn um vieles vermert werde; der dritte [Johann Georg Beck] fuerte, unter Berufung auf die Beschwerde des Salomon Jacob, noch weiter an, daß ihm durch dieses Bauweesen das noetige Licht zu seinem Gewerbe als Weeber entzogen werde; der vierte [Johann Friedrich Schwenninger] hatte nichts dagegen einzuwenden. Das UntergangsGericht hat angenommen, daß die Einwendung des Böming, Salomon Jacob, und Beck gegründet sein, daß die Entfernung des neuen Hauses von dem – des Salomon Jacob nur 18. – und von dem des Johann Georg Beck nur 16. Schuhe entfernt sein, daß dadurch die Strase sehr beengt und verunreiniget werde, daß das gemeine Weesen dadurch Noth leide und daß der fragliche Bau, worinn vieles und durch verschiedene Leute gefeuert werde, in zu groser Naehe von mehreren grosen – mit Stroh bedeckten Gebaeuden zu stehen komme, wodurch für einen gröseren Theil des Fleckens Feuersgefar
180 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 30.10.1821. Die Darstellung der Vorgänge in Oberdorf beruht auf dieser und weiteren Akten im gleichen Bestand.
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herbeigefürt werde und darauf hin hat dann der Gemeinderath den Beschluß gefaßt, daß die Judenschafft mit diesem Bauweesen abzuweisen sein, womit der BürgerAusschuß ebenfalls einverstanden war.181
Auf diese Ablehnung hin wandte sich die jüdische Gemeinde mit der Bitte um eine weitere Begehung an das Oberamt. Bei dieser Gelegenheit nahmen sowohl Jacob als auch Beck ihren Einspruch zurück, und auch die anderen genannten Probleme, wie die mögliche Beschädigung von Bömings Garten, hielten der Überprüfung durch in der Folgezeit noch mehrfach bestellte Sachverständige größtenteils nicht stand, soweit man überhaupt darauf einging. Der Gemeinderat beharrte nichtsdestotrotz auf seiner Entscheidung, die zu einem Großteil auf dem Argument des Brandschutzes basiert war. Auch dies entkräftete schließlich ein von Maurermeister Eckstein gezeichneter Lageplan, wonach lediglich ein strohgedecktes Gebäude in unmittelbarer Nähe lag, die anderen aber „wenigstens 200. Schritte von dem aufzufürenden Gebäude entfernt“ waren.182 Im November des Jahres entschied die Regierung des Jagstkreises dennoch, den Bau nicht zu genehmigen, und zwar mit der alleinigen Begründung, dass „dieses Badhaus nur 16 und 18 Schuh von den benachbarten Häuser entfernt zu stehen kommen, u. dahin[?] die Straße beengt werden würde“, was gegen bestehende Bauvorschriften verstieß.183 Die jüdische Gemeinde reagierte mit einem weiteren Gutachten zur Eingabe an die Kreisregierung und behielt sich vor, nötigenfalls auch das Innenministerium anzurufen. Dies war jedoch nicht mehr nötig, da sie mit ihrer Argumentation Erfolg hatte, wonach die Straße durch die Baumaßnahmen sogar verbreitert werden könne: Wie aus dem weiters beygeleten Bericht des Werkmeisters Wulz erhellet, so könnte zwar das Gebäude – wie es die General Verordnung vom 13. Apr. 1808. vorschreibt – nicht 40. Schu von den benachbarten Häußern entfernt aufgeführt werden, aber der sich dort verbeyziehende Weeg würde durch die Aufführung des Baadhauses und durch das Abgraben des aufgeworfenen erhöhten Gartens beynahe durchgängig eine Breite von 9. biß 10. Schu gewinnen und von einem Hohlweeg in eine flache Straße umgewandelt werden. Von einer Beengung dießer Straße wäre also wohl keine Rede, aber von einer solchen Erweiterung und Verbesserung derselben, daß dem oben angezeigten Gesez […] um so mehr ganz entsprochen würde, als außerdem anerkanntermaßen kein Nachbar durch dießes Bauweßen auf irgend eine Weiße gravirt wird.
181 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 21.8.1822. 182 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 6.10.1822. 183 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Anweisung der K. Kreisregierung in Ellwangen an das Oberamt Neresheim vom 16.11.1822.
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Die Judengemeinde wäre außerdem auch noch erböthig von dem Bau Plaz noch 4. biß 5. Schu zur Erweiterung der Straße abzugeben, und damit glauben wir alle gesezl. Hindernisse beseitiget zu haben, welche bißher der Aufführung des uns höchsten Orts anbefohlenen Frauen Baads engegen gesezt wurden.184
Anfang März 1823 wurde der Mikwen-Neubau daraufhin, unter entsprechenden Auflagen, von der Kreisregierung genehmigt und in der Folgezeit ausgeführt.185 Ähnlich wie in Crailsheim schien auch hier der Gemeinderat an der Tatsache Anstoß zu nehmen, dass die Mikwe ein nach außen hin sichtbarer Teil des Ensembles werden sollte, und zwar in einer Gegend, die man als unpassend bewertete. In diesem Fall war das Hauptproblem offensichtlich die zentrale Lage „mitten im Orte“186 , welche der Gemeinderat in seinen Darstellungen mehrfach hervorhob. Der oberamtliche Bericht bestätigt dies zwar, beurteilt den Bauplatz aber nicht zuletzt deshalb als besonders geeignet, weil er sich „an einer wenig gang- und fahrbaren Weege“ befinde, somit also sicher nicht an allzu prominenter Stelle.187 In der Begründung seiner Ablehnung handelte der Gemeinderat auch hier, wie in Crailsheim, dem Anschein nach ganz objektiv und sachlich, indem er die weitere Verengung der Fahrbahn und „Feuersgefar“ gegen die Ausführung des Baus anführte. Wie der bereits oben erwähnte, im Laufe der Untersuchungen erstellte Lageplan bezeugt, war letzteres allerdings eine Verfälschung der Tatsachen, da von „mehreren grosen – mit Stroh bedeckten Gebaeuden“188 in nächster Nähe offensichtlich keine Rede sein konnte. Dies lässt immerhin den Verdacht aufkommen, dass schon das Gutachten des Untergangs-Gerichts, auf den sich der Beschluss des Gemeinderats gründete, möglicherweise nicht objektiv war, sondern dem Gemeinderat in die Hände spielen sollte – eine Vermutung, die auch deshalb zutreffen könnte, weil das württembergische Untergangs-Gericht spätestens seit 1811 nicht mehr völlig unabhängig war, sondern stattdessen „vom Gemeinderat unter dem Vorsitz des Ortsvorstandes gebildet“ wurde.189
184 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Eingabe der Judengemeinde Oberdorf vom 21.2.1823 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 24.2.1823). 185 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Schreiben der K. Kreisregierung in Ellwangen an das Oberamt Neresheim vom 6.3.1822. 186 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 21.8.1822; Nachträgliche Erklärung des Oberdorfer Gemeinderats vom 30.9.1822 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 6.10.1822). 187 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 21.8.1822. 188 Ebd. 189 Zu diesem Umstand und der Institution allgemein siehe Hentschel, „Untergänger, Untergangsgerichte, Siebener“, unpag.
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Eine offen antijüdische Haltung legte der Gemeinderat dann an den Tag, als man gezwungen war, die eigene Position zu verteidigen, da sich nun sowohl das Oberamt Neresheim als auch die Regierung des Jagstkreises mit der Angelegenheit befassten. Ende September 1822 reichte man deshalb eine „nachträgliche Erklärung“ ein, „betreffend: die Erbauung einer sogenannten Tunge, oder eigentlichen warmen Wasch-Anstalt der unreinen Juden Weiber, mitten im Orte und in der ohnmittelbaren Umgebung von Strohdächern“.190 In dieser Erklärung wurde der vorherige Gemeinderats-Beschluss, wonach das Bauvorhaben abzuweisen sei, „in jeder Beziehung“ bestätigt; ebenso unterstellte man den Nachbarn, die ihren Einspruch zurückgenommen hatten, hierbei „nur aus ohnzeitiger Furcht, daß ihnen dennoch nicht vor dem bevorstehenden Schaden gehalten werde“, gehandelt zu haben. Zusätzlich versuchte man jetzt noch ein weiteres, in der bisherigen öffentlichen Auseinandersetzung nicht weiter ausgeführtes Detail für die eigene Sache fruchtbar zu machen, nämlich die Verunreinigung der Straße und der gesamten Örtlichkeit. Die erstellten Gutachten seien nämlich „bey völlig trokener und günstiger Witterung“ zustande gekommen, und nur deshalb habe das Oberamt offensichtlich die Argumente der völligen „Versümpfung der verengenden und verschattenden Straße, und Verunreinigung überhaupt des mittlern Theiles des Fleckens“ nicht berücksichtigt und die „Juden mit ihrem Bauwesen welches nicht eine Juden Schule (Synagoge) sondern wie gedacht, eine offentliche [sic] warme Wasch-Anstalt für die unreinen Juden Weiber, werden solle, von der bezeichneten Stelle weg, und an das äußere Ende des Ortes“ verwiesen.191 Interessanterweise war einer derjenigen, die den Punkt der Verunreinigung anführten, selbst Mitglied der jüdischen Gemeinde, nämlich der als Schutzjude bezeichnete Salomon Jacob. Angesichts der oben zitierten Darstellung des Oberamts, die sich an dieser Stelle auf das Protokoll des Gemeinderats stützt und dieses mehr oder weniger wörtlich wiedergibt, muss man wohl davon ausgehen, dass er dieses Argument überhaupt erst in die Auseinandersetzung einbrachte, um seiner Ablehnung des Bauprojekts Nachdruck zu verleihen; ob die Schilderung der Verschmutzung jedoch in ihrer ganzen Nachdrücklichkeit auf Jacob selbst zurückgeht, oder vielmehr erst im Laufe des Prozesses (insbesondere im Austausch mit dem Untergangs-Gericht) Gestalt annahm, lässt sich aus den hier vorliegenden Dokumenten leider nicht ersehen.192 Wer auch immer hierfür verantwortlich ist – die
190 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Nachträgliche Erklärung des Oberdorfer Gemeinderats vom 30.9.1822 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 6.10.1822). 191 Ebd.; die Unterstreichung findet sich im Original, jedoch in anderer Farbe, und könnte von einem der Unterzeichner stammen. 192 Jacobs Aussage über die Verunreinigung der Örtlichkeit erscheint sowohl in dem Protokoll des Gemeinderats, der sich in seiner Argumentation auf das Untergangs-Gericht stützt, als auch in der oben zitierten Darstellung des Oberamts, die wiederum auf dem Protokoll basiert. Da Jacob später
Mikwen und Macht: Reibungsflächen im Modernisierungsprozess
betreffende Passage (sowohl in Gemeinderatsprotokoll als auch Oberamtsbericht) hantiert zielsicher mit den Schlüsselwörtern, die den medizinischen Diskurs über die Bedeutung von gesunder Luft prägten: Die ohnehin „sumpfige“ Straße werde durch Ausguss des Wassers erheblich „verunreiniget und so zu einer „beständigen Morastpfitze“; diese „Unreinigkeit“ mitten im Orte“ gefährde die „Gesundheit“ der Anwohner. In dem Gemeinderatsprotokoll heißt es noch recht anschaulich, dass „das Abwasser der Tunge schädliche Dünste verbreiten müße.“193 Man vergleiche hiermit nur den einleitenden Satz von Franks Abschnitt zu „Sumpfwohnungen“ in seiner Medicinischen Polizey: „Eine, beinahe zu allen Zeiten schädliche Wohnung ist es um sumpfigte, morastige Gegenden, wenn nicht Gewohnheit und eisenmäßige Gesundheit ihrer Wirkung das Gleichgewicht halten.“194 Es folgen an dieser Stelle ausführliche Erklärungen und Belege für die Gefährdung der Gesundheit durch schädliche Ausdünstungen von Sumpfwasser und, hiermit vergleichbar, von Überschwemmungen und stehenden Gewässern in Städten.195 Dass man in Oberdorf mit dieser Argumentation den Nerv der Zeit traf, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass auch die Kreisregierung an dieser Stelle nachhakte und das Oberamt zur Untersuchung aufforderte, ob ein regulärer Abfluss für das gebrauchte Wasser vorhanden sei.196
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von weiteren Gutachtern befragt wurde und seinen ursprünglichen Einspruch bei der Gelegenheit widerrief bzw. richtigstellte, ist davon auszugehen, dass die Darstellung in dem Gemeinderatsprotokoll (das er auch durch seine Unterschrift bestätigt) im Kern den Tatsachen entspricht. Das Argument der Verunreinigung wurde also sicher von Jacob vertreten, eine zusätzliche Beeinflussung des Gesprächs bei der Erstbegehung durch das Untergangs-Gericht bzw. eine Ausschmückung des Gemeinderats-Protokolls mit wirksamen Signalwörtern ist aber nicht auszuschließen. Hierauf würde letztlich auch die Tatsache hindeuten, dass Jacob seine anfängliche Ablehnung gegen das eigentliche Bauprojekt (die Mikwe) nicht aufrechterhält und seine Kritik stattdessen auf die möglicherweise mit eingeplante Herberge für Betteljuden bezieht (für diesen Aspekt siehe die weitere Darstellung); vgl. StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Auszug aus dem Protokoll des Oberdorfer Gemeinderats vom 17.5.1822 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 21.8.1822). Ebd. (Hervorhebungen nicht im Original). Das Zitat bildet den Abschluss von Jacobs Argumentation, Jacob bestätigt die Richtigkeit nach Verlesen des Protokolls durch seine Unterschrift. Frank, System einer vollständigen medicinischen Polizey, Bd. 3, S. 842 (Hervorhebungen nicht im Original). Ebd., S. 842–861. Nach der daraufhin eingereichten Erklärung des Judenvorstehers war es nicht nötig, irgendwelches Wasser auf die Straße zu gießen, da sich das Mikwenwasser durch beständigen Zu- und Abfluss aus der Quelle selbst reinigte. An der geschilderten Reinigungspraxis nahm die Kreisregierung zu diesem frühen Zeitpunkt noch keinen Anstoß: „vielleicht alle 10 oder 20 Jare werde die Dunge einmal ausgepuzt und dann werde das Wasser durch Teichel in das benachbarte vorbeifliesende Wasser die Eger abgeleitet.“ Vielmehr zeigte man sich mit der Tatsache, dass demnach eine Vorrichtung für den Abfluss vorhanden war, zufrieden; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Erklärung der Oberdorfer Judenvorsteher vom 30.10.1822 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Neresheim
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Aber selbst wenn die geschilderte Argumentation Jacobs gänzlich in dieser Form von ihm stammen sollte, gibt es doch ein Detail, in dem er sich grundsätzlich von den weiteren Ausführungen des Gemeinderats unterscheidet. Ein wesentlicher Teil der Bedrohung, wenn nicht gar die Hauptursache, besteht für ihn nicht in der Mikwe selbst, sondern in der Unterkunft für Betteljuden, die mutmaßlich im gleichen Gebäude eingerichtet werden sollte, und gerade durch letztere werde (so die Darstellung des Oberamts) „die Unreinigkeit mitten im Orte bei den Nachbarn um vieles vermert“.197 Dass seine Ablehnung offensichtlich vor allem dieser Herberge und weniger dem Tauchbad selbst galt, bestätigt auch seine Aussage bei der Begehung durch die oberamtlichen Gutachter nur wenige Zeit nach dem ersten Ortstermin: Wenn das fragliche Bauwesen blos zu Errichtung einer Dunke hergestellt werde, so habe er für seine Person nichts dagegen einzuwenden; wenn aber in das fragl. Gebäude zugleich eine Herberge für die Betteljuden eingerichtet werden solle, so behalte er sich seine Einsprache dagegen vor. Es seye damals, wo dieser Gegenstand bei der Juden-Gemeinde zur Sprache gekommen wäre, gar nicht davon gesprochen worden, daß in das fragl. Gebäude auch eine Judenherberge eingerichtet werden solle.198
Während er (gemäß der Darstellung des Oberamts) zwar die Verschmutzung bzw. Versumpfung der Straße durch das Betreiben einer Mikwe und die hieraus entstehende Gesundheitsgefahr anmahnt, findet eine bedingungslose Gleichsetzung von Mikwe und „Unreinigkeit“ bei ihm nicht statt, sondern letztere wird zu einem großen Teil der Herberge für Betteljuden zugerechnet. Erst da, wo eindeutig der Gemeinderat spricht, nämlich in der ‚nachträglichen Erklärung‘, wird diese Gemengelage auf die einfache Formel ‚Mikwe gleich Unreinigkeit‘ reduziert. Hierin nennen die Unterzeichner die Mikwe zweimal explizit eine „offentliche warme Wasch-Anstalt für die unreinen Juden Weiber“199 und appellieren an die „GerechtigkeitsLiebe“ des Oberamts; dieses möge darauf hinwirken, vom 30.10.1822); Anweisung der K. Kreisregierung in Ellwangen an das Oberamt Neresheim vom 16.11.1822. 197 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 21.8.1822. 198 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Oberamtliches Protokoll vom 24.5.1822 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 21.8.1822). In der diesbezüglichen Klarstellung, zu der die jüdische Gemeinde in der Folge von der Kreisregierung aufgefordert wurde, heißt es: „Unter das Dach werde ein Zimmer eingerichtet, damit, wenn allenfalls der JudenGemeinde jemand zur Last falle oder zugeschoben werde, dieser darinn aufgenommen werden könne.“ (StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 6.10.1822). 199 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Nachträgliche Erklärung des Oberdorfer Gemeinderats vom 30.9.1822 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Neresheim vom 6.10.1822); hier zitiert nach dem Text der Erklärung, ein sehr ähnlicher Wortlaut findet sich auch in deren Betreff.
Mikwen und Macht: Reibungsflächen im Modernisierungsprozess
[…] daß die Judenschaft mit ihrem Vorhaben die fragl. Tunge mitten in das Ort zu bauen – wo solche abgerechnet von allen sonstigen Nachtheilen, welche sie sowohl Privaten als dem gemeinen Wesen verursachen würde – in jedem Falle einen Sammelplaz schädlicher Dünste, und hebräischer Unreinigkeit, abgeben würde, höchsten Ortes abgewießen werde […].200
In dieser Darstellung ist es nicht mehr, wie bei Jacob, das ausgegossene Wasser, das die Straße verunreinigt, sondern die Mikwe erscheint vielmehr selbst als ein in höchstem Grade unreiner Ort: Als „Sammelplaz schädlicher Dünste, und hebräischer Unreinigkeit“ nimmt sie gewissermaßen die „Unreinigkeit“ ihrer Besucherinnen, der „unreinen Juden Weiber“ auf, konzentriert sie in sich und gibt sie in Form schädlicher Dünste an ihre Umgebung ab. Auf diese Weise strahlt die „hebräische“ Unreinigkeit auch nach außen und gefährdet die Gesundheit der (christlichen) Anwohner. Wie bereits in Kapitel 4.2.1 angesprochen, wurde die Mikwe in den Berichten von ärztlichen Gutachtern ebenfalls sehr häufig mit Schmutz in Verbindung gebracht und konnte so in den amtlichen Berichten als Symbol kulturell-sozialer Rückständigkeit der jüdischen Bevölkerung fungieren. In der Oberdorfer Lokalpolitik wird diese auf der eher abstrakten Ebene innerbehördlicher Korrespondenz stattfindende Zurückweisung der jüdischen Tradition nun im konkreten Raum vollzogen. Die Mikwe erscheint nicht mehr, wie in dem vom Aufklärungsdiskurs beeinflussten behördlichen Schriftverkehr, allein als Symbol kulturell-sozialer Rückständigkeit: ein vernachlässigter, aber eng umgrenzter und geschlossener Raum, und als solcher ein störender, aber nicht gefährlicher Fremdkörper in einer aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft. In der Darstellung des Oberdorfer Gemeinderats wird sie vielmehr zu einer Manifestation der Unreinheit: ein öffentlich sichtbarer Ort, der Unreinheit nicht nur diskret verbirgt, sondern ‚sammelt‘, konzentriert, und hierdurch die moderne – gesundheitsbewusste und hygienische – Gesellschaft real bedroht. Als solcher muss ein Tauchbad, so der Anspruch des Gemeinderats, „an das äußere Ende des Ortes“201 verbannt werden, jüdisches Leben, oder zumindest dieser Aspekt desselben, darf keinen Platz in der Mitte der Gesellschaft finden. Die Modernisierung der Mikwe im 19. Jahrhundert führt hier gewissermaßen exemplarisch vor, was man in modernen Raumkonzepten des so genannten spatial turn auf theoretischer Ebene und unter verschiedenen Aspekten erörtert: In dem Augenblick, wo die Mikwe ihr alleiniges ‚Kellerdasein‘ aufgibt und an die Oberfläche tritt, ist sie nicht länger nur statisches Objekt in einem vorgegebenen ‚Container-Raum‘, keine Black-Box für die Durchführung eines gebotenen religiösen Rituals. Mit diesem Schritt erobert sie den
200 Ebd. 201 Ebd.
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öffentlichen Raum, sie beginnt nach außen zu wirken und damit nicht nur den Raum, sondern die Gesellschaft zu beeinflussen und zu gestalten – und dabei selbst umgestaltet zu werden: Raum und Gesellschaft bedingen sich einander, ganz im Sinne von Henri Lefebvres Theorie der Produktion des sozialen Raums.202 Vor dem in diesem Kapitel skizzierten gesellschaftlichen Hintergrund, der selbst das dörfliche oder kleinstädtische Leben nicht unberührt ließ, scheint es natürlich, dass die materielle Umgestaltung des traditionellen ‚Frauenbads‘ auch mit einer ideologischen Neubewertung einherging, um diesen neuen ‚oberirdischen‘ Platz sicher auf dem Fundament der modernen Gesellschaft zu errichten. Dies soll das Thema des nächsten Kapitels sein.
202 Vgl. Lefebvre, „Die Produktion des Raums“, S. 330–342. Für die Bedeutung von Lefevbres Raumbegriff innerhalb des spatial turn sowie andere Ansätze vgl. Bachmann-Medick, „Spatial Turn“, S. 291.
6.
Zwischen Gesundheit und Gebot: Der ideologische Wandel der Mikwe
Waren in der bisherigen Darstellung stets die realen Vorgänge und Veränderungen vor Ort Mittelpunkt oder zumindest Ausgangspunkt der Betrachtung, so soll nun die Blickrichtung eine andere sein und danach gefragt werden, welches Verständnis bzw. welches Bild die damalige Gesellschaft von der Einrichtung der Mikwe hatte, und welchen Änderungen dieses im Laufe des 19. Jahrhunderts unterlag. Dabei unterschieden sich der jüdische und der christliche Blick auf die Mikwe natürlich grundlegend. Während die Mikwen aus der Außenperspektive der christlichen Mehrheitsgesellschaft in erster Linie den verwaltungstechnischen Sektoren des Badewesens bzw. der Medizinischen Polizei zugerechnet wurden, rang man innerjüdisch mit der Frage, inwieweit technische Innovationen gegenüber der traditionellen Bauweise erlaubt, bzw. ob Mikwen in dieser Form überhaupt noch geboten und zeitgemäß waren. An einer Stelle trafen sich die beiden voneinander getrennten Sphären, so dass sich jüdische und bürgerlich-deutsche Kultur auf besondere Weise begegnen und gegenseitig befruchten konnten. In dem Maße, wie man auf jüdischer Seite die Bewahrung der Gesundheit über andere, konkurrierende Forderungen der Religion setzte bzw. die Bedeutung der überlieferten Gebote neu überdachte und den Zeitumständen gemäß zu interpretieren suchte, näherte man sich einer Auffassung, die auch von christlicher Seite geteilt werden konnte: Die Mikwe erschien als Reinigungsbad, das von der Vernunft geboten war und aus diesem Grund göttlichem Willen entsprach, das einerseits der Gesundheit diente, aber andererseits die Möglichkeit einer spirituellen Erfahrung bot. Einen nicht unwesentlichen Teil des gesamtgesellschaftlichen Diskurses über die Mikwe bildeten dabei ärztliche Berichte wie die bereits in Kapitel 4.2.1 betrachteten, wobei ihr Einfluss allerdings auf den ihnen vorgegebenen Rahmen der amtlichen Korrespondenz beschränkt blieb. Jedoch traten auch immer wieder Ärzte mit ihrem Standpunkt an das Licht der (medizinisch vorgebildeten) Öffentlichkeit, so unter anderem in Fachzeitschriften. Besonders die beiden Publikationen von Moritz Mombert (1828 und 1830) sowie die Medizinisch polizeiliche Würdigung einiger Religionsgebräuche und Sitten des israelitischen Volkes seines christlichen Arztkollegen Peter Joseph Schneider von 1825 bestimmten noch bis in die 1860er Jahre den Blick der Gesellschaft auf die Mikwe. Der Präsenz solcher medizinischer Schriften soll durch eine eingehende Analyse in Kapitel 6.1.1 Die Mikwe als Gegenort Rechnung getragen werden. Darüber hinaus formten im Wesentlichen die Schriften um die Rabbinerversammlung von 1845 sowie einige kleinere Werke und Beiträge zu Mikwen aus jüdischer Hand, aber auch verstreute Zeitungsnoti-
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zen das in der deutschen Gesellschaft der Emanzipationszeit hiervon vorhandene Bild. Der Vielfalt der Aspekte, die den ideologischen Wandel der Mikwe und ihren Stellenwert in der bürgerlichen Gesellschaft kennzeichnen, lässt sich auf engem Raum zwar kaum gerecht werden, doch soll das hier folgende Kapitel zumindest die wichtigsten Konstanten skizzieren: die Entwicklung von einem religiös gebotenen, aus gesellschaftlich-kultureller Sicht jedoch rückständigen Kellerquellenbad, hin zu einem modernen Ritualbad, das nicht nur den gesundheitspolizeilichen Anforderungen genügte, sondern bis zu einem gewissen Grad sogar Vorbildcharakter für die christliche Umgebung besaß. Begegnet die Mikwe in der medizinischen Literatur zunächst als negativer ‚Gegenort‘ zur Welt des Bürgertums, so wird sie im Verlauf der Emanzipationsepoche auf verschiedene Weisen ‚verbürgerlicht‘, in die moderne Lebenswelt integriert (Kapitel 6.1.2 „Reinigkeit und Sittlichkeit“: Die Verbürgerlichung der Mikwe). Im Anschluss an den gesamtgesellschaftlichen Blick, der sich primär durch die Lektüre medizinischer Schriften eröffnet, steht in den folgenden zwei Kapiteln noch deutlicher die innerjüdische Perspektive im Vordergrund, d. h. die Frage, wie man die modernen gesellschaftlichen Ansprüche mit religionsgesetzlichen Vorgaben in Einklang zu bringen suchte: einerseits auf der Ebene theoretischer Begründungen und der Suche nach innovativen technischen Lösungen (Kapitel 6.2 Der innerjüdische Diskurs: Neue Wege zwischen Tradition und Moderne), andererseits auf der Alltagsebene des individuellen Umgangs mit dem Ritual (Kapitel 6.3 Die Mikwe im Alltag des 19. Jahrhunderts).
6.1
Das Bild der Mikwe unter den Vorzeichen von bürgerlicher Reinlichkeit und Gesundheitsfürsorge
Bereits in den vorausgehenden Kapiteln wurde deutlich, wie sehr die Frage der Mikwen und ihrer Modernisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur mit staatspolitischen Interessen, sondern allgemein mit übergreifenden Entwicklungen in der bürgerlichen Gesellschaft verbunden war. Jahrhundertelang unbeachtet und dem christlichen Alltagsleben mehr oder weniger verborgen, war die Mikwe plötzlich Gegenstand dreier gänzlich verschiedener gesellschaftlicher Diskurse. Vom Prinzip her eine rein innerjüdische Angelegenheit, wurde die Modernisierung der alten Kellerquellenbäder unter dem Einfluss der Aufklärungsmedizin, speziell dem Diskurs über die Wirkung kalter Bäder (als Teil des größeren medizinischen Diskurses), ans Licht der Öffentlichkeit katapultiert. Das staatliche Wirken wiederum stand auch im Zusammenhang mit dem Diskurs über die Emanzipation der
Zwischen Gesundheit und Gebot: Der ideologische Wandel der Mikwe
Juden, wenngleich sich diesbezüglich nur wenige explizite Bezüge finden lassen.1 Dessen ungeachtet war die Umgestaltung der Mikwen natürlich Teil des jüdischen Reformdiskurses und auf diese Weise, als jüdische Antwort auf die Forderungen der Moderne, mit dem Emanzipationsdiskurs verquickt. Der gesamtgesellschaftliche Blick auf die Mikwe wurde besonders bis zur Mitte des Jahrhunderts maßgeblich von Ärzten bestimmt, wobei an erster Stelle Moritz Mombert zu nennen ist, der seit dem Erscheinen seiner beiden Publikationen 1828 und 1830 den medizinischen Diskurs nachhaltig prägte. Alternative Sichtweisen, die sich von der Fixierung auf die Mikwe als realen Ort und die damit verbundenen gesundheitspolizeilichen Aspekte lösen, konnten vor diesem Hintergrund hingegen erst allmählich Raum gewinnen. Dieser Wandlungsprozess wird im Folgenden mit Hilfe eines diskursanalytischen Ansatzes dargestellt; darüber hinaus soll ein weiteres Analyseinstrument Michel Foucaults, nämlich der Begriff der Heterotopie als einem „anderen Raum“2 , bzw. allgemein eine Ausweitung des Blickwinkels in Richtung des spatial turn, dazu dienen, das Konzept Mikwe in seiner soziokulturellen Funktion als ‚Gegenort‘ zur bürgerlichen Gesellschaft besser fassen zu können. 6.1.1
Die Mikwe als Gegenort: Ärztliche Berichterstattung und medizinische Literatur 1777–1872
Innerhalb des medizinischen Diskurses über die Mikwe lassen sich drei grundsätzliche Aspekte ausmachen. Die Mikwe wird zum einen als konkreter (und damit realer) Ort betrachtet und beschrieben; als solcher ist sie gekennzeichnet durch die wesentlichen Merkmale der Kälte, der Unreinheit und der daraus resultierenden Gefahr für Leben und Gesundheit. Andere Schriften sehen in ihr (auch) eine geschichtlich bedingte religiöse Institution und betonen, diese sei nicht mehr zeitgemäß, des Weiteren ‚talmudisch‘ und nicht ursprünglich ‚mosaisch‘. Zu guter Letzt begegnet die Mikwe als Idee oder Konzept; das Ritual des Untertauchens habe eine positive Wirkung nicht nur auf die körperliche Gesundheit, sondern darüber hinaus auch auf die Seele oder sittliche Natur des Menschen. Insofern als hier nach grundlegenden Funktionen differenziert wird, sind theoretisch alle drei Aspekte auch in einem einzigen Text zur Mikwe denkbar. Tatsächlich lässt sich jedoch feststellen, dass die genannten Aspekte zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich viel Gewicht in den Darstellungen erhalten. Auf diese Weise markieren sie (mit gewissen Einschränkungen) zugleich drei Phasen des medizinischen Diskurses über die Mikwe, deren Unterteilung andererseits auch mit konkreten historischen Entwicklungen korrespondiert.
1 Vgl. hierzu Kapitel 4.2.2. 2 Foucault, „Von anderen Räumen“, S. 326.
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Aspekt: Mikwe als (Ort) Ort Institution Idee / Konzept
Phase 1) Frühphase: Bäderdiskurs 2) Hochphase: Gegenort 3) Spätphase: Verbürgerlichung
Beginn ca. 1777 1825/ 1828 1845
Wertung - (+) +
Phase 1–2: Seit Veröffentlichung von Schneiders Schrift Medizinisch polizeiliche Würdigung einiger Religionsgebräuche und Sitten des israelitischen Volkes im Jahr 1825, vor allem aber in der Folge von Momberts Publikation von 1828, erscheint die Mikwe (hauptsächlich, nicht ausschließlich!) als negativ bewerteter realer Ort (Phase 2); in diesem Sinn bildet sie einen ‚Gegenort‘, den es durch behördliche Maßnahmen zu verändern gilt. Dies ist zwar in gewissem Maß auch schon vorher der Fall, jedoch treten der (Gesamt-)Ort und dessen Mängel vor 1825 weniger deutlich in den Vordergrund. Stattdessen liegt der Hauptaktzent während dieser Frühphase noch allein auf der Schädlichkeit des kalten Wassers, wobei der Einfluss des ‚Bäderdiskurses‘ unübersehbar ist. Phase 3: Die Rabbinerversammlung von 1845 und der hierauf gründende württembergische Normalerlass zu Mikwen (1846) setzen einen formalen Schlusspunkt für die Darstellung der Mikwe als Gegenort. Den Beginn der Spätphase markiert innerhalb der medizinischen Literatur die Überwindung der Fixierung auf die Mikwe als realen Ort; es erfolgt eine allmähliche Abkopplung von der Forderung nach staatlicher Aufsicht und Rückkopplung an das zentrale Element des Aufklärungsdiskurses, wonach die mosaischen Gesetze vernunftbestimmt waren (wenn auch hier zunächst noch als Negativschema, d. h. man beurteilt die zeitgenössische Praxis als nicht vernünftig). Außerhalb des rein medizinischen Rahmens gewinnt die Mikwe insbesondere unter dem Einfluss der Rabbinerversammlung auch als Institution oder Idee zunehmend an Bedeutung; der Gegenort verblasst so zugunsten einer neuen ‚verbürgerlichten‘ Mikwe. Jedoch gilt es festzuhalten, dass das hier skizzierte Schema lediglich eine Tendenz abbilden soll. Weder die zeitliche Unterteilung in drei Phasen noch die Zuordnung von prominenten Aspekten hierzu besitzen absolute Gültigkeit, sondern vielmehr können einzelne, für eine Phase typische Elemente zu jeder Zeit auftreten; insbesondere die Verbürgerlichung der Mikwe tritt zwar erst ab der Jahrhundertmitte deutlich in Erscheinung, hat aber ihre Wurzeln schon in der Phase des Gegenortes. Dieser Wandlungsprozess des gesellschaftlichen Bildes der Mikwe innerhalb des medizinischen Diskurses, mit seiner zentralen Phase der Mikwe als Gegenort, soll nun präziser gefasst werden. Ausgehend vom Konstruktionscharakter soziokultureller Wirklichkeit präsentiert sich der Diskurs, das Vehikel einer solchen nicht objektiv fassbaren, sondern nur in ihren gesellschaftlich bedingten Ordnungsstrukturen in Erscheinung tretenden Realität, als „die Menge all jener textlichen,
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audiovisuellen, materiellen und praktischen Hervorbringungen […], die das Thema des Diskurses in irgendeiner Weise behandeln oder auch nur nebenher streifen.“3 Zum Untersuchungskorpus gehören folglich prinzipiell sämtliche Schriftstücke, die Ärzte oder Verwaltungsbeamte im Rahmen ihrer Tätigkeit (z. B. als amtsärztlichen Visitationsbericht) zu erstellen hatten oder aus eigener Initiative heraus verfassten (ungedruckte Quellen), sowie sämtliche Veröffentlichungen im medizinischen Sektor bis zur Gründung des Kaiserreichs, dem formalen Abschluss der Emanzipationsepoche; hierzu zählen Artikel in Fachzeitschriften, Monographien sowie Beiträge in medizinischen Handbüchern oder Lexika. Für die praktische Arbeit muss der Bestand an ungedruckten Quellen größtenteils auf die Berichte aus dem Königreich Württemberg und dem Großherzogtum Würzburg eingeschränkt werden;4 deren Auswertung erfolgte im Wesentlichen schon in Kapitel 4.2.1, so dass auf die dort erarbeiteten Ergebnisse zurückgegriffen werden kann. Insofern als an dieser Stelle nicht nur nach dem Eindruck gefragt wird, den sich Einzelne von der Mikwe machten, sondern auch nach dem bewusst in die Öffentlichkeit getragenen Bild, werden vorzugsweise im Druck erschienene Schriften analysiert werden; auf diese Weise soll das an früherer Stelle Erarbeitete ergänzt und in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. Dabei kann natürlich auch das untersuchte Korpus an gedruckten Quellen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben; insbesondere wurden Rezensionen zu erschienen Werken für die Analyse grundsätzlich nicht berücksichtigt, da sie für den Diskurs zwar relevant sind, diesen aber nicht grundlegend modifizieren. Nicht zuletzt durch Querverweise in den Quellen selbst ergibt sich für den Betrachtungszeitraum so eine Kerngruppe von 16 Werken, darunter sechs Monographien, drei kürzere Einträge in Enzyklopädien, und sieben Zeitschriftenbeiträge, letztere bis auf einen entweder in Adolph Henkes bekannter Zeitschrift für die Staatsarzneikunde oder den Annalen der Staats-Arzneikunde veröffentlicht (vgl. hierzu auch die Übersicht in Tabelle 4a und 4b). Durch die zahlreichen Referenzen, insbesondere natürlich auf Momberts Werk, stellt diese Gruppe fast schon einen geschlossenen ‚Mikrokosmos‘ der Mikwenthematik dar – und spiegelt auf diese Weise, wenn auch nicht den gesamten medizinischen Diskurs, so doch einen bedeutenden Ausschnitt wider.
3 Landwehr, Historische Diskursanalyse, S. 102. Landwehrs Diskursbegriff orientiert sich an dem Foucault’scher Prägung; vgl. hierzu auch seinen Artikel „Diskurs und Diskursgeschichte“, besonders den Abschnitt Geschichte des Diskurses und und [sic] der Diskursgeschichte, unpag. 4 Dies umfasst insbesondere folgende Bestände: StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4404; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405; StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487.
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6.1.1.1 Die Frühphase des medizinischen Diskurses: Mikwen als kalte Bäder
Eines der frühesten Werke, wenn nicht gar das früheste überhaupt, das sich mit der Mikwe aus Sicht der Aufklärungsmedizin befasst, ist das knapp 100 Seiten zählende Bändchen Von den Krankheiten der Juden des nicht weiter bekannten, unter anderem in Mannheim wirkenden jüdischen Arztes Elcan Isaac Wolf.5 Wolfs 1777 erschienene Schrift reiht sich einerseits in die damals populäre Gattung der vernunftbasierten Gesundheitsfürsorge ein, deren Adressatenkreis die aufgeklärte Bürgerschicht war; das bekannteste Beispiel hierfür stellt Hufelands Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern von 1796/97 dar. Ihre Besonderheit liegt andererseits aber darin, dass sie vermutlich die erste derartige Darstellung eines jüdischen Arztes war,6 die sich speziell an Juden richtete und auf deren spezifische Lebensbedingungen einging. Die Beschäftigung mit dem Thema Mikwe umfasst zwar nur knapp eine der kleinformatigen Seiten, enthält aber auf engstem Raum die Schlagwörter der frühen Phase des medizinischen Diskurses über die Mikwe: Große Unordnungen entheiligen bei unsern Weibern das vernünftige Gebot der monatlichen Bäder. Wir sind keine abgehärtete Russen-Körper, welche aus einem heissen Backofen in das Eiswasser ohne erfolgenden Schaden ihrer Gesundheit springen. Viele unserer verarmten Weiber entkleiden sich in einem glüenden Zimmer, und baden hernach im kalten Wasser, weil die meisten unvermögend sind sich das Bad erwärmen zu lassen. Eine solche jählinge Abänderung kann besonders bei etwas schwächlichen Weibern tödtliche Krankheiten zuziehen; Gliederreissen, Koliken, Schlag- und Steckflüsse, können auf solche Misbräuche erfolgen.7
Mit seinem Einleitungssatz gibt sich Wolf als jüdischer Aufklärer zu erkennen. Das traditionelle Tauchbad wird hier als „Unordnung“ klassifiziert, d. h. es steht im Widerspruch zu dem von der Aufklärung geforderten „vernünftigen“ Umgang mit dem eigenen Körper wie auch religiösen Vorschriften; auch die Bezeichnung als „Missbrauch“ am Ende entstammt dem Wortschatz der (jüdischen wie nichtjüdischen) Aufklärung. An anderer Stelle spricht Wolf den Gedanken, dass die göttlichen Gebote ganz allgemein (unter anderem) die Gesundheit bezwecken, noch klarer aus.8 Dieser Aspekt, verdichtet in der Unterscheidung zwischen mo-
5 Nach Erlangen des Doktortitels in Gießen 1763 erhielt Wolf 1768 eine Zulassung als Arzt in Mannheim, später wirkte er auch in Metz. Sein Geburts- und Sterbejahr sind nicht bekannt. Zu den wenigen bekannten biographischen Daten sowie einer kurzen Vorstellung seines Werkes siehe Kottek, „Hygiene“, S. 12–14; ebenso Efron, Medicine, S. 67–77; ders., „Images“, S. 351–356. 6 Diese Einschätzung stammt von Kottek („Hygiene“, S. 12). 7 Elcan Wolf, Krankheiten, S. 50f. 8 Ebd., S. 44.
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saischen und talmudischen, d. h. von späteren Rabbinern angeordneten Gesetzen, prägte auch noch den jüdischen Reformdiskurs des 19. Jahrhunderts: Moses habe als vernünftiger Gesetzgeber rationale, auf die Gesundheit zielende Gebote erlassen, die jedoch im Laufe der Zeit Missbräuchen unterlagen. Dies ist beispielsweise auch Momberts Argumentation, der sich 1828 mit aller Schärfe gegen die Rabbiner richtet: Die heutzutage übliche Bademethode muß also nothwendig aus den Köpfen der Rabbiner, die aus falschem Eifer, Paradoxiensucht, Unverstand oder doch wenigstens aus irrigen Vorstellungen, so vieles Vernünftige vernunftwidrig, so vieles Klare dunkel gemacht haben, von so vielen Wort- und Sinnverdrehungen die Urheber sind, entstanden seyn.9
Die gesamte auf den Einleitungssatz folgende Passage zur Mikwe hingegen präsentiert sich als Teil des medizinischen Diskurses über die kalten Bäder und zeigt Wolf als einen Arzt, der sich durchaus kritisch mit den von Zeitgenossen vertretenen Theorien auseinandersetzt und deren Anwendbarkeit bzw. Nutzen für seine Klientel prüft. Während er einerseits das Vorbild der abhärtenden englischen Erziehung lobt und dementsprechend kalte Bäder für Kinder anrät,10 beurteilt er das Tauchbad aufgrund der plötzlichen Kälteeinwirkung hingegen als schädlich. Das Beispiel des russischen Dampfbads, ein typisches Schibboleth der Auseinandersetzung um die Kaltwasseranwendungen,11 betrachtet er für die Einwohner des Alten Reichs als ungeeignet. Ähnlich wie Wolf urteilt diesbezüglich auch der bekannte Hufeland, allerdings erst 13 Jahre später: „Es versteht sich von selbst, daß wohl niemanden von uns einfallen kann, das Experiment der Russen, aus dem Schwizbade in den Schnee zu springen, nachzuahmen. Dazu gehören Russische Nerven und Russische Gewohnheit.“12
9 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 73; vgl. auch ebd., S. 116f. 10 Elcan Wolf, Krankheiten, S. 24f; vgl. zum Thema der ‚harten Erziehung‘ auch Kapitel 5.1.2., Abschnitt Die Frage nach der körperlichen Konstitution der jungen Generation – zwischen Topos und Realität. 11 Zacharias Gottlieb Hußty verwendet dieses Motiv beispielsweise auch als Argument gegen die gängige Taufpraxis: „Man hat schon oft betrübte Folgen entstehen gesehen, wenn man einem eben aus dem mütterlichen Schooße gekommenen Kinde einen guten Theil kalten Wassers gähe auf den Scheitel gegossen, um solches zu taufen. […] Wer sich, ohne ein Russe zu sein, auf einmal mit bloßem und warmen Leibe in kaltes Wasser stürzen wollte, der liefe Gefahr auch eines gähen Todes zu sterben.“; Hußty, Diskurs, S. 96 (Hervorhebungen im Original). 12 Hufeland, „Nöthige Erinnerung an die Bäder“, 1790, S. 397.
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
Der medizinische Standpunkt: Vermeiden von Extremen und Rücksicht auf die individuelle Disposition
Im Gebiet des Deutschen Reichs hatte sich die medizinische Beurteilung von Kaltwasseranwendungen, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Hufeland als weithin akzeptierter ärztlicher Autorität, in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts darauf eingependelt, extreme Situationen zu vermeiden. Zwar erkannte man die stärkende Wirkung des kalten Wassers durchaus an, doch zeigte man sich, was die Praxis betrifft, zunehmend bemüht, Maß zu halten bzw. die körperliche Befindlichkeit des Betroffenen zu berücksichtigen. Beispielhaft für diese Tendenz mag Hufelands Plädoyer für die lauwarmen Bäder in seinem populären Aufsatz Nöthige Erinnerung an die Bäder und ihre Wiedereinführung in Teutschland von 1790 stehen: Uns kömmts vorzüglich auf eine freye ungehinderte Ausdünstung, auf Reinigung und Eröfnung unsrer Haut, auf die Befreyung der verhaltnen Gichtschärfen und die Beförderung einer gleichförmigen Cirkulation an, und in Rücksicht dessen kann man die lauen Bäder für diejenigen halten, die unserm Clima, unsrer Konstitution, unserm Bedürfnisse am angemessensten sind. Weder die ganz kalten noch die heißen Bäder können für gewöhnlich und anhaltend fortgebraucht werden, aber die lauen, die auf keine heroische, gewaltsame Art auf uns wirken, können täglich, wenigstens wöchentlich einigemal genommen werden. Doch müssen wir auch hierin unsere Vorfahren nachahmen, und im Sommer kühler, im Winter wärmer baden.13
Während nun die bloß als Konzept diskutierten russischen Dampfbäder vor der Folie dieses mäßigenden Trends nicht bestehen konnten (zumal die deutsche Bevölkerung als weniger abgehärtet galt), wurde die reale Einrichtung der kalten Flussbäder noch auf eine weitere Art in Frage gestellt: Hier zeugten, über die theoretische Erörterung hinaus, auch konkrete Fälle des falschen, unangemessenen Gebrauchs von deren zumindest potentiell schädlicher Wirkung.14 Und wenngleich man beide Varianten nicht grundsätzlich ablehnte (auch Hufeland befürwortet das Dampfbad unter bestimmten Voraussetzungen),15 so schenkte man doch der individuellen Komponente in zunehmendem Maße Beachtung: Die körperliche Konstitution eines Menschen bzw. der Bevölkerung an sich, in Verbindung mit situationsbedingten Umständen, fungierte als schwerwiegender Einwand gegen die Praxis des plötzlichen extremen oder doch heftigen Temperaturwechsels, wie dies ein Dampfbad bzw. Flussbad mit sich brachte.
13 Ebd., S. 395 (Hervorhebungen im Original). 14 Vgl. hierzu May, „Rheinbäder“, besonders S. 366f. 15 Hufeland, „Nöthige Erinnerung an die Bäder“, 1790, S. 397.
Zwischen Gesundheit und Gebot: Der ideologische Wandel der Mikwe
Die Mikwe und ihre Nutzerinnen aus medizinischer Sicht
Der medizinische Standpunkt zum kalten jüdischen Frauenbad war somit vom Prinzip her schon festgelegt, zumindest als klare Tendenz, noch bevor viele Ärzte in der Praxis mit diesem Problem konfrontiert wurden. In jedem Fall musste Momberts Argumentation von 1828, in der er wie schon Wolf die Analogie von Mikwe und russischem Dampfbad bemüht, vor diesem Hintergrund unmittelbar überzeugend wirken, maß sie doch das Tauchbad an genau den Parametern des Diskurses über die Bäder, die sich zu Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet hatten: Trifft dieß alles nun eine Wöchnerin, die mehrere Wochen das Bette gehütet und sich durch die Wochenschweiße eine für jeden äußern Einfluß sehr empfängliche Haut zugezogen hat, die dann noch mehrere Wochen die Stube nicht verlassen, und zum erstenmale bei kaltem Wetter aus dem Hause Abends sich entfernt, hierauf durch ein warmes Bad die Reizbarkeit des Hautsystems erhöht und dann in einem dunstigen Keller sich in Eiswasser eintaucht, was werden die Folgen seyn müssen? Und wie wird es gar jungen, zärtlich und verweichlicht erzogenen, oder gar zu allerhand Krankheiten geneigten Frauen ergehen, die unter den erwähnten äußern Verhältnissen zum ersten- oder zweitenmale baden?! Unsere Frauen haben keine moskowitische Natur, dieß ertragen zu können […].“16 — Ist es nicht Erfahrungssache, daß jede plötzliche Abkühlung dem warmen Körper schädlich ist? Und nun werden die Ausdünstungsgefäße erst durch ein warmes Bad geöffnet, und dann gleich darauf durch ein Bad von weit geringerer Temperatur diese wieder krampfhaft zusammengezogen! Und was wird nun gar die Folge bei Personen seyn müssen, die zum Schlagflusse, zum Stickflusse, zum Bluthusten, zum Blutbrechen, zum Asthma, zu Krämpfen, zu Ohnmachten, zum Rheumatismus, zur Gicht und andern Krankheiten Anlage haben?17
Basis von Momberts medizinischer Beurteilung des kalten Tauchbads ist die gängige Theorie, dass kaltes Wasser (bzw. Kälte) auf den menschlichen Organismus kontrahierend, warmes Wasser (Wärme) hingegen ausdehnend wirkt, sowie die insbesondere von Hufeland hervorgehobene Bedeutung der Haut für die menschliche Ausdünstung.18 Nicht allein der mehrmalige Temperaturwechsel (beginnend mit Schweiß und endend mit Eiswasser) ist schon medizinisch bedenklich und führt zu einer erhöhten „Reizbarkeit des Hautsystems“, sondern die Situation verschärft
16 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 50. 17 Ebd., S. 52. 18 Vgl. z. B. Hahn, Krafft und Würckung des frischen Wassers, S. 126f; Hufeland, „Nöthige Erinnerung an die Bäder“, 1790, S. 386–389.
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sich in besonderer Weise dann, wenn die körperliche Konstitution schwach ist, wie bei den von Mombert beschriebenen Nutzerinnen: Wöchnerinnen, verweichlichte oder für allerlei Krankheiten anfällige Frauen. Den Begriff des Dampfbads verwendet Mombert zwar nicht, aber er vergleicht die Mikwe implizit hiermit, indem er dieses Motiv über die „moskowitische Natur“ anzitiert – und sich auch auf diese Weise in den Bäderdiskurs einklinkt. In ähnlicher Weise wie Mombert, der mit seiner Darstellung bereits den Beginn der zweiten Phase des Diskurses über die Mikwe markiert, urteilt auch die Medizinische Section des Großherzogtums Würzburg in einem Gutachten von 1811.19 Noch mehr als bei Mombert widmet man sich hierin dem Aspekt der körperlichen Befindlichkeit der Frauen während und nach der Menstruation, stellt dann aber umso klarer den Hauptgrund für die Schädlichkeit der Tauchbäder heraus, nämlich die plötzliche Kälteeinwirkung;20 die Beschaffenheit der Örtlichkeit wird in diesem Zusammenhang bereits knapp charakterisiert, nimmt aber noch verhältnismäßig wenig Raum ein: Allerdings ist das kalte Tauchbad, welches dem jüdischen Gesetze zu Folge die Weiber nach ihrer monatlichen Reinigung zu brauchen pflegen nicht nur der Schönheit sondern auch der Gesundheit des weiblichen Körpers höchst schädlich, besonders wenn es zugleich, wie noch an mehreren Orten, wo die Juden-Gemeinden sehr arm sind, in einem kalten, feuchten und dumpfen dazu besonders bestimmten Lokale angewendet wird. Es ist bekannt, daß Weiber um die Zeit der monatlichen Reinigung mehr zum Krankwerden geneigt sind und ist diese Opportunität in gewissen wichtigen Veränderungen gegründet, welche ihr Organismus in dieser critischen Epoche erleidet. Diese Opportunität währt nicht nur allein während dem Flusse selbst sondern sie dauert auch noch zwei bis drei und noch mehrere Tage nach demselben fort, welches zugleich der eigenthümliche Geruch der Hautausdünstung und des Athems beweiset. […] Nebst dem ist das Weib auch noch mehrere Tage nach der Menstruation weit reitzbarer und ihre Geburtstheile durchaus mehr zu Entzündungen geneigt. Können also um diese Epoche noch mehrere Einflüße nachtheilig auf ihren Körper einwirken, so influirt doch keiner so nachtheilig als Kälte und besonders plötzliche Kälte, wie es bei dem kalten Tauchbade statt findet.21
Ergibt sich die Ablehnung der Mikwe somit zwangsläufig aus den beschriebenen Komponenten des Diskurses, so herrscht bezüglich der konkreten gesundheitlichen Konsequenzen von Kälteeinwirkung weniger Klarheit. In dieser Hinsicht erscheint 19 Zu den Hintergründen des Gutachtens siehe oben Kapitel 4.2.2, Abschnitt Die Verordnung im Großherzogtum Würzburg vom 29. Januar 1812. 20 Vgl. hierzu auch den entsprechenden Abschnitt in H. Cohen, Reinigungs-Ordnung, S. 7. 21 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Gutachten der Medizinischen Section des Großherzogtums Würzburg vom 27.11.1811.
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das Bild insgesamt eher diffus, die Folgen sehr weit gestreut und auch Momberts zitierte Aufzählung von besonders gefährdeten Personen insofern typisch für die Verbindung von Theorie und den von Ärzten wahrgenommenen Leiden. Das frühe Gutachten der Medicinischen Section des Großherzogtums Würzburg hingegen betont in besonderem Maße die negativen Auswirkungen des kalten Tauchbads auf den weiblichen Zyklus bzw. die Gebärfähigkeit sowie die Störung der Hautfunktionen, indem es fortfährt: Sie [die plötzliche Kälte] gibt Anlaß zu Entzündungen der Geburtstheile und besonders zu den sogenannten Menstrualcoliken, welche Referent bei Judenweibern so häufig zu beobachten Gelegenheit hatte; ferner veranlaßt die Kälte des Tauchbades den weißen Fluß, die Unordnungen in dem Erscheinen der monatlichen Reinigung, die zu häufige monatliche Reinigung und die Neigung zum Abortus, welche bei den Judenweibern auch besonders häufig beobachtet wird.22
Hierauf folgt eine Erklärung für die fahle Hautfarbe vieler Frauen als Folge der Bäder, welche die Haut blass, welk und schlaff aussehen ließen; aufgrund der gestörten Hautausdünstung entstünden zudem häufig chronische Hautauschläge. Sogar die „dicken unförmlichen Bäuche, welche man bei den jüngsten Judenweibern so häufig sieht“, seien vermutlich eine Folge des kalten Mikwenwassers, hervorgerufen unter anderem durch „Stockungen und Störungen in dem Kreißlaufe des Bluts“. Eine Auflistung der gesamten Bandbreite möglicher Gesundheitsschäden, die in der Folgezeit auch häufig zitiert wurde, findet sich in Schneiders Abhandlung von 1825.23 Gerade an den relativ oft aufgeführten „Schlagflüssen“, teils mit Lähmungserscheinungen, zeigt sich noch einmal die starke Verwurzelung des frühen Mikwendiskurses im Diskurs über die Bäder. So berichtet auch Konrad Anton Zwierlein in seinem Werk Ueber die neuesten Badeanstalten in Deutschland (1803) von einem „jungen starken Mann“, der nach dem kalten Flussbad eben dieses Schicksal erlitten habe und noch immer an den Folgen der Lähmung leide.24 Anders als später spielen in dieser ersten Phase des Mikwendiskurses Beschreibungen der Örtlichkeit nur eine sehr untergeordnete Rolle oder fehlen gänzlich. Wolfs Darstellung ist insofern typisch, kann aber in gewisser Weise bereits als Vorläufer des Kommenden gelten, da er das von ihm wahrgenommene Problem, den unvermittelten starken Temperaturwechsel, auch sprachlich geschickt ‚in Szene
22 Ebd. 23 P.J. Schneider, „Religionsgebräuche“, S. 250–252. 24 Die Passage findet sich in dem Kapitel Vom vielfältigen Mißbrauch und Schaden der Flußbäder; siehe Zwierlein, Badeanstalten, S. 30.
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setzt‘. Indem er das Wortfeld „heiß“, „Backofen“ und „glühend“ dem von „Eiswasser“ und „kalt“ gegenüberstellt, schafft er eine zeitliche und räumliche Ausdehnung und hierdurch eine (wenngleich sehr abstrakte) Räumlichkeit, in der Örtlichkeit allein auf die Polarität von heiß–kalt reduziert ist. In der folgenden Phase sollte der reale Raum bzw. die Mikwe als wahrgenommene Räumlichkeit in ärztlichen Darstellungen ungleich mehr Gewicht erhalten. 6.1.1.2 Die Hochphase des medizinischen Diskurses: Mikwen als Gegenort
Eine neue Qualität erhielt der medizinische Diskurs über die Mikwe mit der Schrift des im badischen Ettenheim tätigen Amtsarztes Dr. Peter Joseph Schneider (1791–1871), Medizinisch polizeiliche Würdigung einiger Religionsgebräuche und Sitten des israelitischen Volkes, in der erstmals die konkrete Beschaffenheit der Mikwen ins Auge gefasst – und dabei sehr negativ beurteilt – wurde. Wie bereits in Kapitel 4.2 beschrieben, engagierte sich Schneider mit einigem Enthusiasmus für die Verbesserung dieser Anlagen, und musste dabei auch selbst Erfahrungen mit den Schwierigkeiten in der Umsetzung vor Ort machen. Schneiders Artikel, veröffentlicht 1825 in Henkes renommierter Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, steht insofern idealtypisch für diese neue Phase, als der Abschnitt zur Mikwe auf zweierlei Weise mit der staatlichen Politik verbunden ist: Wie seit dieser Zeit üblich, fordert er nicht nur die staatliche Unterstützung bei der Modernisierung der gesundheitsschädlichen Tauchbäder ein,25 sondern der Artikel ist in diesem Fall sogar selbst eine Folge staatlichen Wirkens, nämlich des Erlasses des badischen Innenministeriums von 1822, wonach die Physikate die Einrichtung wärmbarer Mikwen zu beaufsichtigen hatten. Den tiefgreifendsten Wandel erfuhr der Mikwendiskurs jedoch zweifelsfrei mit den beiden wenige Jahre später (1828 und 1830) erfolgten Veröffentlichungen von Moritz Mombert. In einprägsamer Weise definiert Mombert 1830, im Rahmen eines speziell an die Ärzteschaft gerichteten Aufsatzes, die medizinische Basis dieser mit Schneider einsetzenden Phase des Diskurses, und schafft so eine Kurzformel zur Beschreibung der Mikwen, die seither regelmäßig übernommen wurde: „Drei Puncte sind es also, durch welche vorzüglich die Schädlichkeit dieser Bäder entsteht, 1) durch Eckel, 2) durch Erkältung, 3) durch
25 Von den dieser Phase zugehörigen Schriften fällt lediglich die von Braun Die Tauchen der Israelitinnen (1835) etwas aus dem Rahmen, insofern als Braun die Bäder im Grunde positiv bewertet; nur dem „Egoismus fanatischer Menschen“ sei es zuzuschreiben, „daß sie nicht alle das sind, was sie seyn könnten. Die medicinische Polizei […] hat nichts anderes zu thun, als diese Reinigungsbäder ihrer ursprünglichen Bestimmung entsprechend erbauen zu lassen“ (Braun, „Tauchen“, S. 172). Zu Braun vgl. auch weiter unten, insbesondere Kapitel 6.1.2.
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Mittheilung eines Contagiums.“26 Während mit „Erkältung“ der gesamte Komplex von Krankheiten infolge des kalten Wassers gemeint ist, bringt Mombert mit „Eckel“ und „Mittheilung eines Contagiums“ zwei neue Elemente in den Diskurs ein.27 Beide sollten den medizinischen Diskurs fortan prägen, wiesen aber auch schon über diesen hinaus, indem besonders der in verschiedenen Zusammenhängen verwendete Begriff „Eckel“ an die bürgerliche Erfahrungswelt und deren Wertekanon anknüpfte. Momberts Verdienst war es, auf diese Weise die Mikwen zugleich aus der Zugehörigkeit zum Bäderdiskurs herauszuheben und sie, vom medizinischen Kontext ausgehend, erstmals in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen; hierauf soll in Kapitel 6.1.2 zur ‚Verbürgerlichung‘ der Mikwe genauer eingegangen werden.
26 Moritz Mombert, „Bad“, S. 283. Für den Einfluss der Mombertschen Triade auf die medizinische Literatur der Zeit siehe Tabelle 4b (Anhang I). Beispiele für die Verwendung der Formel auf regionaler Ebene sind der Bericht Dr. Dürrs zu der Mikwe im württembergischen Steinbach vom 19.3.1839, der Bericht der Regierung des Jagstkreises vom 13.5.1842, sowie die Berichte des Medizinal-Collegiums an das Innenministerium vom 16.2.1843 und vom 2.6.1846. Dr. Dürr, der die Mombertsche Formel in den behördlichen Schriftverkehr in Württemberg eingeführt hat, zitiert diesen dabei nicht wörtlich, sondern nennt verschiedene Folgen durch Erkältung, sodann „Ekel“ und „Mittheilung eines Anstekungsstoffes“. In dem hierauf gründenden Bericht der Regierung des Jagstkreises orientiert man sich wieder mehr an Mombert, indem man „Erkältung Eckel, und Mittheilung eines Contagiums“ anführt. Siehe StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Dürr über die Mikwe in Steinbach vom 19.3.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Hall vom 23.3.1839); Bericht der K. Regierung für den Jagstkreis in Ellwangen vom 13.5.1842; StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des Medizinal-Collegiums vom 16.2.1843[?]; Bericht des Medizinal-Collegiums vom 2.6.1846. 27 Außerhalb des medizinischen Diskurses hatte allerdings Elias Birkenstein bereits 1822, somit sechs Jahre vor Mombert, auf die Gefahr der Ansteckung durch verunreinigtes Mikwenwasser hingewiesen (Verbesserung, S. 82; zu Birkensteins Hintergrund vgl. unten Anm. 54). Die Gefährdung durch über die Haut in den menschlichen Körper eindringendes Badewasser, und damit auch von Krankheiten, stellt in der medizinischen Fachwelt einen alten Topos dar, der nun mit der Wiederbelebung der Bäderkultur an der Wende zum 19. Jahrhundert, und unter dem Einfluss der bürgerlichen Reinlichkeitskultur, unter leicht geänderten Vorzeichen neu aufgegriffen wurde. Insbesondere erscheint er nun in Verbindung mit Ekel oder einem möglichen Auslöser hiervon, z. B. einem „starken widrigen Geruch“. So schreibt Zwierlein in Ueber die neuesten Badeanstalten 1803 (S. 78): „Durchaus schädlich ist es, im nämlichen Wasser, worin schon Jemand gebadet hat, zu baden, welches Viele thun, besonders Kammerjungfern und Bedienten, um die Kosten für das Bad zu ersparen. Ein solches schon gebrauchtes Badwasser ist von den Ausdünstungen des Badenden so angefüllt, daß man einen starken widrigen Geruch bald an demselben wahrnimmt, und solches Wasser weit schneller in Fäulung geräth als anderes gewärmt gewesenes Wasser. Diese Unreinigkeiten bekäme der Andere durch die einsaugenden Gefäße in seinen Körper.“ In seiner Schrift Winke zur Verbesserung öffentlicher Brunnen- und Badeanstalten von 1802 nennt J.C.H. Ackermann eine solche Praxis unumwunden „ekelhaft und schädlich“ (S. 23). Zur Bedeutung des Ekels im bürgerlichen Kontext vgl. auch weiter unten Kapitel 6.1.2 zur Verbürgerlichung der Mikwe.
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Die Mikwe aus sozialhygienischer Sicht
Innerhalb der medizinischen Welt hingegen fand Momberts Appell nicht zuletzt deshalb Gehör, weil er den Diskurs über die Mikwen um das zukunftsweisende Element der Hygiene erweiterte, das in der entstehenden bürgerlichen Welt zunehmend an Bedeutung gewann, und zwar sowohl auf der privaten Ebene der Körperhygiene (Individualhygiene) als auch der gesellschaftspolitisch relevanten Sorge für ein gesundes Lebensumfeld (Sozialhygiene). Waren es für den Bereich der Individualhygiene populäre Schriften wie Hufelands Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern von 1796/97, so erhielt die Sozialhygiene entscheidende Impulse vor allem aus der Erfahrung der Choleraepidemie seit den 1830er Jahren, später zudem den Prozessen der Industrialisierung und Verstädterung.28 Wie die in Kapitel 4.2.2 erwähnten Beispiele Fürth und Homburg zeigen, wurde den Behörden angesichts der ersten Cholerawelle auch die Dringlichkeit der Sanierung der Mikwen erneut bewusst. Dabei ist einerseits Momberts Verwendung des Begriffs „Contagium“ und das dahinter stehende Konzept der Krankheitsübertragung durch Keime für diese Zeit relativ fortschrittlich,29 so dass man die Ansteckungsgefahr bisweilen als weniger relevant einstufte, wie das Gutachten des württembergischen Medizinal-Collegiums von 1843 zeigt. Hierin bezieht man sich (indirekt, ohne namentliche Nennung) auf Momberts Formel, kommt aber zu folgender Einschätzung der Gefahren: Daß die Tauchbäder in vielen Fällen durch Erkältung schädliche Folgen nach sich ziehen müssen, scheint uns außer allem Zweifel zu liegen. […] Von geringerer Bedeutung erscheint uns die Befürchtung, daß auch der Ekel, den die Bäder rege machen können, von üblen Folgen sein möchte, wiewohl sich nicht in Abrede ziehen läßt, daß der Ekel, besonders wenn er mit anderen gesundheitsstörenden Einflüssen, insbesondere Ansteckungsstoffen, gleichzeitig einwirkt, eine mächtige Krankheitsursache abgibt, u. der Zustand vieler Judenfrauenbäder ganz geeignet ist, jene krankhafte Affektion des Gemeingefühls bei Personen, die mit diesen Anstalten noch nicht vertrauter geworden sind, in ausgezeichnetem Grade hervorzurufen. Die Befürchtung, daß die israelitischen Frauenbäder bei mangelhafter Einrichtung auch zur Verbreitung kontagiöser Übel beitragen könnten, betreffend, bezweifeln wir, ob von diesem Gesichtspunkt aus eine Vorkehrung von Seiten der medicinischen Polizei angezeigt
28 Siefert, „Hygiene“, S. 647f. 29 Anzumerken ist hierbei, dass man in der Kontagienlehre zunächst an unbelebte kleinste Partikel, die ‚seminaria morbi‘ von Girolamo Fracastoro (1478–1553) dachte; erst mit Erfindung des Mikroskops im 17. Jahrhundert brachte man auch organische Erreger ins Spiel, was dann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Jakob Henle (1809–1885) in seiner Idee vom ‚contagium vivum‘ wieder aufgriff; vgl. hierzu Wolfgang Eckart, Medizin, S. 113, 211; Köhler, „Infektionskrankheiten“, S. 669; Gudermann, „Miasmen“, unpag.
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sei, indem es durch keine Thatsachen konstatirt ist, daß mit einer verhältnismäßig sehr bedeutenden Menge Wasser diluirte Kontagien noch die Fähigkeit anzustecken besitzen.30
Die Problematik der Mikwen scheint aus dieser Sicht in der Hauptsache, wenn auch nicht ausschließlich, wieder auf die Kälte des Wassers reduziert, während die Gefahr durch Kontagien zwar nicht negiert wird, aber doch als vernachlässigbar erscheint. Andererseits mussten selbst überzeugte Gegner der Kontagienlehre, die von dem alten Konzept eines schädlichen Miasmas durch Ausdünstungen von Boden und stehendem Wasser ausgingen,31 angesichts der Bedrohung durch die Cholera zu dem Schluss kommen, dass die Situation der Mikwen dringend verbesserungsbedürftig sei. Auch schlossen sich die Kontagienlehre und die noch vorherrschende Miasmatheorie nicht grundsätzlich aus, sondern konnten sich in bestimmten Bereichen durchaus ergänzen;32 und insofern als Mombert die Kontagienlehre in der Tradition von Girolamo Fracastoro (1478–1553) in erster Linie mit der Gefahr der „venerischen Seuche“, d. h. der Syphilis verbindet, bleibt er letztlich auf medizintheoretisch sicherem Terrain.33 Ganz allgemein stellt er nicht nur sein Werk auf eine breite Basis von seinerzeit gängigen Theorien, sondern trifft auch den Nerv der Zeit: Indem er nicht allein die Ansteckungsgefahr, sondern mehrfach auch die Bedeutung reiner Luft für die Gesundheit hervorhebt, nährt er zugleich die ältere Miasmatheorie.34 In seinen Ausführungen zur Haut als wichtigstes Reinigungsorgan des menschlichen Körpers folgt er unübersehbar dem großen Vorbild Hufeland.35 Auch
30 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Bericht des Medizinal-Collegiums vom 16.2.1843[?]. 31 Zu Miasmatheorie und Kontagienlehre siehe Wolfgang Eckart, Medizin, S. 113, 209, sowie Gudermann, „Miasmen“, unpag. 32 So verwarf selbst Jakob Henle, der 1840 die Idee von lebendigen Mikroorganismen als Krankheitserregern (‚contagium vivum‘) wieder neu belebte, die Miasmatheorie nicht vollständig; vielmehr ging er davon aus, dass manche Krankheiten rein miasmatisch (z. B. Malaria), andere miasmatischkontagiös (z. B. Cholera) bedingt seien, während er unter anderem die Syphilis als rein kontagiös einstufte. In der Praxis hatten sich beide Konzepte bereits seit der Frühen Neuzeit als „durchaus kompatibel“ erwiesen; siehe Gudermann, „Miasmen“, unpag. 33 Der Veroneser Arzt, Astronom und Dichter Girolamo Fracastoro (1478–1553) gilt als erster Vertreter einer frühen Variante der Keimtheorie. Der heutige Name der im 16. Jahrhundert anscheinend neu auftretenden Syphilis geht zurück auf ein Lehrgedicht Fracastoros von 1530, in dem er den Hirten Syphilus (Ovid, Metamorphosen) als erstes Opfer dieser Krankheit darstellt. In seinem 1546 erschienen dreibändigen Werk De contagionibus et contagiis morbis et eorum curatione entwickelt er daraufhin seine Theorie, dass bestimmte Krankheiten durch Keime, die ‚seminaria morbi‘ (vgl. oben Anm. 29), übertragen würden; dies geschehe von Person zu Person etwa durch Kleidung, durch verseuchte Materialien oder selbst über größere Distanzen hinweg durch die Luft. Vgl. Gerabek, „Syphilis“, S. 1371–1374; Wolfgang Eckart, Medizin, S. 111–113, 208–210. 34 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 10f u.ö. 35 Ebd., S. 4f, 37 u.ö.
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seine geschichtliche Darstellung der Bäderkultur, mit der zentralen These, dass die mittelalterliche Badepraxis den von den Kreuzfahrern eingeschleppten orientalischen Aussatz besiegte, und die ausdrückliche Empfehlung der lauwarmen Bäder als „die zweckmäßigsten für unsere Constitution und Klima“ knüpfen deutlich an Hufeland an.36 Aus medizinhistorischer Sicht ist selbst Momberts Identifizierung des antiken Aussatzes, von ihm zur „Nationalseuche“37 der Israeliten erklärt, mit der zeitgenössischen Syphilis nicht außergewöhnlich. Zwar berichtet schon Johann Georg Krünitz 1778 in seiner monumentalen Oekonomischen Encyklopädie die noch heute populäre Anschauung, die Syphilis sei erst 1494 von Amerika nach Neapel eingeschleppt und von dort aus durch die eindringende Armee Karls VIII. verbreitet worden,38 jedoch gab es immer auch gegenteilige Meinungen, die von einem Vorkommen bereits im antiken Abendland ausgingen bzw. noch ausgehen.39 Mombert selbst beruft sich mit seiner Theorie auf bekannte (namentlich jedoch nicht genannte) Autoritäten seiner Zeit: Männer von großer Gelehrsamkeit und Ansehen behaupten in neuerer Zeit, daß die venerische Krankheit nichts als ein degenerirter Aussatz sey, denn um die Zeit, wo der Aussatz in Europa immer mehr und mehr verschwand, bildete sich unter gewissen Umständen die Venerie aus, und wirklich findet man noch jetzt zwischen dem ausgebildeten Aussatze und der vollendeten venerischen Krankheit sehr viel Ähnlichkeit […].40
In Verbindung mit dem Mikwendiskurs wird diese Theorie in ähnlicher Weise insbesondere von Schneider und dem preußischen Militärarzt Johann Peter Trusen (1797–1857)41 vertreten. So schreibt Schneider 1825, „daß die Syphilis in heißen
36 Ebd., S. 17–21, 42; Hufeland, „Nöthige Erinnerung an die Bäder“, 1790, S. 377–386. 37 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 28; siehe zu diesem Aspekt auch Kapitel 6.1.2. Zu den Ursprüngen christlicher Polemik, wonach Juden in besonderer Weise vom Aussatz betroffen seien, vgl. Jütte, Leib und Leben, S. 280f. Für die besondere Tradition der Verbindung von Juden mit Syphilis (und Unsauberkeit) im neuzeitlichen Denken siehe Gilman, Freud, Identität und Geschlecht, S. 101, zum medizinischen Diskurs des späten 19. Jahrhunderts über die Verbreitung von Syphilis unter Juden und zu der vorausgegangenen Debatte über das Ansteckungsrisiko durch die Beschneidung ebd., S. 101–113. 38 Vgl. „Franzosen, Franzosen-Krankheit“, in: Krünitz (Hg.), Encyklopädie, Bd. 14, S. 751–777, hier S. 751. 39 Laut Wolfgang Eckart schließt sich die heutige Forschung durchgehend der These des amerikanischen Ursprungs an; nach Werner E. Gerabek lässt sich die Frage hingegen nicht entscheiden; siehe Eckart, „Syphilis“, unpag.; Gerabek, „Syphilis“, S. 1372. 40 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 71f. 41 Zu den wenigen bekannten biographischen Daten Trusens siehe [Gruenfeld], „Trusen, Johann Peter T.“, S. 19.
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Ländern sehr gerne in den Aussatz übergehe, der bei den Juden ehemals ein fast habituelles Uebel war.“42 Nach Trusens Darstellung der biblischen Krankheiten und der auf die Medicin bezüglichen Stellen der heiligen Schrift (Posen 1843) wurde der orientalische Aussatz „nach der Mitte des funfzehnten Jahrhunderts durch die Lustseuche verdrängt und modificirt“43 . Nicht zuletzt deshalb, weil verschiedene Geschlechtskrankheiten oft als Mischinfektion auftraten, war die genaue Abgrenzung untereinander zu Momberts Zeit noch weitgehend unerforscht.44 Auch war die Ausbreitung der Syphilis im 16. und 17. Jahrhundert „derart desaströs“, dass man selbst besser bekannte Krankheiten häufig hierunter subsumierte und lediglich als eine von vielen Erscheinungsformen des „morbus venereus“, der Venerischen Krankheit, betrachtete; erst Ende des 19. bzw. Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte man schließlich die unterschiedlichen Erreger der Gonorrhö, des weichen Schankers und der Syphilis.45 Bis dahin bot sich Raum für verschiedenste medizinische und historische Spekulationen, genährt durch die nach wie vor bedeutende Dimension des Problems. So schreibt wiederum Krünitz in seiner Enzyklopädie: Bis zum Erstaunen erfährt man es oft in volkreichen Städten von den Aerzten, wie sehr die venerischen Krankheiten um sich greifen, und wie sehr darunter die bürgerliche Gesellschaft, theils durch Verminderung der Zeugungskräfte, theils durch Hervorbringung ungesunder und unbrauchbarer Kinder, leidet. Da nun aber dieses unwidersprechlich ist: so gehört es auch wohl zur ersten Sorge der Stadtväter, alle ersinnliche Anstalten vorzukehren, um der Ausbreitung dieses Unglücks Gränzen zu setzen.46
In diesem unklaren Grenzverlauf zwischen antikem Aussatz und verschiedensten Geschlechtskrankheiten der Moderne wies noch ein weiterer Faktor in Richtung der von Mombert hergestellten Verbindung, nämlich die weit verbreitete Annahme, dass auch das jüdische Volk der Gegenwart in besonderer Weise von Hautausschlägen betroffen sei. Man liest beispielsweise in Franks System einer medicinischen Polizey: Man überdenke das Schicksal des so besonders unreinen jüdischen Volkes, von seinem Ausgang aus Egypten an, bis auf unsere Zeiten, und sehe dann, ob, die einzigen Egypter
42 P.J. Schneider, „Religionsgebräuche“, S. 240. 43 Trusen, Darstellung der biblischen Krankheiten, S. 113. Schon vor Herausgabe dieser Schrift beschäftigte sich Trusen eingehend mit der Entstehung der Syphilis und möglichen verwandten Krankheitsformen im Altertum in seinem Artikel „Erläuterung einiger Stellen der heiligen Schrift, die auf die Medicin Bezug haben“ (1842). 44 Gerabek, „Gonorrhö“, S. 503. 45 Ebd. 46 „Franzosen, Franzosen-Krankheit“, in: Krünitz (Hg.), Encyklopädie, Bd. 14, S. 751–777, hier S. 760f.
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ausgenommen, je eine andere Nation so vielerlei äusserlichen Gebrechen und Hautkrankheiten unterworfen gewesen seye, als eben der Israelite […].47
In Schneiders Aufsatz Medizinisch polizeiliche Würdigung einiger Religionsgebräuche und Sitten des israelitischen Volkes findet sich diese Ansicht unter anderem in der Aussage, dass „die Juden eine gleichsam angeborne Neigung zu langwierigen und eckelhaften Hautausschlägen“ hätten, weshalb beispielsweise auch die Speisegebote von besonderem Scharfblick zeugten.48 Wenngleich Schneider somit von ähnlichen theoretischen bzw. medizingeschichtlichen Prämissen ausgeht wie Mombert, so fehlen bei ihm doch die beiden Faktoren „Ekel“ und „Ansteckungsgefahr“ , die erst Mombert durch seine formelhafte Triade als wesentliche Attribute der Mikwe popularisiert. Trotz seiner umfangreichen Aufzählung von Krankheitsfolgen, die etwa eine Seite umfasst, ist der Bereich der Infektionskrankheiten bei Schneider noch völlig ausgeklammert. Auch die von ihm genannten „bösartige[n] chronische[n] Hautausschläge des ganzen Körpers“49 betrachtet er lediglich als individuelle Folge des Untertauchens im kalten Wasser, nicht als übertragbare Krankheit.50 Der inszenierte Gang in die Mikwe
Nichtsdestotrotz prägt Schneider die Mitte der 1820er Jahre beginnende Phase des Mikwendiskurses fast ebenso stark wie Mombert, was sich nicht zuletzt an der Häufigkeit ableiten lässt, mit der auf ihn Bezug genommen bzw. aus seiner Schrift zitiert oder abgeschrieben wird (vgl. hierfür sowie im Folgenden die Übersichtstabelle 4b, Anhang I). Schneider ist der erste, der sich mit einer Beschreibung der Mikwen aus eigener Anschauung an ein größeres Publikum wendet, indem er das Medium einer verbreiteten medizinischen Fachzeitschrift wählt. Neben Momberts beiden Texten dient Schneiders Schrift in der Folgezeit gewissermaßen als Fixpunkt der Mikwendarstellungen; erstmals erscheint hier die Mikwe als ein unverkennbar negativ konnotierter Gegenort zur normalen, sicheren Welt des Bürgertums, wie die folgenden zwei Passagen zeigen: So weit ich bis jetzt Gelegenheit fand die israelitischen Bäder zu besichtigen, lehrte mich die Autopsie, daß diese leider nichts als tiefe, kalte und finstre Gruben sind, die an den
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Frank, System einer vollständigen medicinischen Polizey, Bd. 3, S. 919. P.J. Schneider, „Religionsgebräuche“, S. 267; ähnlich auch ebd., S. 241f. Ebd., S. 251. Interessanterweise nennt Schneider jedoch die Ansteckungsgefahr durch Syphilis im Zusammenhang mit der Beschneidung („Religionsgebräuche“, S. 233). Zur Syphilis im Kontext der Beschneidungsfrage siehe Judd, Contested Rituals, S. 104 u.ö.
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Kellern des Gebäudes aufgeführt, entweder wie eine Cisterne angefüllt sind, oder in welche von aussen her fließendes Wasser aus Gräben oder Bächen, meist von sehr unreiner Art, hineingeleitet wird. In eine solche unterirdische und finstre Badgrube, die meist schlecht ausgemauert ist, und wohin zehn bis sechszehn steinerne Stufen hinunterführen, muß sich nun die Frau, welche das Wochenbett kaum überstanden, und die, welche kürzlich ihre Periode oder einen Gebährmutterblutsturz erlitten hatte, hineinbegeben, nachdem sie sich vorher ganz entkleidet hat, und auch nicht einmal einen Ring am Finger oder in den Ohren behalten darf, wenn die ganze Ceremonie dadurch nicht ihre ganze Kraft und Bedeutung verlieren soll. Nun steigt die ganz entblöste Israelitin langsam die Stufen in das Wasser hinunter, bis sie endlich eine solche Tiefe erreicht, daß sie mit geringer Mühe den ganzen Körper einigemal ganz im Wasser untertauchen kann, worauf sie sodann das Bad verläßt, sich schnell ankleidet, und zu den ihrigen nach Hause geht. […] Und eine solche Badkur muß zu jeder Jahreszeit bei Sturm und Ungewitter, im schwülen Sommer, wie im eisigen Winter und ohne Rücksicht des Subjects vorgenommen werden, wenn dieses wieder rein zu werden verlangt, welches ohne auffallende Verletzung des Gesetzes und ohne allgemeine Verachtung von Seiten der jüdischen Gemeinde nicht unterlassen werden darf.51 — Man stelle sich nur eine Israelitin vor, die bei schlechter, und nicht hinlänglicher Nahrung, so eben ihre Periode glücklich überstand, – deren durch kümmerliche Lebensweise nothwendig bedingte allgemeine Schwäche noch vermehrt und mit pathologisch gesteigerter Sensibilität gepaart ist – jetzt in einem solchen Zustande eines wahren allgemeinen Uebelbefindens zu jeder Jahreszeit sowohl bei der schwülsten Hitze, als bei der erstarrenden Eiskälte, so wie bei Stürmen und Gußregen sich zur kalten, finstren, unheimlichen, unterirdischen und mit keiner Bequemlichkeit versehenen Badkloake begeben und sich völlig entkleidet in dem meist eiskalten Wasser einigemahl ganz untertauchen muß, und man schaudert schon bei der nur geschichtlichen Erzählung dieser Ceremonie. Durch ein solches schnelles und plötzliches Untertauchen unter ein mit der Temperatur des menschlichen Körpers oft in gar keinem Verhältnisse stehendes Sumpfwasser, in einer finstern und Erstarren bringenden Höhle, wird entweder die allgemein pathologisch aufgeregte Sensibilität des Gesammtorganismus plötzlich und gänzlich darniedergedrückt und gleichsam gelähmt, oder es wird dadurch eine pathologisch erhöhte Sensibilität hervorgerufen, die den ersten und wichtigsten Grund zu lange anhaltenden schmerzhaften und spasmodischen Krankheitsformen, zur Hysterie, zu Rheumatismen, zur Gicht, zu Schwindel u.s.w. legt.52
51 P.J. Schneider, „Religionsgebräuche“, S. 246–248 (Hervorhebungen nicht im Original). 52 Ebd., S. 250f (Hervorhebungen nicht im Original).
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Wie bereits bei der frühen Beschreibung von Wolf 1777 fallen wiederum besonders die beiden Wortfelder von Hitze und Kälte ins Auge und kennzeichnen somit auch diese zweite Phase des Mikwendiskurses als dem Bäderdiskurs verpflichtet (kalt 2x, eisig, Eiskälte, eiskalt vs. schwül, schwülste Hitze). Hinzu treten jedoch noch drei weitere Charakteristika, die ebenfalls in dieser Phase das Bild des Tauchbads prägen, nämlich 1) die äußerste Unwirtlichkeit des Ortes, der häufig als gefährlich oder besonders unrein dargestellt wird, 2) der Bereich der körperlich-emotionalen Reaktionen als eine quasi spontane, allein aus der Anschauung entstehende Bewertung des Betrachters, sowie 3) das emotionale Motiv des Ausgeliefertseins an eine unbarmherzige Macht, eng verbunden mit körperlicher Nacktheit. Dabei ist zwar das Element der Nacktheit zunächst neutral zu werten, da das jüdische Gesetz dies so vorschreibt, allerdings erhält es innerhalb der Texte häufig eine neue Qualität, die bei Schneider sehr deutlich zu erkennen ist. Insgesamt wiederholt er diese Tatsache dreimal (ganz entkleidet, ganz entblöst, völlig entkleidet), nochmals verstärkt durch den Hinweis, dass selbst kleinste Schmuckstücke vor dem Untertauchen abzulegen sind. Zugleich wird an dieser Stelle von Schneiders Darstellung der Inszenierungscharakter sehr gut sichtbar: Die völlig nackte Frau steigt nun „langsam die Stufen in das Wasser hinunter“ – warum aber langsam? Anders als im Fall des „schnellen“ Ankleidens nach dem Bad ist die Begründung hierfür weniger offensichtlich. Natürlich mögen die Furcht vor dem kalten Wasser, die Steilheit oder die Kälte der Stufen das langsame Herabsteigen bewirken; allerdings ist zumindest in diesem Fall nicht von einer besonders steilen oder gefährlichen Treppe die Rede, und angesichts der beschriebenen Tiefe (10–16 Stufen) könnte eine fröstelnde Frau stattdessen auch geneigt sein, zügig hinabzusteigen. Schneider wählt aber bewusst das Adverb „langsam“, um dem Geschehen eine ganz bestimmte Dynamik bzw. Dramatik zu geben. Der gesamte Satz gliedert sich inhaltlich in zwei ungleich lange Hälften, das Hinabsteigen (34 Wörter) und das Verlassen des Bades mit Ankleiden und Heimweg (16 Wörter); ersteres geschieht „langsam“, letzteres „schnell“, was über die bloße Satzlänge hinaus zunächst auf semantischer Ebene durch die beiden enthaltenen Adverbien signalisiert wird. Dieser hierdurch aufgebaute Gegensatz wird jedoch noch durch weitere, weniger ins Auge fallende stilistische Mittel verstärkt. Auf syntaktischer Ebene gibt die rasche Verbfolge verlässt – ankleidet – geht in der zweiten Hälfte, bedingt durch die Kürze der drei Teilsätze, das Tempo dieses ‚Abspanns‘ vor, während entsprechende syntaktische und lexikalisch-semantische Mittel in der ersten Satzhälfte die Zeit künstlich in die Länge ziehen: „Nun steigt die (ganz entblöste) Israelitin (langsam) die Stufen in das Wasser hinunter, bis sie (endlich) eine solche Tiefe erreicht, daß sie (mit geringer Mühe den ganzen Körper einigemal ganz) im Wasser untertauchen kann […].“ Mit dem „langsam“ korrespondiert auf semantischer Ebene das „endlich“, das Demonstrativpronomen „solche“ eröffnet inhaltlich den mit „dass“ eingeleiteten Finalsatz. Innerhalb des hierdurch umrissenen komplexeren Satzgefüges mit zwei Nebensätzen bringen die
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vielen, syntaktisch nicht nötigen Einschübe (in Klammer) den Lesefluss ins Stocken; der sich beim Leser einstellende Gesamteindruck ist ein langsames Voranschreiten, das sich gegen bestimmte Widerstände zu behaupten hat – ganz wie das Hinabsteigen der unbekleideten Frau. Schneider beschreibt nicht einfach, er gestaltet, fast ebenso plastisch wie ein Filmregisseur, eine von ihm geschaffene Illusion von Wirklichkeit, nämlich den langsamen Abstieg zum Tauchbecken. Diesen macht er mithilfe einfacher sprachlicher Mittel ‚erfahrbar‘ und lenkt zugleich geschickt den Blick des Rezipienten, der verhältnismäßig lange auf der entkleideten Frau verweilt. Die durch das verzögerte Tempo eindrücklich in Szene gesetzte Nacktheit, das Fehlen einer schützenden Hülle, ist aber zugleich ein universelles Symbol für Verwundbarkeit und korrespondiert als solches wiederum mit dem ebenfalls betonten Ausgeliefertsein an die Kräfte der Natur. Nur kurz wird die Frau in die schützende Sphäre ihres Hauses entlassen, bevor sie Schneider auch schon den unbarmherzigen Elementen aussetzt: neben den gewöhnlichen jahreszeitlichen Extremen von schwüler Hitze und eisiger Kälte noch „Sturm und Ungewitter“, auf dem Hinweg zur Mikwe (zweite Passage) auch „Stürmen und Gußregen“. Die sich hierin offenbarende Härte der Vorschriften, die Schneider zudem durch die Formel „ohne Rücksicht des Subjects“ zum Ausdruck bringt, thematisieren auch andere Texte dieser Phase, teils durch ähnliche Beschreibungen von Nacktheit und/oder Naturgewalten, teils auf andere Weise. Ein besonders eindrückliches Bild ist beispielsweise das der Frau mit Hacke oder Axt in der Hand, dessen Ursprung sich über Johann Jakob Schudts Beschreibung von 1714 bis auf das Werk des Konvertiten Christian Gerson Der Jüden Thalmud von 1609 zurückverfolgen lässt.53 Mombert, der es in seinen beiden Schriften verwendet, übernimmt es nach eigenen Angaben aus dem Werk Freimüthige Gedanken über den Geist des Judenthums (1818) des jüdischen Pädagogen und Aufklärers Elias Birkenstein (1778–1854)54 , wobei allerdings das Werkzeug erst von Mombert hinzugefügt wird, es findet sich in keiner der drei
53 Schudt schreibt, dass die Frauen oftmals „im Winter das dicke Eiß müssen auffhauen“. Er bezieht sich an dieser Stelle auf Gersons Werk Der Jüden Thalmud, das er als Quelle angibt und dem er mehr oder weniger wortwörtlich folgt; siehe Schudt, Merckwürdigkeiten, Bd. 2, S. 422 (6. Buch Kapitel 24); Gerson, Der Jüden Thalmud, S. 319. 54 Zu den wenigen biographischen Daten, insbesondere den beruflichen Stationen im hessischen Raum und seiner schwierigen Position als religiös liberal eingestellter jüdischer Schullehrer, vgl. „Birkenstein, Elias Lehrer“, in: Heuer (Hg.), Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, S. 3–5. Nach dem Eintrag in Biographisch-literarisches Lexikon der Schriftsteller des Großherzogtums Hessen von 1831 erhielt er schon früh Unterricht in deutscher Sprache und eine umfassende Bildung durch einen von seinem Vater angestellten „christlichen Gottesgelehrten“. Dessen Einfluss sei nicht nur sein wissenschaftliches Streben, sondern auch seine aufklärerische Kritik an den Lehren des Talmud zuzuschreiben; siehe „Birkenstein“, in: Scriba (Hg.), Biographisch-literarisches Lexikon, S. 25–28, hier S. 25f.
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Vorlagen. So heißt es etwa bei Birkenstein: „Es geschiehet da sehr oft, daß sie in der strengsten Jahreszeit auf Stunden weit gehen, und da erst einen zugefrornen Bach aufhacken müssen, wo sie sich hernach nackt unterzutauchen haben.“55 Innerhalb des medizinischen Diskurses wird das Motiv später bei Johann Baptist Friedreich (1848), Johann Peter Trusen (1853) und Reuben Joseph Wunderbar (1860/1865) zitiert,56 und zwar nach der Version in Momberts Monographie von 1828: Welche gräßliche Folgen muß nicht dieß Gebot für jene zahllose Klasse unglücklicher jüdischer Frauen haben, die auf Dörfern oder Städtchen einzeln leben, zu arm sind sich ein Bad bauen zu lassen, die im Winter die Hacke in der Hand stundenweit einen Bach oder Fluß aufsuchen müssen, sich in die Eisdecke ein Loch einzuhauen genöthigt sind, sich nackt hineintauchen, um dem Rabbinismus zu huldigen?!57
Schon die Vorstellung an sich von einer gemeinhin als hilflos und ‚schwach‘ angesehenen jungen Frau mit der Hacke, und mehr noch dem brutalen Werkzeug der Axt wie bei Mombert 1830, ist geeignet, auf die Extremität der Umstände aufmerksam zu machen, die dies erfordern. In dem hier wiedergegebenen Abschnitt aus Momberts Schrift von 1828 verbindet sich das Motiv der Nacktheit und des Ausgeliefertseins mit der offen ausgesprochenen Kritik an den Rabbinern, die für solcherlei unbarmherzige Gesetze verantwortlich sind. In ihrer Stoßrichtung, wenn auch nicht in ihrer sprachlichen Ausformung, ist diese Kritik vergleichbar mit den bereits betrachteten Darstellungen in amtsärztlichen Berichten über Mikwen aus
55 [Birkenstein], Geist des Judenthums, S. 3. Nichtsdestotrotz thematisiert auch Birkenstein ausdrücklich die Strenge und Härte des jüdischen Religionsgesetzes, das er an dieser Stelle als „hart, unmenschlich und schaudererregend“ charakterisiert. Darüber hinaus findet sich das Bild von der Frau, die im Winter das Eis aufhacken muss, noch in zwei weiteren seiner Werke: in der umfangreicheren aufklärerischen Schrift Ueber die moralische Verbesserung der Juden von 1822 (S. 82) und im Vorwort von Gründliche Belehrung über das Baden der Judenweiber von 1826 (S. iv–v). In dem Werk von 1822 wertet er in diesem Kontext ebenfalls die rabbinischen Gesetze als „unmenschlich“ (2x) bzw. „hart“. 56 Friedreich, Zur Bibel, S. 146; Trusen, Sitten, Gebräuche und Krankheiten, S. 19; Wunderbar, Biblischtalmudische Medicin, Riga/Leipzig 1860, S. 33. Zu den genannten Autoren und ihren Werken vgl. Tabelle 4a und 4b sowie weiter unten, Abschnitt Die Spätphase des medizinischen Diskurses. Auch Herrmann Wolff berichtet 1838 in ähnlicher Weise, dass sich manche Frauen mangels geeigneter Mikwen im Wasser gefrorener Flüsse untertauchen müssen. Er schreibt explizit, dies sei in „des Verfassers Gegend“ (dem Herzogtum Nassau) der Fall, kopiert also hierin nicht einfach Mombert („Zustand der Judenfrauenbäder“, S. 177). 57 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 53. Momberts Artikel von 1830 nennt stattdessen eine Frau mit Axt in der Hand, auch der Wortlaut ist etwas anders („Bad“, S. 293); an dieser Stelle verweist Mombert auf Birkensteins Geist des Judenthums.
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Württemberg, in denen man den verantwortungslosen Umgang mit der Gesundheit jüdischer Frauen hervorhebt.58 Ein weiteres Bild Momberts gehört in diesen Kontext der Mikwe als eines Ortes, der in dem genannten Sinn für Rücksichtlosigkeit und Härte steht, nämlich das der unbarmherzigen Mikwenfrau, die auf das halachisch korrekte Untertauchen zu achten hat. Die hier folgende Stelle entstammt ebenfalls Momberts Text von 1828: Wir wollen nun annehmen, daß eine Frau im Winter, bei einer Alles erstarren machenden Kälte, durch mehrere Straßen gegen Abend nach dem Hause sich verfügt, worin sie baden soll; sie entfernt sich also aus der warmen Stube, geht durch die kalte Luft bis zu dem bestimmten Orte, wo sie oft zähneklappernd ankommt; hier wärmt sie sich in der Regel erst bei der Eigenthümerin, bis ihr der Schweiß von der Stirne fließt, (auf dem Lande ist dieß fast immer so der Fall) dann begiebt sie sich in den kalten dunstigen Keller, wo gewöhnlich Kartoffeln, Rüben, Obst u.s.w. in großen Massen aufgeschichtet sind und mit ihren Ausdünstungen die Luft erstickend machen, dann, wenn es zu Hause nicht schon geschehen, badet sie hier in der Wanne, gewöhnlich so warm, als sie es nur vertragen kann, und steigt hierauf die Stufen hinab in die Quelle, nicht etwa um sich hier vollends zu säubern; nein! Sie geht bis zum Gürtel nur hinein, ein altes Weib nimmt die junge Dame dann beim Schopfe und stößt sie ohne Barmherzigkeit bis unter den Wasserspiegel, wenn sie nicht selbst die Kunst unterzutauchen versteht. […] Wehe aber der Armen, wenn unglücklicherweise auch nur ein einziges Härchen des Kopfes unbenetzt geblieben ist, denn sie wird ohne Erbarmen zum zweiten- und zum drittenmale hinabgestoßen, bis der Wasserspiegel den ganzen Kopf bedeckt; ist nun die Frau glücklich aus dem Wasser heraus, so trinkt sie etwas Kaffee oder Spirituöses, geht in der eisigen Kälte wieder nach Hause, und legt sich vor Frost zitternd zu Bette.59
Die Unbarmherzigkeit des Vorgehens äußert sich hier nicht nur in der tatsächlichen Wiederholung der Wortwurzel (ohne Barmherzigkeit, ohne Erbarmen) und der potentiellen des Stoßens (stößt, hinabgestoßen), sondern ebenso in der Dramatik des beschriebenen Untertauchens, die fast der württembergischen Titulierung als „Mördergrube“60 recht zu geben scheint. Das Diktum des Apostels Paulus, wonach das strenge jüdische Gesetz tötet,61 erscheint im Diskurs über die Mikwe als Topos
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Vgl. Kapitel 4.2.1.3. Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 48–50 (Hervorhebungen nicht im Original). Vgl. Kapitel 4. Wörtlich heißt es in 2 Kor 3,5–6: „Nicht dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber; sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott, der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ (Luther 1984). Vgl. auch die Argumentation von Propst Teller in seiner Antwort auf das viel beachtete Sendschreiben David Friedländers von 1799: „[…] der
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der unbarmherzigen Rabbiner bzw. ihrer Vorschriften und findet in der hierunter leidenden Frau einen geeigneten bildlichen Ausdruck. So sehr aber auch dieses Bild den aufklärerischen Vorwurf der Rücksichtlosigkeit oder gar Unmenschlichkeit des rabbinischen Judentums stützt und trägt, darf es doch als ein einzelner Puzzlestein im Gesamtbild der Mikwe nicht überbewertet werden. Die Bedeutung des Motivs unterstreicht bereits Thomas Schlich in seinem Aufsatz Die Medizin und der Wandel der jüdischen Gemeinde von 1996 durch die Feststellung, dass das „unbarmherzige alte Weib […] seit der Einführung durch Mombert ein fester Bestandteil solcher Berichte“62 wurde. In diesem bisher einzigen wissenschaftlichen Beitrag, der sich aus einer in Richtung der Kulturwissenschaften erweiterten Perspektive mit dem Thema der Mikwen im 19. Jahrhundert beschäftigt, analysiert er insbesondere die Verbindung zum Hygienediskurs und bietet somit eine wertvolle Basis für weitere Untersuchungen. Nichtsdestotrotz scheint es mir nötig, Schlichs Befund ein wenig präziser zu fassen. Tatsächlich verwendet selbst Mombert das Bild nur in seiner Monographie von 1828. In Übereinstimmung mit dem insgesamt gemäßigteren Tonfall seines späteren Zeitschriftenartikels von 1830, der sich speziell an das ärztliche Publikum richtet, fällt auch diese Stelle wesentlich sachlicher aus: Wenn man hier in den meist kalten, moderigen, tiefen Keller gekommen ist, gehen von diesem aus erst steinerne Stufen, zuweilen acht, zehn (einmal sah ich sogar zwei und zwanzig) in das Badegewölbe hinab, ehe man zu dem Wasserspiegel kommt; hier muß die nakte Frau hinabsteigen. Ist sie unten angekommen, so muß sie bis über den Kopf untertauchen, bleibt ein Härchen unbenetzt, so ist das Bad ungültig, und muß wiederholt werden; daher befindet sich meist auf der untersten Stufe eine Frau, die den Kopf der Badenden untertaucht, Falls [sic] durch Uebung sie dieß noch nicht selbst erlernt hat.63
Lediglich die Monographien von Friedreich (1848), Trusen (1853) und Wunderbar (1860), die im Rahmen ihrer Untersuchungen zu biblischer Medizin lange Passagen aus Momberts beiden Schriften mehr oder weniger wörtlich wiedergeben, übernehmen hiermit auch das Detail des ‚alten Weibes‘64 – dies allerdings zu einem Zeitpunkt, als das in der Öffentlichkeit vermittelte Bild der Mikwe bereits einen wesentlichen Wandel erfahren hatte und Negativ-Darstellungen im Stile Momberts zwar noch zitiert wurden, sich aber in einem völlig anderen Wirkungsgefüge zu
Buchstabe (eures Ceremonialgesetzes) tö dte t, schlägt nieder, ängstiget vor immerwährender Furcht der Strafe und des Todes; aber der G e ist (das Evangelium) macht l eb e nd i g, belebt zu allem Guten und Erfreulichen.“ (Teller, Beantwortung, S. 58; Hervorhebungen im Original). 62 Schlich, „Medizin“, S. 184. 63 Moritz Mombert, „Bad“, S. 281f. 64 Friedreich, Zur Bibel, S. 146; Trusen, Sitten, Gebräuche und Krankheiten, S. 18; Wunderbar, Biblischtalmudische Medicin, Riga/Leipzig 1860, S. 32.
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behaupten hatten als noch in den 1830er Jahren; auf die drei genannten Werke wird im Abschnitt zur Spätphase des Mikwendiskurses (Kapitel 6.1.1.3) genauer eingegangen. Darüber hinaus erscheint auch in dem Artikel des Fürther Stadtphysikus Dr. Braun, 1835 in Henkes Zeitschrift abgedruckt, eine „herrscherische Alte“.65 Als Teil eines zitierten Abschnittes findet diese Variante ebenfalls Eingang in Georg Friedrich Mosts Ausführliche Encyklopädie der gesammten Staatsarzneikunde von 1838; 1840 wird dann nochmals Mosts gesamte Passage zu Mikwen mit nur geringfügigen Kürzungen und Änderungen als Diskussionspunkt in die Allgemeine Zeitung des Judentums eingebracht, und damit auch diese Variante von Momberts ‚altem Weib‘.66 Allerdings ist auch für diese mit Braun beginnende Linie der Rahmen bedeutend: Braun gesteht zwar vereinzelte Missbräuche hinsichtlich des Betriebes der Mikwen ein, befürwortet die Einrichtung jedoch im Großen und Ganzen sehr nachdrücklich (hierzu noch genauer in Kapitel 6.1.2). In seiner Schilderung wird die Frau als „herrscherisch“ bezeichnet, verhält sich aber nicht ähnlich brutal wie bei Mombert; zwar nimmt Braun durch dieses Attribut indirekt Bezug auf Momberts Urbild, aber nur, um auch dieses Detail in dem von ihm entworfenen Idealbild einer Mikwe aufgehen zu lassen: „Die herrscherische Alte, bestimmt sie ein- und wenn ein Härchen unbenetzt bleibt zweimal unterzutauchen, werde mit einer wohlwollenden Begleiterin, die mit badet, vertauscht.“67 Der hiermit umrissenen Verwendung des Motivs stehen neutrale Bezeichnungen wie „Frau“ ohne weitere Attribute (Mombert 1830, zitiert bei Most 1838, sodann noch J. Schneider 1842 und Trusen 1843) oder die Nennung von „Zeugen“ (Schneider 1825) gegenüber,68 während es in anderen Beiträgen völlig fehlt (vgl. Tabelle 4b). Eine kreative Weiterentwicklung des Motivs fand offensichtlich nicht statt – und blieb vor allem da aus, wo man sie am meisten erwarten würde, nämlich in Mezgers Zeitschriftenbeitrag von 1843, dem spätesten in unmittelbarer Tradition von Schneider und Mombert. Mezger kommt hingegen ganz ohne das Bild der unbarmherzigen Mikwenfrau aus, obwohl gerade er mehrfach und mit Nachdruck die „erbarmungslose Strenge der rabbinischen Sätze“ bzw. die häufig anzutreffende „rücksichtslose Härte“ seitens der Rabbiner und Gemeindevorsteher betont.69 Mehr noch als seine beiden prominenten Vorgänger, mit denen er in Tonfall und Vokabular durchaus vergleichbar ist, fordert er deshalb mit aller Vehemenz die
65 Braun, „Tauchen“, S. 174. 66 Siehe den Eintrag „Bad“, in: Most (Hg.), Encyklopädie, S. 216–220, hier S. 220; K… in R…t, „Zur Beachtung“, S. 367. 67 Braun, „Tauchen“, S. 174 68 Schneider nennt „einige jüdische Weiber“, die die Frau als „Zeugen“ zum Tauchbad begleiten; eine Duckerin im speziellen Sinn wird nicht genannt („Religionsgebräuche“, S. 246). 69 Mezger, „Bäder“, S. 140, 144; vgl. ebenso S. 146 und S. 154.
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„unablässige Aufsicht“70 der Behörden über die Mikwen, womit er auch seinen Artikel abschließt: Die Erfahrung lehrt, dass man den israelitischen Gemeinden die Sorge darüber nicht überlassen dürfe, und dass die Rücksichtslosigkeit vieler derselben, besonders aber ein oft gefundenes unbegreifliches, barbarisches, aller Menschlichkeit und aller gesunden Vernunft Hohn sprechendes Anhängen nicht am reinen Gesetze, als vielmehr an Missbräuchen, der Entwicklung des Zweckmässigen vielfältig am meisten hinderlich seie.71
Insofern als das ‚alte Weib‘ bzw. die ‚herrscherische Alte‘ gerade die Aspekte von Unbarmherzigkeit und Rücksichtlosigkeit (in dem Bild des gewaltsamen Stoßens auch Brutalität) verkörpert, die man im Reformdiskurs ansonsten mit dem jüdischen Religionsgesetz bzw. mit den Rabbinern als den ‚Gesetzgebern‘ in Verbindung bringt, kann man die Mikwenfrau tatsächlich, so wie Schlich, als „weibliches Gegenstück zum Rabbiner“ werten.72 Allerdings gilt es hier noch genauer zu differenzieren: Eine Mikwenfrau, egal welchen Alters, ist zunächst nichts weiter als eine Zeugin für das korrekt ausgeführte religiöse Ritual (und in dieser Funktion unweigerlich eine Vertreterin des ‚religiösen Establishments‘). Dass nun Mombert und Braun sie in ihren Darstellungen explizit als (herrscherische) alte Frau kennzeichnen, weist jedoch noch auf eine weitere Dimension, nämlich den schon an anderer Stelle beschriebenen Generationenkonflikt, der sich gerade auch um das Thema der Mikwe herum kristallisiert.73 Mombert thematisiert diese Konfliktlage am Beispiel der „barbarischen Mütter“, die ihre Töchter zum Tauchbad drängen, hierin bestärkt durch den sozialen Druck der ebenfalls „alten Basen“ wie auch der gesamten Nachbarschaft mit ihrer „Lästerchronik“.74 Selbst christliche Ärzte wie Peter Joseph Schneider beobachten den Riss, der an dieser Stelle durch die jüdische Gesellschaft geht, und in einem an anderer Stelle zitierten, nicht öffentlichen Bericht erscheinen tatsächlich sämtliche älteren Frauen als Pendant zu den Rabbinern.75 Man kann also mit relativ großer Sicherheit davon ausgehen, dass die Charakterisierung der 70 71 72 73
Ebd., S. 148. Ebd., S. 154f. Schlich, „Medizin“, S. 184. Vgl. Kapitel 5.1.2. Auch wenn ein Großteil der Mikwenfrauen tatsächlich der älteren Generation angehört haben dürfte, zielt die Altersangabe m.E. weniger auf eine präzise Abbildung der Realität als auf die suggestive Kraft der Verbindung ‚altes Weib‘ – worauf auch die Tatsache weist, dass Mombert in der oben zitierten gemäßigten Variante von 1830 neutral ‚Frau‘ schreibt. 74 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 84f. 75 Vgl. die Darstellung Dr. Weinrichs, der die Angst der jungen Frauen „vor denen dieser Reinigung nicht bedürfenden Weibern und vor den Machthabern des Ceremonialgesetzes“ beschreibt, sowie allgemein diesen Aspekt im Kapitel 5.1.2 (StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirektion vom 28.4.1812).
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Mikwenfrau als ‚alt‘ nicht willkürlich erfolgt, sondern vielmehr ein wesentlicher Bestandteil des gezeichneten Bildes ist: Die aus Sicht der Aufklärer als aufgeschlossen geltende junge Generation wird in ihrem Aufbegehren gegen die Tradition nicht nur von der Macht einer abstrakten religiösen Institution, sondern auch von konkreten sozialen und familiären Verpflichtungen gewaltsam niedergedrückt. Eine „Gegenüberstellung von männlicher Rationalität und weiblicher Irrationalität“, wie sie Schlich ebenfalls in dem Motiv des ‚alten Weibes‘ angelegt sieht, findet aus meiner Sicht hingegen nicht statt.76 Zwar wird die Mikwe im medizinischen Diskurs (natürlicherweise) als „Einrichtung der Frauen thematisiert“, dabei aber nicht in auffälliger Weise mit „deren angeblicher Irrationalität verbunden“77 . Vielmehr werden ja im Aufklärungsdiskurs im Allgemeinen, und dem Mikwendiskurs im Besonderen, gerade die (männlichen) Rabbiner zur Zielscheibe der Kritik; auch Mombert selbst zeichnet sie keineswegs als vernunftgeleitet, sondern als „unsinnige“ Sinnverdreher, die „selbst getäuscht, auch Andere täuschten“.78 Dies findet sich so prinzipiell auch im medizinischen Diskurs wieder, wie bereits an verschiedenen Stellen deutlich wurde: Wenn in ärztlichen Berichten von Irrationalität die Rede ist, dann wird diese in erster Linie auf die religiösen Satzungen bezogen bzw. auf die Rabbiner, die diese vertreten; oder aber es werden pauschal sämtliche Juden, die solche vernunftwidrigen Gesetze befolgen, als unaufgeklärt kritisiert – Mezger beispielsweise spricht von „der unterwürfigsten Duldwilligkeit des Volkes“ und einer „ängstliche[n] Orthodoxie“.79 Vor diesem Hintergrund ist auch das Bild des ‚alten Weibes‘ nicht geeignet, um in besonderer Weise weibliche Irrationalität zu symbolisieren.80 Der Grenzverlauf ist auch innerhalb des medizinischen Diskurses
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Schlich, „Medizin“, S. 184. Ebd. Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 91f. Mezger, „Bäder“, S. 140. Zwar bilden männliche Mikwenbesucher im medizinischen Diskurs, wie Schlich richtig feststellt, eine Randerscheinung („Medizin“, S. 184). Dieser Umstand allein reicht jedoch nicht aus, um die Mikwe mit „weiblicher Irrationalität“ zu verbinden und entsprechend Männer, die ein Tauchbad nehmen, als „ganz besonders irrational“ (ebd.) zu kennzeichnen. Auch die hierfür von Schlich angeführte Passage aus Momberts Monographie weist in eine andere Richtung. Mombert charakterisiert hierin die wenigen männlichen Mikwenbesucher als „Mannspersonen, die […] auf einen hohen Grad sogenannter Frömmigkeit Anspruch machen“ (Kellerquellenbad, S. 46). Entscheidend für die richtige Beurteilung dieser Aussage ist der Hintergrund, dass Männer im Gegensatz zu Frauen nicht zum Tauchbad verpflichtet sind. Geht ein Mann in die Mikwe, so gilt das als ein Akt besonderer Frömmigkeit – und diese Art von Frömmigkeit lehnt Mombert als „sogenannt“ ab, d. h. er kritisiert das dahinter stehende religiöse Ideal bzw. eine sich hier eröffnende Möglichkeit von zur Schau gestellter Religiosität. Jüdische Frauen hingegen haben keine derartige Entscheidungsfreiheit. Folglich gehen sie nicht in die Mikwe, weil sie im Gegensatz zu den Männern unvernünftig sind, sondern weil die ‚irrationalen‘ Vorschriften nur sie betreffen und die Gemeinschaft sie nur von ihnen einfordert – und dies wird im medizinischen Diskurs durchaus sichtbar.
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ein anderer, nämlich der zwischen der Rationalität der mosaischen Gesetze und der Irrationalität zeitgenössischer, rabbinisch begründeter Praktiken (siehe zu diesem Aspekt auch Kapitel 6.1.1.3 und 6.1.2). Jüdische Frauen erscheinen nicht in stärkerem Grad irrational als Männer, sondern gerade auch in der hier betrachteten Bildsprache als die „unglücklichen Opfer“ (so Mombert)81 – und zwar einer von Männern bestimmten Gesetzgebung und der älteren Generation, die über die Wahrung dieser Tradition wacht. Diese Beziehung fasst das Motiv des ‚alten Weibes‘ ins Bild. Zugleich schimmert im Bild der hilflosen jungen Frau, wenigstens unter der Oberfläche, auch das in der Neuzeit tradierte Stereotyp der ‚schönen Jüdin‘ mit durch, das neben der Variante ‚schöne Verführerin‘ auch die Facette ‚unschuldiges Opfer‘ kennt.82 Die Bildsprache des Raumes 1: Die Mikwe als Gefahrenquelle
Geht man zurück zu dem eingangs betrachteten Text Schneiders von 1825, dem ersten dieser ‚klassischen‘ Phase des medizinischen Diskurses über Mikwen, so finden sich auch dort Anknüpfungspunkte an das zuletzt betrachtete Motiv. Schneider beschreibt sehr eindrücklich die körperlich-emotionalen Reaktionen nicht nur bei sich selbst, den es bereits beim reinen Betrachten der Örtlichkeit „schaudert“, sondern besonders auch bei den betroffenen Frauen. Deren „pathologisch aufgeregte Sensibilität des Gesammtorganismus“ werde durch den plötzlichen Kälteschock möglicherweise „gänzlich darniedergedrückt und gleichsam gelähmt“ – wobei das Niederdrücken oder Lähmen (als medizinische Kategorie) auf metaphorischer Ebene wiederum den religiösen und sozialen Zwängen entspricht, denen die jungen Frauen unterliegen, und die unter anderem in dem Bild des Hinabstoßens durch die Mikwenfrau Ausdruck finden. Aber nicht nur der abrupte Temperaturwechsel, sondern auch die Atmosphäre der Örtlichkeit selbst, nämlich „einer finstern und Erstarren bringenden Höhle“, trägt zu dem pathologischen Zustand der Frauen bei. In dem genannten Erstarren kommt dabei einerseits das wesentliche Element
81 Mombert verwendet diese Bezeichnung im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Bild der Frau, die sich im Winter mit einer Axt auf den Weg macht („Bad“, S. 293). Auch andere Stellen weisen den Frauen eine Opferrolle zu: „Es ist auch factisch, daß Mannspersonen dieß Bad besuchen. Nach dem Gesetze B. Mos. III, sollen es eigentlich unter gewissen Umständen, alle Männer, die Rabbiner haben sie aber davon dispensirt; die armen Weiber müssen es allein thun […].“ (ebd. S. 286). Wiederum im Kontext des Eisaufhackens kommentiert Birkenstein 1822: „Die traurigen Beyspiele sind da, daß dergleichen unschuldige Geschöpfe unter dem Eise umgekommen sind.“ (Verbesserung, S. 82). In dem kurzen Bändchen Gründliche Belehrung über das Baden der Judenweiber von 1826 bezeichnet Birkenstein die Frauen in noch drastischeren Worten als „Schlachtopfer dieses harten Reinigungsgesetzes“ und warnt die jüdischen Ehemänner, dass „das kalte Bad euere Weiber mordet“ (S. 24f). 82 Vgl. Grözinger, „Die schöne Jüdin“, S. 16–20; siehe auch die Darstellung zu Dr. Wanners Bericht (Abschnitt Die Bildsprache des Raumes 3: Erfahrungsmuster des Fremden).
Zwischen Gesundheit und Gebot: Der ideologische Wandel der Mikwe
des früheren Bäderdiskurses zum Tragen, nämlich die auch in dieser Phase noch prägende negative ärztliche Beurteilung der Kälteeinwirkung. Besonders deutlich wird dies, da Schneider unmittelbar im Satz zuvor von einer „erstarrenden Eiskälte“ spricht, somit die physikalische Wirkung von Kälte auf Materie, bzw. einen Körper, beschreibt. Andererseits geht die Stelle aber darüber hinaus: Erstarren lässt sich auch bildhaft verstehen als eine emotionale Reaktion83 des Betrachters (und damit sowohl der ärztlichen Gutachter als auch der Frauen!), und Schneiders Darstellung eröffnet nun diese zusätzliche Dimension, indem er die (bezüglich des früheren Bäderdiskurses wertneutrale) Beschaffenheit des Ortes selbst, nämlich eine finstere Höhle, mittels des kausativen „bringend“ als auslösendes Moment hierfür identifiziert. An dieser Stelle wird in exemplarischer Weise deutlich, was ganz allgemein die Besonderheit der Schilderungen von Mikwen ausmacht: Die Berichte wirken und agieren auf zwei Ebenen, einer Sachebene von unmittelbaren, rational erfassbaren Aussagen über eine konkrete (reale) Mikwe, und einer Bildebene, auf welcher der beschriebene Raum (oder einzelne Elemente desselben) universelle Erfahrungen versinnbildlichen kann. Obwohl es sich nicht um literarische Texte im eigentlichen Sinn handelt, lässt sich beobachten, wie Sprachfiguren und bestimmte Bilder wesentliche Aussagen der Textoberfläche mittragen oder kommentieren. Auf diese Weise sind beide Räume zutiefst aufeinander bezogen und ineinander verwoben in dem Sinn, dass der ‚imaginierte‘, nur in der Vorstellung lebendige und im Medium der Sprache vermittelte Raum, die reale Mikwe einerseits scheinbar naturgetreu widerspiegelt und so auf diese zurückverweist,84 andererseits aber auch ein textliches Eigenleben führt, nämlich das gesellschaftliche Bild des Ortes unter der Oberfläche aktiv gestaltet und zusätzlich mit Bedeutung anreichert. Dabei durchdringen sich nicht nur beide Räume, sondern bisweilen ‚schluckt‘ der imaginierte Raum in gewisser Weise den realen mit seinen medizinisch begründeten Gefahren, wenn beispielsweise, wie in Schneiders Text, statt des kalten Wassers plötzlich die finstere Höhle „Erstarren“ hervorruft und sich damit einen medizinischen Wirkungszusammenhang des Bäderdiskurses einverleibt. Auf diese Weise wird dem Raum die gesamte Komplexität des medizinischen Diskurses über die Mikwe eingeschrieben. Neben Schneider hebt besonders Mezger ausgiebig die bei ihm als Betrachter hervorgerufenen Reaktionen hervor, die neben Schauder noch Ekel und Abscheu um-
83 Vgl. hierzu DWB 3, unter ‚erstarren‘ (Verb und Nomen). 84 Je nach Text und Kontext tritt der Konstruktionscharakter von Wirklichkeit mehr oder weniger deutlich zutage bzw. ins Bewusstsein des Rezipienten. So ist zwar auch jegliche Schilderung eines Raumes subjektiv, in dem hier beschriebenen Kontext medizinischer Literatur bzw. (amts-)ärztlicher Berichte dürfte dieser Aspekt aber bestenfalls eine geringe Rolle spielen, da vor allem letzteres Format – als definitionsgemäß ‚neutrale‘, ‚sachliche‘ Darstellung – die Erwartungshaltung der ursprünglichen Adressaten steuert.
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fassen85 und dabei in ähnlicher Weise eine Verbindung von Raum mit physischen und emotionalen Prozessen herstellen: Schauder ist zwar zunächst (ursprünglich) eine körperliche Reaktion, stellt aber darüber hinaus auch eine emotionale (und damit kulturell bedingte) Wertung Schneiders dar. Im Falle des Ekels, der zugleich in Momberts medizinischer Triade den Auftakt bildet, verhält es sich gerade anders herum: Wie Mombert ausführt, „kann […] ein von früher Jugend auf zur Reinlichkeit angehaltenes Frauenzimmer schon allein vor Ekel krank werden,“86 und auch in dem weiter oben zitierten Abschnitt aus einem Gutachten des württembergischen Medizinal-Collegiums urteilt man ähnlich. Durch die Kategorie Schau(d)er, Ekel und (als Synonym) Abscheu wird somit der Eindruck vermittelt, dass mögliche beschriebene Reaktionen des Betrachters prinzipiell, oder auch, körperlicher Natur sind, bzw. einen unmittelbaren Einfluss auf körperliche Vorgänge ausüben. Auf diese Weise erscheinen sie als unwillkürlich, unbeeinflussbar, der aktiven Steuerung oder Kontrolle durch das Individuum entzogen. Zudem werden sie weniger von konkreten Elementen des Raums, wie dem Wasser, hervorgerufen, sondern beziehen sich in eher abstrakter Weise auf den Raum an sich, dessen Erscheinungsbild (als schmutzig) bzw. ganzheitliche Atmosphäre. Zwischen der Ebene des Raums und derjenigen der körperlichen Reaktionen wird so ein unmittelbarer UrsacheWirkungs-Zusammenhang hergestellt oder zumindest suggeriert, der bis zu einem gewissen Grad den selektiven Akt der subjektiven Wahrnehmung und damit die kulturell bedingte Seite dieses Prozesses verschleiert. In den Texten entsteht eine scheinbar objektive, weil medizinisch oder physiologisch begründete Basis der Raumerfahrung. Bedeutend ist dies nicht zuletzt im Hinblick auf Titulierungen wie beispielsweise „Höhle des Schreckens“87 bei Mezger oder „Mördergrube“ in behördlichen Schriften aus Württemberg, da derartige emotionale Raumwertungen dann von der geschaffenen pseudo-wissenschaftlichen Basis mitgetragen werden. Betrachtet man nun genauer Schneiders Beschreibung der Örtlichkeit, so findet sich diese folgendermaßen gekennzeichnet: Die Tauchbecken oder Gesamtanlagen werden tituliert als „Grube“ (2x)88 , „Höhle“ oder „Badkloake“; sie sind „tief “ (2x), „kalt“ (2x) und „finster“ (4x), „unterirdisch“ (2x), „unheimlich“, „meist schlecht ausgemauert“ und „mit keiner Bequemlichkeit“. Das Wasser ist „eiskalt“, „meist von sehr unreiner Art“ und „Sumpfwasser“. Hiermit gibt Schneider im Wesentlichen bereits das Raster für die Beschreibung von Mikwen in dieser Phase vor; zu
85 Für ‚Schauder‘ (und andere Wortformen mit dieser Wurzel) siehe z. B. Mezger, „Bäder“, S. 143; Moritz Mombert, „Bad“, S. 287; für ‚Ekel‘ (und andere Wortformen mit dieser Wurzel) siehe z. B. Mezger, „Bäder“, S. 143; Moritz Mombert, „Bad“, S. 283; für ‚Abscheu‘ siehe Mezger, „Bäder“, S. 143. 86 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 80f. 87 Mezger, „Bäder“, S. 143, 148. 88 Ich zähle hier und in ähnlichen Fällen auch Komposita mit diesem Bestandteil bzw. Wörter mit gleicher Wurzel mit.
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ergänzen wäre lediglich der Aspekt der schlechten Luft und die hiermit geschaffene Assoziation des Miasmas, der sich bei Schneider bestenfalls im „Sumpfwasser“ andeutet, und der beispielsweise in den oben zitierten Passagen bei Mombert ausgeführt wird: Die Luft ist laut Mombert „moderig“, „dunstig“, oder von den vielerlei „Ausdünstungen“ der gelagerten Lebensmittel „erstickend“. Innerhalb der hiermit umrissenen Charakteristika lassen sich nun individuell Akzente setzen, so verwendet beispielsweise auch Mombert den Begriff „Cloake“, verstärkt aber diesen Aspekt in seiner Monographie noch durch die Bezeichnungen „Schmutzloch“ , „großer Nachttopf “ und Ähnliches.89 Mezger wiederum geht es weniger um eine bildhafte Gesamtwertung als um eine detailreiche Listung der verschiedenen Erscheinungsformen von Unreinheit, in der die einzelnen sinntragenden Elemente fast stabreimartig zusammenklingen: In den von Schmutz aller Art starrenden Kellergewölben finden wir Gruben mit schlammigtem Wasser gefüllt, welches oft stinkt und nicht selten mit einer schillernden Haut bedeckt ist. Wir finden ein Wasser, was oft seit vielen Jahren der ganzen Gemeinde dient und worin sich Hunderte von Personen eingetaucht haben.90
Auch in den Berichten württembergischer Ärzte wird, wie an anderer Stelle bereits beschrieben, der Aspekt der Verunreinigung häufig besonders hervorgehoben; in ähnlicher Weise wie hier bei Mezger ergänzen sich dort ebenfalls der „Schmutz“ des Umgebungsraums und die Verunreinigung des Wassers und schaffen so einen in der Wahrnehmung des Rezipienten einheitlichen Mikwenraum, der durch die allumfassende Eigenschaft der Unreinheit gekennzeichnet ist. Eine Bedrohung von Leben und Gesundheit der Besucher(innen) geht dabei zwar in erster Linie nur vom Wasser selbst aus, nämlich von dessen Verunreinigung wie auch der Kälte; allerdings ist in den ärztlichen Berichten nicht immer zweifelsfrei zu entscheiden, ob nun eigentlich das Wasser oder die Umgebung als verschmutzt dargestellt werden, und dies scheint in gewisser Weise symptomatisch dafür, dass der gesamte ‚Raum Mikwe‘ in gewisser Weise als eine Gefahrenquelle eingestuft wird. Nach den vielzitierten Worten der britischen Sozialanthropologin Mary Douglas ist Schmutz Materie am falschen Ort, und stellt als solche gewissermaßen schon eine Bedrohung des
89 Für die genannten Begriffe siehe Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 82f, 90; vgl. darüber hinaus Momberts Nennung von „Schlamm“ und „Excrementen“ sowie die Bezeichnungen „Reservoir des Unflates“, „Schmutzreservoir“ und „Schmutzquelle“ (ebd., S. 45, 54, 90, 120). Wenngleich Mombert auch in seinem späteren Aufsatz auf Schmutz, Schlamm und Exkremente verweist, verwendet er dort als Umschreibung der Mikwe lediglich einmal die Bezeichnung „Cloake“ („Bad“, S. 283). 90 Mezger, „Bäder“, S. 143f (Hervorhebungen nicht im Original).
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jeweiligen Systems dar91 – hier das einer auf Reinlichkeit bedachten bürgerlichen Gesellschaft. Der folgende Abschnitt aus einem ärztlichen Visitations-Bericht von 1830 über die Mikwe im württembergischen Nagelsberg macht diese Tendenz, den gesamten Mikwenraum an sich mit Gefahr in Verbindung zu bringen, in besonderer Weise augenfällig: Sie [die Mikwe] befindet sich in dem gewölbten Keller des Juden David Neumann. Um in diesen zu gelangen, muß man nicht allein eine finstere, hohe enge Stiege hinabsteigen, sondern noch auf zwei steinernen, beständig naßen, wenigstens 20 Stufen hohen Treppen die Festigkeit seiner Füße erproben. Man glaubt auf diesem Wege in den Tartarus zu kommen. Hat man endlich glücklich den Boden des Kellers erreicht, so sieht man an der Nordseite aus dem Felsen das Waßer hervorspringen, welches sich in einem, an dem finstersten Winkel des Kellers befindlichen, Loche sammelt. Das Waßer mag in diesem Loche öfters überlaufen, und beständig ist der Boden des Kellers naß und die Luft sehr feucht. In diese unterirdische, beständig kalte Höhle muß sich jede Judenfrau, sie mag gesund oder kränklich seyn, nach überstandener Periode [...] begeben, sich daselbst in Gegenwart mehrerer Weiber nackt auskleiden, in den Waßerbehälter steigen, und sich durch ihre Begleiterinnen mehrmals ganz untertauchen laßen, wenn sie aufs Neue sich den ehelichen Umarmungen hingeben will. Sommer oder Winter, Hitze oder Kälte machen hierinnen keinen Unterschied.92
Das Betreten einer „Höhle“, als welche die Mikwe hier und andernorts oft beschrieben wird, ist an für sich nie völlig ungefährlich,93 aber anders als in den bisher betrachteten Berichten erinnert Dr. Fichtbauer explizit an die damit verbundene
91 Siehe Douglas, „Ritual“, S. 80: „Gelingt es uns, die Momente der Krankheitsverursachung und der Hygiene aus unserer Vorstellung von Schmutz auszuklammern, bleibt die alte Definition von Schmutz als etwas, das fehl am Platz ist. […] Schmutz ist dann niemals ein einmaliges, isoliertes Ereignis. Wo es Schmutz gibt, gibt es auch ein System. Schmutz ist das Nebenprodukt eines systematischen Ordnens und Klassifizierens von Sachen, und zwar deshalb, weil Ordnen das Wegwerfen ungeeigneter Elemente einschliesst.“ Vgl. allgemein auch Behringer, „Schmutz“, unpag. 92 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4404: Bericht von Dr. Fichtbauer über die Mikwe in Nagelsberg vom 26.3.1830 (Hervorhebungen nicht im Original). 93 Dies gilt für unerforschte bzw. schwer zugängliche natürliche Höhlen ebenso wie für diejenigen verborgenen Orte, die man im Allgemeinen mit Gefahr assoziiert und deshalb als Höhle bezeichnet, wie ‚Räuberhöhle‘ oder ‚Opiumhöhle‘. Auch Begriffe wie ‚Höhle des Schreckens‘ oder ‚Höhle des Löwen‘, bzw. Wortverbindungen wie ‚Bärenhöhle‘ oder ‚Teufelshöhle‘ zeugen davon, dass Höhlen zumeist für den Bereich stehen, der außerhalb der (normalen) menschlichen Gesellschaft liegt, der als unzivilisierte Natur oder etwas Übernatürliches nicht beherrschbar und dadurch bedrohlich ist. Die Höhle als positiv besetzter Rückzugsort, der Geborgenheit vermittelt, kann sich vor diesem Schema nur dann behaupten, wenn textlich entsprechende Signale gesetzt werden, durch welche die Abgeschiedenheit positiv umgedeutet wird.
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Gefahr. Diese begegnet schon direkt beim Eintritt in Gestalt der oftmals hohen und teils sehr steilen Treppen, wobei in diesem Fall die „beständig naßen“ Stufen das Risiko eines Fehltritts noch erhöhen. Der Abstieg gestaltet sich so als ein „Erproben“ der eigenen Trittfestigkeit und man kann sich „glücklich“ schätzen, dieses heil überstanden zu haben. Dr. Fichtbauers plastische Schilderung des gefahrvollen Abstiegs leistet aber noch mehr, er nimmt den Leser, nach der bestandenen Probe, mit in eine fremde Welt, die er als Unterwelt der griechischen Mythologie wahrnimmt. Obwohl seine Darstellung, im Gegensatz zu vielen anderen vergleichbaren, völlig ohne Schmutz auskommt, entwirft sie dennoch in exemplarischer Weise die Mikwe als einen Gegenort. Nicht nur setzt der Betrachter den von ihm beschriebenen Ort mit dem Tartarus gleich, auch erhält er eine Art mythische Qualität durch die Beschreibung der unterirdischen Quelle, die aus dem Felsen hervorsprudelt; anders als ein unspektakuläres Becken dies tun würde, evoziert dieses Bild die Vorstellung von einer abgeschlossenen kleinen Welt in sich, einer vom normalen Leben abgeschirmten, unterirdischen Parallelwelt, wobei das fließende Wasser zusätzlich an den Grenzfluss des Totenreichs, den Styx erinnert. Andere Beschreibungen sind meist weniger bildhaft, es begegnen aber dennoch häufig die langen oder steilen Treppen, die die Erfahrung des Eintritts in die Kellermikwe besonders prägen und fast zu einem Ritual des Übergangs stilisieren. Auf diese Weise werden die Treppen zum ausdrucksstarken Symbol: einerseits der Gefahr, die von dem Ort ausgeht, zu dem sie führen; sie dienen dem Eintretenden als Warnung oder Vorbote des Kommenden. Andererseits markieren sie eine – nur unter Mühen und selbst Todesgefahr überwindbare und damit feste – Grenze bzw. Scheidelinie zwischen den beiden Welten, der ‚Oberwelt‘ des Alltags und der ‚Unterwelt‘, die außerhalb des bürgerlichen Erfahrungshorizonts liegt. Außer Fichtbauer verwendet besonders Mezger in eindrücklicher Weise das hier beschriebene Motiv der Höhle, bei der sich der Eintritt zur Mutprobe auf Leben und Tod gestaltet: In einigen mir bekannten Bädern ist zwar Feuerung angebracht, aber für den Abzug des Rauchs nicht gesorgt. Ich wollte es einmal wagen, eine solche Höhle des Schreckens zu betreten, während sie zum Bade geheitzt wurde. Allein ich fand es absolut unmöglich, in die Finsterniss hinabzusteigen, aus welcher ein erstickender Rauch emporquoll.94
In dieser Darstellung ist es nicht wie üblich die Treppe, sondern „erstickender Rauch“, der eine potentiell tödliche Barriere bildet, und so den Besucher vom Betreten der fremden Welt abhält.
94 Mezger, „Bäder“, S. 148.
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Die Bildsprache des Raumes 2: Die Mikwe als gesellschaftliche ‚Verortung‘ des Judentums
Aber auch, wenn andere Darstellungen üblicherweise nicht ein ebenso eindrucksvolles, in sich geschlossenes Szenario aufbauen wie Dr. Fichtbauers Bericht über die Mikwe in Nagelsberg, so lassen sich doch mit großer Regelmäßigkeit bestimmte wiederkehrende Elemente ausmachen, welche die Mikwe als einen Gegenort charakterisieren. Dies kann je nach Text auf verschiedene Weise und mit unterschiedlicher Intensität der Fall sein, jedoch sind prinzipiell wieder die schon genannten zwei Ebenen zu unterscheiden, nämlich die des realen Raums mit seinen verstandesmäßig erfassbaren medizinischen Implikationen und die des imaginierten Raums als ‚literarischer Niederschlag‘ der wahrgenommenen Örtlichkeit. In einem Text wird ersterer dann zum Gegenort, wenn das ärztliche Ich den betrachteten Raum aktiv wertet (wozu auch Abwehrreaktionen wie Schauder und Ekel gehören, da sie im Augenblick des Schreibens ein bewusstes Urteil darstellen), während der imaginierte Raum im Grunde keine solche Deutung benötigt, um als Gegenort zu erscheinen; er entsteht allein durch das Zusammenspiel der einzelnen bildhaften Elemente, bezieht aber seine suggestive Kraft zusätzlich aus der negativen Wertung des realen Raums (im selben Text oder auch in anderen Texten), für den er gewissermaßen einen Resonanzkörper bildet. Auf beiden Ebenen gleichzeitig wirken die genannten Titulierungen wie „Höhle des Schreckens“, „Mördergrube“, „Cloake“ etc., da ihnen, trotz ihrer Bildhaftigkeit und einer unübersehbaren emotionalen Komponente, dennoch eine rationale, d. h. an medizinischen Standards orientierte Beurteilung der realen Gegebenheiten zugrunde liegt. In Dr. Fichtbauers Bericht findet sich diese erste Ebene, d. h. die persönliche Wertung eines realen Raums, im Anschluss an den oben zitierten Entwurf einer unterirdischen Parallelwelt; die Mikwe wird hier zu einem Gegenort in dem Sinn, dass sie den Zielsetzungen einer aufgeklärten, auf Gesundheit bedachten Gesellschaft gerade entgegenwirkt: Kann man sich etwas der Gesundheit Nachtheiligeres denken? Giebt es irgend eine größere Erwerbsquelle für den Arzt, als so eine jüdische Badquelle? Die Erfahrung während meiner kurzen Anwesenheit dahier hat mich überzeugt, daß es in dem mit Juden sehr stark bevölkerten Nagelsberg fast keine ganz gesunde Judenfrau unter 50 Jahren gebe.95
Selbstverständlich auch deswegen, weil sich das Sprachspiel „Badquelle“ – „Erwerbsquelle“ anbietet, bleibt Dr. Fichtbauer in seinem Resümee der Mikwe als einer konkreten Örtlichkeit verhaftet; in jedem Fall aber evoziert er in dieser gegenüberstellenden Verkehrung die Vorstellung, dass es sich bei der „jüdische[n]
95 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4404: Bericht von Dr. Fichtbauer über die Mikwe in Nagelsberg vom 26.3.1830.
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Badquelle“ um einen ‚verkehrten‘ Ort – und damit einen Gegenort – handelt. Dr. Fichtbauer schließt seinen Bericht mit der ironischen Feststellung, dass eine Modernisierung der Anlage letztlich zu Lasten der Gesundheitsbranche ginge: „Einen großen Theil der Kosten des Bades würden nach und nach die Aerzte und die Apotheker zu tragen haben, weil sie dann weniger mit den Judenfrauen zu thun haben würden.“ Die Mikwe erscheint hier konkret als ein Gegenort zu einem ‚richtigen‘ Bad, wie es die Aufklärungsmedizin fordert und welches die Gesundheit fördert. Entsprechend kann sie in anderen Texten auch als Gegenort zu dem vernünftigen und ursprünglichen ‚mosaischen Reinigungsbad‘ beurteilt werden; die Grenzen sind hier letztlich fließend, da im jüdischen Aufklärungsdiskurs, und im Anschluss hieran im medizinischen Diskurs, das von Moses angeordnete Bad (auch) der körperlichen Reinigung und damit der Gesundheit dienen sollte. Sehr viele der in den Texten verwendeten abwertenden Bezeichnungen wie „Cloake“ oder „Schmutzloch“ greifen diesen Aspekt auf und charakterisieren die Mikwe so als einen negativen Gegenort zum Reinigungsbad, das für die gesellschaftliche Norm der körperlichen Reinlichkeit steht. Während die bewusste Wertung der Mikwe diese somit besonders als Gegenort zum bürgerlichen Reinigungsbad, z. B. in Form eines Flussbades, kennzeichnet, schafft die ‚literarische‘ Ausgestaltung der Mikwe einen Gegenort im umfassenderen Sinn. Textlich reicht das Spektrum von relativ nüchternen, ganz sachlichen Beschreibungen der Anlage bis hin zu sehr kreativen Auseinandersetzungen mit dem Thema wie beispielsweise in dem zitierten Bericht Dr. Fichtbauers. Der Ton kann gemäßigt sein, wie es in der Mehrzahl der Beschreibungen der Fall ist, aber auch mit einer (aufklärerisch) kritischen Note wie etwa in Momberts Werk von 1828, bis hin zu beißendem Spott wie in den beiden Berichten Dr. Wanners, auf die weiter unten nochmals eingegangen werden soll. Inwieweit dabei ein imaginierter Raum im Einzelnen noch ‚deckungsgleich‘ ist mit seiner Vorlage, ist einerseits natürlich nicht feststellbar und andererseits für den hier behandelten Aspekt der Untersuchung nicht weiter relevant. Im Mittelpunkt des Interesses steht vielmehr das Bild der Mikwe, so wie es in den Berichten gezeichnet und vermittelt wird, wobei es letztlich auch nicht um einzelne Darstellungen (als literarischer bzw. emotionaler Ausdruck eines Individuums) geht, sondern um das sich hieraus ergebende Gesamtbild, das ich als ‚imaginären Raum‘ bezeichne (im Gegensatz zum einzelnen imaginierten‘ Raum, wie er sich in der bildhaften Beschreibung einer Mikwe präsentiert). Insofern als in dieser Phase des Diskurses das Bild der Mikwe maßgeblich durch medizinische Schriften geprägt wurde, spiegelt sich in dieser Gattung zugleich der gesamtgesellschaftliche Blick auf die Mikwe in repräsentativer Weise wider, und tatsächlich offenbart sich in der Analyse dieses eng umgrenzten Diskurses auch eine gesellschaftspolitische Dimension des medizinischen Problemfalls Mikwe: Die imaginäre Mikwe fungiert als Gegenort zur bürgerlichen Gesellschaft und damit
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auch als gesellschaftliche ‚Verortung‘ des Judentums. Diese These, die im Folgenden noch erläutert werden soll, gründet sich im Wesentlichen auf drei Punkte: 1. Die Mikwe erscheint im medizinischen Diskurs auf der Bildebene in der Summe als ein abgeschirmter, manchmal fremder Ort, voller Schmutz und gefährlich, aber mitunter auch mit bestimmten ‚verlockenden‘ Möglichkeiten. Diese Attribute kennzeichnen sie zunächst als einen Gegenort im sehr allgemeinen Sinn. 2. Das zentrale Element der Unreinheit, das immer wieder betont wird, charakterisiert diesen Gegenort zudem in besonderer Weise als unbürgerlich, da Reinlichkeit eine der wesentlichen Tugenden darstellt, über die sich die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts definiert. Aber auch die Irrationalität der Rabbiner bzw. der von ihnen verordneten religiösen Praxis wird in manchen Texten thematisiert; dies führt die Mikwe ebenfalls auf der Sachebene rationaler Argumentation als eine Einrichtung vor, die nicht den Maßstäben eines aufgeklärten, von Vernunft geleiteten Bürgertums entspricht. Auf diese Weise erscheint die Mikwe als ein Gegenort speziell zur modernen bürgerlichen Welt bzw. Gesellschaft. 3. In dem Maße wie aber die Mikwe im medizinischen Diskurs als Gegenort nicht allein zum Reinigungsbad, sondern zur bürgerlichen Gesellschaft an sich dargestellt bzw. erfahren wird, verweist sie auch auf deren Gegenüber, die traditionelle jüdische Gesellschaft. Der imaginäre Raum Mikwe (d. h. die Summe aller imaginierten Räume)96 wird so, in einer Pars pro Toto-Beziehung, eine ‚Verortung‘ der jüdischen Gesellschaft im zweifachen Sinn: nämlich eine symbolische Repräsentation der jüdischen Kultur bzw. Gesellschaft im Bild eines Ortes, den man als Negativ-Schema – oder Gegenort außerhalb der bürgerlichen Welt – wahrnimmt. Natürlich ist einzuräumen, dass die Mikwe als jüdische Einrichtung per se schon in irgendeiner Form für das Judentum steht und dieses somit in gewisser Weise auch repräsentiert. Die Besonderheit liegt allerdings darin, dass sich einmal der medizinische Diskurs – d. h. ein von der Aufklärung geprägter, bürgerlicher Diskurs – in der beschriebenen Weise gerade im Raum Mikwe breitmacht, und dieser hierdurch bereits mit Bedeutung angereicherte Raum zudem in einer gesamtgesellschaftlichen Topographie, vor der Folie Bürgerlichkeit, als ‚unrein‘ und ‚draußen‘ (oder ‚unterhalb‘) gekennzeichnet wird. Auf diese Weise wird das Judentum in der Mikwe nicht nur theoretisch-abstrakt repräsentiert, sondern in einem ganz spezifischen Raumbild auch gesellschaftlich ‚verortet‘. Zusätzlich begünstigt wird eine solche auf die Gesellschaft bezogene Wahrnehmung durch die äußeren Parallelen von Judentum und traditioneller Mikwe: Ganz so wie die Einrichtung der Mikwe in medizinisch-hygienischer Hinsicht verbesserungsbedürftig war, mussten auch 96 Der imaginäre Raum als Summe aller imaginierten Räume ist dabei lediglich als theoretisches Konstrukt zu denken; in der Praxis, d. h. auf ein Individuum bezogen, ist der imaginäre Raum hingegen das Gesamtbild aus all denjenigen imaginierten Räumen, mit denen das Individuum konfrontiert wurde.
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die Juden nach vorherrschender Ansicht zunächst ‚bürgerlich‘, d. h. in moralischer, kultureller und sozialer Hinsicht, ‚verbessert‘ werden, bevor sie mit den christlichen Bürgern rechtlich gleichgestellt werden konnten. Die tatsächliche Lage der Kellerquellenbäder, außerhalb der normalen Alltagswelt, in besonderer Tiefe, korrespondiert mit der rechtlichen und sozialen Außenseiter-Position der jüdischen Gemeinschaft, die sich ihren ‚oberirdischen‘ Platz in der bürgerlichen Gesellschaft erst durch eine innere Reform verdienen sollte. Der medizinische Diskurs über die Mikwe erweist sich an dieser Stelle als ein Machtdiskurs, der die Juden auf zweierlei Weise disziplinierte: einmal real, indem im Zuge der Medikalisierung der Gesellschaft in bestimmten Staaten auch den Juden durch Reglementierungen zur Mikwe ein bestimmtes gesundheitliches Verhalten ‚anerzogen‘ werden sollte; zum anderen ideell, indem das vermittelte Negativbild der Mikwe die jüdische Gemeinschaft in ihrem Bestreben nach bürgerlicher Gleichstellung ‚auf ihren Platz‘ verwies. Die Bildsprache des Raumes 3: Erfahrungsmuster des Fremden
Diese in der Verschriftlichung greifbare Funktionalisierung der Mikwe als ‚Verortung‘ oder Symbol des Judentums geschieht allerdings nicht unbedingt erst auf der Ebene des Textes und der Rezipienten, sondern ist ein durchaus dynamischer Prozess, der sich auch aus den spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen nährt. So gibt es über die genannten äußeren Parallelen zwischen der Situation der Juden und der Mikwen hinaus noch weitere Faktoren, die bereits in der Wahrnehmung des berichtenden Arztes einen Raum entstehen lassen können, der mehr ist als ein einzelnes konkretes Tauchbad. Diese Seite des Gegenortes Mikwe, der die Transformation von dem konkreten Anschauungsobjekt zur jeweiligen ‚literarischen‘ Version betrifft, ist zwar im Detail nicht nachvollziehbar und bleibt somit in letzter Konsequenz spekulativ, stellt aber nichtsdestotrotz einen Aspekt des gesellschaftlichen Bildes der Mikwe dar und soll deshalb in seinen wesentlichen Konstanten theoretisch nachvollzogen werden. Die Mikwe begegnet den ärztlichen Berichterstattern regelmäßig als schmutziger, und besonders hinsichtlich des Wassers unreiner Ort, die religiöse Tradition in diesem Zusammenhang als unaufgeklärt oder rückständig in dem Sinn, dass sie die Gesundheit der Frauen durch irrationale Gebote gefährdet. Die positive Schablone bildet hier das der Gesundheit förderliche (und deshalb vernünftige) ‚Reinigungsbad‘ der bürgerlichen Gesellschaft. Schmutz aber ist eines der typischen Attribute, mit dem man jahrhundertelang Juden als gesellschaftliche Außenseiter stigmatisierte, ihre vermeintliche Andersartigkeit als sicht- oder riechbar festschrieb,97
97 Zu diesbezüglichen antijüdischen Stereotypen vgl. Efrons Aufsatz „Der reine und der schmutzige Jude“.
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und in dem Schmutz der Mikwe manifestiert sich somit dieses Außenseitertum, verbunden mit der Irrationalität und Rückständigkeit der religiösen Praxis. Dabei werden in der christlichen Bevölkerung vorhandene Vorurteile oder Vorbehalte bezüglich einer kulturell-sozialen Rückständigkeit der jüdischen Minderheit angesichts der Wahrnehmung von Unreinheit nicht nur bestätigt, sondern vor dem wirkungsmächtigen modernen Beurteilungsschema bürgerlicher Reinlichkeit möglicherweise noch bestärkt, wobei das alte Stigma sich stillschweigend von der Bevölkerung auf die Örtlichkeit übertragen hat: Der Raum Mikwe steht nun stellvertretend auch für die jüdische Gesellschaft. Darüber hinaus besitzen Räume eine bestimmte Atmosphäre oder, im Anschluss an den von der Soziologin Martina Löw ebenfalls verwendeten Begriff, eine „Gestimmtheit“: Moderne Raumkonzepte im Gefolge des spatial turn der Kulturwissenschaften sehen Räume kaum noch als starre ‚Behälter‘, sondern betonen stattdessen die vielfältigen Praktiken, die den sozialen ‚Raum‘ (bzw. verschiedene ‚Räume‘) erst schaffen. Nach Löws Definition sind Räume dynamische „(An)Ordnungen von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten“, und das Zusammenwirken einzelner Elemente kann die Wahrnehmung des Betrachters – selbst eine „konstruktiv-selektive“ Syntheseleistung – in eine bestimmte Richtung lenken, „kanalisieren“.98 Ist ein Raum düster, schmutzig, mit moderiger Luft (was aufgrund der Miasma-Theorie schon bedrohlich wirken kann), so muss ein Betrachter seine Eindrücke von den damit verbundenen Empfindungen zwar nicht notwendigerweise bestimmen lassen, aber man darf ihren potentiellen Einfluss ebensowenig außer Acht lassen.99 Auch sind gerade Häuser in besonderer Weise geeignet, Stimmungen ins Bild zu fassen, wie Gaston Bachelard in seiner Poetik des Raumes feststellt: „Jedes große einfache Bild enthüllt einen seelischen Zustand. Noch mehr als die Landschaft ist das Haus ein état de âme – eine ‚Stimmung‘.“100 Der Keller ist dabei derjenige Ort, der sich gemeinhin mit Irrationalität, auf der Ebene der Psychoanalyse auch mit Ängsten, verbindet.101 Vor diesem Hintergrund bietet eine reale – dunkle, unreine, unterirdische, mit ‚irrationalen‘ Praktiken verbundene – Kellermikwe gewissermaßen eine ideale Projektionsfläche für persönliche wie auch überindividuelle, bewusste wie unbewusste Haltungen und 98 Ich beziehe mich hier auf den 2005 gehaltenen Vortrag Granada, aus dem auch die Zitate übernommen wurden, und der eine Kurzfassung von Löws Raumbegriffs enthält, wie er 2001 in Raumsoziologie entwickelt wurde. Der zentrale Begriff der „(An)Ordnung“ betont das Dynamische ihres Raumkonzepts: Räume geben einerseits gesellschaftliche Ordnungsmuster vor, werden aber andererseits durch „Spacing“, das Positionieren (Anordnen) in diesem Raum, stets neu geschaffen („Granada“, S. 2, 6, 9; Raumsoziologie, S. 191–218). 99 Nach Löw ist die Wirkungsweise einer Atmosphäre keineswegs universell, sondern realisiert sich erst in der Wahrnehmung, ist somit auch „Produkt vergangener Auseinandersetzungen und Ausdruck der Kräfteverhältnisse einer Gesellschaft“ (Raumsoziologie, S. 209). 100 Bachelard, Poetik, S. 102. 101 Ebd., S. 51–53.
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Reaktionen der ärztlichen Betrachter bezüglich der jüdischen Minderheit und ihrer religiösen Tradition. Darüber hinaus ruft selbstverständlich auch die Rezeption von anderen Berichten zu Mikwen, etwa von Momberts Texten, bei einem ärztlichen Gutachter eine bestimmte Erwartungshaltung bzw. Empfänglichkeit für bestimmte Eindrücke hervor – an dieser Stelle wirkt der Diskurs auf sich selbst zurück, d. h. bereits wirksame Organisationsmuster von Wirklichkeit erweisen sich nun ihrerseits als strukturierend. Auf diese Weise kann die Mikwe, d. h. eine wahrgenommene reale Örtlichkeit, die mit bestimmten typischen Merkmalen ausgestattet ist, in der Vorstellung des Betrachtenden oder in dessen Bericht zu einem symbolbeladenen imaginierten Raum werden in dem Sinn, wie auch Henri Lefebvre in seiner Theorie des sozialen Raums den „gelebte[n] Raum“ kennzeichnet: Die Repräsentationsräume, d. h. der gelebte Raum [espace vécu], vermittelt durch die Bilder und Symbole, die ihn begleiten, also ein Raum der „Bewohner“, der „Benutzer“, aber auch bestimmter Künstler, vielleicht am ehesten derjenigen, die beschreiben und nur zu beschreiben glauben: die Schriftsteller und die Philosophen. Es ist der beherrschte, also erlittene Raum, den die Einbildungskraft zu verändern und sich anzueignen sucht. Er legt sich über den physischen Raum und benutzt seine Objekte symbolisch […].102 — Die eher gelebten als konzipierten Repräsentationsräume sind nie zur Kohärenz und auch nicht zum Zusammenhalt verpflichtet. Sie sind vom Imaginären und vom Symbolismus durchdrungen und haben ihren Ursprung in der Geschichte eines Volkes sowie jedes Individuums, das zu diesem Volk gehört.103
Der entstehende imaginäre Raum Mikwe, als Summe der ärztlichen Beschreibungen, ist deutlich mehr als ein bloßer Gegenort zum bürgerlichen Reinigungsbad, als der die Mikwe auch bewusst wahrgenommen wird. Er präsentiert sich in den Berichten gewissermaßen als Prototyp eines Gegenortes: gefährlich, fremd (abgeschirmt), und dennoch in bestimmtem Maße anziehend, wobei die Ambivalenz von „bedrohlich“ und „verlockend“ zugleich allgemein die Erfahrung des Fremden prägt, wie sie der Philosoph Bernhard Waldenfels in Topographie des Fremden charakterisiert: Bedrohlich ist sie [die Erfahrung des Fremden], da das Fremde dem Eigenen Konkurrenz macht, es zu überwältigen droht; verlockend ist sie, da das Fremde Möglichkeiten wachruft, die durch die Ordnungen des eigenen Lebens mehr oder weniger ausgeschlossen sind.104
102 Lefebvre, Die Produktion des Raums, S. 336 (Hervorhebungen im Original). 103 Ebd., S. 339 (Hervorhebung im Original). 104 Waldenfels, Topographie des Fremden, S. 44.
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Die drei Aspekte „bedrohlich“, „fremd“ und „verlockend“ bilden somit eine aufeinander bezogene Gruppe von Eigenschaften, die sich in besonderer Weise auf einen Ort beziehen lassen, weil ein Ort mit seiner räumlichen Abgrenzung schon seinem Wesen nach das „Außerhalb“ und damit „das Fremde“ verbildlichen kann: Fremd ist erstens was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt (vgl. externum, extraneum, peregrinum; ξενον; étranger; foreign) und was in der Form von „Fremdling“ und „Fremdlingin“ (so noch bei Schiller) personifiziert wird. Fremd ist zweitens, was einem Anderen gehört (vgl. αλλοτριον; alienum; alien). Als fremd erscheint drittens, was von fremder Art ist und als fremdartig gilt (vgl. insolitum; ξενον; etrange; strange). Es sind also die drei Aspekte des Ortes, des Besitzes und der Art, die das Fremde gegenüber dem Eigenen auszeichnen. […] Unter den genannten drei Aspekten gibt der Ortsaspekt den Ton an.105
Von besonderer Bedeutung ist dabei nach Waldenfels auch der Aspekt der „Schwelle“, was sich im Falle der Mikwe in der Regel als Treppe wiederfindet. Nur durch eine explizite Beziehung zwischen dem Bereich des Eigenen und dem des Fremden definiert sich letztlich das Fremde, es geht hervor „aus einer gleichzeitigen Einund Ausgrenzung […]. Das Fremde befindet sich nicht einfach anderswo, es ist ähnlich wie Schlafen vom Wachen, Gesundheit von der Krankheit, Alter von der Jugend durch eine Schwelle vom jeweils Eigenen getrennt.“106 Zwar lässt sich diese Schwelle zum Fremden, so Waldenfels, genaugenommen nicht überschreiten, aber auch in der Bildlichkeit der Mikwendarstellungen hat sich dieser Aspekt in seinem Kern bewahrt, und zwar in der potentiellen (Todes-)Gefahr des Sturzes, mitunter auch der sichtbaren Barriere, wie sie „erstickender Rauch“ bildet. Ein solchermaßen charakterisierter Ort (abgeschirmt bzw. schwer zugänglich, bedrohlich und zugleich anziehend) ist gewissermaßen ein Gegenort par excellence, nämlich ein Ort des Fremden – und in dieser Eigenschaft wiederum auch ein Gegenort zur eigenen sozialen Gruppe und der Gesellschaft an sich. In seiner Funktion ähnelt er dabei zugleich Foucaults Heterotopie, die dieser allerdings als einen realen Ort des Anderen definiert;107 dieser Aspekt wird in Kapitel 6.1.2 zu Verbürgerlichung der Mikwe noch aufgegriffen werden. Die einzelnen Elemente des so gezeichneten Bildes müssen dabei in ihrer Aussage nicht den rational erfassbaren Zusammenhängen in der realen Welt entsprechen, der imaginierte Raum und der reale Raum durchdringen sich, sind aber nicht zwangsläufig in reziproker Weise aufeinander bezogen. Geht auf der Ebene des
105 Ebd., S. 20 (Hervorhebungen im Original). 106 Ebd., S. 21 (Hervorhebungen im Original). 107 Vgl. beispielsweise Foucault, „Von anderen Räumen“, S. 320.
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Bewusstseins die Gefahr einer Mikwe konkret von der Unreinheit und Kälte des Wassers aus, so vermittelt auf der Ebene des Bildes an erster Stelle die Atmosphäre der dunklen Höhle, bisweilen mit Anklängen an eine mythologische Unterwelt, den Eindruck einer abstrakten Bedrohung für Leib und Leben. Darüber hinaus können auch die Elemente der steilen Treppe oder der brutalen Mikwenfrau auf besondere Weise diese Gefahr materialisieren, wobei die Treppe als schwer überwindbares Hindernis Ort und Gegenort voneinander trennt, gleichermaßen einund ausschließt, und hierdurch die bestehende Ordnung aufrecht erhält. Als komplementär zum Bereich der Gefahr bzw. Brutalität ist das Motiv der Nacktheit bzw. des Ausgeliefertseins zu sehen. Auch das zentrale Element der Unreinheit ist in das umfassende Wirkungsgefüge der sichtbar gemachten Bedrohung einzuordnen: Schmutz ist ein störender Fremd-Körper, als Materie am falschen Ort bedroht er eine bestehende Ordnung108 – und nicht zuletzt in diesem Aspekt präsentiert sich die Mikwe als Gegenort nicht allein zum Reinigungsbad, sondern zur bürgerlichen Lebenswelt an sich. Der imaginierte Raum Mikwe lebt einerseits aus der Wertung, die auf der Ebene rationaler Begründungen dem realen Wasser beigemessen wird; andererseits fasst er diesen Befund von zunächst rein medizinischer Relevanz in ein wirkungsvolles Raum-Bild, das den medizinischen Rahmen sprengt und in der inneren Dynamik der Einzelelemente aus sich selbst heraus lebt: Die Mikwe, das ‚unreine‘ jüdische Frauenbad, erscheint als bedrohlicher Gegenort zur ‚reinlichen ‘ und rationalen Welt des Bürgertums. Der Rekurs auf die antike Mythologie beispielsweise bei Dr. Fichtbauer lässt sich in diesem Zusammenhang einerseits als Reflex der wahrgenommenen Fremdheit deuten, andererseits verbildlicht dies wiederum die auch als zeitliche oder kulturelle Differenz erlebte Andersartigkeit des Ortes. Jedoch wird die Mikwe nicht nur negativ erfahren, sondern in ihrem Grundgedanken bisweilen auch als durchaus nachahmenswerte Einrichtung gelobt, was im anschließenden Kapitel noch thematisiert werden soll. Und wenngleich von einer Faszination durch ‚das Fremde‘ bzw. die fremde Kultur auf der Oberfläche des Textes nur bei wenigen Schreibern die Rede sein kann, zeigt die imaginäre Mikwe dennoch Spuren hiervon, und zwar gerade in Verbindung mit derartigen mythologischen Elementen, wie sie auch die beiden Berichte Dr. Wanners zum württembergischen Berlichingen und Bieringen enthalten: [zu Berlichingen:] Der Boden derselben ist weder gepflastert noch gebrettert, sondern es liegt auf demselben blos ein kleines Stück Brett und auf diesem ein alter Sack, wahrscheinlich der Auskleideplatz für die badende Nymphen. – Nun führen 9 schlechte, rauhe steinerne Treppen zum eigentlichen BadeRaum /: resp. Loch :/ […].
108 Vgl. Douglas, „Ritual“, S. 80.
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— [zu Bieringen:] Es befindet sich in diesem Bade kein Keßel zum Erwärmen des ZugußWaßers, es muß also die badende Schöne wohlgemuth in das mit eiskaltem Waßer angefüllte Kellerloch steigen […]. Bey dem Hinuntersteigen hat sich aber die Badende noch wohl in Acht zu nehmen, daß sie kein Bein, oder gar den Hals bricht, denn vermög der sehr schlechten Beschaffenheit der beiden ersten Treppen, ist das Hinabsteigen in das BadGewölbe wirklich ein halsbrechendes Geschäft, und glücklich darf sich daher die gereinigte JudenSchöne schätzen, wenn sie diesem doppelt lebensgefährlichen Ackt mit heiler Haut entgeht. – Die Thüre zu der BadStube wird niemals verschloßen, es steht also auch von da aus der Unreinlichkeit Thür u. Angel offen.109
Natürlich kann man Dr. Wanner auf der Sachebene des Textes kaum unterstellen, von der Institution der Mikwe fasziniert zu sein. Seine Intention ist es vielmehr, diese mit Hilfe des verwendeten Stil- und Zeit-Bruchs zu verspotten: Anstelle eines ihrer würdigen Ortes müssen „badende Nymphen“ oder „(Juden)Schöne“110 mit einem wenig ästhetischen „(Keller-)Loch“ Vorlieb nehmen. Andererseits zeigt sich gerade hier, wie ein Ort der Fremde (bzw. einer als fremd empfundenen Kultur) auf der Bildebene nicht nur in die Vergangenheit bzw. Mythologie zurücktransportiert wird, sondern auch mit Projektionen positiver Wunschbilder, Frauen von antiker Schönheit, gefüllt wird. Trusen erinnert in seiner Darstellung von 1853 speziell an die mediceische Venus als Idealbild weiblicher Schönheit.111 In diesem Sinn ist das im Diskurs hervortretende Bild der Mikwe ein ungewöhnliches Zeugnis der Begegnung zwischen jüdischer und bürgerlicher Gesellschaft in dieser Zeit: Die Mikwe, in der perspektivischen Verzerrung ‚Bad‘ ein Schnittpunkt der beiden Welten, wird gewissermaßen virtueller Austragungsort eines gesellschaftlichen Prozesses, indem sich an ihr und in ihr die beiden Systeme aneinander reiben und so ihr Verhältnis zueinander bestimmen. Dabei ist festzuhalten, dass das öffentlich publizierte Bild der Mikwe als Gegenort zwar fast ausschließlich von christlichen Ärzten getragen, aber dennoch maßgeblich von Momberts ‚Urtext‘ geprägt wurde. Abgesehen von den wenigen enthaltenen deutlich antijüdischen
109 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Wanner über die Mikwen in Berlichingen und Bieringen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Künzelsau vom 10.2.1839); Hervorhebungen nicht im Original. 110 Das seit dem 17. Jahrhundert greifbare Klischee der ‚schönen Jüdin‘ beinhaltet nach Elvira Grözinger häufig folgende Aspekte: „Begehrenswerte körperliche Schönheit, exotische Fremdheit, Neugier, die vor allem bei Judenfeinden bis hin zu sado-masochistischen Wunschträumen reichen.“ („Die schöne Jüdin“, S. 7). Zum ambivalenten Bild der ‚schönen Jüdin‘, das dann im 19. Jahrhundert auf verschiedene Weise weiterentwickelt wurde, siehe auch Kohlbauer-Fritz, „La belle juive“, S. 109–114. 111 Trusen, Sitten, Gebräuche und Krankheiten, S. 21; zu dieser Stelle noch genauer in Kapitel 6.1.2.3.
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Aussagen unterscheidet sich die von christlichen Ärzten vorgebrachte Kritik an der zeitgenössischen Mikwe nicht grundsätzlich von der Momberts. Vielmehr sind christliche Ärzte und jüdische Aufklärer (neben Mombert in der Hauptsache der Pädagoge Elias Birkenstein) prinzipiell gleichermaßen beteiligt an der Entstehung des Gegenortes Mikwe, wobei bei den jüdischen Autoren die gesellschaftliche Normfunktion des bürgerlichen Wertehorizonts im Allgemeinen noch stärker bzw. deutlicher hervortritt als in den rein medizinischen Schriften. Der wirkliche Unterschied zwischen den beiden Gruppen liegt nicht in der negativen Darstellung der Mikwe an sich, sondern in der Perspektive: Während für die jüdischen Aufklärer die Verbürgerlichung des Judentums das bezweckte Ziel der Darstellung war, diente dieses Kriterium auf christlicher Seite gerade als Ausgangspunkt der Betrachtung und Messlatte. Zwischen Ausgrenzung und Integration: Mikwen und Emanzipationspolitik
Insofern als der Maßstab der Bürgerlichkeit im imaginären Raum Mikwe zum Tragen kommt, erweist sich der medizinische Diskurs hierdurch zugleich als eine weitere Facette des Emanzipationsdiskurses, in dem die Mikwe ansonsten scheinbar kaum eine Rolle spielt. Hinsichtlich der Emanzipation der Juden brachte die Zeit ab 1815 mehr Rückschritte als Fortschritte, der Gedanke einer vollständigen und bedingungslosen Gleichstellung schien in weite Ferne gerückt, wenngleich das Thema auf Ebene der Landesparlamente teils kontrovers diskutiert wurde. Abgesehen von den beschriebenen Ansätzen im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach diente dabei, soweit bekannt, die Situation der Mikwen im politischen Prozess nicht als offizieller Gradmesser der Emanzipationsfähigkeit der jüdischen Bevölkerung. Genau dieser Mechanismus begegnet aber im Bild der Mikwe: Die Mikwe, als eine unbürgerliche Einrichtung gemessen am Positiv des hygienischen Reinigungsbades, wird auf der Bildebene als ein gefährlicher Ort dargestellt – der folgerichtig außerhalb der Gesellschaft liegen muss (tief unter der Erde und schwer zugänglich). Nun könnte man einwenden, dass die realen geografischen Gegebenheiten und die medizinischen Implikationen dieses Schema der Ausgrenzung ja bereits vorgeben und dem gezeichneten Raumbild hierdurch jegliche weitere, gesellschaftspolitische Relevanz absprechen – wäre da eben nicht die zusätzliche Dimension, in zumindest einem Teil der Berichte, der bürgerlichen Welt mit ihren Werten und Normen. Tatsächlich kennzeichnet nicht nur die geäußerte Kritik die Perspektive der Schreiber als aufgeklärt-bürgerlich,112 sondern es finden sich selbst in dieser Phase des Diskurses (gleichsam als Gegengewicht) einzelne integrative Elemente, welche das vorhandene bürgerliche Potential der Mikwe (und des Judentums) hervorheben.
112 Vergleiche hierzu insbesondere auch die Analyse von ärztlichen Berichten aus Württemberg in Kapitel 4.2.1.
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Die bildliche Darstellung der Mikwe steht somit genau in dem Spannungsfeld von Ausgrenzung aufgrund vorhandener Defizite und potentiell möglicher Integration, das auch die Situation der jüdischen Bevölkerung in dieser Zeit kennzeichnet. Einen expliziten Bezug zwischen Mikwe und Emanzipationspolitik stellt Mezger im Schluss seiner Schrift von 1843 her; zwar rät er den Juden, sich „selbst zu emancipiren“, erweist sich aber in dieser Formel gerade als ein Anhänger der praktizierten Erziehungspolitik, zumal er wenig vorher angesichts verbreiteter „Rücksichtslosigkeit“ und irrationalem Festhalten an Missbräuchen die strengste behördliche Aufsicht über die Mikwen anmahnt:113 Möchten diejenigen, an denen es ist, bedenken, wie ihre eigene Ehre und Vortheil es erheischt, eine zeitgemässe Entwicklung kund zu geben, und wie sehr nothwendig es seie, sich vorerst so weit selbst zu emancipiren und zu unterscheiden, dass dasjenige gethan werde, was das Gesetz verlangt, aber auch dasjenige unterlassen werde, was schadet und nicht befohlen ist. Es reicht nicht hin, seine Missbräuche zu verbergen, man muss sie aufheben.114
Noch deutlicher formuliert findet sich die Ansicht, dass das Negativbeispiel der Mikwe gegen die Emanzipation der Juden spricht, bei dem Fürther Stadtphysikus Dr. Braun im Jahre 1834: […] ein Volk, das solche Missbräuche des Gesetzes mit dem Titel Religion stempelt, und seine Frauen zu Märtyrerinnen solches Wahnes macht, um sie gebären zu machen, das also sich selbst nicht emanzipiert und befreien kann von dieser hässlichen Ansicht – dies Volk darf sich über keinen Despotismus, […] am wenigsten über den beklagen, der ihm solche Sklaverei nimmt.115
Noch ein weiterer Umstand lässt sich als Hinweis auf eine enge Verbindung des Gegenortes Mikwe mit dem stagnierenden Emanzipationsprozess deuten: die zeitliche Kongruenz der beiden Vorgänge, der bildlichen Gestaltung der Mikwe als Gegenort und der im repressiven Klima des Vormärz nicht zu verwirklichenden Emanzipation der Juden. Zahlreiche ärztliche Schriften entstanden deshalb, weil sie von den Medizinalbehörden eingefordert wurden, oder aber umgekehrt, weil 113 Mezger, „Bäder“, S. 154f. 114 Ebd., S. 155 (Hervorhebungen im Original). 115 Stadtarchiv Fürth, Fach 27/18: Die zweckmäßige Einrichtung der Keller-Quellbäder für die Israelitinnen dahier im Jahre 1829, zit. nach: Blume, „Mikwen in Fürth“, S. 69. In seinem 1835 erschienenen Zeitschriftenbeitrag zu Mikwen äußert sich Braun hingegen sehr positiv zum Ritual des Untertauchens, vgl. hierzu Kapitel 6.1.2.2, Abschnitt Positive Deutungen der Mikwe auf christlicher Seite.
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Ärzte das Einschreiten staatlicher Behörden forderten, und auf diese Weise verbindet sich der medizinische Diskurs über die Mikwe, und der darin enthaltene Gegenort, mit den vorhandenen Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen. Ab dem Zeitpunkt aber, wo sich die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen verschieben, verblasst auch das Bild der Mikwe als Gegenort; es wird zwar noch zitiert, ist aber als Schema nicht mehr produktiv. Das Ende dieser Phase steht im Zusammenhang mit zwei unterschiedlichen Entwicklungen, die beide etwa um die Jahrhundertmitte zum Tragen kommen. Zum einen setzt der württembergische Normalerlass zu Mikwen von 1846, bzw. die Beschlüsse der vorausgegangenen Rabbinerkonferenz, einen konkreten Schlusspunkt; die kreative Phase staatlicher Mikwenpolitik war hiermit im Wesentlichen beendet, die Mikwe gewissermaßen ‚domestiziert‘, wenngleich die Umsetzung der gesetzlichen Maßnahmen in den einzelnen Staaten noch keineswegs abgeschlossen war. Zum anderen markieren die Vorgänge um die Revolution von 1848/49 mit dem Höhepunkt der Frankfurter Nationalversammlung auch eine neue Phase der Emanzipationspolitik. Zwar gab es nach dem Scheitern der Revolution nur in wenigen deutschen Staaten konkrete Fortschritte hinsichtlich der rechtlichen Lage der jüdischen Bevölkerung zu verzeichnen, doch war in der Paulskirchenverfassung erstmals für den deutschen Raum ihre grundsätzliche und bedingungslose Gleichstellung formuliert worden und so als Grundgedanke auch in der folgenden Reaktionsära nicht mehr aufzuhalten.116 In seinem leidenschaftlichen Appell für die Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit hatte der jüdische Jurist und Liberale Gabriel Riesser (1806–1863) vor dem Paulskirchenparlament betont, dass die oft als jüdische „Nation“117 bezeichnete Gruppe keine andere Nationalität habe, sondern vielmehr „deutsch denkt und fühlt,“118 und war mit dieser Ansicht auf keinen nennenswerten Widerstand gestoßen. Innerhalb des Mikwendiskurses hatte Mombert 1828 noch genau diesen Aspekt jüdischer Absonderung als ein Haupthindernis für die Integration in die bürgerliche deutsche Gesellschaft hervorgehoben: Die Mehrzahl dieser Rabbiner sind die Unglücksstifter der jüdischen Nation, eben, we i l s i e d i e Jud e n no ch a ls e ine Nat ion anges ehe n w iss e n wol l e n. Sobald die Israeliten sich nicht mehr als solche, sondern bloß als Glaubensgenossen betrachten, so werden sie das Land, das sie geboren, mehr lieb gewinnen, dann wird ihnen ein neues Glück, neue Freuden aufergehen!119
116 Vgl. hierzu Brenner, „Revolution“, S. 298–302; Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, S. 27–30. 117 Vgl. ebd., S. 98. Zum Problemkreis der „Konzeption des jüdischen Volkes“ im Spannungsfeld von deutschen Nationalstaatsbestrebungen und jüdischer Emanzipation vgl. den gleichlautenden Abschnitt bei Klein, „Geschichte des jüdischen Volkes“, S. 127–146. 118 Wigard (Hg.), Stenographischer Bericht, S. 1755 (67. Sitzung vom 28.8.1848). 119 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 92 (Hervorhebung im Original).
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Der jüdische Traum von größerer rechtlicher Freiheit ließ sich nun in dem Revolutionsgeschehen mit dem Wunsch nach einem nationalen Verfassungs- und Rechtsstaat verschmelzen und vereinte jüdische und christliche Liberale. Jüdischer Patriotismus für das ‚deutsche Vaterland‘, wie beispielsweise in den Worten des liberalen Frankfurter Rabbiners Leopold Stein120 , wurde in diesem Kontext zu einer nicht mehr grundlegend in Frage gestellten Größe: Wir erkennen unsre Sache fortan als keine besondere mehr, sie ist eins mit der Sache des Vaterlands, sie wird mit dieser siegen oder fallen. […] „wir sind und wollen nur Deutsche sein! wir haben und wünschen kein anderes Vaterland als das deutsche! Nur dem Gl aub e n nach sind wir Israeliten, in allem Uebrigen gehören wir auf ’s Innigste dem Staate an, in welchem wir leben!“121
In der Folgezeit konnte sich diese allgemein von jüdischen Intellektuellen vorgenommene klare Trennung von Glauben und staatsbürgerlicher Loyalität, und somit die Ansicht, dass Religion eine für die Erteilung bürgerlicher Rechte nicht relevante Privatangelegenheit sei, soweit durchsetzen, dass man schließlich für den Norddeutschen Bund 1869 sämtliche „noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte“122 aufhob. Die damit verbundene formale rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung wurde 1871 auch für das neu gegründete Deutsche Kaiserreich Gesetz. Anders als im Fall des Normalerlasses besteht zwar kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den hiermit knapp umrissenen politischen Etappen und der Situation der Mikwen, aber nichtsdestotrotz lässt sich das Verblassen des Gegenorts bis zu einem gewissen Grad auch mit dem Wechsel im Vorzeichen der Emanzipationspolitik in Verbindung bringen, der unter dem Einfluss der Revolution vollzogen wurde. Etwa ab der Jahrhundertmitte ändert sich der medizinische Diskurs über die Mikwe: Der Blick geht weg von der realen Mikwe und hin zu einer historischen Betrachtung, verbunden mit einem ‚ideellen Rückzug‘ des Staates, den die Autoren nun nicht mehr auf den Plan rufen (obwohl praktischer Handlungsbedarf von einigen durchaus noch eingeräumt wird). Wie lässt sich dieser Wandel erklären? Hier ist an erster Stelle sicher der Normalerlass zu Mikwen zu nennen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen waren hiermit (zumindest beispielhaft für Württemberg) 120 Zur Person Steins, der auch Präsident der zweiten Rabbinerversammlung in Frankfurt war, siehe unten Anm. 210. 121 Stein, „Zuruf “, S. 210 (Hervorhebung im Original). 122 „Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung; vom 3. Juli 1869 (Bundes-Ges.-Bl. 1869, S. 292)“, in: Privatrecht Königreich Sachsen, S. 179.
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geklärt, und damit immerhin auf Ebene der Theorie (der Gesetze) alles abschließend geregelt. Diese Sachlage mag bewirkt haben, dass einige Autoren123 davon überzeugt waren, dass auch in der Realität nunmehr alles seine Ordnung hatte. Allerdings könnte es eben auch sein, dass man dem real noch existenten Problem Mikwe bewusst keine Aufmerksamkeit mehr schenken wollte, und von dieser Haltung zeugen eben jene Autoren, die bestehende Missstände in der Praxis einräumen, aber dennoch die abstrakte historische Perspektive wählen (anstatt ihren Eindruck von einer konkreten Mikwe zu beschreiben). Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen findet sich in der beschriebenen geänderten gesellschaftlichen und politischen Situation nach der Revolution von 1848/49: Das Bekenntnis zum Judentum galt, wie von Riesser und anderen gefordert, fortan zunehmend als reiner Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer religiösen Konfession, ohne jegliche staatsbürgerliche Konsequenzen. Wenn aber die jüdische Gemeinschaft der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr als eigenständige fremde Nation erschien, die es durch geeignete Gesetze zu ‚domestizieren‘ galt, keinen gefährlichen „Staat im Staate“ im Sinne von Johann Gottlieb Fichte mehr verkörperte,124 hatte auch das Bild der Mikwe als Gegenort und Symbol einer ‚Gegengesellschaft‘ ausgedient – selbst dann, wenn diese Einrichtung nach wie vor hygienische Mängel aufwies, in der Praxis noch nicht vollständig ‚verbessert‘ war. Die historische Betrachtung der Mikwe hingegen konnte diesen Perspektivenwechsel nachvollziehen, indem sie ein positives Bild der Mikwe (als von Moses eingeführtes Reinigungsbad) bereithielt. Aber auch die zentrale Kopplung von verbesserungsbedürftiger Mikwe und staatlicher Aufsicht war seitdem außer Kraft gesetzt und die Mikwe in diesem Sinn entpolitisiert – in analoger Weise, wie durch die Revolution das Projekt des Staates als Erziehungsinstanz aufgebrochen war. Insofern als die staatlichen Gesundheitsbehörden natürlich nach wie vor involviert waren, äußerte sich der Rückzug der Mikwe ins Private innerhalb des Diskurses jedoch nicht als radikaler Bruch, sondern wurde zunächst ex negativo formuliert, indem man eine staatliche Aufsicht nun nicht mehr ausdrücklich einforderte. Eine positive Umdeutung leistete schließlich 1860 der jüdische Gelehrte Reuben Joseph Wunderbar125 in seinem Werk Biblisch-talmudische Medicin, indem er der Kontrollpflicht von oben eine moralische Verpflichtung seitens der Basis entgegensetzte: Es sei „eine heilige Pflicht
123 Pappenheim, Sanitäts-Polizei; Lion, „Gebräuche und Missbräuche“; Kraus/Pichler, Staatsarzneikunde; vgl. hierzu weiter unten Kapitel 6.1.1.3, Abschnitt Faktor 2: Der ideelle Rückzug des Staates aus der Mikwenproblematik. 124 Vgl. zu diesem Gedanken bei Fichte und anderswo Klein, „Geschichte des jüdischen Volkes“, S. 134–139. 125 Über den Historiker und Pädagogen Reuben Joseph Wunderbar (1812–1868) ist nur relativ wenig bekannt; siehe Leibowitz, „Wunderbar, Reuben Joseph“, S. 249; zu seinem medizingeschichtlichen Beitrag zur ‚Wissenschaft des Judentums‘ vgl. Jütte, „Medizingeschichtsschreibung“, S. 438.
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eines jeden Israeliten […], zur Reorganisirung dieser Anstalten beizutragen“.126 An dieser Stelle hatte sich die Mikwe nun gänzlich von der staatlichen Vormundschaft emanzipiert; sie war nicht mehr gesellschaftlicher Gegenort in einem System von zweifacher staatlicher Kontrolle, der Tauchbäder und der jüdischen Gemeinschaft, sondern nunmehr wieder das Reinigungsbad einer jüdischen Religionsgemeinschaft. 6.1.1.3 Die Spätphase des medizinischen Diskurses: Verblassen des Gegenorts
Mit Mezgers Beitrag von 1843, der sich nochmals mit Nachdruck für die Intervention staatlicher Behörden ausspricht, endet im Wesentlichen die Phase der Mikwe als Gegenort, wobei sich dieser Wandel im medizinischen Diskurs bereits auf formaler Ebene ausmachen lässt. Von nun an widmen sich in der Hauptsache drei Monographien, nicht mehr Zeitschriftenbeiträge, ausführlicher dem Thema: Johann Baptist Friedreich, Zur Bibel. Naturhistorische, anthropologische und medicinische Fragmente (1848); Johann Peter Trusen, Die Sitten, Gebräuche und Krankheiten der alten Hebräer nach der heiligen Schrift historisch und kritisch dargestellt (1853), und Reuben Joseph Wunderbar, Biblisch-talmudische Medicin oder Pragmatische Darstellung der Arzneikunde der alten Israeliten, sowohl in theoretischer als practischer Hinsicht (1860). Anders als seine beiden christlichen Schriftstellerkollegen hatte Wunderbar zwar keine formale Ausbildung als Arzt, verfügte aber dennoch über ein erstaunliches medizinisches Wissen, so dass sein Werk ebenfalls als wichtige Pionierarbeit auf diesem Gebiet zu werten ist.127 Wie bereits an den Titeln erkennbar, ist der Kontext der Darstellung in allen drei Schriften nun ein völlig anderer, und auch die Sicht auf die Mikwe ändert sich grundlegend. Diese neue Phase des medizinischen Mikwendiskurses soll nun, ausgehend von Thomas Schlichs Ergebnissen und in Abgrenzung insbesondere zu den Texten Momberts und Schneiders, genauer charakterisiert werden. Nach Schlich zeichnen sich Friedreich und Trusen dadurch aus, dass die enthaltenen Berichte über Mikwen und deren Missstände nicht länger als „Beiträge zu einer aktuellen Diskussion angeführt“ werden; beide Autoren schrieben in ihren Werken, so Schlich, aus einer „ethnologischen“ bzw. „volkskundlichen“ Perspektive, wodurch die Schilderungen der jüdischen Reinigungsbräuche eine gewisse „Exotik“ hervorriefen und dabei „die Dringlichkeit der Originalschriften Schneiders und Momberts“, – denen sie textlich stark verpflichtet sind – einbüßten.128 Bei näherer
126 Wunderbar, Biblisch-talmudische Medicin, Riga/Leipzig 1860, S. 27. 127 Vgl. Leibowitz, „Wunderbar, Reuben Joseph“, S. 249. 128 Vgl. hierzu Schlich, „Medizin“, S. 189f.
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Betrachtung öffnet sich jedoch ein etwas abweichender Deutungsrahmen: Die beiden Texte von 1848 und 1853 sind nicht historischer Rückblick auf überwundene Zustände, sondern stellen aus der Distanz des Wissenschaftlers heraus eine aktive Auseinandersetzung mit einem nach wie vor bestehenden Problem dar, das aber gemäß ihrer Theorie neu bewertet wird. Hierdurch bereiten sie das Fundament für ein neues, positives Bild der Mikwe. Sowohl der gesellschaftliche Kontext als auch der Darstellungszusammenhang unterscheiden sich von dem bei Mombert und Schneider. Letztere wollten ihre ärztlichen Kollegen auf eine damals zu wenig bekannte Problematik aufmerksam machen und wählten hierfür das Medium der medizinischen Fachzeitschrift. Friedreich und Trusen geht es in ihren medizinischen Studien zur Bibel um den Blick auf biblische Quellen aus der Sicht des modernen Wissenschaftlers mit dem Ziel, „die historische Bedeutung der Bibel […] zu erhalten, und das in der Bibel Gegebene als etwas Objectives zu erfassen, es jedoch so zu deuten, dass es mit der Anschauung der reinen Vernunft vereinbar ist.“129 Schon allein aus diesem Grund ist die Problematik der zeitgenössischen Mikwe nichts weiter als ein Exkurs (bei Friedreich auch explizit so benannt130 ). Nichtsdestotrotz kann man einem Text, der – wie auch Schlich feststellt – einen anderen „extensiv zitiert, einschließlich der Polemik“131 , wohl kaum die „Dringlichkeit“ des Originals absprechen, es sei denn, der Autor distanziert sich in aller Deutlichkeit von den übernommenen Aussagen bzw. relativiert diese in irgendeiner Weise. Dies ist aber nicht der Fall. Vielmehr kopiert Friedreich über zehn Seiten fast unkommentiert Passagen aus Momberts und Schneiders Schriften zur Mikwe,132 bei Trusen, der sich ebenfalls nur in geringem Umfang selbst zu Wort meldet, sind es immerhin noch etwas mehr als drei.133 Erhellend ist dabei in beiden Fällen die Einleitung zu diesem Exkurs, hier zunächst nach Trusen: Die talmudischen Gesetze verpflichteten die israelitischen Frauen, sich nach überstandener Menstruation, sowie nach überstandener Wochenbettsdauer in Quellwasser zu baden. Wiewohl dieses Reinigungsbad nicht nach mosaischem, sondern nach talmudischem
129 Trusen, Sitten, Gebräuche und Krankheiten, S. xi; mit minimal abweichenden Wortlaut so auch bei Friedreich, Zur Bibel, S. iv. 130 Friedreich, Zur Bibel, S. 142; im Übrigen erscheint dieser Exkurs sogar in der Inhaltsübersicht (S. vi). 131 Schlich, „Medizin“, S. 189. 132 Die übernommenen Passagen (S. 143–152) sind, wie damals nicht unüblich, in keiner Weise als solche kenntlich gemacht. Lediglich zu Beginn merkt Friedreich in einer Fußnote an, dass „das Folgende mit Ausnahme einiger Zusätze ein Auszug aus den Schriften zweier Aerzte“, nämlich Mombert und Schneider, sei (Zur Bibel, S. 142f). 133 Trusen, Sitten, Gebräuche und Krankheiten, S. 17–20.
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Gebot eingeführt worden ist, so hat es sich doch bis auf die heutigen Zeiten erhalten und verdient daher hier, in sanitätischer Beziehung der Erwähnung. […] Betrachten wir aber die Art und Weise, wie jetzt die jüdischen Frauen ihr sogenanntes Reinigungsbad nehmen, berücksichtigen wir, welche Nachtheile daraus für ihre Gesundheit entstehen, so können wir fast überzeugt sein, dass das jetzige Verfahren der Absicht des mosaischen Gesetzes geradezu wiederspricht [sic]: dieses war vernünftig und beabsichtigte Reinigung des Körpers und Erhaltung der Gesundheit, das jetzige Verfahren aber ist unvernünftig, reinigt den Körper nicht nur nicht, sondern ist ekelerregend und krankmachend.134
Der zweite Teil des zitierten Abschnitts, beginnend mit „Betrachten“, findet sich fast wörtlich auch bereits bei Friedreich,135 allerdings nicht als Einleitungsformel. Diese lautet bei ihm: Die eben besprochenen mosaischen Gesetze über die Unreinheit der Menstruirenden und Wöchnerinnen haben eine talmudische Verordnung hervorgerufen, nach welcher sich jede Frau nach der Menstruation und dem Wochenbette auf eine Art und Weise baden muss, welche durchaus nicht im Sinne Moses gelegen seyn konnte, indem sie nicht nur dem Zwecke, den Körper zu reinigen, nicht entspricht, sondern selbst zu mehreren Krankheiten Veranlassung gibt. Es mag daher in historischer sowohl als sanitätischer Beziehung gerechtfertigt seyn, wenn hier etwas über diese sogenannten R e in ig u ng sb äd e r der jüdis che n Fr au e n mitgetheilt wird.136
Den hier bei beiden Autoren vorhandenen dezidierten Hinweis auf die „sanitätische“ Bedeutung der Reinigungsbäder werte ich als bewusste Auseinandersetzung mit einem noch immer vorhandenen Problem. Gemäß ihrer Zielsetzung, „das in der Bibel Gegebene als etwas Objectives zu erfassen“ und es „so zu deuten, dass es mit der Anschauung der reinen Vernunft vereinbar ist“, setzen sie hierbei jedoch andere Akzente als die aus der Perspektive des praktischen Arztes verfassten Schriften von Mombert und Schneider: Die bestehenden Reinigungsbäder, so wie man sie aus eigener Anschauung oder Veröffentlichungen kannte, bildeten zwar einerseits die zeitgenössische Entsprechung der biblischen Vorgaben, waren aber andererseits nicht das, was die mit Vernunftgründen zu vereinbarende mosaische Gesetzgebung forderte, und genau dieser Unterschied wird bereits in den beiden Einleitungsabsätzen betont: Die moderne Praxis sei unvernünftig und ungesund, habe aber ihren Ursprung nicht in der Bibel, sondern der talmudischen Auslegung.
134 Ebd., S. 16. 135 Friedreich, Zur Bibel, S. 144. Der einzige sinntragende Unterschied ist der, dass sich Friedreich „fest“ überzeugt zeigt, Trusen dagegen nur „fast“. 136 Friedreich, Zur Bibel, S. 142 (Hervorhebung im Original).
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Ungeachtet der von Mombert und Schneider völlig verschiedenen Ausgangslage, nämlich der Einbindung der Mikwenproblematik in ihr wissenschaftlichtheoretisches Gesamtkonzept, übernehmen sowohl Friedreich als auch Trusen ohne nennenswerte Einschränkung deren Schilderungen der Kellerquellenbäder und ihrer Gefahren. Sie erkennen diese somit nicht nur als weiterhin berechtigt an, sondern legitimieren sie durch ihre Schriften aufs Neue – wenn auch nicht, ohne ihnen einen gänzlich anderen Wirkungsrahmen zu verleihen. Dieser hier erstmals deutlich hervortretende Wandel des medizinischen Diskurses liegt jedoch weniger in dem textlichen Umfeld begründet, das nach Schlich einen Anstrich von vergangener „Exotik“ erzeugt,137 als vielmehr in zwei anderen Faktoren. Beide Faktoren bewirken, dass sich die Mikwe, trotz der noch nicht abschließend beseitigten Mängel, als Konzept aus dem sie bestimmenden gesellschaftlichen Wirkungsgefüge allmählich wieder lösen kann, d. h. ihrer Festschreibung auf die gesundheitlichen Gefahren und die hierauf gegründete Aufsichtspflicht. Dem von Friedreich und Trusen gefundenen neuen literarischen Format ist darüber hinaus noch Wunderbars Werk Biblisch-talmudische Medicin von 1860 zuzurechnen; wie anschließend zu zeigen sein wird, finden die dort angelegten Entwicklungen hier ihre Fortsetzung. Faktor 1: Der Wechsel des Bezugssystems
Der erste Faktor äußert sich unter anderem in der von Friedreich und Trusen bereits im Eingang hervorgehobenen Unterscheidung zwischen ursprünglichen, vernunftgemäßen, mosaischen Reinigungsgeboten und der späteren Entwicklung. Dies ist zunächst nichts Neues, sondern gewissermaßen Gemeingut der aufklärerischen Kritik an der Mikwe und so nicht zuletzt auch bei Mombert zu finden (vgl. auch Tabelle 4b). Für Mombert ist die genannte Unterscheidung mosaisch–talmudisch innerhalb des medizinischen Diskurses jedoch nicht zentral, wie seine 1830
137 Schlich, „Medizin“, S. 189f. Schlichs prinzipielle Unterscheidung zwischen den Ausgaben von 1843 und 1853, wonach Trusen die Mikwe 1843 noch als aktuelles Problem behandelt, 1853 dann lediglich unter dem Aspekt der „Exotik“, wird den Texten aus meiner Sicht nicht gerecht. Tatsächlich schließt Trusen seine kurze Darstellung 1843 sogar mit einer Einschränkung von Momberts düsterer Skizze: „so findet ein so hoher Grad von Unreinlichkeit jedoch nicht überall in den Synagogenbädern Statt [sic], […] da es keinesweges verboten ist, das gebrauchte Quellwasser abzuleiten“ (Darstellung der biblischen Krankheiten, S. 106f). Eine ähnliche Relativierung des Problems bleibt 1853 aus; stattdessen verweist sein dort geäußerter Wunsch, „dass die von Mombert vorgeschlagenen Verbesserungen allgemeinen Eingang finden möchten“, auf die nach wie vor gegebene Dringlichkeit der Mikwenproblematik (Sitten, Gebräuche und Krankheiten, S. 20). Auch hat Trusen, anders als Schlich annimmt, vermutlich bereits 1843 Mombert rezipiert. In jedem Fall adaptiert er in seiner knappen Schilderung der Mikwe dessen Text, wenn auch in geringerem Umfang als 1853 (Darstellung der biblischen Krankheiten, S. 106; vgl. Mombert, „Bad“, S. 281, hier die Stelle „Die Quellbäder befinden sich in größern Städten gewöhnlich“ bis „wo die Gemeinden sehr arm sind.“)
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vorgenommene Kurskorrektur zeigt. Seine Kritik an den Rabbinern, gewissermaßen die Hüter der talmudischen Tradition, fällt in der kürzeren Abhandlung von 1830, die sich speziell an ein ärztliches Publikum richtet, deutlich moderater aus als noch 1828; auch geht er auf die biblischen bzw. talmudischen Grundlagen des Tauchbads nur sehr knapp ein, und nicht ohne die entschuldigende Bitte, der Leser möge ihm diese „kleine historische Digression“ verzeihen.138 Die Monographie von 1828 hingegen, die eine ausführliche deutende Darstellung historischer Vorgänge enthält und das Gebot der Mikwe auch vor diesem Hintergrund kritisch beleuchtet, hat grundsätzlich einen größeren Adressatenkreis: jüdische Frauen, jüdische Theologen und allgemein „das ärztliche Publikum“.139 Trotz dieses im Vorwort formulierten Anspruchs und seines ärztlichen Blickwinkels ist die frühere Schrift von ihrer Anlage her jedoch eher das Werk eines Aufklärers, der innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Veränderungen zu bewirken sucht; es sind die Frauen, denen er durch seine praktischen Ratschläge helfen will, sich vor Krankheiten zu schützen,140 und es sind Juden allgemein, die er durch seine Ausführungen immer wieder bewegen möchte, ihre Tradition vom Standpunkt der Vernunft her neu zu überdenken. Diesen ‚Regiefehler‘, der seinen Wirkungsradius in der Zielgruppe der Ärzte möglicherweise zu sehr eingeschränkt hat, korrigiert er nun bewusst in seiner Abhandlung von 1830, wo er vorausschickt: „dieß populäre Werkchen [Das Kellerquellenbad von 1828] mag aber wenig in das ärztliche Publikum gekommen seyn; hier [d. h. im Rahmen einer medizinischen Fachzeitschrift] soll blos das den Aerzten Interessante mitgetheilt werden.“141 Friedreich hingegen baut in seiner zitierten Überleitung zur Mikwe dezidiert auf das Fundament der zuvor betrachteten mosaischen Gesetze: Demnach ist das zeitgenössische Reinigungsbad erstens „durchaus nicht im Sinne Moses“, bewirkt zweitens keine Reinigung, und ist drittens sogar krankmachend. Dieser einfache Dreierschritt beinhaltet sowohl eine wirkungsvolle Steigerung als auch eine besondere Verknüpfung der mosaischen Tradition mit dem aktuellen, von der Aufklärung bestimmten, medizinisch-hygienischen Diskurs, in dem die Wiederentdeckung des Bades für die Reinigung der Haut eine bedeutende Rolle spielt. Im weiteren Verlauf seiner Darstellung führt Friedreich zudem das aufklärerische Ideal der Vernunft ein, das sein Pendant in der biblischen Gesetzgebung hat: Die mosaische Regelung „war vernünftig und beabsichtigte Reinigung des Körpers und Erhaltung der Gesundheit, das jetzige Verfahren aber ist unvernünftig, reinigt den Körper
138 Moritz Mombert, „Bad“, S. 290. 139 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, Vorwort (unpag.). 140 So gibt er unter anderem spezielle Hinweise für diejenigen Frauen, die trotz allem an der traditionellen Methode festhalten wollen (Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 96–109). 141 Moritz Mombert, „Bad“, S. 275.
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nicht nur nicht, sondern ist eckelerregend und krankmachend.“142 Gegen Ende seiner Darstellung wiederholt Friedreich diesen Gedanken nochmals, in leicht abgewandelter Form, unter abermaliger Verwendung des Begriffspaars „eckelerregend und krankmachend“.143 Auch Mombert hatte, wie in Kapitel 6.1.1.2 dargestellt, 1830 bereits eine einprägsame Triade eingeführt, die in medizinischen Fachkreisen Popularität erlangte, nämlich die der „Schädlichkeit dieser Bäder […] 1) durch Eckel, 2) durch Erkältung, 3) durch Mittheilung eines Contagiums.“ Diese wurde im Anschluss an Friedreichs Schrift von 1848 zwar nicht grundsätzlich außer Kraft gesetzt, nach wie vor war in medizinischen Schriften sowohl von der Gefahr durch Kälte und Ansteckung als auch vom Ekelfassen als Krankheitsursache die Rede, doch diente sie fortan nicht weiter als Kurzformel für die Beschreibung der Mikwe. Anders als diejenigen Kollegen, die ihre Texte zwischen 1825 und 1843 in Fachzeitschriften veröffentlichten und die Beschaffenheit der Mikwen in der Regel aus eigener Anschauung kannten,144 schrieben Friedreich und Trusen (etwas später auch Wunderbar) primär als Wissenschaftler, nicht als Anwalt der jüdischen Frauen. Möglich wurde eine solche distanzierte, wissenschaftliche Perspektive sicher auch erst dadurch, dass bereits gewisse Erfolge erzielt waren und die Frage der Mikwen nicht länger die gleiche Dringlichkeit besaß wie noch in den 1820er Jahren. Nichtsdestotrotz betrachten aber Friedreich und Trusen die bei Mombert und Schneider geschilderten Missstände nicht als abschließend beseitigt und somit aus rein ethnologischer Perspektive. Vielmehr wird Momberts medizinische Triade, und damit der Rückverweis auf den geschlossenen Kosmos der Medizin, von Friedreich aufgebrochen und auf die Gesellschaft als solche hin erweitert, der die Thematik der Mikwe nun auf neue Weise eingeschrieben wird. Die hier anschließende Gegenüberstellung (Abb. 10) soll dabei die Geschlossenheit von Momberts Triade und die ungleich größere Dynamik von Friedreichs Dreierschritt zunächst schematisch reduziert veranschaulichen. Zwar enthält auch Momberts Aufzählung eine Steigerung, mit schweren Infektionskrankheiten an der Spitze, jedoch einzig und allein innerhalb des Wirkungsrahmens der Medizin, der nicht überschritten wird – auch Ekel fun-
142 Friedreich, Zur Bibel, S. 144. 143 Ebd., S. 151. 144 Vgl. hierfür Tabelle 4b. Die einzige diesbezügliche Ausnahme stellt möglicherweise Herrmann Wolffs Artikel Einige Worte über den gegenwärtigen Zustand der Judenfrauenbäder von 1838 dar, der ein eindeutiges Urteil hierüber nicht erlaubt. Wolffs Beschreibung der typischen Kellermikwe ist einerseits relativ kurz und unspezifisch, andererseits aber ohne erkennbare Vorlage. Sein Hinweis darauf, dass in seiner Gegend die Frauen häufig gezwungen sind, in zugefrorenen Flüssen unterzutauchen, lässt allerdings vermuten, dass er sich auch persönlich mit der Situation vor Ort befasst hat (vgl. Wolff, „Zustand der Judenfrauenbäder“, S. 177).
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giert bei Mombert in diesem Schema als Krankheitsursache, d. h. er führt gerade in den medizinischen Kontext hinein.
Abb. 10
Friedreichs Begriffspaar „eckelerregend und krankmachend“ knüpft inhaltlich an Mombert an, schrumpft dabei aber zugleich dessen „Erkältung“ und „Mittheilung eines Contagiums“ auf das unspezifische, nicht fachsprachliche „krankmachend“ zusammen. In der konzentrierten Form des „eckelerregend und krankmachend“ wird dieser Bestandteil des bisherigen medizinischen Diskurses über Mikwen nun in einen wesentlich größeren Begründungszusammenhang gestellt: den der Aufklärung mit der zentralen Richtinstanz der Vernunft, und den der populären Auffassung von Körperreinigung, wie sie spätestens seit Hufelands Plädoyer für die Wiedereinführung der Bäder von der Bürgerschicht getragen wurde. Dabei bietet Friedreich in seiner Darstellung zwar nur die Negativschablone – unvernünftig, reinigt nicht, macht krank – aber diese enthält zugleich, als verborgenes Potential, die Möglichkeit der Umkehrung: Sind die äußeren Umstände der Mikwe erst nicht mehr krankmachend, dann reinigt das Tauchbad den Körper, ist folglich vernünftig und gesellschaftlich akzeptabel. Die bei Friedreich gefundene und von Trusen wiederholte Formel, wonach „das jetzige Verfahren“ mit der vernünftigen „Absicht des mosaischen Gesetzes“ im Widerspruch und darüber hinaus noch „eckelerregend und krankmachend“ sei, erwies sich dabei als so griffig, dass sie
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auch Wunderbar in seinem Buch Biblisch-talmudische Medicin von 1860 (sowie der Neuauflage von 1865) noch verwendet.145 Wunderbars Darstellung ist zugleich die letzte, die sich die ‚klassischen‘ Texte von Mombert und Schneider zu eigen macht, erweitert unter anderem durch die ebenfalls ärztliche Perspektive von Mezger (1843). Dabei dient Mombert in seinem Text ebenso wenig als Illustration früherer Mißstände und exotisches Zeugnis einer längst überwundenen Vergangenheit, wie dies bei Friedreich und Trusen der Fall ist. Wunderbar berichtet keineswegs „von der erfolgreichen ‚Reformation‘ dieser Bäder“146 , sondern differenziert in seiner Überleitung zur Situation der zeitgenössischen Mikwen folgendermaßen: Wenn nun auch einerseits in letzterer Zeit […] in vielen israelitischen Gemeinden […] eine bedeutende Reformation dieser Reinigungsbäder stattgefunden hat (wenngleich mitunter bei aller Verbesserung doch noch immer Etwas zu wünschen übrig lässt): so sind indessen andererseits noch sehr viele Gemeinden vorhanden, in denen, (namentlich in kleinen Städten und auf dem Lande) diese erwähnten Anstalten noch so erbärmlich sind, dass sie eher einer schmutzigen Pfütze, als einer Badeanstalt gleichen, mithin nicht nur keinesweges den Namen einer Reinigungsanstalt verdienen, sondern in solchem Zustande sogar auch noch viele Krankheiten, zuweilen selbst den Tod der badenden Person verursachen können, weshalb es eine heilige Pflicht eines jeden Israeliten sein müsse, dessen Religionsgrundsatz ist: „Beobachtet meine Gesetze und meine Rechte, du rch d ere n Ausübu ng d e r Me ns ch l eb e n s ol l (3. B. Mos. 18,5), zur Reorganisirung dieser Anstalten beizutragen, dass dieselben nämlich so eingerichtet werden, dass sie, bei übrigens strenger Grundlage des Religionsgesetzes, zugleich auch allen Anforderungen der Reinlichkeit und der Sanitätsvorschriften genügen mögen.147
Es überwiegen also ganz eindeutig, trotz aller erreichten Verbesserungen, nach wie vor die negativen Beispiele, was eben die hieran anschließende Zusammenschau „von competenten Sachkennern über diesen Gegenstand“148 , d. h. Schneider,149 Mombert, Mezger und Friedreich, rechtfertigt. Dabei zitiert Wunderbar, neben 145 Vgl. Wunderbar, Biblisch-talmudische Medicin, Riga/Leipzig 1860, S. 29; ders., „Medicinische Polizei der alten Israeliten“, S. 29, in: ders., Biblisch-talmudische Medicin, Riga/Leipzig 1865. 146 So Schlich, „Medizin“, S. 190f. 147 Wunderbar, Biblisch-talmudische Medicin, Riga/Leipzig 1860, S. 26f (Hervorhebungen durch Fettdruck nicht im Original). 148 Ebd. 149 Schneider wird, anders als Mombert, Mezger und Friedreich, im Zusammenhang mit der Mikwe nicht explizit als Quelle angegeben; allerdings übernimmt Wunderbar den einschlägigen Text Schneiders zu den Krankheitsfolgen des Untertauchens in der Mikwe (Biblisch-talmudische Medicin, Riga/Leipzig 1860, S. 34; vgl. P.J. Schneider, „Religionsgebräuche“, S. 250). Dass er dabei Schneiders Schrift nicht nur indirekt über Friedreich rezipiert hat, erhellt aus einer Quellenangabe im Kontext
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den Missständen, nicht nur ausführlich die bereits von Mombert 1828 und 1830 geäußerten Verbesserungsvorschläge, sondern erwähnt abschließend, als neuesten Beitrag auf diesem Gebiet, auch die von Rabbiner Rosenfeld zunächst in Bamberg eingeführte Regenwasser-Mikwe,150 zu der erstmals 1840 in der Allgemeinen Zeitung des Judentums ein Bericht erschien.151 Die Suche nach geeigneten technischen Verbesserungen der Mikwen war keineswegs abgeschlossen! Faktor 2: Der ideelle Rückzug des Staates aus der Mikwenproblematik
Nichtsdestotrotz ist Schlichs Einordnung der drei Texte in eine gemeinsame Kategorie in ihrem Grundsatz richtig, und zwar nicht nur aus dem bereits genannten Grund, dass bei Wunderbar die Mikwe ebenfalls aus Momberts ‚medizinischer Triade‘ herausgelöst und in den größeren kulturellen Zusammenhang von Aufklärung und Körperhygiene gestellt wird. Noch eine weitere Tendenz ist bereits bei Friedreich und Trusen in ihrem Keim angelegt und wird nun bei Wunderbar deutlich spürbar; sie bildet zugleich den zweiten Faktor, der diese Dreiergruppe von Werken als Beginn des Wandels im medizinischen Diskurs über Mikwen kennzeichnet: Im Gegensatz zu Schneider, Mombert und Mezger, die er zitiert, sieht Wunderbar nicht länger die staatlichen Behörden (einschließlich der beaufsichtigenden Ärzte) in der Verantwortung, sondern legt es vielmehr den jüdischen Gemeinden bzw. deren Mitgliedern gleichsam als „heilige Pflicht eines jeden Israeliten“ auf, für die nötigen Verbesserungen zu sorgen, wie er sowohl an dieser Stelle als auch im Fortgang seiner Argumentation schreibt.152 Trusen und Friedreich legen sich in der Frage der Zuständigkeit nicht wirklich fest. So formuliert Trusen 1853 die unverbindliche Forderung, es erscheine „aus allgemeinen Sanitäts-Rücksichten wünschenswerth, dass die von Mombert vorgeschlagenen Verbesserungen allgemeinen Eingang finden möchten“153 , um gleich darauf festzustellen, dass es all dieser Anstrengungen letztlich nicht bedürfe, da die Rabbinerversammlung von Frankfurt sowie die württembergische Oberkirchenbehörde auch ein Wannenbad als ausreichend erklärt hätten. Friedreich hingegen betont einerseits das Recht des Staates, „religiöse Gebräuche, wenn sie anerkannt der Gesundheit nachtheilig
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der Beschneidung in Band 3 des Werks von 1852 (Biblisch-talmudische Medicin, Riga/Leipzig 1852, S. 25). Wunderbar, Biblisch-talmudische Medicin, Riga/Leipzig 1860, S. 36f, 38. Zu Rosenfelds Erfindung vgl. Kapitel 6.2.2.2. Vgl. Wunderbar, Biblisch-talmudische Medicin, Riga/Leipzig 1860, S. 27, sowie ebd., S. 29, wo Wunderbar den Gemeinden zu diesem Zweck Geldopfer abverlangt. Genaugenommen kündigt sich der Übergang zu dieser Spätphase des Diskurses schon bei Mezger 1843 an, der zwar einerseits die strengste Aufsicht seitens der Behörden einfordert, andererseits aber auch an die moralische Pflicht der Bezirksrabbiner und der Oberkirchenbehörde zur Abschaffung der Missbräuche appelliert („Bäder“, S. 154f). Trusen, Sitten, Gebräuche und Krankheiten, S. 20.
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sind, zu verbieten“154 , und bezieht sich hierbei sowohl auf den Talmud als auch Mombert, fordert dieses aber nicht explizit für seine Zeit ein; stattdessen nennt er Beispiele aus der Vergangenheit, insbesondere Württemberg und Baden, und argumentiert im Übrigen ähnlich wie Trusen, dass jüdische Frauen sich alternativ auch normaler Bäder bedienen dürften.155 Ein Handlungsbedarf in Sachen Mikwe ist somit gemäß den Darstellungen von Friedreich, Trusen und Wunderbar auch zwischen 1848 und 1865 noch gegeben, die von Schneider und Mombert beschriebenen Missstände keineswegs in ausreichendem Maß beseitigt. Innerhalb des medizinischen Diskurses verschiebt sich aber in dieser Zeit die Zuschreibung der Kompetenzen vom Staat (zuletzt Mezger 1843)156 über eine Übergangszone der Unbestimmtheit (Friedreich 1848, Trusen 1853) hin zur Zuständigkeit jüdischer Individuen bzw. Gemeinden (Wunderbar 1860) – und reflektiert dabei zeitlich exakt die politischen Gegebenheiten: Die Phase aktiver staatlicher Einmischung, die ‚Mission Mikwe‘ war mit der Rabbinerkonferenz von 1845 bzw. dem württembergischen Normalerlass von 1846 nicht nur faktisch abgeschlossen, sondern, wie die medizinische Literatur zeigt, auch ideell. Zwar war die weitere Entwicklung der Mikwen keineswegs der Kontrolle des Staates völlig entzogen, die Gemeinden in ihren Entscheidungen nicht autark (zumindest nicht in den Gebieten, die im Rahmen dieser Arbeit betrachtet wurden), aber der Blickwinkel derjenigen, die diesen Prozess beobachteten, hatte sich verschoben. Momberts medizinische Triade hatte sich erschöpft, die noch bestehenden Probleme mussten nicht länger an die (bereits zuständige) Sanitätspolizei verwiesen werden, sondern konnten mit dem distanzierten Blick des Wissenschaftlers und in einem neuen Zusammenhang betrachtet werden. In diesem Wirkungsgefüge war es möglich, den medizinischen Diskurs über Mikwen aufzubrechen und an weitere gesellschaftliche Faktoren anzubinden, wie Friedreich dies tat. Bezogen auf die Situation der Mikwen vor Ort kommt Wunderbar der Realität ab der zweiten Jahrhunderthälfte bis zur Reichsgründung vermutlich am nächsten, wenn er davon ausgeht, dass trotz vieler Verbesserungen gerade in kleinen Gemeinden noch viel zu leisten sei. Schenkt man hingegen Pappenheim (1858), Lion (1864)157 oder Kraus/Pichler (1872) Glauben, so war die sanitätspolizeiliche Rele154 Friedreich, Zur Bibel, S. 152. 155 Ebd., S. 150f. 156 Mezgers Position wird auch 1845 nochmals in einer kurzen Besprechung seines Vortrags wiederholt, Autor des Beitrags ist Dr. Samuel Mayer, Rabbiner in Hechingen (siehe Mayer, „Frauenbäder“, Sp. 307f). 157 Lion geht davon aus, dass die in früheren Zeiten beschriebenen Missstände hinsichtlich der Mikwen inzwischen durch gesetzliche Regelungen hinreichend beseitigt seien und „auch der Gebrauch derselben nicht mehr so allgemein ist als früher, und jede gebildete Frau anderweitig Gelegenheit hat, sich in dieser Beziehung reinlich und angemessen zu verhalten“ („Gebräuche und Missbräuche“, 11.12.1864, S. 525). Zudem relativiert er das im medizinischen Diskurs vorhandene Negativ-Bild
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vanz des Problems in dieser Zeit bereits äußerst gering bzw. nicht mehr gegeben. Allerdings spiegelt die völlige Negierung des Problems bei Kraus/Pichler vermutlich weniger die realen Umstände, als vielmehr die beschriebene Verschiebung des medizinischen Diskurses über die Mikwe wider. Ihr Werk ist die späteste betrachtete Quelle aus der Gattung der Staatsarzneikunde, nach Most und Pappenheim. Und während Most 1838 noch ausgiebig Mombert zitiert, einschließlich dessen Appells, wonach sich „die Regierungen der Sache annehmen“ müssten,158 will Pappenheim es 1858 bereits den Frauen selbst „füglich überlassen, die nöthigen Veränderungen zu bewirken“ und die zwar vorhandenen, aber unbedeutenden Mängel zu beseitigen.159 14 Jahre später gehen Kraus/Pichler davon aus, dass traditionelle Mikwen kaum noch in Gebrauch sind, und dass lediglich „hie und da […] im Bade noch gewisse rituelle Manipulationen vorgenommen“ werden bzw. nur orthodoxe Jüdinnen überhaupt das Gebot in seiner ursprünglichen Form bewahren.160 Die beschriebenen Gefahren gehören in ihrer knappen Darstellung ganz der Vergangenheit an – und an dieser Stelle hat sich der ‚Patient Mikwe‘ nun tatsächlich aus dem zuvor geschlossenen Raum sanitätspolizeilicher Aufsicht verabschiedet, und zwar durch die Tür, die Friedreich aufgestoßen hatte. Denn obwohl die Autoren sich der „rituellen Gesetze“ hinter dem vordergründigen Baden bewusst sind, wird dieses bestenfalls mit einer kleinen orthodoxen Minderheit in Verbindung gebracht, während die übrigen Frauen bereits ganz in der bürgerlichen Gesellschaft angekommen sind und nunmehr deren vernunftgemäße Reinigungsriten befolgen: Sie „baden“
der Mikwe dadurch, dass er an anderer Stelle derselben Artikelserie den christlichen Kirchenraum ähnlicher Kritik unterzieht, wie das ansonsten bei den Mikwen der Fall ist: Die Luft in der Kirche sei „selten rein und angenehm“, zudem durch die Menge der Gottesdienstbesucher und „deren Ausdünstung ganz verdorben“. Ein „eisiger Schauer“ empfange den Besucher beim Eintritt selbst an warmen Sommertagen. „Leute von empfindlicher Natur und schwache [sic] Nerven und schwachem Körper fühlen stets Beängstigung und Beschwerden. Ohnmachten, Krämpfe, selbst Schlagfluss sind schon oft in Kirchen aus dieser Ursache vorgekommen.“ („Gebräuche und Missbräuche“, 30.10.1864, S. 459). Der Verfasser der Artikel, Adolph Lion sen., hat sich vor allem durch seine umfangreichen Arbeiten auf dem Gebiet der Sanitätspolizei einen Namen gemacht. Eine anonyme Rezension zu seinem Taschenbuch der gerichtlichen Medizin, 1862 veröffentlicht in Henkes Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, würdigt ihn als einen Arzt, „der sich wissenschaftlich in die gerichtliche Medizin und in die öffentliche Gesundheitspflege tüchtig hineingearbeitet hat und dessen treffliches Urtheil in solchen Sachen wir häufig Gelegenheit gehabt haben zu erkennen“ („Taschenbuch der gerichtlichen Medizin“ [Rez.], S. 188). Im Einklang mit seiner 1864 vorgetragenen Einschätzung steht auch die Beobachtung, dass Lion in zwei ebenfalls aus den 1860er Jahren stammenden Werken, die sich der öffentlichen Gesundheitspflege widmen, das jüdische Ritualbad gar nicht erwähnt (vgl. hierzu unten Anm. 249). 158 „Bad“, in: Most (Hg.), Encyklopädie, S. 216–220, hier S. 219. 159 „Frauentauchbäder der Juden“, in: Pappenheim, Sanitäts-Polizei, S. 603. 160 „Baden, Bäder“, in: Kraus/Pichler, Staatsarzneikunde, S. 209f, hier S. 210.
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in den öffentlichen „comfortablen Badeanstalten oder zu Hause in ihren Badecabinen“, so Kraus/Pichler.161 Das Thema Mikwe wird nicht länger als öffentlich relevantes gesundheitspolizeiliches Problem wahrgenommen, sondern bestenfalls als ein Randgruppenphänomen, das sich durch die normalen gesellschaftlichen Prozesse quasi von selbst reguliert. Die sanitätspolizeiliche Deutungshoheit über die Mikwe, die sich in dem Wirkungsgefüge von staatlicher Gesundheitsfürsorge und Emanzipationspolitik ergeben hatte, war somit endgültig beseitigt und der Weg frei für alternative – positive – Interpretationen des Konzeptes Mikwe. 6.1.2
„Reinigkeit und Sittlichkeit“: Die Verbürgerlichung der Mikwe
Die Spätphase des medizinischen Diskurses über die Mikwe war somit geprägt von zwei grundsätzlichen Entwicklungen: dem Herauslösen der Mikwe aus dem Kontext sanitätspolizeilicher und damit staatlicher Aufsicht einerseits, und dem Aufkommen einer historisch orientierten medizinischen Perspektive auf die Mikwe andererseits. An die Stelle der ‚Verortung‘ der Mikwe und ihre negative Darstellung als inadäquater Gegenort trat nun um die Jahrhundertmitte die Wertung der zeitgenössischen Einrichtung vor der Schablone vernünftiger mosaischer Gesetzgebung. Im Hinblick auf eine positive Umdeutung der Mikwe war dies der Wendepunkt, insofern als man hiermit die vorherrschende Fixierung auf den realen Ort Mikwe mit seinen eklatanten Mängeln durchbrach, und den Blick freigab auf ihre kulturelle bzw. religiös-spirituelle Funktion, und damit auch ihr Potential. Zwar erschien die zeitgenössische Mikwe in der medizinischen Literatur gerade zu Beginn dieser Phase unverändert als negativ, da sie weder den modernen Anforderungen noch dem mosaisch-biblischen Idealbild entsprach, jedoch schuf diese Gegenüberstellung den notwendigen Rahmen für eine ideologische Rehabilitierung der Mikwe in Analogie zu dem bereits stattfindenden materiellen Wandel. Tatsächlich bildet der späte medizinische Diskurs nur die eine, passive Seite der allmählichen Eingliederung der Mikwe in die bürgerliche Lebenswelt ab. Parallel zur Entstehung des Gegenortes Mikwe in medizinischen Schriften wirkten jüdische Reformer auch aktiv auf eine ideelle Transformation des alten Frauenbades hin, hierin unterstützt durch einzelne christliche Ärzte. In diesem Kontext aber, nämlich dem jüdischen Reformdiskurs und einzelnen positiven Schriften von christlicher Seite, findet sich der noch fehlende Schlüssel für eine Akzeptanz der Mikwe durch die Gesellschaft: Indem man das moderne bürgerliche Ideal auf die biblische Mikwe (vorgeblich von Moses eingeführt) zurückprojizierte und sie als hygienisches Reinigungsbad verstand bzw. darstellte, konnten jüdische und bürgerliche Werte miteinander verschmelzen. Unter diesem Vorzeichen betrachtet, stellte
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dann auch eine – entsprechend modernisierte – Mikwe keinen Fremdkörper in Form eines Gegenortes mehr dar, sondern ließ sich in die bürgerliche Gesellschaft integrieren. In dem hiermit grob skizzierten jüdischen Programm zur Reform der Mikwe gingen materielle Erneuerung und ideelle Transformation Hand in Hand. Erscheint die Modernisierung der Mikwen zunächst als ein wesentlich von außen (nämlich Staatsbediensteten und Ärzten) gesteuerter, bzw. von politischen Entwicklungen beeinflusster Prozess, so wird an dieser Stelle deutlich, dass auch das jüdische Interesse an deren Verbesserung keinesfalls nur Reaktion auf staatliches Vorgehen war; vielmehr war der Wandel der Mikwe, weit über Momberts Impuls hinaus, Teil eines umfassenderen innerjüdischen Reformprojekts. Man verstand die Mikwe als einen Aspekt der jüdischen religiösen Kultur, der nicht nur auf staatlichen Druck hin und im Interesse der Nutzerinnen, sondern allgemein im Hinblick auf ein zeitgemäßes Judentum modernisiert werden musste. Es galt zu zeigen, dass jüdische Werte grundsätzlich vereinbar, ja letztlich sogar identisch mit den Idealen der bürgerlichen Gesellschaft waren – und die Mikwe war in besonderer Weise geeignet, um die Kompatibilität von Judentum und moderner bürgerlicher Kultur zu demonstrieren. Zwar glich die ärztliche Kritik an der Institution der Mikwe in zentralen Punkten der Kampagne, die ebenfalls gegen das Ritual der Beschneidung geführt wurde. Auch dieses wurde, in seiner traditionellen Form, aufgrund mangelhafter Hygiene als gesundheitsgefährdend eingestuft.162 Während man sich jedoch in der Beweisführung für den gesundheitlichen Nutzen der Beschneidung in der modernen Lebenswelt weitgehend in der Defensive befand, bot sich im Fall der Mikwe eine einzigartige Chance: nämlich das ‚Andocken‘ des traditionellen religiösen Rituals an die Reinlichkeitskultur des Bürgertums und damit die Möglichkeit einer umfassenden ‚Verbürgerlichung‘ der Mikwe, die in Folge gleichermaßen von jüdischer wie von christlicher Seite anerkannt werden konnte. In diesem Sinn sollte und konnte das traditionelle Frauenbad sowohl in seiner äußeren Gestalt als auch seinem Wesen nach zum bürgerlichen Ritualbad werden, und dabei nicht lediglich als Vorleistung für die erstrebte Emanzipation fungieren, sondern zugleich äußeres Zeichen eines modernen Judentums sein, das fest auf dem Fundament bürgerlicher Werte etabliert war. Während sich das Textkorpus zur Mikwe als Gegenort als enorme Sammlung von ärztlichen Berichten, vor allem innerbehördlicher Art, präsentiert, ist der text-
162 Für eine frühe ärztliche Kritik an der Beschneidung vgl. P.J. Schneiders Schrift von 1825 („Religionsgebräuche“, S. 216–235). Moderne Forschungsarbeiten, die sich mit diesem Thema beschäftigen, sind z. B. die Veröffentlichungen von Robin Judd, insbesondere seine Monographie Contested Rituals von 2007 (S. 21–57), sowie Eberhard Wolffs Studie Medizin und Ärzte im deutschen Judentum der Reformära von 2014 (S. 206–235). Für einen Überblick über die neuere Forschung zum Thema Beschneidung vgl. ebd., S. 32–39.
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liche Rahmen, in dem sich parallel die Verbürgerlichung der Mikwe vollzieht, in seinem Kern recht bescheiden. Auf jüdischer Seite ist an erster Stelle wieder Moritz Mombert zu nennen, nicht zuletzt deshalb, weil er das prominente Bindeglied zwischen dem medizinischen Diskurs und dem innerjüdischen Reformdiskurs darstellt. Darüber hinaus behandeln hauptsächlich die Schriftstücke um die Rabbinerversammlung von 1845 sowie der jüdische Aufklärer und Pädagoge Elias Birkenstein die Stellung der Mikwe im Hinblick auf ein modernes bürgerliches Judentum. Beide stehen außerhalb des medizinischen Diskurses im engeren Sinn, wenngleich man die Ergebnisse der Rabbinerversammlung in der medizinischen Fachwelt zumindest indirekt, über den württembergischen Normalerlass zur Kenntnis nahm, und wenngleich Birkenstein sich die Erkenntnisse bzw. die Sichtweise der Aufklärungsmedizin im Sinne Hufelands zu eigen macht.163 Gerade sein 26seitiges Bändchen Gründliche Belehrung über das Baden der Judenweiber (1826) liest sich fast wie eine thematisch auf die Mikwe zugeschnittene Fortsetzung von Hufelands Makrobiotik oder Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern; es ist gleichermaßen Lob der Gesundheit, die Basis für menschliche Vervollkommnung und Glückseligkeit, wie auch Kritik an einem falsch verstandenen Judentum, das dieses „Geschenk des Himmels“164 nicht ausreichend schützt. Die verstreuten Zeitungsnotizen der deutsch-jüdischen Presse hingegen bieten diesbezüglich lediglich einen Widerhall der staatlichen Politik bzw. der bekannten Schriften, ein eigenständiger Dialog fand, wenn überhaupt, nur in Ansätzen statt. Auch Wunderbars Werk Biblisch-talmudische Medicin von 1860 ist hier der Vollständigkeit halber nochmals zu nennen, wurde aber hinsichtlich seiner Bedeutung für die Mikwe bereits erschöpfend behandelt. Der Prozess ihrer Verbürgerlichung vollzog sich allerdings nicht nur in den wenigen Schriften jüdischer Reformer bzw. Aufklärer, sondern erhielt ebenfalls Impulse von Seiten christlicher Ärzte. Indem manche von ihnen das positive Potential des Tauchbads herausstellten oder es gar zur Nachahmung empfahlen, bestätigten und stärkten sie die jüdischen Bemühungen. 6.1.2.1 Ästhetisierung und Historisierung: Die Mikwe als Teil des jüdischen Reformprogramms
In ihrem Standardwerk zur Verbürgerlichung der deutschen Juden im 19. Jahrhundert, Jüdische Wege ins Bürgertum (2004), identifiziert Simone Lässig drei grundlegende Strategien, mit Hilfe derer die jüdische Reformbewegung die religiöse Praxis aus sich heraus und in sich zu erneuern suchte:
163 Vgl. beispielsweise [Birkenstein], Belehrung über das Baden, S. 18, oder ders., Verbesserung, S. 76. 164 [Birkenstein], Belehrung über das Baden, S. 2.
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Zum Ersten war dies die Konzentration auf die ästhetische Dimension des Gottesdienstes und die Verankerung des emanzipatorischen deutschen Bildungskonzeptes im sakralen Raum, zum Zweiten die Metapher von Schale und Kern und zum Dritten die umfassenden Bemühungen zur Historisierung des Judentums.165
Dabei verstand man unter Ästhetisierung mehr als bloß oberflächliche ‚Kosmetik‘, vielmehr sollte die geänderte äußere Gestalt dem Gottesdienst, und damit indirekt dem Judentum als eine legitime Form der Gottesverehrung, diejenige Würde zurückgeben, die man im Laufe der Jahrhunderte aufgrund äußerlicher Unterdrückung und daraus resultierenden Fehlentwicklungen eingebüßt hatte. Orientierte man sich augenscheinlich besonders am Vorbild des Protestantismus, so bedeutete die Ästhetisierung des Gottesdienstes in ihrem Innersten jedoch eine geeignete Anpassung an die Normen der bürgerlichen Gesellschaft als solche mit dem Ziel, das Judentum auch für diejenigen attraktiv zu machen, die sich bereits von der Tradition gelöst hatten: Um die Zahl der aktiven Gläubigen wieder zu vermehren und vor allem die Aufgeklärten und Gelehrten wieder in die Synagogen zu ziehen, entwarfen und propagierten die Reformkräfte eine in mehrfacher Hinsicht völlig neue religiöse Kultur. Diese nahm zwar protestantische Formen in sich auf; sie trug aber vor allem bürgerliche Züge und war durch die Integration von neuen Elementen in ein kaum verändertes Grundgerüst schließlich doch originär (deutsch-)jüdisch geprägt. Andacht, Erbauung und Ordnung, aber auch Vernunft, Liebe und Herzlichkeit – das waren Schlüsselbegriffe des Programms zur religiösen Erneuerung des Judentums.166
Ebenfalls zum Programm der Ästhetisierung gehörte die Abgrenzung gegen Institutionen oder einzelne Elemente der eigenen Frömmigkeitskultur, die als unbürgerlich galten, beispielsweise ungebührliches Betragen oder Lärmen innerhalb der Synagoge, wie vor allem an Purim, oder religiös motivierte Handlungen im öffentlichen Raum (wie die traditionelle Trauung unter freiem Himmel oder das ‚Schulklopfen‘ als hörbare Einladung zum gemeinschaftlichen Gebet).167 Vor diesem Hintergrund passte das traditionelle Frauenbad aus zweierlei Gründen nicht in das Projekt eines bürgerlichen Judentums: zum einen aufgrund des halböffentlichen Charakters, den das an für sich private Ritual bisweilen erhielt,168 165 166 167 168
Lässig, Bürgertum, S. 278. Ebd., S. 264 (Hervorhebung im Original). Vgl. hierzu ebd., S. 267, sowie Lowenstein, „Anfänge der Integration“, S. 191–193. Die Möglichkeit, dass Frauen auf ihrem Weg zur Mikwe beobachtet wurden (somit auch von Männern), war prinzipiell immer gegeben und traf in besonderer Weise auf Bräute zu; vgl. eine Beschreibung der 1697 erbauten neuen Fürther Synagoge (‚Neuschul‘, hier „Kahls-Schule“ genannt):
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zum anderen aufgrund der Beschaffenheit der Kellerquellenbäder. Insofern als Ästhetisierung eine Anpassung der ‚Äußerlichkeiten‘ an den Zeitgeschmack bedeutete, ohne jedoch dabei den ‚Kern‘ anzutasten, erfüllte die – wenngleich von außen angeordnete bzw. forcierte – hygienische Modernisierung der Mikwen dieses Kriterium, und die jüdischen Reformer hatten somit bei der Verwirklichung ihres Ziels den Staat als Verbündeten auf ihrer Seite. Für den zweiten, allerdings seltener geäußerten Kritikpunkt an den Kellerquellenbädern, nämlich die Gefährdung der Sittlichkeit durch den von Männern beobachtbaren Mikwengang, gab es hingegen nur theoretische Lösungsansätze. Hier blieb es, vermutlich wegen der Radikalität der nötigen Änderung, bei vereinzelten Forderungen nach Abhilfe, wie z. B. bei Birkenstein 1822: Wenn wirklich nach türkischer Art gewaschen seyn soll, so wäre diese Wascherey nach dem buchstäblichen Gesetz Moses doch wohl dahin zu berichtigen, daß eine Frau in ihrem Hause sich nach ihrer Bequemlichkeit in einer Waschbütte reinigen könnte. Hierbey gewänne auch noch die Sittlichkeit und die Wohlanständigkeit, da in manchem Dorfe die Bauernjungen Schaarenweise einer Jüdin zum Bache nachlaufen, unsittlichen Spaß treiben, und nicht selten die Judenfrau als eine Verbrecherin verfolgen.169
Der auch von Birkenstein unterstützte und propagierte Vorschlag eines reformorientierten westfälischen Rabbiners zur Einrichtung von Hausmikwen rief allerdings erbitterten Widerstand seitens der Orthodoxie hervor (hierzu Kapitel 6.2.2.1). Später wiesen bei der Rabbinerversammlung von 1845 drei der Anwesenden (Rabbiner Güldenstein, Rabbiner Löwengard und der Präsident Rabbiner Leopold Stein) darauf hin, dass „Sittlichkeit und Anstand“ durch die gegenwärtige Praxis verletzt würden. Der zur Vorbereitung auf die Abstimmung der Rabbiner erstellte Ausschussbericht schließt sogar mit genau diesem Argument: Das Untertauchen in der Mikwe sei eine „Handlung, welche eine gesittete Ehefrau nur in der größten Stille und Verschwiegenheit vorzunehmen wünscht“, weshalb man sie auch „der bisherigen schmählichen Controlle der Oeffentlichkeit entziehen“ müsse.170 Rabbiner Löwengard schlug als Lösung vor, dass sich die Frauen öfter als vorgeschrieben
„Unter dieser neuen Kahls-Schule ist eine מקוהmikveh eine Tuk. Die hat den Namen Kahls-Mikveh. Dahin werden Bräute, den Tag vor der Copulation das erste mal von den Weibern begleitet.“ ([Würfel], Judengemeinde Fürth, S. 28; Hervorhebungen im Original; vgl. auch Kirchner, Jüdisches Ceremoniell, S. 176f). 169 Birkenstein, Verbesserung, S. 82f. In ähnlicher Weise äußert sich Lion 1864 („Gebräuche und Missbräuche“, 11.12.1864, S. 525): „Auch die Moralität war dabei nicht unberührt; in kleinen Städten lauerten Unberufene den Frauen auf und verhöhnten sie […] – So war es aber, so ist es vielleicht kaum noch in einigen polnischen Judengemeinden.“ 170 Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 371.
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untertauchen sollten, während der Präsident im Sinne Birkensteins dafür plädierte, das Untertauchen nicht mehr in der Öffentlichkeit stattfinden zu lassen, sondern zur „häuslichen Uebung“ zu machen.171 Die Mikwe zwischen mosaischer Gesetzgebung und bürgerlichen Werten
Eine Ästhetisierung der Mikwe erfolgte jedoch nicht allein durch die staatlich beaufsichtigte hygienische Einrichtung des realen Raums, sondern auch virtuell, durch eine dem äußeren Rahmen gemäße ‚Metamorphose‘ der Nutzerinnen. Wenn man mit Momberts Monographie von 1828 hauptsächlich den Beginn der ‚Hygienisierung ‘ der Mikwe unter der Oberaufsicht staatlicher Behörden verbindet, so ist dies nur die eine Seite der Medaille. Parallel hierzu, und nicht weniger wichtig, sensibilisiert Mombert in diesem Werk, das in seinem Grundtenor mehr die Schrift eines jüdischen Aufklärers denn eine medizinische Abhandlung ist, zugleich die jüdischen Frauen (und Männer) für das bürgerliche Ideal der Reinlichkeit. Wie bereits erläutert, prägt Mombert 1830 die für die medizinpolizeiliche Relevanz der Mikwen griffige Formel ihrer Gefährlichkeit „1) durch Eckel, 2) durch Erkältung, 3) durch Mittheilung eines Contagiums“.172 Während nun Ekel in diesem Kontext an erster Stelle als Krankheitsursache fungiert, zeigt sich in seinem früheren Werk darüber hinaus die gesellschaftspolitische Dimension des Begriffs: Denn selbst dann, wenn die gemeinsame Nutzung der Mikwe nicht in jedem Fall zur Übertragung von Krankheiten führt, [ … ] s o k an n d o ch e i n von f r ü he r Juge nd au f z u r R e i n l i ch ke it angeha ltene s Fr aue nz i mme r s chon a l l e i n vor E kel k r an k we rd e n, wenn sie bedenkt, daß sie nicht allein mit Frauen aus den Hefen des Volks, die den Schmutz sichtbar und fühlbar auf sich tragen, sondern auch mit allerhand kränklichen und wirklich kranken Personen ein und dasselbe Wasser zum Bade gebrauchen muß.173
Bereits seit den ersten Anfängen moderner Körperhygiene noch im 18. Jahrhundert fungierte der Ekel als sichtbarer Ausdruck der Verinnerlichung des Reinlichkeitsideals, so insbesondere in dem im 18. Jahrhundert zentralen Tractat über die Reinlichkeit des Leipziger Arztes Johann Zacharias Platner von 1752 (erstmals 1731 in lateinischer Sprache veröffentlicht), welches nach Manuel Frey den „programmatischen Entwurf des neuen bürgerlichen Habitus“ darstellt.174 Durch den Ekel demonstriert der Bürger seine Distanzierung von jeglicher Unreinheit – und 171 172 173 174
Ebd., S. 180–189 (die zitierten Begriffe finden sich auf S. 184, 188). Moritz Mombert, „Bad“, S. 283. Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 80 (Hervorhebung im Original). Frey, Der reinliche Bürger, S. 122; zu Platners Traktat und dem genannten Aspekt vgl. auch ebd., S. 121–126.
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damit zugleich seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die sich in zentraler Weise über das Konzept der Reinlichkeit definiert. War das verachtete Gegenbild auf Seiten der christlichen Bürgerschaft insbesondere der Adel mit seiner künstlichen (durch Puder scheinbar erzeugten) Reinlichkeit und als unmoralisch empfundenen Lebensweise, so erforderte der Eintritt ins Bürgertum jüdischerseits gerade eine scharfe Abgrenzung in die andere Richtung: nämlich von den untersten Schichten, „den Hefen des Volks“ bzw. allgemein einer, dem gängigen Klischee zufolge, mit Schmutz und moralischer Verwahrlosung175 in Verbindung gebrachten Existenz am Rande der Gesellschaft. In der Gedankenwelt der bürgerlichen Aufklärung waren Gesundheit bzw. Reinlichkeit einerseits, und moralische Lebensführung andererseits, auf existentielle Weise miteinander verbunden: Reinlichkeit sei das äußere „Zeichen der Tugend und Ehrbarkeit“, so Platner in seinem Tractat über die Reinlichkeit,176 und Hufeland versichert 1805 in der Vorrede zu seiner populären Makrobiotik, „daß physische und moralische Gesundheit so genau verwandt sind, wie Leib und Seele. Sie fließen aus gleichen Quellen, schmelzen in eins zusammen, und geben vereint erst das Resultat der ve re d elte n u nd vol l komme nste n Me ns che nnatu r.“177 Diese Vorstellung ist auch Momberts zentraler Ausgangspunkt in seiner Interpretation der Rolle Moses’: Mos e s wußte wohl, daß er mit einer kranken Armee nichts ausrichten konnte, und daß in einem siechen Körper kein energischer Geist aufkömmt; wollte er also einen fruchtbaren Boden für höhere geistige Qualitäten bebauen, so mußte er vorzüglich den Aussatz zu vertilgen und dessen Wiedergeburt zu verhüten suchen.178
175 Zum Vorhandensein dieses Stereotyps in der christlichen Bevölkerung allgemein siehe z. B. Dohms Argumentation in seiner Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (S. 39). In Johann David Michaelis’ Rezension von Lessings Lustspiel Die Juden bezweifelt der bekannte Theologe und Orientalist gar, dass es einzelne Juden gebe, die nach hohen moralischen Prinzipien handelten: Es sei „doch allzu unwahrscheinlich […], daß unter einem Volcke von den Grund-Sätzen, Lebens-Art, und Erziehung […] ein solches edles Gemüth sich gleichsahm selbst bilden könne.“ („Berlin“, S. 621). 176 Vgl. Frey, Der reinliche Bürger, S. 124. 177 Hufeland, Makrobiotik, S. xi (Hervorhebung im Original). Zu Hufelands Konzept von physischer und moralischer Gesundheit und dessen Bedeutung für die bürgerliche Gesellschaft siehe Labisch, Homo Hygienicus, S. 99–104. 178 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 9 (Hervorhebung im Original). Vgl. zu diesem Gedanken auch Hufelands historischen Abriss des Badens in seinem Artikel von 1790: „Die unreinlichsten Nationen sind auch immer die dümmsten, verworfensten, unedelsten, und ich würde, wär ich ein Reformator, ihre Kultur damit anfangen, sie an körperliche Reinigkeit zu gewöhnen.“ („Nöthige Erinnerung an die Bäder“, 1790, S. 380). Allerdings hat er an dieser Stelle weniger die jüdische Geschichte als die christliche Heilslehre im Blick.
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Zwar zielten sämtliche von Moses angeordneten Maßnahmen, wie etwa die Speisegesetze oder die Reinigungsvorschriften im Allgemeinen und von Frauen im Besonderen, zunächst auf die Gesundheit des Volkes, darüber hinaus aber eben auch auf die Befähigung zu einem höheren geistigen Ziel, dem späteren Empfang der Tora am Sinai. Momberts Mission liest sich in dieser Hinsicht wie eine Umkehrung von Moses’ Auftrag in Ägypten: War es in Moses’ Zeiten nötig, im Kampf gegen Unreinlichkeit und den unter den Israeliten stark verbreiteten Aussatz179 die Mikwe als göttliches Gesetz zu deklarieren, so erforderten die modernen Zeitumstände nach Mombert gerade die Abschaffung oder zumindest hygienische Einrichtung der Mikwe, da hierdurch ansonsten „die venerische Krankheit […] als ein degenerirter Aussatz“180 wieder hervorgebracht würde. Mombert leistet somit, über die durch seine Schriften beförderte reale Umgestaltung der Mikwen hinaus, auf dreierlei Weise auch eine ideologische Erneuerung der Mikwe: 1) Durch die zentrale Kategorie des Ekels erzieht oder formiert er in seinem Werk eine bürgerlich geprägte Gruppe von Nutzerinnen, bzw. postuliert das Vorhandensein einer solchen in den Augen der nichtjüdischen Öffentlichkeit. 2) Mit der Betonung der ursprünglichen Reinigungsfunktion stellt er die Mikwe als eine vernunftgemäße und im Grunde bürgerliche Einrichtung dar. Und als implizite Folge der beiden Punkte: 3) Insofern als körperliche Reinlichkeit und Gesundheit dem Bürgertum als Grundlage und Ausdruck moralischer Vervollkommnung gelten, steht auch die (hygienisch eingerichtete) Mikwe hierfür. Eine äußere Verbesserung der Anlagen entspricht einer moralischen ‚Verbesserung‘ der jüdischen Bevölkerung, die sich somit der vollständigen Emanzipation als würdig erweist – und an dieser Stelle schließt sich der Kreis: Moritz Mombert führt, gewissermaßen als moderner Moses bzw. dessen Spiegelbild, nicht die Mikwe ein und die jüdische Bevölkerung aus ägyptischer und geistiger Knechtschaft heraus, sondern befähigt sie stattdessen zum Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft (und größere rechtliche Freiheit), gerade indem er die zeitgenössische, gesundheitsschädliche Praxis der Mikwe bekämpft. Das Betonen der ‚ursprünglichen‘ Funktion der Mikwe als eine Einrichtung zur Förderung der Reinlichkeit und Gesundheit bildet dabei das zentrale Element, oder die unbestrittene Basis, innerhalb des jüdischen Reformdiskurses über die Mikwe. Dies ist, wie sich in dem bisher Gesagten bereits andeutet, keinesfalls verwunderlich, war es doch naheliegend, in einer bürgerlichen Gesellschaft mit der zentralen Tugend der Reinlichkeit auch das jüdische Frauenbad, das von der Umgebung sowieso als ‚Badeanstalt‘ wahrgenommen wurde, als ebensolche zu präsentieren. Der Kunstgriff, dessen man sich hierzu bedienen musste, war das bei den Reformern 179 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 5f; vgl. zu dieser populären Auffassung auch beispielsweise Frank, System einer vollständigen medicinischen Polizey, Bd. 3, S. 919. 180 Für den Begriff in seinem Zusammenhang siehe das vollständige Zitat in Kapitel 6.1.1.2, Abschnitt Die Mikwe aus sozialhygienischer Sicht.
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übliche Mittel der Historisierung; diese erlaubte es, wenigstens auf der Oberfläche der Argumentation, einen radikalen Bruch mit der Tradition zu vermeiden. Vielmehr verstanden die Reformer die aus ihrer Sicht nötigen Änderungen lediglich als zeitgemäße Kurskorrekturen in dem Sinn, dass man einem alternativen Überlieferungsstrang (erneut) Geltung verschuf. Der Rückgriff auf das hellenistische bzw. biblische Judentum mit der zentralen Figur des Moses war dabei der eine von zwei wesentlichen ‚Fluchtpunkten‘, neben dem ‚Goldenen Zeitalter‘ der Juden im muslimischen Spanien, an denen sich die jüdische Tradition neu ausrichten sollte.181 Sie dienten als positive Schablone für die von Aufklärern wahrgenommenen ‚Verwachsungen‘ und ‚Missbräuche‘, die das jüdische Mittelalter hervorgebracht habe. Im Falle der Mikwe bedeutete dies, dass man die einfachen biblischen (nach der Tradition mosaischen) Reinigungsvorschriften als die ursprünglichen und richtigen darstellte und diese mit Gesundheitsrücksichten (und damit Vernunftgründen) in Verbindung brachte, während man die spätere komplexe rabbinische Interpretation als willkürliche, verengende Festschreibungen verwarf. Das Gesamtpanorama: Die Mikwe und die Frage nach dem Zweck der religiösen Gebote
Da der bürgerliche Wertehorizont an der Stelle Reinlichkeit ansetzte und die weitere Deutung übernahm, schlug man auf diese Weise gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Aus der unmittelbaren medizinischen Rechtfertigung ergab sich quasi von selbst auch eine weitergehende bürgerliche Aufwertung der Mikwe – und damit, zumindest punktuell, des gesamten Systems der jüdischen Religion, für die an dieser Stelle ein neuer Betrachtungsmodus erprobt wurde. Eine zentrale Absicht von reformorientierten Denkern des Judentums war es, dessen ethische und damit vernunftgeleitete Dimension in den Vordergrund zu stellen. Bereits Moses Mendelssohn, der Urvater des modernen Judentums, hatte in seiner grundlegenden Schrift zum Verhältnis von Religion und Staat, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783), die Weichen hierfür gestellt, indem er das Judentum als eine im Grunde universale, auf ethischen Wahrheiten basierende Vernunftreligion beschrieb, die lediglich durch die am Sinai zusätzlich offenbarten Zeremonialgesetze ihre spezifisch jüdische Prägung erhielt.182 Aber auch dieses von Moses am Sinai empfangene Gesetz sei durchdrungen von allgemeinen Vernunftwahrheiten: „Alle Gesetze beziehen, oder gründen sich auf ewige Vernunftwahrheiten, oder erinnern und erwecken zum Nachdenken über dieselben […].“183 Nach Mendelssohns Tod im Jahre 1786 beschritt unter anderem sein Schüler David 181 Vgl. Lässig, Bürgertum, S. 282. 182 Mendelssohn, „Jerusalem“, S. 164–167. Zum Entstehungshintergrund und der Bedeutung von Mendelssohns Schrift vgl. Krochmalnik, „Die Zinne Jerusalems“, S. 227–239. 183 Mendelssohn, „Jerusalem“, S. 166.
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Friedländer (1750–1834)184 radikalere Wege, indem er das noch von Mendelssohn streng aufrecht erhaltene Diktum der göttlichen Offenbarung der Zeremonialgesetze zugunsten einer historischen Sichtweise aufgab: In deutlicher Anlehnung an die von Gotthold Ephraim Lessing in Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) formulierten Ideen stellte er das Zeremonialgesetz als eine von Moses eingeführte, seinerzeit nötige (somit geschichtlich bedingte) Erziehungsmaßnahme dar, die folglich beim Erreichen größerer geistiger Reife ihre Notwendigkeit bzw. ihre Berechtigung verlor.185 Seinem Wesen nach bezwecke das Zeremonialgesetz die Sittlichkeit der jüdischen Nation: „Wir können bei der Weisheit des Gesetzgebers voraussetzen, wenn auch nicht in jedem einzelnen Fall umständlich nachweisen, daß jeder Gebrauch, jede Vorschrift gediegenen Sinn hatte, der mit der Wohlfahrt der Nation und ihrer Sittlichkeit, Hand in Hand ging.“186 Hinsichtlich der Mikwe ergab sich eine solche rationale, an ethischen Maßstäben orientierte Interpretation des Judentums von ganz alleine, sobald man sie im bürgerlichen Raum der Reinigungsanstalten ansiedelte, da man dort körperliche und moralische Gesundheit als zwei sich gegenseitig bedingende Größen betrachtete. Es genügte somit, die Mikwe durch Moses als vernunftgebotenes Reinigungsbad zu etablieren, um sie nicht nur medizinisch, sondern auch gesellschaftlich zu legitimieren. Zugleich war diese moderne, bürgerliche Interpretation der ‚moralischen Wirksamkeit‘ der Mikwe nicht weit von einer jüdischen Auslegung der religiösen Gebote entfernt, wie sie der mittelalterliche Denker Maimonides in seinem Führer der Unschlüssigen entwarf. Maimonides beschreitet in diesem Spätwerk den seinerzeit ungewöhnlichen Weg, die auf einer göttlichen Offenbarung beruhende jüdische Lehre als grundsätzlich vereinbar mit dem System der aristotelischen Philosophie zu betrachten, bzw. mit Hilfe dieser vernunftbasierten Erkenntnismethode gar zu 184 Friedländer war sowohl Maskil, ein jüdischer Aufklärer aus dem Kreis um Mendelssohn, als auch ein herausragender Vertreter der jüdischen Berliner Finanzelite. Aus dieser Stellung heraus engagierte er sich unter anderem erfolgreich für die Verbesserung der rechtlichen Lage der preußischen Juden, so dass er nach Mendelssohns Tod sowohl innerhalb der jüdischen Gemeinschaft als auch nach außen eine gewisse Führungsrolle in Anspruch nehmen konnte. Zu Leben und Wirken Friedländers siehe Michael Meyer, Von Mendelssohn zu Zunz, S. 66–98, zu seinem Führungsanspruch S. 66f. 185 Vgl. [Friedländer], Sendschreiben, S. 26–30; Michael Meyer, Von Mendelssohn zu Zunz, S. 82f; zu Friedländers radikaler Wende im Allgemeinen vgl. Lowenstein, David Friedländer, S. 9, 15. Das anonyme Sendschreiben war zwar auf beiden Seiten umstritten (siehe unten Anm. 197), aber nichtsdestotrotz stellte die von Friedländer vorgenommene Historisierung des Zeremonialgesetzes auf christlicher Seite ein bereitwillig aufgenommenes Argument dar, ließ sich doch hieraus leicht ableiten, dass das jüdische Gesetz obsolet sei. Diesen Gedanken greift bereits Teller in seiner Antwort auf (Beantwortung, S. 4; vgl. auch Gal 3,23–25). Wenngleich man jüdischerseits diese Hypothek zu tragen hatte, schuf das ebenfalls von Moses gezeichnete Bild eines weisen, vernunftgeleiteten Gesetzgebers eine geeignete gemeinsame Basis bzw. ‚Arbeitsgrundlage‘ für die Verteidigung des Judentums. 186 [Friedländer], Sendschreiben, S. 29f.
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einem tieferen Verständnis der Tora zu gelangen.187 Im dritten Teil seines Werkes unternimmt er unter anderem den Versuch einer umfassenden Kategorisierung und Begründung derjenigen religiösen Gebote, für die es keine unmittelbare logische Erklärung gibt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die gegenseitige Abhängigkeit von Körper und Seele: Nur im Besitz körperlicher Unversehrtheit, d. h. „daß er gesund sei und sich im möglichst besten körperlichen Zustande befinde“, ist der Mensch in der Lage, auch seelische Vollkommenheit, und damit seine eigentliche Bestimmung, zu erreichen.188 Vor diesem Hintergrund lassen sich z. B. die Speisegebote des Judentums aus zweierlei Rücksichten ableiten: Zum einen können manche Speisen, wie z. B. Schweinefleisch, dem Körper unmittelbaren gesundheitlichen Schaden zufügen,189 zum anderen „haben alle den Zweck, die zahlreichen Begierden und das schrankenlose Trachten nach dem Angenehmen zu unterdrücken und zu verhindern, daß wir die Begierde nach Essen und Trinken als das höchste Ziel betrachten“; in ähnlicher Weise dienen die Einschränkungen hinsichtlich des Geschlechtsverkehrs dazu, „die geschlechtliche Lust zu verringern und das übermäßige Begehren nach ihr […] so viel wie möglich zu vermindern“.190 Ganz in diesem Sinn beurteilt beispielsweise Elias Birkenstein die Absonderung der nidda während der vorgeschriebenen Zeitspanne als Erziehung „zur Mäßigkeit im Genuß des Geschlechtstriebs“,191 während Elcan Isaac Wolf in seiner frühen ärztlichen Abhandlung allgemeiner ausführt: Unsere heilige Gesetze, welche wir von dem Urheber der Natur erhalten haben, fassen ohne die besondere göttliche Absichten verschiedene der Gesundheit sehr ersprießliche Anordnungen und Verbote: Die gedeilichen Verbote des Schweinefleisches, und aller aus diesem unreinen Thiere zubereiteten Nahrungsmittel, der schändenden Berauschung, der ausschweifenden und unmäßigen Beischläfe, die heilsame Anordnungen der öftern Fasttäge, der Bäder und Reinigung bei dem weiblichen Geschlechte haben heilige Absichten, und einen Einflus sowohl auf die Sitten, als die Erhaltung der Gesundheit, und der Fortpflanzung.192
187 Vgl. Johann Maier, „Einleitung“, in: Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, S. XXI, LIX. 188 Mose ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, Buch 3, S. 173f. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass Maimonides im Hinblick auf das körperliche Wohlergehen nicht nur der individuellen Sorge für die Gesundheit eine Bedeutung zumisst, sondern auch den (teils in einer Gesellschaftsordnung geregelten) zwischenmenschlichen Beziehungen. 189 Ebd., S. 310. 190 Ebd., S. 217. 191 [Birkenstein], Belehrung über das Baden, S. 17. 192 Elcan Wolf, Krankheiten, S. 44f, vgl. auch S. 55.
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Diese und ähnliche Rückgriffe auf die eigene, jüdische Tradition eines rationalen Zugangs zum Religionsgesetz konnten somit in besonderer Weise die vorgenommene Historisierung der Mikwe als mosaisches, auf Gesundheit zielendes Gebot stützen, und die Rezeption von Maimonides erfuhr im Kontext von Haskala und Reform allgemein eine starke Renaissance.193 Die von Maimonides angestoßene Suche nach dem Zweck der Gebote hatte jedoch noch wesentlich weiter reichende Konsequenzen, ließen sich doch durch die gedankliche Aufspaltung eines gebotenen Rituals194 in Bedeutung einerseits und traditionelle Form andererseits auch radikalere Änderungen legitimieren. Unterscheidet man zwischen äußerer Form und beabsichtigtem Zweck, so lässt sich argumentieren, dass man mit einer geänderten Form dem ursprünglichen Zweck
193 Ausgangspunkt speziell der Wiederentdeckung von Maimonides’ Führer der Unschlüssigen war die hebräische Neuausgabe von 1742 des ursprünglich in arabischer Sprache verfassten Werkes. Vgl. hierzu und allgemein zum Aspekt der Maimonides-Rezeption im frühen 19. Jahrhundert Kohler, Reading Maimonides, S. 35–86. 194 Ich verwende den Begriff ‚Ritual‘ hier und andernorts kurzgefasst in der Bedeutung einer religiös motivierten Handlung, die im Gegensatz zu anderen religiösen Vorschriften (z. B. Gebot der Nächstenliebe, Verbot des Genusses von Schweinefleisch) komplexere bzw. feste Formen aufweist. Dabei geht es mir, jenseits zeitgenössischer Begrifflichkeiten der Emanzipationsepoche sowie des modernen wissenschaftlichen Diskurses über Ritualtheorie, hauptsächlich um eine Abgrenzung ‚ritueller‘ Praktiken von Tätigkeiten anderer Art, d. h. besonders von Handlungen des Alltags (auch Routinehandlungen) einerseits und von ‚formfrei‘ ausführbaren religiösen Geboten andererseits. Die beiden Merkmale der Förmlichkeit und des religiösen Bezugs finden sich bereits in der ‚klassischen‘ Definition des Begriffs nach Victor Turner. In The Forest of Symbols (erschienen erstmals 1967) kennzeichnet er ‚Ritual‘ als „vorgeschriebenes förmliches Verhalten bei Anlässen, die keiner technologischen Routine überantwortet sind und sich auf den Glauben an unsichtbare Wesen oder Mächte beziehen, die als erste und letzte Ursachen aller Wirkungen gelten“ (The Forest of Symbols, S. 19; die hier zitierte Übersetzung stammt von Bräunlein, „Victor Witter Turner“, S. 332f). Für hierauf aufbauende präzisere Definitionen verweise ich auf Axel Michaels (2003), der sich gegen die populäre Ausweitung des Begriffs auf jede Art ritualisierter Gewohnheit wendet und dem Ritual bewusst eine den Einzelnen überhöhende (im engeren Sinn auch religiöse) Dimension zuerkennt, sowie Barbara Stollberg-Rilinger (2013). Beide definieren, wenngleich teils anders bezeichnet bzw. kategorisiert, ein Ritual über bestimmte wesentliche Merkmale, die ich hier zusammenfasse und die meiner Verwendung des Begriffs ebenfalls zugrunde liegen: (1) Förmlichkeit bzw. Standardisierung, wobei Rituale trotz (oder wegen) ihrer festen Struktur stets veränderbar, ja letztlich immer vom Wandel bedroht sind; (2) Aufführungscharakter und Framing, d. h. äußere und/oder kognitive Abgrenzung zur Alltagswelt; (3) Performativität bzw. Transformation und Wirksamkeit: Vollziehen eines Wechsels, z. B. im Status einer Person; und (4) Überhöhung bzw. Symbolizität: Stabilisierung sozialer Beziehungen durch Verweis auf eine höhere/göttliche Ordnung. Auch im Sinne dieser Kriterien handelt es sich bei dem Untertauchen in der Mikwe um ein Ritual. Siehe Michaels, „Dynamik“, S. 3–5; Stollberg-Rilinger, Rituale, S. 9–13; für einen Überblick über die Ritualforschung und Ritualtheorie seit ihrem Beginn im späten 19. Jahrhundert bis heute verweise ich auf die Darstellung von Wulf/Zirfas, „Performative Welten“, S. 7–45.
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(hier der Reinigung) besser entspricht – die traditionelle Form wird als Äußerlichkeit oder ‚Schale‘ verworfen, während man den eigentlichen ‚Kern‘ bewahrt, den man mit Hilfe der Vernunft bestimmt,195 so etwa bei Mombert: Ueber die Drohungen der Mütter wollen wir die in unserm Innern sitzende göttliche Stimme, die Vernuft [sic] um Rath fragen; diese sagt, daß das Baden selbst als ein wesentliches Religionsstück betrachtet werden kann und muß, weil es von Moses selbst ist angeordnet worden, und zwar nicht allein des Aussatzes wegen, denn in diesem Falle könnte es Vernunft gemäß und auch nach dem Willen des göttlichen Gesetzgebers ebenfalls wegfallen, sondern weil es zur Reinlichkeit und Gesundheit, mithin zur menschlichen Glückseligkeit so Vieles beiträgt; sie sagt aber auch, daß die Art und Weise des Badens bloß leere Zeremonie ist, und daß dem göttlichen Willen dadurch am meisten ein Genüge geschieht, wenn man das Bad so einrichtet, daß es für die Gesundheit am zweckmäßigsten ist.196
Diese Unterscheidung von Schale und Kern lässt sich jedoch nicht nur auf einzelne Rituale, als Teil des Zeremonialgesetzes anwenden, sondern auch auf das gesamte System der Religion, das hierdurch eine grundlegende Neuausrichtung erfährt. Richtungsweisend für das Ringen jüdischer Aufklärer bzw. Reformer um eine neue, zeitgemäße Interpretation des Judentums war diesbezüglich ein Ansatz, den beispielsweise David Friedländer 1799 folgendermaßen formuliert: „Sie [die Zeremonialgesetze] waren die Schale, worin die großen Lehren der Religion als der eigentliche Kern der ganzen Verfassung verborgen lagen.“197 Der „eigentliche Kern“ aber war in den Augen der Reformer der von den Grundsätzen der Religion ausgehende moralisch-sittliche Impuls, den es freizulegen galt.198 Mit dem Gedan-
195 Für die Bedeutung der Metapher von Kern und Schale im frühen jüdischen Reformdiskurs vgl. auch die Darstellung zum Königlich Westfälischen Konsistorium der Israeliten bei Michael Meyer, Antwort auf die Moderne, S. 56–75, besonders S. 56f, 62. 196 Moritz Mombert, Kellerquellenbäder, S. 87f. 197 [Friedländer], Sendschreiben, S. 29. Friedländers Sendschreiben als solches war jüdischerseits wie auch christlicherseits heftig umstritten, bot es doch, als Lösung für das gefühlte jüdische Dilemma der nicht gewährten vollen Emanzipation, eine nur äußerlich vollzogene Konversion zum Christentum an. Jedoch scheint mir der hierauf basierende Vorwurf einer rein opportunistischen Haltung letztlich zu kurz gegriffen; vielmehr lässt sich der Text zugleich als eine umfassende Apologie des Judentums lesen, das in seiner reinen, geläuterten Form – nämlich als vernunftbasierte, ethisch motivierte Religion – dem Christentum durchaus ebenbürtig, in gewissen Punkten sogar überlegen ist. Für einen möglichen Deutungsansatz in diese Richtung vgl. Michael Meyer, Von Mendelssohn zu Zunz, S. 81–91. Lowenstein, der diesen Vorstoß als „Versuchsballon“ wertet, betont, dass Friedländer nach dessen Scheitern zu seiner ursprünglichen Haltung zurückkehrte und die Konversion zum Christentum streng ablehnte (David Friedländer, S. 21). 198 In diesem Sinn differenziert auch Mombert zwischen Schale und Kern (Kellerquellenbad, S. 93).
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ken der Moral als tragende Säule des Judentums war es möglich, dieses nach innen und außen als eine Religion zu präsentieren, die einer modernen Auffassung hiervon standhalten würde, wie sie Kant in seiner einflussreichen Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) entwirft – die jüdische Suche nach der moralischen Grundlage des Judentums war zu einem großen Teil Antwort auf die Herausforderung Kants, der dem Judentum den Status einer echten Religion abspricht und es nicht, ähnlich wie Lessing, an einem göttlichen Entwicklungsplan teilhaben lässt, der alle Menschen zu immer höherer Vernunft befähigen soll.199 Vor diesem Gesamtpanorama erscheint auch die Mikwe in Birkensteins breit angelegter Abhandlung Ueber die moralische Verbesserung der Juden nebst einer Entlarvung des Rabbinismus von 1822. Ausgangspunkt seiner Schrift, die eine umfassende Umerziehung der jüdischen Bevölkerung im Geist der Aufklärung propagiert, ist deren sittliche Verkommenheit: Gewiß, ganz gewiß steht die jüdische Nation auf einer solchen niedern Stuffe der Kultur, daß man dreist behaupten kann: ihr Mangel an einer Aufklärung, und Sittlichkeit kann gar nicht größer seyn. Nur ein Mensch, der mit dieser Nation genau vertraut ist, kann sich einen Begriff von ihrer moralischen Gesunkenheit machen.200
Den Grund für diese moralische Verwahrlosung, über die seitens der christlichen Gesellschaft mehr oder weniger Konsens herrschte, sieht Birkenstein im Talmud bzw. den rabbinischen Gesetzen und Lehren.201 Moses habe seinerzeit eine völlig auf Vernunft gegründete Religion geschaffen; um sein erzieherisches Ziel bei dem noch ungebildeten Volk zu erreichen, war es aber nötig, „daß er vieles ins Wunderbare einhüllte,“ und dieser Aspekt sei von den Rabbinen in der Folgezeit übermäßig betont worden:202 Durch die Behauptungen der Rabbinen über Wunderdinge geschahe es, daß der Geist der Juden eine allgemeine Richtung auf dieselben nahm, und sich allein mit diesen Objecten der Imagination beschäftigte, und die moralischen Wahrheiten aus dem Gesichtskreise verlor.203
199 Vgl. zu Kants Kritik am Judentum und allgemein zu diesem Aspekt Michael Meyer, „Reform Jewish Thinkers“, S. 67–70; ebenso Graetz, „Erziehung des Menschgenschlechts“, S. 278f. 200 Birkenstein, Verbesserung, S. 3. 201 Vgl. ebd., S. xiv. 202 Ebd., S. 28; vgl. auch S. 53f. 203 Ebd., S. 34.
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Ziel des Menschen im Diesseits sei aber gerade die „Veredlung unsers Geistes“ – und die „Erhaltung des Lebens, die Sorge, es nicht ohne Noth zu verkürzen, ist deshalb eine höchst wichtige Pflicht.“204 Birkensteins eigentliche Kritik an der Mikwe schließt unmittelbar an diese Überlegung an: Die Erfüllung des Gebots der Mikwe verhindere die Erfüllung der menschlichen Bestimmung, das rabbinische Gesetz stehe im Widerspruch mit der Rationalität und Humanität der Aufklärung, sei „hart und unmenschlich“205 . Die Frauen fühlten sich einem vernunftwidrigen, gesundheitsgefährdenden Gesetz verpflichtet, nur „weil es vor mehreren hundert Jahren einem schwachsinnigen Rabbiner eingefallen ist, daß sich eine Judenfrau zu ihrer monatlichen Reinigung bis über den Kopf und zwar in fließendes Quellwasser ganz nackt untertauchen müsse.“206 Diese spezielle Praxis sei aber vom „Gesetzgeber“, d. h. Moses, in keiner Weise gefordert, der überlieferte Brauch der Mikwe vielmehr Ausdruck der „Macht des religiösen Aberglaubens“, der die Juden wie Sklaven gefangen halte.207 Zwar fällt Birkensteins Ausführung zur Mikwe im Umfang seines Werkes recht bescheiden aus, erhält aber Gewicht angesichts seiner Gesamtdiagnose des Judentums und fügt sich so in das große Puzzle religiöser Reform vor dem Hintergrund von Aufklärung und Emanzipation: Das ‚Baden‘ in der Mikwe ist ursprünglich (mosaisch) eine vernunftbasierte Handlung, die unmittelbar der körperlichen Reinigung dienen soll, indirekt aber ebenfalls auf eine moralische Besserung hinwirkt bzw. diese (als Grundlage) erst ermöglicht – so wie das gesamte jüdische Religionsgesetz, richtig verstanden und von späteren Zusätzen gereinigt, ganz allgemein die Sittlichkeit befördert. 6.1.2.2 Sinnengenuss und Symbol: Neue spirituelle Deutungen der Mikwe
Reduziert auf die Funktion der Reinigung, reiht sich die Mikwe ein in die christlichbürgerliche Badekultur, zumal Momberts zentraler Text auch die implizite Aufforderung an die Nutzerinnen enthält, sich mit dem bürgerlichem Reinlichkeitskodex zu identifizieren. Während aber auf diese Weise das Untertauchen in der Mikwe im Zeichen bürgerlicher Werte gewissermaßen säkularisiert wird, der Bezug auf ein höheres geistiges Ziel nur noch indirekt enthalten ist (über die Gesundheit bzw. die moralisch festigende Kraft der religiösen Gebote), findet sich andererseits gerade eine gegenläufig Entwicklung, nämlich eine neue spirituelle Deutung des Badens bzw. des Wassers. Diese Linie lässt sich bis zu Hufelands populärer Schrift Nöthige Erinnerung an die Bäder und ihre Wiedereinführung in Teutschland von 1790 zurückverfolgen. Zwar ist Hufelands Ziel als Arzt hierin das „einer allgemeinen 204 205 206 207
Ebd., S. 79. Ebd., S. 82. Ebd., S. 80. Ebd., S. 80f.
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Gesundheitsrestauration“208 , doch versäumt er es auch nicht, im Vorfeld seiner ärztlichen Argumente das Baden kulturgeschichtlich in seinen verschiedensten Ausprägungen zu untersuchen und hierbei ebenso auf dessen spirituelle Dimension einzugehen. Auf diese Weise entsteht eine Darstellung religiös motivierter orientalischer Reinigungssitten, die sich unübersehbar im christlichen Raster von Sünde und Reinwaschung bewegt, diese Handlung aber zugleich in ein modernes Deutungschema integriert, das sich aus aufklärerischen Begriffen speist: Die Morgenländer und meisten Bewohner des heißen Klimas halten es für Sünde, ungewaschen und ungebadet vor Gott zu treten, und es vergeht kein Tag, wo sie sich nicht ein, ja mehreremale ins Wasser werfen, und das Wohl ihrer Seele durch Abwaschung des Körpers zu befördern suchen. Und gewiß, abgerechnet die Stärkung und Erhöhung, die hierdurch vom Körper auf die Seele übergeht, und sie zu schönen und edlen Gedanken, stimmt, so liegt schon in dem Gedanken der äusseren Reinigung und Abwaschung etwas, was gewiß auch nach und nach auf moralische Reinigung und Besserung wirkt.209
Die äußeren Parameter sind hier die gleichen wie auch an anderer Stelle bei Hufeland oder bereits bei Platner ein halbes Jahrhundert zuvor, nämlich die Einheit von Körper und Seele und, als Konsequenz hieraus, das wechselseitige AufeinanderBezogensein von Gesundheit/Reinlichkeit und moralischer Lebensführung. Dennoch finden sich hier andeutungsweise schon zwei grundsätzlich neue Tendenzen, die dann in späteren Schriften zur Mikwe deutlicher hervortreten: 1) Zum einen erscheint das vermittelnde Element einer sinnlichen Erfahrung, hier als „Stärkung und Erhöhung“ beschrieben, das sich in das geschlossene bürgerliche Konzept der gegenseitigen Bedingtheit von Reinlichkeit und Moral hineindrängt. Man fühlt sich durch das reinigende Bad in irgendeiner Form physisch wohl (‚gestärkt‘), und diese Empfindung hat einen Einfluss auf die Seele, die nun „zu schönen und edlen Gedanken“ gestimmt wird. 2) Zum andern gibt es eine intellektuell wahrnehmbare symbolische Beziehung zwischen der äußeren, körperlichen Waschung und dem Zustand der Seele: Es „liegt schon in dem Gedanken der äusseren Reinigung und Abwaschung etwas, was gewiß auch nach und nach auf moralische Reinigung und Besserung wirkt.“ Das Baden an sich reinigt zwar nicht geistig, sondern nur den Körper, aber es führt symbolisch das eigentliche Ziel vor Augen. Nach dieser Variante führt also erst das aktive Einsetzen des Verstandes, die gedankliche Auseinandersetzung mit der Handlung, die gewünschte spirituelle ‚Nebenwirkung‘ herbei. Beide Wirkungsarten des Wassers, die physische (über die sinnliche Erfahrung), und die intellektuelle (über die gedankliche Verbindung) schließen sich in ihrer
208 Hufeland, „Nöthige Erinnerung an die Bäder“, 1790, S. 378 (Hervorhebung im Original). 209 Ebd., S. 379f.
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jeweils eigenen Dynamik keineswegs aus, sondern bedingen vielmehr gemeinsam eine moralische Läuterung, analog zur körperlichen Reinigung. Die Funktion der Mikwe im Spiegel der Rabbinerversammlung von 1845
Dieses hier angelegte Modell der doppelten Wirksamkeit des Badens entspricht genau dem Konzept, das dann ein halbes Jahrhundert später auch im Rahmen der Rabbinerversammlung als moderne jüdische Deutung des Gebots der Mikwe zu Tage tritt. Hintergrund und Ziel der Diskussionen ist dort allerdings nicht primär eine abstrakte ideologische Neubestimmung der Mikwe, sondern vielmehr deren praktische Zukunft, nämlich die Frage der Zulässigkeit von geschöpftem Wasser, welches für das rituelle Untertauchen traditionell verbotenen ist. Allein diese Frage soll durch die Abstimmung der Anwesenden entschieden werden, und folglich kommt es auch nicht zu einem gemeinsam erarbeiteten Standpunkt zur Bedeutung der Mikwe in einem bürgerlichen Lebensumfeld. Stattdessen öffnet sich diese Perspektive auf die Mikwe nur zufällig in den individuellen Begründungen der Zustimmung oder Ablehnung von geschöpftem Wasser, quasi als Nebenprodukt der Ausgangsfrage, so dass ganz verschiedene Auffassungen mehr oder weniger unkommentiert nebeneinander stehen. Nichtsdestotrotz lässt sich eine gemeinsame Basis ausmachen, die zugleich in dem abschließenden persönlichen Votum des Präsidenten der Versammlung Rabbiner Leopold Stein (1810–1882), eines Vertreters der gemäßigten Reform,210 ihren Ausdruck findet. Nach Stein ist die Mikwe ein Brauch, „welcher Reinigkeit und Sittlichkeit fördert“,211 und als solcher – in dieser Funktion – unbedingt erhaltenswert. Konkret wird das von Stein formulierte Ziel der Sittlichkeit nach den vertretenen Standpunkten auf folgende zwei Arten erreicht: Zum einen will man die im Wasser vollzogene Reinigung als ein Symbol verstanden wissen. So ist, in der Formulierung von Rabbiner Abraham Jakob Adler, das rituelle Frauenbad „ganz aus dem Geiste der Bibel, welche durch die äußere Reinigung auch die innere, sittliche symbolisch dargestellt wissen will, hervorgegangen“.212 Eine ähnliche Auffassung äußern außer ihm noch vier weitere Rabbiner, darunter Abraham Geiger, der Begründer des liberalen Judentums, und Samuel Holdheim, der mit seinen radikalen Forderungen ein
210 Steins eigener Wahlspruch war „Durch Reform Erhaltung!“ (Stein, „Frankfurt am Main“, S. 332). In der für die zweite Rabbinerversammlung zentralen Abstimmung über die Beibehaltung des Hebräischen im Gottesdienst stellte er sich auf die unterlegene Seite der Befürworter, zu der vor allem Rabbiner Zacharias Frankel, der Begründer der positiv-historischen Richtung des Judentums (später als ‚konservatives Judentum‘ bezeichnet) zählte. Stein war von 1843 bis 1862 als Rabbiner in Frankfurt am Main tätig. Zu seinem Leben und Wirken siehe „Stein, Leopold, Dr.“, in: BHR 1,2, S. 834–837. 211 Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 188. 212 Ebd.
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Reformjudentum außerhalb des ‚Mainstream‘ repräsentiert. Hinsichtlich der sich daraus ergebenden praktischen Konsequenzen für das Tauchbad besteht allerdings keine Einigkeit, worauf im folgenden Kapitel näher einzugehen sein wird. Zum anderen zeitigt das Wasser auch real eine Wirkung, nämlich eine körperliche und moralische Erfrischung. Diese Position wird allein von Rabbiner Maier Hirsch Löwengard213 vorgebracht, der seine Zustimmung zur Verwendung von geschöpftem Wasser folgendermaßen begründet: Das Bad soll einen d opp elte n Zweck erreichen: 1) Reinigung; 2) die Bewirkung eines Wohlgefühls in Folge des Befindens in einer größeren Wassermasse, was physisch und moralisch erfrischend einwirkt.214
Hiermit unterscheidet Rabbiner Löwengard deutlich zwei Funktionen des Wassers: Reinigung und Wohlgefühl, wobei letzteres für sinnliche Erfahrung und moralische Erhebung ausschlaggebend ist. Zwar mag das Wohlgefühl in der Realität auch aus der erfahrenen reinigenden Kraft des Wassers resultieren, eine Erfrischung in einem schmutzigen Bad ist kaum vorstellbar, aber dies ist für Rabbiner Löwengard nicht der entscheidende Faktor, sondern vielmehr die „Wassermasse“ (während ein angemessener Reinheitsgrad wohl stillschweigend vorausgesetzt wird). Die Bedeutung der Wassermenge unterstreicht Löwengard zudem durch die weitergehende Forderung nach Becken, die nochmal wesentlich größer sind als viele der traditionellen Tauchbäder. An dieser Stelle wird deutlich, dass sich die Parameter gegenüber dem zuvor betrachteten ‚säkularen‘ bürgerlichen Konzept inzwischen merklich verschoben haben: War es dort allein die körperliche Reinheit, die auf die Seele sittlich formend einwirkt, so ist dieser einfache aufklärerische Wirkungsmechanismus bei Löwengard zumindest teilweise außer Kraft gesetzt: Nicht die Reinigung bewirkt für ihn die moralische Erhebung, sondern ebenso sehr – stattdessen? – die sinnliche Erfahrung des umgebenden Wassers. Löwengard führt hier zu letzter Konsequenz, was mit Hufelands Zwischenelement der sinnlich wahrnehmbaren „Stärkung und Erhöhung“ schon ansatzweise vorhanden war. Offen bleiben muss indes die Frage, ob auch die moralische Erfrischung nach Rabbiner Löwengard eine unmittelbare
213 Maier Hirsch Löwengard (1813–1886) war zunächst als Rabbinatsverweser in württembergischen Gemeinden tätig (1836 Berlichingen, 1839 Jebenhausen), von 1844 bis 1857 als Bezirksrabbiner in Lehrensteinsfeld bei Heilbronn. Seit 1841 stand er einer Reform des Judentums zunehmend kritisch gegenüber und äußerte sich unter einem Pseudonym sogar gegen die von der Israelitischen Oberkirchenbehörde betriebenen Reformbestrebungen; noch während seiner Lehrensteinsfelder Zeit bekannte er sich schließlich zur strengen Orthodoxie und änderte seinen Namen in Meier Salem („Löwengard, Maier Hirsch“, in: BHR 1,2, S. 622–624). 214 Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 187 (Hervorhebung im Original).
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Folge „des Befindens in einer größeren Wassermasse“ ist, oder analog dem Konzept der Aufklärung erst als Folge des körperlichen „Wohlgefühls“ eintritt. Die erste Version wäre ungleich radikaler, aber in beiden Fällen ist es letztlich das Wasser in seiner Eigenschaft als belebendes, stimulierendes Element, und nicht in seiner reinigenden Funktion, das den Geist des Menschen zu Höherem anregt. In diesem Sinn ist zugleich Löwengards anschließend geäußerte Einschränkung hinsichtlich des geschöpften Wassers zu verstehen, wonach hierfür „ursprüngliche ( מים חייםquellende Wasser) genommen werden“ sollen; mehr als jedes andere Wasser verkörpert frisches Quellwasser die Vorstellung von Leben, zumal der hebräische Begriff מים ( חייםmajim chajjim) wörtlich übersetzt „lebendiges Wasser“ bedeutet.215 Positive Deutungen der Mikwe auf christlicher Seite
Auch in manchen von christlichen Ärzten verfassten Schriften zur Mikwe schwingt diese Interpretation des Wassers mit, wobei deren Konzepte der Mikwe, anders als das von Löwengard, zugleich Hufelands christlich gefärbte Deutung der religiösen Waschung übernehmen bzw. weiterentwickeln. So schreibt bereits Schneider 1825: Durch die laue Temperatur des Wassers in jenen südlichen Erdgegenden, in welchen ehemals die Juden zu Hause waren, wurde der Körper nun nicht nur […] sorgfältig gereinigt, sondern es erhielten dadurch sogar auch alle Theile desselben eine äusserst wohlthuende Belebung und Kraft, wodurch nun ein Mensch nach einem solchen Bade gleichsam wieder neu geboren ward.216
Was Hufeland mit „Stärkung und Erhöhung“ benennt, erscheint bei Schneider als „Belebung und Kraft“, wobei hier bereits deutlich die für Löwengard ausschlaggebende belebende Wirkung des Wassers hervorgehoben wird. Diese wird jedoch, wie bei anderen christlichen Autoren, mittels des Begriffes der Wiedergeburt auch auf das christliche Heilsschema bezogen, wie es sich beispielsweise in Luthers Der kleine Katechismus darstellt: Wasser als Element des Lebens, dem im Ritual der Taufe eine besondere Bedeutung zukommt, insofern als der Mensch hierdurch neu (d. h. seelisch rein) geboren wird:
215 Nach einem in Der Orient veröffentlichten Bericht über die Rabbinerversammlung begründet Löwengard seine Zustimmung damit, dass mit geschöpftem Wasser „eigentlich Brunnenwasser“ gemeint sei, d. h. seiner Meinung nach sollte das Verbot von geschöpftem Wasser ursprünglich bezwecken, dass man das Wasser einer ‚echten‘ Quelle verwendete; siehe „Frankfurt a.M., 21. Juli (Schluß der Verhandlungen der RV.)“, S. 319. 216 P.J. Schneider, „Religionsgebräuche“, S. 249.
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Wie kann Wasser solch große Dinge tun? Wasser tut’s freilich nicht, sondern das Wort Gottes, das mit und bei dem Wasser ist […]; aber mit dem Worte Gottes ist’s eine Taufe, das ist ein gnadenreiches Wasser des Lebens und ein Bad der neuen Geburt im Heiligen Geist […]. Was bedeutet denn solch Wassertaufen? Es bedeutet, daß der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten; und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinheit vor Gott ewiglich lebe.217
Während jedoch Schneider lediglich die zeitgenössische jüdische Einrichtung der Kellermikwe im Blick hat und diese aus medizinischer Sicht (und damit negativ) bewertet, finden sich immerhin bei zwei christlichen Ärzten auch Ansätze einer positiven Deutung des Rituals. Mezger, der sich, wie beschrieben, sehr kritisch zur Verfassung der Mikwen wie auch allgemein der jüdischen Gemeinschaft äußert, beschreibt in seinem 1843 veröffentlichten Beitrag relativ ausführlich die spirituelle Bedeutung des rituellen Untertauchens: Sie [die israelitischen Frauen] werden durch dieses Bad zu dem nach den mosaischen Gesetzen für heilig erklärten Berufe des Weibes, zu welchem sie die Segnungen des Himmels erflehen und unter dessen unmittelbarem Einfluss derselbe gestellt ist, eigentlich geweiht. Sie feiern daher mit dem Eintritt in das Bad den Eintritt in ihre ehelichen Verhältnisse, eine Art von Wiedergeburt, die sie mit freudigem und frommem Sinne begehen sollen. Daher ist die ganze Handlung eine hochwichtige, erhabene und durch die schwersten Gesetze und unter den schwersten Strafen gebotene religiöse, welche billigerweise neben streng ritueller Anordnung des Aeusseren einen des Gegenstandes würdigen Raum voraussetzen sollte.218
Seine Betrachtung ist allerdings nur bedingt positiv zu werten. Zwar bescheinigt sie, ebenfalls vor dem christlichen Raster von Wiedergeburt, der rituellen Handlung eine besondere Würde, und räumt ein, dass Jüdinnen diese auch „mit freudigem und frommem Sinne begehen sollen“, also eine zunächst durchaus wohlwollende Sicht auf das Judentum. Allerdings, und das deutet sich bereits am Ende des zitierten Abschnitts in dem Wort „sollte“ an, bildet diese Passage lediglich den Auftakt zu seiner direkt anschließenden Kritik an den tatsächlichen Gegebenheiten. Sie dient
217 Luther, Der kleine Katechismus, unpag. 218 Mezger, „Bäder“, S. 143.
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somit weniger dazu, das Positive des Rituals hervorzuheben, als vielmehr den Gegensatz von Idealbild und Realität besonders krass erscheinen zu lassen: „Aber wie sehr werden wir überrascht, wenn wir die Höhlen des Schreckens betrachten, welche zu diesen Zwecken bestimmt sind […].“ Eine dezidiert positive Einschätzung findet sich hingegen in dem 1835 veröffentlichten Artikel des Fürther Stadtphysikus Dr. Braun, der bereits in seiner Einleitungspassage Mombert eine zu negative Sichtweise auf die Mikwen vorwirft, wonach dieser nur die „Ausartung und Entstellung“219 wahrnehme. Zwar sieht auch er mancherorts bestimmte Missstände und damit verbundene Gefahren für die Nutzerinnen, zweifelt jedoch deren Umfang und die Richtigkeit der zentralen Ausgangsthese für den Mikwendiskurs an: Für die Schädlichkeit der plötzlichen Abkühlung des Körpers gebe es keine Beweise, vielmehr betrachte man in vielen Fällen gerade die russischen Dampfbäder als ratsam für Kranke.220 Wesentlich größeren Raum als die Kritik an teilweise vorhandenen Defiziten nimmt bei ihm die Zukunftsvision einer Mikwe ein, bei der alle Defizite beseitigt, ins Positive verwandelt, und somit ihr volles religiös-spirituelles Potential der „Wiedergeburt“ verwirklicht wurde: Der Reinigungstrieb ist mehr oder weniger jedem Lebenden eigen. Während sich das niedere Thier im Schlamme wälzt, sucht das edlere fliessende Wasser, ja Quellen zur Abkühlung und Erquickung. Der Mensch insbesondere will bei solcher Reinigung nicht allein eine körperliche Waschung, sondern auch einen Sinnengenuß, und findet dabei noch eine symbolische Beziehung auf die Seele. Ein solches Bad soll eine Wiedergeburt, von körperlichen und psychischen Verschlackungen seyn; das Erschlaffte soll erfrischt, gespannt, zum Geschlechtsgenusse vorbereitet, und tüchtig gemacht werden an geweihetem Orte und auf religiöse Weise. Hat sich aber einmal die Religion als Institut der Cultur bei den Israeliten dieses Reinigungsbades bemächtigt, so muß sie auch demselben alle Eigenschaften ertheilen, die von jener gefodert [sic] werden. Der Ort des Bades darf ein Verborgener, doch nicht eine Höhle des Schreckens seyn, der Aufenthalt in ihm sey freundlich einladend, damit die zu Reinigende fröhlich die Umarmung ihres Mannes suche, um deren willen sie sich gereinigt sehnt. Die herrscherische Alte, bestimmt sie ein- und wenn ein Härchen unbenetzt bleibt zweimal unterzutauchen, werde mit einer wohlwollenden Begleiterin, die mit badet, vertauscht. Das An- und Entkleidungsgemach sey mit weichen Sitzen versehen, und gesondert von dem Badezimmer, in dem sich immer ein feuchter Dunst befinden wird, dem durch Oeffnen der Fenster Abzug zu verschaffen ist. Ein auf diese Weise gebautes Bad wird seinen Zweck erfüllen, wo es auch immer sey;
219 Braun, „Tauchen“, S. 169. 220 Ebd., S. 173.
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die alle Monate zu Reinigende wird in Fülle ihrer Schönheit dem Bade entsteigen, um Fruchtkeime empfangen zu können.221
Die Funktion von Momberts brutaler Mikwenfrau aus dessen Monographie von 1828, benannt hier als „herrscherische Alte“, soll nach Brauns Vorstellung fortan eine wohlwollende Begleiterin übernehmen, und die ganze „Höhle des Schreckens“222 in einen einladenden Ort mit allem nötigen Komfort verwandelt werden. Auf diese Weise biete das Ritual sowohl „Sinnengenuß“ als auch „eine symbolische Beziehung auf die Seele“, womit Braun genau die beiden Dimensionen benennt, in denen man auch später auf der Rabbinerversammlung das Tauchbad beschreibt. Braun geht sogar soweit, die Tauchbäder auch als wünschenswerte Einrichtung für Christen zu propagieren, die noch viel zu wenig von der Möglichkeit der Reinigung in den „zweckmäßigsten Badeanstalten an Flüssen“ Gebrauch machten: Der Nutzen dieser Bäder ist so groß, daß selbst die häßlichen Tauchen der Israeliten in den Kellerquellen dafür sprechen, denn weder in den Acten der Polizei, noch in den Tagebüchern christlicher oder jüdischer fleissiger Aerzte sind Beweise schwerer Wirkungen aufgezählt worden, und wahrscheinlich war es jedesmal nur der zufällige Rauch der das Bad beheizenden Feuer, oder der Dunst der Kohlen, der durch Ungeschick der Wärter eine oder die andere Frau belästigt hat. […] Ergreifen wir also auch, gleich den Israeliten, den Gedanken: Reinigungsbäder für unsre Weiber zu erbauen. Gehen wir in diesem Punkte wie in andern mit dem guten Beispiele vor, so werden uns jene nicht allein folgen, sondern uns begleiten. Vielleicht erscheint noch mancher ihrer Religionsgebräuche bei näherer Betrachtung nachahmungswerth.223
Brauns Verteidigung der Anlagen kann dabei nicht auf gänzlicher Unkenntnis der Sachlage beruhen, sondern scheint vielmehr auf tiefer Überzeugung zu gründen, wurde er doch nur ein Jahr zuvor in seiner Funktion als Stadtphysikus zur Begutachtung eines fast tödlich verlaufenen Unfalls in der Fürther Mikwe bestellt.224
221 Ebd., S. 174f. 222 Möglicherweise war dies ein geflügeltes Wort in Fürth, vielleicht aber auch Brauns eigene Prägung. Der Fürther Bürgermeister bezeichnete die dortige Mikwe im ‚Schulhof ‘ 1831 in ähnlicher Weise als „Gemach des Grauens und Entsezens“ (Stadtarchiv Fürth, Fach 27, Nr. 18: ‚Vortrag‘ des Fürther Bürgermeisters vom 29.10.1831, zit. nach: Kraus u. a. [Hgg.], Synagogen, Bd. II, S. 287). 223 Braun, „Tauchen“, S. 175f. 224 Gemäß der Darstellung von Blume handelt es sich hierbei um die Mikwe unter der ‚Neuschul‘, was jedoch nicht völlig sicher ist (vgl. Anm. 242 in Kapitel 3). Die Mikwe wurde bereits 1831 unter dem Eindruck der Cholera-Epidemie erstmals geschlossen, nach dem Vorfall von 1834 dann endgültig (vgl. Blume, „Mikwen in Fürth“, S. 63–70).
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Offensichtlich hatte ein Fehler beim Heizen zur Entwicklung von giftigen Dämpfen geführt, so dass mehrere Frauen ohnmächtig aus der Mikwe gerettet werden mussten. Braun folgert damals, ähnlich wie 1835, der Fall sei „bloß durch sträfliche Fahrlässigkeit des Heizens veranlasst worden, liegt also nicht unmittelbar dem Locale zur Last.“225 1834 verbindet er diese Einschätzung allerdings noch mit heftiger Kritik an den überholten Bräuchen der jüdischen Religion: „an einem solchen Ort ist kein Denkmal des Fortschritts der Kultur zu finden, da herrscht nur Geistund Leben tötender, überhaupt pedantisch am Buchstaben klebender moderischer Aberglaube“.226 Will man einen vollständigen Gesinnungswandel ausschließen, was wohl eher unwahrscheinlich sein dürfte, so muss man Brauns ablehnende Worte wohl dahingehend interpretieren, dass gemäß seiner später geäußerten Auffassung nur „der Egoismus fanatischer Menschen“, d. h. einer Gruppe von verblendeten aber einflussreichen Juden, die vorhandenen Missstände bewirkt.227 Die rabbinische Gesetzgebung zur Mikwe, also gerade auch die sonst kritisierte nach-mosaische Regelung, ist seiner Ansicht nach in fast allen Punkten „vernünftig“ und „zweckmäßig“.228 Sowohl Mezger als auch Braun beurteilen die Mikwe nicht allein aus ärztlicher Sicht, sondern beide übertragen in ihren Texten die christliche Vorstellung von einem „würdigen“ (Mezger) bzw. „geweihten“ Raum (Braun), wie er insbesondere dem Gottesdienst als dem zentralen gemeinsamen ‚Glaubensritual‘ dienen soll, auch auf den Mikwenraum, der hierdurch eine völlig neue Qualität erhält: Als Raum für ein religiöses Ritual muss er nicht nur in medizinisch-hygienischer Hinsicht tauglich sein, sondern auch der spirituellen Bedeutung gerecht werden. Während sie so einerseits, über die Analogie des Raumes, dem Ritual des Untertauchens eine besondere, an der christlichen Umwelt orientierte, religiöse Weihe zuerkennen, neutralisieren sie andererseits das christliche Konzept der Wiedergeburt, das sie zwar über den Begriff anzitieren, aber doch dem jüdischen Rahmen gemäß anpassen. Nicht Reinwaschung von Sünde, wie bei der Taufe, steht im Vordergrund, sondern der Aspekt der Körperlichkeit, der das traditionelle jüdische Verständnis des Gebotes bestimmt, wird gleichermaßen einbezogen: Wiedergeburt „von körperlichen und psychischen Verschlackungen“ und hierdurch Erfrischung und
225 Stadtarchiv Fürth, Fach 27/18: Die zweckmäßige Einrichtung der Keller-Quellbäder für die Israelitinnen dahier im Jahre 1829, zit. nach: Blume, „Mikwen in Fürth“, S. 69. 226 Ebd. 227 Braun, „Tauchen“, S. 172. 228 Ebd., S. 171. Braun hat sich offensichtlich mit den wichtigsten halachischen Bestimmungen zu Mikwen vertraut gemacht und beschreibt diese knapp in seinem Beitrag. Als unvernünftig betrachtet er lediglich die Vorstellung, dass eine bestimmte Mindestmenge von koscherem Wasser eine „heiligende Kraft“ auf weiteres zugegossenes Wasser ausübt, somit die gesamte Mikwe koscher macht.
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Vorbereitung zum „Geschlechtsgenusse“ (Braun) bzw. „Eintritt [der Frau] in ihre ehelichen Verhältnisse“ (Mezger). Das jüdische rituelle Tauchbad erscheint so, mit der Begrifflichkeit christlicher Religiosität erklärt und hierdurch ‚legitimiert‘, dennoch als etwas Eigenständiges – ein Ritual, das seine Bedeutung aus der belebenden Kraft des Wassers speist, dabei auch die Dimension der Seele berührt, ohne jedoch voll im christlichen Raster von Taufe und Wiedergeburt aufzugehen. 6.1.2.3 Die Mikwe als Möglichkeitsraum
An dieser Stelle zeigt sich sehr deutlich, dass das im medizinischen Diskurs vorrangig als negativer Gegenort konstruierte Raumbild der Mikwe tatsächlich noch mehr beinhaltet als den Aspekt der Ausgrenzung. Gerade in seiner Andersartigkeit, in seinem festgeschriebenen Status der Absonderung, erweist sich der Gegenort als essentieller Möglichkeitsraum einer Gesellschaft. Er fungiert so, wenngleich auf der imaginären Ebene gedanklicher Konstruktion, in ähnlicher Weise wie Foucaults so genannte Heterotopie, die dieser als einen realen Ort der Abweichung beschreibt, der jedoch trotz und wegen seiner Andersartigkeit für die Gesellschaft in besonderer Weise konstitutiv ist: Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen. Da diese Orte völlig anders sind als all die Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen, werde ich sie im Gegensatz zu den Utopien als Heterotopien bezeichnen.229
Heterotopien zeichnen sich nach Foucault unter anderem durch den Aspekt der Abgrenzung aus, sie sind in sich geschlossen, gehen gerade nicht nahtlos in die ‚normale‘ Umwelt über230 – und bewahren hierdurch letztlich ihre Eigenart, ihre Funktionsweise als Heterotopie. Als typische Heterotopien bezeichnet Foucault neben beispielsweise Friedhöfen, Gärten, psychiatrischen Anstalten, Bibliotheken oder Museen auch solche Orte, die einer besonderen Reinigung dienen, „einer halb religiösen, halb hygienischen Reinigung wie im Fall des muslimischen Hammam
229 Foucault, „Von anderen Räumen“, S. 320. Zur Entwicklung von Foucaults Heterotopiebegriff innerhalb seines Werkes siehe Tafazoli/Gray, „Heterotopien“, S. 8–13. 230 Foucault, „Von anderen Räumen“, S. 325f.
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oder einer scheinbar ausschließlich hygienischen Reinigung wie im Fall der skandinavischen Sauna.“231 Die reale Mikwe der Emanzipationszeit nun ist zunächst keine Heterotopie im Foucault’schen Sinn, da sie keine von der bürgerlichen Gesellschaft geschaffene Einrichtung ist, nicht deren Bedürfnis nach einem solchen Ort entspringt, sondern ihr gewissermaßen aufgepfropft wurde.232 Dennoch leistet die imaginäre Mikwe, nämlich das von der Gesellschaft aktiv entworfene bzw. getragene Bild der Mikwe, etwas Analoges. Im Bild der unreinen, krankmachenden Kellermikwe wird zunächst das bürgerliche Reinigungsbad und die bürgerliche Gesellschaft (mit der hohen Wertschätzung von Gesundheit als Voraussetzung für ein tätiges Leben) „in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt“ – und insofern stellt dieses Bild eine gesellschaftliche Heterotopie dar, nämlich eine (hier virtuelle) räumliche Fixierung der Abweichung. Allerdings handelt es sich bei Heterotopien eben nicht einfach um gebannte Orte der Andersartigkeit, nicht um zutiefst fremde Orte ohne jeden Berührungspunkt mit der normalen Lebenswelt, sondern um solche Orte, die gleichzeitig „in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten stehen“233 , die also bei aller Verschiedenheit doch in essentieller Weise auf die jeweilige Umwelt bezogen sind. Nur weil die Mikwe in den Augen der ärztlichen Gutachter ein ‚verkehrtes‘ Reinigungsbad ist, weil man ferner in ihr – zumal als jüdische Einrichtung – etwas zu erblicken glaubt, was sich der bürgerlichen Gesellschaft „widersetzt“234 , kann sie auch in der beschriebenen Weise zum Gegenort stilisiert werden und als Heterotopie fungieren: Heterotopien werden von der Gesellschaft geschaffen, weil sie benötigt werden, wirken dann aber ähnlich wie ein Spiegel auf diese zurück, indem sie sich zu dem ‚normalen‘ Raum in Beziehung bringen, diesen bisweilen „sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen.“235 Und genau dies geschieht im Fall der Mikwe, und zwar auf zweierlei Art. Zum einen bewirkt der geschaffene Gegenort – die virtuelle Heterotopie –, dass die Mikwe real in die Bürgergesellschaft integriert wird, indem sie zunächst durch verschiedene behördliche Verordnungen in Form gebracht und abschließend 1846 im württembergischen Normalerlass ‚domestiziert‘ wird. Hierdurch wird der
231 Ebd., S. 326. 232 Bezogen auf die jüdische Gemeinschaft würde sie, gemäß der Definition von Foucault, eine Heterotopie darstellen; der hier gewählte Blickwinkel ist aber der der bürgerlichen Gesellschaft, die mit dieser für sie fremden Einrichtung konfrontiert wird. 233 Foucault, „Von anderen Räumen“, S. 320. 234 In seinem Radiovortrag Die Heterotopien von 1966 beschreibt Foucault diese als „Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen.“ (Foucault, „Heterotopien“, S. 10). 235 Ebd.; zu der Heterotopie als Spiegel siehe Foucault, „Von anderen Räumen“, S. 321.
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Mikwe (zumindest formal) der Raum innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gewährt, der ihr zuvor verwehrt war. Zum anderen strahlt das, was jüdische Reformer und christliche Ärzte in den imaginären Raum Mikwe hineintragen, auch wieder auf die bürgerliche Gesellschaft zurück und verwandelt diese ideell. Sichtbarer Ausdruck hiervon ist die Forderung nach Einführung der Tauchbäder auch für christliche Frauen, die im medizinischen Diskurs zwar eine Besonderheit darstellt, aber nicht als Absurdität gehandelt wird. Dass Brauns Darstellung sowohl von christlicher als auch von jüdischer Seite Zustimmung fand, zeigt sich daran, dass seine Vision eines jüdisch-christlichen Reinigungsbades fast wortwörtlich auch in anderem Zusammenhang abgedruckt wurde: In Mosts Enzyklopädie der gesamten Staatsarzneikunde von 1838 findet sich unter dem Stichwort ‚Bad‘ auch eine ausführliche Darstellung zum „Bad der Jüdinnen“, bestehend aus einem längeren Auszug aus Momberts Artikel von 1830 (ebenfalls mehr oder weniger wörtlich übernommen) und, gleichsam als Gegengewicht hierzu, dem gesamten ersten der oben zitierten Absätze von Braun. Einleitend heißt es hier zu Braun: „Übrigens wünscht er [Braun], dass auch Reinigungsbäder für christliche Weiber erbaut würden, und lobt mit Recht das Baden.“236 Selbst vor dem wirkungsmächtigen Hintergrund der allgemeinen Kritik wurde das bürgerliche Potential der Mikwe durchaus wahrgenommen und diese – als Idee, nicht als real vorhandene Einrichtung – von einigen christlichen Schreibern als vorbildhaft gewertet! 1840 erschien dann in der Allgemeinen Zeitung des Judentums, von einem namentlich nicht genannten Leser eingesandt, nochmals der vollständige Abschnitt aus Mosts Enzyklopädie, der das „Bad der Jüdinnen“ behandelt. Der Einsender gibt an, dass gerade in kleineren Gemeinden die Situation der Mikwen noch zu wünschen übrig lasse, weshalb er Mosts Artikel „Zur Beachtung“ einschicke, „der würdig genug ist, in der Zeitung des Judenthums veröffentlicht zu werden.“237 Mehr als 20 Jahre später wird Braun immerhin noch als Referenz genannt (neben Mombert, Schneider und Wolff), und zwar in Dr. Adolph Lions kurzem Aufriss der Mikwen-Problematik, den er im Rahmen einer Serie mit dem Titel Gebräuche und Missbräuche, Sitten und Religion. In Bezug auf die Sanitätspolizei (1864) gibt.238 Unabhängig von Braun und ohne ein ähnliches Eingehen auf das Ritual schreibt darüber hinaus auch Trusen 1853: „Es wäre aber gewiss sehr wünschenswerth, wenn auch die Frauen in christlichen Ländern, jedoch unter besseren Einrichtungen, dieser Sitte folgten.“239 Außerhalb der hier betrachteten Kerngruppe von medizinischen Veröffentlichungen findet
236 Most (Hg.), Encyklopädie, S. 219f. 237 K… in R…t, „Zur Beachtung“, S. 366. 238 Lion, „Gebräuche und Missbräuche“, 11.12.1864, S. 525. Das von Lion genannte Jahr der Veröffentlichung von Brauns Artikel, 1855, ist offensichtlich ein Druckfehler; zu Lions Standpunkt vergleiche auch Anm. 157. 239 Trusen, Sitten, Gebräuche und Krankheiten, S. 20.
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sich dieser Gedanke auch 1836 im Rahmen einer allgemeineren Darstellung über den Gesundheitszustand der jüdischen Bevölkerung im württembergischen Laupheim. Die vorhandenen gesundheitlichen Probleme seien, so der ortsansässige Oberamtsarzt Dr. zum Tobel, nicht selten zurückzuführen auf „ihr mit Armuth und Beschwerden verschiedener Art kämpfendes Leben“, teilweise auch auf falsche Gewohnheiten, wozu man ebenfalls „den unvorsichtigen Gebrauch der Reinigungsbäder“ zählen müsse.240 Auf die Mikwe geht zum Tobel zwar nicht weiter ein, hebt sie aber als prinzipiell positive und nachahmenswerte Einrichtung zur ‚Gesundheitserziehung‘ hervor: Für Erhaltung der Gesundheit sind die Juden sehr besorgt, wozu sie zum Theil auch durch ihren religiösen Kultus angehalten werden. Sie erfreuen sich mancher Anordnungen, welche, wenn sie auf eine zweckgemässe, die Salubrität mehr im Auge habende Weise angewendet auch für andere Konfessionen nachahmungswürdig wären. Dahin gehören namentlich die Reinigungsbäder der Frauen, deren sie sich nach dem jedesmaligen Aufhören der Menstruation, nach Blutflüssen, überstandenen Kindbetten etc. bedienen müssen, eine Anordnung, welche bei zweckmässiger Einrichtung dieses Bades und unter Beobachtung der nöthigen diätetischen Vorsichtsmassregeln gewiss so zeit- als sachgemäss erscheinen dürfte.241
Aber auch ungeachtet der Forderungen von Braun, Trusen und zum Tobel wird der Gesellschaft allein durch die vollzogenen (Um-)Deutungen des Rituals etwas Neues eingepflanzt. Denn die Mikwe lässt sich zwar auf die beschriebene Weise in den von der christlichen Bürgergesellschaft bereitgehaltenen Bezugsrahmen stellen, ohne jedoch vollkommen darin aufzugehen, wie im Fall der christlich gefärbten positiven Wertungen sehr deutlich wurde. Zwar wird die Mikwe hierdurch auf der Oberfläche legitimiert und damit ‚verbürgerlicht‘, sprengt aber zugleich, sozusagen im Untergrund, die Homogenität der bürgerlichen Welt, indem sie weitergehende, bisher nicht verwirklichte Möglichkeiten in sich trägt und potentiell zur Entfaltung bringen kann. Eine dieser Möglichkeiten ist die Interpretation der Mikwe als eine Art ‚Wellness-Bad‘ für Körper und Seele, was sich als Idee am klarsten bei Rabbiner Löwengard abzeichnet, aber, wie gezeigt wurde, auch bei der Sicht von christlichen Ärzten auf die Mikwe mitschwingt und schon bei Hufeland angelegt ist. Insofern als
240 Tobel, „Mittheilungen“, S. 9; vgl. auch die Darstellung bei Jütte, Leib und Leben, S. 240f, der die Stelle ebenfalls zitiert. Zwar steht zum Tobels Artikel in gewisser Weise in der Tradition von Wolfs Monographie Von den Krankheiten der Juden (1777), zu der von mir untersuchten Kerngruppe medizinischer Schriften gemäß Tabelle 4 rechne ich ihn aber deshalb nicht, weil er die Mikwe zwar wertet, ansonsten aber nicht näher beschreibt und somit lediglich am Rande des Mikwendiskurses anzusiedeln ist. 241 Tobel, „Mittheilungen“, S. 8.
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nach dieser Deutung des Rituals zugleich das Individuum mit seiner persönlichen Erfahrung (sowohl physisch-sinnlich als auch spirituell) in besonderer Weise in den Mittelpunkt rückt, weist das Konzept in seiner Modernität bereits deutlich über das 19. Jahrhundert hinaus und sollte sich tatsächlich auf lange Sicht als zukunftsweisend herausstellen.242 Löwengard und die genannten christlichen Schreiber legen hier, vor dem Hintergrund jüdischer Emanzipation und religiöser Reformbestrebungen, den Grundstein für eine Neubewertung des rituellen Bades zwischen den Polen von Wellness und einer persönlichen, d. h. auf unvermittelter Erfahrung gründenden Spiritualität, und schaffen so ein zukunftsfähiges Modell, das letztlich nicht an eine bestimmte institutionalisierte Religion gebunden ist. Innerjüdisch zeigt sich diese Tendenz heute am deutlichsten in den USA, wo man zum einen bemüht ist, in der Ausstattung der Mikwen und besonders der vorgelagerten Badezimmer die Atmosphäre einer Wellness-Oase einzufangen, zum anderen an der Tatsache, dass auch nicht orthodoxe Gemeinden inzwischen wieder häufig Mikwen anlegen, um Frauen und Männer dieses Ritual neu für sich entdecken zu lassen: nicht unbedingt im traditionellen Sinn, sondern vielmehr als sinnliche Erfahrung eines Neubeginns nach jeglicher Art von Lebenskrise.243 An dieser Stelle hätte man dann gewissermaßen eine moderne Version der so genannten „Krisenheterotopie“, von denen Foucault annimmt, dass sie in erster Linie für „primitive“ Gesellschaften von Bedeutung waren.244 Auf die deutsche Gesamtgesellschaft bezogen kam dem neu gefundenen ‚spirituellen Nebenpfad‘ – Eintauchen in das Lebenselement Wasser als universelle, nicht religionsgebundene Erfahrung, die zugleich eine moralische Reinigung symbolisiert – zunächst allerdings keine tragende Bedeutung zu. Er verblasste gegenüber dem schon früher vorhandenen ‚säkularen Hauptweg‘, wonach man sich der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer allgemeinen Reinlichkeits- und Bade-Kultur allein über den Wert der Gesundheit näherte, und dies geschah sowohl auf der Ebene des Diskurses als auch der sozialen Praxis: Während man auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden 1911 die rituell begründeten jüdischen Hygiene-Vorschriften, besonders auch die „Sexualhygiene“ und damit die Mikwe, als vorbildliche, mit modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang stehende Maßnahmen darstellte,245 verlor die Mikwe in der Realität bis dahin mehr
242 Zu Individualität als bedeutendes Konzept der bürgerlichen Gesellschaft vgl. Lässig, Bürgertum, S. 54f u.ö. 243 Vgl. zu diesem Aspekt auch Kapitel 6.3.1, Abschnitt Zwischen Säkularisierung und Sakralisierung. 244 Vgl. Foucault, „Von anderen Räumen“, S. 321f. 245 Dies geschah allerdings bereits im Zeichen von Rassenhygiene und sozialdarwinistischen Theorien, vgl. hierzu Nikolow, „Körper“, S. 45–51. Zur Beurteilung der Mikwe im Kontext der Sexualhygiene siehe den Beitrag von B. Baneth im Begleitband zur Dresdner Ausstellung („Das jüdische Ritualgesetz“, S. 86–89, 96–103).
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und mehr an Bedeutung.246 Bereits Mombert hätte die bestehende Einrichtung am liebsten völlig abgeschafft, gegen ein gewöhnliches Wannenbad vertauscht und auf diese Weise vollständig säkularisiert und ‚verbürgerlicht‘,247 und es scheint, dass bereits gegen Ende der Emanzipationsepoche ein solches Verhalten die gesellschaftlich akzeptierte Norm darstellte. So schreibt Adolph Lion 1864, „dass auch die Kultur anderweitig so weit vorgeschritten ist, dass auch der Gebrauch derselben [d. h. der Mikwen] nicht mehr so allgemein ist als früher, und jede gebildete Frau anderweitig Gelegenheit hat, sich in dieser Beziehung reinlich und angemessen zu verhalten.“ In ähnlicher Weise äußern sich Kraus/Pichler in Encyclopädisches Wörterbuch der Staatsarzneikunde 1872,248 und die gänzliche Abwesenheit des Mikwenthemas in vergleichbaren Werken der Staatsarzneikunde249 darf, bei aller gebotenen Vorsicht, vielleicht ebenfalls damit in Verbindung gebracht werden, dass man die Nutzung traditioneller Mikwen nur noch mit einer gesellschaftspolitisch nicht weiter relevanten, kleinen jüdischen Randgruppe verband. Zwar mag das Konzept der spirituellen Erfahrung für die noch vorhandenen Nutzerinnen persönlich von Bedeutung gewesen sein, auf Ebene des öffentlichen Diskurses jedoch wurde Verbürgerlichung letztlich mit der Nutzung gewöhnlicher Bäder gleichgesetzt, und die jüdischen Frauen bestätigten diesen Trend, indem sie den ‚offiziellen‘ Mikwen mehr und mehr fern blieben. Erst sehr viel später, mehr als zwei Generationen nach dem Zivilisationsbruch der Schoah, und nur ansatzweise zeigt sich, dass die Mikwe tatsächlich gerade in den von Löwengard herausgehobenen Aspekten ihren Platz in der modernen Gesellschaft gefunden hat: in Wellness und einer damit verbundenen Form von spiritueller Erfahrung, wie sie auch das österreichische Vier-Sterne-Hotel „AlpenKarawanserai“ anbietet. Die koschere jüdische Mikwe dient in diesem alle Bereiche umfassenden Wellness-Ressort einerseits dem dort von orthodoxen Jüdinnen noch
246 Vgl. hierzu die Veröffentlichung des Bureaus für die Statistik der Juden von 1906 ([Thon], Die jüdischen Gemeinden, S. 17). Ausführlicher zu diesem Aspekt siehe unten Kapitel 6.3.2. 247 Moritz Mombert, Kellerquellenbäder, S. 87f; die betreffende Stelle wird weiter oben zitiert in Kapitel 6.1.2.1, Abschnitt Das Gesamtpanorama: Die Mikwe und die Frage nach dem Zweck der religiösen Gebote. 248 Siehe oben Kapitel 6.1.1.3, Abschnitt Faktor 2: Der ideelle Rückzug des Staates aus der Mikwenproblematik. 249 So nimmt beispielsweise Lion in zwei derartigen Werken aus den 1860er Jahren in keiner Weise auf Mikwen Bezug. Sein Compendium der Sanitäts-Polizei und gerichtlichen Medicin von 1867 verzeichnet unter der Rubrik „Bäder, Brunnen, Badeanstalten, Heilquellen“ nichts zu jüdischen Ritualbädern (S. 201–205). In Lions Handbuch der Medicinal- und Sanitätspolizei von 1862 nimmt das Thema Badeanstalten im allgemeinen Sinn kaum noch Raum ein, sondern verblasst hinter der Wichtigkeit von Waschanstalten speziell für Arme zum Reinigen der Wäsche; auch hier sind jüdische Ritualbäder nicht aufgeführt, während allerdings die Beschneidung, gemeinsam mit der Taufe, eigens behandelt wird, da beide „nicht ohne hygienisches Interesse“ sind (S. 259f, 270).
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immer praktizierten Tauchbad,250 erscheint aber zugleich unter der Rubrik „Balance & Schönheit“ und wurde in diesem Kontext noch 2015 als ein universelles „reinigendes Ritual“ beworben: Das rituelle Bad die Mikwe – die einzige koshere Mikwe in den Österreichischen Alpen. Wasser[,] das heilige, lebensspendende und reinigende Element aller Religionen, so haben auch wir diese rituelle Waschung aus dem Judentum in unserem Wellnesshotel übernommen und bauten 2009 unter der Aufsicht von RAV Posen Frankfurt/London und das [sic] Kashrut Komitee Rabbiner Abraham Y. Schwartz, Khal Chassidim Wien Österreich unsere koshere Mikwe. […] Die Mikwe im Wellnesshotel Alpen-Karawanserai in Österreich ist in den Sommermonaten für unsere jüdischen Gäste das rituellen [sic] Tauchbad. In den restlichen Monaten wird die koshere Mikwe vor den energetischen Behandlungen verwendet und dient als reinigendes Ritual.251
Selbst die ‚Beauty-Komponente‘ des modernen Wellness-Programms findet sich bereits im Mikwendiskurs des 19. Jahrhunderts angelegt. So preist Trusen 1853 die Vorzüge des Badens an sich und insbesondere für das weibliche Geschlecht, ist doch „Reinlichkeit das beste Cosmeticum für alle seine Reize“; in diesem Zusammenhang erscheint sogar die Venus, „die bekanntlich eben aus dem Bade steigt“, als Symbol der Reinlichkeit und Verkörperung der Idee, „dass die höchste Liebenswürdigkeit unzertrennlich ist von der höchsten Reinlichkeit.“252 Reinlichkeit fällt in dieser Vorstellung zusammen mit äußerer Schönheit, während der frühere Begründungszusammenhang von Reinlichkeit und Moral (somit die ‚Schönheit‘ der Seele) nicht mehr formuliert wird. In dieser wenigstens vordergründigen Tilgung der Komponente von Innerlichkeit/Moral aus dem Kontext des rituellen Bades vollzieht sich bereits eine deutliche Wendung in Richtung des heutigen ‚Beauty-Spa‘. Auch Braun
250 In dem englischen Internetauftritt des Hotels, der sich speziell an jüdische Gäste wendet, erscheint die Mikwe im unmittelbaren Kontext von koscherer Küche und nach Geschlechtern getrennten Badebereichen; es heißt hier: „We invested a lot of commitment and money in Kosher kitchens, the large Spa areas with separate pools and saunas and a real koshere Mikweh.“ (Sommerbichler, „Kosher Hotel in Austria“, unpag.). 251 O.V., „Das rituelle Bad die Mikwe – die einzige koshere Mikwe in den Österreichischen Alpen“, unpag. Die Seite wurde allerdings spätestens im April 2017 umgestaltet, dabei die Überschrift geändert (neu: „Rituelle Waschungen im Wellnesshotel im Salzburger Land“) und der zweite Absatz entfernt (o.V., „Rituelle Waschungen im Wellnesshotel im Salzburger Land“, unpag.). 2021 fehlt der Hinweis auf die Mikwe völlig, stattdessen bewirbt man nun das Angebot der „energetischen Behandlungen“ als Verbindung von „westliche[r] Technik“ mit „fernöstlicher Weisheit“ (o.V., „Einfach mal verwöhnen lassen“, unpag.). 252 Trusen, Sitten, Gebräuche und Krankheiten, S. 21.
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betont den Aspekt der Schönheit, indem er das Motiv der Venus und das Idealbild der Frau als Mutter vor dem Hintergrund der Mikwe miteinander verschmilzt: „die alle Monate zu Reinigende wird in Fülle ihrer Schönheit dem Bade entsteigen, um Fruchtkeime empfangen zu können.“253 Wenngleich also die Mikwe aufgrund der spezifischen innerjüdischen und allgemeinen Entwicklung letztlich nicht in der Weise bzw. in dem Umfang ihren Platz in der Gesamtgesellschaft fand, wie die Deutungen von Löwengard und manchen christlichen Schreibern theoretisch ermöglichen würden, so nahm deren Ansatz doch über die Mikwe auch die Gesellschaft auf einen neuen Weg mit. Dass der neu eingeschlagene Weg von Wellness für Körper und Seele für die Mikwe nicht nur gangbar war, sondern dieses Konzept geradewegs in die moderne Gesellschaft hineinführt, einem dort gefühlten Bedürfnis entspricht, zeigt zumindest exemplarisch die (so noch 2015 beworbene) Wellness-Oase der österreichischen „AlpenKarawanserai“. Jüdische Mikwe und allgemeines Wellness-Programm gehen hier nahtlos ineinander über und führen im Kleinen das vor, was eine vollkommene Integration der Mikwe in eine pluralistische Gesellschaft bedeuten würde bzw. könnte: das Angebot einer wohltuenden Auszeit für Körper und Seele verbunden mit einer spirituellen Erfahrung, die individuell deutbar ist gemäß der persönlichen Lebensphilosophie bzw. Religion. Und ausgehend vom Beispiel der Mikwe ließen sich die Heterotopien in diesem Sinn dann tatsächlich mit Hamid Tafazoli und Richard T. Gray, die Foucaults Konzept unter anderem in der soziokulturellen Kategorie von Identität und Alterität weiterdenken, als „Vorhöfe“ verstehen, „die einen Übergang zu einer heterogenen Gesellschaft einleiten.“254 6.1.2.4 Gesamtgesellschaftliche und innerjüdische Schnittstellen mit der Transformation
Auch vor dem Hintergrund dieser Überlegungen bildet die Rabbinerkonferenz von 1845 somit nicht den Abschluss des Prozesses der Verbürgerlichung der Mikwe, wohl aber einen zentralen Knoten- und Wendepunkt. Ihre Bedeutung liegt letztlich in zweierlei begründet: 1) Einerseits nahm man wesentliche Impulse sowohl aus dem medizinischen als auch dem jüdischen Reformdiskurs auf und prägte hieraus die programmatische Formel „Reinigkeit und Sittlichkeit“, die der Präsident der Rabbinerversammlung in seiner abschließenden Stellungnahme verwendet.255 Dabei knüpfte man mit der Verbindung von Körper und Seele nicht lediglich an ein älteres Konzept (das der
253 Braun, „Tauchen“, S. 175. 254 Tafazoli/Gray, „Heterotopien“, S. 17. 255 Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 188.
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Aufklärungsmedizin) an, sondern man befand sich in der Zusammenschau von Hygiene und Religion, als Garant für Sittlichkeit, gesellschaftspolitisch genau auf der Höhe der Zeit. Auch um 1850 hatte sich der Gesundheitsbegriff bei Weitem nicht vollständig aus früheren religiös-ethischen Begründungszusammenhängen gelöst. Zwar scheint gerade die neu aufkommende experimentelle Hygiene mit ihren wissenschaftlich begründeten Einsichten eine solche Entwicklung nahezulegen, und tatsächlich wurde Gesundheit im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zur „quasi wertfrei beweisbaren Richtschnur des täglichen Lebens in einer Gesellschaft auf dem Wege zur Industrialisierung und Verstädterung“, wie Alfons Labisch in Hygiene ist Moral – Moral ist Hygiene ausführt.256 Allerdings, so zeigt ebenfalls Labischs Darstellung, ist eine vollständige Säkularisierung des Begriffs zumindest in Frage zu stellen, gab man doch die religiös-ethische Dimension im medizinischen Diskurs selbst in der zweiten Jahrhunderthälfte niemals völlig auf; vielmehr wurde gerade auch bei Vertretern der experimentellen Hygiene die Kategorie Gesundheit oder Reinlichkeit noch immer im Zusammenhang mit Sittlichkeit gedacht, wenn auch nicht unbedingt offen propagiert:257 „Die moralischen und politischen Implikationen der Hygiene traten gewissermaßen in die Kulissen – und wirkten nach wie vor, nun allerdings aus dem Verborgenen.“258 Offen anzitiert wird dieses Konzept sogar noch 1873 in der populären Vorlesungsreihe Über den Werth der Gesundheit für eine Stadt von Max von Pettenkofer (1818–1901), Begründer der experimentellen Hygiene und ab 1865 Inhaber des ersten deutschen Lehrstuhls für Hygiene:259 Sittlichkeit und Moral sind nicht bloss ein ideales Gut, was etwa erst in einem zukünftigen Leben zur Geltung käme, sondern ein ebenso reales auch für diese Welt. Zügellose, unsittliche und unmoralische Menschen untergraben sehr häufig ihre Gesundheit nicht bloss zum eigenen Schaden, sondern auch zum Nachtheil ihrer Angehörigen und Nachkommen. Der puritanische Zug, welcher durch die englische Nation geht, hat sicher auch etwas zur Stärkung der Volksgesundheit beigetragen. Konnte doch auf dem letzten Congress für Social-Wissenschaft, welcher im vorigen Jahre zu Plymouth gehalten wurde, der Präsident der Abtheilung für öffentliche Gesundheit, Professor Dr. Acland in Oxford, in der Einleitung zu seiner Rede, die er über Gesundheit hielt, unbeanstandet aussprechen, „dass der persönliche Gesundheitscodex in zwei Worten zusammengefasst werden könne,
256 Labisch, „Hygiene“, S. 276. 257 Ebd., S. 274. Vgl. auch Labischs umfassendere Darstellung in seiner Monographie Homo Hygienicus (S. 111–123). 258 Ebd., S. 123. 259 Zur Biographie und Bedeutung Pettenkofers vgl. Wolfgang Eckart, Geschichte der Medizin, S. 210f.
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in den Worten Reinlichkeit und Gottesfurcht.“ (Cleanliness and Godliness.) Reinlichkeit und Sittlichkeit in allen Beziehungen soll auch unser Wahlspruch sein.260
Die Sittlichkeit der Bevölkerung, d. h. im Zuge von Industrialisierung und Verstädterung vor allem der verarmten Unterschichten, war nach wie vor ein zentrales gesellschaftspolitisches Anliegen. Verstand man nun die Mikwe als einen religiösen Brauch, „welcher Reinigkeit und Sittlichkeit fördert“, so nahm man auf der Rabbinerversammlung nicht nur Pettenkofers Formel fast 20 Jahre vorweg, sondern unterzog sich quasi freiwillig dem Prozess einer sozialen und moralischen ‚Verbesserung‘, den man christlicherseits gerne als Vorbedingung der Emanzipation sah. Somit beförderten die Beschlüsse der Versammlung nicht nur (über die behördliche Regelung des württembergischen Normalerlasses) eine formale Integration der realen Mikwe, sondern das dort publizierte Konzept von „Reinigkeit und Sittlichkeit“ bildete gleichzeitig das aussagekräftige Etikett auch für die ideologische Rehabilitierung der Mikwe. 2) Andererseits löste man die Mikwe bis zu einem gewissen Grad aus dem früheren, stark vom Wunschziel der Emanzipation geprägten Reformdiskurs, wie ihn Mombert und Birkenstein vertraten. Nicht allein die historische Legitimation der Mikwe als Teil der vernünftigen mosaischen Gesetzgebung stand an dieser Stelle zur Debatte, und damit das Judentum an sich, das sich unter dem Blick der christlichen Gesellschaft zu bewähren hatte; in stärkerem Maße als zuvor rückte nun, bedingt durch die Ausgangsfrage der Versammlung, die Durchführung des Rituals in den Vordergrund, und damit das Individuum. Besonders deutlich wird diese Tendenz in der Deutung des rituellen Bades durch Rabbiner Löwengard, der gerade die sinnliche Erfahrung in den Mittelpunkt stellt und damit eine grundlegende Individualisierung vollzieht. Aber auch hinsichtlich der zentralen Frage der Sittlichkeit verschob sich der Bezugsrahmen in ähnlicher Weise: Galt es im allgemeinen Reformdiskurs, die moralisch-sittliche Wirkung des Religionsgesetzes in Bezug auf das jüdische Kollektiv hervorzuheben, so war nun stattdessen das Individuum aufgefordert, sich in dem vollzogenen konkreten Ritual der eigenen moralischen Verantwortung bewusst zu werden. Und an dieser Stelle erwies sich wieder die eigene jüdische Tradition als prägend: Während Löwengards Modell der „physisch und moralisch erfrischend[en]“ Wirkung des Wassers christliche Erklärungen der Mikwe subsummierte und in der Universalität des Konzeptes sogar schon auf die Wende zum 21. Jahrhundert voraus verwies, konnte man mit der ebenfalls auf der Versammlung vorgenommenen symbolischen Deutung des Tauchbads gerade auch jüdische Traditionsstränge konsequent weiterentwickeln.
260 Pettenkofer, Werth der Gesundheit, S. 39. Labisch zitiert in seinen Darstellungen fast den gesamten Absatz („Hygiene“, S. 274f; Homo Hygienicus, S. 122).
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Bereits Maimonides hatte in seinem weithin anerkannten halachischen Hauptwerk Mischne Tora (‚Wiederholung der Lehre‘) den vorsichtigen Versuch unternommen, auch die Gesetze bezüglich der Mikwe rational zu erklären. Zwar, so schickt er voraus, gehörten sämtliche Reinheitsvorschriften zur Gruppe derjenigen Gebote, die dem menschlichen Verstand nicht zugänglich und deshalb allein aus Gehorsam gegenüber dem göttlichen Willen zu befolgen sind. Aber nichtsdestotrotz gebe es in der jüdischen Tradition einen Anhaltspunkt dafür, dass das Gebot des Untertauchens in der Mikwe eine moralische Begründung hat, nämlich das Kriterium der Intention bei der Erfüllung dieses Gebots: Nur mit der aufrichtigen Absicht, durch das Untertauchen rein zu werden, wird dies auch erreicht, ohne hingegen bleibt der Mensch unrein, da es eben nicht um äußere, durch Wasser abwaschbare, Unreinheit geht.261 Und in der gleichen Weise entspricht die gedankliche Abwendung von Sünde, so Maimonides, einem reinigenden Untertauchen der Seele im „Wasser der Vernunft“: So wie derjenige, der sein Herz darauf richtet rein zu werden, rein ist, nachdem er sich untergetaucht hat, obwohl an seinem Körper keine Erneuerung stattgefunden hat, ebenso ist derjenige, der sein Herz darauf richtet, seine Seele zu reinigen von seelischer Unreinheit, d. h. von sündigen Gedanken und bösen Absichten: Weil er in seinem Herzen übereinkam, sich von solchen Beschlüssen fernzuhalten, und seine Seele in die Wasser der Vernunft brachte, ist er rein. Es heißt: „Und ich werde reines Wasser auf euch sprengen, dass ihr rein werdet; von all euren Unreinheiten und von all euren Götzen werd’ ich euch reinigen.“ [Ez 36,25]262
Umgibt sich der menschliche Körper vollständig mit Wasser, so reinigt dieses Element den Körper (bei entsprechender Absicht) rituell; setzt sich andererseits die Seele (mit der ernsthaften Absicht einer Läuterung) uneingeschränkt, vorbehaltlos der Vernunft aus, so reinigt das ‚Element‘ der Vernunft die Seele. Beide hier von Maimonides beschriebenen Vorgänge entstammen dabei völlig unterschiedlichen Bereichen. Da rituelle Unreinheit, wie in Kapitel 2.1 dargestellt, ein auf den Tempelkult bezogener Status und nicht mit moralischen Verfehlungen oder Sünde gleichzusetzen ist, besteht zwischen beiden Prozessen zunächst keinerlei Verbindung; vergleichbar sind sie nur deswegen, weil beide Male das Wollen des Individuums für die tatsächliche Reinigung ausschlaggebend ist. Aus diesem Grund kann Maimonides die intellektuelle Abkehr von Sünde als Tauchbad in einer Mikwe, nämlich dem „Wasser der Vernunft“ beschreiben – und somit auch der realen Mikwe indirekt diese spirituelle, auf die menschliche Seele bezogene Dimension
261 Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 11,15 (11,12). 262 Ebd.; Übersetzung von Ez 36,25 nach: Die Tora, Übersetzung von Philippson, S. 1101.
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verleihen. Diese tritt nun neben ihre ursprüngliche ‚technische‘, d. h. den kultischen Rahmen betreffende Bedeutung, ohne sie jedoch völlig aufzuheben, ist doch rituelle Reinheit nach wie vor relevant, nämlich als Voraussetzung für die Wiederaufnahme ehelicher Beziehungen. Im Gewand der symbolischen Deutung des Tauchbads, wie sie auf der Rabbinerkonferenz begegnet, erhält dieser Traditionsstrang ein neues Gewicht, nicht zuletzt wegen der ebenfalls dort vollzogenen Betonung der persönlichen (sinnlichen und spirituellen) Erfahrung, die das Untertauchen bietet. In letzter Konsequenz folgt man mit der symbolischen Deutung der Mikwe einem Mechanismus, der auch anderweitig im Judentum nach der Tempelzerstörung wirksam ist, nämlich der Neuansiedelung von einst auf den Tempel bezogenen kultischen Handlungen in einer umfassenden Symbol-Kultur des Erinnerns; so repräsentieren beispielsweise die täglichen Gebete einschließlich ihrer Zeiten die dreimal am Tag vorgeschriebenen Opfer im Tempel, der häusliche Tisch den einstigen Altar. Im symbolischen Verständnis des Untertauchens in der Mikwe erhält dieses Ritual eine Bedeutung, die in gewisser Weise an die biblische anknüpft, diese jedoch an die moderne Gesellschaft anpasst, transformiert: In der biblischen Tradition drückte sich die Ausrichtung des Menschen auf Gott hin in den Regeln des Tempelkults mit seiner zentralen Unterscheidung von rein und unrein, heilig und profan aus. In der Moderne vollzieht das Individuum diese antike Unterscheidung im Ritual der Mikwe formell nach – versteht aber die äußere rituelle Reinigung als Symbol, das ihm die eigentliche Bestimmung seiner Seele vor Augen führt, nämlich die umfassende Rückbindung an ein höheres moralisches – göttliches – Prinzip. Der mit dem biblischen Gebot verbundene sittlich-moralische Impetus – Reinheit als äußerer Ausdruck von Heiligkeit und einer gerechten Gesellschaft –263 wird somit auf die moderne Situation ohne gemeinschaftlichen Tempeldienst und eigenes Staatswesen übertragen und dabei zugleich individualisiert. Zwar wird das traditionelle rabbinische Konzept der Mikwe, die Regelung der sexuellen Beziehung zwischen den Ehepartnern, nicht außer Kraft gesetzt, aber doch ergänzt, vielleicht sogar überlagert durch die stärker spirituelle Komponente der persönlichen Sorge um die Reinheit der von Gott verliehenen Seele. Der im Emanzipationsdiskurs der Zeit erhobene Anspruch, Judentum nicht weiter als starre Verfassung eines sich absondernden Kollektivs zu definieren, sondern stattdessen als lebendiger Ausdruck rein privater und staatsrechtlich nicht relevanter religiöser Überzeugungen anzusehen, findet sich somit auf exemplarische Weise in diesem neuen Verständnis der Mikwe verwirklicht.
263 Vgl. hierzu Kapitel 2.1.
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
6.2
Der innerjüdische Diskurs: Neue Wege zwischen Tradition und Moderne
Trotz ihrer Einbettung in den größeren jüdischen Reformdiskurs war die Frage der Mikwen nicht unbedingt ein Thema, das die damalige Öffentlichkeit nachhaltig beherrschte, auch nicht die jüdische, sofern man dies aus der uns überlieferten jüdisch-deutschen Presse beurteilen kann. Zwar heißt es dort sogar recht früh, bereits Anfang der 1830er Jahre, dass hierzu schon viel geschrieben worden sei,264 tatsächlich sind die Spuren jedoch selbst zwanzig Jahre später eher spärlich und recht verstreut. Nichtsdestotrotz vermitteln sie einen lebendigen Eindruck davon, wie man sich auf jüdischer Seite intensiv mit der Thematik auseinandersetzte, um einerseits den Ansprüchen von Halacha und Tradition, andererseits den Bedingungen einer bürgerlichen Lebenswelt Rechnung zu tragen, mussten doch unabhängig von einer rein abstrakten, ‚ideologischen‘ Neubestimmung der Mikwe auch ganz konkrete, praktische Herausforderungen gemeistert werden. Diese Gratwanderung zwischen zwei Welten – der von der Halacha geprägten traditionellen und der modernen – soll im folgenden schlaglichtartig beleuchtet werden, indem zwei verschiedene Diskursstränge betrachtet werden, die nicht zufällig ihren Ausgangspunkt in der Praxis haben: zum einen die Rabbinerversammlung von 1845 mit der zentralen Abstimmungsfrage über die Zulässigkeit von geschöpftem Wasser, zum anderen weitere öffentlich diskutierte methodische Neuerungen, durch welche die traditionellen Mikwen eine ungewohnte Gestalt erhalten sollten. In diesem Zusammenhang wird das von dem westfälischen Reform-Rabbiner Hirsch Cohen aus Geseke entworfene Modell einer auch in Privathäusern nutzbaren ‚Fassmikwe‘ den größten Raum einnehmen. In seiner Radikalität vermutlich einzigartig, zeugt es doch auf besondere Weise von dem ebenfalls an anderen Stellen spürbaren Willen, die eigene Tradition auch angesichts des doppelten Drucks, von innen wie von außen, nicht aufzuopfern, sondern auf innovative Weise mit einer modernen Lebenswirklichkeit in Einklang zu bringen. In welchem Umfang in diesem Prozess der praktischen Erneuerung bis dahin gültige halachische Prinzipien des Mikwenbaus grundlegend in Frage gestellt wurden, kann dabei im Rahmen dieses Kapitels nur angedeutet werden und ist auch nicht primäres Ziel der Analyse. Von Interesse ist vielmehr die Frage, in welcher Weise und mit welcher Begründung man sich hierbei von der Tradition absetzte und so gegenüber der Neo-Orthodoxie, die sich verstärkt ab den 1840er Jahren formierte, eigene Wege beschritt.
264 Heß, „Verbesserung der Kellerquellbäder-Einrichtung“, S. 302.
Zwischen Gesundheit und Gebot: Der ideologische Wandel der Mikwe
6.2.1
Vom ‚geschöpften Wasser‘ zum Wannenbad: Die Rabbinerversammlung von 1845
Die zweite Rabbinerversammlung von Frankfurt am Main fand zwischen dem 15. und 28. Juli 1845 unter dem Vorsitz von Rabbiner Leopold Stein statt. Anwesend waren 32 reformorientierte, zumeist jüngere und akademisch gebildete Rabbiner, die es sich zum Ziel gemacht hatten, ein einheitliches Programm für eine Reform des Judentums zu entwerfen.265 Hierdurch sollte, nach dem Anspruch von Rabbiner Stein, das von vielen vernachlässigte „religiöse Leben in den Gemüthern wieder aufgeweckt und die Religion mit ihren geläuterten Formen siegreichen Einzug halten in die Herzen ihrer Söhne und Töchter.“266 Trotz der recht überschaubaren Zahl an Gesamtteilnehmern (insgesamt 42 Rabbiner waren bei wenigstens einer der drei Versammlungen zugegen), hatten die von 1844 bis 1846 jährlich stattfindenden Treffen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die weitere Entwicklung eines liberalen Judentums im Gebiet des Deutschen Bundes. Vor dem Hintergrund der Entscheidungen des Gremiums wurde es möglich, in den Gemeinden wesentlich weitreichendere bzw. radikalere Reformen durchzusetzen, als bisher der Fall gewesen war.267 So bejahte man unter anderem die umstrittene Frage der Orgel in Synagogen und veränderte die Gestalt des Gottesdienstes zudem durch die drastische Einschränkung des Hebräischen; man griff in den religiösen Kalender ein, indem man den in der Diaspora üblichen zweiten Feiertag bei bestimmten Festen abschaffte, und widmete sich 1846 in einem Ausschussbericht selbst der religiösen Gleichstellung der Frau; dieser Punkt kam jedoch auf dieser vorerst letzten Versammlung aus Zeitmangel nicht mehr zur Abstimmung.268 Der Grund für die Aufnahme der Mikwenproblematik in die Agenda der Versammlung war eine Anfrage aus Bingen, welche die Situation vieler Gemeinden nochmals in aller Deutlichkeit vor Augen führte: Schon vor etlichen und dreißig Jahren wurde hier ein wärmefähiges Bad gebaut. […] Die große Masse von Wasser war nicht zu wärmen, dazu kam noch, daß man des Sommers bei Mangel an Regen zwei Monate altes, oft gebrauchtes Wasser benutzen mußte. Die damaligen Frauen, welche sich des frühern weit schlechtern Zustandes erinnern konnten, waren befriedigt, aber die spätere Generation entzog sich allmählich dem Besuche dieses
265 Vgl. Michael Meyer, „Jüdisches Selbstverständnis“, S. 171. Die Teilnehmerzahl entnehme ich der Übersichtstabelle im Appendix zu Lowensteins Aufsatz „The 1840s“ (S. 276–279). 266 O.V., „Die zweite Rabbinerversammlung. Résumé“, S. 514. 267 Vgl. die Darstellung von Lowenstein, „The 1840s“, S. 264. 268 Michael Meyer, „Jüdisches Selbstverständnis“, S. 174f.
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Bades, und so kann versichert werden, daß 3 /4 der hiesigen badepflichtigen Frauen sich von dieser Obliegenheit ganz losgesagt haben.269
Der Hauptzweck des Gebotes sei aber, so der unterzeichnende Gemeindevorstand, „d i e R e in ig u ng“, was „in einer Pfütze oder in ganz abgestandenem, voll Würmer kriechendem Regenwasser“270 nicht erreicht werden könne. In scharfem Kontrast hierzu steht die Schilderung des örtlichen Flussbades: Die hiesige Stadt hat nun in der neuesten Zeit ein prachtvolles, mit aller Eleganz und Bequemlichkeit versehenes Badehaus an dem Ufer des Rheines bauen lassen. Vermittelst einer Pumpe wird das Wasser aus dem Rhein in den Behälter und in den Kessel gebracht. Aus beiden sind Schläuche nach den Badestuben geleitet und neben jeder Badewanne befinden sich zwei Krahnen, aus welchen man kaltes und warmes Wasser nach Belieben einlassen kann. Es soll sogar jetzt die Einrichtung getroffen werden, daß das Wasser, statt mit einer Pumpe, durch mechanische Vorrichtungen mit zwei Rädern mit kastenartigen Schaufeln direct aus dem Rhein in den Behälter und Kessel geleitet werde.271
Könnte der Besuch dieser öffentlichen Badeanstalt, so die Frage des Vorstands, nicht die traditionelle Mikwe ersetzen? Es hat den Anschein, dass man bereits mit den Betreibern Kontakt aufgenommen hatte und diese sogar bereit waren, in einem gewissen Rahmen auf jüdische Sonderwünsche einzugehen, handelt es sich doch bei den Schaufelrädern um eine Konstruktion, die an die Beschreibung von Moses Isserles in seinem Kommentar zum Schulchan Aruch erinnert: Daher ist es erlaubt, Mikwen durch [spezielle] Röhren oder Rinnen aus Holz herzustellen, welche das Wasser vom Fluss oder anderen Quellen zu der Mikwe transportieren […]. Und wenn das Wasser durch Gefäße in die Röhre gelangt, die an einem Rad befestigt und in der Weise durchlöchert sind, dass sie nicht als ein Gefäß gelten, darf man in ihnen [den Mikwen] untertauchen, sofern die Mikwe 40 se’a enthält […]. Enthält sie aber keine 40 se’a, darf man dort nicht untertauchen, da sie hierdurch nicht als mit dem Fluss verbunden gilt […].272
Die geplante technische Abänderung wäre in jedem Fall ein Zugeständnis an die Vorschriften für die Anlage traditioneller Mikwen, würde aber selbstverständlich
269 „Zuschrift aus Bingen, einige religiöse Anfragen enthaltend“, in: Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 218–223, hier S. 220. 270 Ebd., S. 221 (Hervorhebung im Original). 271 Ebd., S. 220. 272 SchA, Jore de‘a 201,36.
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bei Weitem nicht ausreichen, um das Stadtbad in eine koschere Mikwe zu verwandeln. Und entsprechend argumentieren die Unterzeichner auch in eine gänzlich andere Richtung, nämlich mit dem Gebot der Zeit:273 Sollte man nicht eine weniger bedeutende, lediglich „rabbinisch“ angeordnete Erschwerung, nämlich das Verbot von geschöpftem Wasser, aufheben, damit wieder mehr Frauen das Untertauchen praktizieren? Auf diese Weise würde man die Ehepartner vor der schweren Sünde des Beischlafs mit einer nidda bewahren, eine Übertretung, die nach dem Pentateuch (Lev 20,18) mit ‚Ausrottung‘ (karet) zu sühnen ist. Ein solches Vorgehen wäre in Einklang mit dem aus Psalm 119,126 abgeleiteten Grundsatz, „in einer Zeit, wo es sich um’s Bestehen der Religion handelt, mag man ein Gesetz aufheben“. Begründungen für die Erlaubnis von geschöpftem Wasser
Tatsächlich ist dieser schon in der Zuschrift vorgegebene Kurs auch der, den viele der teilnehmenden Rabbiner vertraten. Von den bei der Abstimmung Anwesenden sprachen sich insgesamt 17 Rabbiner für die Erlaubnis von geschöpftem Wasser zur Herstellung von Mikwen aus, darunter auch der Präsident Leopold Stein, während drei sich noch nicht festlegen wollten, und einer diese Erleichterung als realitätsfern verwarf:274 Nur die wenigen Frauen, die aus Rücksicht auf familiäre Zwänge noch die Mikwe besuchten, würden von einer solchen Entscheidung profitieren, die Mehrheit hingegen fühle sich entweder keiner Regelung oder aber der halachischen Norm verpflichtet.275 Zwar erforderte die Abstimmung lediglich ein Votum, jedoch verbanden die meisten dies mit einer kurzen Stellungnahme, so dass das Sitzungsprotokoll zugleich ein Stimmungsbild davon zeichnet, was den Rabbinern persönlich besonders wichtig war und sie zu ihrer Entscheidung motivierte. Nicht weiter verwunderlich ist es, dass angesichts der Prominenz der Mikwe im medizinischen Diskurs auch in diesem Gremium Hygiene und Gesundheitsrücksichten ein herausragendes Argument für die Erlaubnis von geschöpftem Wasser darstellten: Das Bad solle der Reinigung dienen bzw. dürfe die Gesundheit nicht gefährden, was nur oder besser mithilfe von geschöpftem Wasser möglich sei. In gleichem Maß wichtig ist jedoch das auch in der Adresse aus Bingen herausstechende ‚Praxisargument‘: Viele Frauen blieben den Einrichtungen fern, und nur durch eine geeignete Anpassung der Tradition ließe sich das Gebot der Mikwe – eine „höchst wünschenswerthe Sitte“, welche die bürgerlichen „Tugenden der Enthaltsamkeit, Keuschheit und Reinheit in hohem Grade befördert“276 – in Zukunft noch aufrecht erhalten.
273 Die hier folgenden Zitate entstammen der Zuschrift aus Bingen (Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 221). 274 Vgl. hierzu und im Folgenden Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 180–189. 275 Ebd., S. 182. 276 „Ausschußbericht über den ersten Antrag“, in: Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 359–371, hier S. 365.
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Eng verbunden mit dieser Begründung ist zugleich die Ansicht, dass Reformen sich am religiösen Bewusstsein des Volkes zu orientieren hätten; in beiden Fällen sind die jüdischen Frauen – ihr Verhalten oder ihre Einstellung – der Hauptmotor für Veränderungen. Betrachtet man die beiden Kategorien ‚Praxis‘ und ‚Volksbewusstsein‘ auf dieser Grundlage als eine, so hat der rein innerjüdische Nexus deutlich Vorrang gegenüber dem auch der Umwelt geschuldeten Argument der Hygiene. Einen systematischen Überblick über die einzelnen Argumente drei Enthaltungen, mit denen die Zustimmung zur Abstimmungsfrage begründet wurde, enthält die folgende Tabelle:277
277 Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 182–189.
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Begründung der Zustimmung zur Erlaubnis von geschöp tem Wasser: Gesamtstimmen pro: 17278 (bei drei Enthaltungen und einer Gegenstimme) Argument Hygiene & Gesundheitsrücksichten
Stimmen 7 [9]
Praxis
7 [9]
Volksbewusstsein, religiöses Gefühl
5
Symbol & Tempelkult
4 [5?]
Primat der Bibel
[+ 1] 5
Sittlichkeit & Anstand
3
Kosten
1 [+1]
Namen279 Salomon, Wechsler, Heß, Güldenstein, Einhorn, Sobernheim*) , Löwengard
Erläuterung Ziel des Bades ist Reinigung. Die traditionellen Mikwen werden diesem Anspruch nicht gerecht. [nachträglich: Kahn & UND/ODER: Süskind] Sie gefährden die Gesundheit der Nutzerinnen. Salomon, Heß, Güldenstein, Viele Frauen lehnen die Hoffmann, Einhorn, gegenwärtige Praxis der Sobernheim*) , Stein (S. 184) Mikwe ab bzw. die Einhaltung des Gebots ist für [nachträglich: Kahn & die Mehrheit zu schwer. Eine Süskind] Erleichterung würde das religiöse Leben fördern. Holdheim*) , Salomon*) , Das religiöse Bewusstsein Geiger, Hirsch, des Volkes ist Maßstab für Adler praktische Reformen (vgl. Geiger, S. 183). Holdheim, Geiger, Hoffmann, Die vollzogene Reinigung ist Adler ein Symbol UND/ODER steht [Salomon, S. 183?]*) in Zusammenhang mit dem Tempelkult. [+Treuenfels=Enthaltung] Holdheim, Salomon, Geiger, Die gegenwärtige Praxis ist Wechsler, Stein (S. 184) vom Standpunkt der Bibel überhaupt nicht gefordert bzw. das Verbot von geschöpftem Wasser ist nur rabbinisch. Güldenstein, Löwengard, Sittlichkeit und Anstand Stein werden durch die gegenwärtige Praxis verletzt. Güldenstein Die Kosten einer traditionellen Mikwe sind für [+Treuenfels=Enthaltung] sehr kleine Gemeinden nicht tragbar.
*) keine eigene Argumentation in diesem Sinn, aber ausdrückliche Zustimmung zu einem anderen Redner
278 Die Angabe erfolgt aufgrund der einzelnen Redebeiträge, das im Protokoll veröffentlichte Resultat zählt hingegen 16 Ja-Stimmen (bei gleicher Zahl an Enthaltungen und Nein-Stimmen). Die abwesenden Rabbiner Kahn und Süskind stimmen der Frage nachträglich und nur eingeschränkt zu, weshalb ihre Stimmen in dem Gesamtergebnis nicht berücksichtigt werden (in der Tabelle deshalb in eckigen Klammern); siehe Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 188f. 279 Die Namen sind jeweils in der Reihenfolge der Sprecher aufgeführt, es sind dies: Gotthold Salomon, Bernhard Wechsler, Mendel Heß, Michael Güldenstein, David Einhorn, Isaak Sobernheim, Maier Hirsch Löwengard, Joseph Kahn, Samuel Süskind, Joseph Hoffmann, Leopold Stein, Samuel Holdheim, Abraham Geiger, Samuel Hirsch, Abraham Jakob Adler, Abraham Treuenfels. Die wichtigsten biografischen Daten zu den einzelnen Rabbinern, wie unter anderem Herkunftsstaat
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Fünf (eventuell auch sechs)280 der anwesenden Rabbiner verstehen das Untertauchen in der Mikwe dabei entweder als eine symbolische Handlung oder zumindest als ein Ritual, das seine Bedeutung aus dem System des antiken Tempeldienstes bezieht. Letzteres lässt sich dabei als eine Sonderform des Symbols werten, da man auch in diesem Fall, wie beim Symbol, die Bedeutung der Handlung nicht aus dieser selbst, sondern aus einem fremden Bezugssystem schöpft. Die aus beiden symbolischen Spielarten abgeleiteten Konsequenzen für die moderne Mikwe sind jedoch sehr unterschiedlicher Art; es lassen sich drei grundlegende Modelle unterscheiden: 1) Das System als solches ist nicht mehr in Kraft, die Ausführung der Handlung somit beliebig. Nach Samuel Holdheim ist das Untertauchen in der Mikwe eine symbolische Reinigung und Teil des „System[s] der theokratisch-symbolischen Reinigkeitsgesetze“, die allesamt für die Gegenwart keinen Anspruch auf Gültigkeit mehr erheben können. Ist aber der ursprüngliche Bezugsrahmen nicht mehr wirksam, so die implizite Folgerung, kann im Fall der Mikwe ebenso gut geschöpftes Wasser verwendet werden. In ähnlicher Weise hebt Joseph Hoffmann die Verbindung der Reinigungsgesetze mit dem Tempelkult hervor, ohne jedoch deren Symbolcharakter anzusprechen. Das Untertauchen der nidda habe demnach keine Bedeutung mehr und müsste folgerichtig sogar ganz aufgegeben werden, wie es im Fall von nächtlicher Pollution beim Mann schon geschehen ist. 2) Eine symbolische Reinigung benötigt reines Wasser. Nach Abraham Geiger ist dieses Symbol soweit „herabgesunken“281 , dass es seine ursprüngliche Aussage verloren hat und folglich geändert werden muss; dies ist nur durch geschöpftes Wasser zu erreichen. Gemäß Abraham Jakob Adler soll „durch die äußere Reinigung auch die innere, sittliche symbolisch dargestellt“282 werden, ein Bad im unreinen Wasser würde aber zum entgegengesetzten Schluss verleiten. 3) Eine symbolische Reinigung benötigt gerade kein reines Wasser. Geigers Argumentation wird bei Abraham Treuenfels, der sich der Abstimmung enthält, genau in ihr Gegenteil verkehrt: Weil das Untertauchen in der Mikwe keine Reinigung bezwecken, sondern nur Symbol sein soll, muss das Wasser nicht unbedingt sauber sein. Hinsichtlich der Rangfolge innerhalb der Begründungen ist das symbolische Verständnis der Mikwe zwar dem Argument der Hygiene deutlich nachgeordnet, es stellt aber nichtsdestotrotz ein wichtiges Korrektiv hierzu dar: Wie bereits im vorausgehenden Kapitel beschrieben, ermöglicht das Verständnis des Tauchbads als ein
und Gemeinde, enthält die bei Lowenstein veröffentlichte Übersichtstabelle der Teilnehmer (Lowenstein, „The 1840s“, S. 276–279). Im Fall von Rabbiner Adler richte ich mich nach dem Eintrag zu „Adler, Abraham Jakob, Dr.“, in: BHR 1,1, S. 123. 280 Im Fall von Rabbiner Salomon ist es nicht eindeutig, ob er sich bei seiner Zustimmung zu Geiger auch auf diesen Punkt bezieht. 281 Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 183. 282 Ebd., S. 188.
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Symbol eine neue spirituelle Interpretation der Mikwe, die ihrer profanen Deutung, wie sie von der christlichen Umwelt ermutigt bzw. gefördert wurde, gerade entgegenwirkt und somit verhindert, dass in einem liberalen Verständnis von Judentum die Grenzen zwischen Mikwe und ‚normalem‘ Bad völlig verwischt werden. Die Frage nach dem Ursprung des Verbots von geschöpftem Wasser
Der halachische Aspekt der Frage über die Zulässigkeit von geschöpftem Wasser erscheint im Kontext der Abstimmung auf zwei zentrale Argumente verdichtet: Zum einen sei die gegenwärtige Praxis der Mikwen rein biblisch (‚mosaisch‘) überhaupt nicht gefordert, zum anderen sei auch das Verbot von geschöpftem Wasser lediglich ‚rabbinisch‘ und damit nicht in gleicher Weise verbindlich wie die mosaische Gesetzgebung. Beide Punkte, die immerhin fünf Rabbiner zusammen mit ihrem Votum explizit anführten, waren bereits im Vorfeld in einem Ausschussbericht erörtert worden, der zu Beginn der Abstimmung vom Präsidenten verlesen wurde.283 Das zweite Argument, wonach das Verbot von geschöpftem Wasser lediglich rabbinisch sei, bildet hierin den Kern der Argumentation, und mit diesem Teil des Berichts verband man auf Vorschlag Holdheims hin auch ausdrücklich die Abstimmungsfrage, die folgendermaßen formuliert wurde: Ist geschöpftes Wasser „überhaupt zum Reinigungsbade der Frauen gesetzlich ausreichend?“284 Allein durch die Zustimmung zu der Frage signalisierte man somit schon sein prinzipielles Einverständnis mit der Argumentation des Ausschussberichts. Im Ausschuss selbst hatte man hingegen noch die allgemeiner gefasste Anfrage aus Bingen untersucht, ob „Flußbäder, worin das Wasser durch Pumpen und Schläuche in Badewannen geleitet wird, zum religiös gesetzlichen Baden der Frauen erlaubt werden können“; dies hatte man in dem Bericht nach drei Gesichtspunkten (Bibel, Tradition, rabbinische Gesetzgebung) gegliedert beantwortet:285 1) Rein biblisch ist ein Tauchbad nach Beenden der Menstruation überhaupt nicht gefordert. Folglich ist es schon aus diesem Grund erlaubt, das rituelle Bad in einem Badehaus zu nehmen. 2) Lediglich die jüdische Tradition sieht ein solches Tauchbad vor. Aber die Beschaffenheit dieser Tauchbäder ist ebenfalls nicht in der Bibel beschrieben; selbst wenn man hierfür nach Lev 11,36 nur ‚Quellen‘ oder ‚Gruben‘ zulässt, beinhaltet das noch kein Verbot von geschöpftem Wasser. Nach Ansicht von verschiedenen „gewichtige[n] Autoritäten“ handelt es sich hierbei vielmehr um ein rein rabbinisches Verbot.286 Ebenso ist das Verbot des Badens in Gefäßen als rein rabbinisch 283 Er lag jedoch nicht in gedruckter Form zur Einsicht vor, was von manchen Teilnehmern scharf kritisiert wurde (vgl. Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 181, 186). 284 Ebd., S. 181. 285 Vgl. „Ausschußbericht über den ersten Antrag“, in: Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 359–371. 286 Ebd., S. 364; vgl. zu dieser Problematik auch Jachter, „Mikvaot Part 3“, unpag., und Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 3, S. 91f.
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zu betrachten, da stichhaltige Gegenbeweise fehlen.287 Es ist also letztlich nichts anderes gefordert, „als daß das Bad in einem gehörig großen Wasserbehälter genommen werde, worin man den ganzen Körper auf einmal untertauchen könne“.288 Geschöpftes Wasser ist somit „unter jeder Bedingniß zum Frauenbade [zu] gestatten“;289 zudem ist schmutziges Wasser sicher nicht im Sinn der Tora, es entweiht Leib und Seele.290 3) Selbst rabbinisch steht dem Baden in einer Flussbadeanstalt nichts im Weg, wenn man sich auf die „Ansicht mehrerer Rabbinen“291 stützt, wonach auch durch geschöpftes Wasser ein koscheres Tauchbad hergestellt werden kann, sofern es über bestimmte Rinnen in das Becken „geleitet“ wird, man also die Methode der hamschacha anwendet. Der Bericht bezieht sich hier in erster Linie auf eine Stelle in Maimonides’ Mischne Tora (4,9) und zitiert: „Einige Gelehrten [sic] des Westens haben den Ausspruch gethan, da nach den Weisen des Talmuds ein Tauchbad, ganz aus geleitetem (nicht getragenem) Schöpfwasser bestehend, brauchbar ist […], so ist es nicht nöthig, daß zuerst das meiste Wasser in einem solchen Bade aus gesammeltem Regenwasser müsse bestanden haben. Wenn man demnach das Wasser in einem Geräthe schöpft, es hingießt, so daß es rinnend nach einem anderen Orte kommt, so ist dieß ein gesetzliches Tauchbad; ebenso sind alle Badewannen in unseren Badeanstalten zu Tauchbädern brauchbar, da alles Wasser in ihnen geschöpft und geleitet ist.“292
Zwar spricht sich Maimonides selbst gegen die genannte Methode aus, die man seines Wissens auch gar nicht praktiziere, doch wird diese Lehrmeinung nicht nur von einigen unbekannten „Gelehrten den Westens“ vertreten, sondern nach Ansicht der Kommission auch von namentlich bekannten Autoritäten, wie beispielsweise Raschi. Wenngleich die Versammlung nicht prinzipiell mit der auf dem Talmud aufbauenden rabbinischen Gesetzgebung brechen will,293 so stellt man in dem Bericht doch fundamentale rabbinische Prinzipien der Schriftauslegung in Frage und beruft sich stattdessen auf eine wörtliche Auslegung der Bibel bzw. einzelne rabbinische
287 288 289 290 291 292 293
„Ausschußbericht über den ersten Antrag“, in: Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 366. Ebd., S. 365. Ebd., S. 368. Ebd., S. 367. Ebd., S. 369. Ebd. Vgl. Steins Ausspruch nach dem Bericht in Der Orient, „Frankfurt a.M., 21. Juli (Schluß der Verhandlungen der RV.)“ (S. 319), sowie Protokolle Rabbiner-Versammlung (S. 184–186; Standpunkte von Herxheimer, Treuenfels und Einhorn).
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Autoritäten, die eine spezifische Sichtweise stützen. Diese Inkonsequenz kritisieren im Rahmen der Versammlung die beiden Rabbiner Salomon Herxheimer und Abraham Treuenfels, die sich der Abstimmung enthalten.294 Insbesondere sei der Ansicht, dass geschöpftes Wasser nur rabbinisch verboten ist, das seit der Neuzeit verbindliche Kompendium des Schulchan Aruch entgegenzuhalten, wo Moses Isserles dies stattdessen als unverrückbares mosaisches Verbot wertet.295 Zudem, und dies ist der zweite kritische Punkt innerhalb der vom Ausschussbericht vorgenommenen Hinterfragung der Tradition, besteht hinsichtlich der Flussbäder noch ein weiteres Problem: Sofern es sich dabei nicht um einfache „Kastenbäder“296 im Strom handelt, sondern um regelrechte Badewannen, gelten diese als Gefäße und sind somit für rituelle Tauchbäder untauglich. Auch dies wird von Treuenfels beanstandet, während andererseits David Einhorn297 , an ihn anschließend Isaak Sobernheim, und Samuel Hirsch der Verwendung von geschöpftem Wasser zwar zustimmen, hinsichtlich des Badbehälters aber Nachbesserung fordern: Wie traditionell üblich solle „das Badegefäß […] eine kleine Oeffnung haben und am Boden befestigt sein“, wodurch es nicht mehr als Gefäß betrachtet werde.298 Auch diese Lösung kann selbstverständlich einen orthodoxen Betrachter nicht befriedigen, da das Tauchbecken gemäß der Tradition noch ein weiteres wesentliches Kriterium zu erfüllen hat: Nicht nur muss die Größe ein vollständiges Untertauchen des Körpers auf einmal ermöglichen, sondern dies soll auch stehend geschehen, wodurch eine Badewanne in keinem Fall geeignet ist. Die orthodoxe Gegenposition hinsichtlich der Nutzung von Badehäusern anstelle traditioneller Mikwen bringt Rabbiner Joachim Pollak, einer der Hauptvertreter der Neo-
294 Ihrer Ansicht schließt sich nachträglich noch Rabbiner Gosen an, der zunächst aus anderen Gründen gegen die Zulassung stimmt (Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 189). 295 Isserles spricht dann von einem mosaischen Verbot, wenn sämtliches Wasser der Mikwe geschöpftes Wasser ist; ist die größere Menge hingegen koscher und nur der kleinere Teil geschöpft, so ist das Verbot rabbinisch (SchA, Jore de‘a 201,3). 296 Vgl. hierzu auch „Ausschußbericht über den ersten Antrag“, in: Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 369. Ein solches Kastenbad hatte beispielsweise der Betreiber des lokalen Badehauses in Stettin 1840 speziell für die jüdischen Nutzerinnen „höchst zweckmäßig und elegant“ eingerichtet; für die Beschreibung der Anlage gemäß einem Artikel in Allgemeine Zeitung des Judenthums siehe oben Kapitel 5.1.2 (Abschnitt „Nöthige Erinnerung an die Bäder und ihre Wiedereinführung in Teutschland“ – Impulse aus der Badekultur). 297 Rabbiner David Einhorn (1809–1879), der aufgrund seiner religiös liberalen Ansichten mehrfach mit Autoritäten in Konflikt geriet, emigrierte nur ein Jahrzehnt später in die USA, wo er zunächst ab 1855 der Har Sinai-Gemeinde von Baltimore vorstand. Innerhalb des amerikanischen Reformjudentums konnte er sich schnell zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten entwickeln (vgl. Temkin, „Einhorn, David“, S. 258). 298 Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 186. Diese vorgeschriebene ‚Alibi-Öffnung‘ darf anschließend wieder auf bestimmte Weise abgedichtet werden, vgl. SchA, Jore de‘a 201,7.
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Orthodoxie in seiner Heimat Mähren,299 in der neu gegründeten Zeitschrift Der treue Zionswächter. Organ zur Wahrung der Interessen des orthodoxen Judenthums auf den Punkt: Sowohl die Verwendung von geschöpftem Wasser als auch das Untertauchen in Gefäßen sind mosaisch, nicht nur rabbinisch verboten; ersteres wird von „viele[n] gewichtige[n] Autoritäten“, letzeres gar „von allen gesetzlichen Autoritäten“ bezeugt. Badewannen sind deshalb nicht zulässig, weil sie als Gefäße gelten und weil ein Untertauchen im Stehen nicht möglich ist.300 In den Augen der sich formierenden Neo-Orthodoxie, die nun auch mithilfe ihrer Zeitschrift das eigene Territorium absteckte, verließ die Rabbinerversammlung mit ihrer Entscheidung eindeutig den Boden des normativen Judentums, und hiervon distanzierte man sich in der Öffentlichkeit selbstverständlich nicht ohne Polemik. Die „sogenannte Rabbiner-Versammlung“ würde leichtfertig und „ohne die geringste Skrupel zu empfinden, mit den heiligsten Geboten, wie mit den etwaigen Gemeinde-Statuten irgend einer Dorfgemeinde umgehen, um sie nach Willkühr und eigenem Belieben zu modificieren oder gar abzuschaffen.“301 Die Tatsache, dass man sich für die Erlaubnis von öffentlichen Badeanstalten gleich über mehr als ein Verbot hinwegsetzte, das von orthodoxer Seite als zweifelsfrei mosaisch und damit als unumstößlich galt, musste aus orthodoxer Sicht zwangsläufig als ein Verrat am Judentum erscheinen. Was sich tatsächlich in dem Ausschussbericht und der Entscheidung des Gremiums herausbildete, war eine liberale Strömung, die sich der eigenen Tradition zwar bewusst war, welche aber die traditionelle Gewichtung einzelner rabbinischer Auslegungen nicht ohne Hinterfragen hinnahm. Im Interesse eines Fortbestehens des Judentums suchte man dort religionsgesetzliche Erleichterungen einzuführen, wo man lediglich geschichtlich bedingte (rabbinische) Erschwerungen annahm.302 Zwar bietet das Religionsgesetz, die Halacha, stets Nischen und Spielräume für unterschiedliche Interpretationen und ist somit keineswegs völlig starr; nichtsdestotrotz brach man mit dem Ausschussbericht und der darauf gründenden Abstimmung mehr oder weniger gewaltsam eine Tür auf, welche die Tradition mit einem doppelten schweren Riegel versehen hatte.303 Abgesehen von weiteren halachischen 299 Rabbiner Joachim (Chaim Josef) Polla(c)k (1798–1879) studierte unter anderem an der Jeschiwa des bekannten Moses Sofer in Preßburg. Ab 1828 war er Rabbiner in seiner mährischen Heimatstadt Trebitsch (vgl. „Pollak, Joachim“, in: BHR 1,2, S. 717f). 300 Pollak, „Die Rabb.-Vers. (Beschluß)“, S. 184. Pollaks Beitrag „Die Rabbiner-Versammlung und die Frauenbäder“ erstreckt sich über vier Ausgaben der Zeitschrift, Nr. 20–23 von 1845. 301 Pollak, „Die Rabbiner-Versammlung“, S. 160; ders., „Die Rabb.-Vers. (Fortsetzung)“, S. 176. 302 So lehnt Stein beispielsweise auch eine Aufhebung der Speisegebote vehement ab, da es sich hierbei um ein „mosaisches“ Gesetz handele, vgl. hierzu die Mitteilung in Der Orient von 1845: o.V., „Frankfurt a.M., 6. Juni“, S. 193f. 303 Zur Wandlungsfähigkeit der Halacha speziell zwischen den Fronten von Traditionalisten und Reformern siehe auch Jacob Katz, „Die Halacha“, S. 309–324.
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Problemen wie dem Umstand, dass das Tauchbad aus orthodoxer Sicht im Stehen stattfinden muss, verhindern in erster Linie die beiden Verbote von geschöpftem Wasser und des Untertauchens in Gefäßen eine Nutzung von öffentlichen Badeanstalten wie der besagten. Letzteres aber wurde in seiner traditionellen Bedeutung von der Rabbinerversammlung wenn auch nicht völlig verkannt, so doch von der Mehrheit deutlich unterschätzt, indem man sich in der öffentlichen Abstimmung einzig und allein auf die Frage des geschöpften Wassers bezog. Tatsächlich stellen sich die Verhältnisse nach der von Pollak vertretenen orthodoxen Sicht gerade andersherum dar: Bezüglich des Wassers ließen sich noch leichter Zugeständnisse machen als in der Frage der Verwendung von Gefäßen, was sämtliche gesetzlichen Autoritäten einhellig ablehnten.304 Pollak unterstreicht die traditionelle Rangordnung der beiden Verbote nicht zuletzt durch einen mittelalterlichen Kommentar, wonach ursprünglich (mosaisch) nur das Untertauchen in Gefäßen untersagt war, während das zweite Verbot lediglich zu dem Zweck eingeführt wurde, um eine unbeabsichtigte Übertretung zu verhindern.305 Die fast vollständige Ausblendung dieses somit sogar vorrangigen Problems während der öffentlichen Versammlung, abgesehen von den geäußerten Einwänden der genannten vier Rabbiner, ist jedoch folgenschwer. Hierdurch setzte sich in der Öffentlichkeit umso leichter die Ansicht durch, dass das rituelle Bad letztlich „in jeder großen Badewanne genommen werden dürfe“, wie die einflussreiche Allgemeine Zeitung des Judenthums in ihrer Berichterstattung schreibt. Der Artikel schließt: „Die Rabbinen selbst gestatten Kastenbäder im Strome, ja sogar mehre [sic] auch Wannenbäder, die mit dem Flußwasser durch Rinnen in Verbindung stehen, so daß der Erlaubniß gewichtige Autoritäten zur Seite stehen.“306 Die Ausgangsfrage der Badehäuser wurde zwar nicht im zugrundeliegenden Ausschussbericht, wohl aber in der öffentlichen Abstimmung der Rabbinerversammlung formal auf die Erlaubnis von geschöpftem Wasser reduziert – und diese perspektivische Verkürzung erlag dann in der Außenwahrnehmung einer weiteren ‚optischen Täuschung‘, nämlich der Gleichsetzung der Erlaubnis von geschöpftem Wasser mit der Nutzung von gewöhnlichen „Badewannen“. Hiervon wird nun abschließend die Rede sein.
304 Pollak, „Die Rabb.-Vers. (Beschluß)“, S. 184. So ist beispielsweise nach Maimonides das Verbot von geschöpftem Wasser nicht mosaisch, vgl. Mose ben Maimon, Sefer mischne tora, Hilchot mikwot 4,1–3 (4,1f). 305 Pollak, „Die Rabb.-Vers. (Beschluß)“, S. 184. Es handelt sich um eine Auslegung des bekannten Tosafisten Isaak ben Samuel of Dampierre, bekannt als Ri (gestorben ca. 1185); vgl. Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 3, S. 91. 306 O.V., „Die zweite Rabbinerversammlung. (Schluß)“, S. 494.
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Die Gleichsetzung von geschöpftem Wasser mit der Nutzung von Badewannen
Wie anhand des zitierten Zeitungsberichts deutlich wird, spielt in diesem abschließenden Transformationsprozess die im Ausschussbericht kommentierte Stelle bei Maimonides eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sie dient als gewichtige weitere Legitimation der Beschlüsse der Rabbinerversammlung – und verdeckt dabei die Tatsache, dass Maimonides selbst bzw. diejenigen Gelehrten, welche die beschriebene Methode einer ausschließlich durch hamschacha erzeugten Mikwe erlaubten, definitiv keine moderne Badewanne im Auge hatten. Zwar mag die Bedeutung des bei Maimonides verwendeten, mit ‚Badewanne‘ übersetzten Begriffs, nicht völlig eindeutig sein, jedoch ist von der Sache her davon auszugehen, dass es sich um im Boden eingelassene Becken, keine vorgefertigten Wannen, handelte. Diese Ansicht wird auch dadurch gestützt, dass Maimonides das Problem des Untertauchens in Gefäßen an dieser Stelle nicht problematisiert. Ob nun die im Ausschussbericht argumentierte Herstellung einer Mikwe ausschließlich mit hamschacha-Wasser auf Basis dieser Stelle und der angeführten Befürworter tatsächlich rabbinisch zu rechtfertigen ist oder nicht, sei dahingestellt.307 Problematisch ist dieser Teil des Berichts in jedem Fall in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird die Art der ‚Wasserleitung‘ nicht weiter konkretisiert, so dass der Eindruck entsteht, jede Art von Zuleitung sei möglich, nur nicht direktes Ausgießen des Wassers aus einem Gefäß heraus.308 Zum anderen wird das Problem des Untertauchens in Gefäßen bezüglich der Stelle bei Maimonides nicht nur umgangen, sondern aufgrund der Übersetzung sogar nahegelegt, dass bei Anwendung der hamschacha-Methode selbst Badewannen ausreichend sind. Zusammenfassend lässt sich zur Bedeutung der Rabbinerversammlung für die innere Entwicklung des modernen Judentums somit Folgendes festhalten: Während schon die einzelnen Schlussfolgerungen des Ausschussberichts aus orthodoxer Sicht nicht zu halten sind, bedeutete die Abstimmung der Rabbinerversammlung nochmals eine entscheidende Weichenstellung hin zu einer radikalen Abkehr vom Kurs des normativen Judentums. Das Problem des Untertauchens in Gefäßen, halachisch schwerwiegender als das des geschöpften Wassers, verschwand soweit aus dem Gesichtsfeld, dass man im ‚Nachleben‘ der Versammlung (zunächst in der
307 Die auch heute gemeinhin akzeptierte Sichtweise ist die, dass eine nur mit hamschacha-Wasser hergestellte Mikwe rabbinisch verboten ist; erleichternd für die Anlage einer Mikwe ist dieser Umstand lediglich insofern, als man hierdurch eine Art ‚Sicherung‘ einbauen kann: Sollte das eigentlich koschere Mikwenwasser aufgrund einer Panne doch nicht tauglich sein, so ist die durch hamschacha gebildete Mikwe zwar rabbinisch nicht zulässig, gemäß der Tora aber erlaubt (vgl. Jachter, „Mikvaot Part 3“, unpag.). 308 „Ausschußbericht über den ersten Antrag“, in: Protokolle Rabbiner-Versammlung, S. 369. Zu den halachischen Anforderungen an die Methode der hamschacha vgl. Kapitel 2.4 sowie Jachter, „Mikvaot Part 3“, unpag.
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Presse) selbst ein Wannenbad uneingeschränkt als gleichwertig mit dem traditionellen Tauchbad betrachtete. Dies lediglich als ein ‚Vermittlungsproblem‘ anzusehen, ist wohl zu kurz gegriffen, schließlich hätte die Versammlung die von Einzelnen vorgebrachten Einwände durchaus ernst nehmen können; selbst wenn man, ausgehend von der Argumentation des Ausschussberichts, den Kompromiss einer ‚Alibi-Öffnung‘ mehrheitlich für unnötig hielt, hätte eine abschließende Stellungnahme dazu beigetragen, etwaigen Missverständnissen vorzubeugen. Man muss somit vermutlich davon ausgehen, dass das genannte Vermittlungsproblem zwar nicht unbedingt beabsichtigt, aber durchaus im Sinne der Verursacher – d. h. vieler oder einflussreicher Teilnehmer – war. Natürlich ist an dieser Stelle einzuwenden, dass man einem einzelnen Pressebericht, selbst in einem bedeutenden Organ, nicht allzu viel Bedeutung zumessen darf. Allerdings bildet selbst der zitierte Bericht lediglich eine Zwischenstufe auf der Linie vom geschöpften Wasser zum gewöhnlichen Wannenbad. Eine weitere wesentliche Liberalisierung fand ein Jahr später auch von offizieller Seite statt, nämlich im Kontext des von der württembergischen Regierung beschlossenen Normalerlasses. Den konkreten, vom württembergischen Staat verordneten „Normen für die Einrichtung der Tauchbäder“ geht zunächst eine Zusammenstellung der zu beachtenden traditionellen Regeln für die Anlage von Tauchbädern voraus, welche mit folgendem Fazit schließt: Da der Zweck dieser ritualen Vorschrift kein anderer ist, noch seyn kann, als der der Reinigung, so kann dieser nach dem Ausspruche der Oberkirchenbehörde eben so gut oder noch besser durch ein einfaches Wannenbad erreicht werden, und es hat auch die zweite Rabbinerversammlung zu Frankfurt im Juli vorigen Jahrs sich dahin ausgesprochen, daß der Absicht des talmudischen Gesetzes vollkommen Genüge geschehe, wenn die israelitische Frau anstatt des bisherigen Tauchbades eines einfachen Wannenbades sich bediene.309
Hieß es in dem Zeitungsartikel noch, dass das rituelle Bad alternativ zur Mikwe „in jeder großen Badewanne“ genommen werden dürfe, so genügt hier bereits ein „einfaches“ Wannenbad! Von einer ausreichenden Größe, um der rabbinischen Vorschrift gemäß wenigstens das vollkommene Untertauchen des Körpers mit einem Mal zu ermöglichen, ist nun keine Rede mehr, und diese Erlaubnis gründet, so der amtliche Text, sowohl auf dem Ausspruch der Israelitischen Oberkirchenbehörde Württembergs als auch der Entscheidung der Rabbinerversammlung.
309 StA Ludwigsburg, F 188 Bü 1401: Erlass des Ministeriums des Innern an die vier Kreisregierungen vom 4.8.1846.
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Dass die Israelitische Oberkirchenbehörde Württembergs mit der Entscheidung der Rabbinerversammlung konform ging, ist nicht weiter verwunderlich, war doch der staatlich bestellte rabbinische Vertreter an ihrer Spitze, Dr. Joseph (von) Maier (1797–1873), ebenfalls ein engagierter Verfechter religiöser Reformen. Als Abgesandter seiner Stuttgarter Gemeinde und israelitischer ‚Kirchenrat‘, so ab 1837 der offizielle Titel, nahm Maier nicht nur an den ersten beiden Rabbinerkonferenzen teil, sondern war 1844 sogar deren Vorsitzender.310 In Württemberg nun hatte bereits 1842 die Regierung des Jagstkreises erneut den Stein der Mikwenreform ins Rollen gebracht, indem sie sich in dieser Angelegenheit unter anderem an das Medizinal-Collegium in Stuttgart wandte: Zwar sei 1821 vom Innenministerium eine Vorschrift zur Einrichtung wärmbarer Mikwen ergangen, jedoch habe sich diese in der Praxis als unzureichend erwiesen; man erbitte deshalb Unterstützung bzw. Rat in dieser Angelegenheit. Das Collegium ging nun seinerseits 1843 die Oberkirchenbehörde um Mithilfe an, insbesondere was die religionsgesetzlichen Voraussetzungen für eine Modernisierung der Anlagen betraf, und diese antwortete schließlich im Dezember 1845 mit einem ausführlichen Schreiben, in dem der Einfluss der Rabbinerversammlung nicht zu übersehen ist.311 Auch in der öffentlichen Wahrnehmung verband man die Erlaubnis der Wannenbäder in Württemberg dezidiert mit dem Namen des theologischen Mitglieds der Oberkirchenbehörde, wie aus einem Artikel in der Zeitschrift Der Israelit von 1862 hervorgeht; der orthodoxe Rabbiner Elias Raphael Rosenbaum (1808 bis nach 1886) aus dem unterfränkischen Zell am Main312 übt hierin scharfe Kritik an dem Reformprogramm Joseph Maiers: In Nr. 29 dieser Blätter wurde von der Tauber berichtet wie es in ganz Würtemberg mit der [ שחיטהdem Schächten] aussehe, und wie es in Stuttgart bei Strafe verboten sei, Talith [Gebetsmantel] und Tephillin [Gebetsriemen] beim Gebete anzulegen, so daß die Wenigen, für welche die hohe Wichtigkeit dieser Mizwoth [religiösen Gebote] besteht, gezwungen sind, die Synagoge zu meiden. Ebenso ist in Stuttgart nicht einmal eine Mikwah vorhanden. Von Seite der Redaktion wurde hiezu bemerkt: Ist ein solches Haus, wo [ תפיליןGebetsriemen] verboten sind, noch eine Synagoge? Sind diejenigen, welche solche Verordnungen erlassen, noch Juden? […]
310 Zur Biographie Maiers siehe „Maier, Joseph [von], Dr.“, in: BHR 1,2, S. 637–639. Zu seinem Wirken in Stuttgart und für eine Reform des Judentums siehe die umfangreiche Dokumentation auf Alemannia Judaica: o.V., „Stuttgart“, unpag. 311 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht der K. Regierung für den Jagstkreis in Ellwangen vom 13.5.1842; StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Note des Medizinal-Collegiums an die Israelitische Oberkirchenbehörde vom 7.4.1843; Note der Israelitischen Oberkirchenbehörde an das MedizinalCollegium vom 22.12.1845; vgl. auch Kapitel 4.1.4. 312 Zu den wenigen bekannten Daten zu Rosenbaum siehe „Rosenbaum, Elias Raphael“, in: BHR 1,2, S. 747.
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Arme Glaubensgenossen Würtemberg’s! Wohin soll dieß führen, wenn ein Mann alle religiösen Anordnungen in Händen hat, welcher sich nicht scheut, öffentlich die erwartete Ankunft des Erlösers zu leugnen, dessen Trachten mehr als das aller Missionäre, dahin geht, systematisch die Grundpfeiler des Judenthums zu erschüttern, zu zerstören? Ein Mann, welcher durch Gestattung des Wannenbades auch im ganzen Lande dafür sorgen will, daß alle Kinder [ בני נדותSöhne einer nidda]313 seien!314
Nüchtern betrachtet stellte die Aufnahme des Wannenbades in die württembergische Reformagenda und den staatlichen Normalerlass natürlich nicht, wie in Rosenbaums Schilderung, den Höhepunkt einer Serie von tödlichen Angriffen auf das Judentum dar, wohl aber einen entscheidenden Schlag gegen das orthodoxe Verständnis der Religion. Die Entscheidung der Rabbinerversammlung zur Mikwe und der württembergische Normalerlass von 1846 waren fortan unzertrennlich miteinander verbunden in einer Beziehung, die beide stärkte: Zum einen erhielt die 1845 durch Abstimmung getroffene Entscheidung gewissermaßen ein staatliches Gütesiegel und konnte hierdurch nochmals ein höheres Maß an Autorität beanspruchen als das, was ihr die Rabbinerversammlung allein – ein selbst ernanntes Gremium ohne formale Kompetenzen – verleihen konnte.315 Zum anderen machte gerade die Verbindung zur Rabbinerversammlung den württembergischen Erlass wiederum in besonderer Weise populär: Man kam nicht umhin, ihn als konsequente Fortsetzung der 1845 angestoßenen Entwicklung zu betrachten. Auch über Württemberg hinaus nahm man beide fortan als Einheit wahr, wie beispielsweise Trusens 1853 publiziertes Werk Die Sitten, Gebräuche und Krankheiten der alten Hebräer zeigt, worin sich das Fazit des Kapitels „Ueber das Verhalten der Frauen zur Zeit ihrer Reinigung“ gerade mit dem oben zitierten Fazit aus dem Normalerlass verbindet: Uebrigens bedarf es aller dieser Vorkehrungen und Einrichtungen [zur Verbesserung der bestehenden Mikwen] nicht, denn da der Zweck dieser ritualen Vorschrift kein anderer ist, noch sein kann, als der der Reinigung, so kann dieser nach dem Ausspruche der Oberkirchenbehörde eben so gut und noch besser durch ein einfaches Wannenbad erreicht werden, und es hat auch die zweite Rabbiner-Versammlung in Frankfurt sich dahin
313 Zu den Implikationen des Begriffs ben ha-nidda im Kontext von ritueller Reinheit sowie der religiösen Pflichten der Frau, und der Nähe des Konzepts zum mamser (Bastard), siehe Marienberg, „Women’s Commandments“, S. 11–13. 314 Rosenbaum, „Stuttgart und Jerusalem“, S. 388. 315 Vgl. zu dieser Einschätzung auch einen Kommentar in der Zeitschrift Der Israelit des 19. Jahrhunderts: „In Beziehung auf die Einrichtung der Frauenbäder hat das Ministerium sehr Zweckmäßiges verfügt und sich dabei auf die Protokolle der R.-V. bezogen. Auf diese Weise ist die R.-V. von der würtembergischen Gesetzgebung anerkannt.“ (o.V., „Würtemberg. Vom Neckarthale“, S. 341).
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ausgesprochen, dass der Absicht des talmudischen Gesetzes vollkommen Genüge geschehe, wenn die israelitischen Frauen, anstatt des bisherigen Tauchbades eines einfachen Wannenbades sich bedienen.316
Fünf Jahre zuvor hatte bereits Friedreich in seinen medizinischen Fragmenten mit dem Titel Zur Bibel in ähnlicher Weise bilanziert: „Uebrigens bedarf es aller dieser Vorkehrungen und Einrichtungen nicht, und es kann sich jede Frau, ohne ihr religiöses Gewissen zu beschweren, nach ihrer eigenen Bequemlichkeit in ihrem Hause baden […].“317 An dieser Stelle findet sich die radikalste Auslegung der Beschlüsse der Rabbinerversammlung besonders klar formuliert: Nicht nur das „Baden“ in einer öffentlichen Flussbadeanstalt ist erlaubt, sondern jedes gewöhnliche häusliche Wannenbad. Als Beleg hierfür zitiert auch Friedreich in einer Anmerkung die gesamte obige Stelle, beginnend mit „Da der Zweck […]“. Der bereits von jüdischen Aufklärern wie Mombert und Birkenstein propagierte und auch von der Rabbinerversammlung hervorgehobene Zweck der Mikwe, die Reinigung, wird im Normalerlass von 1846 schließlich das zentrale Wort in einer Begründung, die in ihrer Wirkung fast einer Zauberformel gleichkommt, in jedem Fall aber von Friedreich und Trusen wie eine solche verwendet wird: Sämtliche medizinpolizeilichen Probleme, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten die Sicht auf das jüdische Ritualbad – und die jüdische Gemeinschaft – bestimmten, verloren durch die neu eröffnete Möglichkeit des ‚Badens‘ in gewöhnlichen Wannen ihre Relevanz. Es bot sich eine völlig neue Situation, garantiert durch die doppelte Autorität von Rabbinerkonferenz und Oberkirchenbehörde, und festgeschrieben in einem für alle jüdischen Gemeinden Württembergs wirksamen Ministerialerlass. Die weit über Württemberg hinausgehende zentrale Bedeutung der bei Friedreich und Trusen angewendeten Formel unterstreicht nicht zuletzt schon die Allgemeine Zeitung des Judenthums, indem sie 1846 den besagten Abschnitt des vollständig veröffentlichten Erlasses, zusammen mit dem vorausgehenden, in gesperrter Schrift druckt und somit auch optisch hervorstechen lässt.318 Wie bereits bemerkt, ging die Nutzung traditioneller Mikwen im gesamten deutschen Kaiserreich mehr und mehr zurück – diese vom Normalerlass noch bereitgehaltene Option war auch für viele Jüdinnen letztlich das ‚Auslaufmodell‘. Die christlicher- und jüdischerseits gesellschaftlich bevorzugte Norm war hingegen, wie sich schon um die Jahrhundertmitte in den Werken von Friedreich und Trusen andeutet, das durch die Rabbinerversammlung erstmals ermöglichte und durch den Normalerlass weiter sanktionierte und popularisierte Wannenbad.
316 Trusen, Sitten, Gebräuche und Krankheiten, S. 20. 317 Friedreich, Zur Bibel, S. 151. 318 O.V., „Aus Württemberg, Ende August“, S. 576.
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6.2.2
Danaidenfass, Hausmikwe und Co.: Mikwen als Reform-Objekt
Tatsächlich war die Idee, die traditionelle Mikwe gegen ein einfaches Wannenbad zu vertauschen, vereinzelt auch schon vor der Rabbinerversammlung geäußert, wenn auch nicht laut geworden. Dass dies in aufgeklärten Kreisen schon früh das erklärte Ziel etwaiger Reformen war, sollen zwei Beispiele belegen. Erstmals deuten, in den im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Dokumenten, die Judenältesten in Berlin eine solche Möglichkeit an. Angestoßen durch das Schreiben eines besorgten Arztes, bemühte man sich im Großherzogtum Würzburg ab 1811 um die Klärung der Frage, inwiefern eine Erwärmung des kalten Mikwenwassers halachisch zulässig sei. In diesem Zusammenhang waren auch die Berliner Judenältesten zu einer Stellungnahme aufgefordert, die nun im Januar 1813 auf eine Anfrage der Großherzoglichen Regierung in Würzburg antworteten.319 Bereits in diesem Bericht begegnet die Argumentation, dass die zeitgenössischen Mikwen selbst nicht biblisch gefordert, sondern vielmehr nur im Talmud begründet seien, ebenso wie das zentrale Verbot von geschöpftem Wasser. Man gesteht einerseits zu, dass „alle diese Anordnungen eine höchst lobenswerthe Fürsorge für Gesundheit und Reinlichkeit bezwecken“ und selbst „bei nördlicheren Klima nicht überflüßig“ sind, findet aber andererseits keinen vernünftigen Grund dafür, warum von den Rabbinern „das Baden in einer noch so große Badewanne mit geschöpften Wasser ausgeschloßen“ wurde.320 Unterzeichnet ist das Gutachten der Judenältesten mit „Stadtrat Friedländer“, d. h. dem damals einflussreichsten Vertreter der Berliner Haskala. Im Königreich Württemberg wurde man ebenfalls schon im Zuge der ersten behördlichen Untersuchungen zu Mikwen mit dieser Ansicht konfrontiert, und zwar durch die anonyme Eingabe, die ein „aufgeklärter Israelite“ 1821 an die Regierung des Jagstkreises richtete; in ihrem Bericht an das Innenministerium beruft sich diese Stelle auf seine (leider nicht im Original erhaltene) Aussagen: Dieser Israelite glaubt daher, daß das Baden der Frauen ganz aufgehoben werden könnte, ohne den ihnen zur Befolgung gegebenen göttlichen Gesetzen zu nahe zu treten. Allein er bezweifelt es selbst, daß die Rabbiner es zugeben ja nicht einmal die Verwandlung in ein gewöhnliches Hausbad für zuläßig erkennen würden.321
319 Vgl. oben Kapitel 4.2.2, Abschnitte Die Verordnung im Großherzogtum Würzburg vom 29. Januar 1812 und Kurfürstentum Hessen. 320 StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht der Judenältesten in Berlin vom 31.1.1813 (Anlage zum Schreiben der Kurmärkischen Regierung an die Großherzogliche Landesdirektion zu Würzburg vom 15.2.1813). Vgl. ebenfalls die gedruckte Version mit der Einleitung von Ludwig Geiger, „Ein talmudisches Gutachten David Friedlaenders“, S. 164. 321 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht der K. Regierung des Jagstkreises in Ellwangen vom 24.7.1821.
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Für eine Entscheidung von solcher Tragweite bedurfte es, wie die Regierung des Jagstkreises richtig prognostizierte, zunächst eines Gremiums wie der Rabbinerversammlung von 1845, das man sich der Tradition gemäß als „Sanhedrin“ vorstellte:322 Einer Umwandlung der jetzt angeordneten BadeEinrichtungen in gewöhnliche Hausbäder, dürfte aber wohl bey den beschränkten Ansichten der meisten Rabbiner, die bey diesen Bädern nur solche Einrichtungen für zuläßig erklären, die angebl. ihren Gesetzen gemäß seyen, in so lange nicht zu erwarten seyn, als nicht in einem Sanhedrin aufgeklärter teutscher Juden, auch die Anordnungen ihrer Bade-Ceremonien besprochen und neu geregelt seyn werden.323
Selbst Mombert hatte 1828 nur hinter vorgehaltener Hand das Wannenbad gefordert, indem er formulierte, dass „die Art und Weise des Badens bloß leere Zeremonie ist“, und man die Bäder so einzurichten habe, dass sie „für die Gesundheit am zweckmäßigsten“ sind.324 Nichtsdestotrotz gab es schon ab den 1820er Jahren vereinzelte Versuche, die Mikwe zumindest soweit mit dem Komfort eines Wannenbads zu verbinden, wie die halachischen Vorgaben dies zuließen. Ungeachtet dieses Anspruchs mussten derartige Neuerungen bei Vertretern der Tradition unwillkürlich auf Widerstand stoßen, schienen sie doch schon im Grundsatz dem zu widersprechen, was das Religionsgesetz forderte. In der jüdischen Presse der Zeit finden sich Spuren von Kontroversen um zwei solcher Anlagen: die auch als Hausmikwe nutzbare Einrichtung des westfälischen Rabbiners Hirsch Cohen und die von Rabbiner Samson Wolf Rosenfeld entworfene Gemeindemikwe in Bamberg. Beide Modelle weisen zwei wesentliche Gemeinsamkeiten auf: Sie wurden (auch) von Regenwasser gespeist und anstelle des traditionellen Steinbeckens verwendete man zum Untertauchen eine Art hölzernen Zuber. Die zentrale Problematik des Untertauchens in ‚Gefäßen‘ war somit auch bereits vor der Rabbinerversammlung öffentlich auf dem Prüfstand. 6.2.2.1 Vertikale haschaka und Hausmikwe: Die „Reinigungs-Ordnung“ von Rabbiner Hirsch Cohen aus Geseke (1824)
Die größere Herausforderung an die traditionelle Position stellte zweifellos die frühere dieser beiden Mikwen dar. Genaugenommen handelt es sich bei der Erfindung von Rabbiner Hirsch Rappert (bürgerlich Hirsch Cohen) aus Geseke 322 Für den Vergleich der Rabbinerversammlung mit der antiken Institution des Sanhedrins sowie dem ‚Pariser Sanhedrin‘ von 1807 siehe Michael Meyer, Antwort auf die Moderne, S. 54f. 323 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht der K. Regierung des Jagstkreises in Ellwangen vom 24.7.1821. 324 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 87f.
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(1765–1832)325 gleich um zwei Modelle, nämlich eine etwas aufwändigere Gemeindemikwe und eine reduzierte Version für die Anlage in Privathäusern. 1824 publizierte er das von ihm entwickelte Verfahren in Buchform unter dem Titel סדרי טהרה. Reinigungs-Ordnung zum Gebrauche der israelitischen Weiber,326 wobei dieser Druck offensichtlich auch dem Schullehrer und Aufklärer Elias Birkenstein zu verdanken ist,327 der sich durch seine radikale Kritik am Talmud auszeichnet und in diesem Zusammenhang bereits 1818 und 1822 ebenfalls zur Mikwe Stellung bezogen hatte. Das 24-seitige Bändchen der Reinigungs-Ordnung erlebte nur eine Auflage und war offensichtlich schon zwei Jahre nach Erscheinen vergriffen,328 weshalb Birkenstein sich dann seinerseits veranlasst sah, eine eigene Schrift zur Mikwe herauszugeben. Unter dem Titel Gründliche Belehrung über das Baden der Judenweiber. Gesprochen zu allen verehelichten Israeliten, und zwar mit Rücksicht auf die Schrift des Herrn Rabbiner H. Cohen zu Geseke verbindet Birkenstein 1826 nochmals die halachische Argumentation von Rabbiner Cohen mit seiner eigenen, der eines Maskil, der auch mit den zentralen Ideen von Hufeland bzw. der Aufklärungsmedizin vertraut ist:329 Wie Rabbiner Cohen überzeugend dargestellt habe, sei es „nach den klaren Aussprüchen des Talmuds und des Joredea [d. h. des Schulchan Aruch] einer Judenfrau erlaubt […], sich im warmen Wasser, und zwar in einer Bütte oder Badewanne, zu reinigen oder zu baden.“330 Darüber hinaus stünden die (richtig verstandenen) Prinzipien der Religion im Einklang mit modernen medizinischen Erkenntnissen und einem humanistischen Menschenbild: Es „zielt dieß rabbinische Gesetz auf Reinlichkeit“331 als Grundlage der Gesundheit,
325 Ich verwende hier den Namen Rappert, wie in seinem Werk Reinigungs-Ordnung angegeben, das Handbuch der Rabbiner listet ihn hingegen unter der Alternative Rappaport; zu den wenigen bekannten biographischen Details siehe dort („Rappaport, Hirsch“, in: BHR 1,2, S. 732f). Cohen war bereits 1790/91 Landesrabbiner des Herzogtums Westfalen sowie der Fürstabtei Corvey mit Sitz in Geseke, und wirkte dort (mit wechselnder Amtsbefugnis) bis zu seinem Tod im Jahr 1832. Gemäß dem Band Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen (Teil V: Regierungsbezirk Arnsberg) war er der Großvater der Dichterin Else Lasker-Schüler; nach einem zitierten Schreiben von 1820 vertrat er damals die Geseker jüdische Gemeinde in einem Rechtsstreit um den jüdischen Friedhof (siehe Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe, S. 543–545). 326 Stadtarchiv Hagen, Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46: H. Cohen, סדרי טהרה. ReinigungsOrdnung zum Gebrauche der israelitischen Weiber, Marburg 1824. 327 Vgl. hierzu die Buchvorstellung in Sulamith: [Fränkel], „Literatur“, S. 399. Ich richte mich mit der Jahresangabe 1824 für diesen Band nach den Angaben der Universität Frankfurt, jedoch deutet der Abdruck eines Schreibens der Regierung in Arnsberg auf ein Veröffentlichungsdatum nicht vor Januar 1825 hin (ebd., S. 398f). 328 [Birkenstein], Belehrung über das Baden, S. 20. 329 Vgl. ebd., S. 18. 330 Ebd., S. vii (Anm.); vgl. dort auch die Anmerkung S. 19–21. 331 Ebd., S. 18.
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und somit verlangten „Vernunft und Religion“ gemeinsam den Schutz der Gesundheit, um das Leben zu verlängern und hierdurch der Erfüllung der menschlichen „Bestimmung“ näher zu kommen.332 Die Reinigungs-Ordnung selbst gliedert sich in drei Teile, ein so genanntes „Vorwort“, sodann die „Erklärung des Kupfers“, d. h. die Beschreibung der vorgestellten Reformmikwe auf Basis der am Schluss angefügten Abbildung, sowie weitere „Erläuterungen“ zu deren Funktionsweise und den dahinter stehenden halachischen Prinzipien.333 Das Vorwort enthält sowohl die persönlichen Beweggründe, die zu Cohens Erfindung Anlass gaben, wie auch eine Rechtfertigung vor dem Hintergrund des Religionsgesetzes und der modernen Medizin: Waren es zunächst eigene Beobachtungen der „leichenartigen Gesichtsfarbe“ einst „blühende[r] Mädchen“, so verstärkte die Rücksprache mit Ärzten seine Überzeugung, dass dies eine Folge der kalten Mikwen sei; der Einfluss Hufelands ist in diesem Zusammenhang nicht zu übersehen.334 Nun sei aber „Schonung der Gesundheit ein Hauptgebot“335 des Judentums, und sein Wunsch nach Abhilfe mündete in zwei zentrale Fragen: 1) Ob „die gesetzlich vorgeschriebene Wasserreinigung durchaus mit kaltem Wasser geschehen müsse“, und 2) „ob diese Reinigung absolut in einem steinernen, in der Erde ausgemauerten Wasserbehälter vorgenommen werden müsse“.336 Wie bereits diese beiden Formulierungen verraten, betrachtet er die Mikwe, ganz wie andere jüdische Aufklärer, primär als ein Reinigungsbad: „Der Zweck des Gesetzes ist“ – und an dieser Stelle verschmilzt Cohen Religion und gängige medizinische Theorie, ein aufgeklärtes Judentum mit dem bürgerlichen Wertemaßstab – „Ausdünstung und Reinigung, und dieser wird auf eine vernünftige und dem Körper zuträgliche Weise durch warmes Wasser erreicht.“337 Beide Fragen, so versichert er daraufhin, lassen sich auf der Grundlage der von ihm angeführten Belege in der jüdischen Traditionsliteratur mit Nein beantworten;338 nichtsdestotrotz ist er sich dessen bewusst, dass die von ihm vorgeschlagene „Einrichtung der Reinigungsgefäße“ auch auf Widerstand stoßen musste, insofern als sie „fremd oder unbegreiflich ist, oder gar gesetzwidrig scheint.“339
332 Ebd., S. 10–12; ähnlich auch ders., Verbesserung, S. 80. Vgl. zu dieser Idee in der Aufklärungsmedizin beispielsweise das Vorwort zu Hufelands Makrobiotik (S. xi). 333 Der vollständige Text der Reinigungs-Ordnung findet sich in Anhang II. 334 H. Cohen, Reinigungs-Ordnung, S. 7f. 335 Ebd., S. 5. 336 Ebd., S. 8. 337 Ebd.; vgl. zu dieser Stelle speziell auch Hufelands Formulierung in „Nöthige Erinnerung an die Bäder“ von 1790 (S. 395). 338 H. Cohen, Reinigungs-Ordnung, S. 8f. 339 Ebd., S. 3.
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Abb. 11 Kupferstich aus der Reinigungs-Ordnung von Rabbiner Hirsch Cohen
Dass diese Sorge nicht unbegründet war, belegt eindrücklich die Kontroverse mit Landesrabbiner Abraham Sutro aus Münster, der Cohen selbst nach dessen Tod noch öffentlich als „Spitzbuben und Betrüger“ beschimpfte und deshalb von seiner Witwe verklagt wurde.340 Um die Auseinandersetzung verstehen zu können, soll an dieser Stelle zunächst die Funktionsweise der Anlage vorgestellt werden. Der am Ende des Bändchens abgedruckte Kupferstich341 (Abb. 11) zeigt die komplexere Variante der von Cohen entworfenen Mikwe. Sie sollte den jüdischen
340 Vgl. o.V., „Der Landrabbine Sutro“, S. 195. Zum Hintergrund des Prozesses siehe Herzig, Judentum und Emanzipation, S. 50. 341 H. Cohen, Reinigungs-Ordnung, unpag.
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Gemeinden eine wärmbare und dabei kostengünstige Alternative zu den herkömmlichen Kellermikwen bieten.342 Das zentrale Prinzip dieser bereits auf den ersten Blick ungewöhnlichen Anlage ist dabei die haschaka-Methode, d. h. eine zunächst nicht für das Untertauchen taugliche Wassermasse erhält durch Berührung mit einer koscheren Mikwe ebenfalls deren Eigenschaften.343 Cohen wählt als Behälter für das Untertauchen eine hölzerne Wanne, die je nach Vorhandensein mit Regenwasser oder auch anderem, ‚normalem‘ Wasser gefüllt werden kann. Diese kommt neben oder über einer Grube, der eigentlichen ‚Mikwe‘ zu stehen; um den Frauen einen leichteren Einstieg zu ermöglichen, ist sie teilweise in den Boden eingelassen. Die Verbindung mit dem Wasser der Grube erfolgt mittels eines Loches im Boden der Wanne (I) und einem hierin eingepassten Krückenstock, dessen unterer Teil hohl ist. Füllt man die Wanne zunächst bis zur zweiten Krücke des Stockes (F), und entfernt dann das bei (E) angebrachte Zäpfchen, so kann ein Teil des Wassers in die Grube ablaufen und stellt in diesem Augenblick eine Verbindung zwischen den beiden Wasserreservoirs her (vgl. Abb. 12). Nötig ist diese Verbindung allerdings nur dann, wenn das Fass behelfsweise mit gewöhnlichem Wasser gefüllt werden muss. Bei der ersten Inbetriebnahme der Mikwe und immer dann, wenn ausreichend Regenwasser vorhanden ist, wird dieses „direct in die Badewanne geleitet“344 und bildet so selbst eine Mikwe, nämlich eine natürlich entstandene Wasseransammlung – ganz analog zu dem einfacheren 342 Ebd., S. 10. 343 Vgl. hierzu neben Cohens Erläuterung der Funktionsweise (Reinigungs-Ordnung, S. 12–16) auch die beiden einleitenden hebräischen Zitate im Vorwort (Nro. 1 und 2, S. 3–5), welche jeweils die Methode der hamschacha in Kombination mit haschaka beschreiben. Im Fall des ersten Zitats ist das Wort „Verbindung“ für haschaka in der deutschen Übertragung zudem durch Sperrdruck hervorgehoben, was mir ebenfalls ein Hinweis darauf zu sein scheint, dass Cohen gerade nicht eine Mikwe ausschließlich durch hamschacha herstellen möchte. Wäre dies der Fall, so könnte er das Zitat mit Maimonides enden lassen und das zweite wäre völlig überflüssig. Zu der an Cohens Methode geäußerten Kritik vgl. den folgenden Abschnitt Cohens Erfindung auf dem Prüfstand. 344 Ebd., S. 14 (Hervorhebung nicht im Original). Entscheidend ist im Fall einer Regenwassermikwe die ‚natürliche‘ Ansammlung, die Cohen dadurch erreicht, dass das Wasser „direct“ in das Fass gelangt. Weniger eindeutig ist die Bestimmung, wonach das Wasser „geleitet“ werden soll, da Regenwasser zu diesem Zweck nicht per hamschacha geleitet werden muss. Dennoch scheint mir der Begriff ‚leiten‘ bewusst als Äquivalent hierfür gewählt – und möglicherweise wurde unter anderem genau diese Stelle auch von seinen Kritikern missverstanden, die ihm vorwarfen, die von Maimonides problematisierte Methode einer vollständig aus hamschacha-Wasser gebildeten Mikwe zu propagieren, noch dazu in einem Fass (vgl. den folgenden Abschnitt Cohens Erfindung auf dem Prüfstand sowie die vorausgehende Anmerkung). Dass mit „leiten“ allem Anschein nach die hamschacha-Methode gemeint ist, eröffnet sich durch den Vergleich mit anderen Stellen von Cohens Schrift sowie im Kontrast mit dem einfacheren Modell der Mikwe in Privathäusern, wo das Wasser stattdessen in die Wanne „fließt“ (vgl. die folgende Anmerkung). Vermutlich schreibt Cohen nicht zuletzt deshalb „geleitet“, weil im Fall der Gemeindemikwe in jedem Fall Rinnen zum Leiten vorhanden sein müssen und dies somit die naheliegende und beste Möglichkeit zum Füllen
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Abb. 12 Kupferstich aus der Reinigungs-Ordnung von Rabbiner Hirsch Cohen (Details der Funktionsweise)
Modell der Mikwe in Privathäusern, die völlig ohne Grube als koscheres Wasserreservoir auskommt.345 Die Problematik der Wanne, nach halachischer Definition ein Gefäß, soll an dieser Stelle ausgeklammert und erst weiter unten, im Kontext der Kritik an Cohens Methode, erörtert werden. Wird von der nächsten Nutzerin
der Wanne darstellt. Für eine weitere Problematisierung des Begriffes ‚leiten‘ innerhalb von Cohens Reinigungs-Ordnung siehe die übernächste Anmerkung. 345 Ebd., S. 16. Der Aspekt der Natürlichkeit wird in diesem Fall dadurch gewährleistet, dass „das Regenwasser unmittelbar in die Wanne fließe“, hier also auch nicht geleitet wird (Hervorhebungen nicht im Original). Ebensowenig darf das verbrauchte Wasser einfach ausgeschöpft werden; stattdessen soll es auf natürliche Weise ausgetauscht werden, indem man durch einen speziellen Trichter frisches Regenwasser einfließen lässt, welches das alte verdrängt (ebd.).
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neues Wasser gewünscht oder ist solches unerlässlich, noch bevor sich erneut genügend Regenwasser angesammelt hat, so verwendet man gewöhnliches „frisches und durch Rinnen geleitetes Wasser“, d. h. Wasser, das per hamschacha in die Wanne gelangt.346 In diesem Fall gilt das Fass für sich genommen nicht als Mikwe, sondern erhält diese Qualität erst durch die Verbindung mit dem Wasser der Grube, so dass auch die Beimischung von warmem Wasser ohne Bedenken möglich ist, wie Cohen schreibt.347 Die in dem Fass enthaltene Wassermenge beträgt bei einem Wasserstand in Höhe des Zäpfchens (ca. 87,55 cm) in etwa 676 Liter;348 der gesamte Behälter fasst knapp 1.000 Liter.349 Für Cohens Rechtfertigung seiner neuartigen Methode ist es ausschlaggebend, dass beim Untertauchen das halachisch geforderte Mindestvolumen von 40 seʾa vorhanden ist. Hierfür errechnet er 17,93 preußische Kubikfuß als Entsprechung der im Schulchan Aruch genannten 44.118 Kubikzoll, d. h. etwa
346 Ebd., S. 14. Cohen verwendet das Verb ‚leiten‘ innerhalb der Reinigungs-Ordnung erstmals zur Übertragung von zwei hebräischen Zitaten (S. 4, 5), darüber hinaus auch im Zusammenhang mit einem weiteren Zitat an späterer Stelle (S. 19), wo es jeweils als Entsprechung für hamschacha erscheint. In zwei Fällen präzisiert er mit „durch Rinnen“ geleitet (S. 4, 19), innerhalb des dritten Zitats übersetzt er zweimal „geleitet“ ohne weitere Erklärung (S. 5). Man darf also vermuten, dass Cohen hier keinen Unterschied beabsichtigt, sondern ‚leiten‘ – ob nun mit oder ohne Erwähnung von Rinnen – immer die Methode der hamschacha bezeichnet. Einschränkend ist anzumerken, dass Cohen den Begriff auch dann verwendet, wenn er nicht aus dem Hebräischen überträgt und strenggenommen auch keine hamschacha nötig ist (S. 12, 14, 16, 18). Jedoch steht dieser Befund der Annahme auch nicht grundsätzlich entgegen, da zwei der problematischen Stellen das Auffüllen der Grube betreffen, in welche Regenwasser ‚geleitet‘ werden soll (S. 12, 18). Zwar muss Regenwasser nicht per hamschacha geleitet werden, um als koschere Wasseransammlung zu gelten, doch ist dies als zusätzliche Vorkehrung durchaus möglich und wird heutzutage wirklich so praktiziert (vgl. hierzu weiter unten im selben Abschnitt). Die dritte Problemstelle (S. 16) bezieht sich auf das einfachere Modell der häuslichen Mikwe. Da bei dieser Variante das Regenwasser im Fass immer selbst als koschere Mikwe (ohne eine separate Grube) dient, benötigt man einen speziellen Trichter, in den neues Regenwasser „hineingeleitet“ wird, um auf diese Weise das verbrauchte aus dem Fass ausströmen zu lassen. Nicht allein der Sachverhalt ist somit ein völlig anderer, auch die nur hier verwendete Zusammensetzung ‚hineinleiten‘ (anstelle des ebenfalls passenden ‚leiten‘!) mag ein möglicher Hinweis darauf sein, dass Cohen hier nicht mehr die hamschacha-Methode im Auge hatte. Für die verbleibende Stelle (S. 14) vgl. oben Anm. 344. 347 Ebd., S. 14. Cohen nennt die Zuleitung von warmem Wasser allerdings ausschließlich in Verbindung mit der Regenwassermikwe, wo dies gerade nicht „ohne Umstände“ möglich ist, sondern erst dann, wenn mehr als das halbe halachische Mindestmaß bereits vorhanden ist. Das warme Wasser darf in diesem Fall nur per hamschacha zugefügt werden, was nach nach seiner Darstellung der Fall ist. Vgl. hierzu auch den folgenden Abschnitt zur Kritik an Cohens Mikwe, speziell Anm. 379. 348 Die Berechnung erfolgt aufgrund der Angabe im Text für den Radius des Fassbodens sowie der Zeichnung des Krückenstocks. 349 Grundlage der Berechnung ist die Formel für das Volumen eines Kegelstumpfes.
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554 Liter.350 Das vorhandene Wassermaß von 676 Litern genügt somit – auf Basis dieser Berechnung – der wichtigsten halachischen Vorgabe, ignoriert dabei aber die weitere Anforderung, wonach der Wasserpegel noch etwas über der Nabelhöhe liegen sollte, um ein zu starkes Krümmen des Körpers zu vermeiden. Das zentrale Prinzip, mithilfe dessen dieses Wasser in ein koscheres Tauchbad umgewandelt werden kann, findet sich im Schulchan Aruch. Demnach ist unter bestimmten Bedingungen eine unterirdische Verbindung, selbst von minimaler Größe, zwischen den beiden Wasserreservoirs ausreichend, um dem gewöhnlichen Wasser den Status einer vollwertigen Mikwe zu verleihen: Will man eine geschöpfte Mikwe mithilfe einer nicht geschöpften vollen Mikwe tauglich machen, und sei die Verbindung nur wie ein Haar, so ist sie tauglich, selbst wenn das haschaka-Wasser [d. h. das Wasser der koscheren Mikwe] nicht an der Oberfläche ist [wörtlich: die Luftoberfläche sieht].351
Allerdings ist es hierfür unerlässlich, dass das Volumen des geschöpften Wassers wenigstens 40 se’a umfasst, denn andernfalls wäre das Wasser biblisch verboten, wie auch Cohen einräumt.352 In diesem Fall müsste die Verbindung die üblicherweise vorgeschriebene Größe eines Schlauchrohres haben, wie Moses Isserles die zitierte Regelung des Schulchan Aruch kommentiert: Dies [trifft zu] auf Schöpfwasser, das rabbinisch untauglich ist; ist es aber biblisch untauglich, so gilt, wie erläutert, [ein Loch so groß wie] ein Schlauchrohr […].353
Die alles entscheidende Frage ist also an dieser Stelle, ob das geschöpfte Wasser in Cohens Fass tatsächlich dem Anspruch gerecht wird, ‚nur‘ rabbinisch ungültig zu sein. Hinsichtlich der Problematik von geschöpftem Wasser im Allgemeinen gibt es, wie bereits in Kapitel 6.2.1 zur Rabbinerversammlung dargestellt, keine eindeutige Antwort, sondern vielmehr verläuft gerade hier eine der Grenzlinien zwischen der traditionellen (bzw. neo-orthodoxen) und der liberalen Position. Cohen selbst vertritt den auch 1845 von den liberalen Rabbinern eingenommenen Standpunkt,
350 H. Cohen, Reinigungs-Ordnung, S. 19f. Für die Problematik der Bestimmung des Mindestvolumens siehe Kapitel 3.2.1. 351 SchA, Jore de‘a 201,53; vgl. hierzu H. Cohen, Reinigungs-Ordnung, S. 21f (§ 11). Cohen selbst gibt allerdings keine Quelle an, so dass diese lediglich indirekt aus dem Inhalt erschlossen werden kann. An anderer Stelle (S. 15) verweist Cohen auch explizit auf den Schulchan Aruch, und zwar auf den unmittelbar vorausgehenden Abschnitt Jore de‘a 201,52 (vgl. auch S. 22, § 12). 352 H. Cohen, Reinigungs-Ordnung, S. 20. 353 SchA, Jore de‘a 201,53.
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dass das Verbot von geschöpftem Wasser nicht biblisch, sondern lediglich rabbinisch ist.354 Als Zugeständnis an die orthodoxe Position verwendet er allerdings, wie gesagt, kein ‚einfaches‘ Schöpfwasser, sondern lässt das Wasser mittels hamschacha in das Fass gelangen. Und solchermaßen in einen Behälter gelangtes Wasser unterliegt nach Auffassung der mittelalterlichen Tosafisten sowie maßgeblicher späterer Autoritäten nur einem rabbinischen Verbot.355 Tatsächlich hat sich diese Ansicht inzwischen soweit etabliert, dass sogar ein Großteil der heutzutage (von orthodoxen Gemeinden) errichteten Mikwen auf diesem Prinzip aufbaut: Indem man sämtliches Wasser mittels hamschacha in die Mikwe leitet, erhält dieses das Prädikat ‚nur rabbinisch verboten‘ und man umgeht somit die Gefahr, trotz größter Sorgfalt bei Bau und Pflege der Anlage unbeabsichtigt ‚geschöpftes‘ Wasser zu verwenden und hierdurch ein biblisches Gebot zu übertreten.356 Ob man Cohens Mikwe zulässt oder ablehnt, ist an diesem Punkt folglich in erster Linie davon abhängig, welchen halachischen Status man dem hamschacha-Wasser einräumt – auch eine orthodoxe Position muss nicht zwangsläufig dazu führen, dass man die vorgestellte Methode verurteilt! Jedoch existiert bei der haschaka-Methode stets noch ein weiterer strittiger Punkt von zentraler Bedeutung: Nicht nur die Größe der Öffnung zwischen den beiden Wasserreservoirs ist entscheidend, sondern auch die Dauer der Verbindung. Nach Cohens Argumentation reicht es in seinem Fall aus, wenn eine solche für kurze Zeit bestanden hat; dies geschieht dadurch, dass das oberhalb des Zäpfchens stehende Wasser bei dessen Entfernung in die Grube darunter abfließt. Zwar zitiert er als Beleg eine Stelle im Schulchan Aruch, die gerade den entgegengesetzten Fall, nämlich eine biblisch unzulässige Wasseransammlung von weniger als 40 se’a beschreibt;357 aber auch trotz dieser vordergründigen Lücke ist seine Argumentation schlüssig und für ein jüdisches Publikum insofern überzeugend, als lediglich ein grundlegendes rabbinisches Prinzip der Schriftauslegung unausgesprochen bleibt: Wenn eine biblisch unzulässige Wasseransammlung durch kurzzeitigen Kontakt mit einer koscheren Mikwe deren Eigenschaften erhält, dann gilt dies umso mehr für eine Wasseransammlung, die nur rabbinisch verboten ist.
354 H. Cohen, Reinigungs-Ordnung, S. 19, 21. 355 Vgl. Jachter, „Mikvaot Part 3“, unpag. Cohens Argumentation ist in dieser Frage nicht ohne Weiteres nachvollziehbar. Da er geschöpftes Wasser schon an sich als nur rabbinisch unzulässig einstuft, wäre die Zuleitung per hamschacha gemäß dem Schulchan Aruch (Jore de‘a, 201,53) eigentlich überflüssig. Der Grund ist vermutlich der, dass Cohen – obwohl er den Schulchan Aruch heranzieht (siehe Anm. 351) – seine Argumentation primär auf die beiden im Vorwort zitierten Quellen gründet, welche haschaka gerade in Verbindung mit ‚geleitetem‘ Wasser beschreiben (vgl. Anm. 343). Aus diesem Grund ist hamschacha auch für ihn unerlässlich. 356 Jachter, „Mikvaot Part 3“, unpag. 357 H. Cohen, Reinigungs-Ordnung, S. 15; SchA, Jore de‘a, 201,52.
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Cohens Erfindung auf dem Prüfstand: Abraham Sutros Streitschrift Milchamot ha-schem
Was waren aber die aus zeitgenössischer Sicht kritischen Punkte von Cohens Erfindung, inwiefern rechtfertigte sie aus Perspektive der Traditionalisten selbst posthume persönliche Beleidigungen? Der orthodoxe Landesrabbiner Abraham Sutro in Münster (1784–1869)358 nimmt hierzu 1836 innerhalb seiner hebräischen Serie ה׳ ( מלחמותMilchamot ha-schem; wörtlich ‚Die Kriege des Ewigen‘) Stellung. In dieser zwischen 1836 und 1864 veröffentlichten vierteiligen Streitschrift setzt sich Sutro vehement für die Interessen eines traditionellen bzw. neo-orthodoxen Judentums ein und rechnet mit den verschiedensten modernen Entwicklungen ab, die dessen Fortbestehen in seiner Zeit bedrohen konnten, wie z. B. die Frage der Orgelbegleitung im Gottesdienst. Allerdings meldet er sich in den etwa acht Seiten, die er Cohens Anlage widmet, nur relativ kurz selbst zu Wort, den Hauptteil seiner Argumentation bilden vielmehr die Responsen zweier Rabbiner aus dem Jahr 1830, die er in vollem Umfang zitiert: zum einen von Oberrabbiner Samuel Berenstein359 (ca. 1767–1838) aus Amsterdam, zum anderen von dem Braunschweiger Landesrabbiner Sabel Eger(s) (1769–1842)360 . Ihre Ablehnung von Cohens Mikwe gründet sich im Wesentlichen auf zwei Grundsätze, die sie hier verletzt sehen, nämlich das Verbot von geschöpftem Wasser und des Untertauchens in Gefäßen; diese wiederum haben unmittelbaren Einfluss auf die Anlage und Konstruktion des Tauchbehälters, für den ganz spezielle Vorschriften zu beachten sind. Die umfangreichere Antwort ist die des Amsterdamer Rabbiners, der Braunschweiger Sabel Egers fasst sich hingegen relativ kurz, indem er auf bereits von anderer Seite vorgebrachte Kritik verweist und nur den zweiten Punkt weiter ausführt: Das Fass, in dem die Frau untertauchen soll, gilt bis zur Höhe des herausnehmbaren Zäpfchens als Gefäß; dies trifft selbst dann zu, wenn es das
358 Abraham Sutro war seit 1815 Landesrabbiner unter andrem für den Bezirk Münster; ab 1830 gilt er als Vorkämpfer der Orthodoxie. Zur Person Sutros siehe „Sutro, Abraham“, in: BHR 1,2, S. 846–848. 359 Der Verfasser des Responsums unterzeichnet nur mit שמואל ה״ק, wird aber von Sutro als aw bet din (Vorsitzender des rabbinischen Gerichts) in Amsterdam bezeichnet. Somit handelt es sich offensichtlich um Samuel Berenstein, der von 1815 bis zu seinem Tod die Stelle als Rabbiner der aschkenasischen Gemeinde innehatte. Wenngleich er seinem Schwiegervater und Amtsvorgänger in manchen Dingen als zu liberal galt, stand er doch zweifellos auf der Seite der Orthodoxie, so beispielsweise im Streit um das Gebetbuch des Hamburger Tempelvereins von 1819. Unter den Gutachten, die damals von namhaften Rabbinern gegen die Reformer verfasst wurden, war seines das längste; siehe „Berenstein, Samuel“, in: BHR 1,1, S. 179f; vgl. auch Singer/Wiernik, „Berenstein, Samuel ben Berish“, S. 57f. 360 Sabel Egers war bereits während der Zeit des Westfälischen Konsistoriums der Israeliten Rabbiner in Braunschweig, 1824 wurde er zum Landesrabbiner für Braunschweig ernannt. Obwohl er einzelne Reformen zuließ, geschah dies nicht ohne „große Gewissensnöte“ (siehe „Egers, Sabel“, in: BHR 1,1, S. 266–268, hier S. 267).
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für solche Fälle vorgesehene spezielle Loch am Boden aufweist, da das Fass gemäß Cohens Schrift „auf dem Wasser“361 der Grube angebracht sein soll. Aus diesem Grund ist es nach Egers in keinem Fall als integraler Teil des Bodens von dem Gebäude zu werten, und bleibt somit halachisch immer ein Gefäß.362 Tatsächlich ist die Frage, ob Cohen ein solches ‚Alibi-Loch‘ vorgesehen hat, nicht völlig klar zu beantworten; er beschreibt es lediglich im Zusammenhang mit der einfacheren Version einer Hausmikwe: „In den Boden der Kufe wird ein anderes Loch von einem Zoll im Durchmesser angebracht, in welches ein rund gestalteter und mit Kalk beschmierter Stein oder Ziegel gesteckt werden muß.“363 Das halachische Prinzip, auf das er sich an dieser Stelle beruft, ist beschrieben im Schulchan Aruch: Ist ein solchermaßen mit ‚Loch‘ präparierter Auffangbehälter fest im Boden (des Gebäudes oder sogar des Daches) eingelassen, so gilt er nicht als Gefäß und kann deshalb als Mikwe fungieren.364 Auch Rabbiner Berenstein aus Amsterdam kritisiert in seinem Schreiben die Unzulässigkeit des Untertauchens in einem Gefäß, und als solches wertet er ein aus Holzbrettern hergestelltes Fass, das eine verschließbare Öffnung zum Ablassen des Wassers aufweist und „neben“ einer Mikwe zu stehen kommt.365 Den weitaus größeren Raum nimmt allerdings ein anderes Problem ein, nämlich die Erörterung der Zulässigkeit von geschöpftem und dann mittels hamschacha geleitetem Wasser. Sein traditioneller Standpunkt, den er durch eine große Zahl von Belegen bekräftigt, lässt sich dabei in zwei zentralen Aussagen zusammenfassen: 1) Viele der bekanntesten rabbinischen Autoritäten sind der Ansicht, dass eine ausschließlich aus geschöpftem Wasser bestehende Mikwe biblisch verboten ist. 2) Die bei Maimonides gefundene (und von Cohen zitierte) Passage, in der eine nur mit hamschacha-Wasser hergestellte Mikwe beschrieben wird, rechtfertigt keine derartige Praxis.366 Auf seine diesbezügliche Argumentation mit dem alleinigen Zweck, den gängigen orthodoxen Standpunkt zu untermauern, muss nicht im Einzelnen eingegangen werden. Entscheidend ist vielmehr, dass sie in einer Hinsicht wesentlich zu kurz greift: Das für das rituelle Untertauchen vorgesehene Wasser in Cohens Fass ist weder einfach geschöpftes Wasser noch hamschacha-Wasser, sondern vielmehr hamschacha-Wasser, das mittels haschaka im Kontakt mit einer koscheren Mikwe steht. Auf diese von Cohen erdachte Methode mit ihrer ganz spezifischen, oben
361 Sutro, Sefer milchamot ha-schem, S. 148. 362 Ebd. 363 H. Cohen, Reinigungs-Ordnung, S. 16f. Bezüglich der Größe der vorgeschriebenen Öffnung gibt es unterschiedliche Ansichten, siehe SchA, Jore de‘a 201,7. 364 Vgl. ebd. 365 Sutro, Sefer milchamot ha-schem, S. 146f. 366 Ebd., S. 143–145. Für Cohens Verwendung der genannten Passage vgl. Anm. 343.
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dargestellten halachischen Problematik aber geht Berenstein in keiner Weise ein. Wie lässt sich dieser Umstand erklären? Hat er etwa die Besonderheit der Konstruktion nicht verstanden? Wollte er sie nicht verstehen? Bevor jedoch versucht wird, hierauf eine Antwort zu skizzieren, sollen zunächst die anderen von orthodoxer Seite vorgebrachten Kritikpunkte auf ihre faktische Relevanz hin befragt werden. Das möglicherweise fehlende ‚Alibi-Loch‘, wenn es denn wirklich nur für die Hausmikwe und nicht sowieso auch für die komplexere Gemeindemikwe vorgesehen war, stellt in keinem Fall ein unüberwindbares Hindernis auf dem Weg zur ‚koscheren Fassmikwe‘ dar, sondern ließe sich leicht nachträglich in den Bauplan integrieren. Dessen genaue Größe, ebenso wie diejenige der Verbindungsöffnung zwischen den beiden Wasserreservoirs, wäre ein Faktor, der im Interesse einer Einigung der Parteien verhandelbar ist, wobei diese Problematik von orthodoxer Seite ja gar nicht angesprochen wird. Wie verhält es sich aber mit dem Argument, dass das Fass über dem Wasser der eigentlichen Mikwe zu stehen kommt – und hierdurch nach Egers nicht als Teil des Gebäudes gewertet werden kann, somit also weiterhin als Gefäß gilt? Ähnlich wie im Fall der halachischen Bewertung von hamschacha-Wasser zeigt hier ebenfalls ein Blick auf die weitere historische Entwicklung, dass auch die orthodoxe Position Konstruktionen dieser Art, d. h. ein Tauchbecken über der eigentlichen Mikwe, nicht prinzipiell ausschließen muss. Zwar ist die gewöhnlichere Anwendung der haschaka-Methode diejenige, dass sich das Becken zum Untertauchen direkt neben dem Behälter mit koscherem Wasser befindet, jedoch gab es spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Art orthodoxe Version von Cohens vertikalem Prinzip. Bedeutung erlangte diese Bauweise insbesondere durch die von Rebbe Schalom Dow Bär Schneersohn (1860–1920)367 entworfene ‚Lubawitscher Mikwe‘, nach der die Anhänger dieser chassidischen Bewegung bis heute ihre Mikwen bauen.368 Anders als bei Cohens Fassmikwe befindet sich nach dieser Methode ein gewöhnliches Becken direkt über dem koscheren Regenwassertank, mit dem es durch zwei verhältnismäßig große Bodenöffnungen ständig in Berührung ist.369 Eine mögliche Abwandlung dieses Prinzips besteht darin, dass das Wasser von zwei etwas weiter entfernten Reservoirs nicht durch eine einfache Bodenplatte mit Loch, sondern ein längeres Rohr (mit kleinerem Durchmesser als bei Schneersohns Entwurf) in Verbindung
367 Schalom Dow Bär Schneersohn wirkte ab 1893 offiziell als der fünfte Rebbe der heute als ChabadBewegung bekannten Lubawitscher Chassidim. Zu den biographischen Daten vgl. o.V., „Rabbi Sholom DovBer Schneersohn“, unpag. 368 Vgl. hierzu knapp Kapitel 2.4 (Abschnitt haschaka), sowie Jachter, „Mikvaot Part 5“, unpag. 369 Der Zweck der zweiten Öffnung besteht darin, die Verbindung zwischen den Wasserreservoirs auch dann aufrecht zu erhalten, wenn die eine durch den Fuß einer darüber stehenden Person verschlossen wird (vgl. Jachter, „Mikvaot Part 5“, unpag.). Für eine schematische Darstellung dieser Methode sowie der folgenden Variante siehe Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 1, S. 55, 72.
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steht. Mikwen dieser Bauweise existierten, so schreibt der als Gemeinderabbiner in Kalisch wirkende Chaim Elasar Wachs (1822–1889),370 schon vielerorts in Polen wie auch in seiner Heimatstadt Tarnogród.371 Auch diese beiden Methoden stießen auf heftigen Widerstand, der sich allerdings hier auf die Art der Verbindung zwischen den beiden Wassermassen beschränkte, und nicht wie in Cohens Fall die Bauweise des Behälters für das Untertauchen betraf.372 Unter anderem der ebenfalls aus Tarnogród stammende einflussreiche Rabbiner Chaim Halberstam (1793–1876),373 nach seinem Hauptwerk auch als Diwre Chajjim bezeichnet, griff dieses Verfahren mit der Begründung an, dass Wasser auf einer Neigung (und als solche wertet er auch eine vertikale Kontaktzone) keine gültige Verbindung zwischen zwei Behältern darstelle; dieser Grundsatz, hebräisch katafres eno chibbur (חיבור אינו )קטפרס, sei schon in der Mischna beschrieben. Halberstams Ansicht widersprachen wiederum andere wichtige halachische Gelehrte, darunter der für seine streng traditionellen Ansichten bekannte, aus Frankfurt am Main stammende Chatam Sofer (1762–1839), der als „höchste orthodoxe Autorität seiner Zeit“374 galt, sowie der Verfasser des populären Kizzur Schulchan Aruch Schlomo Ganzfried (1804–1886). Die einzelnen Begründungen, warum die Regel von katafres eno chibbur für die Verbindung von zwei vertikal angeordneten Mikwenbehältern außer Acht gelassen werden darf, fallen dabei sehr unterschiedlich aus –375 und zeugen somit auch auf diese Weise von der Komplexität des Sachverhalts, der selbst innerhalb der Orthodoxie noch ausgehandelt werden musste. Andererseits ließen sogar die vom Diwre Chajjim geäußerten Grundsätze eine vertikale haschaka unter bestimmten Bedingungen zu: einerseits dann, wenn die beiden Wasserbehälter lediglich durch eine Bodenplatte voneinander getrennt 370 Nach einer 22-jährigen Periode als Rabbiner in seiner Heimatstadt Tarnogród nahm Chaim Elasar Wachs 1862 eine Stelle als Rabbiner in Kalisch an; unter seiner Führung erhielt die bereits stark von der Reform beeinflusste Gemeinde nahe der deutschen Grenze wieder eine orthodoxe Prägung. Er gilt als einer der herausragendsten Gelehrten unter den polnischen Chassidim. Siehe Shlomo Katz, „R ׳Chaim Elazar Wachs“, unpag. 371 Vgl. Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 1, S. 71, 75. Siehe auch Leibman, „American Mikva’ot“, S. 81f, wonach in Paramaribo (Republik Suriname, Südamerika) bereits 1719 eine Mikwe mit vertikaler haschaka errichtet wurde. Der Grund war hier vermutlich, dass sich auf diese Weise das Wasser im (oberen) Tauchbecken leichter sauber halten ließ, da sich die Sedimentablagerungen durch das Brackwasser der Hafenstadt auf dem Boden des unteren Beckens sammelten. 372 Vgl. hierzu kurz Jachter, „Mikvaot Part 5“, unpag., sowie ausführlich zur vertikalen Bauweise und möglicher Kritik Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 1, S. 53–98. 373 Der für seine Gelehrsamkeit bekannte und angesehene Chaim Halberstam wirkte von 1830 bis zu seinem Tod als Rabbiner in Zanz (heute polnisch Nowy Sacz). Selbst Begründer einer chassidischen Dynastie, unterhielt er nichtsdestotrotz eine Jeschiwa, die sowohl von Anhängern der Chassidim als auch deren Gegnern geschätzt wurde (vgl. Meislish, „Halberstam“, S. 264f). 374 „Sofer, Moses“, in: BHR 1,1, S. 816–821, hier S. 816. 375 Vgl. kurz Jachter, „Mikvaot Part 5“, unpag., sowie ausführlich Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 1, S. 75–79.
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waren und somit als eine Mikwe gelten konnten, wie es im Fall des Lubawitscher Modells gegeben ist, und andererseits dann, wenn es sich bei dem Wasser für das Untertauchen um nur rabbinisch verbotenes hamschacha-Wasser handelt – wie bei Cohens Fassmikwe.376 Inwiefern lassen sich nun diese Überlegungen ganz konkret auf Cohens Fall übertragen? Zwar findet sich auch hier keine direkte Antwort auf die von Egers vorgebrachte Meinung, dass ein „auf dem Wasser“ angebrachter Behälter halachisch stets ein Gefäß bleibe. Nichtsdestotrotz scheinen die im Zusammenhang mit den beiden vertikalen Mikwenmodellen aus dem osteuropäischen Raum erörterten Fragen darauf hinzudeuten, dass diese Art der Anlage – Tauchbecken über Mikwe – kein grundsätzliches Problem darstellt, zumal dann, wenn man für den oberen Behälter hamschacha-Wasser nutzt. Die Frage, ob das Fass tatsächlich als Gefäß gilt oder nicht, müsste demnach unabhängig von Cohens spezieller Konstruktion erörtert werden, was weiter unten noch geschehen soll. Auch ist nicht auszuschließen, dass das bei Cohens Kritikern letztlich nur recht unbestimmt ausgedrückte Unbehagen hinsichtlich der Anordnung der Behälter möglicherweise einfach damit zusammenhängt, dass diese vertikale Verbindungsweise in den 1820er bis 30er Jahren, speziell im Gebiet des Deutschen Bundes, entweder völlig unbekannt oder zumindest noch weniger etabliert war, als dies später zu Zeiten des Lubawitscher Rebbe der Fall war. Der innerorthodoxe Konflikt, der sich dann andernorts um den Grundsatz katafres eno chibbur kristallisierte, würde sich demnach bereits in dieser frühen Kritik ansatzweise abzeichnen. Ein weiterer fundamentaler Unterschied zwischen den beiden orthodoxen Modellen und Cohens Mikwe besteht natürlich darin, dass bei ersteren die Verbindung zwischen den beiden Reservoirs nicht nur momentan besteht, sondern ständig aufrecht erhalten wird – wobei allerdings Cohens Handhabung dieses bereits in der Tradition umstrittenen Punktes gar nicht bemängelt wird. Selbst das ausführlichere Gutachten des Amsterdamer Rabbiners geht nicht wirklich auf derartige Besonderheiten der Konstruktion ein, sondern erschöpft sich stattdessen in einer allgemeinen Erörterung wichtiger Grundsätze (vor allem dem Verbot von geschöpftem Wasser), und einer gegen den Verfasser gerichteten Polemik, die diesen unter anderem als „Betrüger“, „Lügner“ und „Verführer“ diffamieren soll.377 Somit lässt sich an dieser Stelle festhalten: So sehr befremdend Cohens Methode auf den ersten Blick auch sein mag, so wenig scheinen die in den beiden betrachteten Gutachten vorgebrachten Argumente letztlich geeignet, diese von Grund auf als Werk eines unwissenden und anmaßenden „Toren“378 zu verdammen. Zwar können 376 Vgl. Jachter, „Mikvaot Part 5“, unpag. 377 Vgl. Sutro, Sefer milchamot ha-schem, S. 143–147. Egers ist in seiner auf den Autor gerichteten Kritik etwas zurückhaltender; siehe ebd., S. 148f. 378 Vgl. ebd., S. 144, 146.
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und sollen die hier angestellten Überlegungen keine halachische Rechtfertigung von Cohens Mikwe sein, zumal nicht alle Details der Anlage und ihrer Funktionsweise in der Beschreibung angesprochen werden bzw. eindeutig daraus hervorgehen, wie beispielsweise die Frage der richtigen ‚Pflege‘ der eigentlichen Mikwe („Grube“) oder die Erwärmung des Wassers. Da bei der einfacheren Variante Regenwasser als koscheres Mikwenwasser fungiert, kann Wasser (welcher Art auch immer) auf dem Weg in den Behälter nicht ohne Weiteres erwärmt werden, was Cohen so nicht thematisiert – und hier wäre aus orthodoxer Sicht tatsächlich ein Missbrauch zu befürchten, insbesondere im Fall der Hausmikwe.379 Dennoch vermag eine eingehende Auseinandersetzung mit der vertikalen Methode sowohl bei Cohen als auch anderswo die geäußerte Kritik zu relativieren und den Blick gleichzeitig auf weitere Aspekte zu lenken: Inwieweit ging es wirklich um eine sachliche Wertung der neuartigen Anlage, und wie sehr beeinflussten möglicherweise andere Faktoren deren Beurteilung? Die Fassmikwe als Teil eines innerjüdischen Konfliktes
Bereits die an vielen Stellen geäußerte Polemik weist darauf hin, dass die Argumentation noch einem weiteren Zweck dient, über die sachliche Ebene hinaus, nämlich der Abgrenzung gegenüber einer für das Judentum als gefährlich empfundenen Entwicklung. Besonders im Gebiet des von 1807 bis 1813 bestehenden Königreichs Westphalen hatten sich liberal eingestellte Juden, allen voran der ehemalige Hoffaktor und Vorsitzende des Konsistoriums der Israeliten Israel Jacobson (1768–1828), darum bemüht, die äußere Form des Judentums derjenigen der christlichen Religion anzugleichen und sie hierdurch in den Augen aufgeklärter Juden wie auch der christlichen Umwelt aufzuwerten.380 Zwar bedeutete der Untergang des von Napoleon ins Leben gerufenen Modellstaats Westphalen auch das formale Ende dieser ersten von staatlicher Seite geförderten und nach außen sichtbaren Reformbewegung im Judentum, aber nichtsdestotrotz lebte der liberale Geist in einer Vielzahl von Gemeinden weiter, so dass das ländlich geprägte Westfalen auch unter preußischer Herrschaft als ein Zentrum des Reformjudentums gelten konnte.381
379 Enthält die Mikwe wenigstens 40 se’a Regenwasser, so kann selbstverständlich zusätzlich erwärmtes Wasser hinzugegossen werden, was aufgrund der Fassgröße aber nur in sehr begrenztem Rahmen möglich ist. Wird das warme Wasser per hamschacha zugeleitet, so reicht bereits etwas mehr als das halbe halachische Mindestmaß an koscherem Wasser aus. Möglicherweise geht Cohen auch davon aus, dass im Fall der Hausmikwe auf eine zusätzliche Erwärmung des Wassers verzichtet werden kann, da es durch längeres Stehen Zimmertemperatur angenommen hat und das Untertauchen zudem in einem geheizten häuslichen Raum stattfindet. 380 Vgl. zu diesem Thema Kollatz, „Westfälisches Judentum“, S. 98–108. 381 Vgl. Herzig, Judentum und Emanzipation, S. 40–54, insbesondere S. 45f.
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Der bereits 1815 zunächst „provisorisch“ als Landesrabbiner von Westfalen eingesetzte Abraham Sutro, der sich dann ab 1830 der Orthodoxie zuwendete, bildete in dieser Hinsicht eine Ausnahme und musste sich im Laufe seiner Amtszeit immer wieder gegen vielfältigen Druck behaupten.382 Die Frage der Amtsnachfolge von Oberrabbiner Menachem-Mendel Steinhardt (1768–1824), zuständig für das ehemalige Fürstentum Paderborn,383 hatte er bereits 1826 durch geschicktes Agieren zu seinen Gunsten entschieden, und so seinen umstrittenen Zuständigkeitsbereich weiter ausdehnen können.384 Einer der unterlegenen Mitbewerber war damals der Geseker Rabbiner Hirsch Cohen, der jedoch auch weiterhin bis zu seinem Tod 1832 die Aufgaben eines Rabbiners im ehemaligen Herzogtum Westfalen und den Wittgensteinischen Grafschaften wahrnahm und damit Sutros Einflussbereich als Landesrabbiner faktisch schmälerte. Unter diesen Vorzeichen also – einem Richtungskampf zwischen Orthodoxie und Reformkräften, der auch eine geographische Dimension aufwies – fand Sutros ab 1830 einsetzende Abrechnung385 mit Cohens Erfindung eines modernisierten Frauenbades statt. Nicht zuletzt ein Aspekt der Auseinandersetzung erhält vor diesem Hintergrund nochmal besonderes Gewicht, nämlich die von Sutro geäußerte Sorge, die von Cohen entworfenen Mikwen würden ohne Aufsicht eines rabbinischen Dezisors ()חכם ומורה הוראה בישראל386 errichtet, und der im Zusammenhang mit der Emanzipation allgemein bereits beschnittene rabbinische Einflussbereich somit weiter zurückgedrängt. Dabei würde dieser befürchtete Kontrollverlust natürlich in besonderem Maße die Variante der Hausmikwe betreffen, und tatsächlich warnt Sutro zu Beginn ausdrücklich, dass „diese Mikwen aus den Häusern zu entfernen“387 seien, womit er sehr wahrscheinlich gerade die in Privathäusern vorhandenen Mikwen im Blick hatte. Auch der von Egers kritisierte Umstand, dass Cohens Schrift in der Landessprache (nicht in Hebräisch) verfasst ist,388 lässt sich in diesem Kontext als Affront werten, nämlich ein Versuch, die ausschließlich rabbinische Expertise in Religionsangelegenheiten gewissermaßen zu egalisieren. Die Zeichen der Zeit standen auf Konfrontation und Abgrenzung,389 und eine der Sache dienende Verständigung mit Cohens Position
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Vgl. ebd., S. 46–54. Zu Rabbiner Steinhardt vgl. „Steinhardt, Menachem-Mendel“, in: BHR 1,2, S. 838f. Vgl. hierzu insbesondere Herzig, Judentum und Emanzipation, S. 46f (Anm. 29). 1830 ist das Jahr, das in der Literatur als Wendepunkt in Sutros religiöser Ausrichtung genannt wird (vgl. „Sutro, Abraham“, in: BHR 1,2, S. 846; Herzig, Judentum und Emanzipation, S. 46), und zugleich das Jahr, auf das die beiden Gutachten in seiner Schrift datiert sind. Sutro, Sefer milchamot ha-schem, S. 149. Ebd., S. 142. Ebd., S. 148. Vgl. hierzu auch Herzig (Hg.), Quellen, S. 41–43.
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musste umso mehr ausgeschlossen werden, als dieses deutsche Büchlein eine gänzlich neuartige Mikwe zu propagieren schien, die mit ihrer hölzernen Wanne schon auf den ersten Blick primär dem Ideal bürgerlicher Reinlichkeitskultur verpflichtet schien und nicht der jüdischen Tradition. Wären die Reaktionen ähnlich emotional ausgefallen, wenn Cohen in hebräischer Sprache zwar eine vertikale Mikwe mit Rohrverbindung, aber herkömmlichem Becken vertreten hätte, wie sie im Laufe des Jahrhunderts im polnischen Raum aufkam? Diese Frage ist natürlich nicht zu beantworten, aber es kann doch vermutet werden, dass die Diskussion wie dort eher auf der Sachebene geführt worden wäre und auf diese Weise verschiedene konkurrierende Ansichten hervorgebracht hätte. Eine Mikwe jedoch, die schon allein durch ihr Aussehen den Unterschied zu einer bürgerlichen Badewanne zu verwischen drohte, konnte von orthodoxer Seite unter keinen Umständen hingenommen werden, hieße dies doch letztlich, sich selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen! Und dass die von Cohens Entwurf ausgehende ‚Gefahr‘ durchaus eine reale war, zeigt bereits die obengenannte Stelle in Sutros Schrift, aus der sich mit einiger Sicherheit ableiten lässt, dass derartige Mikwen schon in manchen Privathäusern bestanden; auch gibt Sutro als Begründung, warum die Mikwen aus den Häusern zu verbannen seien, folgendes an: „Und weil es so ist, dass viele durch sie [die neuartigen Mikwen] straucheln, deshalb warne ich hiermit mein Volk abermals und abermals, diese Mikwen aus den Häusern zu entfernen […].“390 Zwar ist auf Basis dieser Stelle kaum zu entscheiden, in welchem Umfang Cohens Projekt bereits auf Resonanz gestoßen war, jedoch schreibt auch Cohen selbst im Vorwort seiner Reinigungs-Ordnung, er habe „mitunter die Freude gehabt, eine und die andere Familie dahin zu bringen, sich mit Hülfe einer, nach der unten beschriebenen Ordnung angelegten Badewanne, des warmen Wassers statt des kalten zu bedienen.“391 Zwei Jahre nach Erscheinen war Cohens Schrift vergriffen, was zu einem erheblichen Teil damit zusammenhängen dürfte, dass die preußische Bezirksregierung zu Arnsberg sie einerseits veranlasst hatte und somit ideell förderte.392 Tatsächlich entsprach Cohens Modell sämtlichen Anforderungen an eine moderne Mikwe, die von Behörden seinerzeit erhoben werden konnten: Der Tauchbehälter war ebenerdig (d. h. in einem normalen und damit heizbaren Raum) gelegen,393 das Wasser wärmbar und konnte zudem beliebig oft erneuert
390 Sutro, Sefer milchamot ha-schem, S. 142. 391 H. Cohen, Reinigungs-Ordnung, S. 9. 392 Vgl. [Fränkel], „Literatur“, S. 398f; zum Veröffentlichungsdatum dieser Ausgabe siehe oben Anm. 327. 393 Eine interessante Parallele zu Cohens angefochtener Methode, jedoch mit Lösung von orthodoxer Seite, findet sich nach 1862 im polnischen Kalisch. Hier war es offensichtlich zu einer Spaltung unter den Frauen gekommen, von denen sich viele weigerten, das traditionelle, sehr tief gelegene Tauchbecken zu nutzen, und die stattdessen eine ebenerdige Mikwe mit klarem Wasser forderten.
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werden, um einen ausreichenden Hygienestandard zu ermöglichen. Andererseits sorgte die Regierung in Arnsberg in einem zweiten Schritt ganz praktisch für die Verbreitung des Bändchens in den jüdischen Gemeinden ihres Bezirks. Das Beispiel der in diesem Regierungsbezirk gelegenen Stadt Lünen, in der 1818 acht jüdische Familien (49 Personen) lebten,394 zeugt von der relativ großzügigen Verteilung der Schrift unter der Judenschaft, für die der Bürgermeister des Ortes verantwortlich war. Dieser erhielt mit Datum des 22. Januar 1825 Folgendes mitgeteilt: Auf höhere Veranlaßung hat der Rabbiner Cohen zu Geisecke einen, die Belehrung seiner Glaubens-Genoßen über diesen Gegenstand bezielenden, Aufsatz entworfen, der zweckmäßig gefunden und, nach geschehener Umarbeitung und klarer Darstellung des wesentlichen Inhalts zum Besten der Israeliten hinsichtlich der Abwendung jener Nachtheile durch genaue Beobachtung der gegebenen Vorschriften, unter dem Titel: Reinigungs-Ordnung, zum Gebrauche der israelitischen Weiber – zum Drucke befördert ist. Sie erhalten hierbei für die Judenschaft zu Lünen 4 Exemplare mit dem Auftrage solche daselbsten unter diejenigen Familien, von welchen zu erwarten steht, daß sie vor andere einen nützlichen Gebrauch davon machen werden und auch die Mittel zur Anschaffung der Badewanne besitzen gegen einzusendende EmpfangsBescheinigungen; unter der Bedingung diese Schrift auch den übrigen Judenfamilien die solche nicht erhalten konnten zur Einsicht mitzutheilen, unentgeldlich zu vertheilen. Außerdem werden Sie auf die mit dem Zwecke der Reinigungsordnung im Allgemeinen bekannt zu machenden Synagogen-Vorsteher dahin zu würken suchen, daß der Inhalt derselben nach den gegebenen Vorschriften in Anwendung komme.395
Dem entsprach man nur wenig später, indem der Gemeindevorsteher sowie drei weitere Personen jeweils ein Exemplar ausgehändigt bekamen mit der Auflage, auch ihre Glaubensgenossen zu informieren und „die nöthigen Belehrungen zu geben.“396 Insgesamt wurden auf diese Weise 426 Exemplare der Reinigungs-Ordnung an jüdische Familien ausgegeben.397 Vor dem Hintergrund des Gesagten scheint somit einiges darauf hinzudeuten, dass es bei der in Sutros Schrift wiedergegebenen Kritik an Cohens Reformmikwe tatsächlich weniger um eine sachliche Auseinandersetzung ging, als vielmehr
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Aus diesem Grund plante der dortige Rabbiner, Chaim Elasar Wachs, eine vertikale Anlage mit Rohrverbindung; siehe Y. Katz, Sefer mikwe, Bd. 1, S. 71. Alicke, „Lünen (Nordrhein-Westfalen)“, in: Lexikon der jüdischen Gemeinden, Bd. 2, Sp. 2612–2615, hier Sp. 2612f. Stadtarchiv Lünen, Bürgermeister Schultz, Akte 590: Schreiben des Landrats an den Bürgermeister von Lünen vom 22.1.1825. Stadtarchiv Lünen, Bürgermeister Schultz, Akte 590: Übergabe-Protokoll vom 9.2.1825. [Fränkel], „Literatur“, S. 399.
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um die Sache der Orthodoxie. Ob man Cohens Methode, nicht zuletzt wegen seiner Berufung auf die umstrittene Stelle bei Maimonides zur hamschacha-Praxis, tatsächlich (willentlich?) missverstand oder nicht, wird hierdurch letztlich zweitrangig: Man wollte und musste sich innerhalb der orthodoxen Welt nicht auf die Details einer Anlage einlassen, die allein mit ihrer hölzernen Wanne ein eindrückliches Symbol dessen war, was es aus orthodoxer Sicht zu verhindern galt. Hinzu kam, dass Cohen eine Technik anwendete, die noch lange nicht etabliert war, ja deren halachische Dimensionen nicht einmal hinreichend ausgelotet waren; die hierdurch bewirkte Verunsicherung schlug sich dann möglicherweise in der relativ vagen Kritik an der vertikalen Bauweise nieder, wonach ein Tauchbehälter „auf dem Wasser“ nicht zulässig sei. Darüber hinaus ist ebenso damit zu rechnen, dass manche orthodoxe Rabbiner zu dieser Zeit der Verwendung von Regenwasser, aufgrund der größeren halachischen Komplexität, grundsätzlich noch misstrauisch gegenüberstanden; selbst heute sind einige chassidische Gruppierungen wieder dazu übergegangen, Mikwen auf Quellwasserbasis zu errichten.398 Zwar beschreibt der Amsterdamer Rabbiner Berenstein die in seiner Stadt bereits gebräuchliche Nutzung einer Zisterne mit Regenwasser,399 jedoch zeugen beispielsweise die Vorgänge um einen Mikwenneubau in Fürth Anfang der 1830er Jahre von dem andernorts nach wie vor vorhandenen Unbehagen gegenüber Regenwasser. So argumentierte man seitens der orthodoxen Gemeindemitglieder gegen den geplanten Bau einer Regenwasseranlage unter anderem damit, dass nach dem Beschluss ihres ehemaligen Rabbiners „nur ein Wannenbad mit Regenwasser erlaubt sey, wann ein Quellenbad unmöglich ist, zu erreichen“400 . Nicht zuletzt ist Sutros Schrift schon deshalb mehr auf Festigung der eigenen orthodoxen Position ausgerichtet und weniger auf eine sachliche Verständigung nach außen, weil er als Antwort auf eine deutsche Publikation gerade das Medium einer hebräischen Streitschrift wählt, und somit eine öffentliche Debatte in größerem Rahmen von vornherein ausschließt.401 Die Auseinandersetzung um Cohens Reformmikwe, so wie sie sich in Sutros Schrift
398 Vgl. hierzu sowie zur Problematik des Regenwassers Jachter, „Mikvaot Part 2“, unpag. 399 Sutro, Sefer milchamot ha-schem, S. 147. 400 Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem, D/Fu 1,499: Schreiben von zehn Gemeindemitgliedern an den Gemeindevorstand vom 18.6.1834, zit. nach: Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 289. 401 Wie Herzig anmerkt, lässt auch der Veröffentlichungsrahmen von Sefer milchamot ha-schem – vier Bände, herausgegeben von unterschiedlichen Verlegern zwischen 1836 und 1864 – darauf schließen, dass eine solche Schrift nur noch auf eine kleine Leserschaft hoffen konnte (Quellen, S. 45). Bezeichnenderweise erschien im gleichen Jahr wie Sutros erster Band gewissermaßen das Gründungsmanifest des neo-orthodoxen Judentums, und zwar in Gestalt eines kleinen deutschsprachigen Bändchens, das lediglich noch einen hebräischen Paralleltitel führte: Iggrot zafon. Neunzehn Briefe über Judenthum von Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888). Zur Bedeutung von Hirsch und seinem Werk siehe Simha Katz/Amir, „Hirsch, Samson (ben) Raphael“, S. 129–132.
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niederschlägt, war – zumindest auch – ein ‚politischer‘ Konflikt, ein Kampf um Hoheitsrechte, und da, wo es Sutro gelang, seine Glaubensgenossen zu überzeugen und eine vorhandene Hausmikwe aufzugeben, hatte er im wörtlichen Sinn Land gewonnen. Diese Beobachtung deckt sich zugleich mit Arno Herzigs Vermutung, Sutros kompromissloses Einschreiten für die Sache der Orthodoxie habe damit zu tun, dass er den unter Druck von außen herbeigeführten Wandel des Rabbineramtes innerlich nicht mitvollzogen hatte: Er sah das Rabbineramt weiterhin in der Tradition des alten Landrabbinats. […] Und so arbeitete er auf ein Oberrabbinat bzw. Landrabbinat für ganz Westfalen hin, in dem alle ehemaligen Landrabbinate aufgehen sollten. Der Land- bzw. Oberrabbiner der gesamten Provinz hatte nach seiner Auffassung keine seelsorgerischen Funktionen zu erfüllen, sondern die Aufgabe, unterstützt von der Regierung, über die Reinheit des jüdischen Kultus zu wachen.402
In diesem Sinn war auch das Vorgehen gegen die von Cohen eingeführte Reformmikwe, welche nach eigener Aussage auch dessen liberaler Amtsnachfolger Rabbiner Joseph Friedländer (1753–1852)403 mit vorangetrieben hatte, Teil von Sutros Ringens um die unwidersprochene Autorität als orthodoxer Landesrabbiner von Westfalen. 6.2.2.2 Die Frage der hölzernen Wannen: Rabbiner Samsons Wolf Rosenfelds Bamberger Regenwasser-Mikwe
Ungeachtet dieser Stoßrichtung von Sutros Kritik bleibt die Frage, inwieweit auch eine hölzerne Wanne als Tauchbehälter noch mit orthodoxen Prinzipien in Einklang gebracht werden kann. Interessanterweise beschreibt selbst die orthodoxe Fraktion aus Fürth 1834 in ihrer Argumentation gegen eine Mikwe auf Regenwasserbasis eine solche gerade als „Wannenbad mit Regenwasser“, das nur im Notfall genutzt
402 Herzig (Hg.), Quellen, S. 43. 403 Friedländer wurde 1833 Cohens Nachfolger als Rabbiner für das Fürstentum Westfalen, unterstützte jedoch schon zuvor, während seiner Tätigkeit als Lehrer in Brilon ab 1817, Rabbiner Cohen auch in theologischen Fragestellungen. Nach seiner Amtseinführung als Rabbiner setzte er verschiedene Reformen durch, die ihn in Konflikt mit der orthodoxen Fraktion in Westfalen unter Leitung Sutros geraten ließen (vgl. hierzu sowie allgemein zu seiner Biographie „Friedländer, Joseph“, in: BHR 1,1, S. 343f). Friedländers Aussage zu seiner Mitwirkung in der Angelegenheit der Mikwen findet sich in einem Schreiben an die Regierung in Münster, in dem er sich gegen Vorwürfe seitens Abraham Sutros verteidigt (veröffentlicht erstmals 1841 in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums): „Landrabbiner Joseph Abraham Friedländer, Brilon, an die Regierung in Münster [Auszug]“, in: Herzig (Hg.), Quellen, S. 135–139, hier S. 136.
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werden dürfe – aber somit offensichtlich nicht grundsätzlich verboten ist! Auch andernorts in Franken fasste man Regenwassermikwen seit den 1830er Jahren als eine kostengünstige Alternative zu den herkömmlichen Kellermikwen ins Auge, die häufig den behördlichen Auflagen nicht mehr entsprachen. Als bekanntestes Beispiel hierfür kann die innovative Anlage in Bamberg gelten, die 1832 nach dem Entwurf von Stadt- und Distrikts-Rabbiner Samson Wolf Rosenfeld (1783–1862)404 in einem Gebäude des Gemeindeanwesens angelegt wurde.405 Auch diese Mikwe und ihr Erfinder blieben nicht ganz unangefochten, wenngleich Rosenfeld nach dem Urteil eines Zeitgenossen „mit einigem reformistischen Anstrich (er konnte d e ut s ch schreiben), im Allgemeinen für orthodox“406 galt. Tatsächlich ist er als gemäßigter Reformer zu werten,407 der durchaus auch bei orthodoxen Juden Anerkennung fand, wie die Vorgänge um die Wahl des neuen Rabbiners in Fürth 1830 zeigen. Da die Abstimmung des Gemeinderates keine klare Entscheidung zwischen den beiden Kandidaten, Samson Wolf Rosenfeld und Isaak Löwi, gebracht hatte, versuchte die orthodoxe Fraktion im Nachgang die Entscheidung, die nun bei den Behörden lag, für Rosenfeld zu beeinflussen – allerdings erfolglos, die Kreisregierung bestätigte stattdessen am 31. Dezember 1830 den liberaleren Löwi als künftigen Stadt- und Distriktsrabbiner.408
404 Zu Rosenfelds Leben und Werk siehe „Rosenfeld, Samson Wolf “, in: BHR 1,2, S. 751–753, sowie Wiesemann, „Samson Wolf Rosenfeld“, S. 77–83. Zu Rosenfelds Geburtsjahr finden sich unterschiedliche Angaben zwischen 1780 und 1783, ich übernehme hier 1783 nach dem Handbuch der Rabbiner, welches allem Anschein nach die richtige Angabe ist; vgl. hierzu Rosenfelds Bewerbungsschreiben um die Rabbinerstelle in Bamberg von 1825, abgedruckt in: Eckstein, Kultusgemeinde Bamberg, S. 57. 405 Für das Baujahr siehe Loebl, Juden in Bamberg, S. 38. Für eine detaillierte Beschreibung der Anlage siehe die Auseinandersetzung hiermit in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums von 1840 sowie im Literaturblatt des Orients von 1845: [Joseph] Klein, „Ebenfalls zur Beachtung“, S. 420f; Samuel Mayer, „Frauenbäder“, Sp. 307f; Rosenfeld, „Der Brauch der Frauenbäder“, Sp. 389–392. Die guten Kenntnisse der Verhältnisse in Bayern sowie das offensichtliche Wohlwollen gegenüber Rosenfeld und seiner Erfindung deuten darauf hin, dass es sich bei dem Verfasser des Leserbriefs in der Allgemeinen Zeitung des Judenthums, der neben dem Familiennamen noch die Ortsangabe Strelitz nennt, aller Wahrscheinlichkeit nach um den Schwiegersohn Rosenfelds, Rabbiner Dr. Joseph Klein (1807–1873) handelt. Dieser war 1840 als Prediger und Dajan (Rabbinatsassessor) an dem heute Neustrelitz (Mecklenburg-Vorpommern) genannten Ort tätig. Klein hatte bereits als junger Erwachsener Privatstunden in Talmud bei Rabbiner Rosenfeld erhalten, 1833 legte er bei ihm sein Rabbinatsexamen ab und wirkte zeitweilig als sein Adjunkt; siehe „Klein, Joseph Dr.“, in: BHR 1,2, S. 526f. 406 Krämer, „Geschichte der Juden in Bayern“, S. 118 (Anm.); Hervorhebung im Original. Vgl. auch den Eintrag im Handbuch der Rabbiner, das diese Stelle ebenfalls zitiert („Rosenfeld, Samson Wolf “, in: BHR 1,2, S. 751). 407 Vgl. hierzu auch Groiss-Lau, „Jüdische Öffentlichkeit“, S. 189–208. 408 Vgl. Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 283f. Löwi amtierte bis wenige Jahre vor seinem Tod als Rabbiner in Fürth, vgl. hierzu ebd., S. 290f.
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Auch Rosenfelds Mikwe war mehr als eine einfache Anlage auf Regenwasserbasis, bot sie doch gleich zwei technische Details, die sie als etwas völlig Neuartiges oder zumindest Außergewöhnliches kennzeichneten, nämlich die Nutzung von hölzernen Wannen sowie die Technik der haschaka-Verbindung. In seiner öffentlichen Verteidigung ihrer halachischen Zulässigkeit von 1845, abgedruckt als Antwort auf einen vorausgegangen Beitrag zum Thema „Frauenbäder“ im vornehmlich an das jüdische Bildungsbürgertum gerichteten Literaturblatt des Orients,409 hebt Rosenfeld hervor, dass seine Einrichtung nichtsdestotrotz auf längst angewendeten Prinzipien beruhe, die er lediglich weiterentwickelt habe: Nur hinsichtlich der Zweckmäßigkeit und Brauchbarkeit der Anstalt ging ich einen Schritt weiter, und ließ zwei Wannen nach der Länge nebeneinander stellen, die […] durch ein Rohr, das man nach Belieben öffnen und verschließen kann, verbunden sind. Es hatte diese Einrichtung den großen Vortheil, daß man wechselweise in e i ne Wanne zu jeder Stunde frisches Wasser einlassen kann, ohne einen Regen abwarten zu müssen. […] Ist einmal das gehörige Maaß Regenwasser gesammelt, dann wird dasselbe, vermittelst der [ השקהhaschaka], für immer entbehrlich, und wurde nur dann nothwendig, wenn beide Wannen zugleich geleert werden mußten. […] Daß außerhalb des Badezimmers ein Kessel zur Erwärmung eines Theiles der Wasser, und innerhalb desselben ein Ofen, behufs der Heizung zur Winterzeit nicht fehlen darf, versteht sich von selbst.410
Mehr noch als bei Cohens früherer Version der ‚Fassmikwe‘ ähneln diese beiden ovalen Zuber, die „nach der Länge nebeneinander“ aufgestellt werden, einer modernen Badewanne (Abb. 13)! Die Funktionsweise beruht hier wie bei Cohen auf dem Berührungsprinzip (haschaka), allerdings in der weniger ungewöhnlichen Form der horizontalen Verbindung und ohne die zusätzliche Komponente der hamschacha-Einleitung. Letztere kann entfallen, da Rosenfeld offensichtlich eine Verbindungsröhre von ausreichender Größe, wie nach dem Schulchan Aruch vorgeschrieben, verwendet.411 Demgemäß bezieht Rosenfeld die im Literaturblatt von seinem Amtskollegen Dr. Samuel Mayer (1807–1875)412 vorgebrachten Bedenken auch lediglich auf die Beschaffenheit des Behälters für das Untertauchen. Mayer, ein Anhänger des von Zacharias Frankel vertretenen ‚konservativen‘ Mittelwegs zwischen Liberalem Judentum und Orthodoxie, war offensichtlich über den publizierten Vortrag des badischen Arztes Dr. Mezger auf die Bamberger Anlage aufmerksam geworden;
409 410 411 412
Samuel Mayer, „Frauenbäder“, Sp. 307f. Rosenfeld, „Der Brauch der Frauenbäder“, Sp. 391 (Hervorhebungen im Original). Vgl. SchA, Jore de‘a 201,52, worauf sich Rosenfeld an der genannten Stelle beruft. Zu seinen biographischen Daten vgl. „Mayer, Samuel Dr.“, in: BHR 1,2, S. 651f.
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wie genau er über deren Besonderheiten informiert war, ist nicht zu entscheiden, da sich die geäußerten Zweifel nicht gegen ein bestimmtes Detail, sondern nur die Anlage als solche richten. Rosenfeld erörtert daraufhin in seiner Antwort zwei Fragen: zum einen, ob es überhaupt gestattet sei, in ‚Gefäßen‘ unterzutauchen, und zum anderen, ob diese auch aus Holz gefertigt sein dürften. Beides kann er auf der Grundlage von einflussreichen traditionellen Schriften positiv beantworten: Ein mit ausreichend großem ‚Alibi-Loch‘ versehener hölzerner Behälter sei nicht nur halachisch zulässig, vielmehr habe man „in der Praxis schon längst Anwendung von dieser Theorie gemacht“.413 Tatsächlich bestätigen verschiedene Berichte über hölzerne ‚Badkästen‘ in Mikwen wie auch die damit verbundenen Erörterungen in hebräischen Responsen Rosenfelds Argumentation.414 Zum Zeitpunkt dieses öffentlichen Austauschs hatte Rosenfelds Anlage den eigentlichen Praxistest längst bestanden; allen Widerständen zum Trotz fand sein Modell offensichtlich auch über Bamberg hinaus Verbreitung, wie Simon Krämer in einer Würdigung Rosenfelds 1866, vier Jahre nach dessen Tod, resümiert: Ferner fällt in das [sic] Bereich dieses gedeihlichen Wirkens […] die Einrichtung von Frauenbädern m ittelst R ege nw ass e r, welche Verbesserung nur derjenige zu würdigen weiß, der sich noch der großen sanitätswidrigen Uebelstände erinnert, welche die frühern Kellerquellenbäder im Gefolge hatten. Rosenfeld trat, wegen dieser Meinung angegriffen, mit seinem bessern Wissen in die Schranken, machte die Gegner verstummen und erwarb sich damit, bei vielseitiger Nachahmung selbst Seitens der Hyperorthodoxen, ein Verdienst, das tiefer geht, als unsre Jetztzeit sich denken kann.415
Ähnlich positiv hatte sich auch bereits 1840 Rosenfelds Schwiegersohn, Rabbiner Joseph Klein, geäußert, nach dessen Worten die Mikwe die Zustimmung „selbst der strengst orthodoxen Israeliten“ sowie „schon manche Nachahmung in der Umgegend“ gefunden habe.416
413 414 415 416
Rosenfeld, „Der Brauch der Frauenbäder“, Sp. 391. Vgl. hierzu Kapitel 3.3.2, Abschnitt Kreative Lösungen. Krämer, „Samson Wolf Rosenfeld“, S. 28f (Hervorhebung im Original). [Joseph] Klein, „Ebenfalls zur Beachtung“, S. 421. Zu Rabbiner Joseph Klein als Verfasser des Leserbriefs siehe oben Anm. 405.
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Abb. 13 Bauzeichnung der Bamberger Regenwassermikwe von 1832
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Dabei war die 1832 eingerichtete Bamberger Regenwassermikwe nicht die erste ihrer Art in Franken gewesen, vielmehr hatte man mit Rosenfelds Rückendeckung bereits 1829 im oberfränkischen Örtchen Dormitz, mit einer jüdischen Einwohnerschaft von 110 Personen im Jahr 1824,417 eine moderne Mikwe errichtet.418 Möglicherweise lässt sich auch die ein Jahr später, nämlich 1830 in Markt Erlbach (Mittelfranken) geplante Mikwe mit Rosenfelds Wirken in Verbindung bringen, zumal in diesem Kontext bereits die Problematik eines Tauchbehälters aus Holz erörtert wurde. Auch die äußeren Umstände legen durchaus nahe, dass es sich hierbei um eine Art Vorgängerversion von Rosenfelds zugleich kostengünstigem und auflagenkonformen Modell handelt: Trotz des ländlichen Umfelds und ihrer Größe von nur etwa 80 Mitgliedern419 war die Markt Erlbacher Gemeinde offensichtlich sehr aufgeschlossen gegenüber liberalen Tendenzen im Judentum, hatte man sich doch nicht nur formal dem Uehlfelder Rabbinat unter Führung von Rabbiner Löwi angeschlossen, sondern vollzog auch dessen späteren Wechsel nach Fürth mit.420 In Uehlfeld wiederum, mit 232 Mitgliedern im Jahr 1811 und ihrem eindrucksvollen Synagogenneubau von 1818 die bedeutendste jüdische Gemeinde des näheren Umkreises, wirkte als Löwis unmittelbarer Amtsvorgänger von 1808 bis 1825 der im Ort geborene Rabbiner Samson Wolf Rosenfeld.421 Rosenfeld richtete sein Bemühen in dieser Stellung in besonderem Maß auf die „bürgerliche und moralische Kultur“ seiner Glaubensgenossen und speziell eine hierfür geeignete Schulbildung; zwar ist auch er stolz auf die weithin anerkannte Architektur der neuen Synagoge, verortet diese äußerliche Komponente aber im Gefüge einer inneren Reform, indem er betont, dass „mit deren Einweihung ein verbesserter Gottesdienst bezielt und auch zustande gebracht wurde.“422 Angesichts der räumlichen Entfernung von etwa 30 km zwischen den beiden Ortschaften kann man davon ausgehen, dass Rosenfelds Kurs den Markt Erlbacher Juden ebenfalls bekannt war und sie ihm und seinem – eher gemäßigten – Reformprogramm grundsätzlich positiv gegenüberstanden, sein Einfluss vielleicht gar den Grund für die später unter Löwi deutlich sichtbare liberale Ausrichtung der Gemeinde legte. Vor dem Hintergrund des Wirkens von gleich zwei modernen Rabbinern im nahen Uehlfeld mag es somit nicht allzu sehr verwundern, dass auch die kleine jüdische Gemeinde von Markt Erlbach sich schon früh für den Bau einer Mikwe
417 Die Zahlen sind entnommen: Alicke, „Dormitz (Oberfranken/Bayern)“, in: Lexikon der jüdischen Gemeinden, Bd. 1, Sp. 955f. 418 Vgl. Groiss-Lau, „Landgemeinden in Franken“, S. 144, sowie dies., „Landgemeinde Dormitz“, S. 59–62. 419 Hohn, Beschreibung des Königreichs Bayern, S. 341f; vgl. auch o.V., „Markt Erlbach“, unpag. 420 Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 285. 421 Ebd., S. 666, 669f. 422 Eckstein, Kultusgemeinde Bamberg, S. 57f.
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entschied, die vom vorherrschenden Muster der Kellermikwen abwich. Offensichtlich sollten – erstmals in dieser Region – hölzerne Behälter für das Untertauchen verwendet werden, weshalb die Kreisregierung 1830 den zuständigen Rabbiner zu einem Gutachten hierüber aufforderte. Löwi, dem als Rabbiner von Uehlfeld diese Aufgabe zukam, betont in seinem Schreiben die halachische Zulässigkeit dieses besonderen Details, ohne dass er auf ein andernorts bereits vorhandenes Vorbild für diese „ins Leben zu tretenden […] Badewannen“423 hinweisen würde. Seine Argumentation ist dabei relativ einfach, nicht vergleichbar mit der komplexen Erörterung Rosenfelds von 1845, und basiert auf den bekannten Grundsätzen zu Mikwen im Allgemeinen und der im Schulchan Aruch beschriebenen Methode des ‚Alibi-Lochs‘ im Besonderen.424 Insofern als Löwi auch die Möglichkeit zusätzlicher „Oeffnungen u. Ableitungen u. Verstopfungen“425 anspricht, könnte es sich bereits um Rosenfelds später in Bamberg verwendetes Prinzip oder eine ähnliche Konstruktion handeln; das Nichtvorhandensein von weiteren Hinweisen in Löwis Gutachten macht allerdings eine einfache Regenwasseranlage wahrscheinlicher – die aber nichtsdestotrotz ein Mosaik auf dem Weg zu Rosenfelds Weiterentwicklung in Bamberg bilden könnte. Auffällig ist, wie sehr Löwi betont, sein Plädoyer für die hölzernen Tauchbehälter im „Geiste des Rabbinismus“, d. h. im Einklang mit einem traditionellen Verständnis des Judentums, zu erstellen. So begegnet diese bzw. eine ähnliche Formulierung nicht nur in seinem Begleitschreiben und sodann im Titel des Gutachtens426 , sondern auch im Auftakt seines dort formulierten Fazits: „Die Zulässigkeit der Wannenbäder zum Behufe der Reinigung israelitischer Frauen nach ihrer Absonderungszeit ist selbst im Geiste des Rabbinismus ausser allem Zweifel […].“427 Warum dieser besondere Nachdruck auf die Vereinbarkeit der neuartigen Mikwen mit dem traditionellen Judentum? Selbstverständlich ist dies auf das allgemeine Dilemma derjenigen frühen Reformer zurückzuführen, die von den weltlichen Behörden zwar wie Löwi in gewissem Umfang unterstützt wurden, dabei aber stets den Eindruck vermeiden mussten, in irgendeiner Form Atheismus oder eine Abspaltung vom Judentum zu propagieren. Löwi bekam die Gefahr seines Vorgehens 423 StA Nürnberg, Reg. v. Mfr., K.d.I. Abg. 1932, Tit. V, Nr. 312 I: Schreiben von Rabbiner Löwi an das Königliche Landgericht vom 20.6.1830. 424 StA Nürnberg, Reg. v. Mfr., K.d.I. Abg. 1932, Tit. V, Nr. 312 I: Gutachten über die Zulässigkeit der Wannenbäder von Rabbiner Löwi (Anlage zum Schreiben von Rabbiner Löwi an das Königliche Landgericht vom 20.6.1830); SchA, Jore de‘a 201,7. 425 StA Nürnberg, Reg. v. Mfr., K.d.I. Abg. 1932, Tit. V, Nr. 312 I: Gutachten über die Zulässigkeit der Wannenbäder von Rabbiner Löwi (Anlage zum Schreiben von Rabbiner Löwi an das Königliche Landgericht vom 20.6.1830). 426 Dieser lautet: „Gutachten über die Zulässigkeit der Wannenbäder für israelitische Frauen, im Geiste des Rabbinismus erstattet vom DistriktsRabbiner Dr. Loewi.“ 427 Ebd.
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in besonderem Maße während seiner von orthodoxen Gemeindemitgliedern nie unangefochtenen Tätigkeit in Fürth zu spüren, als er 1839 selbst vom bayerischen Staatsministerium des Innern in seine Schranken gewiesen wurde.428 Aber auch bereits im letzen Jahr seiner Tätigkeit in Uehlfeld wurden derartige Vorwürfe gegen ihn erhoben, die – trotz allem Wohlwollen gegenüber seinem Wirken als Reformer – in einer behördlichen Verwarnung mündeten: Man könne „die für sein Amt nöthige Klugheit, Behutsamkeit und Mäsigung bei seinem Diensteifer nicht genug wiederholen“, so die Regierung des Rezatkreises im März 1830.429 Somit ist davon auszugehen, dass diese von oben auferlegte Pflicht zu einem innerjüdisch auf Ausgleich bedachten, nicht provozierenden Amtshandeln auch das genannte Gutachten vom Juni desselben Jahres beeinflusst. Mehr noch, man gewinnt aus dem Begleitschreiben den Eindruck, dass Löwi sich in gewisser Weise – soweit dies in einem derartigen Text eben möglich ist – über diese Rüge empört, sich gar ein wenig über die Behörden lustig macht, indem er sich deren Wunsch und dem rückwärtsgewandten Zeitgeist mit beflissenem Diensteifer fügt: Der Charakter der Jetztzeit, der nicht selten ein retrogrades Streben, ein Streben nach alten verjährten Formen u. Meinungen hie u. da durchblicken läßt, ist somit auch diesem Gutachten aufgeprägt; u. wenn auch nur deßhalb, daß diese zu durchlöchernden Wannen unwillkührlich an die Danaidenfässer erinnern. Und so wäre nun auch schon eine passende Benennung für diese ins Leben zu tretenden Badewannen gefunden, da der Ausdruck: Kellerquellenbäder nicht mehr bezeichnend für den Betreff ist.430
Dass er in seiner behördlich verordneten Rückwärts-Orientierung soweit geht, eine neuartige jüdische Einrichtung gerade durch den Verweis auf ein Vorbild in der griechischen Mythologie zu legitimieren, mag als eine kleine Rache an den Behörden gelten, zumindest aber sollte man die Bezeichnung „Danaidenfässer“ vor dem beschriebenen Hintergrund vielleicht nicht allzu ernst nehmen.431
428 Siehe hierzu Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 291. 429 StA Nürnberg, Bezirksamt Neustadt, Nr. 434: Begleitschreiben der Regierung des Rezatkreises an das Landgericht Neustadt vom 10.3.1830, zit. nach: Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 672. 430 StA Nürnberg, Reg. v. Mfr., K.d.I. Abg. 1932, Tit. V, Nr. 312 I: Schreiben von Rabbiner Löwi an das Königliche Landgericht vom 20.6.1830 (Hervorhebungen im Original). 431 Auch bezogen auf seine persönliche Situation, nämlich sein mühevolles Ringen gegen Widerstände aus den eigenen Reihen sowie seitens der Staatsgewalt, musste Löwi die hierdurch geschaffene Assoziation passend erscheinen.
Zwischen Gesundheit und Gebot: Der ideologische Wandel der Mikwe
6.2.2.3 Technische Neuerungen im Spannungsfeld von Orthodoxie und Liberalem Judentum
Ungeachtet dieser persönlichen Komponente zeugen gerade auch die Vorgänge um die in Markt Erlbach geplante Mikwe von der Komplexität der Faktoren, die man bei einer Reform der Mikwen zu berücksichtigen hatte: Nicht nur war innerjüdisch von orthodoxer Seite womöglich Widerstand zu erwarten, sondern es galt ebenso, in Richtung auf die weltlichen Behörden stets umsichtig und vermittelnd zu agieren. Wie die Beispiele aus dem ländlichen Franken zeigen, muss prinzipiell auch andernorts, selbst in kleineren Gemeinden, mit mehr oder weniger weitreichenden kreativen Neuerungen gerechnet werden, wobei es in der Auseinandersetzung mit lokalen Vertretern der Tradition dann jeweils galt, den zulässigen halachischen Freiraum genau auszuloten. Allerdings drangen diese Fälle nicht unbedingt an die Öffentlichkeit bzw. schlugen keine vergleichbaren Wellen in deutschsprachigen Medien wie Cohens Fassmikwe oder Rosenfelds hölzerne Doppelwanne. Auf diese Weise bewirkten letztere eine zumindest punktuelle, von wenigen Experten bestimmte öffentliche Auseinandersetzung; auf einer höheren Ebene kennzeichneten sie die angesprochenen Themen, vor allem eine hölzerne Wanne und die unkonventionelle Nutzung von haschaka und hamschacha, als wichtige Landmarken – sowohl bezogen auf die Aufteilung des Terrains zwischen Traditionalisten und Reformern wie auch den Weg in die bürgerliche Gesellschaft. Als zentrale Elemente des innerjüdischen Diskurses über die Mikwe begegnen die bereits ab den 1820er bis 30er Jahren präsenten Themen Holzwanne und hamschacha dann wieder in der Rabbinerversammlung von 1845, nun eingebettet in den größeren Kontext der Problematik von geschöpftem Wasser. Wenngleich man von orthodoxer Seite naturgemäß weniger Innovationsbereitschaft zeigte und mitunter sogar nach der Jahrhundertmitte noch ungewärmte Kellermikwen errichtete, wie um 1870 im oberfränkischen Demmelsdorf,432 unterlag man selbstverständlich in gleichem Maß den Forderungen der Gesundheitsbehörden. Ein ungewöhnlicher orthodoxer Beitrag zur inner- wie außerjüdisch geforderten Erwärmung des Wassers schaffte es immerhin bis auf die erste Seite eines einflussreichen orthodoxen Journals: „Neuer Apparat zur Erwärmung des Wassers im Reinigungsbade“433 heißt der Leitartikel in der Zeitschrift Der treue Zionswächter vom Juni 1846, der auch deshalb Aufmerksamkeit wecken musste, weil sich noch auf der gleichen Seite eine schematische Abbildung des vorgestellten
432 Vgl. Schade, „Formen jüdischer Ansiedlungen“, S. 25f (Abbildung des Bauplans S. 50). Der Synagogen-Gedenkband Bayern erwähnt die Mikwe lediglich unter Verweis auf den Beitrag von Schade; siehe Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. I, S. 132. 433 Adler, „Apparat“, S. 209–211.
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Gerätes findet. Der neuartige „Badewärmer“, wie ihn der Verfasser, Rabbinatskandidat Alexander Sussmann Adler nennt,434 ist vom Prinzip her ein Samowar,435 der direkt in das Tauchbecken gestellt wurde und so das Umgebungswasser wärmen sollte. In seiner Darstellung der Vorzüge einer solchen Anlage kann sich Adler darauf berufen, dass dieses ursprünglich in Russland entwickelte Verfahren in Jerusalem „bereits die vortheilhafteste Anwendung“ gefunden habe, nachdem es zuvor von „einwandernden Israeliten nach Chebron gebracht“ worden war.436 Ob diese Innovation im deutschsprachigen Raum auf größere Resonanz stieß oder jemals umgesetzt wurde, ist fraglich. In der jüdisch-deutschen Publizistik des Erscheinungsjahres 1846 findet sich zumindest kein Echo hierauf,437 wobei allerdings Der treue Zionswächter zu diesem Zeitpunkt auch das einzige neo-orthodoxe Journal darstellte, das Thema somit nicht in anderen deutschen Zeitschriften gleicher religiöser Ausrichtung aufgegriffen werden konnte. Ein öffentlich geführter innerorthodoxer Austausch über diesen Gegenstand musste also in diesem Medium stattfinden, was wenigstens bis Ende 1848 nicht der Fall war. Auch wenn sich über die Tragweite dieser Erfindung im Rahmen der vorliegenden Studie keine verlässliche Aussage treffen lässt und sie für den deutschen Raum vermutlich nicht mehr als eine Kuriosität darstellt, ist Adlers Darstellung dennoch in einer Hinsicht bedeutend. Sie relativiert die bei Rabbiner Posen recht allgemein gefasste Aussage, wonach man früher einen mit glühendem Holz oder Kohle gefüllten Ofen direkt in eine Quelle, d. h. eine Kellermikwe stellte, um hierdurch das Wasser zu erwärmen.438 Zumindest für den deutschsprachigen Raum kann eine derartige neuzeitliche Praxis nicht angenommen werden, da Adler in seiner Darstellung der modernen russischen Variante eines solchen Ofens nicht umhin gekommen wäre, auf das deutsche Modell kurz einzugehen. Stattdessen erwähnt er nur die traditionelle Methode, das Wasser außerhalb des Tauchbeckens zu erwärmen und anschließend zuzuleiten.439 Das auf lange Sicht zukunftsfähige Modell der Wassererwärmung war, auch für das orthodoxe Judentum, vielmehr die kreative Nutzung der noch aus der Antike stammenden Methoden von hamschacha, haschaka und sri‘a (‚Aussäen‘). Anders als in den bisher betrachteten Fällen, die nicht nur ihren Niederschlag in der deutsch-
434 Vgl. ebd., S. 210. Bei dem Verfasser S. Adler, hier mit „Rabbinats-Candidat zu Würzburg“ näher charakterisiert, handelt es sich allem Anschein nach um Alexander Sussmann Adler (1816–1869); siehe „Adler, Alexander Sussmann“, in: BHR 1,1, S. 138. 435 Im Artikel wird der Apparat auch als „Schamewar“ bezeichnet (Adler, „Apparat“, S. 209). 436 Ebd., S. 209. 437 Ich beziehe mich hier auf diejenigen Zeitschriften, welche die Sammlung Compact Memory der Universität Frankfurt am Main für 1846 aufführt. 438 Vgl. Posen, „Mikwe“, S. 5. 439 Adler, „Apparat“, S. 211.
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jüdischen Öffentlichkeit fanden, sondern auch der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Ansprüchen an ein modernes Judentum mehr oder weniger direkt verpflichtet waren, konnte dieser Aushandlungsprozess wieder ganz innerjüdisch stattfinden, nämlich in einer Zeit, in der die Mikwe bereits öffentlich ‚rehabilitiert‘ war. Mit der vom Diwre Chajjim (1793–1876) propagierten Kombination von sri‘a und kurzzeitiger haschaka existierte im osteuropäischen Raum bereits ein frühes Modell, das langfristig jedoch nur eines unter vielen darstellen sollte.440 Abb. 14 Georgensgmünd (Mittelfranken): Kellermikwe von 1735 (1831 geschlossen)
Und wenngleich sri‘a im bisher skizzierten Mikwendiskurs keine Rolle spielte, ist nicht auszuschließen, dass man hier und dort auch Varianten dieser Methode erprobte, wie das Beispiel der Mikwe in Georgensgmünd (Mittelfranken) nahelegt, die allerdings vermutlich erst nach 1879, möglicherweise sogar erst 1907 entstand.441 Hier wurden oberhalb der vorhandenen barocken Mikwe (Abb. 14) zwei neue Becken angelegt, von denen eines mittels einer Schotterschicht den Kontakt des eingefüllten Wassers mit dem Grundwasser gewährleistete (Abb. 15). Durch diese Kontaktzone (haschaka) wurde das aus der alten Kellermikwe heraufgepumpte
440 Vgl. hierzu Jachter, „Mikvaot Part 5“, unpag. 441 Die technischen Details entnehme ich der Schilderung in Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 342.
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Wasser wieder in koscheres Mikwenwasser zurückverwandelt. Das Untertauchen fand jedoch nicht in diesem Becken, sondern in dem zweiten statt, das durch überlaufendes Wasser aus dem ersten Becken aufgefüllt wurde (sri‘a).
Abb. 15 Georgensgmünd (Mittelfranken): neue oberirdische Mikwe, wahrscheinlich nach 1879 (das hintere Becken diente dem Untertauchen)
Im Hinblick auf ihre Verbreitung können die beiden in diesem Kapitel näher beschriebenen hölzernen Mikwen für die damalige Zeit zwar nicht unbedingt als repräsentativ gelten, wohl aber hinsichtlich der an ihnen erprobten halachischen Fragestellungen. In besonderer Deutlichkeit, und hierdurch gewissermaßen exemplarisch, zeigen sie die ideologischen Spannungen auf, die eine Reformmikwe, besonders in der Zeit vor der Rabbinerversammlung von 1845, potentiell aushalten musste. Nicht überraschend erweist sich gerade im Fall von Cohens ungewöhnlicher Konstruktion der Streit um die Mikwe auch als Richtungskampf zwischen Orthodoxen und Reformern, wobei der spätere Fortschritt der Halacha manch frühere orthodoxe Bastion zumindest theoretisch zertrümmert. Vor dem Hintergrund der hier nur angedeuteten Weiterentwicklung der Mikwen in Theorie und Praxis kann man sich somit des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass Cohen mit der Erfindung einer ‚Fassmikwe‘ seiner Zeit einfach noch zu sehr voraus war.442
442 Eine interessante Parallele zu Cohens Projekt einer Hausmikwe findet sich etwa 100 Jahre später in den Schriften zweier orthodoxer Rabbiner in Nordamerika, Yehuda Yudel Rosenberg (1860–1935)
Zwischen Gesundheit und Gebot: Der ideologische Wandel der Mikwe
6.3
Die Mikwe im Alltag des 19. Jahrhunderts
Wurde in den vorausgehenden Kapiteln die Frage nach dem ideologischen Wandel der Mikwe vorrangig auf einer institutionellen Ebene behandelt, nämlich aus der Perspektive der Werte setzenden bürgerlichen Gesellschaft bzw. in Verflechtung mit der sich im Umbruch befindenden jüdischen Gemeinschaft, so soll nun abschließend auch die individuelle Ebene der Nutzer(innen) wenigstens in ausgewählten Aspekten zur Sprache kommen. Das zu untersuchende Spektrum umfasst dabei grundsätzlich die Frage nach persönlichen Einstellungen und konkreten Praktiken, wie auch Schriften von und für Frauen, die diese Erfahrung strukturieren und prägen sollen.443 Auf diese Weise eröffnet sich ein eigenständiger Themenkomplex, der den thematischen und zeitlichen Rahmen der vorliegenden Studie bei Weitem übersteigt; besonders die Frage nach der veränderten persönlichen Erfahrung jüdischer Frauen mit der real oder auch nur ideologisch erneuerten Mikwe stellt eine wünschenswerte Ergänzung der vorliegenden Arbeit dar, erfordert aber eine intensive Forschung nach vorhandenen Quellen, insbesondere auch Selbstzeugnissen, bis weit in die Epoche der Kaiserzeit. Nichtsdestotrotz sollen im Folgenden Antworten auf zwei Aspekte dieser breit gefächerten ‚Alltagsgeschichte‘ der Mikwe zumindest skizziert werden: Inwieweit war das Ritual des Untertauchens im Laufe
in Kanada und David Miller (ca. 1869–1939) in Kalifornien. Das bekanntere Werk ist das von David Miller mit dem Titel The Secret of the Jew. His Life – His Family, das ab 1930 in 20 Auflagen erschien; dem vorausgegangen war schon eine kürzere Broschüre zum selben Thema in Jiddisch (um 1920). Millers besonderes Anliegen war es, das Anfang des 20. Jahrhunderts bedrohte orthodoxe jüdische Leben in den USA wieder zu stärken, und in diesem Zusammenhang steht auch die genannte Schrift zur Mikwe, die ähnlich wie im Falle Cohens kostenlos (und in der Landessprache) zur Verfügung gestellt werden sollte (siehe S. 32 sowie die Titelseite des Buches). Hierin propagiert er nicht nur die Anlage von privaten Mikwen in Wohnhäusern, sondern erklärt zudem in einem ausführlichen praktischen Teil, wie solche mit einfachen Mitteln und kostengünstig herzustellen sind („How to Make a Mikvah“). Allerdings stieß auch er hierin auf Widerstand, der sich in diesem Fall darauf gründete, dass seiner Ansicht nach normales Leitungswasser kein ‚geschöpftes‘ Wasser darstellt, und somit für die Konstruktion einer Mikwe verwendet werden darf – eine Position, die damals durchaus von orthodoxen Rabbinern vertreten werden konnte, wie die Approbationen seines Werks zeigen. In diesem Sinn argumentiert auch bereits Yehuda Yudel Rosenberg in seinem 1913 veröffentlichten Sefer mikwe Jehuda, das Miller offensichtlich nicht bekannt war. In dem etwa 30 Seiten umfassenden Bändchen erörtert Rosenberg zunächst auf Hebräisch die halachischen Voraussetzungen, bevor er anschließend auf neun Seiten eine jiddische Anleitung zum Bau einer einfachen Hausmikwe bietet. Vgl. zu beiden Werken und ihren Verfassern Cooper, „D.I.Y. Mikveh“, S. 59–63; zu Millers biographischen Daten und der Aufnahme seines Werkes siehe auch Levine, „Rabbi David Miller“; o.V., „Rabbi David Miller’s The Secret of the Jew“. 443 Zu der im 19. Jahrhundert neu entstehenden deutschen Andachtsliteratur für jüdische Frauen siehe Kratz-Ritter, Für fromme Zionstöchter.
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des 19. Jahrhunderts – wieder oder immer noch – speziell ein Gebot für Frauen bzw. der weiblichen Sphäre zugeordnet? Und welche Rolle spielte das Gebot der Mikwe allgemein in einer modernen, zunehmend bürgerlich geprägten Lebenswelt, in der auch die Beachtung des Schabbat und der Speisevorschriften nachließ? 6.3.1
Gender-Aspekt und ‚Ästhetik‘ des jüdischen Ritualbads
Wenngleich die neuzeitliche Mikwe in der Hauptsache als ‚Frauenbad‘ galt, fehlt es doch nicht an Hinweisen darauf, dass auch jüdische Männer von Zeit zu Zeit ein Tauchbad nahmen. Anders als im Fall der Frauen gibt es für diesen Brauch keine verbindliche halachische Vorschrift, sondern er speiste sich im Wesentlichen aus zwei Impulsen: einem persönlichen Verständnis von Frömmigkeit, das besonderen Wert auf rituelle Reinheit legt,444 sowie der überlieferten lokalen oder regionalen Tradition. Demnach gingen Männer insbesondere vor Rosch ha-Schana (Neujahr) und Jom Kippur (Versöhnungstag) in die Mikwe oder auch zu einem Fluss, um dort rituell unterzutauchen. In welchem Umfang Ersteres der Fall war, lässt sich kaum ermessen. Immerhin ist das Phänomen dem Aufklärer Mombert in seiner Monographie von 1828 eine ironische Feststellung wert: „Den Damen indessen die Lust zum Baden noch zu vergrößern, gehen zuweilen auch in diese Quellen Mannspersonen, die […] auf einen hohen Grad sogenannter Frömmigkeit Anspruch machen (was das für Männer sind, lasse ich errathen) […].“445 Tatsächlich dürfte es sich wohl großenteils um Ausnahmeerscheinungen gehandelt haben,446 wie den Fall des für „seine beispiellose Frömmigkeit“447 gerühmten Salomon Ettenheimer aus dem schwäbischen Kleinerdlingen (heute Stadtteil von Nördlingen), den Kroner in seiner Geschichte der württembergischen Ritualbäder von 1914 kurz erwähnt: Obwohl man dort noch um 1850 „im Winter das Eis vor dem Bade aufhacken mußte“, habe „der fromme und gelehrte R. Salomon Ettenheimer früh morgens täglich ein
444 Auch in der Moralliteratur wird diese Auffassung von Frömmigkeit vermittelt; siehe Berger, Moralliteratur, S. 32 (Anm. 36). 445 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 46. Vgl. zu dieser Stelle auch oben Anm. 80. 446 Dabei ist anzumerken, dass die lokale Tradition die persönliche Bereitschaft zu diesem Ausdruck der Frömmigkeit durchaus bestärken konnte. So berichtet beispielsweise der bayerische Landgerichtsarzt Dr. Gräf 1828/1829 über den regelmäßigen Mikwenbesuch der jüdischen Männer in Sulzbach (Oberpfalz) teilweise bis ins hohe Alter (Mitte 70, in einem Fall sogar 88 Jahre). Hier sei es Brauch, dass die frommen Männer sich vor dem jüdischen Neujahr, dem Versöhnungstag sowie den drei Wallfahrtsfesten (Pessach, Schawuot, Sukkot) rituell reinigten, besonders fromme Männer sogar vor jedem Schabbat; vgl. Wittmer, Juden in der Oberpfalz, S. 75. 447 O.V., „Aus Bayern“, S. 1571.
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Tauchbad“448 genommen. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass es sich hierbei ganz oder teilweise um Legendenbildung handelt, aber immerhin lässt das Wenige, was über Ettenheimer bekannt ist, eine solche Praxis (ob nun mit oder ohne Eis) zumindest glaubhaft erscheinen. Die orthodoxe Zeitschrift Der Israelit ehrt den 1889 gestorbenen Ettenheimer, der allgemein für seine Gelehrsamkeit bekannt war,449 in ihrem Nachruf als herausragendes Beispiel für ein Leben im Einklang mit jüdischen Werten auch da, wo dies ein besonderes Maß an Beharrlichkeit (oder Abhärtung?) erfordert: Jede Handlung seines wirkungsvollen Daseins, ja jeder Athemzug seines Lebens galt heiligen, edlen Zwecken. Alle freie Muße war für das Studium [ תורתנו הקדושהunserer Heiligen Tora] bestimmt, jeder Schritt von einem gottgefälligen Werke begleitet. Noch bis in sein hohes Alter hielt er mit Aufbietung aller seiner Kräfte jeden Fasttag, und täglich legte der ohnehin von Natur aus schwächliche Greis den Weg nach der Stadt Nördlingen trotz Wind und Wetter beharrlich zurück, um dortselbst mit [ מניןMinjan, d. h. die Mindestzahl für den Gottesdienst] beten zu können.450
Auch in einer Biographie über Rabbiner Moses Schreiber aus der Feder eines direkten Nachfahren wird berichtet, dass er als Ausdruck seiner Frömmigkeit häufig die Mikwe besucht habe, sogar während des Winters.451 Obwohl der für sein strenges Festhalten an einer orthodoxen Auslegung der Halacha bekannte Chatam Sofer sich angesichts der Zeitumstände für eine Erwärmung des Mikwenwassers aussprach, war diese spezielle Mikwe vermutlich nicht beheizt.452 Vielmehr sollte seine Entscheidung nur verhindern, dass die Frauen diese zentrale religiöse Pflicht womöglich ganz aufgaben – aber nichtsdestotrotz sei es frommer, wie der Chatam Sofer in diesem Zusammenhang ebenfalls anmerkt, in kaltem Wasser unterzutauchen.453 Die Tradition, vor den hohen Feiertagen ein rituelles Bad zu nehmen, reicht bis ins Mittelalter zurück. Nach Neta Bodner und Ariella Lehmann deuten zahlreiche Quellen darauf hin, dass das Tauchbad vor dem Versöhnungstag – zunächst
448 Kroner, Ritualbäder, S. 5. 449 Seine Grabinschrift würdigt ihn unter anderem mit dem Ehrentitel מהור״ר („unser Lehrer und Meister, Herr …“); siehe o.V., „Aus Schwaben“, S. 282. Anders als in früheren Jahrhunderten bezeichnet dies allerdings ab dem 18. bis 19. Jahrhundert nicht mehr unbedingt einen ordinierten Rabbiner; vgl. zu diesem und anderen Ehrentiteln Brocke/Müller, Haus des Lebens, S. 65. 450 O.V., „Aus Bayern“, S. 1571. 451 Vgl. hierzu Marienberg, „Aufklärung“, Anm. 7. 452 Vgl. ebd. 453 Siehe Sofer, Chatam Sofer, Bd. 2, Jore de‘a 214 (Schluss); für eine deutsche Übersetzung des betreffenden Abschnitts siehe Marienberg, „Aufklärung“, unpag.
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vielleicht nur eine Gewohnheit Einzelner oder bestimmter Gruppen – in den Gemeinden des deutsch-französischen Raums ab dem 12. Jahrhundert relativ schnell allgemein üblich wurde.454 Belegt ist der Brauch, dessen Ursprünge nicht völlig klar sind,455 beispielsweise in den Schriften der Chasside Aschkenas. Somit wurde er vermutlich auch in den SchUM-Gemeinden Speyer, Worms und Mainz praktiziert, worauf unter anderem die Beschreibung im Sefer ha-Rokeach des R. Elasar ben Jehuda (ca. 1165 bis ca. 1230) hinweist: Nach dem Essen nimmt „ganz Israel“ ein Tauchbad, „um sich [rituell] zu reinigen“,456 so der in Mainz geborene und lange Jahre seines Lebens in Worms tätige Verfasser. Diese zeitliche Verbindung findet sich auch bildlich dargestellt in einem Holzschnitt vom Beginn des 16. Jahrhunderts (Abb. 16). Die Kontinuität des Brauchs weit über das Mittelalter hinaus und seine Ausweitung auch auf das Neujahrsfest belegt anschaulich das bekannte Minhagim-Buch des vermutlich aus Wien stammenden R. Isaak Tyrnau, der um die Wende zum 15. Jahrhundert lebte. Nicht zuletzt durch zahllose jiddische Ausgaben (erstmals 1590) neben dem hebräischen Original war das Buch noch bis in die Neuzeit sehr weit verbreitet.457 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird diese Tradition ebenfalls in Kirchners Jüdisches Ceremoniell beschrieben: Wann aber der 29te Tag besagten Monats herbey nahet, welches der Tag vor dem neuen Jahr ist, gehen sie ins warme Bad, und nachgehends, wie einige berichten, in ein fliessendes Wasser, wenn sie es in der Nähe haben, und es Kälte wegen thun können; wo nicht, so hat sich schon ein jeder zu Hauß damit versehen.458
454 Bodner/Lehmann beziehen sich auf eine Stelle im Sefer ha-ora („Ritual Immersion“, S. 69f, 72); vgl. auch Baumgarten, die den Beginn im frühen 13. Jahrhundert ansetzt (Practicing Piety, S. 35). 455 Zu möglichen Hintergründen für den Brauch siehe Bodner/Lehmann, „Ritual Immersion“, S. 72f, sowie Baumgarten, Practicing Piety, S. 34–36. 456 [Elasar ben Jehuda von Worms], Ha-rokeach, Hilchot jom ha-kippurim 214. Bodner und Lehmann, die diesen Passus zitieren, verweisen darüber hinaus auf konkrete Zeitangaben für den Zeitpunkt des Untertauchens in anderen mittelalterlichen Quellen („Ritual Immersion“, S. 72). Erwähnt wird der Brauch auch bereits im Sefer Chassidim, siehe § 1182 in Sefer Chassidim nach der ParmaHandschrift (Wistinetzki/Freimann [Hgg.], Das Buch der Frommen, S. 296f). Für die Entstehung und Datierung des Werks siehe Dan, „Hasidim, Sefer“, S. 392f. 457 Isaak Tyrnau erwähnt das Untertauchen am Vorabend von Rosch ha-Schana und Jom Kippur. Für den hebräischen Text siehe Isaak Tyrnau, Sefer ha-minhagim, R’osch ha-schana (Beginn), Asseret jeme tschuwa (Schluss); für einen späten jiddischen Druck siehe beispielsweise die Ausgabe Offenbach um 1800 (Minhagim [jidd.], f. 36r , 42r ). Zu seinem Leben und Werk vgl. Ashkenazi, „Tyrnau, Isaac“, S. 219f, zur Bedeutung seines Werks innerhalb der jiddischen Literatur knapp Dinse/Liptzin, Einführung, S. 37. 458 Kirchner Jüdisches Ceremoniell, S. 112.
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In der kommentierten Ausgabe von 1734 merkt Jungendres hierzu in einer Fußnote an, dass dies nach seinen Informationen tatsächlich noch immer Brauch sei (ebenso wie vor dem Versöhnungstag), und verweist zudem auf Anthonius Margarithas sehr viel ausführlicheren Bericht in Der gantz Jüdisch glaub (Erstdruck 1530).459 Dort wird beispielsweise auch ausgeführt, dass unmittelbar vor dem Untertauchen, bereits im Wasser stehend, das Sündenbekenntnis gesprochen wird. Nach Margaritha nahmen sämtliche Männer vor dem Abendgebet des Neujahrstags sowie des Versöhnungstags ein Tauchbad. Dieses fand nach Möglichkeit in einem Fluss statt (auch hier spricht die Quelle von ‚fließendem Wasser‘), alternativ in einer Mikwe.460 Inwieweit in früheren Jahrhunderten auch Frauen den Brauch beachteten, lässt sich weniger leicht bestimmen, da die meisten Formulierungen, so auch in den bisher betrachteten Quellen, relativ unbestimmt sind.461 Im ausgehenden Mittelalter scheint dies aber, wenigstens mancherorts, der Fall gewesen zu sein. So heißt es im Sefer Maharil des aus Mainz stammenden R. Jakob ben Moses Molin, eines älteren Zeitgenossen von Isaak Tyrnau, dass sämtliche Männer und Frauen ab dem Bar Mizwa- bzw. Bat Mizwa-Alter vor Jom Kippur ein Tauchbad nehmen.462 Nach Elisheva Baumgarten ist dies die einzige hebräische Quelle des 13. bis 15. Jahrhunderts, aus der die tatsächliche Praxis für Frauen zweifelsfrei hervorgeht.463 Zugleich zeichnen sich in der Darstellung mögliche Hintergründe des Brauches zumindest grob ab, denn nach Auffassung von Jakob Molin zielt dieser ganz klar auf Buße oder Umkehr ()תשובה,464 gerade weil auch Frauen jeden Alters ihn befolgen – denn die andere (wohl geläufige) Begründung der Unreinheit durch nächtlichen Samenerguss ()טומאת קרי465 sei in dem Fall ja offensichtlich nicht anwendbar. Der gesamte Komplex der Diskussionen um die takkanot Esra, d. h. das Reinigungsbad vor Gebet
459 Ebd., Anm. (a), S. 118f, Anm. (b). Die dezidiert antijüdische Schrift Der gantz Jüdisch glaub wurde erstmals 1530 in Augsburg veröffentlicht, acht Jahre nachdem der Autor, Sohn eines Regensburger Rabbiners, zum Christentum übergetreten war. Obwohl Margarithas Anschuldigungen noch zu seinen Lebzeiten widerlegt wurden, übte das Werk einen starken Einfluss nicht zuletzt auf Martin Luther aus. Es erfuhr mehrere Neuauflagen und wurde zuletzt 1705 und 1713 gedruckt. Vgl. Suler, „Margarita (Margalita), Anton“, S. 522. 460 Margaritha, Der gantz Jüdisch glaub, unpag. (Abschnitte zu Rosch ha-Schana und Jom Kippur). 461 Vgl. Bodner/Lehmann, „Ritual Immersion“, S. 70. 462 Die bei Bodner und Lehmann (ebd., S. 70, 76) zitierte und kommentierte Stelle ist: [Salman von St. Goar], Sefer Maharil, Hilchot erew jom kippur 3. Für eine englische Übersetzung siehe Baumgarten, Practicing Piety, S. 36. 463 Ebd. 464 Auf diesen Zusammenhang weist auch die genannte Schilderung in Der gantz Jüdisch glaub, wonach man im Wasser stehend das Sündenbekenntnis sprach. 465 Vgl. zu dieser Thematik und ihrer Bedeutung im Mittelalter Baumgarten, Practicing Piety, S. 34f.
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oder Torastudium für den so genannten ba‘al kri ()בעל קרי, wird hierdurch mit ins Spiel gebracht, ohne dass sich der Brauch direkt daraus herleiten ließe. Ein Hinweis auf die Frauen findet sich zudem in dem Werk eines weiteren Konvertiten zum Christentum, nämlich dem nur zwei Jahrzehnte vor Der gantz Jüdisch glaub erschienenen Bändchen Judenbeichte von Johannes Pfefferkorn: Auff den letsten tag des vorgenanten monets, welchen sy fur iren newen jars abent halten, ruesten und stellen sich iung und alt, man und frawen zue baden, weschen und rainigen gantz und gar überall ir leib. Nach dem weschen geen sy in ein flyssent wasser mit einand und duncken sich dreymal gantz untter das wasser […].466
Die bei Pfefferkorn enthaltenen Holzschnitte zeigen sodann diese sich vor Jom Kippur wiederholende Szene wortwörtlich umgesetzt (je nach Ausgabe leicht unterschiedlich): Zwei Personen, im Druck Augsburg 1508 gut erkennbar als Mann und Frau, nehmen „mit einand“ ein Tauchbad (Abb. 16). Schon die Tatsache an sich, dass man für Margarithas abweichenden Text – der die Frauen gar nicht erwähnt – wieder die gleiche Abbildung wie bei Pfefferkorn nutzt, verweist jedoch auf das in diesem Fall nicht unproblematische Verhältnis von Text und Bild.467 Insofern als christliche Illustratoren die Holzschnitte für eine offenkundig antijüdische Schrift anfertigten, darf mit bewussten (polemischen) oder unbewussten Verfälschungen gerechnet werden, und hierzu zählt sicher, dass man Frauen und Männer unbekleidet beim gemeinsamen Tauchbad zeigt, noch dazu im Kontext des höchsten jüdischen Feiertags Jom Kippur.468
466 Den transkribierten Text der Ausgabe Augsburg 1508 entnehme ich der Sammlung von Norbert Flörken, Streit um die Bücher der Juden, S. 111. Für den Text im Original samt Abbildungen siehe Pfefferkorn, Ich heyß ain büchlein der iudenpeicht, unpag. (Kapitel 1). 467 Für die Problematik des Verhältnisses der Holzschnitte zu Pfefferkorns Text, ihre Verwendung in verschiedenen Ausgaben des Werks sowie bei Margaritha siehe Feuchtwanger-Sarig, „Synagoga Veritas“, insbesondere S. 113–115. Demnach waren Pfefferkorn die Abbildungen, ob nun ganz oder teilweise, zumindest in ihren Grundzügen bekannt (S. 99). 468 Vgl. auch die Einschätzung von Diana Matut, die die Abbildung als „bewusste Sexualisierung und moralische Diffamierung“ interpretiert (Zur Reinheit der Seele, S. 33f).
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Abb. 16 Jüdische Bräuche am Vorabend des Versöhnungstags (Holzschnitt aus Johannes Pfefferkorns Judenbeichte, Augsburg 1508)
In jedem Fall bedeutet diese Tradition, dass zu bestimmten Zeiten sehr viele Männer die vorhandene Mikwe nutzten.469 In Württemberg wurden die Gesundheitsbehörden im Zuge ihrer seit 1821 stattfindenden Inspektionen jüdischer Tauchbäder mit dem Umstand konfrontiert, dass zu bestimmten Zeiten sämtliche Männer einer Ortschaft die vorhandene Mikwe nutzten. Beachtung fand diese Tradition, als dann in zunehmendem Maß auch Hygieneüberlegungen eine Rolle spielten, so dass die
469 Bodner und Lehmann argumentieren, dass die geräumigen Vorräume in den mittelalterlichen Mikwen von Speyer, Worms und Köln dazu gedient haben könnten, den Besucherandrang an diesen Tagen besser koordinieren zu können („Ritual Immersion“, S. 74).
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Regierung des Jagstkreises in ihrem Bericht an das Innenministerium vom 13. Mai 1842 ihre Besorgnis hierüber ausdrückte: In dem oberamtsärztl[ichen] Bericht [zu Lauchheim] ist eines Umstandes erwähnt, der wohl in allen Judengemeinden vorkommt, aber, als wenigen bekannt, von keiner Seite her zu Sprache gebracht wurde, nämlich: daß diese gemeinschaftlichen Frauenbäder auch von Männern benüzt werden. Es herrscht unter den Juden die Sitte, daß alle Erwachsenen des männlichen Geschlechts jährlich 2 mal, am Vorabend des sog. langen Tages [d. h. des Versöhnungstags] u[nd] des neuen Jahres, mithin je nach der Bevölkerung, oft 40. bis 60. Personen dieses Bad unmittelbar hintereinander benüzen. Von einem Baden u[nd] Reinigen kann unter diesen Umständen wohl nicht die Rede seyn, wohl aber von Mittheilung ansteckender Hautkrankheiten u[nd] von den Folgen des Eckelfassens. Es fragt sich, ob dieser Act wirklich unter die Vorschriften der jüdischen Religion gehöre, oder ob er sich blos mißbräuchlich fortgesezt habe? Das Leztere scheint wahrscheinlich zu seyn, da das im mosaischen Gesez (3. B. 15,13.) auch den Männern vorgeschriebene Baden durch spätere Auslegungen des Talmuds u[nd] durch die Vorschriften der Rabbiner des Mittelalters als den Zeitverhältnissen nicht mehr anpassend für aufgehoben erklärt wurde.470
1843 bat daraufhin das informierte Medizinal-Collegium die Israelitische Oberkirchenbehörde um Auskunft über die religiösen Bestimmungen zu Mikwen, speziell auch zu diesem Brauch, worauf die Oberkirchenbehörde schließlich im Dezember 1845 – somit nach den Beschlüssen der Rabbinerversammlung – ausführlich antwortete. Ganz im Einklang mit der dort vorherrschenden Ansicht, dass das Tauchbad an erster Stelle der körperlichen Reinigung dienen soll, gründete auch die Oberkirchenbehörde ihr Urteil auf Hygienerücksichten. Man ging allerdings noch entschieden darüber hinaus: Der Brauch, vor dem Neujahrstag und Versöhnungstag ein rituelles Tauchbad zu nehmen, finde auch in anderen Gemeinden statt, nicht nur Lauchheim,471 und habe „durchaus keinen Grund in den als Autorität geltenden Religions-Urkunden der Israeliten, und dürfte, als der Gesundheit 470 StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht der K. Regierung für den Jagstkreis in Ellwangen vom 13.5.1842 (Hervorhebungen im Original). 471 Die in dem untersuchten Quellenmaterial enthaltenen Hinweise auf männliche Nutzer sind zwar spärlich, beschränken sich aber nicht auf Württemberg. Ähnliches berichten beispielsweise die äztlichen Berichte zu den oberpfälzischen Ortschaften Sulzbach und Sulzbürg. Auch in Sulzbürg besuchten die Männer um 1828 zweimal jährlich die Mikwe (vor dem jüdischen Neujahrs- und Versöhnungstag), im etwa 50 km entfernten Sulzbach (heute Sulzbach-Rosenberg) darüber hinaus sogar vor Pessach, Schawuot und Sukkot (Laubhüttenfest), vgl. auch oben Anm. 446. Nach Eulers Bericht über die alte Frankfurter Mikwe, das so genannte „Kaltebad“, stiegen sogar lange nach Einrichtung einer bequemeren Anlage für die Frauen „einzelne Männer zur Neujahrszeit hinab, um ein nach den Gesetzen besonders wirksames Bad zu nehmen“; um 1800 wurde die Anlage jedoch
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und der Schicklichkeit zuwider, ein für alle Mal zu untersagen seyn.“472 Was genau aber meint man mit Gründen der Schicklichkeit? Hierüber lässt sich letztlich nur mutmaßen. Nach Grimms Wörterbuch bezeichnet das Adjektiv ‚schicklich‘ einerseits etwas, das „dem zweck, der bestimmung, der absicht, der zeit, den umständen angemessen, entsprechend“ ist, darüber hinaus auch „in verfeinertem sinne […] was gehörig ist, wol ansteht. mehr auf ästhetisches wolgefallen gehend.“473 Ist eine Mikwe demnach ausschließlich für das Untertauchen von Frauen bestimmt, weil man im Sinne einer aufgeklärten Religion die volkstümliche Tradition nicht mehr gelten lässt, sondern nur auf höhere „Autorität“ gegründete religiöse Grundsätze? Widerspricht es möglicherweise auch dem modernen „ästhetischen“ Empfinden, wenn Männer die Mikwe aufsuchen? Weil man z. B. dieses ‚Frauenbad‘ so sehr als traditionell ‚weibliche Sphäre‘ wahrnimmt, dass eine Nutzung durch Männer ‚unschicklich‘ wäre? Eine faktische ‚Kollision‘ mit weiblichen Nutzerinnen, die die Sittlichkeit gefährden könnte, ließe sich hingegen durch konkrete Regelungen leicht ausschließen, so dass dieser Aspekt wohl nicht mit hineinspielt. Die Mikwe als Ort der Frauen
Unabhängig davon, ob man die Mikwe 1845 bereits als eine ‚weibliche Sphäre‘ ansah, und was genau das primäre Motiv der Oberkirchenbehörde war: In jedem Fall festigte sie mit ihrer Entscheidung das ‚Image‘ der Mikwe als eine Domäne der Frau. Galt die Mikwe jahrhundertelang als Frauenbad, das aber dennoch auch von Männern besucht werden konnte, so vollzog man hier mit aller Deutlichkeit einen formalen Schnitt, für den man explizit auch äußere Umstände, nämlich Rücksicht auf gesellschaftliche Befindlichkeiten, verantwortlich machte. Mikwen sollten künftig reine ‚Frauenorte‘ sein – und der hier formulierte Anspruch bestätigte sich dann auf lange Sicht, und weit über Württemberg hinaus, auch in der Realität. Dabei markiert diese Entwicklung zum einen, zumindest punktuell, einen Gegentrend zur ‚Feminisierung‘ des Judentums (wie auch der Religion allgemein) im 19. Jahrhundert, wonach männliche Sphären der Religionsausübung mehr und mehr traditionell weibliche Elemente in sich aufnahmen und beide Sphären sich letztlich annäherten474 – die Mikwe hingegen sollte fortan stärker als zuvor allein den Frauen vorbehalten sein. Zum anderen fügte sich das fromme Festhalten am Gebot des Untertauchens (wo es noch praktiziert wurde), wiederum in das neue
wegen Baufälligkeit geschlossen. Siehe Wittmer, „Juden in der Oberpfalz“, S. 75; Euler, „Judenbad“, S. 298 (vgl. auch den bei Euler abgedruckten Bauamtsbericht von 1771, ebd., S. 296). 472 StA Ludwigsburg, E 162 I Nr. 1395: Note der Israelitischen Oberkirchenbehörde an das MedizinalCollegium vom 22.12.1845 (Hervorhebungen nicht im Original). 473 Siehe DWB 14, unter ‚schicklich‘ (Hervorhebungen nicht im Original). 474 Vgl. hierzu Baader, Gender, Judaism, and Bourgeois Culture, S. 211– 221, insbesondere S. 216f, 218–220.
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Bild der jüdischen Frau, die zunehmend als häusliche Hüterin der Tradition und Bewahrerin des Judentums verstanden wurde.475 Auch diese Rückkopplung musste die Mikwe über kurz oder lang als einen Ausdruck speziell weiblicher Religiosität, mithin einen Ort der Frauen kennzeichnen. Einhergehend mit dem allmählichen Abstecken der Mikwe als einer weiblichen Sphäre im 19. Jahrhundert ist auch die Betonung von Intimität und Schamgefühl im Umgang mit dem Thema, wobei dies natürlich auch bereits vorher eine bedeutende Rolle spielte. So bewarb man beispielsweise die um 1685 neu entstandene ‚kahalische‘ Mikwe in Altona als „private modest and esteemed“.476 Gemäß dem noch bis ins 18. Jahrhundert äußerst populären Moralbuch Brantspigel, das sich speziell an jüdische Frauen richtet, sollte die Frau den Zeitpunkt ihres Tauchbades in gleicher Weise geheim halten wie den sexuellen Akt selbst: Un’ wen si get ins bad zu der twilo [Tauchbad] do sol si stil gen das man nit sol merken das si sich bat von wegen der twilo den es wer ain asuskait [Arroganz]. un’ wen si asus [arrogant] is do komen von ir kinder di asus sein un’ sein gerechnet as mamserim [Bastarde]. un’ wen man si vrogt ob si di nacht wert zu twilo [Tauchbad] gen. do mag si sprechen nain un’ mag lügen. in masseches Bowo Mezio [Talmudtraktat bBM 23b] spricht rabi Jochonon drei[…]erlai mag man lügen[:] is ains wen man vrogt ain ob er is heint bei seinem weib gelegen do mag er lügen un’ sagen nain. un’ es is kain sünd der weil ers tut von wegen znius [Sittsamkeit] un’ will nit weisen asuskait [Arroganz]. auch hab ich geschriben wi ain gros is um znius [Sittsamkeit]. wen er sich beheft zum weib das es nimat hört mikol scheken [geschweige denn] sicht.477
Ausgehend von den hier geäußerten traditionell jüdischen Werten und ihren Entsprechungen in der modernen bürgerlichen Welt nimmt es nicht Wunder, dass man im 19. Jahrhundert nicht nur bemüht war, die Frau auf dem Weg von und zur Mikwe vor neugierigen Blicken zu schützen, sondern dieses Ritual möglichst ganz zu verbergen, dem Bewusstsein der Öffentlichkeit selbst sprachlich zu entziehen. Unter keinen Umständen konnte es noch geduldet werden, wie zu Beginn des Jahrhunderts in ländlichen Gegenden durchaus üblich, dass das Tauchbad in natürlichen Gewässern stattfand, so die Badeordnung des Rabbiners Israel Bär Levita im hessischen Rotenburg von 1829: „Unter keinem Vorwande darf eine Frau sich gegen alle guten Sitten und Schamhaftigkeit im Freyen baden.“478 Entsprechend sollte eine 475 Vgl. Schüler-Springorum, Geschlecht und Differenz, S. 50. 476 Kaplan, „To Immerse their Wives“, S. 269. 477 Transkription des jiddischen Textes nach Riedel (Hg.), Brantspigel, S. 254. Die Worterklärungen in eckigen Klammern wurden von mir zum leichteren Verständnis hinzugefügt. 478 Staatsarchiv Marburg, Bestand 180 Landratsamt Rotenburg, Nr. 1472: Gutachten von Rabbiner Levita vom 12.5.1829, zit. nach: Nuhn, Die Rotenburger Mikwe, S. 69.
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neu zu erbauende Mikwe auch durch Nebenwege erreichbar sein, „weil jeder den Zweck ihrer Reinigung kennt und dadurch eine gewisse Scham entsteht.“479 Ebenso gehörte es zu den Pflichten einer Mikwenfrau, über „eine Sache, die die Frauen namentlich geheim halten wollen“ stets die „strengste Discretion“ zu wahren.480 Ganz im Einklang mit dem bürgerlichen Frauenbild betont der Würzburger Rabbiner Seligmann Bär Bamberger (1807–1878),481 ein bedeutender Repräsentant der entstehenden Neo-Orthodoxie, in seiner Schrift Amirah le-beth Jakob von 1858 (Erstausgabe Deutsch in hebräischen Lettern)482 ebenfalls diesen Aspekt: „Sittenreinheit und Schamhaftigkeit sind vorzüglich des Weibes glänzende Tugenden, daher hat, wie allenthalben, ganz besonders bezüglich der Benutzung der Mikwa die strengste Züchtigkeit, selbst der nächsten Umgebung gegenüber, obzuwalten.“483 In dem Werk, das den Untertitel Die drei besonderen Pflichten jüdischer Ehefrauen: Niddah, Challah, Hadlakah nebst einem Anhange: Die Vorschriften über das Fleischsalzen trägt, wendet sich Bamberger dezidiert an die jüdische Ehefrau; sie soll in den traditionellen Frauengeboten nidda, challa und hadlaka (eheliche Absonderungsund Reinigungsvorschriften, Teighebe, Anzünden der Schabbatkerzen) unterwiesen werden. Ähnliche Kompendien in der „Landessprache“ hatte es, wie Bamberger selbst vorausschickt, schon lange gegeben,484 aber nichtsdestotrotz markiert seine Schrift einen Neubeginn: Erstmals musste sich ein solches Werk in einer nicht mehr traditionellen, sondern zunehmend bürgerlich geprägten jüdischen Lebenswelt sein Publikum suchen und dabei der wachsenden Unkenntnis wie auch Nichtbeachtung religiöser Gebote entgegenwirken. Dem wird Bamberger dadurch gerecht, dass er in übersichtlicher, nüchterner Weise, „frei von persönlichen Zutaten“ dasjenige zusammenstellt, „was jeder wahrhaft Fachkundige in Talmud und in den Sammlungen der Entscheidungsschriften […] über diesen Gegenstand aufzufinden vermag.“485 Dass dabei gerade der Bereich nidda, also der ehelichen Absonderungsund Reinigungsvorschriften, im Leben vieler Jüdinnen kaum noch eine Rolle spielte, lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass die deutsche Andachtsliteratur für Frauen diesen weitgehend ausklammert. In den von Bettina Kratz-Ritter genauer 479 Staatsarchiv Marburg, Bestand 180 Landratsamt Rotenburg, Nr. 1472: Bericht von Leiser Wertheim an das Kreisamt Rotenburg vom 18.4.1825, zit. nach: Nuhn, Die Rotenburger Mikwe, S. 32. 480 Stadtarchiv Bad Mergentheim, Nr. H-52: Schreiben von Meier Kahn an das K. Oberamt Mergentheim vom 21.10.1892. 481 Zu Bambergers Leben und Wirken siehe „Bamberger, Seligmann-Bär“, in: BHR 1,1, S. 167–170. 482 Ebd., S. 168. 483 Bamberger, Amirah le-beth Jakob, S. 39. 484 Ebd., S. 19. Bamberger versteht hierunter sowohl jiddische als auch deutsche Publikationen. Das einzige genannte Werk in deutscher Sprache ist מחנה ישראלvon Bär Frenk (1770–1845), ebenfalls gedruckt in hebräischen Buchstaben (Frenk, Sefer machane Jisrael). Zu den Lebensdaten des ungarischen Autors siehe Ben-Menahem, „Frenk, Beer“. 485 Ebd., S. 19f.
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untersuchten Werken (vier aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eines von 1928) ist das Thema Mikwen und nidda, anders als in der traditionellen jiddischen Techinot-Literatur, kaum noch präsent und spielt lediglich in dem orthodoxen Exemplar von 1928 noch eine größere Rolle. Stattdessen hat sich das Gewicht in den liberalen Andachtsbüchern verlagert auf den Komplex von Schwangerschaft, Geburt und Erziehung486 – und rückt damit zugleich den Fokus ab vom Thema Reinheit, mit der Konstellation Mann–Frau, hin zur Konstellation Frau–Kind in der bürgerlichen Familie. Dieser Fokuswechsel vollzieht sich aber ebenfalls, wenngleich mit völlig anderem Ausdruck, im Bereich der modernen Orthodoxie, indem nun Ende des 19. Jahrhunderts der Begriff taharat ha-mischpacha, wörtlich ‚Reinheit der Familie‘, die ältere Bezeichnung nidda allmählich ablöst. Eine Prägung des Ausdrucks im neo-orthodoxen Milieu, wie Tirzah Meacham vermutet,487 und unter dem Einfluss des deutschen Äquivalents ‚Reinheit des Familienlebens‘ scheint mir auch deshalb sehr wahrscheinlich, weil dies genau mit der liberalen Tendenz korrespondieren würde: Man gibt den Bereich nidda zwar auf orthodoxer Seite nicht faktisch auf, lässt ihn aber von der Bildfläche verschwinden und betont stattdessen den für das bürgerliche Lebenskonzept zentralen Begriff ‚Familie‘. Die Nutzung der Mikwe konnte hierdurch auf doppelte Weise geschützt im Verborgenen stattfinden: sowohl real wie auch sprachlich. Dieser ideelle Raum Mikwe, der nun im Interesse seiner künftig fast ausschließlich weiblichen Klientel möglichst dem Blick entzogen sein sollte, erfuhr durch die eingeleitete praktische Modernisierung noch einen weiteren wesentlichen Wandel, den man im weitesten Sinn als Sakralisierung bezeichnen kann. Dies vollzog sich in einem vielschichtigen Prozess, in dem staatliche Interessen zwar ein treibendes Moment darstellten, gleichzeitig aber mit innerjüdischen und gesamtgesellschaftlichen Faktoren eine einzigartige Bindung eingingen. Aus diesem Grund wiederholte sich die typische Erfahrung der jüdischen Diaspora als eines Verlusts von Autorität über Raum488 an dieser Stelle nicht. Stattdessen erfuhr der spezielle, zur Erfüllung eines religiösen Gebotes benötigte Raum Mikwe eine grundlegende Verschiebung seines Bezugsrahmens: War das Untertauchen im ‚Kellerquellenbad‘ früher ganzheitlich in eine mit religiösen Motiven durchwirkte Alltagswelt integriert, so gehörten Konzept und Ort infolge des Reformdiskurses fortan zwei verschiedenen Sphären an: Das Tauchbad als Idee erhielt seine gesellschaftliche Legitimierung primär als eine Hygienemaßnahme, während zugleich der reale Ort aus dem Bereich der modernen, zunehmend bürgerlichen Alltagswelt verdrängt wurde. Diese Differenzierung 486 Kratz-Ritter, Für fromme Zionstöchter, S. 110f, 143–157. Zur älteren Form der Frauengebete, den sogenannten Techinot (jiddisch tkhines), siehe die Beiträge von Chava Weissler (Voices of the Matriarchs, S. 3–35, 66–75; „Traditional Piety“; „Mizvot“). 487 Vgl. Meacham, „History“, S. 32. 488 Vgl. Fonrobert/Shemtov, „Introduction“, S. 3.
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aber bedeutete eine Aufwertung: Das Ritual des Untertauchens erhielt ein neues Gewand, die Mikwe eine geänderte Ästhetik und hierdurch einen gehobenen Status, wie ich im Folgenden kurz erläutern möchte.489 Zwischen Säkularisierung und Sakralisierung
In der traditionellen Lebenswelt war die Mikwe untrennbar mit dem Alltag der Menschen verwoben. Das Untertauchen, ein religiöses Ritual, fand an den meisten Orten in einem gewöhnlichen Alltagsraum, dem Keller eines Privathauses statt. Aufgrund der Abwesenheit von heiligen Gegenständen (Torarollen, religiöse Schriften), selbst von religiösen Symbolen, war eine solche neuzeitliche Mikwe, in letzter Konsequenz, zunächst kein sakraler Ort; bestenfalls nahm sie eine Sonderstellung ein, wurde sozusagen temporär zu einem sakralen Raum in der Weise, wie auch der häusliche Tisch symbolisch den Altar des einstigen Tempels verkörpert in dem Augenblick, wo er der Ausführung eines religiösen Gebots dient.490 Auch der Umstand, dass der Keller oder das Wasserbecken für weitere Zwecke verwendet werden konnten, spricht gegen das Verständnis einer neuzeitlichen Kellermikwe als sakralem Raum.491 So berichtet, wie bereits beschrieben, Kantonsarzt Dr. Zimmermann über die parallele Nutzung von Mikwen in der bayerischen Pfalz „ZB zum Waschen, Tränken des Viehes etc.“492 , andernorts diente das Wasser zugleich als Getränkekühlschrank für eine Wirtschaft493 oder zum Waschen der Wolle ei-
489 Erste Ausführungen hierzu erschienen 2020 (Schostak, „Entsakralisierung?“, S. 130–135). 490 bChag 27a. 491 Anders verhält es sich mit den Monumentalanlagen des Mittelalters. Deren aufwändige Bauform und kunstvolle Ausschmückung im Inneren verweisen auf ein anderes Verständnis, das man in dieser Periode auch dem Raum zumaß, in dem das Ritual vollzogen wurde. Möglicherweise lässt es sich mit den besonderen, mystisch geprägten Idealen der Bewegung der Chasside Aschkenas, der Frommen von Aschkenas, in Verbindung bringen, denen rituelle Reinheit auch als Element der Abgrenzung von der christlichen Umwelt dienen sollte; in der Bauinschrift der Wormser Mikwe (1185/1186) spiegelt sich die essentielle Verbindung von rituellem Tauchbad und sonstigem Kult, wenn hier die Mikwe als Symbol der „Sehnsucht nach den Vorhöfen“ des Tempels gedeutet wird (vgl. Fuchs/Weber, „Dort im Geklüft“, S. 29–32, sowie Weber, „Neue Monumente“, S. 60). 492 Landesarchiv Speyer, Best. H 3 Nr. 8237: Brief von Dr. Zimmermann an die Hohe Königliche Regierung, die Kellerquellenbäder der Israelitinnen in den beiden Kantonen Homburg und Waldmohr betreffend, vom 6.12.1828. Die gesamte Stelle zitiere ich in anderem Zusammenhang, siehe Kapitel 4.2.2.2. 493 Siehe Kukatzki, „Otterstadter Judengemeinde“, S. 19f. Eine ähnliche Situation fand sich noch mehr als ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 1884, im hessischen Sontra. Auch hier war die Mikwe im Keller einer Wirtschaft, neben den dort gelagerten Getränken für die Bewirtung der Gäste, untergebracht. Nach der Darstellung des Gemeindeältesten, der auf einen Neubau drängte, wurde nicht selten die Privatsphäre der Frauen beim rituellen Tauchbad und damit die Sittlichkeit verletzt; siehe Nuhn, Die Rotenburger Mikwe, S. 66.
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nes Strumpfwirkers494 . Somit war die Mikwe per se kein sakraler, sondern ein alltäglicher Ort, lediglich das vollzogene Ritual verlieh ihr zeitweilig diesen Status. Die somit nicht im Raum, sondern nur im Ritual selbst manifeste religiöse Dimension erlag nun im Verlauf des 19. Jahrhunderts einem säkularen Angriff: Jüdische Aufklärer und Reformer, inklusive der Rabbinerkonferenz, wie auch die christliche Umwelt reduzierten das Untertauchen auf eine bloße Hygienemaßnahme: Moses habe, so allen voran Moritz Mombert, „körperliche Reinlichkeit, Waschen und Baden zur heiligsten Pflicht gemacht“, d. h. er habe rein vernunftgebotene Regeln nur deswegen zu göttlichen Gesetzen erhoben, „weil der jüdische Staat eine Theokratie war“.495 Das komplexe rabbinische Regelwerk rund um die Mikwe sei somit in der modernen Lebenswelt hinfällig, die dahinterstehende Idee auch (und sogar besser) durch einfaches Baden zu verwirklichen. Entgegen diesem Anspruch etablierte sich allerdings das häusliche Wannenbad nicht als säkularisierter Ersatz für das Original. Vielmehr existierten Mikwen auch weiterhin, wenn auch in geänderter Form. Der Trend ging langfristig zur gemeindeeigenen Mikwe in einem speziellen Raum, mit gewärmtem Wasser, geheiztem Umgebungsraum und anderen Details, die das körperliche Wohlbefinden und die Gesundheit der Nutzerinnen garantieren sollten.496 Räumlich rückte die Mikwe in die Nähe der Synagoge – eine Tendenz, die teilweise schon im 18. Jahrhundert zu beobachten war,497 und die sich im 19. Jahrhundert fortsetzte, nicht zuletzt durch die staatliche Aufsicht über die Mikwen. So wird diese Verbindung von Mikwe und Synagoge zwar keineswegs vorgeschrieben, ist aber aus Kostengründen oft naheliegend, vor allem in den Fällen, wo sowieso Synagogenneubauten geplant waren. Durch ihre Vorschrift von 1822 beförderte die badische Regierung diese Art von Gemeindezentrum noch zusätzlich, heißt es doch: „Wenn die Erbauung einer neuen Synagoge in einer Gemeinde erforderlich ist, muß auch zugleich ein
494 Oftmals erklärt sich auch die Verunreinigung des Wassers durch eine solche Mehrfachnutzung, wie z. B. bei der Mikwe in Marktsteft, die der Besitzer, ein Strumpfwirker, manchmal zum Waschen seiner Wolle verwendete. Hier wird 1812 angegeben, dass das Becken deswegen von Zeit zu Zeit entleert und gereinigt wird; siehe StA Würzburg, Regierungsabgabe 1943/45, Akt Nr. 6487: Bericht von Dr. Weinrich an die Großherzogliche Landesdirektion vom 28.4.1812. 495 Moritz Mombert, Kellerquellenbad, S. 11. 496 Eine ähnliche Verschiebung – von einem privaten zu einem mehr oder weniger institutionalisierten Ritual – konnten Frauen natürlich auch schon wesentlich früher (unter völlig anderen Vorzeichen) erfahren, nämlich dann, wenn die Benutzung einer bestimmten gemeindeeigenen Mikwe anstelle von Privatmikwen vorgeschrieben wurde; vgl. hierzu die Vorgänge um die Einführung der „kahalishen“ Mikwe durch die Gemeindevorsteher in Altona 1685 nach der Darstellung von Kaplan, „To Immerse their Wives“. 497 Vgl. Künzl, „Mikwen in Deutschland“, S. 62–70.
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warmes Bad eingerichtet werden, in so fern kein anderes der Art in der Gemeinde zum allgemeinen Gebrauch schon vorhanden ist.“498
Abb. 17 Hemsbach (Baden), oberirdische Mikwe von 1847/48: Außenansicht des Mikwengebäudes, im Hintergrund die Synagoge
Auf diese Weise ist die Mikwe zwar nach wie vor kein sakraler Raum im eigentlichen Sinn, sie erfährt aber eine gewisse Sakralisierung dadurch, dass sie der Alltagswelt vollkommen entrückt und nun der religiösen Sphäre der Synagoge zugeordnet ist, die im 19. Jahrhundert ebenfalls einen Wandel erfuhr: War die Synagoge zuvor einfach ein Versammlungsort, bet knesset, für das gemeinschaftliche Studium oder Gebet, so wurde sie zunehmend Spiegel der christlichen Kirchen und mit der Würde und Weihe des christlichen Gottesdienstes verbunden.499 Das nach traditioneller Auffassung göttliche Gebot des Untertauchens wird somit, vor dem Hintergrund von Aufklärung und Emanzipation, einerseits von der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft als Hygienemaßnahme vereinnahmt, säkularisiert; zugleich aber wird die Institution Mikwe durch die räumlich-institutionelle Neuverortung in stärkerem Maße als früher der Sphäre des Heiligen zugeordnet, sakralisiert. Der beschriebene Prozess der praktischen Erneuerung bedeutete somit gleich eine zweifache Aufwertung der Mikwe, sowohl materiell durch die modernisierte Innen-Einrichtung, als auch ideell durch ihre äußere Lage. Wie bereits in anderem 498 „Verfügung des großherz. Ministerii des Innern vom 11. September 1822“, in: Eiseneck, Sammlung, S. 320. 499 Vgl. Lässig, Bürgertum S. 269.
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Abb. 18 Hemsbach (Baden): Blick auf das Tauchbecken der Mikwe von 1847/48
Zusammenhang beschrieben, besitzen Räume stets eine „Gestimmtheit“,500 sie sind niemals neutral, sondern beeinflussen und prägen eine Erfahrung, somit auch das Ritual des Untertauchens. In dem Maße, wie die Nutzung der Mikwe als angenehm empfunden wird, zumindest aber nicht wie im Fall der kalten Kellermikwen mit Furcht belastet ist, ermöglicht dies einen positiven Bezug zu diesem speziellen Frauengebot. Dieser kann darüber hinaus durch einen anderen Aspekt noch verstärkt werden, nämlich das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. So lädt in vielen der heutigen Mikwen in den USA eine Lobby im Eingangsbereich dazu ein, sich mit anderen wartenden Frauen auszutauschen – der monatliche Besuch der Mikwe wird so ein Treffen mit Gleichgesinnten oder Freundinnen, gar ein „social event“.501 Auch in dieser Hinsicht, ihrem Charakter als ‚Versammlungsort‘ der Frauen rückt die Mikwe somit in die Nähe der Synagoge, dem traditionellen Treffpunkt der Männer! Dabei beschränkt sich dieses Gefühl der Gemeinschaft, das immerhin fast ein Drittel der orthodoxen Teilnehmerinnen einer Ende des 20. Jahrhunderts
500 Vgl. oben Kapitel 6.1.1.2, Abschnitt Die Bildsprache des Raumes 3: Erfahrungsmuster des Fremden. 501 Vgl. Marmon, „Reflections“, S. 237.
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in den USA durchgeführten Studie teilen,502 nicht unbedingt auf die Frauen der eigenen Gemeinde, sondern überbrückt prinzipiell Raum und Zeit. Eine der interviewten Frauen beschreibt dies so: „I feel a chain of history and continuation when I go to the miqveh. It is a tangible connection to past, present, and future generations in a uniquely woman’s way, as well as a link to other women across space and time today.“503 An dieser Stelle entfaltet die Mikwe ihr gesamtes Potential: als eine besondere, speziell den Frauen gegebene Möglichkeit der spirituellen Erfahrung, die zugleich gemeinschaftsstiftend wirkt. Diese Art von Denken, Erleben und Fühlen hat aber zugleich ein älteres historisches Vorbild, und zwar in den Texten der jiddischen Frauengebetbücher wie des anonymen Seyder Tkhines, wo es beispielsweise heißt (hier gemäß dem Text der Ausgabe von 1752): „God, my Lord, may it be Your will that my uncleanness, and washing, and immersion, be accounted before You like all the purity of the pious women of Israel who purify themselves and immerse themselves at the proper time.“504 Und an diesem Punkt schließt sich wieder ein Stückchen der Kreis, der in der angestoßenen Entwicklung des 19. Jahrhunderts aufgebrochen wurde: Waren es vor dem Zeitalter von Aufklärung und Emanzipation die jiddischen Frauengebete zu nidda und Mikwe, die die Beterin gedanklich ein Teil der großen Gemeinschaft jüdischer Frauen werden ließen, so sind es nun gerade auch die veränderten Mikwen-Räume, die eine solche Beziehung stärken. Noch in einer weiteren Hinsicht wirken die modernen Mikwen neuerdings integrierend: Seit der Wende zum 21. Jahrhundert laden sie mancherorts gerade auch nicht orthodox lebende Jüdinnen ein, über die spirituelle Erfahrung des Untertauchens in ‚lebendigem Wasser‘ positive Impulse für neue Lebensabschnitte (z. B. Namensgebung von Mädchen, Menopause) oder die Bewältigung krisenhafter Situationen zu empfangen.505 Beispielhaft verwirklicht zeigt sich dieser Trend in der 2004 eröffneten Mikwe ‚Mayyim Hayyim‘ in Newton (Massachusetts), die sich ausdrücklich an die gesamte jüdische Gemeinschaft – „women, men, and people of all genders and ages“ – wendet und als Zentrum für „spirituality, learning, celebration and community“ versteht.506
502 503 504 505
Ebd. Ebd. (Hervorhebung im Original). Seyder Tkhines [1752] 9b, zit. nach: Weissler, „Traditional Piety“, S. 260. Vgl. hierzu etwa den Artikel auf jüdisches-europa.net „VON TUMAH ZU TAHARA“ sowie das Angebot der Berliner Mikwe in der Oranienburger Straße unter „Das rituelle Tauchbad: Mikveh“ (jeweils o.V.). 506 Siehe o.V., „About Mayyim Hayyim“.
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6.3.2
Von Mikwen und Bratwürsten, oder: Die Mikwe als jüdische Gretchenfrage?
Ungeachtet der hier beschriebenen ideellen Aufwertung der Mikwe und der von heutigen Frauen erfahrenen positiven Sinngebung bleibt doch die Frage, in welchem Umfang Frauen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tatsächlich noch regelmäßig die Mikwe besuchten bzw. dieses Gebot als zentralen Bestandteil ihres religiösen Lebens betrachteten. Einen kleinen, wenn auch nur bedingt aussagekräftigen Anhaltspunkt hierfür bieten die Untersuchungen des Bureaus für Statistik der Juden, die anlässlich eines Jahrbuchs für 1905 erstmals die Gemeindeverhältnisse im gesamten Deutschen Reich erfassen sollten.507 In dem kurzen Abschnitt zur Mikwe der hieraus hervorgegangenen Veröffentlichung Die jüdischen Gemeinden und Vereine in Deutschland heißt es einleitend: Das rituelle Tauchbad gehörte einst mit zu jenen öffentlichen Einrichtungen, die eine jede jüdische Gemeinde zu besitzen pflegte. Die Benutzung dieses Bades wird jedoch in jüngerer Zeit immer seltener, die meisten Tauchbäder stammen aus früheren Jahren; in vielen Fällen wird die Mikwe, wenn sie in Verfall gerät, nicht wieder repariert. Jedoch achtet die fromme Gemeinde noch immer darauf, ein nach rituellen Vorschriften eingerichtetes Bad zu besitzen. Eine größere Anzahl von Tauchbädern in einem Gebiete weist daher darauf hin, dass dort ältere und frommere Gemeinden vorhanden sind.508
Die erhobenen statistischen Daten, die eine deutliche Zweiteilung zwischen Stadt und Land zeigen, verdeutlichen besonders auch die letzte Aussage:509 In ganz Deutschland waren 55,2 % der Gemeinden, in denen Juden lebten, mit einer Mikwe ausgestattet. Bezogen auf das gesamte Reich war das Vorhandensein einer Mikwe im Großen und Ganzen umso wahrscheinlicher, je mehr jüdische Einwohner ein Ort zählte. Dies verwundert nicht, war es doch selbstverständlich, dass zumindest orthodoxe Gemeinden ab einer bestimmten Mitgliederzahl eine eigene Mikwe unterhielten, während dies bei der liberal ausgerichteten Hauptgemeinde selbst einer größeren Stadt nicht unbedingt der Fall war. Unter den Städten mit einer größeren jüdischen Einwohnerschaft, d. h. mehr als 1.000 Juden, hatten somit immerhin knapp 75 % eine Mikwe. Eine Ausnahme zu der genannten Regel bilden allerdings diejenigen Landgemeinden mit einer jüdischen Einwohnerzahl von 100 bis 300, unter denen sich verhältnismäßig viele, nämlich etwa 60 %, mit Mikwe
507 [Thon], Die jüdischen Gemeinden, S. 2. 508 Ebd., S. 17. 509 Ich beziehe mich hier und im folgenden Abschnitt (soweit nicht anders angegeben) auf die beiden Tabellen in [Thon], Die jüdischen Gemeinden, S. 18.
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finden (während es in der nächsthöheren Kategorie von 300 bis 500 Juden nur knapp 54 % sind, somit nicht wesentlich mehr als in den Kleinstgemeinden mit weniger als 100 jüdischen Einwohnern). Mikwenobservanz im regionalen Vergleich
Dabei stellt sich die Situation auf dem Land keineswegs einheitlich, sondern regional höchst unterschiedlich dar, besonders was die Gemeindegröße von 100 bis 300 jüdischen Einwohnern betrifft. Die Statistik unterscheidet allgemein sieben größere deutsche Staaten, im Falle von Preußen noch unterteilt nach Provinzen, sowie die Sammelrubrik ‚übrige Bundesstaaten‘. Betrachtet man nun, in welchen Gebieten es mehr kleinere Gemeinden mit Mikwe als solche ohne gibt, so begegnet auch hier ein deutliches Süd-Nord-Gefälle, wie es bereits im Zusammenhang mit der staatlichen Mikwenpolitik zu beobachten war.510 Besonders in den süddeutschen Staaten, aber auch hessischen Gebieten, mit ihrem traditionsreichen Landjudentum, besaßen selbst kleine und kleinste jüdische Gemeinden auch 1905 noch überwiegend eine Mikwe. Die folgende Tabelle listet all diejenigen Regionen auf, bei denen in der Gemeindegröße 100 bis 300 Juden die Zahl der Gemeinden mit Mikwe überwog (geordnet nach dem Prozentanteil der Gemeinden mit Mikwe in dieser Kategorie):511 Region
Elsass-Lothringen Hessen Hessen-Nassau (Kgr. Preussen) Bayern Baden Posen (Kgr. Preussen) Württemberg Hannover (Kgr. Preussen) Ostpreussen (Kgr. Preussen) Westpreussen (Kgr. Preussen)
Kleingemeinden (100–300 Mitglieder) MIT OHNE Anteil Mikwe Mikwe MIT 69 7 91 % 16 2 89 % 31 5 86 % 38 7 84 % 33 7 83 % 26 6 81 % 12 6 67 % 9 5 64 % 9 5 64 % 9 7 56 %
Kleinstgemeinden (bis 99 Mitglieder) MIT OHNE Anteil Mikwe Mikwe MIT 25 21 54 % 47 20 70 % 80 39 67 % 85 38 69 % 35 12 74 % 6 9 40 % 16 6 73 % 15 32 32 % 6 10 38 % 2 6 25 %
In sämtlichen hier nicht aufgeführten Regionen war es hingegen der häufigere Fall, dass in Gemeinden dieser Größe keine Mikwe vorhanden war; dies umfasst neben den nicht einzeln genannten kleineren Staaten einerseits das Königreich Sachsen (mit landesweit nur einer Mikwe das absolute Schlusslicht), andererseits die Großzahl der preußischen Provinzen. Hat es nun nach dieser Tabelle zunächst
510 Vgl. hierzu Kapitel 4.2.2.7. 511 Die absoluten Zahlen entnehme ich Tabelle X in [Thon], Die jüdischen Gemeinden, S. 18; die Prozentangaben wurden von mir auf dieser Basis errechnet.
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den Anschein, dass fünf der preußischen Provinzen das vorherrschende Schema des Süd-Nord-Gefälles durchbrechen, so offenbart ein Blick auf die Verhältnisse in den dort vorhandenen Gemeinden bis 99 Mitgliedern doch einen wesentlichen Unterschied zu den süddeutschen Flächenstaaten: Selbst in solchen Kleinstgemeinden des süddeutschen Raums, einschließlich Großherzogtum Hessen und dem preußischen Hessen-Nassau, waren mehrheitlich noch intakte Tauchbäder vorhanden, wenngleich in dieser Kategorie der Prozentsatz von Gemeinden mit Mikwe in aller Regel bescheidener ausfällt512 – ein Umstand, der sich jedoch leicht durch den geringeren finanziellen Spielraum bei nur wenigen Gemeindemitgliedern erklären lässt. In sämtlichen Provinzen Preußens mit Ausnahme von Hessen-Nassau überwog hingegen die Zahl der Kleinstgemeinden ohne Mikwe.513 Posen lässt dabei insofern einen interessanten Vergleich zu, als hier zwar unter den Kleingemeinden ganze 81 % eine Mikwe besaßen, unter den Kleinstgemeinden hingegen nur sechs von 15, d. h. 40 %.514 An diesem Schnittpunkt offenbart sich die besondere Bedeutung der staatlich forcierten Modernisierungspolitik der Mikwen in den 1820er und 30er Jahren: Angesichts des behördlichen Drucks kam das süddeutsche und hessische Landjudentum mit seiner jahrhundertealten Frömmigkeitskultur, in der auch das Tauchbad eine wichtige Rolle spielte, nicht umhin, sich schon früh den Anforderungen der Moderne zu stellen. Auf diese Weise gelang eine Transformation der ungewöhnlich reichen ländlichen Mikwenlandschaft, die trotz spürbarer Einschnitte ihren spezifischen Charakter nicht einbüßte, sondern (bei allen Unzulänglichkeiten der Maßnahmen) zukunftsfähig gemacht wurde. Den ersten Platz in der Mikwenlandschaft des frühen 20. Jahrhunderts belegte dabei 1905, in absoluten Zahlen gemessen, das Königreich Bayern mit landesweit 134 Orten mit Mikwe (72 %), davon 123 Klein- und Kleinstgemeinden. Hier zeigt sich besonders klar der Zusammenhang zwischen der regionalen religiösen Kultur und der Zahl der Tauchbäder, liegt doch deren überwiegende Mehrheit im nördlichen Landesteil, genauer in Unterfranken, das sich ab den 1840er Jahren zu einer „Hochburg der Orthodoxie“515 entwickelte. Unter der großteils ländlich geprägten Judenschaft Unterfrankens waren selbst 1932 noch in 72 von 95 Gemeinden (knapp
512 Die einzige Ausnahme bildet diesbezüglich das Königreich Württemberg, wo 73 % der Kleinstgemeinden, aber nur 67 % der Kleingemeinden im Jahr 1905 eine Mikwe besaßen. 513 Zwar gab es in der preußischen Provinz Schleswig-Holstein unter vier Kleinstgemeinden auch zwei mit Mikwe, jedoch scheint mir die nur sehr geringe Gesamtzahl von Gemeinden (insgesamt neun) die etwas vereinfachende Aussage zu rechtfertigen. 514 Wobei natürlich einzuräumen ist, dass die Prozentangabe für Posen aufgrund der geringen Gesamtzahl an Gemeinden weniger zuverlässig ist als die für Bayern. Wären in Posen mehr Kleinstgemeinden vorhanden, so könnte sich das Verhältnis von Gemeinden mit Mikwe zu solchen ohne unter Umständen anders darstellen. 515 Lowenstein, „Alltag und Tradition“, S. 17.
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76 %) Mikwen vorhanden, somit deutlich mehr als in Mittelfranken (25 von 38, d. h. 66 %) oder gar Oberfranken (drei von 15, d. h. 20 %).516 Aber selbst das unter Orthodoxen mitunter als liberal verpönte Württemberg517 präsentiert sich in gewissem Umfang besser als sein Ruf: Von 22 Kleinstgemeinden hatten immerhin 16, d. h. fast 73 %, eine Mikwe, so dass Württemberg zusammen mit Baden (74 %) sogar noch etwas vor Bayern lag, das trotz seines hohen Anteils orthodoxer Juden in dieser Kategorie nur zu 69 % mit Mikwen ausgestattet war. An dieser Stelle machen sich offensichtlich die Bestimmungen der württembergischen Oberkirchenbehörde von 1846 bemerkbar, wonach herkömmliche (d. h. hier dem Normalerlass entsprechende) Mikwen in einer Gemeinde bereits dann einzurichten waren, wenn einzelne sich nicht mit der Option der Wannenbäder zufrieden geben wollten.518 Nichtsdestotrotz lassen die in der Statistik angeführten Zahlen und die hierauf basierten Überlegungen natürlich nur bedingt Rückschlüsse auf die tatsächliche Nutzung der Mikwen zu. Das Vorhandensein einer Mikwe garantierte noch nicht, dass die Frauen sie auch wirklich den religiösen Vorschriften gemäß regelmäßig besuchten. Zwar zeugt die Instandhaltung einer Mikwe an der Wende zum 20. Jahrhundert gerade in den dünn besiedelten (und damit finanziell schwächeren) ländlichen Regionen von dem verhältnismäßig hohen Stellenwert, den das Ritual hier immer noch genoss;519 dies ist jedoch vor dem Hintergrund von insgesamt spürbar rückläufigen Nutzerzahlen zu sehen, wobei das Bureau für Statistik der Juden für diese eingangs getroffene Aussage leider keine konkreten Daten nennt. Ein Indiz hierfür ist immerhin auch der Umstand, dass eine Mikwe „in vielen Fällen […], wenn sie in Verfall gerät, nicht wieder repariert“ wurde.
516 Ebd., S. 16 (Anm. 33). 517 Bezüglich der Mikwenthematik im Besonderen siehe Kapitel 6.2.1, allgemein zu orthodoxen Vorurteilen gegenüber den württembergischen Juden vgl. beispielsweise den Diskurs in drei Ausgaben der orthodoxen Zeitung Der treue Zions-Wächter von April bis Juli 1847. Zentral ist hier die Richtigstellung der Situation durch einen ungenannten orthodoxen Juden aus Württemberg, der sich in Nr. 25 vom 22.6. gegen die Verleumdungen zur Wehr setzt: „Man betrachtet uns nur als Quasi-Juden, und ist geneigt, uns […] als Reformer des Judenthums zu verschreien. Es ist Manie geworden uns zu verlästern.“ (o.V., „Würtemberg. Ulm“, S. 207; des Weiteren o.V., „Aus dem Würtembergischen“, 20.4.1847, S. 128, und I…l B…k, „Adresse an unsere treuen Glaubensbrüder“, S. 227f). 518 Vgl. Kapitel 4.1.4 sowie 5.1.2 zu Creglingen. 519 Im Fall von Unterfranken sind auch im Synagogen-Gedenkband Bayern viele Renovierungen sowie Neubauten Ende des 19. oder sogar Beginn des 20. Jahrhunderts belegt; vgl. Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. III/1 und III/2.
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Religiöse Gebote im Wandel – zwischen orthodoxem Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit
Die größer werdende Kluft zwischen traditionell-religiösem Anspruch und moderner Wirklichkeit spiegelt sich dabei ebenfalls in dem Erscheinen des bereits genannten Werkes Amirah le-beth Jakob des orthodoxen Würzburger Rabbiners Seligmann Bär Bamberger, in dessen Einleitung der Autor die Gründe für die schon Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitete Nichtbeachtung der nidda-Gesetze erörtert: Der Grund zur Übertretung dieser heiligen Gesetze dürfte daher häufig nicht in sündhafter Absicht, vielmehr in Unkenntnis der Gebote selbst und ihrer Wichtigkeit zu finden sein. Nach [sic] eine andere Quelle gibt es für die so überaus traurige Erscheinung der Übertretung der heiligen Ehegesetze: Die Verblendung und Anmaßung mancher Menschen geht so weit, daß sie glauben, wie für menschliche Dinge auch für die Gesetze der Religion Grund und Ursache auffinden zu können. Von diesem Irrtum befangen, halten sie die von der Religion gebotenen Absonderungs- und Reinigungsgesetze für physische Reinlichkeitsregeln oder hygienische Anordnungen. Es sei darum die genaue Erfüllung dieser Pflichten nicht so streng zu nehmen, und könne auch auf eine andere Weise dieser Zweck erreicht werden.520
Die kleiner werdende Gemeinschaft von Jüdinnen und Juden, die noch eine traditionelle Form ihrer Religion lebten, erhielt mit diesem Bändchen nicht nur ein handliches Regelwerk für die Praxis, sondern zugleich eine ideelle Rückversicherung im Geist der Neo-Orthodoxie. Während Bamberger die Förderung der körperlichen Gesundheit durch die Einhaltung der nidda-Regeln als Faktum anerkennt, sei deren Hauptzeck doch ein völlig anderer: Allerdings hat die Beobachtung der ehelichen Absonderungs- und Reinigungsgesetze, sowie der sämtlichen Religionsgesetze auch in physischer Beziehung unverkennbar die segensreichsten Folgen; ihr eigentliches Motiv jedoch liegt auf sittlichem Gebiet und hat unsere sittliche und geistige Vervollkommnung zum Ziel.521
Ebenso wie liberale Juden orientierten sich auch die Vertreter der Neo-Orthodoxie an dem bürgerlichen Ideal der Erziehung des Menschen zu „Vervollkommnung“ und wahrer Humanität; in seiner als das „Gute, Wahre und Edle“522 benannten Trias zitiert Bamberger – zwar in leichter Abwandlung, doch unmissverständlich – die spätestens seit der Weimarer Klassik omnipräsente Leitformel des Wahren,
520 Bamberger, Amirah le-beth Jakob, S. 14. 521 Ebd., S. 15. 522 Ebd., S. 21; dort weiter oben auch nochmals in der Form „Reines, Wahres und Gutes“.
Zwischen Gesundheit und Gebot: Der ideologische Wandel der Mikwe
Guten und Schönen523 an. Diese Vervollkommnung findet der Mensch jedoch nur im völligen Einklang mit dem ihm verkündeten göttlichen Willen, und so bleiben die nidda-Gesetze, zumal aufgrund der biblisch geforderten schweren Strafe ‚himmlischer Austilgung‘ für ihre Übertretung, aus orthodoxer Sicht nach wie vor zentral,524 werden sogar zu dem entscheidenden Merkmal stilisiert, das eine fromme Frau ausmacht. So umreißt ein Schüler Bambergers, der damalige Bezirksabbiner in Weikersheim Dr. Isak Heilbronn,525 1892 im Kontext einer persönlichen Streitigkeit zwischen der zuständigen Mikwenfrau und einer Nutzerin im württembergischen Archshofen den traditionellen Standpunkt folgendermaßen: Was nun die religiöse Seite des Frauenbades betrifft, so erlaube ich mir, mich auf die Erklärung zu beschränken, daß der Gebrauch desselben zu den wichtigsten, die Frauen betreffenden Vorschriften des äußeren Theiles der mosaischen Religion gehört und legen sich fromme Frauen lieber die größten Entsagungen auf, als daß sie diese Vorschrift übertreten […].526
Soweit die Theorie, wie sah es aber in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts aus? Und ließ sich am Kriterium der Mikwe als einer der „wichtigsten“ Vorschriften für Frauen bereits ablesen, wie „fromm“, im Sinne von orthodox, eine Frau war? Die Antwort hierauf dürfte weniger klar sein als der Anspruch, den Rabbiner Heilbronn aus Sicht der Orthodoxie formuliert. Einerseits ist, wie dargestellt, davon auszugehen, dass sich die Tradition des Tauchbads vor allem in den ländlichen Gemeinden des süddeutschen und hessischen Raums länger hielt als anderswo. Andererseits begann man selbst hier im Laufe des 19. Jahrhunderts, manche religiösen Bräuche weniger streng zu befolgen oder gänzlich aufzugeben. Hierzu zählen in erster Linie die Schabbat-Observanz und die Speisegesetze, die sogenannte kaschrut; insofern, als diese beiden Gebotskomplexe Einschränkungen mit sich brachten, die eine vollkommene soziale und wirtschaftliche Integration in die bürgerliche Lebenswelt zumindest erschwerten, kam es diesbezüglich zu den verschiedensten, sehr individuellen Kompromissen.527 Im Falle der Mikwe war ein derartiger lebenspraktischer Grund zwar nicht gegeben,
523 „Indessen schritt sein Geist gewaltig fort / Ins Ewige des Wahren, Guten, Schönen, / Und hinter ihm, im wesenlosen Scheine, / Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.“ (Goethe, „Epilog zu Schillers Glocke“, unpag.). 524 Bamberger, Amirah le-beth Jakob, S. 14; vgl. auch die Approbationen des Buches (ebd., S. 9–12). 525 Dr. Isak Heilbronn (1828–1909) war seit Ende 1861 (zunächst provisorisch) Bezirksrabbiner in Weikersheim („Heilbronn, Isak, Dr.“, in: BHR 1,1, S. 418f). 526 Stadtarchiv Bad Mergentheim, Nr. H-52: Schreiben von Rabbiner Heilbronn an das K. Oberamt Mergentheim vom 3.10.1892. 527 Vgl. hierzu Lowenstein, „Anfänge der Integration“, S. 198, 204f.
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aber auch hier wirkte letztlich ein ähnlicher gesellschaftlich bedingter ‚Hebelmechanismus‘. Wie Franz-Peter Burkard vom Sonderforschungsbereich „Ritualdynamik“ schreibt, der sich von 2002 bis 2013 interdisziplinär mit dem Wandel von Ritualen befasste,528 heißt allein schon „die Bereitschaft, ein Ritual auszuführen oder teilzunehmen, es in den eigenen Lebensvollzug einzubauen […], daß der Akteur irgendwann zum Ritual verbundene Deutungsleistungen vollzogen haben muß, die implizit wirksam sind.“529 Allerdings ist die jeweilige Deutung, die man einem Ritual beimisst, keineswegs stabil oder gar unverrückbar vorgegeben, sondern unterliegt vielmehr ständig der Gefahr der Umdeutung:530 Da Bedeutungen aus eben solchen Kontexten bestehen, kann es sein, daß die Verwendung eines Elementes (Bild, Kleidung, Handlungsablauf), das z. B. gerade aufgrund seiner traditionsschweren Bedeutungsbehaftetheit als besonders wirksam, Ordnung vermittelnd etc. betrachtet wird, in einen offensichtlichen (d. h. sinnlich-wahrnehmbaren) Widerspruch zu anderen, neueren Elementen bzw. zu vom Betrachter herangetragenen Deutungsmustern steht. Das Aufeinandertreffen dieser Unvereinbarkeiten provoziert dann geradezu eigene Interpretationsprozesse, die etwa einer eindeutigen Normvermittlung entgegenlaufen, weil sie einen Fremdheits- bzw. Befremdungseffekt hervorrufen und dazu veranlassen „mit anderen Augen zu sehen“.531
Auf die Tauchbäder bezogen heißt das z. B. konkret, dass das Wasser einer Kellermikwe in dem Kontext neuer Hygienevorstellungen anders wahrgenommen werden konnte als bei traditionellen Juden: nicht mehr als Quelle für rituelle Reinheit, sondern als Quelle unter anderem für ansteckende Krankheiten, wie besonders Mombert betont. Die an einem solchen Punkt dem Ritual des Untertauchens532 innewohnende Sprengkraft konnte nun in zwei Richtungen wirken: Entweder es erfolgte eine angemessene Anpassung der ‚Requisiten‘, d. h. der äußeren Erscheinungsform der Mikwen, oder aber das Ritual wurde zum Symbol der Rückständigkeit des Judentums bzw. allgemein von irrationalen religiösen Zwängen und der Autorität der Rabbiner, über die man sich unter Berufung auf die Vernunft hinwegsetzen darf und muss. Beide Möglichkeiten stehen im 19. Jahrhundert nebeneinander, die Modernisierung vieler Mikwen und die gänzliche Abkehr von dieser Tradition.
528 529 530 531 532
Siehe die Homepage des Projekts (o.V., „SFB 619 Ritualdynamik“). Burkard, „Normen und Rituale“, S. 15. Ebd; vgl. auch Stollberg-Rilinger, Rituale, S. 11. Burkard, „Normen und Rituale“, S. 15. Ich verweise hier auf meine Arbeitsdefinition des Begriffes Ritual in Kapitel 6.1.2 (Anm. 194) als eine religiös motivierte Handlung, die bestimmte komplexere bzw. feste Formen aufweist.
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Wie Erinnerungsberichte an diese Zeit zeigen, gab man jedoch auch die ebenfalls im Wandel begriffenen Traditionen bezüglich Schabbat und kaschrut nicht unbedingt von einem Tag auf den anderen vollständig auf, und auch nicht deshalb, weil sie pauschal als lästig empfunden wurden, sondern häufig schrittweise und mit einer ganz konkreten Begründung bzw. auf spezielle Situationen bezogen. So hielt man sich beispielsweise im eigenen Haus an die Vorschriften zu koscherem Essen, nahm aber unter Umständen auch Speisen von christlichen Nachbarn an oder aß in nichtjüdischen Lokalen.533 Über die Aufgabe der Schabbatruhe berichtet Eduard Silbermann (geboren 1851 in Kolmsdorf, Oberfranken), der 1862 mit seinen Eltern vom Land nach Bamberg zog; dort passte man die Geschäftspraxis nach und nach neueren Gepflogenheiten an, wobei dieser Wechsel, was nicht ungewöhnlich ist, auf die eine oder andere Weise im Zusammenhang mit der Kindergeneration steht:534 Das Geschäft war am Sabbat, jedenfalls anfangs noch, streng geschlossen, wenn auch mein Bruder Simon, der in Aschaffenburg in einem Geschäft tätig war, das an diesem Tage und an den Feiertagen – außer Neujahr und Jom Kippur – geöffnet war, allmählich eine laxere Observanz herbeiführte, an der sich dann auch mein Bruder Salomon beteiligte. Wenn auch der Laden äußerlich geschlossen bleiben mußte, so ließen sie es sich doch nicht nehmen, an solchen Tagen Kunden, die dringenden Bedarf hatten – später auch solche, die überhaupt kamen – zu bedienen.535
Was heißt das aber für die Mikwe? Auch hier ist vor diesem Hintergrund davon auszugehen, dass man sich nicht unbedingt plötzlich und aus reiner Bequemlichkeit dem Gebot entzog, sondern dass ein solcher Schritt schon deshalb reflektiert erfolgte, weil familiäre Zwänge häufig noch wirksam waren.536 Und so ist anzunehmen, dass insbesondere jüdische Frauen auf dem Land, sofern sie sich nicht bewusst für den Weg der Orthodoxie entschieden hatten, bezüglich Schabbat, kaschrut
533 Vgl. Lowenstein, „Anfänge der Integration“, S. 204f. 534 Vgl. beispielsweise die anschauliche Schilderung von Meier Spanier (1864–1942) zur Einhaltung der Speisegesetze in seinem Elternhaus: „Von meiner Mutter habe ich häufig das Wort gehört: wir sind nicht orthodox, aber religiös. Mit diesem in der Form sehr angreifbaren Satze wollte sie ausdrücken, daß man in unserem Hause bei aller Treue zum traditionellen Judentum vor allen Übertreibungen und Verstiegenheiten sich hütete. Es ist selbstverständlich, daß wir, wie man so schön sagt, einen streng koscheren Haushalt hatten, aber wenn ein milchiges Messer versehentlich mit Fleischigem in Berührung kam, so wurde zwar das umständliche Reinigungsexperiment zunächst noch gemacht, aber doch schon mit etwas kritischem Lächeln, und wohl durch den Einfluß der heranwachsenden Kinder wurden schließlich einfachere Reinigungsmethoden angewandt.“ („Meier Spanier“, in: Richarz [Hg.], Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 1, S. 202–212, hier S. 206). 535 Erinnerungen von „Eduard Silbermann“, zit. nach: Richarz, Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 1, S. 160–176, hier S. 173f. 536 Vgl. hierzu Kapitel 5.1.2.
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und Mikwe ihre ganz persönliche, der jeweiligen familiären und sozialen Situation entsprechende Mischung praktizierten.537 Eine Frau besuchte also möglicherweise regelmäßig die Mikwe, während man hinsichtlich der Speisegesetze bereits Kompromisse einging. Aus diesem Grund war die Frage der Mikwe allein sicher keine jüdische ‚Gretchenfrage‘, wohl aber ein bedeutender Baustein im religiösen Gebäude einer Frau bzw. der gesamten Familie. Auch hatte sie ein wesentliches Merkmal mit den beiden anderen Gebotskomplexen gemein, die im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr vernachlässigt wurden. Die hohe religiöse Bedeutung von SchabbatObservanz, kaschrut und Mikwe bewirkten, dass das gemeinschaftsbildende und -erhaltende Moment von Religion an dieser Stelle leicht in sein Gegenteil verkehrt werden konnte, man diese drei Aspekte zu Werkzeugen der sozialen Kontrolle und interner Gruppenbildung machte. Besonders augenfällig war Letzteres im Fall der Göttinger Gemeinde, wo sich Ende des 19. Jahrhunderts eine Gruppe orthodox gesinnter Gemeindeglieder von der als zu liberal empfundenen Hauptgemeinde absonderte. So gründete man nicht nur eine separate Betgemeinschaft, sondern richtete 1899 sogar eine Mikwe in einem Privathaus ein, da die Mehrheit der Gemeinde eine solche Einrichtung in der neu gestalteten Synagoge (trotz ursprünglicher Zusage) als unpassend ablehnte. Im Kontext religiöser Richtungskämpfe konnte der Weg der Mikwe also auch umgekehrt verlaufen – weg von der öffentlichen Gemeindemikwe und zurück in die Privatsphäre der Kellermikwe!538 Im Allgemeinen aber trat die Frage der Mikwe in der öffentlichen Wahrnehmung wegen der hohen Sensibilität des Themas gerade im 19. Jahrhundert weitgehend hinter die beiden anderen Bereiche, Schabbat und kaschrut, zurück; dass sie als Indikator für die religiöse Gesinnung und Motor für Diskriminierung aber dennoch eine nicht unbedeutende Rolle spielte, zumindest im Hintergrund, sollen zwei Fälle schlaglichtartig beleuchten. Einem verheiraten Heidelberger hatte man 1823 „vor einer öffentlichen Gesellschaft den Vorwurf gemacht […], er lebe mit seiner Frau, ohne daß diese die nach den isr. Religions-Gesetzen streng gebotenen Reinigungsbäder halte“539 , worauf sich der gekränkte Ehemann zur Untersuchung der Vorwürfe an den zuständigen
537 Auch symbolisierte gerade das Gebot der Mikwe für manche Frauen möglicherweise in besonderer Weise ihre Verbundenheit mit der jüdischen Religion oder Tradition; vgl. hierfür Cicurels Beobachtung unter nicht religiös lebenden israelischen Frauen (Cicurel, „Rabbinate“, S. 172). 538 Siehe Schaller, Synagogen in Göttingen, S. 52f; für die Hintergründe der Entwicklung in Göttingen vgl. auch Obenaus/Bankier/Fraenkel (Hgg.), Historisches Handbuch, Bd. 1, S. 647f. 539 GLA Karlsruhe, 314 Nr. 299: Schreiben von Rabbiner Gottschalk Abraham in Mannheim an das Directorium des Neckarkreises vom 12.5.1823.
Zwischen Gesundheit und Gebot: Der ideologische Wandel der Mikwe
Provinzialrabbiner Abraham Gottschalk (1756–1824)540 in Mannheim wandte. Ob die Ehefrau tatsächlich, ohne das Wissen ihres Mannes, die Praxis der Mikwe aufgegeben hatte, erfahren wir aus den vorliegenden Dokumenten leider nicht,541 wohl aber, dass die Vorwürfe den Ehemann gleich dreifach trafen, privat, religiös und gesellschaftlich: Sie störten die Beziehung zu seiner Frau (den „Hausfrieden“), belasteten sein religiöses Gewissen (falls seine Frau ihn bewusst täuschte, würde er nichtsdestotrotz ebenfalls „eine schwere Sünde auf sich laden […], und sogar dadurch genöthigt sich von ihr zu trennen“), und schädigten seinen Ruf, da er „diesen Verdacht als religiöser Mann durchaus nicht auf sich beruhen laßen könnte und dürfte“.542 Die zweifache Dimension der erhobenen Anschuldigung, religiös und sozial, äußert sich nicht zuletzt auch darin, dass der Fall vorübergehend an die weltlichen Behörden gelangte, da der Beklagte sich weigerte, vor dem Rabbiner als einer religiösen Instanz zur Richtigkeit seiner Beschuldigung auszusagen.543 Der Rabbiner hingegen bemühte sich, nach eigenen Worten, gerade aufgrund der besonderen religiösen Tragweite, nämlich dem „Vorwurf eines schweren Religionsvergehens“544 , und der unzumutbaren häuslichen Situation für den Ehemann um eine schnelle Klärung. Inwieweit hier die aufrichtige Sorge um die religiöse Verfassung der Gemeinschaft oder aber andere Motive persönlicher Art zu der öffentlichen Anschuldigung führten, muss dahingestellt bleiben. In jedem Fall handelt es sich hier um eine Auseinandersetzung auf rein privater Ebene, wobei der in Gang gesetzte Ausgrenzungsmechanismus bis in die Kernfamilie hinein wirkte, die jüdische Gemeinschaft somit an ihrer Basis zu spalten drohte. In anderen Fällen diente hingegen der Vorwurf des Verstoßes gegen ein halachisches Gebot auch als probates Mittel zur Durchsetzung gemeindepolitischer Interessen. Derartige Revierkämpfe wurden selbstverständlich in der Öffentlichkeit ausgetragen, und hierfür bot sich besonders die Frage der kaschrut an. So versuchte beispielsweise die kleine orthodoxe Fraktion der Fürther Gemeinde unter anderem auch auf diese Weise, den liberalen Rabbiner Löwi zu diskreditieren: Man habe von gleich zwei Zeugen gehört, dass Löwi
540 Abraham Gottschalk war seit 1800 Rabbiner in Mannheim und bekleidete später auch das Amt des Distrikts- und Provinzialrabbiners. Das Handbuch der Rabbiner verzeichnet ihn unter dem Familiennamen Alsenz („Alsenz, Getschlik“, in: BHR 1,1, S. 141f). 541 Der Fall wurde nur deshalb überhaupt aktenkundig, weil der Beklagte sich weigerte, zu einer Anhörung vor dem Rabbiner zu erscheinen und dieser sich hierfür behördliche Hilfe erhoffte. 542 GLA Karlsruhe, 314 Nr. 299: Schreiben von Rabbiner Gottschalk Abraham in Mannheim an das Directorium des Neckarkreises vom 12.5.1823. 543 GLA Karlsruhe, 314 Nr. 299: Bericht des Großherzoglichen Stadtamts Heidelberg vom 10.5.1823. 544 GLA Karlsruhe, 314 Nr. 299: Schreiben von Rabbiner Gottschalk Abraham in Mannheim an das Directorium des Neckarkreises vom 12.5.1823.
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im nahegelegenen Zirndorf Bratwürste gegessen habe.545 Abseits des fränkischen „Bratwurst-Äquators“546 war der Stein des Anstoßes zwar möglicherweise weniger klar bestimmbar, aber das Schema nicht minder wirksam: Es genügte vollkommen, einen Rabbiner des Fleischverzehrs in einem nichtjüdischen Lokal zu bezichtigen, gilt doch halachisch sämtliches Fleisch von Tieren, die nicht von einem Juden vorschriftsmäßig geschächtet wurden, als tabu. 1866 schaffte es ein solcher Fall bis auf die Titelseite von Der Israelit, gemäß dem Untertitel das Central-Organ für das orthodoxe Judenthum: „Ein Reform-Rabbiner, beschuldigt, in öffentlicher, nichtjüdischer Restauration verbotene Fleisch-Speisen genossen zu haben.“547 Demnach hatte man den großherzoglichen Landesrabbiner in Darmstadt Dr. Julius Landsberger (1819–1890)548 , der als „gemäßigter Liberaler“ von den Orthodoxen in seinem Bezirk angefeindet wurde,549 öffentlich beschuldigt, in der Frankfurter Bahnhofswirtschaft „Kalbscarbonnade oder Cotelettes“ gegessen zu haben.550 Landsberger strengte eine Verleumdungsklage an und gewann in erster Instanz, woraufhin jedoch der verurteilte Beklagte Berufung einlegte und den Fall erneut zur Verhandlung brachte. In diesem zweiten Verfahren verlor Landsberger gegen seinen Rivalen, weil die Verhandlung eine unerwartete Richtung nahm. Landsberger bewirkte selbst durch seine Aussage diesen Fokuswechsel: Herr Dr. Landsberg gibt zu, d aß e r s eh r häu fi g i n ch r ist l iche n R est aur at i one n Fische, Eier, Salat, Butterbrot etc. esse, daß er seinen Schwager und andere Herren, die sich über die jüdischen Speisevorschriften hinwegsetzten […] begleite und dabei sitze, während die Anderen essen, aber niemals selbst Fleisch in einer nichtjüdischen Restauration genieße.551
Nicht mehr die Frage des verbotenen Fleisches stand daraufhin im Raum, sondern die Missachtung der jüdischen Speisegesetze ganz allgemein, da diese nach streng orthodoxer Auslegung jede Mahlzeit aus einer nichtjüdischen Küche verbieten. Da Landsberger selbst einräumte, diesbezüglich gewisse Kompromisse einzugehen,
545 Vgl. hierzu und allgemein für die Kontroversen um Löwi Kraus u. a. (Hgg.), Synagogen, Bd. II, S. 290f. Zu Rabbiner Löwi siehe auch oben Kapitel 6.2.2.2. 546 Vgl. Tourismusverband Franken (Hg.), „Die fränkische Bratwurst“, unpag. 547 [Lehmann], „Reform-Rabbiner“, S. 735–739. 548 Abweichend von dem Zeitungsartikel, der ihn als Dr. Julius Landsberg bezeichnet, verwende ich hier den Namen Landsberger gemäß dem Handbuch der Rabbiner. Landsberger war von Ende 1859 bis Ende 1889 großherzoglicher Landesrabbbiner in Darmstadt; vgl. „Landsberger, Julius, Dr.“, in: BHR 1,2, S. 571f. 549 Ebd., S. 571. 550 [Lehmann], „Reform-Rabbiner“, S. 735. 551 Ebd., S. 736 (Hervorhebungen im Original).
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entschied das Gericht am Ende zugunsten des Beklagten: Dieser habe seine Äußerung offensichtlich nicht in „lügnerischer Weise und in verleumderischer Absicht gethan“, sondern hierfür „genügenden Grund“ gehabt.552 Darüber hinaus wird Landsberger im Laufe der Verhandlung noch eine weitere Übertretung jüdischer Religionsvorschriften vorgeworfen. Einer der geladenen Zeugen sagt aus, er verstoße gegen die jüdischen Ehegesetze, da seine Frau nicht die Mikwe besuche und es ihm somit geboten sei, sich von ihr zu trennen; er sei deshalb „u nf ä h i g, als Rabbiner zu fungieren“553 . Auch hierzu bekennt sich Landsberger, und zwar mit dem Hinweis auf Gesundheitsrücksichten: Seine Frau vertrage die „doppelte Temperatur“ (oben sei das Wasser warm, unten kalt) der Anlagen nicht, so dass sie diese auf ärztlichen Rat hin meide und stattdessen eine öffentliche Badeanstalt besuche; nach Ansicht mancher Rabbiner sei „geschöpftes Wasser“ durchaus zulässig.554 Dieser Aspekt und der darauf basierende Argumentationsstrang von Landsbergers Gegnern findet in der richterlichen Begründung des Urteils zwar keine Erwähnung, aber eine Beeinflussung des Gerichts ist ebensowenig völlig auszuschließen. Nicht nur beschuldigt der geladene orthodoxe Sachverständige (der Herausgeber von Der Israelit und Verfasser des Artikels!) Landsberger der „Uebertretung eines der heiligsten Religionsgesetze des Judenthums“555 , sondern stellt dieses Vergehen auch sehr ausführlich in Relation zu anderen Verstößen, namentlich gegen die Speisegesetze: Gemessen an der Übertretung der Ehegesetze, worauf die höchste göttliche Strafe (karet) stehe, falle der Genuss von verbotenen Speisen kaum noch ins Gewicht.556 Dass es in dem Prozess zentral um Landsbergers Eignung als Rabbiner ging, war beiden Parteien bewusst und wird an verschiedenen Stellen deutlich. Landsberger selbst weist in seiner Klageschrift darauf hin, dass, „f a l ls d i e B e s chu ld ig u ng w a h r s e i, e s i h m u nmö g l i ch w ü rd e, s e i n Amt fe r ne r z u ve r w a lte n , d a e r d i e S chä chte r z u pr üfe n u nd d i e Au f re chte rha ltu ng d e r Sp e is eges e tz e z u üb e r w a che n hab e.“557 Bereits in der nächsten Ausgabe von Der Israelit erschien eine Fortsetzung unter dem Titel „Was haben diejenigen gesetzestreuen Gemeinden zu thun, deren Rabbiner sich öffentlich zur Uebertretung jüdischer Religionsgesetze bekennt?“ Hierin wird das Ziel von Landsbergers Gegnern nochmals unmissverständlich formuliert, indem man es mit einem Appell an die Fraktion der Orthodoxen im Rabbinatsbezirk Darmstadt verbindet:
552 553 554 555 556 557
Ebd., S. 739. Ebd., S. 736 (Hervorhebung im Original). Ebd. Ebd., S. 738. Ebd. Ebd., S. 735 (Hervorhebung im Original).
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D a ist e s he i l i g ste Pfl i cht e ine s j e d e n E i nz elne n , f ü r Abh i lfe S orge z u t r age n . […] Jeder, dem die heilige Religion unserer Väter am Herzen liegt, muß kraftvoll auftreten und darf keine Anstrengung scheuen, um bei der hohen Regierung zu erwirken, daß es gestattet werde, einen gesetzestreuen Rabbinen für die gesetzestreuen Gemeinden zu engagieren.558
Zwei Dinge werden an diesem Fall besonders deutlich: Zum einen erscheint das Gebot der Mikwe eng verbunden mit den beiden prominenten Gebotskomplexen von Schabbat und kaschrut, welche einen Juden auch im Privatleben nach außen sichtbar als Anhänger der sich formierenden neo-orthodoxen oder der liberalen Strömung kennzeichneten. Wie sehr die drei Bereiche in dieser Hinsicht funktional eine Einheit bilden, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Punkt der SchabbatObservanz im Fall von Landsberger ebenfalls nicht ausgespart wurde: Landsberger habe am Schabbat Zigarren geraucht, wie der Beklagte in seiner Verteidigungsschrift angibt. Zwar spielt dieser Aspekt in der erwähnten Verhandlung keine Rolle, wird aber für den Leser gleich zu Beginn des zweiten Artikels in Der Israelit nachgetragen.559 Bedeutender ist hingegen die Frage der Mikwe, sie fungiert innerhalb der orthodoxen Kampagne gegen Landsberger als ‚Plan B‘: Religiös das gewichtigere Argument, aber mit einem gesellschaftlichen Tabu belastet, ordnet man sie in der Öffentlichkeit dem der Speisegesetze nach. Folgerichtig versäumt der Herausgeber der Zeitschrift auch nicht, sich bei seinen Lesern in einer Fußnote dafür zu entschuldigen, „hier Dinge [zu] berühren, die sich sonst der öffentlichen Besprechung entziehen“.560 Dabei haben die zwei Berichte – nicht umsonst beides Leitartikel und an orthodoxe Leser im gesamten Gebiet des zukünftigen Kaiserreichs adressiert – selbstverständlich mehr als nur eine lokale Bedeutung. Sie dienen allgemein dem Mobilisieren von Widerstand gegen reformorientierte Führungskräfte, worauf neben der als Grundsatzfrage formulierten Überschrift auch der Schluss des zweiten Artikels hinweist: „Leider stehen diese Darmstädter jüdisch-religiösen Zustände nicht vereinzelt da. Die obige Darstellung, die obige Aufforderung gilt für alle Diejenigen, welche unter ähnlichen Verhältnissen leben.“561 Die besondere gemeinschaftsbildende Kraft der Mikwe, nämlich jüdische Frauen über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg zu verbinden, fungierte an dieser Stelle, innerhalb des Richtungskampfes zwischen Neo-Orthodoxie und liberalem Judentum, mehr denn je auch in die andere Richtung: als ein Instrument innerjüdischer Gruppenbildung und Abgrenzung.
558 559 560 561
[Lehmann], „Gemeinden“, S. 752 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 751. [Lehmann], „Reform-Rabbiner“, S. 736. [Lehmann], „Gemeinden“, S. 752.
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Zum anderen zeigt sich, dass der Grund für die nachgeordnete Rolle der Mikwe in derartigen öffentlichen Feldzügen gegen missliebige Rabbiner auch nicht unbedingt in der schwierigen Beweisführung zu sehen ist, wie man vielleicht vermuten könnte. Auf die Frage an den Zeugen, ob er die Anschuldigung, Landsberger übertrete die jüdischen Ehegesetze, beweisen könne, erwidert dieser ohne Umschweife: „Es wird nicht schwer halten, das zu beweisen.“562 Die sozialen Kontrollmechanismen waren offensichtlich nach wie vor, wie bereits in dem früheren Fall aus Heidelberg, selbst in diesem intimen Bereich wirksam, und der Besuch oder Nichtbesuch der Mikwe somit keinesfalls eine ‚Privatangelegenheit‘ der Frau. An diesen und ähnlichen Fällen, die allerdings naturgemäß nicht allzu häufig dokumentiert sein dürften, zeigt sich, dass die Frage der Mikwe im 19. Jahrhundert durchaus vergleichbar war mit derjenigen der Schabbat-Observanz und der Einhaltung der jüdischen Speisegebote. Sie bildete tatsächlich eine wichtige Scheidelinie zwischen den gesetzestreuen Orthodoxen und den Anhängern eines liberal verstandenen Judentums, aber eben nur unter der Oberfläche bzw. in zweiter Instanz.
562 [Lehmann], „Reform-Rabbiner“, S. 736.
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7.
Die Mikwe der Emanzipationszeit als Ausdruck und Symbol jüdischen Lebens – Bilanz einer Transformation zwischen Ritual und Raum
Obwohl, wie bereits eingangs gesagt, die Mikwe innerhalb des Emanzipationsdiskurses kaum ‚öffentlich‘ in Erscheinung trat, wurde in der vorangegangenen Untersuchung doch an vielen Stellen deutlich, wie sehr deren Wandel mit dem Prozess der allmählichen Integration der jüdischen Bevölkerung in die bürgerliche Gesellschaft verbunden war. Das, was von christlicher Seite gemeinhin als Vorbedingung der vollständigen rechtlichen Gleichstellung betrachtet wurde, nämlich eine ‚bürgerliche Verbesserung‘ der jüdischen Einwohner, forderte diese dazu heraus, an kritischen Punkten eine klare Stellung zu beziehen. Aber auch unabhängig von der rechtlich-politischen Seite der Emanzipation beinhaltete der Wunsch nach gleichberechtigter Teilhabe ebenfalls immer eine Selbstfindung und gegebenenfalls Neu(er)findung. Die Schablone der fremden Bezugskultur verlangte eine Hinterfragung der überlieferten religiös-kulturellen Werte und Vergewisserung darüber, was man als wesentlichen Bestandteil der eigenen Identität ansah und in irgendeiner Form bewahren wollte. Dieser komplexe und facettenreiche Prozess des Aushandelns einer neuen, bürgerlich-jüdischen Identität angesichts der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche der Zeit musste sowohl auf der Ebene des Individuums als auch der Gemeinschaft als solche geleistet werden. Der innerjüdische Diskurs über eine Reform des Judentums, der seine Wurzeln in der europäischen Aufklärung hat, war immer auch Ausdruck dieser Suche nach der eigenen Stellung in der modernen bürgerlichen Gesellschaft – und ein Teil der Suche war die Frage der Mikwe. Die Mikwe in der öffentlichen Wahrnehmung
Hinsichtlich der Mikwe in ihrer traditionellen Form des Kellerquellenbades bestand das Hauptproblem darin, dass man sie aus medizinischer Sicht im Allgemeinen als gesundheitsgefährdend einstufte: Insbesondere der schnelle Wechsel der Temperatur (vollständiges Eintauchen in ungeheiztem, möglicherweise eiskaltem Wasser) könne schwere körperliche Folgen nach sich ziehen, zumal dann, wenn die Person eher schwächlicher Natur oder momentan geschwächt sei – wie Frauen nach der Menstruation oder einer Entbindung. Zwar gab es durchaus auch die gegenteilige Ansicht, dass nämlich kaltes Wasser den Körper in besonderer Weise stärke, jedoch hatte sich der medizinische Konsens bis Ende des 18. Jahrhunderts daraufhin eingependelt, Extreme möglichst zu vermeiden und auf die individuelle Disposition Rücksicht zu nehmen (wobei man die deutsche Bevölkerung generell als
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
weniger abgehärtet ansah als andere Völker, allen voran die Russen). Der zunächst medizinisch relevante Befund erhielt aber eine politische Dimension dadurch, dass einzelne Ärzte sich an die jeweilige Regierung wandten, um auf die Gefahr für die jüdischen Frauen aufmerksam zu machen; sehr früh (möglicherweise erstmals) geschah dies im Großherzogtum Würzburg Ende 1811. Und wirklich fühlte man sich von staatlicher Seite zunehmend verantwortlich – und berechtigt –, in diese Angelegenheit regulierend einzugreifen; die Ausführung eines religiösen Gebotes der in diesem Bereich weitgehend autonomen jüdischen Gemeinschaft stand plötzlich öffentlich auf dem Prüfstand. Überhaupt möglich und begünstigt wurde eine solche Entwicklung dadurch, dass sich einerseits das staatliche Gesundheitswesen, und der Einfluss der Ärzte, in dieser Zeit auf immer mehr Bereiche des menschlichen Lebens ausweitete, und andererseits, mit dem Ende des Alten Reiches, häufig neue staatliche Strukturen aufzubauen und durch eine geeignete Verwaltung innerlich zu festigen waren. Besonders für das Königreich Württemberg ließ sich zeigen, wie das 1821 erwachende staatliche Interesse an der Beschaffenheit der Mikwen zeitlich mit den ersten Beratungen zusammenfiel, die schließlich 1828 in dem zentralen „Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ mündeten. Die Aussicht, dass die jüdischen Einwohner Württembergs (nach Abschluss geeigneter Erziehungsmaßnahmen) einmal gleichberechtigte Bürger werden sollten, scheint auch der staatlich betriebenen ‚Mission Mikwe‘ Vorschub geleistet zu haben. Tatsächlich wurde in der hiermit einsetzenden ersten Phase behördlicher Aufsicht über die Mikwen gerade in Württemberg, das im Rahmen dieser Arbeit näher betrachtet wurde, einiges bewegt. Das von der Regierung gesetzte Ziel, dass alle jüdischen Frauen künftig nur noch warm ‚baden‘ sollten, ließ sich jedoch nicht so schnell wie erwartet erreichen, ein Umstand, der vor allem auf die Armut vieler ländlicher Gemeinden zurückzuführen ist. Mit Moritz Momberts Monographie Das gesetzlich verordnete Kellerquellenbad der Israelitinnen von 1828 erhielt die Sache der Mikwen nochmals einen starken Impuls, was beispielsweise im Königreich Bayern unmittelbar zu landesweiten Inspektionen Anlass gab, und zugleich eine ganz neue Qualität. Ging es Ärzten und Behörden anfangs lediglich um die Verhinderung von Krankheiten infolge des kalten Wassers, so neigte sich das Beurteilungsraster für Mikwen im Anschluss an Momberts Schrift zwar nicht vollständig, jedoch merklich in Richtung Hygiene. Dabei war man sich auf christlicher Seite durchaus (teils mehr, teils weniger) der Tatsache bewusst, dass das Tauchbad keine körperliche Reinigung bezweckt, aber nichtsdestotrotz waren moderne hygienische Maßstäbe nun auch auf diese Einrichtung anzuwenden. Begünstigt durch die Nähe der Mikwe zu einem normalen ‚Reinigungsbad‘ schob sich in der Folgezeit diese neue, stark auf bürgerlichen Werten basierende Sichtweise über die frühere, rein medizinische Einordnung in den Diskurs über die Wirkung der kalten Bäder – und die Frage der Mikwe hatte fortan auch eine gesellschaftlich-kulturelle Seite. Zwar lag gerade
Die Mikwe der Emanzipationszeit als Ausdruck und Symbol jüdischen Lebens
in der Wahrnehmung der Mikwe als Reinigungsbad auch die Möglichkeit ihrer ‚Verbürgerlichung‘, zunächst jedoch prägte Mombert durch seine eindrückliche und sehr drastische Schilderung das für eineinhalb Jahrzehnte vorherrschende Bild der Mikwe als eines negativen ‚Gegenorts‘. In den fast ausschließlich medizinischen Schriften, die etwa von 1828 bis 1843 die öffentliche Darstellung der Mikwe bestimmten, konnte diese auf zwei Ebenen als ein solcher Gegenort erscheinen: zum einen im Speziellen als Negativbild des gesundheitsfördernden und deshalb vernünftigen Reinigungsbades (populär in der Form der zahlreichen Flussbäder), zum anderen auch im weiteren Sinn als Gegenmodell zur bürgerlichen Gesellschaft an sich mit ihren kulturellen Werten wie Reinlichkeit und Vernunft. Nahm man die Mikwe über die Bildsprache der medizinischen Literatur als abgelegen, schmutzig und gefährlich wahr, so verwies sie entsprechend auf die jüdische Gesellschaft zurück; sie fungierte als ‚Verortung‘ des Judentums im doppelten Sinn, nämlich als gedankliche Fixierung des Judentums im ausdrucksstarken Bild eines Ortes, der durch seine typischen Merkmale als außerhalb gekennzeichnet war. Die jüdische Gemeinschaft begegnete somit im Bild der Mikwe als eine Art ‚Schwellengesellschaft‘: zwar mit einem bestimmten bürgerlichen Potential, und auf dem Weg in die moderne Bürgergesellschaft, aber aufgrund vorhandener Defizite noch von dieser abgesondert. Das so geschaffene gesellschaftliche Bild der Mikwe korrespondierte dabei zeitlich relativ exakt mit dem stagnierenden Emanzipationsprozess während der Zeit des Vormärz bis zum Einschnitt der Revolution von 1848/49. Die Frage der Mikwe als Teil der Suche nach einem modernen jüdischen Selbstverständnis
Wie Eberhard Wolff in seiner Studie Medizin und Ärzte im deutschen Judentum der Reformära anhand verschiedener Bereiche aufzeigen kann, hatte der „Lebensbereich ‚Medizin‘ mit angrenzenden Gebieten […] einen nicht geringen Anteil daran, ein modernes jüdisches Selbstverständnis zu konstituieren.“1 Gerade an medizinischen Themen, beispielsweise der Frage nach dem frühesten zulässigen Zeitpunkt der Beerdigung oder den möglichen Risiken bei der Beschneidung, mussten sich traditionelle jüdische Praktiken und moderne bürgerliche Werte, wie sie im Zuge der Aufklärung entstanden waren, unweigerlich aneinander reiben. Dabei lässt sich für die Mikwe beobachten, was Wolff auch für andere medizinisch relevante Bereiche des Judentums feststellt:2 dass nämlich deren Wandel keineswegs nur, oder hauptsächlich, unter dem Druck der Umwelt stattfand, keine unmittelbare Reaktion auf den Anspruch einer ‚bürgerlichen Verbesserung‘ als
1 Eberhard Wolff, Medizin, S. 238. 2 Vgl. ebd., S. 236–244.
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Voraussetzung für die Emanzipation darstellt. Vielmehr zeugen die Texte jüdischer Aufklärer und Reformer – von Elcan Isaac Wolf über Rabbiner Cohen aus Geseke und Moritz Mombert bis zu den Schriften der Rabbinerkonferenz von 1845 – davon, dass man Judentum, d. h. die altüberlieferten religiösen Traditionen und Werte, unter dem Einfluss der Aufklärung (und dazu gehört auch ein gewandeltes Verständnis von Medizin) neu zu fassen versuchte. Zugleich verstand man sich mehr und mehr als Teil der tief in der Aufklärung verwurzelten bürgerlichen Lebenswelt, deren Normen man verinnerlichte. Kollidierten diese mit denjenigen der jüdischen Tradition, so musste eine moderne jüdische Identität an der entsprechenden Stelle noch ausgehandelt werden. Auch aus jüdischer Perspektive bildeten die alten Kellerquellenbäder somit eine Konfliktzone – und zwar nicht allein in den Augen der Aufklärer, sondern ebenfalls der Nutzerinnen: Auch die Frauen forderten, ermutigt durch allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen und technische Neuerungen, in zunehmendem Maße die Erwärmung des Wassers, bzw. demonstrierten ihren geänderten persönlichen Maßstab dadurch, dass sie die traditionellen Tauchbäder mieden. Folge dieses vielschichtigen Aushandlungsprozesses zwischen zwei verschiedenen Kultursträngen war das, was man in den Kultur- und Sozialwissenschaften unter dem Begriff ‚Hybridisierung‘ diskutiert, d. h. im weitesten Sinn eine kulturelle Identität, die Bestandteile verschiedenen kulturellen Ursprungs beinhaltet.3 Das moderne jüdische Selbstverständnis vereinte fortan Elemente der eigenen Tradition mit zunächst fremden Elementen, wobei dies in der Praxis auf sehr unterschiedliche Weise geschehen konnte. So stellt Wolff beispielsweise für den Bereich der Krankenversorgung fest, dass der äußere Rahmen (nämlich die Institution der Beerdigungsbruderschaft bzw. Gesellschaft für Krankenpflege) in seiner traditionellen Form beibehalten wurde, aber mit neuen Inhalten gefüllt werden konnte: Der ursprüngliche Gedanke der Mildtätigkeit und Erfüllung religiöser Pflichten wich einer anders verstandenen, „fast ausschliesslich weltlich orientierte[n] Krankenversorgung“ auf der Basis gegenseitiger Solidarität.4 Nochmals komplexer ist der Wandel im Fall der Mikwe, wobei sich auch hier prinzipiell das gleiche Muster, eine Ansiedlung des Neuen im Alten und Legitimation durch das Alte, feststellen lässt. Es begegnen zwei Modelle: 1) Einerseits blieb an den Orten, wo man noch Mikwen gemäß traditioneller halachischer Standards nutzte, der äußere Rahmen ebenfalls bestehen, während sich der Inhalt in bestimmter Weise änderte (oder ändern konnte). Im Kontext innerjüdischer Reform erschien die Mikwe nun säkularisiert, als Anwendung des 3 Für eine Problematisierung des Begriffs, und die Frage nach dessen Anwendbarkeit auf die Situation der jüdischen Bevölkerung im Untersuchungszeitraum, verweise ich auf die Studie von Wolff und dessen Definition eines „ubiquitären“ Modells von Hybridität (Medizin, S. 244–256). 4 Ebd., S. 250; vgl. auch ebd., S. 196–205.
Die Mikwe der Emanzipationszeit als Ausdruck und Symbol jüdischen Lebens
bürgerlichen Hygienemaßstabs (dabei aber wieder religiös legitimiert durch Moses!), oder als materieller Anstoß für einen spirituellen Prozess, nämlich sich der eigenen moralischen Verantwortung aufs Neue bewusst zu werden. Beide Möglichkeiten konnten nebeneinander bestehen, ebenso wie die traditionelle Deutung des Tauchbads als rituelle Reinigung, welche die Wiederaufnahme ehelicher Beziehungen erlaubt. Die neue spirituelle Deutung kannte dabei gleich zwei Spielarten: Das Untertauchen ließ sich entweder intellektuell als Symbol verstehen, hierin an Maimonides anknüpfend, oder aber als sinnliche Erfahrung erleben, was eine Art moralische Erfrischung bewirke und somit ebenfalls spirituelle Prozesse in Gang setze. Rabbiner Löwengard, der letzteren Ansatz auf der Rabbinerversammlung 1845 vertrat, griff hiermit einen auch in der christlichen Umwelt gegenwärtigen Impuls auf, der sich bis zu Hufelands Plädoyer für die Wiedereinführung der Bäder zurückverfolgen lässt. Allerdings spiegelt sich dieser inhaltliche Wandel, im Gegensatz zu der bei Wolff beschriebenen Krankenversorgung, realiter nicht in äußeren (Vereins-)Strukturen wider, sondern findet jenseits der Theorie allein auf der Ebene des persönlichen Bewusstseins statt. Das eher exotische Beispiel einer von Rabbiner Cohen in Geseke entworfenen Fassmikwe gehört ebenfalls in diese Rubrik, da hier (trotz der Anfeindung von orthodoxer Seite) die traditionelle Ausstattung des Rituals nicht grundlegend in Frage gestellt wird. Das Untertauchen sollte Cohens Anspruch nach weder in ‚geschöpftem‘ Wasser noch in einem Gefäß stattfinden, sondern vielmehr in traditionellem ‚lebendigen‘ Wasser, das erstmals auf sehr unkonventionelle Weise gewonnen wurde. Ähnliche innovative Weiterentwicklungen traditioneller Techniken waren dann in der Folgezeit ein Gegenstand, der von Kennern der Halacha noch ausgelotet werden musste. Rabbiner Cohens Modell von 1824 war hingegen nur kurzfristig und räumlich stark begrenzt Erfolg beschieden. Ein Hauptproblem diesbezüglich ist sicher auch darin zu sehen, dass die Überwachung einer solchen als Hausmikwe konzipierten Einrichtung durch sachverständige Rabbiner zwar theoretisch möglich wäre, aber nicht unbedingt in deren Interesse liegt. Darüber hinaus droht eine moderne häusliche Anlage, die (anders als private Kellermikwen der Frühen Neuzeit) einer gewöhnlichen Badewanne gleichen könnte, auch das zugrunde liegende Konzept der Mikwe als eines rituellen Untertauchens auszuhöhlen – das alte Problem der lebensweltlichen Nähe der Mikwe zum normalen ‚Bad‘ würde hier in neuem Gewand auftreten. 2) Andererseits beinhaltete die 1845 durch die Rabbinerkonferenz ausgesprochene Erlaubnis von ‚geschöpftem Wasser‘ die Möglichkeit, das traditionelle Ritual auch faktisch zu ändern, d. h. in seiner praktischen Ausgestaltung oder Ausstattung (und nicht nur auf der Ebene der Reflexion). Unter Bezugnahme auf die Beschlüsse der Konferenz formulierte man beispielsweise in dem württembergischen Normalerlass zu Mikwen von 1846, dass „der Absicht des talmudischen Gesetzes vollkommen Genüge geschehe, wenn die israelitische Frau anstatt des bisherigen
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Tauchbades eines einfachen Wannenbades sich bediene.“ Der eigentliche Zweck, die Reinigung, werde durch ein Wannenbad sogar noch besser erreicht.5 Nach dieser Auslegung bezeichnete der traditionelle Terminus Mikwe, bzw. tewila (‚Untertauchen‘), folglich jede Art von abschließender Reinigung im Wasser zum Beenden des Zustands der nidda, und diejenigen Frauen, die sich an die Empfehlung hielten, erlebten die Reinigung in der ‚Mikwe‘ in der völlig neuen Form eines „Wannenbades“. Möglich wurde diese fundamentale Änderung allerdings erst durch ein geändertes Verständnis der Halacha – der Wunsch nach einer bürgerlichen Mikwe führte hier zu einer halachischen Neuinterpretation, die nicht von allen Juden gleichermaßen getragen werden konnte (und kann). Auf der Suche nach einem geeigneten sprachlichen Bild für den beobachteten Hybridisierungsprozess, jenseits von dem eher undifferenzierten Modell der „Verschmelzung“ oder Ähnlichem, wählt Wolff die Metapher eines Hauses, das den geänderten Ansprüchen seiner Bewohner und der Zeit entsprechend umgestaltet wird; die verschiedensten Kombinationen von Alt und Neu, in gänzlich unterschiedlichen Gewichtungen und Ausrichtungen, sind hierbei möglich.6 Obwohl, wie Wolff selbst einräumt, jeglicher Vergleich dieser Art irgendwann an seine Grenzen stoßen muss, erweist er sich auch im Kontext der Mikwe als durchaus hilfreich, um die verschiedenen Nuancen der Reform in ihrer jeweiligen Qualität oder Bedeutung sichtbar zu machen: Stellt man sich die von Wolff beschriebene Krankenversorgung als ein Zimmer im großen Gebäude jüdischer Identität vor, so hätte man bei deren neuer Variante die Inneneinrichtung den modernen Bedürfnissen angepasst, nach außen hin (Tür, Fassade) bliebe aber alles beim Alten. Mit der Mikwe verhält es sich dort ähnlich, wo man ein Wannenbad als legitim ansah: Der nach außen unveränderte Raum Mikwe (oder genauer: der Raum nidda, d. h. die Absonderungsund Reinigungsvorschriften für die Frauen) erhielt eine neue Ausstattung in Form einer Badewanne. Für einen Großteil der Nutzerinnen, nämlich all diejenigen, die noch traditionelle Mikwen (jetzt in der Regel gewärmt) besuchten, fielen die durch Reformer vorgenommenen Änderungen hingegen weniger ins Auge. Hier erhielt der traditionelle Raum keine neue Einrichtung, sondern lediglich einen neuen, zeitgemäßen Anstrich (Legitimierung der Mikwe als Hygienemaßnahme), mit dem man zugleich die Außenfassade verschönerte. Zudem luden neue Bilder (Maimonides: symbolische Deutung des Tauchbads) und ‚Wellness-Accessoires‘ (für ein sinnliches Erleben) dazu ein, sich in bestimmter Weise auf das Ritual einzustimmen. Jedoch waren diese beiden Modelle nicht die einzigen angebotenen Mikwen im Haus Judentum, das nun mehrere separate Abteilungen hatte. Im orthodoxen Flügel
5 StA Ludwigsburg, F 188 Bü 1401: Erlass des Ministerium des Innern an die vier Kreisregierungen vom 4.8.1846. 6 Vgl. Wolff, Medizin, S. 256–258.
Die Mikwe der Emanzipationszeit als Ausdruck und Symbol jüdischen Lebens
des Gebäudes gab es eine weitere Mikwe, bei der man ebenfalls nur geringfügige Änderungen an der Dekoration (innen wie außen) vorgenommen hatte. Die bürgerliche Lebenswelt mit ihren Werten hatte hier im Begriff taharat ha-mischpacha (‚Reinheit der Familie‘) Eingang gefunden, mit dem man das antike Konzept von nidda (‚Absonderung‘) zwar nicht aufgab, jedoch dem Zeitgeschmack entsprechend etikettierte. Aber auch jenseits des schematisch im Bild eines Hauses erfassten Wandels jüdischer Identität unterlag das konkrete, persönliche Erleben der Mikwenbesucherinnen Veränderungen. So ging der Trend in den kleineren, vor allem dörflichen Gemeinden, gezwungenermaßen hin zu nur einer (‚öffentlichen‘) Mikwe unter Führung der Gemeinde, während zuvor (besonders in süddeutschen Staaten) eine reiche Infrastruktur von Kellerquellenbädern in Privathäusern eine größere Wahlfreiheit und damit Verschiedenheit der persönlichen Erfahrung ermöglichte. Als positive Seite dieser Konzentration, die als erhöhter sozialer Druck empfunden werden konnte, ließ sich die Neugestaltung der Mikwenlandschaft umgekehrt wiederum als stärker gemeinschaftsbildend wahrnehmen. Dies ist insbesondere dort der Fall, wo sich hieraus ein Treffpunkt der Frauen entwickelte, wie heute in den USA üblich. Die weitreichendste Änderung auf persönlicher Ebene war aber selbstverständlich die, dass infolge der gewärmten Mikwen das Ritual des Untertauchens fortan auch von denjenigen Frauen als positiv erlebt werden konnte, für die der Mikwenbesuch zuvor vor allem mit Angst verbunden war. Hierdurch wurde eine grundlegende Voraussetzung dafür geschaffen, dass Frauen in einer modernen Gesellschaft, die neben der jüdischen Tradition zahlreiche andere identitätsstiftende Angebote bereithält, eine uneingeschränkt positive Einstellung zum Judentum aufbauen können – trotz und in dem Ritual des Untertauchens. Die Erwärmung des Mikwenwassers war der unabdingbare erste Schritt der Mikwe in die Moderne, nicht nur auf technischer Ebene und bezogen auf die Akzeptanz des Judentums durch die Umgebung, sondern auch im Hinblick auf die innere Bindung der Mitglieder an ihre Religion. Die Realität hinkte dem Anspruch allerdings auch nach der Jahrhundertmitte noch hinterher. Entgegen mehr oder weniger euphorischen Erfolgsmeldungen, und trotz dem Verblassen des Gegenortes Mikwe im medizinischen Diskurs, muss man wohl davon ausgehen, dass gerade auf dem Land, wo die gemeinschaftliche Finanzierung auf wenigen Familien lastete, weiterhin Verbesserungsbedarf bestand; ein Autor, der dies zu Beginn der 1860er Jahre aus jüdischer Perspektive anmahnt, ist Reuben Joseph Wunderbar mit seinem Werk Biblisch-talmudische Medicin. Zudem besuchte ein größer werdender Teil von Frauen, die ihr Judentum noch in irgendeiner Form praktizierten oder sich zumindest als Jüdinnen verstanden, die Mikwe nie oder bestenfalls einmal vor ihrer Hochzeit. Auch sie beanspruchten ihren Platz in dem immer verschachtelter werdenden Haus jüdischer Identität.
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Teil B: Die Umgestaltung der Mikwe als gesellschaftlicher Prozess
Als typischer Ausdruck jüdischen Lebens spielte die Mikwe ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Weitem nicht mehr die gleiche Rolle wie noch vor der Epoche der Emanzipation; lediglich in der orthodoxen Gemeinschaft fungierte der gesamte Bereich nidda weiterhin als wichtiger Identitätsmarker, jetzt auch innerjüdisch als Kriterium der Abgrenzung gegenüber liberalen Strömungen. Nichtsdestotrotz war die moderne, ‚verbürgerlichte‘ Mikwe in gewisser Weise ein Symbol des bürgerlichen Judentums. Die geglückte Transformation vom alten Kellerquellenbad zum modernen Ritualbad und die Geschichte der Verbürgerlichung und Emanzipation der jüdischen Minderheit verweisen an vielen Stellen aufeinander, bedingen einander und sind mitunter sogar Spiegelbilder. Wie sehr dieser Weg der jüdischen Gemeinschaft – nach dem plakativen Buchtitel von Jacob Katz der Weg „aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft“7 – auch jenseits des betrachteten medizinischen Diskurses mit dem Bild der Mikwe verknüpft ist, möchte ich abschließend anhand einer Reisebeschreibung von 1861 illustrieren. In dem hier zitierten kurzen Auszug berichtet der aus Mähren stammende katholische Autor Ludwig Karl Schmarda (1819–1908), der als Naturwissenschaftler und Mediziner zahlreiche Forschungsreisen unternahm,8 von einem Besuch bei koptischen Mönchen in Ägypten: Auf unserm Rückwege zeigten uns die Mönche noch ihre Badeanstalt, einen Wasserpfuhl, in welchem sie jährlich einmal baden, zur Erinnerung an die Taufe Christi im Jordan. Das Aussehen erinnert weniger an den Jordan, als an das Kellerquellenbad der Israeliten in den europäischen Ghettos vor der Zeit, als aufgeklärte jüdische Aerzte dagegen zu Felde gezogen waren.9
Das „Kellerquellenbad“ wird hier zeitlich klar der Vergangenheit zugeordnet und emotional mit dem Negativ-Schlagwort „Ghetto“ markiert, wodurch im Umkehrschluss die jüdischen Zeitgenossen des Autors hiervon abgegrenzt, aufgewertet, ‚verbürgerlicht‘ werden. Das wirklich Beachtenswerte an dieser Darstellung aus christlicher Feder ist jedoch, dass demnach „aufgeklärte jüdische Aerzte“ die Verbesserung der Mikwen herbeiführten, die Juden sich also gewissermaßen selbst emanzipierten (wie einst von Mezger innerhalb des medizinischen Diskurses gefordert). Die im Emanzipationsdiskurs übliche Scheidelinie ist hier nicht einfach aufgehoben, sondern scheint vielmehr nie existiert zu haben! Eine gänzlich andere
7 Jacob Katz, Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770–1870, aus dem Engl. übers. von Wolfgang Lotz, Frankfurt a.M. 1986. 8 Zu seinem biographischen Hintergrund siehe Riedl-Dorn, „Schmarda, Ludwig Karl“, S. 121. 9 Schmarda, Reise, S. 59.
Die Mikwe der Emanzipationszeit als Ausdruck und Symbol jüdischen Lebens
Sichtweise kennzeichnet, wie bereits beschrieben, den Jahresbericht des Großherzoglich badischen Landescommissärs für die Kreise Waldshut, Lörrach und Freiburg für das Jahr 1865, wo man die Modernisierung der Mikwe stattdessen als alleiniges Verdienst der Regierung verbucht: Diese, und nicht die jüdische Gemeinschaft, habe sich für die jüdischen Frauen stark gemacht und „die Sorge übernommen […], deren sich ihre Glaubensgenossen entzogen.“10 Mit dieser Auffassung kontrastiert zeigt sich umso deutlicher, dass Schmardas ‚kleine Geschichte der Mikwe‘ ein widerspruchsfreies Miteinander von jüdischer und christlicher Bevölkerung, ein Zusammenleben und Agieren auf Augenhöhe, bereits in der Vergangenheit entwirft. In diesem Sinn schafft er, über die Mikwe und im Bild der Mikwe, das Narrativ einer gemeinsamen bürgerlichen Vergangenheit – wohlgemerkt im Kleinen, schließlich repräsentiert diese kurze Passage nicht mehr als eine einzelne Stimme. Auch nach erkennbaren äußerlichen Verbesserungen und einer parallelen jüdischen ‚Image-Kampagne‘ war die Sicht der christlichen Mehrheit auf die Mikwe keinesfalls nur positiv, ebenso wenig wie das Verhältnis zu der emanzipierten jüdischen Gemeinschaft spannungsfrei war. Dennoch waren die Juden, und die modernisierten Mikwen, im letzten Jahrzehnt der Emanzipationsära soweit im Bürgertum angekommen, dass selbst die Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit als Möglichkeit gegeben war – und somit umso mehr einer gemeinsamen Gegenwart und Zukunft.
10 Jahres-Berichte der Großherzoglich badischen Landes-Commissäre, S. 31.
479
Anhang I: Übersichtstabellen
Tabelle 1a: Größe und Lage der Mikwen im Jagstkreis 1839
484
Anhang I: Übersichtstabellen
Tabelle 1b: Erläuterung der mit *) gekennzeichneten Datierungen
Ort
Erläuterung der Datierung
Lauchheim
Lauchheim hatte bereits 1819 eine wärmbare Mikwe. Die 1839 beschriebene Mikwe war im Schulhaus untergebracht; letzteres entstand 1829 durch Umbau eines vorhandenen Gebäudes (Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 282), vermutlich desjenigen, in dem sich die Mikwe befand. Die nachträgliche Einrichtung einer Mikwe im Schulhaus zwischen 1829 und 1839 ist in den gesichteten Akten nicht dokumentiert und scheint nicht sehr wahrscheinlich, da bereits wenige Jahre später, 1848/49, eine neue Mikwe angelegt wurde (ebd.). Quelle: StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht der K. Regierung des Jagstkreises in Ellwangen vom 24.7.1821.
Dünsbach
In dem Bericht des Schultheißen von Dünsbach vom Oktober 1821 heißt es, dass die Frauen der Gemeinde schon „von frühren Zeiten“ eine Mikwe im Keller eines Privathauses nutzten. Quelle: StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des Schultheißen von Dünsbach vom 10.10.1821 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Gerabronn vom 27.10.1821).
Archshofen
Im Mai 1821 war im Ort eine Mikwe vorhanden, die dann auf behördliche Veranlassung noch im selben Jahr zur Erwärmung eingerichtet wurde; die 1839 begutachtete Mikwe war im Synagogengebäude untergebracht. Da dieses Gebäude 1796/97 aus jüdischem Besitz erworben und zur Synagoge umgebaut wurde (Hahn/Krüger, Synagogen, Bd. 2, S. 85f), ist es sehr gut möglich, dass die Mikwe noch aus dem 18. Jahrhundert stammt. Quellen: StA Ludwigsburg E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 24.5.1821; Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 5.11.1821; StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4405: Bericht von Dr. Pflüger junior über die Mikwen in Creglingen und Archshofen vom 5.2.1839 (Anlage zum Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 23.2.1839).
Wachbach
Hahn/Krüger datieren die Synagoge auf 1822/1827 (Synagogen, Bd. 2, S. 28). Laut einem Bericht des Oberamts Mergentheim vom 19.8.1822 konnte die Synagoge in diesem Jahr jedoch nicht mehr fertiggestellt werden. Quelle: StA Ludwigsburg, E 175 Bü 4403: Bericht des K. Oberamts Mergentheim vom 19.8.1822.
Tabelle 2: Jagstkreis – Entwicklung 1821 bis 1839
488
Anhang I: Übersichtstabellen
Anhang I: Übersichtstabellen
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Anhang I: Übersichtstabellen
Tabelle 3: Jagstkreis – Beschaffenheit der Mikwen um 1839
492
Anhang I: Übersichtstabellen
Anhang I: Übersichtstabellen
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Anhang I: Übersichtstabellen
Anhang I: Übersichtstabellen
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Anhang I: Übersichtstabellen
Tabelle 4a: Medizinische Schriften zur Mikwe – Chronologie
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Anhang I: Übersichtstabellen
1777
Elcan Isaac Wolf [Mannheim], Von den Krankheiten der Juden, Mannheim 1777.
1825
Peter Joseph Schneider [Baden], „Medizinisch polizeiliche Würdigung einiger Religionsgebräuche und Sitten des israelitischen Volkes, rücksichtlich ihres Einflusses auf den Gesundheitszustand desselben“, in: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde 10 (1825), S. 213–301.
1828
Moritz Mombert [Kurhessen], Das gesetzlich verordnete Kellerquellenbad der Israelitinnen. Dient es zur Gesundheit und Reinigung des Körpers, oder ist es als eine bis jetzt unerkannt gebliebene Quelle unzähliger Krankheiten zu betrachten, woraus besonders die venerische Seuche und andere ansteckende Krankheiten mitgetheilt werden können? Wie sind diese Gefahren zu vermeiden?, Mühlhausen 1828.
1830
Moritz Mombert [Kurhessen], „Das gemeinschaftliche Bad der jüdischen Frauen in Kellern; ein Gegenstand für die medicinische Polizei und für practische Aerzte“, in: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde 20 (1830), S. 274–294.
1835
Braun [Fürth], „Die Tauchen der Israelitinnen und ihre Verbesserungen, so wie ihr Einfluß auf die Gesundheit“, in: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde 29 (1835), S. 169–176.
1838
Georg F. Most (Hg.), Ausführliche Enzyklopädie der gesamten Staatsarzneikunde, Bd. 1, Leipzig 1838.
1838
Herrmann Wolff [Münster], „Einige Worte über den gegenwärtigen Zustand der Judenfrauenbäder; ein Beitrag zur Gesundheitspolizei“, in: Zeitschrift für die Staatsarzneikunde 35 (1838), S. 171–179.
1842
J. Schneider [Fulda], „Ueber die Schädlichkeit der Kellerbäder der Israeliten“, in: Annalen der Staats-Arzneikunde 7,3 (1842), S. 538–546.
1843
Gustav Mezger [Baden], „Über die religiösen Bäder der israelitischen Frauen“, in: Annalen der Staats-Arzneikunde 8,1 (1843), S. 140–155.
1843
Johann Peter Trusen, Darstellung der biblischen Krankheiten und der auf die Medicin bezüglichen Stellen der heiligen Schrift, Posen 1843.
1848
Johann Baptist Friedreich, Zur Bibel. Naturhistorische, anthropologische und medicinische Fragmente, Bd. 1, Nürnberg 1848.
1853
Johann Peter Trusen, Die Sitten, Gebräuche und Krankheiten der alten Hebräer, nach der heiligen Schrift historisch und kritisch dargestellt, Breslau 2 1853.
1858
Louis Pappenheim, Handbuch der Sanitäts-Polizei, Bd. 1, Berlin 1858.
1860/ 1865
Reuben Joseph Wunderbar, Biblisch-talmudische Medicin. Staatsarzneikunde, gerichtliche Medicin und medicinische Polizei der alten Israeliten, Separat-Ausgabe, Riga/Leipzig 1865.
1864
A. Lion sen. [Berlin], „Gebräuche und Missbräuche, Sitten und Religion. In Bezug auf Sanitätspolizei (Fortsetzung.)“, in: Wiener Medizinal-Halle. Zeitschrift für praktische Ärzte, 11.12.1864, S. 524f.
1872
L. Gottlieb Kraus/W. Pichler, Encyclopädisches Wörterbuch der Staatsarzneikunde, Bd. 1, Erlangen 1872.
Tabelle 4b: Medizinische Schriften zur Mikwe – thematische Aspekte
500
Anhang I: Übersichtstabellen
Anhang II: Ausgewählte Quellen
Nr. 1 Königreich Württemberg, Ministerialerlass vom 4. August 1846 (Normalerlass)
504
Anhang II: Ausgewählte Quellen
Staatsarchiv Ludwigsburg (F 188 Bü 1401)
Königreich Württemberg, Ministerialerlass vom 4. August 1846 (Normalerlass)
Staatsarchiv Ludwigsburg (F 188 Bü 1401)
505
506
Anhang II: Ausgewählte Quellen
Staatsarchiv Ludwigsburg (F 188 Bü 1401)
Nr. 2 H. Cohen (Rappert), סדרי טהרה. Reinigungs-Ordnung zum Gebrauche der israelitischen Weiber, Marburg 1824
508
Anhang II: Ausgewählte Quellen
Stadtarchiv Hagen (Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46)
H. Cohen (Rappert), סדרי טהרה. Reinigungs-Ordnung zum Gebrauche der israelitischen Weiber, Marburg 1824
Stadtarchiv Hagen (Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46)
509
510
Anhang II: Ausgewählte Quellen
Stadtarchiv Hagen (Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46)
H. Cohen (Rappert), סדרי טהרה. Reinigungs-Ordnung zum Gebrauche der israelitischen Weiber, Marburg 1824
Stadtarchiv Hagen (Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46)
511
512
Anhang II: Ausgewählte Quellen
Stadtarchiv Hagen (Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46)
H. Cohen (Rappert), סדרי טהרה. Reinigungs-Ordnung zum Gebrauche der israelitischen Weiber, Marburg 1824
Stadtarchiv Hagen (Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46)
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Anhang II: Ausgewählte Quellen
Stadtarchiv Hagen (Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46)
H. Cohen (Rappert), סדרי טהרה. Reinigungs-Ordnung zum Gebrauche der israelitischen Weiber, Marburg 1824
Stadtarchiv Hagen (Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46)
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Anhang II: Ausgewählte Quellen
Stadtarchiv Hagen (Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46)
H. Cohen (Rappert), סדרי טהרה. Reinigungs-Ordnung zum Gebrauche der israelitischen Weiber, Marburg 1824
Stadtarchiv Hagen (Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46)
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Anhang II: Ausgewählte Quellen
Stadtarchiv Hagen (Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46)
H. Cohen (Rappert), סדרי טהרה. Reinigungs-Ordnung zum Gebrauche der israelitischen Weiber, Marburg 1824
Stadtarchiv Hagen (Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46)
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520
Anhang II: Ausgewählte Quellen
Stadtarchiv Hagen (Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46)
Abkürzungen
Abgekürzt zitierte Literatur AZJ
b BHR
DWB EJ EM m SchA TZW
Allgemeine Zeitung des Judenthums. Ein unpartheiisches Organ für alles jüdische Interesse in Betreff von Politik, Religion, Literatur, Geschichte, Sprachkunde und Belletristik, 1837–1922, Digitale Sammlungen, Goethe Universität Frankfurt am Main, Web (31.8.2016). Talmud bawli, hg. von Rabbinical Council U.S. Zone Germany, 19 Bde., Heidelberg/ München 1948 [Wilna Edition]. Brocke, Michael/Carlebach, Julius (Hgg.), Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil 1, Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern 1781–1871, bearb. von Carsten Wilke, München 2004. Brocke, Michael/Carlebach, Julius (Hgg.), Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil 2, Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871–1945. Mit Nachträgen zu Teil 1, bearb. von Katrin N. Jansen, München 2009. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, 32 Bde., Leipzig 1854–1961, Wörterbuchnetz, Trier Center for Digital Humanities, Web (31.8.2016). Encyclopaedia Judaica, 22 Bde., Detroit u. a. 2 2007. Gerabek, Werner E. u. a. (Hgg.), Enzyklopädie Medizingeschichte, Berlin/New York 2005. Schischa sidre mischna, hg. von Chanoch Albeck und Chanoch Jalon, 6 Bde., Jerusalem/Tel Aviv 1954–1959. Schulchan aruch ha-schalem, Mahadurat Friedman [Friedman Edition], 35 Bde., Jerusalem 1995–2015. Der treue Zions-Wächter. Organ zur Wahrung der Interessen des orthodoxen Judenthums, 1845–1854, Digitale Sammlungen, Goethe Universität Frankfurt am Main, Web (31.8.2016).
Sonstige Ghzgt. Hzgt. Kft. Kgr. n.d.Z. R. v.d.Z.
Großherzogtum Herzogtum Kurfürstentum Königreich nach der Zeitrechnung Rabbi bzw. Raw vor der Zeitrechnung
Literaturverzeichnis
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Archivalische Quellen Bamberg, Stadtarchiv: C 2 + 53865 Bad Mergentheim, Stadtarchiv: Nr. H-52
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Literaturverzeichnis
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Privater E-Mail-Verkehr Hornig, Eggert, „Re: Frage zu Mikwen in Württemberg, speziell Wachbach“, empfangen von Désirée Schostak, 24.3.2013, E-Mail. Schmidt, Christine, „AW: Längenmaße“, empfangen von Désirée Schostak, 18.4.2013, E-Mail. Wasserfall, Rahel, „Re: ‚Menstruation and Identity‘ / 19th century miqvaot in Germany“, empfangen von Désirée Schostak, 12.6.2017, E-Mail.
Abbildungsnachweis
Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5:
Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8:
Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18:
Stadtarchiv Friedberg (Hessen), Foto: Katja Augustin Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege Foto: Cornelia Berger-Dittscheid SLUB Dresden / Theol.Jud.169 Foto: Rudolph Kramer – Deutsche Fotothek, Germany – CC BY-SA. https://www. europeana.eu/de/item/188/item_C7TLIJF2YDPPTNI2WZK3GG3IEA52JYB4 (09.08.2021) LWL-Archäologie für Westfalen / T. Pogarell Klaus Würth und Petra Winderoll-Würth GbR, Seefeld; Vorlage: Uri R. Kaufmann Désirée Schostak, unter Verwendung der folgenden historischen Karte: „Meyer’s Pfennig-Atlas (1834–1841) 52. Jaxt-Kreis (Würtemberg) (Lief. CXII = 112, 1841)“, 2010, (17.9.2021) Historisches Museum Frankfurt, HMF.C15339, Foto: Horst Ziegenfusz Désirée Schostak Stadtarchiv Hagen, Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46 Vorlage: Stadtarchiv Hagen, Hagen 1, 00.05. Hagener Juden, Nr. 46; Bearbeitung: Désirée Schostak Stadtarchiv Bamberg, C 2 + 53865 Gemeinde Georgensgmünd, Foto: Philipp Kimmelzwinger 2015 Gemeinde Georgensgmünd, Foto: Philipp Kimmelzwinger 2015 Bayerische Staatsbibliothek München, Res/4 Jud. 30,2, f. 5r , urn:nbn:de:bvb:12bsb00004427-3 Foto: Michael Spicka, Hemsbach Foto: Michael Spicka, Hemsbach
Register
Personenregister
A Ackermann, J.C.H. 309 Adler, Abraham Jakob 371, 394, 396 Adler, Alexander Sussmann 436 Altaras, Thea 25, 76, 87, 126 Altenstein, Freiherr von 234 Altschul, Moses 47, 49, 50, 140, 143, 448 B Bachelard, Gaston 334 Bamberger, Seligmann Bär 142, 449, 460 Bashan, Eliezer 60 Batseba (Bibel) 54, 56 Bauer, Dr. 173, 190, 195, 200, 201, 251, 252, 259 Baumgarten, Elisheva 49, 443 Beckh, J.A. 277, 278 Benjamin Seew ben Matatias von Arta 110 Berenstein, Samuel 417, 418, 421, 426 Berger, Ruth 280 Bertuch, Friedrich Justin 272 Bing, Abraham 218, 226 Birkenstein, Elias 309, 317, 339, 357, 359, 365, 368, 369, 387, 406, 409 Bodenschatz, J.C.G. 85 Bodner, Neta 441 Braun, Dr. 308, 321, 322, 340, 375–378, 380, 381, 384 Bund, Dr. 205 Burkard, Franz-Peter 462 Buxtorf, Johannes 50, 51, 52, 133
C Carl Friedrich, Großherzog von Sachsen Weimar-Eisenach 225 Chatam Sofer s. Sofer, Moses Cicurel, Inbal 261, 263 Cohen, Hirsch 16, 93, 231, 390, 408, 409, 410, 411, 413–427, 429, 435, 438, 474, 475 Cohen, Shaye J.D. 138, 146 Cohn, Wolf 257 Cook, Leslie A. 137 D David (Bibel) 54–56 Descartes, René 150 Diwre Chajjim s. Halberstam, Chaim Douglas, Mary 36, 37, 327 E Eger, Akiba 107, 174, 175 Egers, Sabel 417, 421, 423 Ehrmann, Heinrich 149 Einhorn, David 394, 399 Einhorn, Mändlein 242, 248 Elasar ben Jehuda von Worms 442 Elieser ben Joel ha-Lewi von Bonn 110, 117, 120–122, 124 Elieser ben Naftali Herz Treves 51 Erdmannsdorff, Friedrich Wilhelm von 75 Ettenheimer, Salomon 440, 441 Eva (Bibel) 47, 138, 139
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Register
F Fälklein, Meyer 189, 190, 219 Ferdinand, Großherzog von Würzburg 152, 217 Ferro, Pascal Joseph 269 Fichtbauer, Dr. 282, 283, 328, 330, 331, 337 Fichte, Johann Gottlieb 343 Fonrobert, Charlotte E. 27 Foucault, Michel 18–21, 299, 336, 378, 379, 382, 385 Fracastoro, Girolamo 311 Frank, Johann Peter 150, 151, 293, 313 Franke, Hans 25 Frankel, Zacharias 429 Frenk, Bär 449 Frey, Manuel 360 Friedländer, David 364, 367, 407 Friedländer, Joseph 427 Friedreich, Johann Baptist 318, 320, 344–353, 406 Friedrich Wilhelm I. 150 Fuchs, Stephanie 69, 125 G Ganzfried, Schlomo 23, 80, 81, 420 Geiger, Abraham 171, 229, 251, 371, 394, 396 Gerson, Christian 317 Glikl bas Juda Leib 44 Göckenjahn, Gerd 151 Gosen, Moses 262 Gottschalk, Abraham 465 Gräf, Dr. 178 Gray, Richard T. 385 Güldenstein, Michael 359, 394 Günsburger, Joseph-Josle 211, 251 H Hahn, Joachim 26 Hahn, Johann Siegemund 268, 279
Halberstam, Chaim 23, 136, 420, 437 Hartmann, Dr. 188, 190, 192, 200 Heilbronn, Isak 461 Herxheimer, Salomon 399 Herz, Marcus 187 Herzig, Arno 427 Heß, Isak 193, 254 Heß, Mendel 224, 225, 394 Heß, Samuel 225 Heuberger, Georg 25 Hirsch, Fany 189 Hirsch, Samuel 189, 394, 399 Hoffmann, Joseph 394, 396 Holdheim, Samuel 371, 394, 396, 397 Hufeland, Christoph Wilhelm 16, 265, 269, 270, 272, 302–305, 310–312, 350, 357, 361, 369, 370, 372, 373, 381, 409, 475 I Isaak ben Abraham 113, 114, 117, 120–122 Isaak ben Ascher ha-Lewi 110 Isaak ben Moses aus Wien 121, 137 Isaak ben Samuel von Dampierre 113 Isserlein, Israel 49 Isserles, Moses 48, 49, 63, 80, 108, 110, 122, 145, 392, 399, 415 J Jacobson, Israel 226, 227, 231, 422 Jakob ben Meir Tam s. Rabbenu Tam Jakob ben Moses Molin 112, 114, 123, 144, 443 Jehuda ha-Nasi 45 Jehuda, R. (Talmud) 122 Jischmael, R. (Talmud) 143–145 Jonas, Samuel Jacob 189 Jungendres, Sebastian Jacob 51, 443
Personenregister
K Kahn, Joseph 394 Kant, Immanuel 368 Kaplan, Debra 249 Kappler, Anton 217, 226, 259 Karelitz, Avraham Jeschajahu 66 Karl VIII. von Frankreich 312 Karo, Josef 80, 110, 111 Katz, Hayah 56 Katz, Jacob 478 Kaulla, Jakob 193 Keller, Reiner 18, 19 Kirchner, Paul Christian 51, 84, 142, 442 Klein, Joseph 430 Kracauer, Isidor 134 Kratz-Ritter, Bettina 449 Kraus, L. Gottlieb 353, 355, 383 Kraus, Wolfgang 26 Kroner, Hermann 24, 25, 440 Krüger, Jürgen 26 Krünitz, Johann Georg 312, 313 Kunreuther, Hirsch Lewi 194, 195, 251, 252 Künzl, Hannelore 25, 70, 72, 125 L Labisch, Alfons 386 Lafontaine, August 279 Landau, Jakob 52, 121 Landsberger, Julius 466–469 Lässig, Simone 357 Lefebvre, Henri 296, 335 Lehmann, Ariella 441 Leopold III. Friedrich Franz von AnhaltDessau 75 Lessing, Gotthold Ephraim 364 Levita, Israel Bär 228, 249, 448 Lion, Adolph 353, 380, 383 Liss, Hanna 60, 69 Locke, John 274 Loetz, Franciska 196, 197, 208
Lohrmann, Dr. 246 Löw, Martina 334 Löwengard, Maier Hirsch 359, 372, 373, 381–383, 385, 387, 394, 475 Löwi, Isaak 428, 432–434, 465 Luther, Martin 373 M Maccoby, Hyam 37 Maier, Joseph 404 Maimonides 13, 36, 41, 58, 59, 61, 64, 83, 91, 364, 366, 388, 389, 398, 402, 418, 475, 476 Mainzer, Maier 256, 257 Marcard, Heinrich Matthias 269, 276, 277 Margaritha, Anthonius 443, 444 Marienberg, Evyatar 51, 83, 86, 114, 122 Mayer, Samuel 429 Meacham, Tirzah 450 Meir von Rothenburg 141 Mendelssohn, Moses 187, 363 Meschullam ben Natan 117 Mezger, Gustav 212, 321, 323, 325–327, 329, 340, 344, 351–353, 374, 377, 378, 429, 478 Milgrom, Jacob 42 Miller, David 439 Minz, Jehuda ben Elieser 243 Mombert, Moritz 16, 22, 27, 169, 170, 197, 198, 205, 213, 225, 227, 234, 262, 280, 297, 300, 303, 305–308, 310, 312, 314, 317, 319–323, 326, 327, 331, 335, 338, 341, 345–347, 349–353, 357, 360–362, 367, 375, 380, 383, 387, 406, 408, 440, 452, 462, 472, 474 Mordechai ben Hillel ha-Kohen 110, 121, 145 Mose ben Maimon s. Maimonides Moses (Bibel) s. a. mosaisch, 36, 40, 303, 331, 343, 348, 355, 361–364, 368, 369, 475
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Register
Most, Georg Friedrich 321, 354, 380 Münchhausen, Otto Freiherr von 275 N Napoleon Bonaparte 422 O Otto, Christian Friedrich von 189, 191, 192 P Pappenheim, Louis 353, 354 Paulus (Apostel) 319 Pettenkofer, Max von 386 Pfefferkorn, Johannes 444 Pfeiffer, Aaron 239 Pfeiffer, Ezechiel 256 Philipp Friedrich, Freiherr von Liebenstein 240 Pichler, W. 353, 355, 383 Platner, Johann Zacharias 360, 361, 370 Poitevin, Jean-Jacques 269 Pollak, Joachim 89–91, 399, 400, 401 Porsche, Monika 72 Posen, Meir 384, 436 R Rabbenu Chananel 115, 116, 123, 124 Rabbenu Tam 112, 113–120 Rappert, Hirsch s. Cohen, Hirsch Raschi 64, 138, 398 Rawja s. Elieser ben Joel ha-Lewi Reich, Ronny 57 Reischer, Jakob 250 Riedel, Sigrid 29 Riesser, Gabriel 341, 343 Rosenbaum, Elias Raphael 404 Rosenberg, Yehuda Yudel 438 Rosenfeld, Samson Wolf 352, 408, 428–430, 432, 433, 435 Rousseau, Jean-Jacques 274, 275
S Salman von St. Goar 123 Salomon (Bibel) 54 Salomon, Gotthold 394 Samson ben Abraham von Sens 113, 116, 117, 120, 121 Samuel ben Natronai 145 Schapira, Zwi Hirsch 92 Scheuer, Klara 235 Schlettstadt, Samuel 121 Schlich, Thomas 27, 169, 320, 322, 323, 344, 347, 352 Schmarda, Ludwig Karl 478, 479 Schneersohn, Schalom Dow Bär 66, 419 Schneider, J. 204, 321 Schneider, Peter Joseph 210, 263, 264, 267, 297, 300, 307, 308, 312, 314, 316, 317, 321, 322, 324–326, 346, 349, 351–353, 373, 374, 380 Schreger, Christian Heinrich Theodor 272 Schuckmann, Friedrich von 230 Schudt, Johann Jakob 134, 317 Schwartz, Abraham Y. 384 Senger, Valentin 149 Silbermann, Eduard 463 Slonik, Benjamin Aaron ben Abraham 50 Slonim, Rivkah 28 Sobernheim, Isaak 394, 399 Sofer, Moses 66, 90–93, 420, 441 Solbrig, Dr. 134 Spanier, Meir 463 Stein, Leopold 342, 359, 371, 391, 393, 394 Steinhardt, Menachem-Mendel 423 Stolberg, Michael 265 Süskind, Samuel 394 Sutro, Abraham 231, 411, 417, 423–427 T Tafazoli, Hamid 385 Tänzer, Paul 190
Personenregister
Tissot, Samuel-Auguste-André-David 268 Tobel, Dr. zum 381 Treuenfels, Abraham 395, 396, 399 Trusen, Johann Peter 312, 318, 320, 321, 338, 344, 345, 347, 349, 350, 352, 353, 380, 381, 384, 405, 406 Tyrnau, Isaak 442 U Unzer, Johann August
275
W Wachs, Chaim Elasar 420 Waldenfels, Bernhard 335, 336 Wanner, Dr. 206, 207, 331, 337 Wasserfall, Rahel R. 27, 261 Weber, Annette 69, 125 Wechsler, Abraham 89 Wechsler, Bernhard 394
Weinrich, Dr. 132, 218, 242, 253, 260, 262, 273, 274, 279, 280 Weissler, Chava 138 Werthheimer, Löw 239 Weyl, Meyer Simon 242–244, 250 Winterfeld, Moritz Adolph von 277 Wolf, Elcan Isaac 275, 302, 303, 307, 316, 365, 474 Wolf, Marum 109, 127, 177, 241 Wolff, Eberhard 473–476 Wolff, Herrmann 199, 380 Wolshofer, Dr. 203 Wunderbar, Reuben Joseph 318, 320, 343, 344, 347, 349, 351–353, 357, 477 Z Zimmermann, Dr. 216, 451 Zwierlein, Konrad Anton 307, 309
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Register
Ortsregister
A Aalen (Oberamt) 155 Ägypten 478 Ailringen 159, 175 Altdorf 211 Altenstadt 76 Altkrautheim 159 Altona 240, 249, 448, 452 Amerika 139 Amsterdam 417, 418, 426 Ansbach 214 Ansbach (Fürstentum) 95, 96 Archshofen 128, 160, 173, 177, 180, 181, 249, 256 Aschenhausen 225 Aufhausen 160, 246, 281, 282 B Bacharach-Steeg 109 Baden 70, 74, 152, 196, 202, 208–212, 232, 353, 452, 457, 479 Baiersdorf 258 Bamberg 352, 408, 428–431, 433, 463 Bayern 26, 95, 128, 152, 170, 189, 196, 210, 212, 217, 221, 222, 232, 233, 451, 457, 458, 472 Bechhofen 260 Berkach 76, 77 Berlichingen 79, 101, 105, 159, 164, 179, 206, 337 Berlin 150, 218, 226, 407 Bieringen 79, 81, 107, 129, 159, 174, 175, 206, 337 Bingen 391–393 Braunsbach 76, 77, 159, 164, 175–177 Braunschweig 417 Brücken 216 Buchau 193
Bürgel 224 Burghaslach 79 Buttenhausen 246 C Colmberg 80, 130 Crailsheim 158, 165–168, 240, 255, 284, 286–288, 291 Crailsheim (Oberamt) 158, 165, 285 Craintal 160 Creglingen 105, 128, 160, 162, 179, 180, 183, 255–257 D Darmstadt 466–468 Demmelsdorf 435 Deufstetten 158, 165 Diersburg 11, 35 Donaukreis 155, 188, 190, 246 Dormitz 432 Dörzbach 159, 174, 180 Dreieich-Sprendlingen 76 Dresden 24 Dünsbach 105, 107, 158, 240 E Ebern 217 Edelfingen 74, 81, 103, 160, 174, 175, 180 Ellwangen (Oberamt) 158, 165 Elsass-Lothringen 457 Eppingen 73 Erfurt 72 Erlangen 257, 258 Erlangen-Büchenbach 76, 80, 129, 214 Ernsbach 77, 79, 151, 160, 176, 180, 181 Ettenheim 34, 78, 263, 308
Ortsregister
F Flörsheim 108 Franken 26, 34, 76, 89, 213, 214, 217, 221, 222, 238, 428, 432, 435, 458, 466 Frankfurt am Main 25, 34, 50, 51, 66, 108, 133, 149, 270, 287, 341, 391, 405, 420, 446 Frankreich 120 Freudental 192 Friedberg (Hessen) 71, 126, 131, 149, 150 Fulda 228 Fürth 134, 135, 186, 214, 234, 310, 340, 358, 376, 426–428, 432, 434, 465 G Gaildorf (Oberamt) 155 Gehaus 225 Georgensgmünd 437 Gerabronn 158 Gerabronn (Oberamt) 158, 165, 168 Gerolzhofen 258 Geseke 231, 408, 423, 425, 475 Glanmünchweiler 216 Gmünd (Oberamt) 155 Goldbach 158, 165, 242 Göppingen (Oberamt) 188, 190 Göttingen 464 Griedel 99 H Hall 159 Hall (Oberamt) 159, 164, 165 Hannover (Provinz) 457 Hattersheim 162 Heddernheim 108 Heidelberg 464 Heidenheim (Oberamt) 155 Heidingsfeld 218 Heilbronn 25 Heldenbergen 235 Hemsbach 453, 454 Hengstfeld 158, 170, 203
Heppenheim 76 Hessen 25, 76, 77, 79, 87, 224, 233, 238, 457, 458, 461 Hessen (Großherzogtum) 152, 210, 223, 232, 458 Hessen (Kurfürstentum) 169, 204, 225, 232, 248 Hessen-Nassau 457, 458 Hohebach 159, 240 Hohenfeld 130, 219, 254 Hollenbach 159 Homburg 215, 216, 235, 310 Hörstein 235, 249 I Igersheim 95, 98–101, 160, 180 Indonesien 280 Ingersheim 158, 165–167, 175, 240 Israel 57, 63, 66, 261, 263, 436 Italien 52 J Jagstkreis 15, 21, 23, 79, 83, 87, 107, 129, 151, 153, 155, 161, 162, 165, 167, 168, 170, 172, 174–177, 181, 188, 194, 202, 229, 235, 238, 250, 254, 259, 265, 280, 281, 292, 404, 407, 446 Jebenhausen 188, 200, 240 K Kalifornien 439 Kalisch 420 Kanada 439 Kassel 169, 218, 226 Kippenheim 211 Kleinerdlingen 440 Koblenz 71 Kolmsdorf 463 Köln 33, 69, 70, 140, 445 Krautheim 159 Külsheim 100 Künzelsau (Oberamt) 159, 164, 165, 283
569
570
Register
L Laibach 159, 175 Laubach 76, 77 Lauchheim 158, 161, 162, 165, 168, 193, 205, 254, 446 Laudenbach 81, 98, 101–105, 126–128, 160, 176, 177 Laupheim 193 Lengsfeld 225 Lünen 425 M Magdeburg 174 Mainbernheim 130, 219 Mainz 442 Mannheim 302, 465 Markelsheim 160, 174 Markt Erlbach 432 Marktbreit 130, 219, 238 Marktsteft 130, 132, 216, 219, 242, 253, 254, 452 Marokko 261 Mecklenburg-Schwerin 241, 250 Melun 112, 116–121 Mergentheim 95, 160, 168, 174, 180, 189, 194, 251, 252, 254, 259, 266 Mergentheim (Oberamt) 160, 165, 172, 190, 202 Michelbach an der Lücke 73, 78, 158, 170, 171, 173, 180, 238 Mönchsdeggingen 76, 77 Mönchsroth 158 Mulfingen 76, 159, 164 München 287 Münsingen (Oberamt) 246, 248 Münster 231, 411, 417 N Nagelsberg 76, 77, 159, 282, 283, 328 Nassau 108, 171, 229, 232 Nauen 242
Neckarkreis 154 Neresheim (Oberamt) 160, 165, 194, 292 Neunkirchen 77, 128, 160, 177, 181, 200, 201, 239 Newton (Massachusetts) 455 Niederhessen 225, 228 Niederstetten 109, 127, 158, 165, 173, 177, 194, 241 Niederwerrn 220 Nordamerika 438 Nördlingen 441 O Oberdonaukreis 214, 221 Oberdorf 160, 175, 193, 246, 288–293, 295 Obernbreit 130, 219, 238 Offenburg 71 Öhringen (Oberamt) 160, 165 Österreich 383 Ostpreußen 457 Otterstadt 215 P Paderborn (Fürstentum) 423 Paramaribo 420 Paris 269 Pfalz 215, 451 Pflaumloch 160–162, 168, 173, 193 Polen 420 Posen 107, 174 Posen (Provinz) 457, 458 Preußen 15, 95, 175, 229, 233, 234, 457, 458 Q Qumran
61
R Regelsweiler 158 Rezatkreis 204, 213, 214, 219, 221, 260, 434 Rheinkreis 215
Ortsregister
Rödelsee 130, 219, 238, 255 Rotenburg (Hessen) 228, 246, 249, 448 Rothenburg ob der Tauber 72 Russland 436 Rust 211 S Sachsen 457 Sachsen-Weimar-Eisenach 210, 223, 224, 232, 233, 339 Schmieheim 211 Schorndorf (Oberamt) 155 Schwaben 76 Schwarzwaldkreis 154 Schwedt an der Oder 77 Sickershausen 130, 219 Sontra 451 Spangenberg 76, 248 Speyer 33, 69–71, 442, 445 Stargard 242–244, 272 Steinbach 105, 159, 164, 168, 179, 204 Steinbach (Pfalz) 216 Stettin 273 Stuttgart 24, 192, 404 Südamerika 420 Süddeutschland 26, 73, 76, 77, 152, 172, 185, 224, 233, 238, 272, 457, 458, 461, 477 Sulzbach (Oberpfalz) 178, 440, 446 Sulzbach am Kocher 183 Sulzbürg 446 T Tarnogród 420 Thalmässing 214, 219 Thüringen 76 Tunesien 261 U Uehlfeld 214, 432–434 Ungarn 66 Unterlimpurg 159, 164, 168, 175 Untermainkreis 204, 213, 219–221 USA 382, 439, 454, 477
V Vach 131 Veitshöchheim 73 Völkershausen 225 W Wachbach 105, 160, 176 Waldmannshofen 104, 160, 174 Waldmohr 216 Wanfried an der Werra 169 Warburg 135 Weikersheim 105, 106, 160, 162, 168, 193, 239, 461 Welzheim (Oberamt) 155 Wenkheim 100 Werneck 220 Westfalen (Herzogtum) 409, 423 Westfalen (Provinz) 230, 231, 422, 427 Westheim bei Hammelburg 77 Westphalen (Königreich) 226, 422 Westpreußen 457 Wien 95, 269 Wiesbaden 171, 229 Wiesenbach 96–98, 158 Wörlitz 75 Worms 33, 69–71, 250, 442, 445, 451 Württemberg 15, 20, 21, 23–26, 34, 70, 74, 76, 83, 86–88, 93, 95, 106, 152–154, 168–170, 176, 178, 182, 185, 186, 188, 190–192, 195, 196, 200, 207–210, 219, 229, 232, 238, 240, 245, 248, 250, 254, 255, 257, 259, 281, 327, 341, 353, 404, 405, 407, 445, 457, 459, 472, 475 Würzburg 72, 189, 449 Würzburg (Großherzogtum) 130, 132, 152, 153, 204, 217, 226, 232, 238, 242, 253, 258, 306, 307, 407, 472 Z Zell am Main 404 Zirndorf 466
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Register
Sachregister
A Aberglaube 47, 369, 377 Abhärtung 260, 268, 269, 274–277, 279, 280, 288, 302–304, 441, 472 Absonderung s. nidda Alpen-Karawanserai 383, 385 Ansteckung s. Gefahr Antike 36–40, 42–47, 53–66, 122, 123, 145, 312, 337, 338, 389, 396, 436, 477 Ästhetik, Ästhetisierung 227, 284, 338, 358–360, 447, 451 Aufklärer s. Aufklärung Aufklärung s. a. Haskala, 18, 75, 146, 150, 151, 169, 186–188, 198–203, 205–208, 211, 213, 222, 223, 230, 233, 244, 250, 251, 255, 260, 265, 295, 302, 320, 323, 330–333, 339, 347, 348, 350, 352, 358, 361, 368–370, 372, 373, 407, 408, 410, 447, 453, 455, 471, 473, 474 – Medizin 16, 237, 264–268, 281, 298, 302, 331, 357, 386, 409, 474 – Pädagogik 274–277, 279, 280, 287 Aussatz s. a. Syphilis, 42–44, 48, 56, 312, 313, 361, 362, 367 B Badewanne s. a. Wannenbad, 89, 256, 392, 397–403, 407, 409, 412, 424, 425, 429, 433–435, 475, 476 Badezimmer (häusliches) 272 Badkasten 133–137, 430 Baraita de-nidda 44, 46, 49 Beschneidung 13, 26, 35, 39, 44, 45, 144, 222, 230, 314, 356, 383, 473 Bibel s. a. Tora (Pentateuch), 11, 33, 54, 137, 345, 346 biblisch (vs. rabbinisch) s. a. mosaisch, 12, 33, 62, 64, 65, 117, 184, 346, 348, 355,
363, 369, 371, 389, 395, 397, 398, 402, 407, 415, 416, 418 C Chabad-Lubawitsch 66, 419 Chasside Aschkenas 69, 442 Chassidim 54, 92, 384, 419, 426 Cholera 234, 235, 310, 311, 376 D Diskurs 14, 20, 114, 172, 226, 233, 276, 279, 297, 335, 338, 383 – Aufklärungs-D. 17, 295, 300, 323, 331, 332 – Bäder-D. 298, 300, 302, 303, 305–307, 309, 316, 325, 472 – Emanzipations-D. 16–18, 298, 299, 339, 389, 471, 478 – Hygiene-D. 27, 287, 310–312, 320, 348 – medizinischer D. 16, 17, 20, 27, 172, 237, 265, 267, 293, 298–303, 306, 308, 309, 314, 316, 318, 319, 321, 323–325, 331–333, 339, 341–344, 347, 350, 352–355, 357, 375, 378, 380, 382, 384, 386, 393, 477, 478 – Reform-D. 16–18, 20, 245, 299, 303, 322, 357, 362, 385, 387, 390, 435, 437, 450, 471 Diskursanalyse 17–21, 300 Durchlauferhitzer 127, 272 E Eis 108, 129, 130, 132, 170, 206, 211, 261, 302, 305, 308, 315, 318, 324, 325, 349, 440 Ekel 169, 308–310, 314, 325, 326, 330, 346, 349, 350, 360, 362, 446
Sachregister
Emanzipation 13, 14, 17, 24, 66, 146, 151, 152, 198, 207, 209, 223, 225, 232, 233, 340–342, 355, 356, 362, 369, 382, 387, 423, 453, 455, 471, 473, 474, 478, 479 eruw 185, 186 Erwärmung der Mikwe s. Keller(mikwe) F Feiertage s. a. Jom Kippur, 48, 49, 54, 224, 358, 391, 440, 441, 444, 463 Flussbad 269, 270, 272, 273, 304, 307, 331, 376, 392, 398–401, 406, 467, 473 Frauengebete 138–140, 449, 450, 455 Frauengebote 22, 50, 137–142, 144, 261, 263, 449, 454 Frauenliteratur 12, 47, 49, 50, 52, 140, 141, 143–145, 449 fremd, Erfahrung des Fremden 201, 206, 207, 329, 332, 335, 336, 337, 338, 343, 356, 379, 410, 462 Frömmigkeit 11, 12, 45, 49, 52, 69, 70, 139, 143–145, 237, 254, 261, 262, 358, 374, 440, 441, 447, 456, 458, 461 Frühe Neuzeit 45, 47–52, 61, 63, 64, 70, 72, 73, 76, 79–83, 86, 108, 109, 122, 125, 138, 140, 142, 145, 185, 238, 241, 250, 253, 261, 324, 399, 436, 440, 442, 451, 475 Furcht – vor der Mikwe 124, 250, 262, 316, 454, 477 – vor Menstruationsblut 44, 47 G Gefahr – Anlage der Mikwe 130, 149–151, 175, 205–207, 316, 324, 328, 329, 335, 336, 338, 339, 360 – Ansteckung 150, 169, 213, 234, 310, 311, 314, 347, 349, 354, 360, 394
– für die Umgebung 286, 288, 293–295 – Kälte 153, 161, 169, 171, 188, 189, 200, 213, 267, 299, 307, 325, 328, 337, 347, 349, 354, 375, 394, 472 – Unreinheit 169, 175, 213, 288, 293, 295, 299, 316, 325–327, 331, 332, 335, 337 Gegenort 16, 20, 298–300, 314, 329–333, 335–338, 340–344, 355, 356, 378, 379, 473, 477 Generationenkonflikt 263, 274, 322–324, 391 geschöpftes Wasser 59, 62, 63, 67, 91, 111, 112, 116, 119, 122, 182, 184, 236, 262, 371–373, 390, 393, 394, 396–399, 401–403, 407, 415–418, 421, 435, 467, 475 Gottesdienst 46, 48, 49, 51–53, 222, 224, 225, 227, 231, 233, 358, 377, 389, 391, 404, 417, 432, 441, 443, 453 H hamschacha 62–65, 66, 102, 116–118, 124, 177, 179, 184, 256, 398, 402, 414, 416, 418, 419, 421, 426, 429, 435, 436 haschaka 63, 65, 66, 111, 135, 136, 183, 184, 416, 429, 435, 436 – vertikale 136, 412, 415, 418–420, 437 Haskala s. a. Aufklärung, 187, 244, 302, 317, 339, 348, 357, 360, 363, 367, 406, 407, 409, 410, 422, 440, 452, 478 Hausmikwe 359, 408, 418, 419, 422, 423, 427, 438, 475 Heiligkeit 36–38, 43, 137, 139, 144, 374, 389, 441, 452, 453 Heterotopie 20, 299, 336, 378, 379, 385 – Krisenheterotopie 382 Hybridisierung 474, 476 Hygiene 13, 24, 44, 65, 169, 170, 234, 235, 245, 267, 270, 287, 295, 310, 332, 339,
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574
Register
343, 348, 352, 355, 356, 359, 360, 362, 377, 378, 382, 383, 386, 393, 394, 396, 425, 450, 452, 453, 460, 462, 472, 475, 476 – experimentelle H. 386 – Sexualhygiene 382 – Sozialhygiene 310–314, 362, 445, 446 J Jom Kippur 53, 122, 440, 441, 443, 444, 446, 463 K Kälte s. Gefahr Kaltwasseranwendungen 268, 276, 279, 303, 304 karet 48, 55, 92, 393, 461, 467 kaschrut 211, 440, 461, 463–469 Keller (Psychoanalyse) 334 Keller(mikwe) 13, 22, 72, 81, 82, 104–106, 109, 125, 129, 131, 143, 185, 204, 205, 221, 223–225, 227, 234, 235, 295, 298, 305, 315, 319, 320, 329, 338, 347, 359, 374, 376, 379, 434, 435, 437 – Erwärmung (Halacha) 109, 111–115, 117–122, 124, 125, 135, 136, 182–184, 226 – Erwärmung (Praxis) 108, 125–128, 132–135, 152, 161–164, 168, 169, 175–181, 192, 206, 212, 214, 218, 233, 239, 240, 436 – Größe 72, 79, 80, 82, 86, 100, 102–104, 142 – Lage 72, 73, 75, 76, 96, 149, 166, 216, 238, 245, 333 – Temperatur (Messwert) 126, 129–132 – Wasserqualität 169, 171, 174, 175, 212, 327, 430 – Wasserversorgung 103, 104, 106, 107, 172, 174, 235, 328
Kizzur Schulchan Aruch 80, 81 Klima 226, 269, 280, 312, 370, 407 Kontagienlehre 311 Kontagium 309–311, 349, 350, 360 Konvertiten zum Judentum 53 Krankenhaus 150, 287 L lebendiges Wasser 33, 35, 53, 56, 58, 59, 60, 137, 139, 373, 455, 475 Luft 267 – Qualität 151, 204, 208, 234, 311, 319, 327, 328, 334 M majim chajjim s. lebendiges Wasser Männer (als Mikwen-Nutzer) 53–55, 323, 382, 440, 442–444, 446, 447 Maskilim s. Haskala ma‘ajan s. Quelle Medikalisierung 196, 197, 198, 208, 265, 333 Medizin s. Aufklärung Medizinische Polizei 150, 151, 188, 247, 252, 287, 293, 297–299, 308, 310, 313, 314, 353–355, 360, 380, 406 Meer 33, 59 Miasma 311, 327, 334 Mikwenfrau 142, 246, 248, 249, 319, 321–324, 337, 375, 376, 449, 461 Mindestvolumen 60–62, 81–83, 85–87, 88, 89, 90, 91, 92–94, 96, 101, 103, 111, 127, 177, 178, 184, 414 Mischna 40, 41, 45, 58, 63, 65–67, 122, 137, 420 Mittelalter 34, 46, 49, 53, 64, 69–72, 79, 108, 109, 111–125, 202, 238, 268, 312, 363, 401, 416, 441–443, 446 mizwot chanah s. Frauengebote Mombert-Erlass 213, 216, 220–224, 235 Monumentalmikwe 69, 70, 71, 451
Sachregister
mosaisch s. a. Moses (Bibel), 202, 230, 243, 299, 300, 303, 324, 331, 345–348, 350, 355, 363, 366, 369, 374, 377, 387, 397, 399–401, 446, 461 Mythologie 329, 337, 338, 434 N nidda 27, 39, 40, 43, 45–52, 55, 57, 59, 137, 138, 140, 146, 202, 261, 263, 365, 393, 396, 405, 433, 449, 450, 455, 460, 461, 476–478 Normalerlass 15, 182, 183–185, 255–257, 300, 341, 342, 353, 357, 379, 387, 403, 405, 406, 459, 475 P Pädagogik
s. Aufklärung
Q Quelle s. a. Quellwasser, 57–62, 67, 105, 106, 108–111, 134, 164, 183, 216, 256, 319, 329, 330, 375, 376, 392, 397, 436, 440, 462 Quellwasser 13, 33, 56, 58, 60, 67, 79, 82, 106–108, 111, 118, 125, 133, 161, 172, 174, 175, 177, 183, 185, 255, 293, 345, 369, 373, 426 R Rabbinerversammlung 13, 16, 22, 182–185, 236, 257, 273, 297, 300, 352, 357, 359, 371–373, 376, 385, 387, 390, 391, 393, 394, 396–408, 415, 435, 438, 446, 475 rabbinisch 37, 41, 50, 53, 58, 60, 62–65, 92, 108, 111, 112, 114, 116, 117, 119, 138, 169, 184, 188, 299, 303, 320, 321, 324, 345–347, 363, 368, 369, 377, 389, 393, 395, 397–400, 402, 403, 406, 407, 409, 415, 416, 421, 446, 452, 475 Raum 20, 69, 295, 296, 299, 325, 334, 360, 374, 377, 379, 450, 452, 476
– Möglichkeitsraum 378 – nichtjüdischer R. 151 – öffentlicher R. 44, 185, 358 – R. der Begegnung 33 – R. und Zeit 455 – sakraler R. 358, 451, 453 Raumbild 20, 308, 324–327, 329, 330, 333, 336–339, 378 – imaginärer Raum 331, 332, 335, 339 – imaginierter Raum 325, 330, 331, 332, 335, 336, 337 Regenwasser 33, 58–61, 63, 66, 67, 83, 108, 184, 231, 352, 392, 398, 408, 412, 414, 419, 422, 426, 427, 429, 430, 433 reine Tage 46, 47, 48, 138, 140, 263 Reinheit (und Unreinheit) s. a. Gefahr, 35, 43, 44, 52, 54, 55, 57, 58, 62, 69, 137, 139, 144, 146, 204, 237, 270, 299, 327, 332, 334, 337, 346, 360, 372, 374, 388, 389, 393, 440, 443, 450, 462 – als Symbolsystem 35–38, 39–42, 388, 389 Reinheit der Familie s. taharat hamischpacha Reinigkeit und Sittlichkeit 371, 385, 387 Reinlichkeit s. a. Reinigkeit und Sittlichkeit, 105, 107, 169, 175, 203–207, 219, 228, 234, 237, 270, 275, 326, 328, 331, 332, 334, 337, 338, 351, 356, 360–363, 367, 369, 370, 382–384, 386, 387, 407, 409, 424, 452, 460, 473 Ritual 26, 37, 38, 42, 44, 55, 57, 137, 295, 366, 367, 462 – des Untertauchens 14, 16, 146, 153, 286, 298, 452, 454 – des Untertauchens (Deutung) 35, 36, 44, 58, 69, 75, 137–140, 143–145, 243, 299, 356, 358, 374–378, 380–382, 384, 387, 389, 396, 403, 405, 439, 448, 450, 451, 462, 476
575
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Register
– des Untertauchens (Praxis) 80, 81, 108, 109, 137–145, 188, 218, 236, 249, 261, 322, 387, 451, 464, 475, 477 – des Untertauchens (Stellenwert) 47, 50, 69, 440, 459, 461, 464, 467 – Übergangs-R. 53, 329 S säkular, Säkularisierung 265, 369, 372, 382, 383, 386, 452, 453, 474 Samenerguss 40, 53, 396, 443 Samowar 436 saw 40, 53, 56, 58, 59 sawa 40, 45, 58 Schabbat 11, 44, 46, 54, 137, 186, 440, 449, 461, 463, 464, 468, 469 Schmutz 145, 169, 175, 204, 205, 212, 288, 292, 294, 295, 299, 326, 327, 329, 331–334, 337, 351, 360, 361, 372, 398, 473 Schnee 108 Schöpfung 33, 35, 59 Schulchan Aruch 48, 61, 63, 64, 80–82, 91, 94, 98, 104, 109, 114, 121, 122, 145, 183, 392, 399, 409, 414–416, 418, 429, 433 SchUM-Gemeinden 442 Schwangerschaft 141, 143, 450 Sittlichkeit s. a. Reinigkeit und Sittlichkeit, 144, 182, 200, 244, 299, 359, 364, 367–369, 371, 372, 386, 387, 389, 395, 396, 447–449, 460 Speisegebote s. kaschrut sri‘a 66, 67, 436–438 Sünde 35, 42, 43, 55, 138, 370, 374, 377, 388, 393, 443, 465 Syphilis s. a. Aussatz, 311–314, 362 T taharat ha-mischpacha 53, 450, 477 takkanot Esra 53, 443 Talmud 40, 41, 47, 53, 54, 63, 82, 90, 117, 122, 123, 125, 182, 184, 263, 353, 368, 398, 409, 448, 449
Taufe 35, 373, 377, 378 techinot s. Frauengebete Tempel 35, 36, 42–44, 47, 52, 53, 56–59, 137, 388, 389, 395, 396, 451 tkhines s. Frauengebete Tora (Lehre) 58, 94, 114, 118, 139, 362, 365, 441, 444 – schriftliche und mündliche 40, 41 Tora (Pentateuch) 33, 35, 36, 38–42, 45, 47, 49, 53, 54, 56, 58, 59, 120, 393, 397, 398, 461 Torarolle 46, 52, 451 Tosafisten 112, 113, 117, 123, 416 Tosafot 64, 112 V venerische Seuche s. Syphilis Venus 338, 384, 385 Vernunft 44, 198, 200, 213, 265, 276, 297, 300, 302, 303, 331–333, 345–348, 350, 354, 355, 358, 362–364, 367–369, 377, 387, 410, 452, 462, 473 – vernunftwidrig 300, 303, 322, 323, 346, 348 – Wasser der V. 388 Versöhnungstag s. Jom Kippur W Wannenbad s. a. Badewanne, 138, 152, 182, 183, 218, 236, 257, 403, 476 weiße Tage s. reine Tage Wellness 381–385, 476 Wiedergeburt 373–375, 377, 378 Winter 112, 113, 123, 129–133, 153, 161, 162, 164, 165, 170, 179, 180, 188, 211, 218, 254, 277, 304, 315, 318, 319, 328, 429, 440, 441 Z Zenne-renne
12, 45