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German Pages [447] Year 2020
Die sozialdemokratische Zeitung »Volksbote« erschien zwischen 1885 und 1933 in der pommerschen Provinzhauptstadt Stettin. Im Kaiserreich bezog die Arbeiter zeitung Stellung gegen den Obrigkeitsstaat und den Militarismus. In den 1920er Jahren modernisierte und professionalisierte sich der »Volksbote« bezüglich des Layouts und des Stils. Auf einem hohen publizistischen Niveau behandelte und kritisierte er die politischen Verhältnisse in Pommern und im Deutschen Reich. Diese Studie leistet einen wichtigen Beitrag zur regionalen Mediengeschichts schreibung.
Harald Bader
veröffentlichungen der historischen kommission für pommern forschungen zur pommerschen geschichte, band 54
Der Stettiner »Volksbote«
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Harald Bader
Der Stettiner »Volksbote« Eine sozialdemokratische Zeitung in Pommern 1885–1933
Harald Bader ist Leiter der Geschäftsstelle des Mikrofilmarchivs der deutsch sprachigen Presse e.V. in Dortmund.
forschungen zur pommerschen geschichte
978-3-412-52070-0_Bader.indd Alle Seiten
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02.10.20 11:13
VERÖFFENTLICHUNGEN DER HISTORISCHEN KOMMISSION FÜR POMMERN Für die Historische Kommission für Pommern herausgegeben von Gerd Albrecht, Felix Biermann, Nils Jörn, Michael Lissok und Haik Thomas Porada RE I HE V: FO R SCH U N GE N Z U R P O MME RSCHE N GE SCHI CHTE Ba n d 5 4
HARALD BADER
D E R S T E T T I N E R » VO L K S B OT E « EINE SOZIALDEMOKRATISCHE ZEITUNG IN POMMERN 1885 – 1933
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Dissertation an der Fakultät Kulturwissenschaften der Technischen Universität Dortmund Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Vereins zur Förderung der Zeitungsforschung in Dortmund e. V. und der Stiftung Presse-Haus NRZ in Essen. Die Arbeit der Historischen Kommission für Pommern wird gefördert durch das Land Mecklenburg-Vorpommern und das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg an der Lahn.
Zugeeignet ist diese Dissertation meinen Eltern Angela und Ulf Bader.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Collage erstellt von Harald Bader nach Vorlagen aus der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn Korrektorat: Vera M. Schirl, Wien Satz und Layout: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52072-4
Inhalt Kurzzusammenfassung ............................................................................................. I. Einleitung . . ...................................................................................................... I.1 Zu dieser Arbeit .................................................................................... I.2 Die Relevanz der Pressegeschichte ........................................................ I.3 Stand der Zeitungssammlung ............................................................... I.4 Forschungsüberblick zum Stettiner „Volksboten“ .. ............................... I.5 Quellen zur pommerschen Arbeiterbewegung . . .................................... I.6 Zur journalistischen Qualität .. .............................................................. I.7 Methodische Überlegungen und Auswahl ............................................ I.7.1 Zweck und Grenze regionaler und lokaler Mediengeschichte .. I.7.2 Qualitative Verfahren ............................................................... I.7.3 Quantitative Verfahren .. ........................................................... II. Historischer Teil .............................................................................................. II.1 Die Provinz Pommern im Deutschen Reich ......................................... II.2 Abriss der Stettiner Stadtgeschichte ...................................................... II.3 Zum pommerschen Pressewesen . . ......................................................... II.3.1 Schwedisch-Pommern 1648 – 1720/1815 . . ................................... II.3.2 Preußisch-Pommern . . ............................................................... II.4 Arbeiterschaft im Deutschen Reich ...................................................... II.5 Sozialdemokratische Programmatik ...................................................... II.6 Grundzüge der sozialdemokratischen Presse im Deutschen Reich ....... II.6.1 Der presserechtliche Rahmen . . ................................................. II.6.2 Einzelne SPD-Zeitungen ......................................................... II.6.3 Partei und Profession ............................................................... III. Die pommersche Sozialdemokratie ................................................................. III.1 Die pommersche SPD .......................................................................... III.1.1 Im Kaiserreich .......................................................................... III.1.2 USPD (1919 – 1922) ................................................................... III.1.3 In der Weimarer Republik ....................................................... III.1.4 Widerstand im NS-Staat .......................................................... III.1.5 Die Zwangsvereinigung zur SED 1946 .. ................................... III.1.6 Neuanfang 1989 in Vorpommern ............................................. III.1.7 Stettiner Delegierte auf Parteitagen der SPD im Reich .. .......... III.1.8 Pommersche SPD-Parteitage .. .................................................. III.1.9 Die Stettiner Genossen im „Vorwärts“ .. ................................... III.2 Zur pommerschen KPD (1919 – 1933) ....................................................
9 11 11 12 16 19 21 22 25 31 37 39 45 45 51 55 55 56 60 63 67 73 75 78 81 81 81 86 88 93 94 95 96 103 118 120
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Inhalt
IV. Der „Volksbote“ im Überblick ........................................................................ IV.1 Vorläufer ............................................................................................... IV.2 Im Kaiserreich . . ..................................................................................... IV.3 In der Weimarer Republik .................................................................... IV.4 Das Ende der Zeitung 1933 ................................................................... IV.5 Redaktion ............................................................................................. IV.6 Weitere SPD-Zeitungen Pommerns ..................................................... IV.6.1 „Der Pommer, Organ für die ländliche Bevölkerung Pommerns“ (Stettin) ................................................................ IV.6.2 „Der Vorpommer“ (Stralsund) ................................................. IV.6.3 „Der Kämpfer“ (USPD, Stettin) .............................................. IV.6.4 „Volks-Zeitung für Hinterpommern“/ „Der Hinterpommer“ (Köslin) ................................................ V. Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich . . ................................ V.1 Das Deutsche Reich nach den Wahlen von 1912 . . ................................. V.2 Preußen . . ............................................................................................... V.3 Polen ..................................................................................................... V.4 Die Partei zwischen Dresdner Parteitag (1903) und Kriegsausbruch . . ... V.4.1 Sozialistische Zukunft .............................................................. V.4.2 Revisionismusdebatte und Massenstreik .................................. V.5 Geschichte und Erinnerung: 1848 und 1813 .......................................... V.6 Eulenburgaffäre 1907 – 1909 . . ................................................................. V.7 Antisemitismus ..................................................................................... V.8 Der Kampf gegen den Alkoholismus .................................................... V.9 Religion, Kirche und Atheismus ........................................................... V.10 Frauen ................................................................................................... V.11 Landarbeiter . . ........................................................................................ V.12 Gegen Imperialismus und Kriegsgefahr ................................................ V.13 Kriegsberichterstattung ......................................................................... V.14 Feuilleton .............................................................................................. V.14.1 Zeitungsgedichte ...................................................................... V.14.2 Fortsetzungsromane ................................................................. V.14.3 Literaturkritik .......................................................................... V.15 Öffentlichkeit und journalistisches Selbstverständnis ........................... VI. Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik ............... VI.1 Novemberrevolution ............................................................................. VI.2 Versailler Vertrag ................................................................................... VI.3 Kapp-Putsch ......................................................................................... VI.4 Das Krisenjahr 1923 .. ............................................................................. VI.5 Reichspräsidentenwahl 1925 .................................................................. VI.6 Gegen Hitler .........................................................................................
123 123 125 132 135 139 151 152 156 160 178 182 182 190 192 196 207 216 222 229 232 240 243 255 262 265 279 287 289 292 297 303 314 314 318 321 322 333 339
Inhalt
VI.7 Lokales und Provinz . . ............................................................................ 353 VI.8 Karikaturen ........................................................................................... 358 VI.9 Anzeigen ............................................................................................... 361 VI.10 Vergleich des „Volksboten“ mit „General-Anzeiger“ und „Stettiner Abendpost“, Mai 1929 ................................................... 365 VII. Schluss ............................................................................................................. 368 VII.1 Zur journalistischen Qualität des Stettiner „Volksboten“ ..................... 368 VII.2 Anregungen .. ......................................................................................... 380 VII.3 Sozialismus? .......................................................................................... 384
Literatur und Quellen .. ............................................................................................. 389 Übergreifend .................................................................................................... 389 Pomeranica ....................................................................................................... 420 Register (Harald Bader und Haik Thomas Porada) .................................................. 435 Personenregister ................................................................................................ 435 Ortsregister . . ..................................................................................................... 440
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Kurzzusammenfassung Diese Arbeit stellt die Geschichte der sozialdemokratischen Zeitung „Volksbote“ dar, die zwischen 1885 und 1933 in der pommerschen Provinzhauptstadt Stettin (seit 1945 Szczecin, Polen) erschien. Das Forschungsziel ist die Ermittlung der journalistischen Qualität des Stettiner „Volksboten“. Die Dissertation versteht sich als Beitrag zur regionalen Mediengeschichtsschreibung, die heute noch relevant sein kann und auch einen Platz in der akademischen Journalistenausbildung haben sollte. Das Blatt wird in den historischen Kontext der preußischen Provinz Pommern zwischen dem Kaiserreich und der beginnenden nationalsozialistischen Diktatur (Verbot nach dem Reichstagsbrand) sowie zur SPD und ihrer Presse gestellt. Innerhalb der Partei nahmen die pommerschen Genossen eine linkere Haltung als die Gesamtpartei ein, was mit ihrer marginalen Rolle in Pommern zusammenhängt. Die Zeitung beklagte oft die zu geringe Leserzahl. Dennoch hatte der Stettiner „Volksbote“ ein hohes publizistisches Niveau, gerade im Blick auf die bürgerliche Konkurrenz vor Ort oder auch die kurzlebige Stettiner Zeitung der Unabhängigen Sozialdemokraten „Der Kämpfer“ (dieser wird insbesondere im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit den Kommunisten untersucht, an der die USPD zerbrach). Eine kleine Redaktion produzierte den „Volksboten“, der anfangs vier Seiten für rund 400 Abonnenten umfasste, doch in der Weimarer Republik ein großes Publikum erreichte, wenn auch unter Zuhilfenahme von Pressediensten und Beilagen. Das Anzeigenaufkommen erlangte nicht den Umfang der vermeintlich unparteilichen Konkurrenz. Der „Volksbote“ modernisierte und professionalisierte sich in den 1920er Jahren durch Bebilderung, Auflockerung des Stils und eine stärkere Betonung des Nachrichtlichen. Die lokalen Berichte nahmen an Vielfalt zu. Dem „Volksboten“ kommt somit auch Quellenwert für die Geschichte der kleineren pommerschen Ortschaften zu. Detailliert wird die Berichterstattung zu verschiedenen Themenfeldern nachgezeichnet, denen der Verfasser zeitgeschichtliche Brisanz und Relevanz zuschreibt. In Opposition zum Obrigkeitsstaat wurde das allgemeine Wahlrecht in Preußen gefordert. Die Unterdrückung der Polen im Osten des Reiches müsse beendet werden. Die Einheit der Partei dürfe nicht durch Richtungsstreit (Revisionismus) gefährdet werden. Die soziale Lage der Proletarier könne sich erst im Sozialismus, in den der Kapitalismus auch ohne Revolution hineinwachse, bessern. Erinnerungspolitisch s eien die Märzrevolution von 1848 und die Befreiungskriege von 1813 eine Mahnung, Kompromisse mit der herrschenden Dynastie der Hohenzollern nicht einzugehen. Die Sozialdemokratie sei die Erbin der Freiheitskämpfe und damit des Liberalismus. K aiser Wilhelm II. wurde im Homosexualitätsskandal um Eulenburg im Rahmen der publizistischen Möglichkeiten kritisiert (zahlreiche Presseprozesse begrenzten die Meinungsfreiheit). Der „Volksbote“ bekämpfte den erstarkenden Antisemitismus. Gesellschaftspolitisch sprach er sich für maßvollen Alkoholkonsum aus. Die K irche lehnte er ab, da sie überwiegend das Klassensystem stütze. Wissenschaft und Sozialismus würden das Versprechen des Christentums einlösen. Frauen und Landarbeiter, die den „Volksboten“ wenig lasen und seine Verbreitung
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Kurzzusammenfassung
b ehinderten, müssten an den Sozialismus herangeführt werden. Die Redaktion warnte vor dem (Ersten) Weltkrieg und stand in diesem unter starker Zensur. Das Feuilleton bemühte sich um Kulturvermittlung an die Arbeiter und bekämpfte das Triviale. Der „Volksbote“ versuchte, die Errungenschaften der Novemberrevolution (die ihm nicht weit genug ging) zu verteidigen, seien sie doch Voraussetzung für den Sozialismus, der noch 1933 möglich schien. Vor Hindenburg (bei der Reichspräsidentenwahl 1925) und Hitler und dem Nationalsozialismus wurde eindringlich gewarnt. Insgesamt ergibt sich durch die Lektüre des Stettiner „Volksboten“, dass es sich um eine Partei- bzw. Provinzzeitung von hoher journalistischer Qualität handelte.
I. Einleitung I.1
Zu dieser Arbeit
Diese Dissertation ist keine Geschichte der pommerschen Sozialdemokratie, nur ihrer Zeitung. Die Geschichte der Arbeiterpartei in dieser preußischen Provinz oder eine Abhandlung über die Stadt Stettin als Kommunikationsraum oder eine Landespressegeschichte sind noch zu schreiben. Vielleicht regt der vorliegende Text dazu an. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung des Stettiner „Volksboten“ als größter sozialdemokratischer Zeitung in Pommern, die sich zwischen Gründung 1885 und Verbot 1933 von einem Vier-Seiten-Blatt zu einer modernen, vielseitigen Tageszeitung entwickelte, mit einem klaren parteilichen Standpunkt einer Zukunft Pommerns, Deutschlands und Europas in einem demokratischen Sozialismus. Zunächst als Oppositionsblatt einer erstarkenden Arbeiterbewegung, dann im Zangenangriff der linken und rechten Extreme suchte sie ein Publikum unter Arbeitern und anderen abhängig Beschäftigten zu gewinnen, konnte sich aber gegen den publizistischen Mainstream nicht durchsetzen, trotz aller Mobilisierungsbemühungen, die durchaus Redundanzen aufwiesen. Zeitungsbiographien waren ein beliebtes Thema der älteren Zeitungswissenschaft und in der Ausbildung des journalistischen Nachwuchses etwa in den Journalistikinstituten in Leipzig 1 und Dortmund. Sie behalten auch heute ihren Wert, vielleicht weniger, um Strukturen des heutigen und künftigen Journalismus zu erklären (oder gar zu beeinflussen), wohl eher als Beitrag zur Erinnerungskultur. Diese ist, was das heutige Szczecin betrifft, auch polnisch, mit allen möglichen Problemen, die historische Aneignungen aufwerfen können, abhängig von politischen Strömungen und Gewichtungen der Verwerfungen (und nachträglichen Deutungen), die Mitteleuropa bis heute prägen. Mein Dank gilt den Menschen und Institutionen, die die Entstehung unterstützt haben. Dies sind die Betreuer Prof. Dr. Hans Bohrmann und Prof. Dr. Wiebke Möhring, Piotr Jankowiak, Dr. Matthias John, Hans Krause, Hans-Gerd Warmann, das Institut für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund, das Haus Stettin in Lübeck, die Universitätsbibliothek Greifswald, die Martin-Opitz-Bibliothek Herne, die Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn, das Internationale Zeitungsmuseum der Stadt Aachen sowie das Stettiner Staatsarchiv (Archiwum Państwowe w Szczecinie). Der Tag der Disputation war der 26. November 2019. Für den Druck wurde das Manuskript ergänzt. Der Historischen Kommission für Pommern danke ich herzlich für die Aufnahme in ihre renommierte Schriftenreihe. Dem Mitglied dieser Kommission, Prof. Dr. Thomas Stamm-Kuhlmann, bin ich für hilfreiche Hinweise verbunden, die bei der Erarbeitung der Druckfassung berücksichtigt wurden. Neben der
1 Einige dortige Diplomarbeiten zur sozialdemokratischen Presse (marxistisch-leninistisch interpretiert) wurden in der Zeitschrift „Theorie und Praxis des sozialistischen Journalismus“ zusammengefasst, bspw. Liebert (1985, 1987, 1989) und Trommer (1989).
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Einleitung
Kommission selbst haben auch der Verein zur Förderung der Zeitungsforschung in Dortmund e. V. und die Stiftung Presse-Haus NRZ in Essen die Drucklegung mit namhaften Zuschüssen unterstützt, wofür ich allen drei Gremien zu großem Dank verpflichtet bin.
I.2
Die Relevanz der Pressegeschichte
Eine pressehistorische Arbeit muss nicht apologetisch beginnen. Schottenloher 2 (1922) und Wilke 3 (2000a) sind Beispiele für einen direkten Zugriff, ohne ihren Zugang begründen zu müssen. Salomon 4 (1900: III) wunderte sich sogar darüber, dass „ein solches Buch so lange auf sich hat warten lassen“. Dabei ist mit Stöber 5 die Pressegeschichte „zugleich die Geschichte der Entstehung der Moderne“, für das Fach Publizistik- und Kommunikationswissenschaft außerdem Ausweis von Qualität und Ausbildungskompetenz (2000: 11 f ). Entsprechend nimmt Kommunikations- und Mediengeschichte einen vorderen Platz bei den Forschungsthemen der Disziplin ein (Altmeppen/Weigel/Gebhard 2011: 382). Da aber Medienmonografien gern der (m. E. nicht durchgängig) überholten Zeitungswissenschaft zugeschrieben werden (so Averbeck 2006), s eien einige Ausführungen dem Thema vorangestellt. „Jahrhundertelange historische Tradition“ (Wilke/Noelle-Neumann 2003: 460) allein jedenfalls genügt als Grund noch nicht, zumindest dann nicht, wenn das Fach seine sozialwissenschaftliche und damit gegenwartsbezogene, gar in die Zukunft greifende Prägung nicht aufgeben will. Zudem sind die technischen Voraussetzungen anders als bei
2 Karl Schottenloher wurde 1878 im Kreis Regensburg geboren, studierte klassische Philologie, Geschichte und Germanistik in München, wo er 1903 promovierte und dort an der Bayerischen Staatsbibliothek 1908 – 1938 Bibliothekar wurde, seit 1928 als Direktor der Katalogsabteilung. Er forschte u. a. zu Inkunabeln und zum Buchdruck. Er starb 1954 (Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 9, München: dtv/K. G. Saur, 2001: 123). 3 Jürgen Wilke, 1943 im ostpreußischen Goldap geboren, studierte Germanistik, Publizistik und Kunstgeschichte in Mainz und Münster. Promotion 1971, 1984 – 1988 Lehrstuhl Journalistik I in Eichstätt, seit 1988 Professur für Publizistik in Mainz, Forschungsschwerpunkte u. a. Medien- und Kommunikationsgeschichte, Nachrichtenwesen, politische und internationale Kommunikation; emeritiert (www.zen.ifp.uni-mainz.de/emeriti-honorarprofessoren/juergenwilke/ [20. 07. 2020]). 4 Ludwig Salomon, 1844 im sächsischen Gorden geboren, studierte Naturwissenschaften und Philosophie, war Redakteur verschiedener Zeitungen und Zeitschriften, schrieb eine „Geschichte der deutschen Nationalliteratur des 19. Jahrhunderts“ und war 1882 – 1906 Chefredakteur der „Elberfelder Zeitung“. Er starb 1911 (Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 8, München: dtv/K. G. Saur, 2001: 504). 5 Rudolf Stöber, 1979 – 1985 Studium der Geschichte und Publizistik in Göttingen, 1990 Promotion an der FU Berlin, seit 2002 Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft in Bamberg, Mitherausgeber des Jahrbuchs für Kommunikationsgeschichte, Publikationen vor allem zur Mediengeschichte (https://www.uni-bamberg.de/kowi/infos-zum-institut/personen/stoeberrudolf [20. 07. 2020]).
Die Relevanz der Pressegeschichte
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elektronischem Material günstig, was die Beliebtheit pressehistorischer Untersuchungen insbesondere für Qualifikationsarbeiten erklärt. Der Stettiner Robert Eduard Prutz,6 dem wir die älteste Journalismusgeschichte (außer Schwarzkopf 1795) verdanken, stellte 1845 an den Beginn seines Buches rechtfertigende Überlegungen, die bis heute gelten können, auch wenn der hegelianische Idealismus befremden mag: Was der Geschichtschreiber als ein Moment des Geistes, eine Phase geistiger Entwicklung begreift, das ist historisch und der geschichtlichen Ehre werth. Es ist das freie Reich des Geistes, das sich hier aufthut: ein Reich, in welchem es kein Unbedeutendes, kein Verachtetes mehr giebt, als Eines nur: keinen Antheil gehabt zu haben an seiner Arbeit (Prutz 1845: 3 f ).
Dieses „Selbstgespräch […], welches die Zeit über sich selber führt“, sei „tägliche Selbst kritik“, das „Tagebuch“ in „unmittelbaren, augenblicklichen Notizen“ (Prutz 1845: 7). Dieses „Pompeji“ macht den Forscher zum „Mitlebenden“ (Prutz 1845: 7 f ). Damit benennt Prutz den Quellenwert der Presse, eine Auffassung, die sich mancherorts noch immer nicht durchgesetzt hat, z. B. im Bibliothekswesen, das Zeitungen häufig stiefmütterlich behandelt (Stein 1991). Für Prutz (1845: 10) geht es nicht um „eine Auswahl vortrefflicher oder merkwürdiger Recensionen“, sondern um „die Darlegung der Idee“. Leider haben sich diese und verwandte Auffassungen von der Bedeutung der Presse wie ihrer Erforschung erst spät durchgesetzt. Noch Groth 7 (1928: VII–IX) beklagte das akademische Desinteresse sogar an der seinerzeitigen Medienlandschaft. Journalismus- und Pressegeschichte sind damals noch synonym verstanden worden (heute gelten Medien eher als Voraussetzung und Verbreitung von Journalismus, vgl. Birkner 2012: 22 f ). Der Verfasser dieser Arbeit schließt sich der traditionellen Auffassung an, weil beide nicht voneinander getrennt existieren und zu beschreiben sind, jedenfalls solange Zeitung und Zeitschrift Leitmedien waren (und auch noch sind, Jarren/Vogel 2009). Auch soll keinesfalls der Eindruck erweckt werden, es handele sich um eine Studie ohne Vorbilder.
6 1816 in Stettin geboren, Studium der klassischen Philologie in Berlin, Breslau und Halle, Promotion, Mitarbeiter an „Deutschem Musenalmanach“, „Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst“ und „Rheinischer Zeitung“. Wegen Majestätsbeleidigung aus Sachsen-Weimar 1845 ausgewiesen. 1848 im Constitutionellen Club in Berlin, 1849 – 1858 a. o. Professor der Literaturgeschichte in Halle, danach Rückkehr nach Stettin, wo er 1872 starb. Zahlreiche literarische und literaturwissenschaftliche Veröffentlichungen (Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 8, München: dtv/K. G. Saur, 2001: 83). 7 Otto Groth wurde 1875 im elsässischen Schlettstadt geboren, studierte in München Staatswissen schaften, war seit 1899 Redakteur in Stuttgart und Ulm, promovierte 1915 in Tübingen über „Die politische Presse Württembergs“. Die vier Bände „Die Zeitung“ gelten als Standardwerk, wegen jüdischer Abstammung Berufsverbot 1933, nach dem Krieg weitere Veröffentlichungen zur Zeitungswissenschaft. Otto Groth starb 1965 in München (Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 4, München: dtv/K. G. Saur, 2001: 202).
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Einleitung
Worin nun aber besteht der Wert lokaler Pressegeschichtsschreibung? Entsprechen deren Ergebnisse „unabgegoltenen Orientierungsbedürfnissen deiner Gegenwart“? (Rüsen/Jaeger 1990: 14). Darauf sind verschiedene Antworten möglich. Wenig brauchbar erscheint die topographische Wende in den Kulturwissenschaften als Begründungszusammenhang. Ein kollektiver Theorietrend (unter vielen) macht noch kein Orientierungsbedürfnis. Es soll daher Raum im Folgenden nur als äußere Begrenzung, als Analysekategorie verwendet werden (zu diesen „älteren“ Konzepten Beck 2003: 120 – 123). Sicher besteht aber angesichts der Technisierung der zurückliegenden und kommenden Jahrzehnte ein Bedürfnis nach Heimat, so historisch belastet der Begriff auch ist. Die stattfindende Globalisierung ist in Teilen zugleich Relokalisierung/Reprovinzialisierung (oder Renationalisierung, z. B. in postkommunistischen Staaten). Diese Analyse darf, ohne sich territorial revisionistisch zu gebärden, den gesamten ehemals deutschsprachigen Raum bzw. das ehemalige (heilige römische oder kleindeutsche) Reichsgebiet umfassen. Zwar ist es angesichts der zwei deutschen Diktaturen und der nicht lange zurückliegenden Verheerung des Kontinents durch Deutsche noch zu früh, von einer „normalisierten Nation“ (Hawel 2006) zu sprechen. Doch erlauben es europäische Einigung und allseits anerkannte Staatsgrenzen, über diese hinauszuschauen – nur eben ohne eine Agenda des Übergriffs. Dies ist für die vorliegende Arbeit umso wichtiger, als Teile Pommerns deutsch bleiben konnten, aber deren Tradition weit nach Osten reichte, mit Stettin als Zentrum. Zudem will dieser Text den Mythos eines ausschließlich rechten, ländlichen preußischen Ostens falsifizieren, am Beispiel einer sozialdemokratischen Zeitung. Der das Proletariat überbewertende Forschungsstrang der DDR (der sich meist auf ihr Territorium beschränken musste, also Stettin und Hinterpommern ausschloss, Buchholz 1995a: 9 f.) riss mit deren Ende fast ab, da die bundesdeutsche pommernbezogene Wissenschaft andere Schwerpunkte als die Arbeiterbewegung hatte (während sich die SPD durch die neue Ostpolitik zumindest von den organisierten Vertriebenen entfernte 8). Orientierungsbedürfnisse sind Bestandteil der conditio humana und bruchstückhaft zu befriedigen, wenn auch immer nur an Beispielen. Der Sinn von Geschichtsbetrachtung, u. a. „Herkunftswissen zur Selbstverständigung“ und „Weltentgrenzung“ (Pöttker 2008: 30 – 35), gilt in einer medialisierten Gesellschaft auch für Pressegeschichte. Spätestens seit der Durchsetzung des Fernsehens prägt mediale Erinnerung das persönliche Gedächtnis, weshalb Kommunikationsgeschichte heute verständlicher sein kann als in früherer Zeit. Wegen der kurzen Halbwertszeit der Internetforschung ist Mediengeschichte forschungspragmatisch (Bader 2008), auch wenn man sich über Relevanz und Rezeption keinen Illusionen hingeben sollte, im Fach ist sie eher randständig (Bohrmann 2006, Stöber 2014a: 41 f ). Hier gilt, was von der Zeitungswissenschaft in den 1920er Jahren festgestellt wurde:
8 Dazu Müller 2012. Er teilt die Beziehungsgeschichte in „Eintracht“, „Entfremdung“ und „Zwietracht“ ein. In der Adenauerzeit befürwortete die SPD die Anliegen der Vertriebenen und die Grenzen von 1937, unter Brandt wandte sie sich davon ab. Seit der EU-Osterweiterung und maßvollen Tönen beim Bund der Vertriebenen nähern sich Partei und Betroffene wieder an, z. B. beim „Zentrum gegen Vertreibungen“.
Die Relevanz der Pressegeschichte
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Wenn man sich in manchen Kreisen, die heute der Zeitungsforschung noch ablehnend gegenüber stehen, einmal ernstlich mit der Materie beschäftigt, wird man unschwer erkennen, welch ungehobene Schätze dort noch verborgen liegen, und daß man selbst aus dieser als graue Theorie verschrienen Disziplin doch vielleicht noch manches auch für den praktischen Beruf Wertvolles entnehmen kann. (d’Ester 1928: 72)
Die vorliegende Arbeit ist eine Zeitungsbiographie. Da es sich um eine Parteizeitung handelte, ist der Stettiner „Volksbote“ nicht losgelöst von der Entwicklung der Sozialdemokratie zu betrachten: Presse- und Parteigeschichte sind in d iesem Fall eng miteinander verzahnt. So will diese Arbeit auch einen Beitrag zur Geschichte der politischen Parteien in Pommern leisten. Diese ist notwendig, weil die durch Martin Wehrmann 9 geprägte pommersche Historiographie hier Lücken aufweist: Dass die teilweise blutigen Auseinandersetzungen aus der Zeit der Sozialistengesetze, die sich in unzähligen Streiks ausdrückenden sozialen Spannungen und der hohe Organisationsgrad der Stettiner Arbeiterbewegung genauso wie die liberale Prägung des städtischen Bürgertums in der Betrachtung Wehrmanns ignoriert wurden, hat bis heute gravierende Folgen. In allen Gesamtdarstellungen der Geschichte Pommerns wird nämlich diesen, der stereotypen Darstellung Pommerns als verschlafen-ruhige, der preußischen Monarchie treu ergebenen „reaktionären“ Provinz, querliegenden demokratischen Traditionslinien ebenfalls gar kein oder nur äußerst geringer Raum gewidmet. Da auch in der DDR-Zeit aus politischen Gründen kaum zur jüngeren pommerschen Geschichte geforscht wurde, muss man Wehrmann und diejenigen [!] Autoren, die Wehrmann in dieser Hinsicht unkritisch folgten, letztendlich vorhalten, diesen Teil der pommerschen Geschichte nahezu vollständig ausgelöscht zu haben. (Mellies 2012a: 219)
Das „Land am Meer“ verfügt über einen weitgehend vergessenen Traditionsbestand. An die 1933 gewaltsam beendete Sozialdemokratie und ihre Zeitung in Pommern will diese Arbeit erinnern.
9 Martin Wehrmann, 1861 in Stettin geboren, Studium der klassischen Philologie in Halle, teils Berlin und Greifswald. Promotion und Staatsexamen, 1884 – 1912 Lehrer am Marienstiftsgymnasium Stettin, 1912 Versetzung ins hinterpommersche Greifenberg, ab 1921 in Stargard, 1926 Pensionierung. Wehrmann starb 1937 in Stargard. Er begründete die „Monatsblätter“ der Gesellschaft für pommersche Geschichte und Altertumskunde und gab den Anstoß zur Gründung der Historischen Kommission für Pommern. Er „war Anhänger des preußisch-nationalen Geschichtsbildes“ (Unterstell 1995: 385). In den 1920er Jahren warnte er vor „slawische[r] Überhebung und Gewinnlust“ (zit. n. Unterstell 1995: 388), blieb aber in preußisch-konservativer Distanz zum Nationalsozialismus. Wichtige Bücher: „Geschichte der Stadt Stettin“ (1911), „Geschichte von Pommern“, (1919 – 1921) und „Die pommerschen Zeitungen und Zeitschriften in alter und neuer Zeit“ (1936). Diese Pressebibliographie gibt die damaligen Bestände, Aktennachweise und Literaturhinweise wieder und ist für die Gegenwart auch hilfreich, weil sie die Überlieferung vor den Kriegsverlusten und der Teilung Pommerns nennt.
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Einleitung
Dass Pressegeschichte in manchem überholt sein könnte, wird bis heute diskutiert. Es greift aber ein Argument Kurt Koszyks noch: Die pressegeschichtliche Forschung, die intensiv im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts einsetzte, blieb zwar weitgehend Ereignis-Geschichtsschreibung, wie es dem damaligen Stil der Geschichtswissenschaft entsprach, aber sie behandelte Faktoren, wie sie von der modernen Sozialgeschichte in den Mittelpunkt der Betrachtungsweise gerückt werden. Es ist ungerecht, wenn man gegenüber der älteren Pressegeschichtsschreibung Vorwürfe erhebt, wie man sie vielfach in Büchern findet, die sich auf die sozialgeschichtliche Theoriebildung der 60er Jahre stützen können. (Koszyk 1977: 25)
Auch diese genannte Theoriebildung wirkt zum Teil in der Gegenwart überlebt, das ist das Schicksal der Sozialwissenschaft. Ähnlich wird man später über Themen und Debatten der Jetztzeit urteilen, beispielsweise die konstruktivistischen Fieberträume (oder deskriptive Affirmation der Verhältnisse) inmitten eines Medienumbruchs. Stöber (2014a: 41) stellt denn auch infrage, dass sich Kommunikationsgeschichte sozialwissenschaftlich fassen ließe: (Kommunikations-)Geschichte lässt sich aufgrund der grundsätzlichen Besonderheit jedes historischen Ereignisses und aufgrund der prinzipiellen Offenheit des historischen Prozesses nur schlecht in eine im Kern nomologisch denkende Sozialwissenschaft integrieren. (Stöber 2014a: 41)
Er stellt aber dennoch Merkmale auf, an denen sich Kommunikationsgeschichte messen lassen muss, indem sie über die reine Beschreibung hinausreicht: Aber wenn die KG [Kommunikationsgeschichte] im Kontext der Kommunikationswissenschaft Sinn machen soll, muss sie auch Erklärungen liefern. Sie darf nicht nur beschreiben, so wichtig dies als selbstversichernde Grundlage ist. Sie muss darüber hinaus auch analysieren, sie muss Erklärungen liefern, sie muss die Nachhaltigkeit der beschriebenen Phänomene aufzeigen, sie muss das Erzählte in Kontexte einbetten, sie muss in diachroner Perspektive die Ursachen für den allenthalben beobachtbaren gesellschaftlichen, kommunikativen und medialen Wandel benennen. (Stöber 2014a: 54)
I.3
Stand der Zeitungssammlung
Angesichts des Stellenwerts von Zeitungen in Bibliotheken, der auf Pommern beschränkten Verbreitung des „Volksboten“, der NS-Diktatur und Kriegsverluste ist die Überlieferung der sozialdemokratischen Zeitung aus Stettin als gut zu bezeichnen. 1991 hat die FriedrichEbert-Stiftung in Zusammenarbeit mit der damaligen Woiwodschaftsbibliothek Szczecin
Stand der Zeitungssammlung
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die dort erhaltenen Originale verfilmt (Rösch/Wimmer/Zimmermann 1992: III). Dies war nötig, weil in beiden Deutschlands kaum Exemplare überkommen waren und es zu Zeiten des „Eisernen Vorhangs“ unmöglich war, sie auszuwerten. Verfilmung stellt nach wie vor das beste Mittel zur Langzeitarchivierung dar. Kopien können jederzeit hergestellt werden (die Universitätsbibliothek Greifswald besitzt einen Satz). Die Mikrofilme sind gut lesbar. Für die Benutzung treten Digitalisate hinzu. Bei diesen handelt es sich in der Regel um JPG- oder PDF-Dateien. Diese lassen sich wie der Film an Geräten nacheinander lesen, haben aber keine Durchsuchungsfunktion, die nur möglich wird, wenn es sich um OCR-Einlesen (Optical Character Recognition = Texterkennung) handelt, was technischen (fehlerfreie Umwandlung Fraktur zu Antiqua) und finanziellen Mehraufwand bedeutet, der bislang nur in Ausnahmen (z. B. preußische Amtspresse) oder drittmittelgeförderten Modellprojekten (z. B. „Hamburger Nachrichten“) möglich ist. Zeitungsdigitalisierung nimmt zu, löst aber aus technischen Gründen (Datenmigration, Kompatibilität, Fortschritt bei Hard- und Software) nicht das Problem der Bestandserhaltung. Den „Volksboten“ ab Jg. 1912 hat die Martin-Opitz-Bibliothek (vormals Bücherei des deutschen Ostens) bilddigitalisiert und stellt ihn in Herne (Nordrhein-Westfalen) Benutzern zur Verfügung. Sie verwendete als Vorlagen für das Projekt „Stettiner Zeitungen von den Anfängen bis 1945“ die Mikrofilmsammlung des ehrenamtlich betriebenen Hauses Stettin in Lübeck, das mit dem (inzwischen geschlossenen) Pommernzentrum in Travemünde einen Schwerpunkt der Traditionspflege außerhalb der historischen Provinz darstellt. – Greifswald und Stettin haben mit Digitalisierungen begonnen (u. a. „Börsen-Nachrichten der Ostsee“ aus Stettin). – Einige Nummern des „Volksboten“ aus dem Bestand des Deutschen Historischen Museums Berlin sind in die Deutsche Digitale Bibliothek aufgenommen. Sofern Verfilmung normgerecht stattfindet, schlägt der Film auf Benutzerebene die Brücke zur elektronischen Gegenwart und Zukunft (durch kostengünstige Digitalisierung vom Film) – der Benutzer bevorzugt zunehmend digitale Texte –, beantwortet durch seine physischen Eigenschaften aber auch bereits die Frage, was mit hard- und softwareabhängigen Daten im Lauf von Jahrhunderten geschehen soll. Die Überlieferung des „Volksboten“ weist schmerzliche Lücken auf, z. B. zu Julikrise und Kriegsausbruch 1914 sowie Jg. 1930. Über solche Zeiträume können dann nur Vermutungen angestellt werden. Das Verfilmungsprotokoll der Friedrich-Ebert-Stiftung wird hier zusammenfassend wiedergegeben. Bestandsübersichten zu pommerschen Zeitungen geben Wehrmann (1936) und Gittig (1994), zu den Mikroverfilmungen Pankratz (2010 sowie die Datenbank unter mfa.allegronet.de). Jahrgänge
Fehlnummern
1885 – 1889 (L) 1885: 18.7., 5.12., 12.12.; 1886: 13.1., 22.1. – 31.12.; 1887: 1.1. – 23.3., 13.5. – 21.5., 9.6. – 18.6., 2.7., 2.8., 4.8. – 13.8., 27.8., 29.8. – 7.9., 12.9. – 19.10., 21.10. – 9.11., 14.11. – 30.11., 9.12. – 31.12.; 1888: 1.1. – 1.2., 3.2. – 2.5., 4.5. – 23.6., 29.6. – 11.7., 20.7., 14.8., 20.8. – 31.12.; 1889: 1.1. – 6.2., 13.2., 15.2. – 23.2., 25.2. – 23.3., 26.3., 9.4., 17.5., 4.6., 20.6., 16.7., 16.8.
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Einleitung 1896 – 1898 (L) 1896: 1.1. – 24.1., 26.1. – 30.1., 1.2. – 10.2., 14.2., 16.2. – 19.2., 21.2., 25.2. – 27.2., 12.3., 15.3., 18.3., 20.3., 1.4. – 3.4., 7.4., 14.4., 24.4., 27.4., 29.4., 10.5., 17.5., 7.6., 1.7., 22.7., 24.7., 11.8., 13.9., 20.9., 27.9., 4.10., 1.11., 8.11., 10.11., 21.12., 24.12. – 31.12..; 1897: 17.1., 14.2., 16.3., 1.4. – 31.12.; 1898: 1.1. – 6.2., 2.5., 8.6., 17.6., 23.8., 25.8., (29.12. unvollst.) 1901 – 1908 (L) 1901: 1.1. – 1.7., (14.12. 1. Beil.); 1902: 1.1. – 8.6., (16.8. 1. Beil.), (11.10. 1. + 2. Beil.), (29.11. 1. Beil.); 1903: 1.1. – 30.6., 9.10.; 1904: 1.1. – 30.6., 8.7., 28.12.; 1905: 2.1., 8.4., 19.5., 29.6. – 31.12.; 1906: 1.1. – 1.7.; 1907: 1.4. – 1.7., 16.7., 27.7., 30.7.; 1908: 1.1. – 6.1., 2.4., 30.6. – 31.12.; (Nr. 42–43, 49 – 57, 59 – 73, 75 – 78, 81 – 94, 96 – 98 besch.), Nr. 118 1911 – 1929 (L) 1911: 1.1. – 12.7., (29.8. Mantel); 1913: 22.12. – 31.12.; 1914: 1.7. – 30.9.; 1915: 1.1. – 30.6.; 1917: 3.1., (30.6. unvollst.), (1.7. Mantel), (29.9. verb.); 1918: (16.2. verb.), (27.3. – 30.3. verb.), 29.5., (18.6. verb.), 19. – 21.6.; 1920: (27.4. Mantel), (5.2. 2. Beil.); 1921: 1.7.; 1922: 1.1. – 31.3.; 6.8., 15.8., 1.10. – 31.12.; 1923: 29.1. – 1.2., (28.2. unvollst.), (2.2. Mantel), 28.5., 7.8., 25.9., 1.10. – 31.12.; 1924: (25.5. 2. Beil.), (16.11. 2. Beil.), (29.11. 2. Beil.), (5.12. 2. Beil.); 1925: (1.1. 2. – 4. Beil.), (2.4. Mantel), (10.4. 2. Beil.), (18.4. 2. Beil.), (1.5. 2. Beil.), (9.5. 2. Beil.), 11.5., (30.5. 2. Beil.), (14.6. 2. Beil.), 1.7. – 30.9., (29.11. 3. Beil.), 12.12. – 31.12.; 1926: (22.5. 2. Beil.), (30.5. 2. Beil.), (5.6. 2. Beil.), (6.6. 2. Beil.), (12.6. 2. Beil.), (13.6. 2. Beil.), (19.6. 2. Beil.), (1.8. unvollst.), (3.8. unvollst.), 30.9. – 31.12.; 1927: (1.1. Mantel + 2. Beil.), (4.1. 3. + 4. Beil.), (9.1., 15.1., 5.2., 27.2., 6.3., 12.3., 19.3., 20.3., 26.3. jeweils 2. Beil.), (1.4. Mantel), (2.4., 9.4., 15.4., 7.5., 8.5., 14.5., 15.5., 21.5., 22.5., 28.5., 29.5., 1.6., 4.6., 5.6., 26.6. jeweils 2. Beil.), (1.7. Mantel + 2. + 3. Beil.), (24.7. 2. Beil.), 31.7., (7.8. 2. Beil.), (21.8. 2. Beil.), 28.8., 31.8., 3.9., 4.9., 25.9., (1.10. 4. Beil.), (30.10. 3. Beil.), (6.11., 13.11., 19.11. jeweils 2. Beil.), (26.11. 2. + 3. Beil.), (27.11. 2. Beil.), (3.12. 2. Beil.); 1928: (21.1., 28.1., 5.2., 11.2., 12.2., 3.3., 10.3., 11.3., 18.3., 24.3., 25.3. jeweils 2. Beil.), (31.3. 1. Beil. unvollst.), 1.4. – 31.12.; 1929: 1.1. – 2.4., (3.4. Mantel), (14.4., 21.4., 28.4., 1.5., 4.5., 5.5. jeweils 2. Beil.), (11.5. 3. + 4. Beil.), (12.5. 2. Beil.), 19.5., (26.5., 1.6., 2.6., 9.6. jeweils 2. Beil.), (16.6. 1. + 2. Beil.), (28.6. 1. Beil.), (30.6. 2. Beil.), (1.10. unvollst.), 2.10. – 24.10., (25.10. Mantel + 1. Beil.), (3.11. 2. Beil.), (17.11. 2. Beil.), 24.11., (1.12. 2. Beil.), (8.12. 3. Beil.), (21.12. 2. Beil.), (22.12. 3. + 4. Beil.), (25.12. 2. + 3. Beil.) 1931 – 1933, 28.2. (L)
1931: (1.1., 4.1., 11.1. 2. Beil.), (8.2. 1. + 2. Beil.), (1.3. 2. Beil.), (8.3. 2. Beil.), 1.4. – 30.6., (1.7. Mantel), (26.7. 2. Beil.), (31.7. Mantel, 1. Beil. unvollst.), (1.8., 2.8., 9.8., 27.9. 2. Beil.), 31.9. – 31.12.; 1932: 10.2., (28.2. 2. Beil.), 21.4., 22.4., 1.7. – 30.9., 5.10., (6.10. 1. Beil.), (11.12. 2. Beil.), (18.12. 2. + 4. Beil.), 1933: 29.2., 1.3. verb.
Tab. 1: Mikroverfilmung des Stettiner „Volksboten“, nach den Verfilmungsprotokollen FriedrichEbert-Stiftung, Bonn. Das häufige Fehlen der Beilagen ist vermutlich auf deren damalige Einschätzung als nicht sammlungswürdig zurückzuführen. Das ist aus heutiger Sicht bedauerlich, finden sich doch dort oft unikale Angaben, die anders nicht mehr rekonstruiert werden können. Auch ist es ein unzulässiger Eingriff in die Fragestellungen und damit Forschungsfreiheit der Zukunft, Material dem wissenschaftlichen Zugriff zu entziehen. Aus Anzeigen z. B. lassen sich Wirtschaftsbeziehungen erschließen, auch wenn sie seinerzeit als zu gewöhnlich bewertet worden sein mögen. Die Vertreibung der Deutschen etwa zeigt die Bedeutung von Familien- und Berufsinseraten. – Die Digitalisierung von Haus Stettin/Martin-Opitz-Bibliothek, die ich verwendet habe, weicht in Teilen vom Bonner Bestand ab.
Forschungsüberblick zum Stettiner „Volksboten“
I.4
19
Forschungsüberblick zum Stettiner „Volksboten“
Eine Zeitungsmonographie über den „Volksboten“ liegt bislang nicht vor.10 Zwar wurde sein Quellenwert für die pommersche jüngere Geschichte erkannt und durch Zitationen gewürdigt, er selbst jedoch war nur in kürzeren Aufsätzen Thema, und dann mehr in Polen als in Deutschland. Auch dabei ging es eher um ideengeschichtliche als um kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen. Wegen der geringen Akten- und Nachlassüberlieferung stehen für einen solchen Ansatz nur die zugänglichen Jahrgänge zur Verfügung. Eine Sonderstellung nimmt die Heimatforschung ein, die zuweilen auch die Stettiner SPD-Presse in den Blick nimmt, dem Genre geschuldet kursorisch. Überhaupt hat das Interesse an sozialdemokratischer Pressegeschichte nach einer Blüte in der Nachkriegszeit – hier ist vor allem Kurt Koszyk (1929 – 2015) zu nennen – nachgelassen. Für Pommern kommt hinzu, dass die Erforschung insbesondere der nicht vertreibungsbezogenen Zeitgeschichte erst seit der deutschen Wiedervereinigung richtig einsetzte, also – sollte das Interesse nicht erlahmen – erst am Beginn steht und zunächst andere Fragen zu klären hat. Entsprechend der regionalen Bedeutung ist denn auch vor allem zum Konservatismus und Nationalsozialismus geforscht und publiziert worden. Hier ist die 2012 verstorbene Kyra T. Inachin besonders verdienstvoll gewesen. Im Folgenden stelle ich die bisherigen längeren Stücke zum „Volksboten“ vor: Cieślak (1961, kürzer 1957: 192 f.) legt dar, dass es der „Volksbote“ war, der entscheidenden Einfluss bei der Verbreitung der Sozialdemokratie in Pommern hatte. Inhaltlich kritisiert er zeitgemäß lassalleschen Einfluss in der Frühzeit, lobt aber (damit den Standard des damaligen polnischen Geschichtsbildes vertretend, doch sachlich korrekt) das Engagement gegen den preußischen Militarismus, gegen das Elend der polnischen Saisonarbeiter, die Germanisierungspolitik in der Provinz Posen und die Kolonialgräuel. Matull (1973c) widmet dem Stettiner „Zeitungsgründer Fritz Herbert“ drei Seiten seiner Darstellung zur ostdeutschen Arbeiterbewegung (innerhalb des Kapitels „Pommern“), die vor allem ein Erinnerungsbuch ist. Er hebt das Niveau des unterhaltenden Teils (Fortsetzungsroman, Rezensionen) hervor, wirft einen Blick auf die Anzeigen, beklagt aber das Protokollartige der Reichstagssitzungsberichte. Insgesamt zeige der „glänzende Aufstieg“ nach 1890 eine „lebendig werdende[n]“ Arbeiterbewegung. Bartels (1985) Aufsatz erschien posthum. In seiner skizzierten, breit geplanten Untersuchung zur Revisionismusdebatte war auch der „Volksbote“ enthalten. Dieser habe sich für die Grundsätze des Erfurter Programms ausgesprochen, allerdings dabei „ehrlichen
10 Überhaupt fehlt es an Darstellungen der Stettiner Zeitungen: „Es gibt keinen, wenn auch nur monographischen Umriss von irgendeiner großer [!] Tageszeitung, die Interessen der Hauptparteien in der Provinz Pommern vertrat, und deswegen müssen wir infolge einer mühsamen Lektüre Hunderten [!] von Seiten dieser Zeitungen ihre politischen Affiliationen [Zuordnungen – H. B.] rekonstruieren“ (Stępiński 2011: 179).
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Einleitung
Opportunismus“ betrieben und den grundsätzlichen Charakter des Streites nicht erfasst. Leitend bei dieser Einschätzung war die zeitgenössische marxistisch-leninistische Interpretation. Włodarczyk (2005) legte den bislang umfangreichsten Beitrag zum „Volksboten“ vor, der, da auf Polnisch erschienen, hier kurz referiert werden soll. Der Autor stellt anhand der Zeitungslektüre die Auffassungen während des Sozialistengesetzes, der ideologischen Debatten nach 1890, zu Kriegsende bzw. Revolution und in den letzten Weimarer Jahren dar. So erwähnt er ein Schreiben des Kösliner Regierungspräsidenten, der die Verlegung des sozialdemokratischen Verlages nach Stargard (1887 – 1890) beklagt, da diese Bewegung dieses Gebiet sonst in 100 Jahren nicht erreicht hätte. Auch kritisierte das Blatt die mangelnde Verbreitung unter den Arbeitern, während die Handwerker es wohlwollend aufnähmen. 1891 forderte der „Volksbote“ vom künftigen Staat den Charakter der Pariser Kommune und nicht der parlamentarischen Republik. In den Revisionismusdebatten und denen um politische Streiks nahm die sozialdemokratische Zeitung eine radikale Haltung ein. Erst während des Weltkrieges schwächte sich die revolutionäre Überzeugung ab. Während der Novemberrevolution, die der „Volksbote“ begrüßte, kämpfte er gegen DDP, USPD und KPD . 1930 habe das Blatt eine Auflage von 35.000 Exemplaren gehabt, bei 15.800 SPD-Mitgliedern. Nun verfolgte es eine gemäßigte Linie. Die Auseinandersetzung mit dem heraufziehenden Nationalsozialismus wollte man parlamentarisch führen. Die SA dankte es mit einem Bombenanschlag am 9. September 1932. Am 27. März 1933 verbot der Stettiner Regierungspräsident den weiteren Druck. Włodarczyks Text ist nah an den Zeitungen, hat aber insgesamt nur Überblickscharakter. Fachlich sind diese Arbeiten in der Geschichtswissenschaft zu verorten. Ein kommunikationswissenschaftlicher Blickwinkel auf das Blatt ist mir nicht bekannt. Diese Lücke will die vorliegende Dissertation schließen, insbesondere durch die Frage nach der journalistischen Qualität, durch die ein Gegenwartsbezug möglich wird. Berücksichtigt wurde der Stettiner „Volksbote“ als Quelle neben anderen sozialdemokratischen Zeitungen in einigen historischen Darstellungen, die thematisch einschlägige Artikel nennen, so Kruse (1993) zum „Burgfrieden“ 1914/1915, Klenke (1987) zur linken innerparteilichen Opposition 11 in der Weimarer Republik, Schaubs (2008) zum KappPutsch 1920 oder Pyta (1989) zum Kampf der SPD gegen den Nationalsozialismus (Jahrgänge 1932/33). Drewniak (1958) hat die Artikel aus dem „Volksboten“ zusammengestellt, die von Rosa Luxemburg und Julian Marchlewski 12 stammen. Der erfolgreiche polnische Roman „Sonate für S.“ erwähnt den „Volksboten“ mehrfach (Liskowacki 2003: 68, 175, 321).
11 Klenke musste die bis dahin im Archiv der sozialen Demokratie vorhandenen Bestände nutzen (1987: 970 f.), die umfangreiche Verfilmung des „Volksboten“ konnte erst nach dem politischen Umbruch in Polen erfolgen (Rösch/Wimmer/Zimmermann 1992: III). 12 1866 in Włocławek (Russisch-Polen) geboren, nach dem Abitur Färber, 1893 zum Studium nach Zürich gegangen, 1896 Promotion, publizistische Tätigkeit („Leipziger Volkszeitung“, „Bremer Bürgerzeitung“, „Sozialdemokratische Korrespondenz“). Nach Beginn des E rsten Weltkrieges gehörte er der Gruppe um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg an und war
Quellen zur pommerschen Arbeiterbewegung
I.5
21
Quellen zur pommerschen Arbeiterbewegung
Zeitungen entstehen nicht im luftleeren Raum, in günstigen Fällen sind neben den Exemplaren selbst auch Akten erhalten, die bei ihrer Interpretation helfen: „Aus archivischer Sicht sind Zeitungen nicht nur veröffentlichte und gesammelte Druckwerke, sondern Faktoren und Produkte lokal und überregional vernetzter Kommunikationsbeziehungen, die ihren Niederschlag in archivischen Bestandsstrukturen gefunden haben“ (Eßer 2016: 15). Głowacki (1972) hat die einschlägigen Bestände zur pommerschen Arbeiterbewegung verzeichnet, die im Stettiner Staatsarchiv (Archiwum Państwowe w Szczecinie 13) überdauert haben, z. B. des Oberpräsidiums von Pommern und des Regierungsbezirks Stettin. Viele Bestände gingen verloren, weil sie nach der Aktenevakuierung nicht wiedergefunden wurden. Stettin betreffen u. a. Unruhen, Streiks, „Schriften zur Bekämpfung der Sozialdemokratie“ (1892 – 1900), „Überwachung und Beschäftigung der arbeitenden Klassen“, verbotene Schriften, Buchhandel, Presse und Zeitschriften, Beschäftigung von Arbeiterinnen und Jugendlichen, Wahlen, Vereins- und Versammlungswesen, Sozialdemokratie sowie Polizeisachen. Ich habe einige Akten vor Ort eingesehen, z. B. zum Ende des Volksboten 1933. Mellies (2012b: 330 – 335) skizziert anhand der frühen Stettiner Akten zur Arbeiterbewegung die Entstehung der verschiedenen parteipolitischen Milieus Stettins, so war es „die publizistische Macht im Rücken“ des „Volksboten“-Gründers Fritz Herbert, die ihm die Stellung in der sozialdemokratischen Partei ermöglichte (332). Lamprecht (1997: 141) wies auf die Akten in Stettin und Greifswald hin, hob ebenfalls die Bedeutung des „Volksboten“ für die pommersche Arbeiterbewegung hervor und beklagte: „Eine intensive Forschung zu dieser Thematik hat es leider bis heute nicht gegeben“ (Lamprecht 1997: 141). Fritz Herbert hat im Selbstverlag 1893 seine Frühgeschichte der pommerschen Sozialdemokratie von 1869 bis 1892 veröffentlicht. Es finden sich darin insbesondere Personenangaben, die andernorts kaum verfügbar wären, und zu den Hintergründen der Verhängung des Belagerungszustandes 1887. Herbert schreibt zur Gründung des „Volksboten“, dabei sei es zunächst darum gegangen, die Schmähartikel des „Stettiner Tageblatts“ zu widerlegen (Herbert 1893: 8). Bedeutend sind die „Berichte zur Presse“ auf den Parteitagen der pommerschen SPD. Für 1906 bis 1914 und für 1919 befinden sich die gedruckten Protokolle in der Universitätsbibliothek Greifswald. Sie sind sehr umfangreich. Zusammenfassungen wurden im „Volksboten“ abgedruckt. Im Bundesarchiv Berlin befindet sich eine Akte von 1924, die den Einspruch des „Volksboten“ gegen die Vorzensur während des Ausnahmezustands enthält (s. IV.3. dieser Arbeit). Eine Abbildung (Tagesordnung des pommerschen SPD -Parteitags 1914) bei Matull (1973c: 255) hat den Stempel „Archiv für pommersche Sozialgeschichte“. Über d ieses Archiv ist mir nichts bekannt. später in wichtigen kommunistischen Gremien vertreten. Er starb 1925 in Italien (Deutsche Biographische Enzyklopädie, München: dtv/K. G. Saur 2001, Bd. 6: 607). 13 Eine neuere Übersicht zu den dortigen Beständen geben Gaziński/Gut/Szukała (2004).
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Einleitung
I.6
Zur journalistischen Qualität
Diese Arbeit untersucht eine historische Zeitung anhand der Frage nach ihrer journalis tischen Qualität. Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Fachverbände und Redakteure wie Verleger selbst diskutieren seit langem über journalistische Qualitätskriterien (anders Wallisch 1995, der einen „weitgehenden Mangel“ [96] beklagt). Schon die älteste allgemeine Abhandlung zum Pressewesen stellte Forderungen zur journalistischen Qualität auf. Kaspar Stieler verlangte – in barocker Sprache, die hier terminologisch angepasst werden soll,14 aber inhaltlich weiter zutreffend – Universalität (alles, „was zu See- und Land heimlich oder öffentlich passiret“, Stieler 1969 [1695]: 29), Aktualität (29), Genauigkeit (30 f.), Wahrheit (32), angemessenen, verständlichen Stil (33, 36 f.), Korrekturbereitschaft (34), Abwechslung (35). Er betonte den Nachrichtenwert räumlicher Nähe und damit Relevanz (36) und die Notwendigkeit von Professionalität der Journalisten („unterdessen ist keine geringe Kunst Zeitungen zu schreiben“, 37). Auch forderte Stieler den Schutz der Privatsphäre (38). Redaktionelle Kommentare lehnte „Zeitungs Lust und Nutz“ ab, weil sie den Leser bevormunden und Stieler sie den Zeitungsmachern nicht zutraut (27; allerdings weist Adrians darauf hin, dass bereits die Nachrichtenauswahl Partei ergreift, 1999: 40; ähnlich argumentiert Traub gegen die Nachrichtenblätter und Generalanzeiger, 1928: 75). Nicht viel anders lesen sich heutige Definitionen des Journalismus. Er „recherchiert, selektiert und präsentiert Themen, die neu, faktisch und relevant sind“ (Meier 2007: 13). Was diesem Zweck dienlich ist, ist Ausweis von Qualität, dies soll die Heuristik des empirischen Teils dieser Arbeit darstellen. Publizistische Qualitätsdimensionen haben sich an der Aufgabe zu messen, Öffentlichkeit herzustellen; Journalisten sind sich dessen seit dreihundert Jahren bewusst (Pöttker 2011). Daher können heute wissenschaftlich beschriebene Qualitätsmaßstäbe auch an Zeitungen ab dem späten 19. Jahrhundert angelegt werden. Dies umso mehr, als durch den Geschichtsbruch 1933 – 1945 und den alliierten Neuaufbau des deutschen Journalismus (Lizenzzeit – zumindest massenmedial gab es eine „Stunde Null“, Koszyk 1986: 15) dessen frühere moderne Entwicklungen gerade um 1900 s päter in Vergessenheit gerieten (Birkner 2012). Daher schließe ich mich den vier Qualitätsdimensionen an, die sich trotz vieler Diskussionen über ihre einzelnen Kriterien durchgesetzt haben: Aktualität, Relevanz, Richtigkeit und Vermittlung (Rager 1994). Unabhängigkeit (Pöttker 2000: 385) wird man von einer Partei zeitung nicht verlangen können, zumindest darf aber Vielfalt der Standpunkte untersucht werden bzw. zutreffende Darstellung abweichender Ansichten. So bieten sich Qualitäts kriterien nicht nur für aktuelle Inhaltsanalysen an (Arnold 2008: 503 f.), sondern versprechen auch medienhistorischen Mehrwert. Sie sind allerdings unter anderen g esellschaftlichen 14 So verfährt auch Pompe 2004, die die Forderungen des Zeitungsdiskurses im späten 17. Jahrhundert so zusammenfasst: Selektion, Partizipation, Externalisierung, Wissensordnung, Speicherung, Präsenz und Aktualität.
Zur journalistischen Qualität
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Bedingungen entstanden, als sie Journalisten und Leser im Deutschen Reich vorfanden. Die damalige Presselandschaft war gespaltener als die der Bundesrepublik, die Partei- bzw. Gesinnungspresse zog schärfere Grenzen zwischen den sozialen Milieus. Die Trennungs linien bestanden z wischen Katholiken und Protestanten, Bürgern und Arbeitern, Großstadt und Provinz. Die Problematik der Parteipresse wurde schon von Zeitgenossen erkannt: Ebensowenig wäre aber auch eine ausschließlich in Händen der politischen Parteien liegende Presse dem ideellen Interesse förderlich. Denn einmal würde dann der Journalismus im Parteibeamtentum aufgehen und die Parteidoktrin eine überragende Position gewinnen, zum anderen wäre er insofern beeinträchtigt, als durch ihn die „zwischenparteilichen“ Anschauungen nicht mehr zum Ausdruck kommen könnten. (Baumert 1928: 87)
Die Forderung, die getrennten Handlungsräume miteinander bekanntzumachen, erfüllten die Zeitungen eher nicht, zu stark wirkte die eigene Agenda. Nicht die Teilhabe aller, sondern die Durchsetzung von Gruppeninteressen war das publizistische Ziel. Dabei wurde die klassische Aufgabe von Medien vernachlässigt: Die zentrale Aufgabe des Journalismus ist also die Komplexitätsüberbrückung, die Vermittlung zwischen den voneinander geschiedenen Lebenswirklichkeiten, die Übertragung des jeweils isolierten Erfahrungswissens in eine jedermann zugängliche, eben ,offene‘ Sphäre, um so für alle die Möglichkeit der Partizipation am gesellschaftlichen Ganzen zu sichern […] Und anders als aus systemtheoretisch-konstruktivistischer Sicht erscheint nicht Kontingenz als Schlüsselproblem der Moderne, sondern umgekehrt die durch die modernen Verhältnisse erzeugte Borniertheit der Handlungssubjekte, so daß nicht Komplexitätsreduktion als Schlüsselleistung des Journalismus vorausgesetzt wird, sondern die Überwölbung gesellschaftlicher (Über-)Komplexität. (Pöttker 2000: 377 f.)
Fulda (2009: 222) sieht für die Weimarer Zeit eine Dauerkrise des politischen Systems, die erst durch die (west-)alliierte Pressepolitik nach 1945 behoben wurde (skeptischer Koszyk 1986), „the tradition of partisan reporting in Germany contributed significantly to the polarization of Weimar society and the escalation of political conflict“ (Fulda 2009: 223). Der Stettiner „Volksbote“ griff die publizistische Konkurrenz (liberal, „unparteilich“, kommunistisch, nationalsozialistisch) an, mit guten Gründen kann man aber konstatieren, dass er dabei eine verständliche Darlegung der gegnerischen Positionen unterließ. Hier war die geschichtsphilosophische Überzeugung von der Naturnotwendigkeit der sozialistischen Entwicklung stärker als eine nach Universalität strebende Darstellung der Wirklichkeit. Dies galt an der Oder im Kaiserreich stärker als nach der Novemberrevolution. Zum einen rückte die Tagespolitik in den Vordergrund, nun, da die SPD an der Macht beteiligt war, zum anderen modernisierte sich die Zeitung, um einen größeren Leserkreis zu erreichen. Gerade um die Qualitätskriterien Richtigkeit und Vermittlung bemühte sich der „Volksbote“: Oft werden Behauptungen der Radikalen richtiggestellt, in der Hoffnung,
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Einleitung
durch Aufklärung die Extremen zu schwächen. Viele Artikel sind so verständlich geschrieben, dass sie auch dem heutigen Leser zugänglich bleiben. Die Relevanz erschließt sich historisch aus dem Eintreffen der im „Volksboten“ skizzierten Szenarien, insbesondere vor dem Ersten Weltkrieg und der NS-Herrschaft. Lassen sich Befunde aus der gegenwärtigen Diskussion zur Qualität im Journalismus auf historische Zeitungen anwenden? Arnold (2009: 43) hat die bundesrepublikanische Pressekonzentrationsforschung mit folgenden Leistungskriterien von Lokalzeitungen zusammengestellt. Das waren: • Autonomie als kritische, unabhängige Haltung gegenüber Politik, Interessengruppen, Anzeigenkunden; als Anteil an selbstrecherchiertem Material gegenüber PR-Material 15 • Sachlich-soziale und temporale Relevanz • Vielfalt bei Themen, Meinungen, Argumenten, Quellen • Hintergrundinformationen (Ursachen, Folgen, Interessenlagen, Betroffenheit) • Quantität der redaktionellen Inhalte • Layout-Merkmale (Übersichtlichkeit) • Offenlegung der Quellen • Kommunikationsmöglichkeiten für die Rezipienten Diese Kriterien könne auch auf den Stettiner „Volksboten“ übertragen werden. Da nur die Zeitungen selbst zur Verfügung stehen, müssen aus den gedruckten Inhalten Rückschlüsse gezogen werden. Besonders wichtig ist dabei das Verständnis von Journalismus, das in Kap. V.15 dieser Arbeit dargestellt wird. Es gibt allerdings keine überall gültige Definition von Qualität und ihrer empirischen Überprüfung: Qualität als Merkmal von Medieninhalten lässt sich also nur in Relation zu verwendeten Kriterien, zum Medium, zu Genre, Format, Zielpublikum und Bewertenden, zum Referenzsystem sowie durch Offenlegung und hinreichende Begründung der ihnen zugrundeliegenden Normen diskutieren. Innerhalb eines solch umfassenden Diskurses sind bestimmte Qualitätsdimensionen operationalisier- und überprüfbar, andere nicht. (Nitz 2015: 55)
Die in dieser Arbeit zusammengestellten Artikelausschnitte sollen belegen, dass es sich beim „Volksboten“ trotz schwerer Entstehungsbedingungen um eine Zeitung gehandelt hat, die zu den historischen regionalen Qualitätszeitungen gezählt werden kann. Dabei muss zwischen dem Titel im Kaiserreich und in der Weimarer Republik unterschieden werden. Aktualität, Relevanz, Richtigkeit und Vermittlung nehmen mit den Blattreformen in den 15 Hemels (2009: 594) fordert für die Zeit vor 1933 von der historisch-empirischen Journalismusforschung, sie solle danach fragen, „ob, in welchem Maße und aus welchen Gründen es in Deutschland bereits damals einen ausschließlich an der Öffentlichkeitsaufgabe orientierten und wegen dieser Orientierung auf seine Unabhängigkeit von der Politik und anderen Interes senfeldern bedachten Journalismus gegeben hat.“
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1920er Jahren zu. Der „Volksbote“ richtete sich nun weniger an eine interne Parteiöffentlichkeit, die vor dem Ersten Weltkrieg zumindest die Titelseiten bestimmte. Ein größeres Publikum wurde angesprochen, ohne grundsätzlich den Sozialismus in einer Demokratie als Ziel aufzugeben. Autonom konnte die SPD-Zeitung nicht sein, aber aktuell, relevant, richtig und vermittelnd wurde sie. Ihre Artikel sind immer noch lesbar und interessant. Dabei darf man nicht übersehen, in welchem Umfeld der „Volksbote“ erschien und welche anderen pommerschen Zeitungen dominant waren.
I.7
Methodische Überlegungen und Auswahl
Die Geschichte einer historischen Zeitung kann nicht ganz im Sinne von vollständig sein. Die Überlieferung der Exemplare ist selten lückenlos, und selbst dann scheint es unmöglich, in diesem Fall 49 Jahrgänge durchzulesen und so aufzubereiten, dass ein wissenschaftlicher Ertrag dabei herauskommt. Die Stadt, in der der „Volksbote“ erschien, ist zeitlich, baulich, ökonomisch, politisch und durch den Bevölkerungsaustausch eine andere geworden. Innerhalb des Erscheinungszeitraums wechselte das Deutsche Reich seine Verfassung: Vom Kaiserreich über die faktische Militärdiktatur im Ersten Weltkrieg hin zu einer Republik, die schließlich zerfiel. So hat sich auch die SPD-Zeitung verändert, die Nummern bis 1914 entziehen sich einer Gleichsetzung mit dem Blatt der 1920er Jahre. Wenn es in einer zeitgenössischen Dissertation über die sozialdemokratische Vorkriegspresse heißt: Tatsächlich fehlte den sozialdemokratischen Zeitungen die erforderliche moderne aktuelle Ausgestaltung, um überhaupt als Tagesblätter für den umfassenden Kreis sozialistischer Wähler in Frage zu kommen. (Dang 1928: 38)
So kam derselbe Autor zu einem anderen Urteil im Modernisierungsschub der Weimarer Zeit: Nach dem Kriege vollzog sich allerdings in der sozialdemokratischen Parteipresse ein deutlicher Umschwung zugunsten der rein pressetechnischen Erfordernisse des heutigen modernen Zeitungsbetriebs, was zusammenhängt mit der Abschwächung des Doktrinarismus. (Dang 1928: 42)
Auch liest der Heutige, zumal bei wissenschaftlichem Interesse, in einer anderen Zeit mit einem größeren Medienangebot. Seine Rezipientenrolle ist nicht die des Proletariers, der die Zeitung womöglich nur täglich überfliegen konnte, dem aber der Abgleich mit seiner sozialen Wirklichkeit zur Verfügung stand und der, zumindest im Lokalen, auch mündlich über das Geschehen informiert wurde. Ideengeschichtlich sind die Ausgaben des „Volksboten“ bis 1914 ergiebiger als danach, weshalb dieser Zeitraum für meine Arbeit intensiver gelesen und wiedergegeben wurde. Was damals Teilen der Partei für die Verbreitung als
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Einleitung
nachteilig erschien, ist heute eine Fundgrube. Auch wegen des steigenden Umfangs konnte ich danach nicht mehr alle Nummern durchsehen, sondern musste mich auf bestimmte Daten oder Teilfragen beschränken. Für die Presse wie für die Arbeiterschaft gilt, dass die „Hinwendung zur Lokalgeschichte“ „am besten durch kleinräumige Analysen“ verwirklicht wird (Grüttner 1984: 12). Entsprechend habe ich z wischen Th emen und Inhalten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik unterschieden. Die Jahrgänge bis 1914 habe ich durchgesehen, für die Weimarer Zeit beschränkte ich mich auf die Berichterstattung zu bestimmten historischen Ereignissen oder auf Stichproben. Für die Geschichte der pommerschen Sozialdemokratie ist die linke Abspaltung im Zuge der Novemberrevolution besonders wichtig, daher beschreibe ich auch die Stettiner USPD-Zeitung „Der Kämpfer“ umfangreich. Dies trägt auch zum Verständnis des „Volksboten“ bei. Was zur Relevanz der Pressegeschichte gesagt worden ist, kann am Beispiel historischer Zeitungen bis auf die Ebene einzelner Artikel gelten. Im Zusammenhang dieser Arbeit interessiert neben der Medienbiographie inhaltlich auch der Widerhall bis in die Gegenwart. Es kann nur erfasst werden, was sich dem Heutigen erschließt; aber abgeschlossen sind die Themen, deren Berichterstattung im „Volksboten“ dargestellt wird, nicht. Die Theorie der Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert wies auf ein ideelles Kontinuum hin, das forschungsleitend sei: Die Art aller empirischen Erfahrung und Forschung bestimmt sich nach den Gegebenheiten, auf die sie gerichtet ist; und sie kann sich nur auf solche richten, die ihr zu unmittelbarer Wahrnehmbarkeit gegenwärtig sind. Das Gegebene für die historische Erfahrung und Erforschung sind nicht die Vergangenheiten – sie sind eben vergangen, – sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene. Jeder Punkt in der Gegenwart ist ein gewordener. Was er war und wie er wurde, ist vergangen; aber seine Vergangenheit ist ideell in ihm. (Droysen 1858: 7)
Die historische Methode aus Heuristik (Entdeckung), Kritik und Interpretation will dabei Texte zum Sprechen bringen, unter einem Blickwinkel, der dies ermöglicht, „eine historische Frage muss also in eine Suchbewegung münden, die sich auf das Material richtet, in dem die Vergangenheit gegenwärtig ist“ (Rüsen 2013: 175). Der Forschende ist dabei zum Beachten selbstgesetzter Grenzen verpflichtet, nicht nur aus Gründen der Kapazität, auch aus Gründen der Darstellbarkeit: Eine umfassende Einsicht in alle Verknüpfungen ist unmöglich (und auch gar nicht wünschenswert). Die Interpretation filtert nur diejenigen Zusammenhänge heraus, die für die Beantwortung der gestellten historischen Frage wichtig sind. (Rüsen 2013: 185)
Der Aufbau ist daher weniger streng, als es oft bei Detailuntersuchungen der Fall ist, die isoliert nur ein Item und eine empirisch beschränkte Zahl von Untersuchungseinheiten haben. Historisches Arbeiten ist ein Voranschreiten an Lektüre, das prinzipiell offen bleibt:
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Historisches Denken stellt in seiner wissenschaftsspezifischen Verfassung (also als Forschungsprozess) eine kognitive Prozedur dar, die mit einer Frage beginnt. Es richtet diese Frage an die empirischen Befunde, in denen die Vergangenheit gegenwärtig ist, gewinnt aus diesen Befunden Informationen darüber, was, wo, wie und warum in der Vergangenheit der Fall war. Dann fügt es diese Informationen zu einem Geschehenszusammenhang zusammen, der die einzelnen Geschehnisse in ihrer Zeitfolge erklärt. Diese Prozedur hat ein offenes Ende; sie vollendet sich erst im Anschluss an die Forschung in der narrativen Repräsentation d ieses Zeitzusammenhangs. (Rüsen 2013: 171)
Für kommunikationsgeschichtliche Untersuchungen schlägt Schönhagen (1999: 319) die Frage nach der „journalistischen Leistung im Laufe der Zeit“ vor. Das ist für eine Zeitungsmonographie ein brauchbarer Ansatz. Er hat auch seinerzeit bei der Produktion des Stettiner „Volksboten“ eine große Rolle gespielt. Sowohl die Reichs- als auch die pommersche SPD diskutierten intensiv über die Gestaltung der Parteizeitungen, deren Verbesserungsmöglichkeiten und ideologische Anforderungen und die Erreichbarkeit des Publikums, um das mit den bürgerlichen Titeln konkurriert wurde. Diese Arbeit enthält viele Auszüge aus Artikeln aus dem „Volksboten“, die seine Argumentation darlegen. So erhalten Leserinnen und Leser einen direkten Zugang zur Berichterstattung, ergänzt um Bemerkungen zum Kontext. Es wurden Items gewählt, zu denen es mehrere Artikel oder eine fortlaufende Berichterstattung über einen längeren Zeitraum gab. Ich habe mich bemüht, die Kernaussagen zu erfassen, darum wurde gekürzt. Haben sich Argumentationen wiederholt, wurde auf diese Wiederholungen verzichtet. Um das Verständnis zu erleichtern, stellt meine Arbeit zunächst die historische Entwicklung in Pommern und Stettin vor (mit Bemerkungen zur Presselandschaft). Dabei wird auch die sozialdemokratische Parteigeschichte dargelegt, sowohl im Reich als auch in der Provinz. Ebenso wird der „Volksbote“ im Überblick skizziert, verbunden mit einigen Kurzbiographien seiner Mitarbeiter und mit Angaben zu weiteren SPD-Zeitungen Pommerns, soweit diese Informationen verfügbar waren. Die Ausgaben bis 1914 habe ich ganz durchgesehen, danach nur punktuell, weil der Seitenumfang enorm zunahm. Die Entscheidung für genau diese Th emen und Inhalte begründe ich so: Das Deutsche Reich nach den Wahlen von 1912 (V.1.) Aus den Reichstagswahlen 1912 ging die SPD als Siegerin hervor. Im „Volksboten“ erschienen vermehrt Artikel, die sich grundsätzlich mit der innen- und außenpolitischen Lage (Parteien landschaft, Verfassung, Kolonialpolitik) auseinandersetzten. Der Weg in den Sozialismus schien zum Greifen nahe. Preußen (V.2.). Preußen als größter und bestimmender Gliedstaat des Reiches hinkte d iesem politisch hinterher. Der „Volksbote“ griff vor allem das Dreiklassenwahlrecht und die starke Stellung des Adels an. Die konservative Prägung Deutschlands durch ostelbischen Einfluss wurde heftig kritisiert.
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Polen (V.3.) Das Verhältnis von Deutschen und Polen in den Ostprovinzen war vergiftet. Anhand der restriktiven Minderheitenpolitik machte der „Volksbote“ die amtliche Unterdrückungspolitik deutlich. Die deutsch-polnischen Beziehungen der Folgezeit bis in die Gegenwart haben hier ihren Ursprung. Die Partei zwischen Dresdner Parteitag (1903) und Kriegsausbruch (V.4.) Die deutsche Sozialdemokratie geriet bei äußerer Stärke im Inneren seit der Jahrhundertwende in inhaltliche Spannungen. Gerungen wurde um die sozialistische Zukunft, die die Linke durch politische Massenstreiks erreichen wollte, während andere sich mit Reformen begnügen wollten (Revisionismus). Geschichte und Erinnerung: 1848 und 1813 (V.5.) Der Versuch einer obrigkeitskritischen Gegenkultur umfasste auch das Geschichtsbild. Die Gedenkartikel zur gescheiterten Märzrevolution und zu den antinapoleonischen Befreiungskriegen vermitteln eine Erzählung „von unten“, die der herrschenden Borussophilie entgegengesetzt wurden. Eulenburgaffäre 1907 – 1909 (V.6.) Die SPD setzte sich für die Aufhebung der strafrechtlichen Verfolgung Homosexueller ein. Die Affäre um homosexuelle Kreise in der Nähe des Kaisers nutzte sie für Kritik an Wilhelm II. Das Thema Homosexualität ist zeitgeschichtlich bis in die Gegenwart in der Diskussion. Antisemitismus (V.7.) Parallel zur Judenemanzipation entwickelte sich der moderne Antisemitismus, der zunehmend rassistisch-biologistisch wurde. Der „Volksbote“ griff die auch in Stettin auftretenden Antisemiten scharf an, der eigenen Partei erschien die Berichterstattung teilweise zu umfangreich. Der Kampf gegen den Alkoholismus (V.8.) Alkoholmissbrauch ist bis heute ein gesellschaftliches Problem. Der „Volksbote“ bekämpfte den Exzess, doch sprach sich für mäßigen geselligen Konsum aus. Die Abstinenzlerbewegung lehnte er ab, weil sie die sozialen und ökonomischen Gründe für den Alkoholismus ignorierte. Religion, Kirche und Atheismus (V.9.) Um das Verhältnis von Staat und K irche wird bis heute gerungen. Das Christentum, so der „Volksbote“, habe sich von seinen revolutionären Wurzeln entfernt. Der „Bund von Thron und Altar“ diene nur der Machterhaltung des monarchischen Staates und der Bekämpfung der Arbeiterklasse.
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Frauen (V.10.) Die Geschlechterverhältnisse spielen bis in die Gegenwart eine Rolle, auch unter ökonomischen Gesichtspunkten. Für diese Arbeit wurden die Artikel herangezogen, die die Stellung der Frau in der kapitalistischen und künftigen sozialistischen Gesellschaft erörtern. Landarbeiter (V.11.) Auf dem Land hatte es die Arbeiterbewegung schwer. Viele Sitzungen und Artikel setzten sich mit der Frage auseinander, wie das Landproletariat klassenbewusst erzogen werden könnte. Hier werden die theoretischen Lücken der Partei deutlich, die überwiegend städtisch orientiert war. Gegen Imperialismus und Kriegsgefahr (V.12.) Die Diskussion über Kriegsursachen und -schuld 1914 ist bis heute nicht erloschen. Die Artikel des „Volksboten“ belegen, dass eine kritische, wenn auch nicht meinungsbeherrschende Öffentlichkeit sich der Risiken besonders des Wettrüstens und der unfähigen Diplomatie bewusst war. Kriegsberichterstattung (V.13.) Diese wurde nur kursorisch verfolgt, denn die Presse stand unter Militärzensur. Den „Volksboten“ trafen inhaltliche Eingriffe hart. Nachgegangen wird der Reflexion der Kriegsziele und des „Burgfriedens“. Nach Kriegsende wurde klar, „wie wir belogen wurden“ (Mühsam 1918). Feuilleton (V.14.) Die sozialdemokratische Presse hat ein eigenes Feuilleton entwickelt, das sich von der bürgerlichen Presse abheben wollte. Belegen lässt sich der qualitative Unterschied anhand von Zeitungsgedichten, der Auswahl von Fortsetzungsromanen und der Literaturkritik. Öffentlichkeit und journalistisches Selbstverständnis (V.15.) Seit dem Medienumbruch seit etwa dem Jahre 2000 sehen sich Journalisten und Kommunikationswissenschaft stärker in der Pflicht, redaktionelle Entscheidungen zu begründen. Hat Journalismus auch eine erzieherische Funktion? Dieser Abschnitt stellt die Überlegungen des „Volksboten“ dazu vor. Novemberrevolution (VI.1.) 2018 jährte sich die Novemberrevolution zum 100. Mal. Bis heute ist politisch umstritten, ob es sich um eine verpasste Chance oder um einen Erfolg gehandelt hat, den erst die weitere Entwicklung verdunkelte. Die Artikel des „Volksboten“ geben die zeitgenössische Perspektive wieder.
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Versailler Vertrag (VI.2.) Die Friedensbedingungen 1919 wurden zu einer schweren Belastung für die junge Republik. Die Texte des „Volksboten“ setzen sich mit den Kriegsfolgen auseinander, benennen die Verantwortlichen von 1914 und weisen die Dolchstoßlegende zurück. Kapp-Putsch (VI.3.) Auch hier wurden die Artikel ereignisbezogen gewählt, es ging um die erste fundamentale Bedrohung der Weimarer Republik durch die Reaktion. (Ausführlich zu Pommern Schaubs 2008.) Das Krisenjahr 1923 (VI.4.) Die Weimarer Republik war 1923 besonders krisenhaft. Die Hyperinflation schrumpfte die Vermögen, die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen erschütterte das Wirtschaftsleben, Nationalsozialisten und Kommunisten kämpften gegen den demokratischen Staat. Reichspräsidentenwahl 1925 (VI.5.) Nach dem Tod des ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert standen die deutschen Wählerinnen und Wähler vor einer Richtungsentscheidung. Die Wahlkampfartikel des „Volksboten“ machten die Defizite des gewählten Hindenburg und die Rolle der Kommunisten deutlich. Gegen Hitler (VI.6.) Die Frage, warum die Herrschaft der NSDAP möglich wurde und ob sich die Deutschen der Gefahr einer Hitlerdiktatur bewusst waren, wird fachlich und öffentlich bis heute diskutiert. Darum wird hier auch die bürgerliche, vermeintlich „unpolitische“ Konkurrenz zum Vergleich herangezogen. Lokales und Provinz (VI.7.) Zur Professionalisierungsgeschichte des deutschen Journalismus gehört der Ausbau des Lokal- und Regionalteils. Hier hat sich der „Volksbote“ erheblich ausgedehnt und modernisiert, was ausgezählte Beispiele belegen. Karikaturen (VI.8.) Karikaturen sind ein Mittel des politischen Kampfes. Im Zusammenhang dieser Arbeit dienen sie der Illustration, eine intensive Kategorisierung nach Themen und Gegnern erfolgt nicht. Anzeigen (VI.9.) Das Problem, inwieweit Anzeigenerlöse zum Betriebsergebnis beitragen, ist in der aktuellen Printmedienkrise wieder virulent. Die pommersche SPD hat über das Anzeigenwesen diskutiert, das zwar zunahm, insbesondere den „General-Anzeiger“ aber nicht einholen konnte.
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Vergleich des „Volksboten“ mit „General-Anzeiger“ und „Stettiner Abendpost“, Mai 1929 (VI.10.) Die Auszählung von Umfang und Ressorts einer Woche von drei Stettiner Zeitungen aus dem Zeitraum relativer Stabilität der Weimarer Republik macht die journalistische Leistung des „Volksboten“ deutlich. Hier zeigte sich der Modernisierungsschub der Presselandschaft. Diese Themenfelder im Spiegel des „Volksboten“ machen die Vielfalt seiner Inhalte deutlich. Es wird sich zeigen, dass die Zeitung differenziert argumentiert hat. Spätere Erweiterungen sind denkbar. Insbesondere, wenn eines Tages eine Volltextrecherche über alle Jahrgänge möglich sein würde, eventuell sogar im Vergleich mit den anderen Stettiner Printmedien. Dann könnten Daten aus der Ereignisgeschichte mögliche Themenfelder bilden (z. B. die Wahlkämpfe, politische Krisen, oder man könnte nach Namen und ihrem Wandel in der Bewertung der Berichterstattung suchen, etwa „Bismarck“). Diese Arbeit untersucht die Inhalte. Eine Leserschaftsforschung kann wegen des zeitlichen Abstands nicht unternommen werden. Die ausgewählten Themen waren seinerzeit von hoher Brisanz und sind es zumindest in der fachlichen Diskussion heute noch. Für die Weimarer Zeit ist es möglich, dass lange nach den tagesaktuellen Ereignissen noch Artikel erschienen, die ich dann nicht mehr berücksichtigen konnte. Es wäre unmöglich, den ganzen Inhalt des Stettiner „Volksboten“ mit den bisher zugänglichen Mitteln zu erfassen und zu untersuchen. Dennoch wird das Spektrum dieser Zeitung deutlicher als bisher.
I.7.1
Zweck und Grenze regionaler und lokaler Mediengeschichte
Die Frage, warum Kommunikationsgeschichte betrieben werden muss, fand unterschiedliche Antworten. Eine bestand darin, die Transformationen der westlichen Gesellschaften zu beschreiben: „Publizistische Historiographie bedarf keiner besonderen wissenschaftlichen Begründung. Ziel der Kommunikationsgeschichtsschreibung ist immer eine Th eorie des publi zistischen Wandels“ (Lerg 1987: 78). Dieser Wandel vollzog sich während der Lebensdauer des Stettiner „Volksboten“ besonders radikal. Er erschien von der späten Bismarckzeit über Imperialismus und E rsten Weltkrieg bis in die revolutionäre Phase und die sich anschließende Weimarer Republik, er durchlitt noch die ersten Tage der Hitlerdiktatur. „Historische Forschung dechiffriert aus einem vergangenen Kontext etwas, das in den heute geltenden Kontext übersetzt werden muß“, meinte Pross (1987: 8), doch ist der genannte Zeitabschnitt in vielem noch so präsent, in seiner Erforschung wie in seinen Nachwirkungen, dass eine so große Fremdheit nicht besteht. Wobei eine Zeitungsbiographie auch immer über sich selbst hinausweisen sollte, denn „einziger Maßstab für die Beurteilung von Forschungsergebnissen kann dabei nur sein, in welchem Maße sie dazu beitragen, das Verständnis für die tatsäch lichen historischen Gegebenheiten eines politischen Systems zu erweitern“ (Koszyk 1977: 32). Gerade die deutsche Geschichte wirft die Frage auf, „ob und wie Menschen einander früher in einer bestimmten Situation wirklich verstanden haben oder warum es zu fehlgeleiteter Kommunikation mit oft schrecklichen Folgen kommen konnte“ (Hemels 2009: 369). Diese schrecklichen Folgen bleiben in modernen Gesellschaften ohne Massenmedien unverständlich:
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Ein Geschichtsbegriff, der Geschichte als bloße Ereignisgeschichte versteht oder ihren Gegenstand auf eine simple Diplomatiegeschichte beschränkt, wird nicht imstande sein, mobile, vernetzte, durch Kommunikationsbeziehungen geprägte industrielle Gesellschaft einsichtig zu machen und die permanenten Veränderungen, die unter anderem – wenn auch nicht ausschließlich – durch Innovationen in der Qualität der Kommunikationsmöglichkeiten zustande gekommen sind, in den Griff zu bekommen. (Malina 1992: 11)
Es hat seine Berechtigung, wenn Duchkowitsch (1987: 24) das Vergangene in Anführungszeichen setzt, indem er eine andauernde Bedeutung feststellt, deren Erforschung Bestand haben kann: Geschichte ist nämlich entgegen den Vorstellungen mancher Soziologen kein totes Gebilde, kein starrer Nachvollzug „vergangener“ Systeme, Wertvorstellungen etc. ebensowenig wie statische Konstruktion oder gar unkritische Abbildung oberflächenhafter Erscheinungen. Bedeutsam sind ihr vielmehr wissenschaftliche Ergebnisse oder Thesen mit tendenziell überzeitlichem Charakter in bezug auf menschliche Entwicklung.
Der „Volksbote“ stand ideengeschichtlich auf marxistischer Grundlage. Sein publizistisches Ziel war nicht nur die Information des Lesers (seltener der Leserin) über das Weltgeschehen. Als SPD-Zeitung kämpfte er vor allem für den Sozialismus und gegen dessen Feinde. Man kann also bei seiner Lektüre nicht die zugrundeliegende Geschichtsphilosophie ausblenden.16 Zwar sahen schon vereinzelt Zeitgenossen die „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ (Lessing 1919), aber die Position, dass Geschichte eben nicht auf ein Ziel zusteuert, wie es in säkularisierter Nachfolge der jüdisch-christlichen Eschatologie 17 Hegel (1986 [1840]), Marx, Kojève (2000 [1947]) und Fukuyama (1992) annahmen, ist unbequem, denn: Wenn man sich die Gerichtetheit der Geschichte nicht offenhält oder nicht z wischen verschiedenen Perspektiven springt, sie fragmentarisch zusammensetzt oder irgendwie vermittelt (sofern etwas davon überhaupt möglich ist), dann ist die Position der Ungerichtetheit übrigens nicht einfach die „wenig anspruchsvolle“ Formulierung gegenüber einem Bezug auf Fortschritt, Aufklärung, Modernisierung […]. Sondern auch dies ist eben eine deutliche Stellungnahme für eine Seite – man entkommt dann der geschichtsphilosophischen 16 Grundsätzlich gibt es keine „unparteiischen“ Zeitungen, auch wenn sie sich so genannt haben: „Es gibt keine Nachricht, die nicht Menschen für Menschen formulieren, keine, die nicht Menschen von Menschen akzeptieren müßten. Anzeigen sind Aufforderungen, Nachrichten Anreden. Der Journalist fügt dem Impuls des Ereignisses den Impuls des Erzählers, das Publi kum dem Impuls der Erzählung den Impuls des Lesers hinzu. Aber die Objektivität, die die Zeitung zum reinen Nachrichtenblatt macht, gibt es nicht. In der Gesellschaft ist selbst der objektivste Mensch Partei; er hat einen Standpunkt und selten einen unsicheren.“ (Engelsing 1966: 22). 17 Beispiele sind Daniel 12 im Alten und Markus 13 im Neuen Testament.
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Positionierung nicht, bzw. entkommt nicht der Frage, was einen an Geschichte interessiert, wenn nicht ihre Richtung oder die Art ihres Voranschreitens, und sei es nur in einem speziellen Bereich wie dem der Medien. (Krämer/Müller 2013: 60)
Eine prinzipielle Offenheit schließt nicht aus, dass der Forscher wertet: Als empirische Disziplin ist die Kommunikationsgeschichte ergebnisoffen. Selbstredend arbeitet sie nicht werturteilsfrei, individuelle Prägungen des Forschers prägen nolens volens auch seine Interpretation der Ergebnisse, aber das ist in anderen empirischen Teildisziplinen nicht anders. (Stöber 2016: 316)
Wenn man es für möglich hält, aus der Geschichte Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen, kann das Beispiel der Massenkommunikation 18 im Deutschen Reich nützlich sein, denn in der heutigen Medienentwicklung lassen sich Parallelen finden (Stichworte „Filterblase“, „Echokammer“ und rauer werdender Umgangston insbesondere von Internetmedien oder deren Leserkommentierungen). So ähnlich gab es das schon einmal, mit fatalem Ausgang: Mit heftiger Polemik untereinander, mit einer selektiven und manipulativen Nachrichtenpolitik sowie im Fall politisch radikaler Blätter auch mit bewussten Lügen und entschlossener Agitation förderten die Journalisten die Fraktionierung der deutschen Gesellschaft in einander fremd gegenüber stehende Lager. Von zentraler Bedeutung war hierbei der Verzicht selbst seriöser bürgerlicher Zeitungen auf eine nüchterne Übermittlung von Nachrichten, die mit der jeweiligen „Tendenz“ des Blattes kollidierten. Die auch in diesen Redaktionen herrschende Praxis, Nachrichten vor allem als Material für die „politische Führung“ der Leser zu benutzen, markierte die Kultur der Manipulation in der Zunft der Journalisten als Kriterium für wahre Könnerschaft und lud zur Nachahmung ein. Damit trug die aktuelle Presse entscheidend zur Eskalation der politischen Konflikte bei, die das öffentliche Klima in Deutschland in den Jahren nach 1929 mehr und mehr vergiftete. (Führer 2008: 46)
Die Bedeutung eines regionalen Zugangs zur Pressegeschichte erkannte schon der pommersche Lehrer und Historiker Martin Wehrmann. Alte Zeitungen seien ein Zugang zur vergangenen Gedankenwelt: Denn wollen wir wirklich ein Bild von dem Leben und Treiben unserer Vorfahren gewinnen, so werden wir immer auf die Zeitungen zurückgehen müssen, die, wenn auch in älterer Zeit sehr dürftig, doch durch manche Notizen und Anzeigen uns darüber belehren, wie unsere Altvorderen dachten und lebten. (Wehrmann 1891: 50 f.) 18 Hobsbawm (1995: 10) sieht den Historiker des 20. Jahrhunderts als abhängig auch von der Tagespresse.
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Programmatisch beschrieb der Historiker Ernst Bernheim (Universität Greifswald) die Aufgabe der Landesgeschichte als „Erforschung und Darstellung der heimischen Zustände im Zusammenhang mit den allgemeinen Zuständen, also pommersche Kulturgeschichte im weitesten Sinne des Wortes“ (Bernheim 1900: 25), denn „wissenswerte Zustände hat es stets überall gegeben“ (Bernheim 1900: 21). Entscheidend sei also die Einbettung in den Kontext, der über die Provinzgrenzen hinausreicht. Dem Pressehistoriker Holger Böning zufolge ermöglicht erst der regionale Zugang zur Kommunikationsgeschichte, die „Träger und treibenden Kräfte“ von Entwicklungen und Veränderungen zu benennen (Böning 2012: 143). Auch Kurt Koszyk, der Verfasser von drei Bänden der „Deutschen Presse geschichte“, verband mit regionalen Untersuchungen Hoffnung auf Erkenntnisgewinn (die deutsche Presselandschaft war nie zentralisiert): Impulse erwarte ich mir nicht zuletzt von regional orientierten Forschungen, die ernst mit der Tatsache machen, daß den Wirklichkeiten im Gebiet der deutschsprachigen Publizistik nur mit differenzierten Erhebungen beizukommen ist. (Koszyk 1987)
Die pommersche Arbeiterbewegung ist im sozialistischen Polen ein Forschungsschwerpunkt gewesen, auch in Zusammenarbeit mit DDR -Historikern (Stępiński 1998: 108 sieht sogar eine „Vernachlässigung des Gesamtbildes der politischen Geschichte“). In der Bundesrepublik blieb die pommersche Linke in der Wissenschaft eher randständig. So enthalten die „Stettiner Lebensbilder“ (Wendt 2004), eine Biographiensammlung, keine Vertreter der Arbeiterparteien. Stettins politische und wirtschaftliche Bedeutung für die Provinz war so groß, dass pommersche Pressegeschichte zugleich Stadtgeschichte ist. Die Sozialdemokratie war eine städtische Bewegung, je industrieller das Umfeld, desto erfolgreicher wurde sie. Sie hat sich in Pommern nicht gegen Liberale und Konservative durchsetzen können, doch ist es das „traurige Geschäft der ,Wissenschaft‘“, auch der Geschichte „Stiefkinder zu verteidigen“ (Lessing 1919: 275). Der katastrophale Verlauf der Geschichte ab 1933 und der Verlust Stettins mögen die Beschäftigung mit einer abgeschlossenen (deutschen) Ortsvergangenheit randständig erscheinen lassen. Dieses Ergebnis war aber nicht zwangsläufig, „auch ist jene Geschichtsphilosophie noch nicht allgemein gültig, die unter allen Umständen dem Gewordenen recht gibt“ (der Theologe Harnack [1924: 216 f.] anhand einer untergegangenen Strömung des Christentums). Zudem sind die Fragen, die der „Volksbote“ stellte, bis heute aktuell, was die Gestaltung und Verteilung von Kapital und Arbeit sowie die demokratische Gesellschaft betrifft. Kommunikationsgeschichtliche Untersuchungen stoßen (wie andere Wissenschaft auch) an Grenzen. So stellt sich etwa die Frage der Materialsichtung. Sie wird vom Zeitbudget des Forschers limitiert, mehr aber vom Corpus, das einerseits Lücken aufweisen, andererseits kaum ganz gelesen werden kann:
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Einerseits sind Medien (insbesondere älteren Datums) oft nicht vollständig erhalten, und die (ursprüngliche) Grundgesamtheit ist unbekannt. Andererseits liegt mediales Quellenmaterial (gerade aus der jüngsten Vergangenheit) in schier unbegrenzter Menge vor, was den Forscher zur Auswahl zwingt und vor das Problem stellt, dass auch hier die Grundgesamtheit bei weitem nicht immer bekannt oder nur schwer bestimmbar ist. In beiden Fällen kann schwerlich mit echten Zufallsstichproben gearbeitet werden, was die Repräsentativität der Ergebnisse beeinträchtigen kann. (Magin/Oggolder 2016: 322)
Durchsuchbare Digitalisierungen historischer Zeitungen, die in den vergangenen Jahren vorgenommen wurden, versprechen Abhilfe, bergen aber ebenfalls Probleme, weil man nur findet, was man sucht: Man kann nicht beides haben: schnelles Auffinden von möglicherweise interessanten Informationen und zugleich die Einbettung dieser Informationen, die für das historische Verständnis unerlässlich ist. (Stöber 2014b: 150)
Hinzu kommt, dass Zeitungen in einem Kommunikationszusammenhang entstanden sind, dessen Bedingungen nicht zur Gänze rekonstruiert werden können. Im Idealfall müssten für eine Großstadt wie Stettin alle im Untersuchungszeitraum erschienenen Zeitungen ausgewertet werden, ebenso (für das Verständnis des „Volksboten“) die übrigen sozialdemokratischen Zeitungen im Reich und die Berliner Titel, deren Rezeption wegen der räumlichen Nähe und der wirtschaftlichen Verflechtung an der Oder eine große Rolle spielte. Damit wäre nur die Presse abgedeckt, lokale Öffentlichkeit hatte noch andere Formen und Übermittlungswege, die nicht wiederherstellbar sind: Doch auch auf seinem ureigenen Feld muß der Kommunikationshistoriker viele Flächen brach liegen lassen. Wie soll ohne Kenntnis der Plakatsäulen, des Ablaufs von Versammlungen, der Themen, die an den Stammtischen diskutiert wurden, geklärt werden, wie eine Zeitung an der Herstellung lokaler Öffentlichkeit beteiligt war? (Meyen 1996: 20)
Daher muss man sehr vorsichtig sein, von Zeitungen auf gesellschaftliche Wirklichkeit zu schließen, zumal, wenn aus politischen bzw. parteitaktischen Gründen nicht alles gedruckt wurde, was vielleicht ohne den wilhelminischen Obrigkeitsstaat und später die gespaltene Arbeiterbewegung in einem vergifteten publizistischen Klima in der Weimarer Republik erschienen wäre. Auch ist Gebhardts Forderung (1987: 18), dass „Rezeption und Publikum bestimmende Elemente des Interesses an der Pressegeschichte sind“, nach so langer Zeit nur schwer zu erfüllen. Hier sind nur indirekte Rückschlüsse möglich, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben können, denn:
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Eine Untersuchung von historischen Medieninhalten ist immer eine Untersuchung von historischen Medienrealitäten, die nur eingeschränkt herangezogen werden können, um außermediale Realitäten zu rekonstruieren. (Magin/Oggolder 2016: 322)
Eine weitere Begrenzung entsteht durch die Fragestellung, die notwendig ausschließt, was ihr nicht dient. Im Zusammenhang dieser Arbeit wird versucht, ein möglichst breites Spektrum an Themen und Ereignissen abzudecken, dies ist aber zugleich eine Entscheidung gegen andere, möglicherweise ebenfalls aufschlussreiche Gebiete. Jede Zusammenfassung konstruiert einen Sinnzusammenhang, der sich dem damaligen Leser (der Leserin) anders erschlossen haben dürfte: „Da das Gesetz der Darstellung den Inhalt modelt, so bildet der Geschichtsschreiber die Wirklichkeit“ (Lessing 1919: 266). Wichtig für eine Zeitungsmonographie ist außerdem, dass sie sich darum bemüht, ihren Blick zu weiten, um zu vermeiden, nur isolierte Erkenntnisse zu gewinnen: Welchen Weg kann eine Kommunikationsgeschichtsschreibung gehen, wenn sie sich einmal entschlossen hat, nicht mehr medienmonographisch zu fragen? Die bisherigen presse-, filmund rundfunkgeschichtlichen Forschungen geben dazu nur wenig Anhaltspunkte, weil es eben durchweg punktuelle Darstellungen sind, die in den meisten Fällen nicht einmal den Versuch zur Verallgemeinerung und Einordnung der Befunde erkennen lassen. (Lerg 1977: 15 f.)
Auch die Entstehung der Zeitungsnummern ist eine black box. Hier spielten die Redakteure und ihre Einbettung in Stadt und Partei eine Rolle, die nur punktuell nachvollzogen werden kann (z. B. durch Versammlungsberichte, die ihrerseits aber auch schon Zusammenfassungen waren). Die nach 1900 entstandenen sozialdemokratischen Korrespondenzen sind in ihrer Ursprungsform nicht erhalten. Zeitungsartikel erschienen meist anonym, ein Redaktionsarchiv ist nicht erhalten. Dass viele Zeitungen auf dieselben Quellen zurückgegriffen haben (wie heute auch), wurde schon von Zeitgenossen kritisiert, innerhalb der Sozialdemokratie ebenso wie in der entstehenden Zeitungswissenschaft der 1920er Jahre. Kriterien der Nachrichtenauswahl und -bearbeitung wurden als wesentliche journalistische Tätigkeiten eingeschätzt: Heute stellt jede Nummer einer Zeitung ein Kollektiverzeugnis dar, an dem Menschen verschiedenster Herkunft und verschiedenster Gesinnung mitarbeiten, Menschen, die sich gegenseitig gar nicht kennen. Die Einbeziehung des Telegraphs in das Instrumentarium der Nachrichtenvermittlung hat mit der Zeit zur Begründung der jetzt die ganze Erde umspannenden Agenturen geführt, auf deren Neuigkeitenlieferung mittelbar oder unmittelbar die Zeitungen angewiesen sind. Die dadurch bedingte Einförmigkeit des Nachrichtenteiles einer modernen Zeitung erfordert um so mehr Kunst, um d ieses Einerlei von Berichten den besonderen Zwecken der Meinungsbeeinflussung des Blattes untertänig zu machen. (Bauer 1928: 160)
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Schließlich bleibt die ethische Frage offen, ob diese Arbeit den historischen Akteuren gerecht wird. Die Stettiner Sozialdemokraten haben einen schweren Kampf gegen viele Widerstände gefochten, und sie haben durchgängig einen hohen Preis dafür zahlen müssen. Sie haben an eine sozialistische Zukunft und die Befreiung des Menschen geglaubt, eine Überzeugung, die heute weitgehend marginal geworden ist, aber doch Achtung für die erbrachten Opfer einfordert. Dass die Parteipresse nur ein „Durchgangsstadium“ war (Stöber 2013a: 149), ist die Perspektive der Gegenwart – die sich aber dem Zustand einer fragmentierten Öffentlichkeit wieder zu nähern scheint.
I.7.2
Qualitative Verfahren
„Das Handeln, auf das sich die Rekonstruktionen beziehen, ist, wenn jene beginnen, längst vorüber“, weshalb zum Verstehen auch Klarheit über Voraussetzungen und Methoden gehören (Soeffner 2008: 167). Häufige Methode bei qualitativen Untersuchungen ist die qualitative Inhaltsanalyse, für die das Corpus nicht zu groß sein darf (sonst empfiehlt sich eine quantitative Auswertung, Wegener 2005: 203). „Eine Inhaltsanalyse dient zunächst einmal der Deskription von Texten“, ebenso aber dem Rückschluss auf den Kontext (Wegener 2005: 204 f ). Die Schlussfolgerungen auf den Kommunikator können das journalistische Subjekt, die Institution oder die Medienstrukturen betreffen; die Schlussfolgerungen auf den Rezipienten bewertet Wegener als „riskantes Vorhaben“ (Wegener 2005: 206). Bei Medienaussagen gehören deren Entstehungsbedingungen zum Kontext, der mit zu berücksichtigen ist. Dies sind nach Bonfadelli (2002: 49 f.): Subjektsphäre (persönliche Werthaltungen, politische Einstellungen, Berufsrollenverständnis, Alter, Geschlecht, soziale Herkunft), Professionssphäre (Rollenerwartungen und Sanktionen in der Redaktion, Nachrichtenfaktoren), Organisations-/Institutionssphäre (Produktionsroutinen, ökonomische Ressourcen, Druck von Interessengruppen), Gesellschaftssphäre (medienpolitische Rahmenbedingungen, politische Kultur). Festzustellen sind beispielsweise ein möglicher Nachrichten-Bias, also eine Berichterstattung mit einer impliziten oder expliziten Bewertung (Bonfadelli 2002: 50), bzw. Framing, also der Berichterstattung aus einer bestimmten Perspektive (Bonfadelli 2002: 51). Qualitative und quantitative Forschungsergebnisse können übereinstimmen, einander ergänzen oder widersprechen (Kelle/Erzberger 2008: 304). Prokop (1977) stellt „einen Katalog von relevanten Fragen zur Analyse massenkultureller Produkte“ auf. Aus der Kritischen Th eorie kommend, geht es ihm dabei um bürgerliche Medienerzeugnisse. Er fragt u. a. nach Stereotypen und Standardisierungen, strukturellen Bezügen, Brüchen zum Alltag, Betonung von Ordnung, Dissonanzen und Ambivalenzen, Wohlfühlelementen, artikulierten Wünschen und Utopien (Prokop 1977: 24 – 27 – manche dieser Aspekte wurden vom „Volksboten“ an der bürgerlichen Konkurrenz kritisiert). Für sozialdemokratische Titel eher aufschlussreich ist die Berichterstattung im Verhältnis zur Gesamtpartei und innerhalb der zunehmenden Professionalisierung und Modernisierung, die mit dem aufkommenden Nationalsozialismus abbrach. Für Prokop ist es „notwendig,
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Einleitung
auch in einer wissenschaftlichen Produktanalyse nicht von vorgefertigten Kategorien auszugehen, sondern das Produkt ,an sich herankommen zu lassen‘“ (Prokop 1981: 15). Nach Mayring sind die Techniken qualitativer Inhaltsanalyse intersubjektiv überprüfbar, „gleichzeitig aber der Komplexität, der Bedeutungsfülle, der ,Interpretationsbedürftigkeit‘ sprachlichen Materials angemessen“ (Mayring 2015: 10). Sie darf den Einzelfall nicht so betonen, dass sie impressionistisch wird (Mayring 2015: 29). Sie eignet sich für explorative, hypothesengenerierende Untersuchungen (Fürst/Jecker/Schönhagen 2016: 210). Qualitative Forschung insgesamt ist „eine entdeckende Wissenschaft“ (Flick/von Kardorff/Steinke 2008: 24); „die besonderen Stärken qualitativer Verfahren liegen in der Untersuchung von Bedeutung und Sinn sowie in der Kontextualisierung; darin, Ereignisse, Handlungen oder Medienstrukturen in Alltag, Lebensgeschichte und Gesellschaftssystem einzuordnen und zu erklären“ (Löblich 2016: 75). Sie ist „dadurch charakterisiert, dass sie auf nicht-standardisierte Instrumente und Verfahren zurückgreift, die je nach Forschungsgegenstand flexibel eingesetzt und an diesen angepasst werden können“ (Scholl 2016: 17). Allerdings „verfügen Hermeneut und Textproduzent grundsätzlich nicht über das gleiche Wissen“ (Reichertz 2016: 37). Dabei dürfen Kommunikationshistoriker keinesfalls nur Texte und Aussagen heranziehen, „welche das eigene Vorurteil stützen“ (Stöber 2016: 311). Wichtiges Element der Kommunikationswissenschaft ist der Vergleich als „Metamethode“ (Thomaß 2016). Richters Aufsatz zu Area Studies bezieht sich zwar auf Kulturvergleiche, ist aber auch für historische deutsche Landschaften nützlich, um „regionalspezifische Erklärungen für Kommunikationsprozesse zu finden, gleichzeitig aber auch die Integration dieser Erkenntnisse in regional übergreifende Forschung [zu] erlauben“ (Richter 2016: 95). In einer Zeitungsbiographie eine Diskursanalyse anzuwenden, empfiehlt sich nicht, da „sich dort einzelne Diskursfäden finden, einen vollgültigen Diskurs dort vorzufinden, sollte man jedoch nicht erwarten“ (Landwehr 2009: 101). Trotzdem finden sich Ansätze, die dabei helfen können, „bestimmte Phänomene zu fassen, die mit zuvor vorhandenen begrifflichen Möglichkeiten nicht ausreichend zu fassen waren“ (Landwehr 2009: 20). Jäger (2012: 37) skizziert Diskurs so: Der Diskurs ist nicht das Werk einzelner Subjekte, während der einzelne Text ein subjektives Produkt ist, den ein einzelner Mensch, der dabei zugleich immer als in die Diskurse verstrickter vorzustellen ist, als gedanklichen Zusammenhang produziert. Der Diskurs wird zwar von der Gesamtheit letztlich aller Subjekte gemacht, bei unterschiedlicher Beteiligung der Subjekte an jeweiligen Mengen von diskursiven Strängen und unterschiedlicher Nutzung der Spielräume, die die sozio-historisch vorgegebenen Diskurse erlauben. Aber kein Einzelner determiniert den Diskus, obwohl es mancherlei Versuche von Einzelnen oder sozialen Gruppen dazu gibt, strategisch auf die Diskurse Einfluss zu nehmen. Der Diskurs ist sozusagen Resultante all der vielen Bemühungen der Menschen, in einer Gesellschaft zu existieren und sich durchzusetzen. Was dabei herauskommt, ist etwas, das so keiner gewollt hat, an dem aber alle in den verschiedensten Formen und Lebensbereichen (mit unterschiedlichem Gewicht) mitgestrickt haben.
Methodische Überlegungen und Auswahl
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Bei der Untersuchung von Diskursen hängen die Lektüreweisen von „Interessen und Erwartungen, die Leserinnen und Leser mit einem Buch verbinden und schließlich von der kulturellen Codierung beziehungsweise Wertung einzelner Genres oder Textsorten“ (Sarasin 2003: 39) ab. Diskurse und ihre Erforschung sind verwandt: Während Menschen kommunikativ versuchen, „ihre jeweiligen Situationsdefinitionen durchzusetzen“ (Bonfadelli 2002: 134 f.), begibt sich der Geschichtsschreiber in das Geschäft der „Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu gewinnen. Denn nicht immer gelingt ihr dies beim ersten Versuch, nicht selten auch artet sie aus, indem sie den entgegenwirkenden Stoff nicht rein zu bemeistern vermag“ (Humboldt 1841: 24). Es waren die herrschenden Diskurse, gegen die die sozialdemokratische Gegenöffentlichkeit nicht ankam, und es ist die Frage, warum sich der Sozialismus nicht durchsetzte und warum sich die demokratische Republik nicht halten konnte, die an der historischen Arbeiter bewegung besonders interessiert. Foucault, auf den die Diskursanalyse zurückgeht, gibt auch Stichwörter, wie Stettiner „Volksbote“ und die Partei in Pommern zu verorten wären: Sie lebten für eine Utopie und bildeten damit eine Heterotopie in einem liberal-konservativ-reaktionär geprägten Umfeld.19 Im Zusammenhang dieser Arbeit habe ich kein Kategoriensystem entwickelt, wie es für qualitative Analysen oft angewandt wird. Dafür erscheinen die ausgewählten Themen und Ereignisse in ihrer Vielfalt nicht geeignet. Stattdessen verfolge ich einen historischrekonstruktiven Ansatz. Die Kriterien für die Aufnahme von Textbeispielen zu bestimmten Items sind ihre Aussagekraft und Entwicklungen im Zeitverlauf der Berichterstattung. Dabei hoffe ich, dass deutlich wird, wie modern der Stettiner „Volksbote“ war, wie treffend seine Kritik und wie klar seine Analyse. Darum wird der Quelle viel Raum gestattet.
I.7.3
Quantitative Verfahren
Methodische Überlegungen zur quantitativen Inhaltsanalyse liegen schon seit langem vor. Max Weber hat die quantitative Inhaltsanalyse (einschließlich der leeren Stellen im Inhalt) bereits in seiner berühmten Rede auf dem ersten Deutschen Soziologentag skizziert:
19 „Utopien sind Orte ohne realen Ort. Es sind Orte, die in einem allgemeinen, direkten oder entgegengesetzten Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft stehen. Sie sind entweder das vollkommene Bild oder das Gegenbild der Gesellschaft, aber in jedem Fall sind Utopien ihrem Wesen nach zutiefst irreale Räume. Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen. Da diese Orte völlig anders sind als all die Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen, werde ich sie im Gegensatz zu den Utopien als Heterotopien bezeichnen“ (Foucault 2005: 935).
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Einleitung
Wir haben die Presse letztlich zu untersuchen einmal dahin: Was trägt sie zur Prägung des modernen Menschen bei? Zweitens: Wie werden die objektiven überindividuellen Kulturgüter beeinflußt, was wird an ihnen verschoben, was wird an Massenglauben, an Massenhoffnungen vernichtet und neu geschaffen, an „Lebensgefühlen“ – wie man heute sagt –, an möglicher Stellungnahme für immer vernichtet und neu geschaffen? Das sind die letzten Fragen, die wir zu stellen haben, und Sie sehen sofort, verehrte Anwesende, daß der Weg bis zu den Antworten auf solche Fragen außerordentlich weit ist. Sie werden nun fragen: Wo ist das Material für die Inangriffnahme solcher Arbeiten? Dies Material sind ja die Zeitungen selbst, und wir werden nun, deutlich gesprochen, ganz banausisch anzufangen haben damit, zu messen, mit der Schere und mit dem Zirkel, wie sich denn der Inhalt der Zeitungen in quantitativer Hinsicht verschoben hat im Lauf der letzten Generation, nicht am letzten im Inseratenteil, im Feuilleton, zwischen Feuilleton und Leitartikel, zwischen Leitartikel und Nachricht, zwischen dem, was überhaupt an Nachrichten gebracht wird und was heute nicht mehr gebracht wird. (Weber 2001 [1910]: 11.711)20
Groth (1928 I: 748 – 772) referiert bereits Studien, die Zeitungsinhalte quantifiziert haben, besonders die Verteilung auf die einzelnen Ressorts. Er bemängelt die „viel zu kurze[n] Zeiträume“, die die meisten Dissertationen untersuchten, und verlangt eine Stichprobe von wenigstens einem Jahr (748 f ). Doch erscheinen Kompletterhebungen nicht unbedingt nötig, Wilke (2000b: 236) schreibt ihnen „buchhalterische[n] Charakter“ zu, punktuelle Untersuchungen würden wegen des geringeren Aufwands bevorzugt. Ubbens (1973: 160, hier zusammenfassend wiedergegeben) skizziert den Ablauf einer Inhaltsanalyse: 1. Reduktion des Untersuchungsinteresses auf Untersuchungsfragen (Forschungshypothesen), 2. Umsetzung in materialgebundene Forschungsanweisungen (Operationalisierung), 3. Zuverlässigkeitsprüfung, 4. Durchführung, 5. Interpretation durch Vergleich der Häufigkeiten. Durch die „stärkere Klärung des theoretischen Argumentationszusammenhanges“ haben quantitative Verfahren Vorzüge, wobei in historischen Themen eine Schwierigkeit in der „zeitübergreifende[n] Formulierung inhaltsanalytischer Kategorien“ liegen kann (Wilke 2008: 335). Nach Merten (1995: 59) dient die Inhaltsanalyse dazu, von Merkmalen eines Textes auf Merkmale eines Kontextes zu schließen. Klammer (2005: 249) fasst die Methode zusammen: Die Inhaltsanalyse ist eine Methode zur Untersuchung dokumentierter Kommunikationsprozesse. […] Durch die systematische Analyse der Textmerkmale lassen sich Aussagen zu Verfasser, Adressaten oder sozialem Kontext der Texte machen und somit Rückschlüsse auf soziale Wirklichkeit ziehen.
20 Silbermann (1967: 570) führt die Inhaltsanalyse auf die „Traumdeutung“ Sigmund Freuds zurück.
Methodische Überlegungen und Auswahl
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Inhaltsanalytisches Ziel ist also nicht in erster Linie, Inhalte deskriptiv zu erfassen, sondern davon ausgehend Rückschlüsse auf nicht offensichtliche Faktoren der Kommunikation zu ziehen (Schulz 2003: 58). Diese können den Kommunikator, den Rezipienten oder die Situation betreffen (Merten 1995: 23 – 34). Mittel der Wahl ist dabei oft eine Themenfrequenzanalyse, die die „Häufigkeit des Vorkommens von Themen oder Akteuren, bspw. als Trendanalyse im Zeitverlauf“ erhebt (Bonfadelli 2002: 81). Für die Erfassung von Häufigkeiten bieten sich maschinelle Verfahren an, allerdings ist die Verfügbarkeit volltextrecherchierbarer historischer Zeitungen noch nicht so weit gediehen, wie es Inhaltsanalytiker vermutet haben (Merten 1995: 350, Früh 2004: 263), denn viele Zeitungen sind, wenn, (noch) nur als Bilddateien online. Es ist auch zu befürchten, dass Data Mining zu Fragestellungen führt, die zwar eindrucksvolle Grafiken produzieren, aber im Erkenntniswert begrenzt sind, weil nur noch Mengendaten erhoben werden, ohne dass eine tiefere Auseinandersetzung mit den Inhalten stattfindet (so bei Moreux 2016). Zumal bereits heute die „Doppelgesichtigkeit des Digitalisierungsprozesses in der Wissenschaft“ zutage tritt, denn die „Suche sorgt für so viele Treffer, dass die Auswahl und Sichtung der relevanten Quellen viel Zeit in Anspruch“ nimmt (Donk 2012: 173). Es kann zudem durchaus ein Nachteil sein, nur zu finden, wonach man gesucht hat, und andere, die Forschungsfrage infrage stellende Artikel zu ignorieren. Sowohl qualitativen als auch quantitativen Methoden ist mit Skepsis zu begegnen, weil sie den Gesamtzusam menhang nie ganz erfassen können: Wenn es der empirischen Soziologie versagt ist, die gesellschaftliche Totalität als solche in den Griff zu bekommen, dann kann sie immerhin durch sinnvolle Verbindungen verschiedener Fragestellungen und Forschungsweisen, zentriert um den gleichen Gegenstands bereich, einiges dazu beitragen, zu berichtigen, woran sie vorweg laboriert. (Adorno 2004 [1958]: 17.663)
Die Verwendung von Rechnern für die Erforschung der Arbeiterbewegung hat bereits 1974 Wheeler gefordert. Er schlug vor, die Handbücher des Vereins Arbeiterpresse systematisch zu erfassen und auszuwerten. Wheeler dachte auch an Zeitungen, besonders an die lokalen: Hier dürfte eine Inhaltsanalyse zu bestimmten wichtigen Fragen der Partei- oder Gewerkschaftspolitik von Bedeutung sein. Besonders für die Erforschung der Basis ist diese Quelle unerläßlich. Bisher wurde jedoch die Lokalpresse der Arbeiterbewegung, außer in einigen Regionalstudien, kaum ausgewertet. Leider muß hierzu bemerkt werden, daß nicht nur die technischen Mittel, sondern häufig auch die Motivation fehlten. Lieber wühlt man monatelang in Regierungsakten, Nachlässen usw., als ein paar Wochen auf die „langweilige“ Presse der Arbeiterbewegung zu „verschwenden“. (Wheeler 1974: 48)
Die „digital humanities“ versprechen, große Datenmengen verarbeiten zu können, sofern sie vorliegen. Hier bieten sich quantitative Methoden an, die aber noch in der bisherigen
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Einleitung
empirischen Tradition stehen, also vor allem Frequenzanalysen herstellen, die einen quali tativen Abgleich nahelegen: Quantitative Analysemethoden grenzen sich von qualitativen Analysemethoden ab, die Bestandteile und Eigenschaften von Forschungsgegenständen beschreiben und dabei besondere Aufmerksamkeit auf nuancierte Differenzierungen und herausragende oder beispielhafte Einzelbeispiele legen. Quantitative Analysemethoden hingegen sind in erster Linie darauf ausgerichtet, Merkmale von Forschungsgegenständen zu identifizieren und ihre Häufigkeiten zu erheben, was möglichst klare und teils auch vereinfachende Kategorisierungen erfordert. (Jannidis/Kohle/Rehbein 2017: 279)
Quantitatives Vorgehen ist beispielsweise geeignet, um aus einer Gesamtmenge Rückschlüsse zu ziehen, wodurch z. B. festgestellt werden konnte, wie erfolgreich Karl Liebknecht als sozialdemokratischer Anwalt war (John 2014). Besonders ergiebig ist eine quantitative Methode für diachrone oder synchrone Vergleiche. So ergab ein DDR -Forschungsprojekt eine unterschiedliche Nachrichtenpolitik europäischer Zeitungen beim Thema Streik (Behm/Kuczynski 1971). Auch zu Fragen des Zusammenhangs von Korrespondenzen und Zeitungen bieten sich vergleichende Auszählungen an (Kutsch/Sterling/Fröhlich 2011). Quantifizierende Inhaltsanalysen sollen „generalisierende Aussagen über Muster der Medienberichterstattung“ ermöglichen und damit vermeiden, „einzelne herausragende Medientexte überzubewerten oder bestimmte Medientexte voreingenommen zu interpretieren“ (Bonfadelli 2002: 105). Als sich die quantifizierende Inhaltsanalyse in der Bundesrepublik zu etablieren begann, wurden mit ihr große Hoffnungen verbunden: Ihre Objektivität erlaube Modelle von Aussagen, Kommunikator, Medium, Objekten und gesellschaftlichen Strukturen (so Wersig 1974: 22). Dieses Versprechen hat sie nicht einlösen können, wie viele oft sehr kleinteilig angelegte Untersuchungen illustrieren. So besteht zuweilen, wenn auch weniger in der historischen Kommunikationsforschung, die Gefahr, sich auf die Überzeugungskraft von statistischen Berechnungen zu verlassen, die aus dem Material nicht immer so eindeutig gewonnen werden kann: Das Motto: Die Präsentation von Zahlen, also etwa Standardabweichungen und Varianzanalysen, verspricht eine bessere Optik als hermeneutisch gewonnene Ergebnisse, denen obendrein das Odium der Subjektivität anhaftet, zeugt von einem gewissen Minderwertigkeitskomplex der Geisteswissenschaften, die – so hat es den Anschein – fürchten, hinter den Repräsentativitäts- und Validitätspostulaten der sogenannten exakten Wissenschaften nachzuhinken. (Türk 1994: 3)
Asmuss (1994: 349) entschied sich für eine hermeneutische Quellenanalyse, weil er nach einer Probecodierung von 100 Zeitungsartikeln feststellte, dass die „notwendige Reduktion historischer Komplexität zu einer kaum vertretbaren Nivellierung von Facetten und
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Abb. 1: Titelseite der ersten Nummer des „Volksboten“, 5. 7. 1885. Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.
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Nuancierungen der einzelnen Zeitungsbeiträge“ führte (Asmuss wählte dann die Berichterstattung über bestimmte Ereignisse 21). Für den Zusammenhang meiner Arbeit beschränke ich mich frequenzanalytisch auf zwei vergleichende Stichproben, die tabellarisch zusammengefasst werden, diachron zwei Ausgaben des „Volksboten“, synchron im Vergleich mit „General-Anzeiger“ und „Stettiner Abendpost“.
21 Butmaloiu (2011) kombinierte historische, quantitative und qualitative Methoden und untersuchte mehrere Monate des Jahres 1914. Dabei folgte sie „dem Prinzip, dass es a ussagekräftiger ist, bei einer Zeitung in die Tiefe zu gehen, als mit vielen Medien an der Oberfläche zu bleiben“ (Butmaloiu 2011: 142).
II. Historischer Teil II.1 Die Provinz Pommern im Deutschen Reich Durch den Wiener Kongress und anschließenden Gebietstausch 1815 war ganz Pommern preußisch geworden. Da die Provinz im Vergleich zu anderen (besonders Schlesien, später Rheinprovinz und Westfalen) ökonomisch rückständig und dünn besiedelt war, begann zügig der staatliche Aufbau unter Reformgesichtspunkten. Das ehedem schwedisch-pommersche Gebiet bildete den Regierungsbezirk Stralsund, Ostpommern den Regierungs bezirk Köslin, Mittelpommern mit der Provinzhauptstadt den Regierungsbezirk Stettin (zur Verwaltungsgeschichte Fenske 1993). Der erste Oberpräsident Johann August Sack sprach von „der traurigsten Provinz, die Preußen wieder sein Eigen nannte“, und der „pommerschen Wüstenei“ (zit. n. Inachin 2008: 123). Pommern war landwirtschaftlich geprägt, insbesondere durch Gutsherrschaften, und bis auf Stettin hatten die Städte nur geringe Bedeutung. Bereits 1843 wurden Stettin und Berlin durch die Eisenbahn verbunden, Kunststraßen, Agrarreformen und Bevölkerungszunahme sorgten für eine positive Entwicklung, vor allem im Vergleich mit den benachbarten Ländern Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz. Die Märzrevolution führte zur Herausbildung der konservativen Partei, die bis auf Stettin, das auch nach dem Verfassungsoktroi liberal blieb, in Pommern sehr erfolgreich war. Mit der Reichsgründung begann der Eintritt Pommerns in die Moderne, auch wenn insbesondere die Besitzverhältnisse bis zu den kommunistischen Enteignungen nach 1945 (in Volkspolen und der SBZ/DDR) recht stabil blieben. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts waren die entscheidenden Modernisierungsweichen gestellt worden (Mellies 2012b). Die Zeit ab 1871 wurde in der Rückschau (beispielhaft Wehrmann 1921) als glücklich bezeichnet – aber eben nur in der Rückschau und nur im Vergleich zu dem, was dann auf Pommern zukam. Im Reichstag hatte Pommern 14 Sitze, die überwiegend konservativ besetzt wurden. Die Mandate im preußischen Abgeordnetenhaus nahmen bis auf Stettin (durchgehend linksliberal) Konservative ein, meist adelig (Lucht 1999a: 118). Bereits 1872 bzw. 1875 wurden neue Kreis- bzw. Provinzialordnungen erlassen, 1891 eine Landgemeindeordnung (vgl. Inachin 2008: 142 – 145); erst mit den Reformen um 1900 (auf Reichsebene das BGB) sieht Buchholz (2003: 188) das Ende der Frühen Neuzeit in Pommern; ganz endete das feudale Zeitalter mit der Abschaffung der Adelsprivilegien im Zuge der Novemberrevolution. 1905 lebten in Pommern etwa 1,68 Millionen Menschen, bei einer Bevölkerungsdichte von 56 pro km2 (etwas mehr als die Hälfte des preußischen und deutschen Durchschnitts von 100). Zu den 1,61 Millionen Evangelischen kamen 50.000 Katholiken und 10.000 Juden; etwa 10.000 Menschen hatten eine andere oder keine Religionszugehörigkeit. 14.000 Polen und 300 Kaschuben bewohnten östliche Kreise der Provinz (nach Meyers Großes Konversationslexikon, Bd. 16, 1908: 134 f ). Ökonomischer Schwerpunkt war die Landwirtschaft, allerdings bedroht durch nordamerikanische Getreidekonkurrenz und daher durch
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Historischer Teil
Schutzzölle abgeschirmt (Buchholz 1996: 45). Fast durchgängig wanderten Pommern vom Land in die Städte, die Westprovinzen oder nach Übersee aus (Bade 2005 [1979]). Die Auswanderung über Stettin wurde 1896 sogar verboten (aufgrund des Drucks von Hamburg, Bremen und der Großgrundbesitzer, s. Włodarczyk 1999a: 262). (Ausführlich zur Bevölkerungsentwicklung Bei der Wieden 1999.) Bedeutenden Aufschwung nahmen die Ostseebäder (Kolberg, Orte auf Rügen, Usedom und Wollin), begleitet von einem frühen und spezifischen Antisemitismus in den Seebädern (s. Bajohr 2006, in Pommern vor allem Zinnowitz, 13). Dominant blieb der Großgrundbesitz (Guttmann 1908: 18). Über die Hälfte der Güter umfasste mehr als 100 Hektar (s. Włodarczyk 1999a: 264 – Buchholz 2003: 80 zufolge waren es sogar über 70 Prozent). Durch Ansiedlungspolitik, Binnenkolonisation und polnische Saisonarbeiter aus Russisch-Polen und dem österreichischen Galizien versuchten die Behörden, der Landflucht entgegenzuwirken und die zunehmend defizitären Güter zu entlasten. Das Grundproblem bestand in den zu geringen Löhnen der Landarbeiter (Puttkamer 1929: 44, 89). Bis auf die größeren Städte war die Sozialstruktur seit dem Bauernlegen (Einziehen von Höfen durch Gutsherren im 17. und 18. Jahrhundert) ähnlich geblieben und von tiefen Gegensätzen geprägt. Einerseits gliederte sie sich in kleine und überschaubare Arbeits- und Lebensgemeinschaften. Andererseits war sie von einer starren Schichtung beherrscht, die sich am Besitz orientierte. Eine relativ dünne Oberschicht stand einer schmalen Mittelschicht und einer sehr breiten Unterschicht […] gegenüber […] Daß diese Gesellschaft dennoch eng zusammenhielt und ein Milieu bildete, war Folge der traditionellen Abhängigkeits- und Verpflichtungsverhältnisse, die das Leben bestimmten, an sozialmoralische Werte gebunden waren und sich in einer konservativen politischen Haltung der Oberschicht bündelten. (Matthiesen 2000: 43)
Allerdings war 1848/49 deutlich geworden, dass die Ruhe auf dem Lande erschüttert werden konnte (Mellies 2011, Flemming 2011). Die Politisierung des Landadels setzte sich nach 1871 fort. Er bemühte sich nun um einen „Führungsanspruch auf eine neue Weise, nämlich auf einer Massenbasis fußend“ (Buchsteiner 1993: 273). Dabei hilfreich war das erstarkende pommersche Regionalbewusstsein, das wegen der langen Schwedenzeit in Vorpommern eher deutsch als preußisch geprägt war (Buchholz 2003: 188 f ). Dass es sich dabei auch um forcierte, konstruierte, ritualisierte und personalisierte Formen des „nation building“ gehandelt hat, wies Inachin (2005: 352) nach: Das von der propreußischen Geschichtsschreibung kolportierte Bild einer aus langer geschichtlicher Tradition hervorgegangenen Provinz war ein Konstrukt zur Legitimation von Herrschaft. Sie legitimierte die preußische Herrschaft, mythologisierte die Hintergründe und zeigte weniger die Realität als vielmehr ein gesellschaftspolitisches Programm zur Integration von Regionen mit unterschiedlicher historischer Tradition zu einer verwaltungstechnischen Einheit.
Die Provinz Pommern im Deutschen Reich
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Der hybride Charakter des Kaiserreiches – staatlich unterstützte Modernisierung einerseits bei Pflege althergebrachter und projizierter Formen andererseits –, „das ruhelose Reich“ (Stürmer 1983) war auch in Pommern zu besichtigen. Das „Augusterlebnis“ 1914 (kritisch Stöber 2013b) hatten wohl auch Bewohner der Provinz, in der seit den napoleonischen Kriegen Frieden geherrscht hatte. Es „artete wohl mitunter zu krankhafter Aufregung und wilder Jagd auf Spione oder Landesfeinde aus“ (Wehrmann 1921: 322 – dieser schwärmt im Verlauf seiner Darstellung zeitgemäß von der „Heimatfront“ mit Sammlungen, Kriegsgottesdiensten [die obrigkeitstreue evangelische Kirche stand lange für Kaiser und Heer ein, s. Klän 1991] und Heldentod). B efürchtungen, russische oder englische Truppen könnten an der Küste landen, bewahrheiteten sich nicht (Völker 2000: 86). Mit dem sofort verhängten Kriegszustand war die Exekutive auf das Militär übergegangen, womit auch Grundrechte der preußischen Verfassung ausgesetzt wurden (s. Lucht 1999a: 441). Die Stettiner Sparkasse zählte zu denen, die im Juli und August 1914 den höchsten prozentualen Anteil an beunruhigte Kunden auszahlen mussten (Verhey 2000: 48). Durch den Krieg büßte Pommern enorm an Wirtschaftskraft ein (Biewer 2012: 52). Mit dem ausbleibenden schnellen Sieg und besonders im „Steckrübenwinter“ 1916/1917 kamen Plünderungen und Hamsterkäufe bzw. Schiebereien und Wucher auf (Wehrmann 1921: 326 f ). Kurzzeitige Profiteure der Kriegswirtschaft wurden die Stettiner Werften (s. Włodarczyk 1999a: 282). Pommern, wo der verschärfte Kriegszustand galt (militärische Befehlsgewalt, Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten), traf die englische Seeblockade empfindlich; die Soldaten der Provinz wurden überwiegend an der Westfront eingesetzt, bald trat ein Arbeitskräftemangel vor allem in der Landwirtschaft ein (s. Lucht 1998: 122). Lebensmittelrationierung und Fleischmangel führten in den Städten zu Hunger (Inachin 2008: 157). Der politische „Burgfriede“ hielt bis 1917. Ab dem 9. November 1918 bildeten sich in Pommern Arbeiter- und Soldatenräte, bis zum 5. Januar 1919 die Zahl 231 erreicht worden war (Inachin 2008: 158). Früh übernahm die Mehrheitssozialdemokratie die Führung. Wie schon 1848 verlief die Revolution eher ruhig, sieht man von kommunistischen Straßenkämpfen und Plünderungen am 15. Mai 1919 in Stettin ab (Inachin 2008: 160). Konservative Pommern fanden das Ende der Monarchie unglücklich (Schröder 1991a: 130). Personeller Austausch in der Verwaltung fand selten statt (Inachin 2008: 159, anders Buchsteiner 1999, die von einem „Bruch in der Ämterbesetzung Pommerns“ spricht [84]). Nerée (1991) geht so weit, „allenfalls von einer revolutionären Bewegung“ auszugehen, deren Nutznießer „traditionelle Machtblöcke“ gewesen seien (210). Tatsächlich warf der Widerstand von rechts gegen die republikanische Ordnung erhebliche Probleme auf. Der Pommersche Landbund bewaffnete sich, die politischen Vorstellungen dieser Kreise reichten vom eigenen „Oststaat“ bis zu einem selbstständigen Herzogtum Pommern (Becker 1998). In den Folgemonaten schädigten Streiks das Wirtschaftsleben. Am Kapp-Putsch 1920 waren pommersche Truppen beteiligt (ausführlich Schaubs 2008). Wie im Reich konnte die Weimarer Koalition nach den Enttäuschungen des Versailler Vertrages die anfänglichen Wahlergebnisse nicht halten.
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Historischer Teil
Pommern war nun Grenzland zu Polen geworden. Der Verlust Danzigs beeinträchtigte Hinterpommern, Stettin verlor Gdingen gegenüber an Bedeutung (Lucht 1999a: 445). Während der Weimarer Republik blieb die wirtschaftliche Entwicklung krisenhaft. Trotz redlicher Bemühungen der Verwaltung um Abhilfe blieben Revolution und Republik mit Niedergang verknüpft, zumal die Landbevölkerung konservativ-monarchisch gesinnt war. Insbesondere die Strukturprobleme der Landwirtschaft, die sich schon im Kaiserreich abgezeichnet hatten, nahmen zu. Zwar lag die Arbeitslosigkeit unter dem Reichsdurchschnitt, doch verschuldete Höfe, Landflucht und weggebrochene Absatzmärkte sorgten für dauernde ökonomische Instabilität, zu der die industriellen Probleme besonders Stettins (Schließung der Vulcanwerft 1928, sinkende Hafenumsätze) traten (Inachin 2008: 169 – 174). Ziel der Binnenwanderung waren Provinz- und Reichshauptstadt, was angesichts der Nähe zu Polen den ideologischen „Volkstumskampf“ verschärfte (Schröder 1991a: 135). Politisch spielte dies den Republikfeinden in die Hände. Die Deutschnationale Volkspartei hatte in Pommern eine ihrer Hochburgen. Setzte sie sich nach ihrer Gründung zunächst für ihre konservativen Ziele im Rahmen der Verfassung ein (Inachin 2004a: 155), so rutschte sie zusehends in eine Oppositionsrolle. Da die DNVP in Pommern jedoch bestimmenden Einfluss hatte, war sie hier lange konstruktiv besonders in der Wirtschaftsund Siedlungspolitik tätig. Die NSDAP (die in Pommern seit 1922 bestand, Inachin 2001) zog erst 1929 in den Provinziallandtag ein, der daraufhin zur politischen Plattform für den ständigen Wahlkampf wurde, von der Parteipresse intensiv begleitet (Inachin 2004a: 161). Nun entstand auch die Ambivalenz (Konkurrenz und Zusammenarbeit) von DNVP und NSDAP, die bis in den Sommer 1933 anhielt. Die NSDAP selbst war in Pommern lange mitglieder- und führungsschwach gewesen (Schröder 1991b). Durch das Ende der Weimarer Republik und die NS-Propaganda rückten die Errungenschaften des ersten demokratischen deutschen Staates in den Hintergrund. So verbesserte sich in den 1920er Jahren der Lebensstandard dank Versorgung mit Strom, Gas und Wasser. Viele Städte bauten die Kanalisation aus, die Motorisierung nahm zu, das Vereins- und Freizeitwesen blühte, Stettin hatte u. a. mehr als 20 Kinos (Włodarczyk 1999b: 303). Durch die bisherige (konkurrierende) Nähe von Deutschnationalen und Nationalsozialisten fiel diesen die Durchsetzung des Regimes ab 1933 leicht. Auf fruchtbaren Boden fielen vor allem die Parolen zugunsten von Bauern, Kleinbürgern und gegen den Versailler Vertrag (vgl. Rautenberg 2000: 308). Hinzu kam der gleich besonders in Stettin begonnene Terror: „Belästigungen und Übergriffe waren an der Tagesordnung“ (Thévoz/Branig/ Lowenthal-Hensel 1974: 29). Die Ablösung des Gauleiters Wilhelm Karpenstein, dem Franz Schwede-Coburg nachfolgte, wurde von der Bevölkerung begrüßt (vgl. Rautenberg 2000: 310, detailliert Hinz 2006). Mitte 1934 war die Diktatur gefestigt, konservative und religiöse Vorbehalte (Bekennende K irche, der laut Lucht 1998: 127 ein Drittel der Pastoren angehörte) sowie einzelne Widerstandsaktionen der Arbeiterbewegung blieben folgenlos bzw. isoliert (vgl. Rautenberg 2000: 320). Versuche der DNVP, unter den neuen Bedingungen Eigenständigkeit zu bewahren, zogen sich bis in den Sommer 1933 hin (vgl. Inachin 1999c: 156 – 162). Dank der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des NS-Regimes sank
Die Provinz Pommern im Deutschen Reich
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Abb. 2: Reichstagswahlergebnisse Pommerns in der Weimarer Republik (ohne Splitterparteien, zu denen hier aus konfessionellen Gründen auch das Zentrum zählt) in Prozent. Die USPD erreichte 1919 1,9 Prozent, 1920 16,7. Quelle: www.wahlen-in-deutschland.de, Valentin Schröder, Bremen, Darstellung des Autors.
die Erwerbslosigkeit schnell, insbesondere durch Aufrüstung und Infrastrukturmaßnahmen (Autobahn Berlin–Stettin, Rügendamm, vgl. Rautenberg 2000: 321 f; die Zahl der Arbeitslosen verringerte sich von 113.000 im Jahre 1932 auf 27.500 schon 1934, vgl. Völker 2000: 95). 1938 wurde der größte Teil der Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen Pommern angegliedert. 1939 lebten etwa 2,4 Millionen Menschen in Pommern (Lucht 1998: 128). Die in Pommern verbliebenen Juden wurden bereits am 11. Februar 1940 deportiert und später ermordet (vgl. Rautenberg 2000: 318). Im Zuge des gescheiterten Attentats vom 20. Juli 1944 wurden oppositionelle Rittergutsbesitzer und Pfarrer verhaftet und teils getötet (Lucht 1999b: 512). Im Zweiten Weltkrieg wurden im Verlauf einige pommersche Städte bombardiert (Stettin und Swinemünde wurden 1943/44 bzw. 1945 schwer zerstört), ab Februar 1945 eroberte die Sowjetarmee die Provinz. Infolge des Zweiten Weltkriegs endete auch Pommern als preußische Provinz. Hinterpommern und Stettin mit Swinemünde kamen durch das Potsdamer Abkommen bzw. dessen Interpretation unter polnische Verwaltung. Die nicht geflohene oder umgekommene deutsche Bevölkerung wurde vertrieben, die neu errichteten Woiwodschaften Szczecin (Stettin) und Koszalin (Köslin) wurden polonisiert (u. a. zentral- und großpolnische Einwanderer, Wilnaer und Lemberger Polen, diese ihrerseits aus der nach Westen ausgedehnten Sowjetunion vertrieben). Die Bundesrepublik Deutschland erkannte den Grenzverlauf de facto 1970 (Warschauer Vertrag mit der Volksrepublik Polen) und de jure 1990/91 (Zwei-plus-Vier-Vertrag und deutsch-polnischer Grenzvertrag) an. Die DDR, die die Oder-Neiße-Linie bereits 1950 als
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Staatsgrenze akzeptiert hatte,1 löste 1952 das Land Mecklenburg, dem Vorpommern 1945 zugeschlagen worden war, auf. Bereits 1947 war auf Druck der SMAD der Name „Vorpommern“ gestrichen worden, er durfte bis in die 1980er Jahre nicht prominent verwendet werden. So musste sich die Pommersche Evangelische K irche in „Evangelische Landeskirche Greifswald“ umbenennen; zeitgleich mit der Preußenrenaissance der späten DDR erschien das erste Buch, das „Vorpommern“ im Titel trug, 1983 (Neumann 1983); allerdings galt das sprachliche Eingemeinden nach Mecklenburg nicht ausschließlich: z. B. Bezirkskommission 1965, Bezirkskommissionen 1970. In Atlanten hießen die Pommersche Bucht „Oderbucht“ und das Stettiner Haff „Oderhaff“ (z. B. Suchy u. a. 1984: 27). Seit 1990 ist Mecklenburg-Vorpommern deutsches Bundesland. Der östliche Landesteil gliedert sich seit der Kreisgebietsreform von 2011 in Vorpommern-Rügen und Vorpommern-Greifswald. Sowohl der deutsche als auch der polnische Teil Pommerns (seit 1999 Woiwodschaft Pomorze Zachodnie, wörtlich „Westpommern“ im Unterschied zu P omorskie [„Pommern“], das in etwa dem früheren Westpreußen entspricht) sind von Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Bevölkerungsrückgang besonders auf dem Land betroffen. Die vertriebenen Hinterpommern siedelten sich unter teils chaotischen Startbedingungen überwiegend in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen an oder blieben in der SBZ/DDR, hier zunächst euphemistisch „Umsiedler“ genannt, dann ganz verschwiegen (oder in Formulierungen versteckt, wie „fördernd auf den Formierungsprozeß der KPD wirkte sich in einigen Kreisen der konzentrierte Zustrom von Genossen aus Stettin (Szczecin) und Danzig (Gdańsk) aus“, Bezirksleitungen 1986: 134). Viele im Westen organisierten sich während der frühen Nachkriegszeit in der Hoffnung auf Rückkehr in der Pommerschen Landsmannschaft. Ihre Integration gelang eher ökonomisch als soziokulturell (vgl. Kossert 2008). In der deutschen Erinnerungskultur fällt Pommern hinter Ostpreußen und Schlesien zurück, auch wenn es literarisch bearbeitet worden ist (Wisniewski 2005, 2007, Richter 1990). Dabei steht das ländliche Pommern im Vordergrund (z. B. Krockow 1991). Buchholz (1995b) stellt Forschungsstränge der Landesgeschichte und deren Probleme zusammen. Die Bundesrepublik hat lange an der Fiktion der Staatsgrenzen von 1937 festgehalten, wurde aber zunehmend realistisch. Dieser Realismus kündigte sich, obwohl der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher später gegen Westbindung und Dreiteilung des vormaligen Reichsgebiets wirkte, schon 1947 an. Schumacher sagte zwar auf dem Nürnberger Parteitag: „Aber die ganzen Gebiete östlich der Oder und Neiße als weggenommen anzusehen, sind wir Sozialdemokraten nicht geneigt.“ Doch die Möglichkeit des Verzichts klang schon an: „Aber wenn man von diesem Gebiet der Weimarer Republik, wie es den Anschein hat, Teile schon als endgültig von Deutschland weggenommen betrachtet, dann soll man uns den vollen Wert dieser Gebiete auch auf die Reparationsansprüche anrechnen“ (Proto koll 1947: 45).
1 Zur pommerschen publizistischen Debatte darüber Aischmann 2012: 65.
Abriss der Stettiner Stadtgeschichte
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II.2 Abriss der Stettiner Stadtgeschichte Eine umfassende wissenschaftliche deutschsprachige Stadtgeschichte für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt für Stettin noch nicht vor (Musekamp 2010 stellt die Polonisierung ab 1945 dar), anders als für Danzig (Fischer 2006) oder Königsberg (Manthey 2005) oder vorpommersche Städte (Brunner 2010 zu Stralsund, Matthiesen 2000 zu Greifswald). Für die ältere Zeit muss auf Wehrmann (1911) zurückgegriffen werden, die neuere erschließt sich aus vielen einzelnen Beiträgen. Die zum 750. Gründungsjubiläum verfasste Chronik stellt verschiedene Aspekte der Stadtgeschichte dar (Gudden-Lüddeke 1993). Eine reich bebilderte Chronik legte Völker (1986) vor. Stettin/Szczecin ist in der Nachkriegszeit zum historischen Zankapfel z wischen der Behauptung germanischen oder slawischen Charakters geworden, bis in die Völkerwanderungszeit vorangetrieben (z. B. belletristisch Kamiński 1971) und deutscherseits teils an die völkische Ostforschung anknüpfend. Kuhn (1959) wies darauf hin, dass man die mittelalterliche Ostsiedlung schlecht mit dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts bewerten kann (was er aber den Slawen vorwirft, 168 – 170). Volkspolen indes fand verschiedene Lösungen, die Integration des vormals deutschen Ostens ideologisch abzusichern. Dopierała (1958: 289) wählte die marxistische Verbundenheit: 1. Wir betrachten uns als die Erben und die Fortsetzer der Produktionstätigkeit des deutschen Proletariats, das die Produktionsstätten geschaffen hat, die heute von uns übernommen worden sind. 2. Wir betrachten uns ebenfalls als die Fortsetzer des Kampfes der deutschen Arbeiterklasse gegen die Junker und Kapitalisten, die zwar östlich der Elbe keine Macht mehr ausüben, in Westdeutschland jedoch eine Basis besitzen, auf der sie ungestraft einen neuen Krieg gegen das sozialistische Lager, also auch gegen unsere Staaten, vorbereiten.
Verbreiteter war aber, die Bevölkerungsstruktur seit dem Mittelalter herunterzuspielen. Ein anschauliches Beispiel für die Ignoranz gegenüber den sieben deutschen Jahrhunderten ist Mąka 1978: Hier wird eine polnische Kontinuität vom 10. bis zum 20. Jahrhundert konstruiert, als wäre das herzogliche Greifengeschlecht nicht germanisiert worden (analog zu Mecklenburg) und die Bevölkerung seit dem späten Mittelalter nicht deutschsprachig gewesen. Über 1945 heißt es (Mąka 1978: 33): „Nach 100 Jahren schwedischer und 200 Jahren preußischer Herrschaft war Szczecin zusammen mit Pomorze Zachodnie zum Mutterland zurückgekehrt.“ Inzwischen ist Polen in diesen Fragen realistischer, was mit dem abnehmenden Interesse der Deutschen am historischen Osten korreliert: Ohne Revisionsansprüche kann man sich der Vergangenheit zwar nicht unbefangen, aber aufgeschlossen zuwenden. Stettin erhielt 1243 von Herzog Barnim I. deutsches (Magdeburger) Stadtrecht, war Residenz (das Schloss existiert noch bzw. wieder), Hansestadt und wurde 1522 evangelisch. Von
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Historischer Teil
der kurzen brandenburgischen Besetzung 1678/792 abgesehen, stand es 1648 – 1720 unter schwedischer Hoheit. Schwedisch-Pommern blieb aber Teil des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. 1806 – 1813 besetzten die Franzosen die preußische Festung. Die – vom Borussophilen 3 abgesehen – brauchbarste Stadtgeschichte ist Wehrmann (1911), der hier zusammenfassend gefolgt wird. Die lange Friedenszeit bescherte Stettin in den folgenden Jahrzehnten einen stetigen Fortschritt, für den modernisierte Verwaltung und Industrialisierung sorgten. Zu nennen sind Wieder- und Neuaufbau von Vorstädten, der Bahnhof (1843), die Neustadt durch Verkleinerung der Festungsanlagen (1845 – 48), die Entstehung der Dampfschifffahrt, der Telegraph (1849), die Gas- (ab 1848) und Wasserversorgung (ab 1865). Fabriken siedelten sich an. Kulturell nahm die Stadt durch Höhere Schulen, die Gesellschaft für pommersche Geschichte und Altertumskunde (1824), Musik (Carl Loewe) und das Th eater (1849) Anteil am Bildungsboom des Jahrhunderts (anschaulich die sehr erfolgreiche Autobiographie Schleich 1920). Die neue Synagoge 4 wurde 1875 fertiggestellt (1938 in Brand gesteckt und abgerissen). 1873 wurde die Festung aufgehoben, die Stadt konnte nun ungehindert wachsen, durch die „Kaiserfahrt“ (1880) verbesserte sich die Seeverbindung nach Swinemünde. Bei der Eröffnung des Freihafens 1898 war Wilhelm II. zugegen.5 Hatte Stettin 1816 nur 25.000 Einwohner, so waren es 1905 bereits 225.000. Heftige politische Auseinandersetzungen gab es 1847 – 1849, zwischen Hungerrevolte und Niederschlagung der Revolution (vgl. Mellies 2011). Hier sind auch die pommerschen Anfänge der Arbeiterbewegung zu verorten, auf die sich die traditionsbewusste Sozialdemokratie später berufen konnte. Nach Missernten kam es 1847 zu Plünderungen, 1848 zu gewaltsamen Protesten, auch von gegenrevolutionärer Seite, hier besonders im ländlichen Raum. Seit den 1870er Jahren erlebte die Stadt „in den wachsenden Stettiner Industriebetrieben eine nicht abreißende Zahl von Arbeitskämpfen“ (Mellies 2012b: 331). 1900 wurden Grabow, Bredow und Nemitz eingemeindet, an der Oder entstanden repräsentative öffentliche Gebäude (Hakenterrasse, noch erhalten). 1902 wurde die Stadtbibliothek gegründet, 1913 das Stadtmuseum (dessen Gemälde hängen heute im Pommerschen Landesmuseum Greifswald, Frenssen 2000). Wirtschaftlich wurde Stettin zum bedeutendsten Ostseehafen überhaupt, auch durch den 1914 fertiggestellten Oder-HavelKanal, erreichte aber nie die Bedeutung Hamburgs oder Bremens. In Stettin produzierten die Stoewer-Werke u. a. Luxusautos. Die Weltwirtschaftskrise 1929 traf die Stadt empfindlich, ökonomisch gelitten hatte sie schon vorher. So sank die Zahl der Metallarbeiter von 12.000 (1925) auf weniger als 1.000 (1931) (Włodarczyk 1994a: 125). In den 1920er Jahren sprach die Presse von einer „sterbenden Stadt“ (Gudden-Lüddeke 2012: 70). Dennoch 2 Dollen (1885: 1) zufolge hat Kurfürst Friedrich Wilhelm erwogen, Stettin zur brandenburgischen Hauptstadt zu machen. 3 Zu Wehrmann Unterstell 1996: 185 – 200. 4 Eine jüdische Gemeinde in Stettin bestand seit 1816, Peiser 1965: 24. 5 Buchholz (1996: 45) nennt Stettin den „Berliner Hochseehafen“.
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wurden „monumentale Neubauten“ errichtet, während die „außerordentlich dringliche Altstadtsanierung“ vernachlässigt wurde (Möllhausen 1931: 14; mit reichem Bilderteil). Der pommersche Oberpräsident Georg Michaelis (er bekam das Amt nach seiner gescheiterten Reichskanzlerschaft 1918 und wurde 1919 in den Ruhestand versetzt) beklagte, dass Stettin für die Provinz kein geistiger Mittelpunkt war, weil sich die Landesuniversität in Greifswald befand und Berlin zu nahe lag (Branig 1959: 107). Die prägenden Gestalten der Stettiner Stadtpolitik im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit waren die beiden Oberbürgermeister Haken und Ackermann. Hermann Haken, 1828 geboren in Köslin, amtierte von 1878 bis 1907. In seine Amtszeit fielen der Bau des Oder-Dunzig-Kanals (1881), der Bau der Hakenterrasse am Oderufer und die Eröffnung des Freihafens (1898). Stettin wuchs unter Haken: 1878 hatte die Stadt 84.000 Einwohner und einen Haushalt von 9.272.000 Mark, 1907 waren es 232.000 Einwohner bei einem Haushaltsvolumen von 35.294.000 Mark (Wendt 2004: 221 – 223). Haken wurde Stettins „Stadtvater“ (Włodarczyk 2007: 157). Der Berliner Einfluss auf die werdende Großstadt an der Oder war groß, wobei Wehrmann meinte, „ob immer zum Vorteil, ist mindestens zweifelhaft“ (Wehrmann 1993 [1911]: 517). Hakens Werk führte sein Nachfolger Friedrich Ackermann weiter. Er wurde 1866 in Ostpreußen geboren und lenkte die Geschicke Stettins von 1907 bis 1931. Er ließ u. a. die Ausfallstraßen ausbauen, den Industriehafen errichten (1910) und bei Altdamm einen Flughafen eröffnen. In seine Amtszeit fielen die Einrichtung der Volkshochschule, der Volksbücherei (1919) und weiterer Bildungsinstitutionen (Wendt 2004: 28 – 30). 1923 zogen Erwerbslose zu Ackermanns Haus, verwüsteten es und schlugen den Oberbürgermeister nieder (Beil. zu Volksbote Nr. 67, 21. 3. 1923: 1). Den Stettiner Stadtrat „dominierten die Vertreter der Kaufleute, wobei ihr Anteil jedoch eine fallende Tendenz aufwies“ (Włodarczyk 2007: 152), die Sozialdemokraten waren seit den 1890er Jahren als Minderheit vertreten (Włodarczyk 2007: 153). In Stettin hatte der pommersche Provinziallandtag seinen Sitz. Hier dominierte die DNVP, die SPD war zweitstärkste Kraft. Die Politisierung in der Weimarer Republik führte dazu, dass die Zeitungen intensiv berichteten und „Provinzinteressen, die der Provinzialverband in erster Linie vertrat, zu Gunsten eines Systemstreits ins Hintertreffen“ gerieten (Inachin 2004a: 161). Die Bewohner der Stadt schotteten sich sozial ab, u. a. durch die Errichtung von Arbeiterunterkünften nahe den Fabriken und Villenvierteln für das Großbürgertum (Włodarczyk 1994: 113 f ). 1933 machten Protestanten über 90 Prozent der Stadtbevölkerung aus, es gab etwa 10.000 Katholiken, rund 2.500 Juden und 12.000 Konfessionslose (Włodarczyk 1994a: 122 f ). Im Zuge der auf Staatsverschuldung und Enteignung von Juden basierenden Rüstungspolitik nahm Stettin ab 1933 einen gewissen Aufschwung (1936 wurde die Autobahn Berlin–Stettin fertiggestellt); die Nationalsozialisten planten im Rahmen ihrer Raumpolitik u. a. einen Oder-Donau-Kanal (Włodarczyk 1994a: 124). Entsprechend berichteten die Zeitungen über Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit oder den Straßenbau; manchmal ging diese Aufmachung direkt auf zentrale Presseanweisungen über die P rovinz
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Historischer Teil
Abb. 3: Im Stettiner Ortskartell um 1900 organisierte Gewerke in Mitgliedern. Quelle: Darstellung des Autors nach Matull 1973c: 253.
hinaus zurück (Toepser-Ziegert 1984: 98, 203). 1939 wurden 40 Orte mit fast 100.000 Einwohnern eingemeindet, wodurch Stettin flächenmäßig die drittgrößte Stadt des Deutschen Reiches wurde (Völker 1986: 246). In Finkenwalde bei Stettin bestand zeitweise ein Predigerseminar der Bekennenden Kirche (Dietrich Bonhoeffer, Klingner 2019). 1940 wurden die jüdischen Bewohner Stettins deportiert, nur wenige überlebten (Wilhelmus 2007: 99 – 105). Die Luftangriffe 1943/44 zerstörten Hafen, Industriegebiete und die Altstadt (Musekamp 2010: 31). Die Rote Armee eroberte „am 26. April 1945 ein brennendes, so gut wie menschenleeres Ruinenmeer. Die einstige Perle an der Ostsee glich einer Geisterstadt“ (Aischmann 2008: 29). Die Frage nach dem Verbleib Stettins bei Deutschland war nach Kriegsende zunächst offen, zeitweise bestanden deutsche und polnische Verwaltung parallel. Bernd Aischmann (2008) hat die komplizierte Nachkriegssituation detailliert geschildert (vorher Heitmann 2002). Die Westverschiebung Polens war Stalins Ziel (Aischmann 2008: 12). Die in der Stadt verbliebenen oder zurückgekehrten Deutschen mussten Stettin verlassen. Die Stettiner Vertriebenen spielten eine wichtige Rolle bei der sozialistischen Industrialisierung Mecklenburg-Vorpommerns, besonders auf den Werften in Rostock und Wismar (Seils 2012: 163 – 181). Bis zum Mauerbau 1961 verließen viele pommersche Vertriebene die DDR
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und siedelten in die Bundesrepublik über (einen Überblick zur Migration in Mecklenburg und Pommern bietet Buchmann 2009). Erst 1955 wurde der gesamte Hafen Stettins von den Sowjets an Polen übergeben (Włodarczyk 1994b: 134). Die Stadt wurde nach Polen ausgerichtet, „zu Beginn einer Umkodierung der städtischen Erinnerungslandschaft musste eine Löschung der auf der Stadt liegenden deutschen Oberfläche erfolgen“ (Musekamp 2010: 19). Die oppositionelle Arbeiterbewegung im polnischen Sozialismus hatte eines ihrer Zentren in Stettin: „Stettin kann sich rühmen, ein Leader der Arbeiterbewegung gewesen zu sein, die Polen von Grund auf veränderte und das 20. Jahrhundert in einer Atmosphäre der Hoffnung auf ein besseres Morgen zu Ende gehen ließ“ (Kozińska 2009: 59).
II.3 Zum pommerschen Pressewesen II.3.1 Schwedisch-Pommern 1648 – 1720/1815 Dieser Abschnitt ist angelehnt an Bader 2007a und 2007b. Durch den Dreißigjährigen Krieg wurde das ehemals selbstständige Herzogtum Pommern (seit dem Mittelalter überwiegend in mehrere Linien gespalten) z wischen Brandenburg und Schweden (weiter wie seit 1231 als Teil des Heiligen Römischen Reiches) geteilt, wobei sich die Grenze 1720 zugunsten Preußens zum Fluss Peene hin verschob, bis es schließlich ganz Pommern 1815 in Besitz nehmen konnte (ohne dass dieser einschneidende Wechsel journalistisch adäquat hätte begleitet werden können, Ulrich 1998). Schon vor dem Verlust der Eigenständigkeit erschienen in der Residenz Stettin Zeitungen (Bake 1928: 44). Allerdings sind die ältesten erhaltenen Exemplare jüngeren Datums als dieser Nachweis aus den Akten. Erhalten ist die „Zeitung vber Leipzig/ vnd Berlin“ aus dem Jahre 1633 (Ost 1932: 222 f., Wehrmann 1936: 68, Bogel/Blühm 1971: 106 f.) aus der Offizin (Druckerei) Rhete. 1649 kam in dieser Druckerei die „Europaeische Sambstägige Zeitung“, die unter abgewandelten Namen auch aus den sechziger, siebziger und achtziger Jahren in einzelnen Exemplaren vorliegt (Bogel/ Blühm 1971: 141 – 144, Rennert 1940: 103). Ab 1700 erschien der „Stettinische Relations Postillion“ bzw. die „Stettinische Ordinaire Post-Zeitung“ (Bake 1928: 50). In Stralsund erschienen während des publizistischen Kampfes seit der Landung des schwedischen Königs Gustav Adolf 1630 auf Usedom Relationen, eine Zeitung gab es seit 1687 („Extract aller einkommenden Nouvellen“, der zwei Jahre später „Stralsundischer Relations Courier Bringet den Extract aller eingekommenen Nouvellen“ hieß, Reinhardt 1936: 19). 1760 wurde der „Auszug der Neuesten Weltbegebenheiten“ gegründet, 1772 in „Stralsundische Zeitung“ umbenannt. Nach dem schwedischen Verlust Stettins wurde Stralsund Regierungssitz, entsprechend erschienen in der dortigen Zeitung auch die amtlichen Bekanntmachungen. Inhaltlich entsprachen die schwedisch-pommerschen Zeitungen den Möglichkeiten ihrer Zeit. Sie wurden nach den Gepflogenheiten der Frühen Neuzeit privilegiert und vorzensiert (Bader 2007b) und hatten zudem übermächtige Konkurrenz aus Hamburg (Cnotka 2000: 23, Blühm 1970). Zwar waren sie wie alle deutschen frühen
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Historischer Teil
Blätter korrespondenzengeprägt tendenziös (Lindemann 1969, Adrians 1999), von „schwedischen Nachrichten auf Deutsch“ (Önnerfors 2004) kann man aber m. E. nicht sprechen, dazu war die positive Pressepolitik zu wenig ausgeprägt. Dafür war z. B. die Aktualität der Nachrichten in Stralsunder Zeitungen gut (Neumann 1987: 136). Lokale und provinzielle Mitteilungen sind selten, nehmen aber im Lauf der Jahrzehnte vor allem durch Anzeigen zu. Die Französische Revolution ab 1789 wurde kritisch referiert (Langer 1992), die schwedische Niederlage 1807 ignoriert (Riemer 2008: 265). An der Universitätsstadt Greifswald blühten wissenschaftliche Zeitschriften (dazu u. a. Zunker 1956).
II.3.2 Preußisch-Pommern Im 1648 brandenburgisch gewordenen Hinterpommern (rechtlich hätte die ganze Provinz den Hohenzollern zufallen müssen, die auch darum mehrere Kriege gegen Schweden führten) erschienen nach derzeitiger Kenntnis keine Zeitungen; Stettin wurde 1720 preußisch. Die dortige Zeitung wurde durch den Insertionszwang nach Gründung des örtlichen Intelligenzblattes 1727 („Wochentlich Stettinische Frag- und Anzeigungs-Nachrichten“) erheblich beschädigt, wie alle Zeitungen der Monarchie. Die „Königlich privilegirte Stettinische Zeitung“ (1755 – 1860, Wehrmann 1936: 70) blieb bis 1835 die einzige Zeitung der Provinzhauptstadt. Salomons Urteil (1900: 131), dass die preußischen Provinzzeitungen „für diesen Zeitraum kaum angemerkt zu werden“ verdienen, sei dahingestellt – es fehlt an Untersuchungen und auch zumindest pommerscher Zeitungsüberlieferung für das 18. Jahrhundert, das nur scheinbar eines der Zeitschriften war. Mit der Französischen Revolution verschärfte sich das Presserecht Preußens (Lindemann 1969: 256 – 263), dennoch nahm die pommersche Presse ab 1800 einigen Aufschwung. Wie Wehrmann (1936) nachgewiesen hat, bekamen im 19. Jahrhundert auch die kleineren Städte der Provinz ihre Zeitungen, wobei deren Lebensdauer sehr schwankte und im Zweifel kurz war. Eine größere Zunahme an Titeln erfolgte im Zuge der Märzrevolution (Wegfall des Insertionszwangs, vorübergehende Pressefreiheit) und nach 1900 (ökonomischer und medialer Aufschwung). Als besonders schwierig erwies sich der Stettiner Zeitungsmarkt. Hatte Stettin nach 1848 mehrere Tageszeitungen, so kam es im 20. Jahrhundert zu einer fortlaufenden Konzentration, Titel fusionierten miteinander. So vereinigte sich die „Ostsee-Zeitung“ 1928 mit der „Stettiner Abendpost“, 1934 mit dem „Stettiner General-Anzeiger“, dies unter nationalsozialistischem Druck durch das Parteiblatt „Pommersche Zeitung“ (bis April 1945). Bake (1928: 54) fasste die seinerzeitige Tendenz der pommerschen Zeitungen so zusammen: 31 „parteilos“, 20 national, 19 deutschnational, eine demokratisch, vier sozialdemokratisch. Da nach Kriegsende 1945 eine deutsche Zukunft der Stadt möglich schien, gaben die sowjetischen Besatzer vom 20. Mai bis zum 10. Juni 1945 die „Deutsche Zeitung“ heraus, bis sich Volkspolens Zugriff auf die Stadt durchsetzte, die erste polnische Zeitung kam am 9. Juli heraus (Cnotka 2000: 26, Białecki 1996, Warmann 2001). Die Alliierten untersagten zunächst Publikationen der Vertriebenen (Kurth 1959: 411 f ).
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Zum pommerschen Pressewesen
Wochenzeitung der Heimatvertriebenen wurde „Die Pommersche Zeitung“, die eine Stettinseite enthielt (sie stellte ihr Erscheinen 2017 ein). Vertrat sie lange die Ermöglichung der Rückkehr der Deutschen auf Grundlage der Grenzen von 1937, waren die späteren Schwerpunkte eher Erinnerungen der Erlebnisgeneration, deutsch-polnische Zusammenarbeit in kulturgeschichtlichen Fragen und die Entwicklung Vorpommerns. 1950 – 1978 erschienen die „Stettiner Nachrichten“ (Göttingen) mit mehreren Beilagen (Chmielewski/Hagelweide 1982: 104), mit dem Schwerpunkt Personenstandsmitteilungen und Lokalgeschichte. Ort
Ersterscheinung
Ort
Ersterscheinung
Ahlbeck
1912
Greifenhagen
1836
Altdamm
1876
Greifswald
(1742)
Anklam
1829
Grimmen
1845
Bahn
1885
Gülzow
1903
Barth
1848
Gützkow
1926
Bärwalde
1903
Jakobshagen
1909
Belgard
1848
Jarmen
1857
Bergen auf Rügen
1859
Kallies
1873?
Bublitz
1866
Kolberg
1825
Bütow
1848
Körlin
1848
Cammin
1845
Köslin
1816
Daber
1881
Labes
1845
Damgarten
1911
Lassan
1907
Demmin
1832
Lauenburg
1841
Dievenow
(1866)
Löcknitz
1902
Dramburg
1844
Loitz
1883
Ducherow
(1864)
Massow
1890
Eldena
(1847)
Misdroy
1859?
Falkenburg
1884
Naugard
1847
Fiddichow
1841
Neustettin
1848
Finkenwalde
1903
Neuwarp
1907
Franzburg
(1843)
Nörenberg
1909
Freienwalde
1909
Pasewalk
1832
Gartz an der Oder
1848
Penkun
1908
Garz auf Rügen
1907
Plathe
1894
Gollnow
1820
Podejuch
1906
Grabow
1881
Pölitz
1878
Greifenberg
1851
Pollnow
1892
58
Historischer Teil
Ort
Ersterscheinung
Ort
Ersterscheinung
Polzin
1871?
Stralsund
1687
Putbus
1848
Swinemünde
1845
Pyritz
1852
Tempelburg
1896
Ratzebuhr
1889
Torgelow
1848
Regenwalde
1846
Treptow/Rega
1820
Rügenwalde
1849
Treptow/Tollense
1848
Rummelsburg
1866?
Tribsees
1850
Saßnitz
1890?
Ueckermünde
1848
Schivelbein
1855
Usedom
1860
Schlawe
1843
Wangerin
1895?
Stargard
(1771)
Wolgast
1841
Stepenitz
–
Wollin
1858
Stettin
1632
Zinnowitz
1889
Stolp
1825
Züllchow
1856
Tab. 2: Ersterscheinungen von Zeitungen in pommerschen Städten nach Wehrmann (1936). In Klammern Zeitschriften oder Amtsblätter, Fragezeichen bei Unsicherheit. Die Lebensdauer war bei vielen Titeln sehr kurz.
Eine zeitgenössische materialreiche Momentaufnahme stellt Janckes Heidelberger Dissertation dar (1921). Er weist insbesondere darauf hin, dass wegen der Nähe und Ausstrahlung Berlins dieses bei der Beurteilung besonders der Stettiner Zeitungslandschaft zu berücksichtigen ist (32 f ). Gelesen wurden in Pommern entsprechend „Vossische Zeitung“, „Berliner Lokalanzeiger“, „Tägliche Rundschau“ und „Vorwärts“ (Jancke 1921: 33). Die Auflagen der Provinzzeitungen waren eher klein. Bake setzt nur fünf Titel mit mehr als 10.000 Stück an (1928: 54). Nach Jancke (1921: 36) betrug die Gesamtauflage seinerzeit 446.400 Exemplare, sodass auf vier Einwohner ein Exemplar kam. Politisch standen die meisten Zeitungen rechts (Myk 1997a). Der „General-Anzeiger“ war seit der Kaiserzeit konservativ-nationalistisch, antisemitisch die „Tagespost“. Selbst die einst liberaldemokratische „Ostsee-Zeitung“, während der Weimarer Republik der DVP zugeneigt, hatte ihren weltbürgerlichen Ansatz 6 aufgegeben. Die kommunistische „Volkswacht“ war marginal, die bolschewistische Agitation fand außerhalb Stettins so gut wie keinen Widerhall. Dies galt zunächst auch für die NS -Versuche, publizistisch Fuß zu fassen. NSDAP -Zeitungen erschienen bis auf Greifswald (1925 – 26) erst ab 1929, in größerem R ahmen ab 1932 („Pommersche Zeitung“, „die in der äußeren Aufmachung 6 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts, zunächst als „Börsen-Nachrichten der Ostsee“, war die Zeitung eine wichtige liberale Zeitung, die auch über Stettin hinaus wahrgenommen wurde (Bader 2011).
Zum pommerschen Pressewesen
59
Abb. 4: Die größten pommerschen Zeitungen in Tausend nach Jancke 1921 (41). Er hat Zeitungskataloge konsultiert oder die Daten erfragt, weshalb Unsicherheiten bleiben. Myk (1997a) nennt höhere Zahlen für den „Volksboten“ in der Weimarer Republik (35.000), allerdings ohne Jahresangabe. Danker/Oddey/Roth/Schwabe (2003: 90) geben für den Stettiner „Volksboten“ für 1931, also mitten in der Krise, 8.000 Exemplare an. Quelle: Darstellung des Autors.
der konservativen Presse, insbesondere der ,Pommerschen Tagespost‘, ähnelte“, Inachin 2003: 15), wobei die Leserzahlen nach oben verzerrt wurden und nicht feststellbar sind (vgl. Stein 1987: 209, 150 – 159). Allerdings besorgten die Blätter der Mitte die Agenda der Nationalsozialisten gleich mit: Im Wahlkampf 1932 wurde Hitler als „Mann der Stunde“ (Bader 2007c) präsentiert. Man hoffte auf Verbürgerlichung der Bewegung – die sich als undankbar erwies und die bürgerlichen Zeitungen im Laufe der 1930er Jahre bis auf den „General-Anzeiger“ schloss (die reaktionäre „Pommersche Tagespost“ etwa wurde 1935 verboten, weil sie „für Gott, König und Vaterland gekämpft“ habe, Görlitz 1961: 68). Der sozialdemokratische „Volksbote“, von rechts und links angegriffen, war insofern nur zwangsweise vorangegangen. 1928 wertete der Stettiner „Volksbote“ (Nr. 60, 10. 3. 1928: 1 f.) den Zeitungskatalog von Rudolf Mosse für Pommern aus. Er kam auf 17 deutschnationale Blätter, zwölf nannten sich national, jeweils eine vaterländisch, nationalliberal, reichsfreundlich und rechtsstehend. Als parteilos bezeichneten sich 30 Titel. Der „Volksbote“ kommentierte: „Eine ganze Reihe Zeitungen, die extrem deutschnational, führen sich als parteilos auf. Wir bezeichnen ein derartiges Vorgehen als unfair und unschön“ (Volksbote Nr. 60, 10. 3. 1928: 1). Fulda (2009: 130) fasst die Wirkung so zusammen: „Reading their provincial newspapers, there was little that Germans in this period would find to bolster their trust in parliamentary democracy.“
60
Historischer Teil
Von der in der Weimarer Zeit erfolgreichsten pommerschen Zeitung, dem „GeneralAnzeiger“, liegen Jubiläumsausgaben von 1923 und 1935 (bezogen auf die mit ihm „vereinigte“ „Ostsee-Zeitung“) vor. Der „General-Anzeiger“ (mehrheitlich gehörte er ab 1925 zum Verlag Huck) sah sich so: Von jeher haben wir den Vorgängen in Stadt und Provinz, dem Fortschritt auf materiellen und wissenschaftlichen Gebieten das regste Interesse zugewandt; bemüht, in ehrlicher Unparteilichkeit zu berichten, ohne uns auf ein formelles Bekenntnis, sei es nun in politischem, gesellschaftlichem oder konfessionellem Sinne, einzustellen. (General-Anzeiger für Stettin und die Provinz Pommern, Jubiläumsausgabe, Nr. 217, 18. 9. 1923: 1)
Im selben Artikel wird wehmütig an Bismarck erinnert und die Kriegsschuld zurückgewiesen. Die Jubiläumsausgabe 1935 bezog sich auf die 1835 von Adolf Altvater gegründeten „Börsen-Nachrichten der Ostsee“, ab 1848 „Ostsee-Zeitung“, für die kurzzeitig der Zeitungswissenschaftler Emil Dovifat tätig gewesen war. 1922 hatte die Deutsche Volkspartei das Blatt übernommen, 1928 wurde es mit der 1902 von August Huck gegründeten „Stettiner Abendpost“ vereinigt. Diese wurde 1934 auf Druck der NSDAP dem „GeneralAnzeiger“ zugeschlagen. Zum (inhaltlich nicht zutreffenden) Jubiläum einer einst wichtigen liberalen Zeitung hieß es zunächst zwar: „Vielfach ist mir in den letzten Wochen vorgehalten worden, es sei doch klug, an diesen Geist einer Vorgängerin nicht mehr zu erinnern.“ Aber der Weg von der angeblichen Parteilosigkeit hin zum Nationalsozialismus war so lang nicht: Der deutsche Schriftleiter ist durch ein besonderes Gesetz von allen fremden Einflüssen befreit, er ist nur seinem Gewissen und der Gemeinschaft verantwortlich, der er dienen darf. So gestalten auch wir aus der Zeit die Zeitung. Wir gestalten als freie Persönlichkeiten und als Kämpfer für die große deutsche Idee, der Adolf Hitler Leben und Gestalt gab. (Sonderbeilage des „Stettiner General-Anzeiger“, zum 100-jährigen Bestehen der mit ihm verbundenen Ostsee-Zeitung, 15. 6. 1935: 1)
II.4 Arbeiterschaft im Deutschen Reich Im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurde ein wachsender Teil der Beschäftigung Lohnarbeit „als unselbständige Arbeit in Abhängigkeit vom Markt und seinen Mechanismen, zugleich aber in Abhängigkeit von Kapitalbesitzern“ (Kocka 1983: 69). Nach Marx ist Arbeit „eine Ware, die ihr Besitzer, der Lohnarbeiter, an das Kapital verkauft. Warum verkauft er sie? Um zu leben“ (Marx 2004 [1849]: 2.694). Arbeitsort des Arbeiters ist die Fabrik in wachsenden Städten, von Marx behauptete Folge die „Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung“ (Marx 2004 [1844]: 657).
Arbeiterschaft im Deutschen Reich
61
Diese kritische Sicht auf moderne Arbeitsverhältnisse hat die entstehende Arbeiterbewegung geprägt, aber nie alle Arbeiter 7 (in Pommern besonders die Landarbeiter) erreicht: Daß es zur Ausbildung einer neuen ökonomisch-sozialen Klasse gekommen war, wird vor allem durch die Tatsache der Entstehung einer eigenen Arbeiterkultur belegt. Die kollektive Identität der Arbeiterklasse wurde durch diese Gemeinsamkeit der Lebensweise, der Anschauungen und Werthaltungen sowie auch durch die Arbeiterbewegung repräsentiert; sie war jedoch nicht ident mit dem Klassenbewußtsein im Marxschen Sinne. (Mikl-Horke 1997: 38)
Die Lebensbedingungen der Arbeiter waren hart. Oft handelte es sich um eintönige, streng reglementierte Arbeit, die nur eine einseitige Ernährung gestattete, dazu bei miserabler Wohnsituation (Schildt 1996: 11). Privat lebten die städtischen Arbeiter mit (oft auch arbeitenden) Frauen und Kindern, häufig kamen Schlafburschen hinzu, die aus Raummangel in der Proletarierfamilie unterkamen (Kuhn 2004: 71). Über die Hälfte des Einkommens musste für Grundnahrungsmittel ausgegeben werden (Gestrich 1999: 17). Zu bescheidenem Wohlstand gelangt, ahmten Arbeiter den bürgerlichen Standard nach (Kuhn 2004: 70). Proletarische Jugendliche waren während der Weimarer Republik zu über 40 Prozent in Vereinen organisiert, darunter in Sportvereinen und Jugendorganisationen der Arbeiterbewegung (Gestrich 1999: 46). Versuche, sich zu organisieren, um gegen die schlechten Lebensbedingungen zu rebellieren, gab es schon vor und während der Märzrevolution. Von den Liberalen, die der sozialen Frage auswichen, fühlten sich die Arbeiter danach nicht mehr repräsentiert. 1863 gründete sich der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“ unter Ferdinand Lassalle, 1869 die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Beide vereinigten sich 1875 zur „Sozialis tischen Arbeiterpartei Deutschlands“, die vergesellschaftetes Eigentum und demokratischen Staat forderte (Schildt 1996: 15 f ). Diese Partei hieß ab 1891 Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Von außen wirkte die Arbeiterbewegung bis 1914 „wie eine unerschütterliche Bastion“ (Wehler 2003: 310). Kocka (2015: 421) attestiert der Sozialdemokratie die „Fähigkeit zum Spagat zwischen partikularer Interessenvertretung und Dienst am Allgemeinwohl“. Er (2015: 263) weist dabei auf eine gewisse Spannung z wischen Arbeiterkultur und Arbeiterbewegungskultur hin. Diese war in jener fest verankert, wirkte aber „gleichwohl erziehend, disziplinierend und zukunftsorientiert gegen bestimmte Traditionen der Arbeiterkultur“, z. B. in der Alkoholfrage (die Kneipe als Rückzugsort der Männer wirkte auch gemeinschaftsstiftend, Kocka 2015: 308). Es stand die Politisierung oft im Gegensatz zur Herkunftsfamilie, weil diese meist auf Gehorsam, Ordnung, Anschluss an die Arbeitswelt und religiöse Werte drängte (Kocka 2015: 272). Arbeiterkinder besuchten die
7 Gewerkschaftlich entschieden sich viele Arbeiter für bürgerlich-liberale oder katholische Vereinigungen, Schildt 1996: 19. Welskopp (2005: 25) sieht die entstehende Sozialdemokratie als „Produkt einer Kompensation der Unfähigkeit zahlreicher Arbeitermilieus, autonom Gewerkschaften ,von unten‘ zu organisieren.“
62
Historischer Teil
schlecht ausgestatteten Volksschulen, mit der die Bildung schloss, „der Übergang von der einen zur anderen Welt war in der Regel nicht vorgesehen“ (Kocka 2015: 280). Kocka zufolge (2015: 290) las „bei Weitem nicht jeder dritte Arbeiter“, während Bildung von den Aktiven der Arbeiterbewegung wie im Bürgertum „als Selbstzweck wie Mittel der Emanzipation“ angesehen wurde. Zur „Mediennutzung der Unterschichten im deutschen Kaiserreich“ schreibt Frey (2016: 267 f.) anhand einer Analyse der Sekundärliteratur, dass Medien auch konsumiert wurden, um Anstrengung und Ereignislosigkeit des Alltags zu kompensieren und „QuasiErfahrungen“ zu machen. Hier spielte auch das entstehende Kino eine Rolle: Um 1900 kam in Pommern der Stummfilm zum Medienangebot hinzu. Die Siegener Wander kino-Datenbank nennt Wanderkino-Standorte in Stralsund, Stettin, Anklam, Swinemünde, Greifswald, Kolberg, Stargard, Pyritz, Wolgast, Treptow an der Rega, Köslin, Lauenburg, Stolp, Demmin und Tribsees, also praktisch der gesamten Provinz.8 Insgesamt sei aber von einer geringen „Habitualisierung der Mediennutzung auszugehen“, vor allem wegen des geringen Zeitbudgets und der Fremdbestimmung (Frey 2016: 285). Sozialdemokratische Produkte hatten es besonders in den kleineren Städten und Dörfern schwer. Neben der intellektuellen Überforderung waren die Arbeiter zu erschöpft vom langen Arbeitstag für theoretische Lektüre (Langewiesche/Schönhoven 1976: 135), die (städtische) Lieblingsbeschäftigung in der Freizeit war das Spazierengehen (137), die sozialistische Literatur konkurrierte mit Schauerromanen, Gruselgeschichten und Rittertraktaten (142) – doch die „Anschaulichkeit des Alltags“ prägte „das Bewußtsein des Arbeiters auch ohne das Studium sozialistischer Werke“ (Langewiesche/Schönhoven 1976: 199). Arbeiterkultur als Subkultur „verstand sich als Gegenwelt gegen die Bürgerwelt“, pflegte aber ein bürgerliches Erbe, „in Musik (Singen), Th eater, Literatur, Wissen schaftspopularisierung und Unterhaltung“; Arbeiter „übernahmen, gerade über die Kultur, bürgerliche Normen: Ordnung und Stabilität, Autorität und Disziplin, die Idee auch der kulturbestimmten Respektabilität“ und einen „verborgenen Zug der Nationalisierung“ (Nipperdey 1998b: 314 f ). Nach 1918 führte die „Erosionskraft der neuen Freizeitgestaltung“ durch Kino, Hörfunk, Massensport und Massenverkehrsmittel (für Ausflüge) zu einem „Verfall der sozialdemokratischen Kulturinstitutionen“, verschärft durch die kommunistische Konkurrenz (Wehler 2003: 317). Den guten Jahren der Weimarer Republik folgte der jähe Absturz durch die Weltwirtschaftskrise, die die Arbeiterschaft „auf ein Proletarisierungsniveau hinabstieß, das zuletzt auf dem Tiefpunkt der vormärzlichen Pauperisierungskrise ungleich weniger Menschen zugemutet worden war“, die Arbeitslosigkeit wurde „zur prägenden Grund erfahrung“ (Wehler 2003: 322).
8 Die Datenbank entstand innerhalb des Projekts „Industrialisierung der Wahrnehmung“ im Forschungskolleg „Medienumbrüche“ an der Universität Siegen. (http://fk615.221b.de/siegen/ wk/show/index.php?language=de, 7. 8. 2020).
Sozialdemokratische Programmatik
63
II.5 Sozialdemokratische Programmatik Es ist Verdienst wie Angriffspunkt der SPD , auf die Herausforderungen einer dynamischen Welt flexibel zu reagieren und einen mittleren Kurs zu verfolgen. Dies wertegebunden, auf gesetzlicher Grundlage und unter Berücksichtigung auch der Bürger, deren Kerninteressen eine Arbeit(-nehm-)erpartei nicht vorrangig vertreten kann. Darum kann die SPD von z. B. 1900 nicht mit der von 1950 oder 2000 gleichgesetzt werden. Es bedarf schon solider ideologischer Verhärtung, um über Jahrhunderte dieselbe Programmatik und Bedeutungskonstanz politischer Begriffe zu verlangen. Es wäre daher verfehlt, von Sozialdemokratie als Ideologie zu sprechen, auch nicht als Hilfsmittel zur Durchsetzung einer politischen Th eorie (des Sozialismus). Mit dem Realitätsschock 1914 musste sich die Arbeiterbewegung von früher Teleologie verabschieden, wo sie es nicht tat, scheiterte sie. Das derzeit gültige „Hamburger Programm“ von 2007, bei dessen Entstehung darum gerungen wurde, ob man am Begriff des Sozialismus festhalten sollte, fand daher eine Kompromissformel, die sich nicht um Definitionen drückt, sondern Offenheit von Gesellschaft ohne statischen Zielpunkt verteidigt: „Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe ist. Das Prinzip unseres Handelns ist die soziale Demokratie.“ Programmatisch war dafür die Abkehr vom orthodoxen Marxismus notwendig („Godesberger Programm“ 1959), die in der politischen Praxis längst üblich geworden war. Der Pauperismus der Industrialisierung verlangte anderes als z. B. die gesellschaftliche Modernisierung der Bundesrepublik. Radikalere „Lösungen“ haben in den Totalitarismus geführt, der zwar die reine Lehre bewahren mag, aber seine (teils vermeintlichen) Gegner liquidiert. Politische Arbeit bedeutet das Aushandeln von akzeptablen Kompromissen. Nicht von ungefähr stammt stilistisch treffende, teils beißende Kritik von jenen, die sich von Mandaten usw. fernhalten. „Wat brauchst du Jrundsätze“, sacht er, „wenn dun Apparat hast!“ Und da hat der Mann janz recht. Ick werde wahrscheinlich diese Pachtei wähln – es is so ein beruhjendes Jefiehl. Man tut wat for de Revolutzjon, aber man weeß janz jenau: mit diese Pachtei kommt se nich. Und das is sehr wichtig fier einen selbständjen Jemieseladen! (Tucholsky 1989 [1930]: 214)
Schon 1911 hatte Robert Michels diagnostiziert: „Die Demokratie führt zu Oligarchie, ja, besteht in einer Oligarchie“(Michels 1911: VIII ). Michels arbeitete am Beispiel der Sozialdemokratie aus, dass sowohl während des Klassenkampfes als auch danach ein Gegensatz von Führern und Geführten besteht: „Die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden“ (Michels 1911: 384). Er beklagte zugleich „neben einem bisweilen übertrieben scharfen Pessimismus in der Beurteilung der Gegenwart einen übertrieben rosigen Optimismus in der Zuversicht auf die Zukunft“ (386). Im Vergleich von
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Historischer Teil
rogrammen und Realpolitik mag dieses harte Urteil über die SPD zutreffen; angesichts P der Startbedingungen, als die deutsche Sozialdemokratie Regierungsverantwortung für das gesamte deutsche Volk übernehmen musste, ist es ungerecht. Angegriffen von links und rechts war der ausgleichende Kurs der Partei ein Kompromiss – für den es selten Lob gibt, vor allem, wenn man Kaiserreich und Weimar von deren Enden her denkt, was die Zeitgenossen nicht vermochten. Übersehen wird dabei, dass sich langfristige Ziele und davon abweichende kurzfristige Forderungen bereits in den frühen Parteiprogrammen finden. Dies ermöglichte einerseits innere Geschlossenheit auf sozialistischer/marxistischer Grundlage, andererseits Wählbarkeit über den engeren Adressatenkreis hinaus. Die Parteilinke sah die Entwicklung in der Weimarer Republik kritisch, was Klenke (1987: 642 f.) so zusammenfasst: „Die SPD drohte zu einem ,zentralisierten Wahlverein‘ zu verkommen; Endziel und Tagespolitik rückten in den Köpfen der Parlamentarier immer weiter auseinander.“ Untere und mittlere Funktionäre waren überlastet und konnten sich kaum informieren und weiterbilden (Klenke 1987: 648). Doch schon das „Eisenacher Programm“ von 1869 (abgedruckt bei Dowe/Klotzbach 1984: 173 – 178) proklamiert den Grundsatz der Abschaffung des Lohnsystems, stellt aber als Forderungen heute teils – durch Sozialdemokraten – erreichte Punkte auf. Hier kündigt sich der nach Kurt Schumachers Tod 1952 vollzogene Schritt zur Volkspartei 9 an, was Marx in seiner Kritik des „Gothaer Programms“ (dieses 1875) befürchtete: Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats. Das Programm nun hat es weder mit letzterer zu tun, noch mit dem zukünf tigen Staatswesen der kommunistischen Gesellschaft. Seine politischen Forderungen enthalten nichts, außer der aller Welt bekannten demokratischen Litanei: allgemeines Wahlrecht, direkte Gesetzgebung, Volksrecht, Volkswehr etc. (Marx 2004 [1875]: 13.196)
Angesichts der bolschewistischen Diktatur, die unter Berufung auf Marx von Russland aus ab 1917 geschaffen wurde, war das Maßvolle und darum Angefeindete der deutschen Sozialdemokratie berechtigt. Insofern treffen die Vorwürfe, 1914, 1919 und 1933 versagt zu haben, nur zu, wenn man die kommunistische Alternative teilt. Die deutsche idealistische bzw. romantische Tradition hat wenig Sinn für begrenzte Handlungsoptionen. Im Schlussabsatz des „Erfurter Programms“ (1891, abgedruckt bei Dowe/Klotzbach 1984: 189 f.) spricht die SPD nicht von neuen Klassenprivilegien, sondern fordert „gleiche Rechte und g leiche Pflichten aller ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung“. Ausdrücklich wird Unterdrückung auch einer Klasse abgelehnt. Womöglich war es diese Humanität, die 9 Es ist Klenke (1987: 971) zuzustimmen, wonach es unzulässig ist, wenn man „der Weimarer Republik projektiv Funktionsweise und Ideologie des bundesdeutschen ,Volkspartei‘-Parlamentarismus überstülpt“.
Sozialdemokratische Programmatik
65
das Agieren im „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm 1995) so vergeblich erscheinen lässt – allerdings profitiert die europäische Nachkriegsgeschichte bis heute davon. Walter (2011a: 25 – 27) nennt Erfurt denn auch ein „gespaltenes Programm“ mit „doppelte[r] S eelenlage“ von Reformalltag und Utopie. Dem „Görlitzer Programm“ von 1921 war nur eine kurze Dauer beschieden. Darin wurden die Erfurter Bekenntnisse gemildert. Hier wird die demokratische Republik als „die durch die geschichtliche Entwicklung unwiderruflich gegebene Staatsform“ bezeichnet, die es zu verteidigen gelte (Dowe/Klotzbach 1984: 209). Ökonomisch wird die „Überführung der großen konzentrierten Wirtschaftsbetriebe in die Gemeinwirtschaft“ gefordert (Dowe/Klotzbach 1984: 209). Auch die Revision des Versailler Vertrages wird angestrebt (Dowe/Klotzbach 1984: 213). Das „Heidelberger Programm“ von 1925 war in seinen Forderungen wieder weitreichender, auch wegen der Wiedervereinigung mit der USPD, hier finden sich Forderungen nach einer „Einheitsrepublik auf Grundlage der dezentralisierten Selbstverwaltung“ (Dowe/Klotzbach 1984: 219) und Vergemeinschaftung von „Grund und Boden, Bodenschätze[n] und natürliche[n] Kraftquellen“ (Dowe/ Klotzbach 1984: 223). Allerdings: Sozialdemokratische Gegenwärtigkeit im politischen Alltag und sozialdemokratische Trans zendenz in den theoretischen Schriften waren ein ganzes Jahrhundert lang nicht miteinander verschränkt und befruchteten einander kaum. Eher war es so, dass die sozialdemokratische Langzeitvision der große Trostspender war für die Tristesse der täglichen Mühsal. Die Rhetorik von der sozialdemokratischen Zukunftsgesellschaft war oft genug die Legitimationsformel, um sich aus den Schwierigkeiten und den Härten des politischen Diesseits herauszuwinden, war die Entlastungsrede für sozialdemokratische Ängstlichkeit vor der Macht. (Walter 2013: 7)
Im 19. Jahrhundert wurden Sozialismus (Socialismus) und Kommunismus (Communismus) synonym verwendet. Erst mit dem leninschen Staatsstreich von 1917 („Oktober revolution“) begann die sprachliche und inhaltliche Differenzierung. Kommunisten bauten nach ihrem Selbstverständnis den Sozialismus als Übergang zum Kommunismus auf, westliche Sozialisten lösten sich zusehends vom marxistischen Geschichts- und Zukunftsbild. In der DDR hieß die Staatspartei sozialistisch, sie war es im alten Sinn, aber „neuen Typs“, d. h. zentralistisch. In der Bundesrepublik wurde die schwache Kommunistische Partei 1956 verboten (Zulassung der Deutschen Kommunistischen Partei 1968), während sie in Frankreich und Italien bedeutend blieb. Im Untersuchungszeitraum dieser Arbeit spielen die Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung/Sozialdemokratie, insbesondere die Marxexegese und -anwendung eine viel größere Rolle als heute. Massenkonsum und Sozialstaat haben der ideologischen Auseinandersetzung über Gesellschaft die Schärfe genommen. Im „Kommunistischen Manifest“ von 1848, dem seinerzeit randständigen Gründungsdokument der linken Arbeiterbewegung, wird die Verheißung einer klassenlosen Gesellschaft skizziert:
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Historischer Teil
Für die fortgeschrittensten Länder werden jedoch die folgenden ziemlich allgemein in Anwendung kommen können: 1. Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben. 2. Starke Progressivsteuer. 3. Abschaffung des Erbrechts. 4. Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen. 5. Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol. 6. Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staats. 7. Vermehrung der Nationalfabriken, Produktionsinstrumente, Urbarmachung und Verbesserung der Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan. 8. Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau. 9. Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land. 10. Öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder. Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form. Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion usw. […] Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf. An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. (Marx/Engels 2004 [1848]: 2.655)
Der Sozialismus – oder, um die Vielfalt der Ideen von Rousseau über Babeuf 10 zu Marx/Engels und von diesen weg, besser auszudrücken, die Sozialismen – entspringt (entspringen) dem radikalen Zweig der Aufklärung, der wiederum an Humanismus und antike Utopien anschloss. Sozialistische Ideen knüpfen ebenso an absolutistische Formen der Staatsgestaltung an. Auch die frühneuzeitliche politische Entwicklung war eine fortschrittsorientierte. Schon der aufgeklärte Absolutismus behauptete die Perfektibilität der Welt durch Gewaltmaßnahmen der Obrigkeit zum Nutzen nützlicher Untertanen. Es ist der „neue Mensch“, den die Moderne auf verschiedenen Wegen installieren will. „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ – das Wort schwirrt durch die Agitationsreden, -schriften und -versammlungen der „zielbewussten“ Marxisten, als ob seine Verwirklichung gleichbedeutend wäre mit dem ewigen Heil der Menschheit, mit der letzten Glückseligkeit 10 Französischer Revolutionär und Frühsozialist (1760 – 1797).
Grundzüge der sozialdemokratischen Presse im Deutschen Reich
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in allen irdischen Beziehungen. Man hat die von dichterischer Schönheit geweihte Messiaslegende „modernisiert“, man hat sie ihrer künstlerischen Reinheit entkleidet und an Stelle des Messias, des Heilands, der vom Himmel herniedersteigen soll, um die Welt vom Leide zu erlösen, ein wirtschaftliches Nützlichkeitsprinzip als Kreuz und K irche vor den Blick der geknechteten Menschheit gezeichnet. Den Glauben, den Aberglauben in seiner reinen Kindlichkeit hat man durch eine windige Wissenschaftlichkeit ersetzt, und statt des Bekenntnisses zur Hoffnung auf die dereinstige Befreiung durch himmlische Mächte, hat man der jeder Suggestion zugänglichen Masse die falsche Erkenntnis aufoktroyiert, auf Grund der von Karl Marx klüglich konstruierten „materialistischen Geschichtsauffassung“ müsse laut Naturgesetz die Entwicklung der Dinge automatisch zum Heile, d. h. zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel, führen. (Mühsam 1906: 13)
Steinberg (1967) hat die Ideologie der SPD bis 1914 dargestellt. Schon früh neigte sie zum Eklektizismus, mischte Fatalismus („Naturnotwendigkeit der Entwicklung“) und radikales Pathos und wurde vom Darwinismus und Materialismus beeinflusst, wies die Hegelsche Dialektik zurück, wandte sich dann aber praktischen Reformansätzen zu. Steinberg schlussfolgert, dass der „denaturierte Marxismus“ der SPD, als sie Massenpartei wurde, „die Diskrepanz zwischen der sich radikal gebenden Ideologie und der sozial-reformerischen Praxis“ herbeigeführt hat (150).
II.6 Grundzüge der sozialdemokratischen Presse im Deutschen Reich Große Denker erlauben es Epigonen unterschiedlichster Richtungen, sich auf sie zu berufen. So ermöglicht Marx, in – seiner Ansicht nach – Hegels Fußstapfen Ahnherr des Sozialismus, Interpretationen revisionistischer wie leninistischer Linie. Das Werk gibt das her, auch in Fragen der Pressetheorie, die für Verbreitung und Durchsetzung proletarischer Interessen zum wissenschaftlichen Sozialismus nicht weniger als die Ökonomie dazugehört. Da Marx selbst publizistisch tätig war (dazu Koszyk 1971, Herres 2005), sind seine Äußerungen zur Presse auch von praktischer Relevanz. Der junge Marx war Befürworter einer liberalen, idealistischen Vorstellung von Öffentlichkeit: „Ferner: die Wahrheit ist allgemein, sie gehört nicht mir, sie gehört allen, sie hat mich, ich habe sie nicht. Mein Eigentum ist die Form, sie ist meine geistige Individualität“ (Marx 2004 [1843]: 9.777). Sie konnte sich noch auf Kant beziehen: „Um die Preßfreiheit zu bekämpfen, muß man die permanente Unmündigkeit des Menschengeschlechts verteidigen […] Die Presse überhaupt ist eine Verwirklichung der menschlichen Freiheit“ (Marx 2004 [1842a]: 9.861, 9.865). Ferdinand Lassalle forderte eine eigene Presse der Arbeiterschaft, da die bürgerlichen Zeitungen mit hunderttausend Stimmen täglich ihre stupide Unwissenheit, ihre Gewissenlosigkeit, ihren Eunuchenhaß gegen alles Wahre und Große in Politik, Kunst und Wissenschaft dem Volke einhauchen […] Daher kommt es, daß, wer heute mit einer halben Bildung in die
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Historischer Teil
Zeitungsschreiber-Karriere eintritt, in zwei oder drei Jahren auch das wenige noch verlernt hat, was er wußte, sich geistig und sittlich zugrunde gerichtet hat und zu einem blasierten, ernstlosen, an nichts Großes mehr glaubenden, noch erstrebenden und nur auf die Macht der Clique schwörenden Menschen geworden ist. (zit. n. Koszyk 1989: 172 f.)
Auch Friedrich Engels grenzt die Arbeiterpresse scharf von der bürgerlichen ab. Denn der späte Marx hat sich zu Pressefragen kaum noch geäußert, was dann Lenin die kommunistische Variante des Journalismus erheblich erleichterte (Koschwitz 1970). Das teleologische Denken wird schon von Engels nach hinten projiziert, wenn er über den Redakteur Marx schreibt: Die deutschen Arbeiter hatten vor allen Dingen diejenigen Rechte zu erkämpfen, die ihnen zu ihrer selbständigen Organisation als Klassenpartei unumgänglich waren: Freiheit der Presse, der Vereinigung und Versammlung – Rechte, die die Bourgeoisie im Interesse ihrer eigenen Herrschaft hätte erkämpfen müssen, die sie selbst aber in ihrer Angst den Arbeitern jetzt streitig machte. (Engels 2004 [1884]: 13.786)
Pressetheorie wird zur Parteipolitik, verliert ihren Eigenwert zugunsten eines I nstruments des ideologischen Kampfes, der kompromisslos sein soll (und also nicht mehr sozialdemo kratisch): Und dennoch muß so oder so die Sache angegriffen werden. Wie nötig das ist, beweist grade jetzt der in einem großen Teil der sozialdemokratischen Presse einreißende Opportunismus. Aus Furcht vor einer Erneuerung des Sozialistengesetzes, aus der Erinnerung an allerlei unter der Herrschaft jenes Gesetzes gefallenen voreiligen Äußerungen soll jetzt auf einmal der gegenwärtige gesetzliche Zustand in Deutschland der Partei genügen können, alle ihre Forderungen auf friedlichem Weg durchzuführen. Man redet sich und der Partei vor, „die heutige Gesellschaft wachse in den Sozialismus hinein“, ohne sich zu fragen, ob sie nicht damit ebenso notwendig aus ihrer alten Gesellschaftsverfassung hinauswachse und diese alte Hülle ebenso gewaltsam sprengen müsse wie der Krebs die seine, als ob sie in Deutschland nicht außerdem die Fesseln der noch halb absolutistischen und obendrein namenlos verworrenen politischen Ordnung zu sprengen habe. (Engels 2004 [1901/1891]: 13.475)
Ab 1864 erschien der „Social-Demokrat“ als einziges Parteiorgan des ADAV , das aber Zuschüsse des Vereins benötigte (Danker/Oddey/Roth/Schwabe 2003: 11). Die SDAP hatte als Organ das „Demokratische Wochenblatt“, das ab 1869 als „Der Volksstaat“ erschien; anders als die Lassalleaner erlaubten die Eisenacher lokale Parteizeitungen, die auf Beiträge und Spenden angewiesen waren (Danker/Oddey/Roth/Schwabe 2003: 13). Zentralorgan der SPD und zugleich Berliner Lokalblatt wurde nach der Vereinigung der „Vorwärts“ (ab 1876, Danker/Oddey/Roth/Schwabe 2003: 13).
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Die sozialdemokratische Pressepraxis wich vom freiheitlichen, unabhängigen Modell ab, wie besonders mehrere Beiträge Kurt Koszyks aufzeigen, die nach wie vor maßgeblich sind. Koszyks Kritik an den sozialdemokratischen Zeitungen ist durchaus hart: Der Widerspruch zwischen der auf die bürgerliche Kultur fixierten Th eorie und der Pressepraxis führte zu einem folgenreichen Dilemma, denn den Inhalt der Parteipresse bestimmte die parteioffizielle Linie, so daß von den Zeitungen im allgemeinen nur Parteimitglieder angesprochen wurden (…) Die Arbeiterzeitungen bemühen sich nicht darum, den Leser zu motivieren, sondern ihn zum Objekt einseitiger Ideologisierung zu machen, ohne zu bedenken, daß die Arbeitermassen ihr Bewußtsein aus den sogenannten Schulen der Nation bezogen. (Koszyk 1980: 4 f.)
Koszyk stellt weiterhin Rekrutierung, Qualifikation, professionellen Standard und theoriegeprägte Praxis der Journalisten von SPD-Zeitungen infrage (Koszyk 1980: 5). Dies führte zum „parteioffiziellen Verlautbarungsjournalismus“, „Meinungsbildung überwog gegenüber Information und Unterhaltung, die der lesenden Arbeiterschaft in hohem Maße von den bürgerlichen Zeitungen, insbesondere den Generalanzeigern, geliefert wurden“ (Koszyk 1980: 5 – Wolter [1981: 318] sieht in den Generalanzeigern durch die „Popularisierung des redaktionellen Textangebots eine quantitative und qualitative Publizitätssteigerung“). Die Zeitungen waren eng an die Parteiorganisation angebunden und brauchten überwiegend Zuschüsse aus der Parteikasse, auch wegen der Zurückhaltung möglicher Inserenten (Koszyk 1980: 16). Der langjährige Parteiführer August Bebel verfocht die „Unterordnung der Presse unter die Partei“, seine „Pressekonzeption ist das autoritäre Gegenstück zu einer autoritären Gesellschaft“ (Loreck 1977: 256). Die innere Pressefreiheit wurde diskutiert (Löblich/Venema 2020). Das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ verbot „Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken“ (§ 1), Versammlungen zu diesem Zweck (§ 9) und einschlägige Druckschriften (§ 11) (ReichsGesetzblatt 1878: 351 – 358). Während des Sozialistengesetzes (in Kraft 1878 – 1890) verschwanden die lokalen Blätter, Zentralorgan wurde der „Sozialdemokrat“ (Zürich, später London – Ressmann 1991: 59). Zum Ende der Geltungsdauer bestanden dann aber schon wieder 60 sozialdemokratische Blätter mit 254.100 Abonnenten (Fricke 1987 I: 536). Das Sozialistengesetz war eine Reaktion auf Attentate von Anarchisten, mit denen die Sozialdemokratie nichts zu tun hatte. In Politik und bürgerlichen Kreisen war die Angst vor einem Umsturz aber weit verbreitet. So schrieb Meyers Lexikon: Die ganze Agitation war seit 1870 eine entschieden revolutionäre; mit großem Geschick wurden in der Presse die radikalen sozialistischen und politischen Anschauungen der S. [Sozialdemokratie – H. B.] erörtert und in den Arbeiterkreisen der Klassenhaß geschürt und revolutionäre Stimmung gemacht […] Das Gesetz hat nicht die Partei beseitigt, auch nicht
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die Zahl der Stimmen für sozialdemokratische Kandidaten bei den Reichstagswahlen auf die Dauer verringert (1881: 311,961, 1884: 549,990, 1887: 763,128); aber seine strenge Handhabung hatte wenigstens für einige Jahre die in hohem Grade gefährliche und gemeinschädliche Art der Agitation, wie sie früher in der sozialdemokratischen Presse betrieben wurde, verhindert. (Sozialdemokratie 1905)
Den „Vorwärts“ kontrollierte eine Pressekommission, wobei die Parteitage die Berufungsinstanzen waren (Koszyk 1966: 204). Der „Vorwärts“ sollte „Materialquelle für die Provinzpresse“ sein, 1908 wurde ein Pressebüro eingerichtet, das an die lokalen Zeitungen einen täglichen Nachrichtenbrief verschickte (Koszyk 1966: 205). Die seit 1891 eingesetzten Preßkommissionen wurden eine Kontrollinstanz; der Parteidisziplin kam ein hoher Stellenwert zu (Requate 1995: 323). Sperlich (1983: 10) hat festgestellt, dass von den 215 Parlamentariern der Sozialdemokratie im Reichstag 115 zugleich Journalisten waren. Für die Zeitungslandschaft des Kaiserreichs galt: „Presseorgane übernahmen die ,Sprecher-Funktion‘ für politische Akteure“ (Wilke 2009: 45). Koszyk (1953: 156) sah eine Verbürgerlichung der sozialdemokratischen Presse ab 1900. Im Jahre 1900 wurde der „Verein Arbeiterpresse“ 11 gegründet, der die sozialdemokra tischen Journalisten besser absicherte (Unterstützung bei Invalidität, Unterhalt für Witwen und Waisen, Rechtsschutz, Honorarordnung, schriftliche Anstellungsverträge – Koszyk 1989: 175). Ressmann (1991: 78) schätzt den Einfluss der SPD-Zeitungen bis 1914 gering ein, sie war „ein nach innen wirkender Stabilisierungs- und Mobilisierungsfaktor der bereits gewonnenen Anhängerschaft“. An Stelle der Herrschaft des Kapitals setzt die Sozialdemokratie für ihre Presse die der proletarischen Organisation. Die Organisation ist es, die die anfänglichen, stets sehr bescheidenen Geldmittel für ihre Presse aufbringt; die Organisation besorgt den Betrieb, sie schafft die Abonnenten. Der Redakteur des Parteiorgans arbeitet aber nicht mehr unter der unumschränkten Herrschaft eines Kapitalisten, über dem keine Instanz mehr steht. Er arbeitet unter der Kontrolle von Genossen, von Kameraden, die ebenso Vertrauensmänner der Parteiorganisation sind wie er selbst und ebenso wie er ihr unterstehen. (Kautsky 1906: 223)
Selbstkritisch sagte Philipp Scheidemann 1913 in Jena: Manche Parteizeitungen – ich betone ausdrücklich, daß ich nicht verallgemeinern will – sind geradezu nur für die eingeschriebenen Parteimitglieder gemacht; unsere ganze Terminologie, alle die Wendungen, die jedem von uns geläufig sind wie das ABC, sind doch für die 11 Viele sozialdemokratische Redakteure waren schon vor dem Weltkrieg Mitglied im Reichsverband der deutschen Presse, „eine Herausforderung an die Homogenität des sozialdemokratischen Journalismus“ (Kutsch 2014: 267).
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Massen, an die wir herankommen wollen, vielfach unverständlich, die lesen aus den ihnen unbekannten Worten oft etwas ganz anderes heraus, als was gemeint ist. (Protokoll 1913: 226)
Ebenfalls in Jena beklagte der Nürnberger Parteiredakteur die Gleichförmigkeit der Zeitungen: Von den täglich erscheinenden Parteizeitungen sind sich heute 78 ungeheuer ähnlich, es macht gar keinen Unterschied, ob sie im äußersten Nordosten oder im äußersten Nordwesten erscheinen. Es ist genau der gleiche Inhalt, nur durch den Kopf und den lokalen Teil unterscheiden sich viele Parteizeitungen. (Protokoll 1913: 256 f.)
Das „größte Hemmnis“ für die SPD -Zeitungen waren die entstehenden Generalanzeiger, an deren Stil sich die sozialdemokratischen Blätter nicht anpassen wollten (Koszyk 1966: 200)12. Arno Franke schrieb 1914 in der „Neuen Zeit“, dass das „Hineinlesen in den Ideengehalt der sozialdemokratischen Presse Arbeit, vielfach harte, anstrengende Arbeit“ bedeutet, zudem sei der Inhalt schablonenhaft; die Leitartikel seien zu lang; man solle mehr auf Lokales und Unterhaltung setzen (Franke 1914: 22 – 24). Dies stieß in den Betrieben auf Vorbehalte, weil Lokales und Vermischtes als wenig bedeutend angesehen wurden: Auch fanden sich sozialdemokratische Redakteure kaum bereit, ihre Berichterstattung wie in der profitorientierten Konkurrenz zunehmend auf den Sensations- und Zerstreuungsbedarf eines breiteren Publikums einzustellen. Nicht in der Unterhaltung, sondern in der Aufklärung und Mobilisierung der Leserschaft sahen sie – wie ihre sozialdemokratischen Geldgeber auch – Aufgabe und Existenzberechtigung ihres Zeitungstyps. (Danker/Oddey/ Roth/Schwabe 2003: 44)
Der Erste Weltkrieg wurde zur organisatorischen und ökonomischen Zerreißprobe, fast die Hälfte der Abonnenten ging verloren (Danker/Oddey/Roth/Schwabe 2003: 63). Durch die Novemberrevolution änderte sich die politische Lage der Sozialdemokratie erheblich (sie verlor auch Titel an USPD und KPD), ihre Pressepolitik hingegen kaum: Ihre Beibehaltung über 1918 hinaus wird zum Bumerang. Sie hindert schließlich die sozialdemokratische Ideenverbreitung mehr als sie ihr nützt, weil sie nur noch die schwindende Zahl der Sowieso-schon-Überzeugten erreicht und die unabhängigen Sympathisanten zu liberaler gemachten Zeitungen treibt. (Loreck 1977: 257)
Ab 1924 lieferte die „Sozialdemokratische Parlamentsdienst GmbH“ „eine halbfertige Zeitung frei Haus – vom Leitartikel über Reichstagsberichte bis zur Feuilletonnotiz“, was Kosten sparte und die Blätter vereinheitlichte (Danker/Oddey/Roth/Schwabe 2003: 75). 12 Der kurzzeitige „Volksbote“-Redakteur August Winter hatte das gefordert.
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1925 wurde die „Konzentration-AG“ gegründet, die die Wirtschaftsbetriebe der SPD zusammenfasste und fortan Revision, Einkauf und Darlehensvergabe übernahm, 1927 folgte die „Inseraten-Union-GmbH“ (für Sammelanzeigen), 1928 ein Materndienst durch den „Sozialdemokratischen Pressedienst“ (Ressmann 1991: 90 – 95). Ökonomisch expandierte die SPD-Presse in der Weimarer Republik, „aber der politische Spagat der Sozialdemokratie in dieser mit schweren Hypotheken belasteten deutschen Demokratie drückte sich auch als Zielkonflikt in den sozialdemokratischen Medien aus“ (Danker/Oddey/Roth/Schwabe 2003: 6). Die Weltwirtschaftskrise traf auch die SPD-Zeitungen, deren Abonnenten häufig arbeitslos wurden, hart. Von 203 Titeln 1929 blieben 1932 nur 135 übrig, schätzungsweise sank die Abonnentenzahl um ein Viertel (Koszyk 1972: 314). Nach Hitlers Machtantritt und dem Reichstagsbrand wurden sozialdemokratische Zeitungen verboten und bald enteignet; in Prag, später Paris und London erschienen Exiltitel (Danker/Oddey/Roth/Schwabe 2003: 124 – 129). Das Selbstbild des sozialdemokratischen Journalisten war von der politischen Aufgabe bestimmt, was zulasten der Originalität gehen konnte: Die spezifisch journalistische Begabung, der innere Drang zur Zeitung, die den bürgerlichen Journalisten die Bahn weisen, fehlen oder sind doch nicht in solch starkem Maße beim sozialdemokratischen Redakteur vorhanden. […] In seinem Bestreben, alles Schaustellerische zu vermeiden, vernichtet der sozialistische Redakteur selbst die wenigen seelischen Schwingungen, die den Journalisten, die den Mann der Zeitung vom Schriftsteller scheiden. Dies ist mit einer der Gründe, die einen glänzenden Journalisten in der sozialdemokratischen Presse noch immer zur Seltenheit machen. (Kantorowicz 1922: 99)
Dieses Berufsverständnis findet sich – abgesehen von der Parteibindung – in der heutigen universitären Journalistenausbildung wieder. Galt für die Zeitungswissenschaft die Begabung als Voraussetzung für den Journalistenberuf, herrscht heute die Ansicht, das Handwerkszeug lasse „sich erlernen wie jeder andere Beruf auch“ (Hömberg/Klenk 2010: 45). Journalistische und politische Tätigkeit gingen in der Sozialdemokratie Hand in Hand: Redakteur konnte nur werden, wer zur Partei gehörte und sich in der politischen Arbeit bewährt hatte: der Weg vom erlernten Beruf führte über die Organisation in die Redaktion, nicht aber über die Redaktion in die Organisation. (Engelsing 1966: 246 f.)
Die Stellung von Redakteuren, die einen bürgerlichen Horizont hatten, war nicht einfach. Die SPD als Partei des sozialen Aufstiegs sah in d iesem zugleich eine mögliche Gefährdung des Standpunkts: Ohne Talente konnte es keine Literatur, also auch keine sozialdemokratische Presse geben. Aber ein Talent, das in der Partei kein Proletarier, sondern ein Bürger war, erschien der Partei in der Provinz womöglich doppelt furchtbar, weil es ein Talent war. […] Das Mißtrauen
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gegen den intellektuellen Genossen, der eine eigene Kultur besaß und sie auch beanspruchte, ging in der Provinz aber leicht soweit, daß sie unbegabtere Journalisten den begabteren vorzog und zwar deshalb, weil sie in der Begabung den Keim der Unzuverlässigkeit, in der Sturheit ein Unterpfand der Treue erblickte. (Engelsing 1966: 242)
II.6.1 Der presserechtliche Rahmen Die nach der Märzrevolution oktroyierte und 1850 revidierte preußische Verfassung, die bis 1918 galt, hatte in ihrem Teil „Von den Rechten der Preußen“ auch die Pressefreiheit enthalten: Artikel 27. Jeder Preuße hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern. Die Censur darf nicht eingeführt werden; jede andere Beschränkung der Preßfreiheit nur im Wege der Gesetzgebung. Artikel 28. Vergehen, welche durch Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung begangen werden, sind nach den allgemeinen Strafgesetzen zu bestrafen. (zit. n. Daum 2015)
Das „Gesetz über die Presse“ (Reichsgesetzblatt Nr. 16, 1874) regelte das Presserecht im Deutschen Reich. Es stellte in § 1 fest, dass die Freiheit der Presse „nur denjenigen Beschränkungen, w elche durch das gegenwärtige Gesetz vorgeschrieben oder zugelassen“ unterlag. Es enthielt u. a. die Impressumspflicht und die Pflicht zur Angabe eines verantwortlichen Redakteurs (§ 6 und 7). Ein Exemplar jeder periodischen Druckschrift musste an die Polizeibehörde abgeliefert werden (§ 9). § 11 regelte die Berichtigungspflicht. Für strafbare Handlungen haftete der verantwortliche Redakteur (§ 20), es drohte bis zu einem Jahr Gefängnisstrafe (§ 21). Das Reichspressegesetz war ein Fortschritt gegenüber den Regelungen des Vormärz (mit der Vorzensur) oder der Reaktionszeit (mit Kaution und Konzession), erfüllte die liberalen Hoffnungen aber nicht: „Der Staat Bismarcks wollte den Sphären der negativen Kritik entrückt sein, um seine Unantastbarkeit und seine Herrschaftsinteressen zu wahren“ (Wetzel 1982: 133). Für die behördliche Praxis der Kommunikationskontrolle wichtig wurden die Normen des Strafgesetzbuches, so Majestätsbeleidigung, Vergehen gegen Staat, öffentliche Ordnung und Religion sowie Beleidigung. Die Folge des Vorrangs des Strafrechts war: Die „Freiheit der Presse“ (§ 1 RPG) war also nicht – betrachtet man die Wirkung, und von ihr ist auszugehen – in erster Linie dem RPG unterworfen, sondern den Strafgesetzen. Insofern enthält der § 1 RPG eine Verschleierung der wahren Tatsachen, bis er 1878 durch das Sozialistengesetz faktisch sogar aufgehoben wurde. (Wetzel 1982: 135)
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Dieses Sozialistengesetz war vordergründig erfolgreich, denn schon nach einem Jahr „gab es praktisch keine sozialdemokratische Presse in Deutschland mehr“ (Wetzel 1982: 144), rückblickend muss aber von einem „Rückzugsgefecht“ des Staates gesprochen werden, dessen Effekt ein gestörtes „Verhältnis weiter Bevölkerungskreise zum Staat bis weit in das 20. Jahrhundert“ war (Wetzel 1982: 150). Nachdem das Sozialistengesetz nicht verlängert worden war, wandten sich Regierung und Behörden einer positiven Pressepolitik zu, versuchten also, Presseinhalte in ihrem Sinne zu beeinflussen (dazu Hense 1982). Mit Kriegsbeginn 1914 wurde Art. 27 der preußischen Verfassung (s. o.) außer Kraft gesetzt (Schmidt 1982: 185). Die bald eingesetzte Militärzensur richtete sich vor allem gegen linke Blätter, wogegen die SPD im Reichstag vergeblich protestierte (Schmidt 1982: 187). Das Ergebnis der militärischen Inhaltskontrolle war mit zunehmender Kriegsdauer nicht wie gewünscht und erwartet; die OHL ging von einem sehr simplen Medienwirkungsmodell aus, dem die Realität (auch angesichts der hohen Gefallenenzahlen) nicht entsprach: Doch alle Propagandakampagnen, die man noch in der Endphase des Weltkrieges startete, vermochten die Stimmung im Volke nicht mehr entscheidend zu heben. Überfällige Verfassungsreformen und nicht eingehaltene Versprechungen, fälschlich geweckte Hoffnungen auf militärische Erfolge, unrichtige Vorhersagen über den U-Boot-Krieg, Bagatellisierung des Kriegseintritts der USA, katastrophale Versorgungslage und vieles mehr hatten die Bevölkerung inzwischen mißtrauisch und ablehnend gegen jegliche Art behördlicher Stimmungsmache werden lassen. (Schmidt 1982: 199)
Der Rat der Volksbeauftragten hob am 12. November 1918 die Beschränkungen der Pressefreiheit auf (Schmidt 1982: 203). Art. 118 der Reichsverfassung von 1919 bestimmte: Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An d iesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht. (zit. n. Boldt 1987: 512)
Das Reichspressegesetz blieb weiter gültig. Der Reichspräsident konnte nach Art. 48 der Verfassung die Grundrechte, darunter Art. 118, außer Kraft setzen. Die preußische Verfassung von 1920 enthielt keinen eigenen Grundrechtskatalog. Das Republikschutzgesetz von 1922 stellte Beschimpfung und Herabwürdigung der Republik unter Strafe, was über 200 Zeitungsverbote nach sich zog (Peter/Zeppenfeld 1982: 211 f ). Reichskanzler Brüning bzw. Reichspräsident Hindenburg erließen in der Spätphase der Republik Notverordnungen, die die Freiheit der Presse beschränkten, um das öffentliche Leben zu beruhigen (Peter/ Zeppenfeld 1982: 220). Mit der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933 etablierte sich die Diktatur. § 1 setzte die Grundrechte außer Kraft,
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Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungs äußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen zulässig. (zit. n. Boldt 1987: 549)
Dieser Notverordnung fiel auch der Stettiner „Volksbote“ zum Opfer, nachdem bereits die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes“ vom 4. Februar 1933 seine Berichterstattung empfindlich eingeschränkt hatte.
II.6.2 Einzelne SPD-Zeitungen Im Rahmen einer Zeitungsmonographie kann kein Gesamtüberblick über alle sozialdemokratischen Organe gegeben werden. Darum werden hier nur kurz vorliegende Forschungsergebnisse zu einigen Lokalzeitungen vorgestellt.13 Den Namen „Volksbote“ besaß die Stettiner SPD-Zeitung nicht exklusiv, auch andere Blätter der Arbeiterbewegung (darüber hinaus auch bürgerliche Titel) trugen einen „Volksboten“ im Kopf (z. B. „Volkszeitung“ und „Volkswacht“ waren ebenfalls mehrfach vergeben). Erscheinungsort Titel
Zeitraum
Berlin
Berliner Volksbote
1925 – 1926
Darmstadt
Volksbote für die Bergstraße und den Odenwald
1911 – 1933
Dortmund
Volksbote für Rheinland und Westfalen
1878; 1886 – 1888
Dresden
Dresdner Volksbote
1871 – 1877
Bemerkungen (zu Hessischer Volksfreund)
Eisenach
Thüringer Volksbote
1873
Emden
Volksbote (für Ostfriesland und Papenburg)
1926 – 1933
Lübeck
Lübecker Volksbote
1894 – 1933
Digitalisiert (FES)
Oppeln
Oberschlesischer Volksbote
1924 – 1931
(zu Volkswacht, Breslau, ab 1929 Volksblatt, Hindenburg [Zabrze])
(1925 – 1926 Leer)
13 Wünschenswert wären ein reichsweiter Vergleich zur Lokalberichterstattung in den SPD-Zeitungen sowie eine Untersuchung dazu, inwieweit zentral bereitgestellte Artikel übernommen und bearbeitet wurden.
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Historischer Teil Sondershausen
Volksbote für Nordthüringen
1928 – 1930
Stettin
(Stettiner) Volksbote
1885 – 1933
Wiesbaden
Volksbote
1907 – 1912
Zeitz
Volksbote
1890 – 1896; 1910 – 1933
Tab. 3: Sozialdemokratische Zeitungen mit dem Namen „Volksbote“. Quelle: Darstellung des Autors nach Koszyk/Eisfeld 1980.
Unter diesen hat der „Lübecker Volksbote“ besondere Bedeutung erlangt. Prägend war der langjährige Chefredakteur Julius Leber 14. Lübeck war (bis 1937, als es Preußen zugeschlagen wurde) Gliedstaat des Deutschen Reiches, der „Lübecker Volksbote“ war 1933 eine der letzten sozialdemokratischen Zeitungen, die noch erscheinen konnten, bevor es im Mai zur „Gleichschaltung“ kam. In der Weimarer Republik wehrte man sich lange gegen Anzeigen und war auch parteikritisch, es mangelte aber an Lokalem und Vermischtem; Parteivorstand und „Konzentration“ griffen ein, um das Blatt zu modernisieren; Willy Brandt schrieb als Schüler für den „Lübecker Volksboten“ (Oddey 2004). Im westlichen Nachbarland Pommerns, Mecklenburg, wurde 1876 in Rostock der „Mecklenburgische Arbeiter-Freund“ gegründet, der bis zum Sozialistengesetz bestand (und auch in Pommern gelesen wurde); 1892 – 1933 erschien in Rostock die „Mecklenburgische Volks-Zeitung“, lange das einzige sozialdemokratische Blatt in Mecklenburg (Bernhard 1989: 98 – 100). Die SPD, die in Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz gute Wahlergebnisse erzielte, konnte ab 1918 einige Reformen voranbringen, „die tiefen sozialen Gegensätze konnten jedoch nicht beseitigt werden“ (Schwabe 1995: 746). Die Gründung der „Mecklenburgischen Volkszeitung“ geschah durch einen Buchdruckerstreik: Entlassene Schriftsetzer gründeten einen eigenen Betrieb, der sich wegen Auftragsmangels an die Partei wandte. Die Lübecker Genossen sprachen sich gegen die Gründung aus, weil sie Nachteile für die „Nordwacht“ (Bant-Wilhelmshaven, 1894 aufgegangen im „Lübecker Volksboten“) befürchteten. Bereits 1895 hatte die MVZ über 3.000 Abonnenten (Müller/ Mrotzek/Köllner 2002: 58). Inhaltlich kämpfte die „Mecklenburgische Volks-Zeitung“ vor dem E rsten Weltkrieg gegen die rückständige Verfassung und widmete der Agrarfrage viel Raum. Eine Journalistik-Diplomarbeit aus der DDR (Peters 1986) sieht in dem Blatt zunächst zu viel Toleranz gegenüber dem Revisionismus und Opportunismus, sie selbst sei schließlich zentristisch geworden (Peters 1986: 87).15 14 1891 im Elsass geboren, Kriegsfreiwilliger 1914, 1920 stellte er sich im hinterpommerschen Belgard mit seiner Einheit auf die Seite der Republik, 1924 – 1933 Mitglied des Reichstags, 1933 – 1937 Gefängnis und KZ , wegen seiner Aktivitäten im Widerstand 1945 hingerichtet (Deutsche Biographische Enzyklopädie 2001, Bd. 6: 279). 15 Die Leipziger Diplomarbeiten der Sektion Journalistik sind in einem Gesamtverzeichnis nachgewiesen, aber teilweise heute (im Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft, Bibliothekarischer Handapparat) nicht mehr im Bestand. Die Arbeiten zur Pressegeschichte
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Der östliche Nachbar Pommerns war die preußische Provinz Westpreußen, die bis 1772 und ab 1919 zu Polen gehörte (mit Grenzkorrekturen östlich der Weichsel zugunsten Ostpreußens). Publizistisch war vor allem Danzig von Bedeutung (bis 1793 polnisch, ab 1919 Freie Stadt). Hier bestand seit 1910 die „Volkswacht“, ab 1919 „Danziger Volksstimme“, eines der (auf die Bevölkerung bezogenen) auflagenstärksten sozialdemokratischen Blätter, das wegen der politisch exponierten Stellung der Stadt große Beachtung fand ( Andrzejewski 2004). 1925 wurde Erich Brost Redakteur, der nach dem Exil 1948 die britische Lizenz für die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ erhielt (Obermeier 1991: 254 f ). Brost hat in einem Gastbeitrag für Matulls Überblick zur ostdeutschen Arbeiterbewegung über die „Danziger Volksstimme“ geschrieben (in Matull 1973b: 460 – 464). Demnach erreichte sie eine Auflage von bis zu 40.000 Exemplaren; sie war bis zum Verbot 1936 eine der wichtigsten Stimmen der Opposition gegen den Nationalsozialismus. Sie unterschied sich von anderen Arbeiterzeitungen durch möglichst objektiv geschriebene Nachricht und Reportage, eine möglichst vollständige Berichterstattung, eine frei von ideologischen Bindungen der Arbeitersportbewegung allgemeine Sportberichterstattung, eine sachverständige und avantgardistische Theater-, Filmund Kunstkritik und veröffentlichte in einem, wenn auch kleinen, Wirtschaftsteil sogar Börsenberichte. (Matull 1973b: 461)
„Volkswacht“ und „Volksstimme“ wurden von der Friedrich-Ebert-Stiftung bilddigitalisiert. Viel geringer ist die Überlieferung aus Königsberg (seit 1946 Kaliningrad, Russland), wo die „Königsberger Volkszeitung“ 1893 (als „Volkstribüne“) von Otto Wels und Hugo Haase 16 gegründet worden war. Verfilmt liegen immerhin einige Monate von 1918–1919 und 1932/33 vor (Pankratz 2010 II: 893; auch die Zeitung der Königsberger USPD ist nicht mehr vorhanden, Hagelweide 1983: 39). Hagelweide (1983: 13) sagt, „daß das Parteiorgan nicht einmal von allen Mitgliedern gehalten wurde“. Trotz vieler Bemühungen um Leser auch in der Weimarer Zeit blieb es dabei, „daß eine Parteipresse nur schwer ihren Einfluß über den harten Kern hinaus ausdehnen“ konnte (Hagelweide 1983: 48). Die Medienwirkung war oft nicht so wie intendiert, denn „Lebenslagen und Formen der Lebensführung bestimmen darüber, ob und wie die medienvermittelte politische Kommunikation Einfluss auf politische Vorstellungen, Einstellungen und Handlungen ausübt.“ (Weiß 2009: 1) Im Kaiserreich behielt die liberale Presse ihren Vorrang, konservative Titel hatten eine eher geringe Ausstrahlung, doch die neu entstandenen Generalanzeiger beeinflussten die öffentliche Meinung ebenfalls „zugunsten des Status quo“ (Wehler 1995: 1243 f ). Katholische und sozialdemokratische Zeitungen bildeten eine „Gegenöffentlichkeit“ (Wehler 1995: 1245). Dennoch blieb das Leseverhalten auch in Teilen der Arbeiterschaft traditionell. der Arbeiterbewegung sind zahlreich und behandeln meist örtliche Zeitungen (mit marxistisch-leninistischer Interpretation). 16 Dazu das Kapitel „Königsbergs sozialdemokratische Sendung“ von Manthey 2005 (542 – 553).
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Mitentscheidend war die Menge der Anzeigen. Mit Anzeigen und Bekanntmachungen hatten Intelligenzblätter schon seit dem 18. Jahrhundert ihr Publikum in allen Schichten gefunden, weil sie die unmittelbare Lebenswelt spiegelten (Blome 2009: 439). Auch politische Zeitungen fanden in den ärmeren Klassen bereits damals Verbreitung: „In den Dorfschenken und Werkstätten, in der Säbeltasche des Kammerhusaren und in dem Reifrocke der Zofe, findet man Zeitungen“ (Schwarzkopf 1795: 75 f ). In Stettin waren die „Börsen-Nachrichten der Ostsee/Ostsee-Zeitung“ seit 1835 erschienen, die viel gelesen wurden, auch wenn die Standpunkte der unteren Schichten nicht umfangreich wahrgenommen wurden.17 Diese Berichterstattungslücke schuf Raum für eine pommersche Arbeiterzeitung. Sie kann nicht an den großen Berliner Blättern 18 gemessen werden, ihr Wert erschließt sich, wenn man insbesondere die kleinen „Heimatzeitungen“ zu Rate zieht: „Es bedarf nur eines flüchtigen Blicks in einige der Amtsblätter […], um die Rolle selbst der kleineren sozialdemokratischen Organe als Kulturträger zu ermessen“ (Schröder 1999: 15). In Stettin bestand der „General-Anzeiger“ bereits seit 1849, er verstand sich zunächst als Inseratenblatt (der preußische Intelligenzzwang war im selben Jahr aufgehoben worden).
II.6.3 Partei und Profession Eisner hebt dabei die Unselbständigkeit und Abhängigkeit des bürgerlichen Journalisten hervor und sagt demgegenüber vom sozialdemokratischen Redakteur: Er wirkt als Vertrauensmann der proletarischen Organisation, die ihn berief; er ist kein Verlagsangestellter, sondern ein politischer Führer. Weil unsere Presse kein Werkzeug für Profitinteressen ist, darum ist sie ein um so reineres Werkzeug idealer Bestrebungen. Nur der sozialdemokratische Journalist kann jene Lebensluft geistigen Schaffens atmen; die Betätigung freier Gesinnung innerhalb der frei gewählten Parteiüberzeugung. (Volksbote Nr. 99, 29. 4. 1914: 1)
Heutige Vorstellungen über journalistische Unabhängigkeit greifen nicht, will man sich der Parteipresse vergangener Zeiten nähern. Das publizistische Selbstverständnis unterstand der guten Sache, für die zu kämpfen war. Der Leser der Arbeiterpresse sollte für den Sozialismus gewonnen werden. Die Idee, Journalismus wende sich „auf einem gleichen Niveau an Rezipienten, deren Mündigkeit er voraussetzen muss“ (Pöttker 2002: 22), wäre einem sozialdemokratischen Redakteur fremd erschienen. Bei der Bildung von Berufsverbänden wirkten Sozialdemokraten und Katholiken nicht mit. Der Stettiner „Volksbote“ 17 Kurz vor der großen Hungerkrise 1847 hatten sich Arbeiter wegen der verteuerten Nahrungsmittel an die Redaktion gewandt, ihnen wurde kühl beschieden, „daß sie wegen der Zukunft sich keine übertriebenen Sorgen machen und mit uns auf Den vertrauen werden, der über alle wacht“ (1. Beil. zu Nr. 79 der Börsen-Nachrichten der Ostsee, 2. 10. 1846). 18 Schwarzkopf (1801: Sp. 354) zählt Stettin neben Halle und Magdeburg publizistisch zu den „drei nächsten Trabanten der Berliner Planeten“.
Grundzüge der sozialdemokratischen Presse im Deutschen Reich
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wandte sich häufig gegen die kapitalistische Konkurrenz, vor allem ihren vermischten Teil. Manipulativ sei auch die Nachrichtenauswahl. Der Leser sei zum Verständnis politischer Zusammenhänge zu erziehen: Als die siebente Großmacht ist die Presse bezeichnet worden. Nicht mit Unrecht. Unser politisch so reges Leben wäre völlig undenkbar ohne die Presse. Sie ist die Vertreterin, nicht selten auch die Macherin der öffentlichen Meinung. Aus ihren Aeußerungen lassen sich die Strömungen in den einzelnen Schichten der Bevölkerung erkennen. Eine solche Macht ist aber auch ein Anreiz dazu, sich auf den Abweg der Korruption zu begeben und diesen Abstieg hat die bürgerliche Presse, mit wenigen rühmlichen Ausnahmen, längst vollzogen […] Die tollste Verwüstung auf diesem Gebiet richtet ohne Zweifel die unparteiische Presse an … Selbstverständlich müssen auch diese Zeitungen politische Nachrichten bringen, und wenn sie auch keinen Kommentar dazu geben, so liegt doch bereits in der Auswahl der veröffentlichten politischen Nachrichten eine Stellungnahme nach irgend einer bürgerlichen Richtung hin. Fast unmerklich, aber sicher werden die Leser solcher Blätter beeinflußt. Dazu ein Wust von Sensationsgeschichten und Schauermären, Romane, die geradezu vergiftend wirken müssen – damit ist der Inhalt der unparteiischen Presse hinreichend gekennzeichnet. […] Die angeblich parteilose Presse ist somit tatsächlich die Schlange, welche die arbeitende Masse an ihrem Busen nährt. […] Unsere Parteizeitungen sind Herolde des Klassenkampfes, sie verkünden und begründen tagtäglich die zwingende Notwendigkeit den Kampf gegen die herrschenden Klassen mit ihrer verteufelten göttlichen Weltordnung zu führen. Darin liegt der fundamentale Unterschied zwischen unserer Presse und der des Bürgertums. […] Eine politische Zeitung kann kein lokales Klatschblatt werden, daran ist festzuhalten bei den Einwürfen, die da und dort von indifferenter Seite gegen eine sozialdemokratische Zeitung erhoben werden. Man gewöhne sich nur an die politische Kost, man lernt es leicht und will sie dann nicht wieder missen. (Volksbote Nr. 219, 19. 9. 1906: 1)
Der sozialdemokratische Journalismus vor dem ersten Weltkrieg sah sich mit der Professionalisierung, Visualisierung, Boulevardisierung, Ausbreitung der Werbung, Beschleunigung der Nachrichtenübermittlung und Modernisierung der Medienwelt insgesamt konfrontiert. Julian Borchardt schrieb 1902 in der „Neuen Zeit“ über „die Aufgaben unserer Presse“. Hier machte er deutlich, in welcher Lage sich vor allem die kleinen Zeitungen befanden und wie sie verbessert werden könnte. Über den Leser bürgerlicher Blätter, der für die Arbeiterpresse gewonnen werden soll, heißt es: Er verlangt die Befriedigung einer Reihe von Bedürfnissen, die ihm erst durch die Zeitungen selbst und durch die Art und Weise, wie sie sich entwickelt haben, anerzogen worden sind. Viele von diesen Bedürfnissen würden gar nicht existieren, wenn sich unser Zeitungswesen in anderer Weise entwickelt hätte. Diesem Sachverhalt gegenüber befindet sich die sozialdemokratische Presse in einer schwierigen Lage deshalb, weil unter den Anforderungen, die hiernach im Allgemeinen an die Zeitungen gestellt werden, sich s olche befinden, w elche zu
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Historischer Teil
befriedigen ein sozialdemokratisches Blatt nicht gewillt sein darf. Hinwiederum giebt es eine ganze Reihe anderer Dinge, w elche ein sozialdemokratisches Blatt bringen muß und wofür vorläufig ein Bedürfnis unter den Lesern eigentlich noch gar nicht vorhanden ist. Dieses Bedürfnis muß erst geweckt, muß den Lesern erst anerzogen werden. (Borchardt 1902: 70)
Borchardt empfahl einen Mittelweg zwischen Publikumsgeschmack und sozialdemokratischer Sichtweise. Als weiteres Problem sah Borchardt, dass neue Genossen geworben werden müssten, aber zugleich bestehende Kenntnisse vertieft werden müssen, und dies, wo auch die Allgemeinbildung vermittelt werden soll, „da die Volksschulen so entsetzlich ungenügend sind“ (Borchardt 1902: 72). Nötig seien zudem eine gründliche Ausbildung vor dem Berufseintritt in praktischer und theoretischer Hinsicht sowie die Gewinnung geeigneter lokaler Mitarbeiter (Borchardt 1902: 73). Bei Akademikern war er skeptisch wegen ihrer „einseitigen Verbildung gerade in den für uns wichtigsten Fächern, Geschichte und Nationalökonomie, sowie ihrer Unkenntnis proletarischer Verhältnisse“ (74). Auch sollten Redakteure von Sitzungen und Versammlungen freigestellt werden, damit sie lesen, wofür Redaktionsbibliotheken geschaffen werden müssen (75). Borchardt erneuerte seine Kritik zwei Jahre später und forderte neue Schriften der sozialistischen Theorien, „dem heutigen Lernbedürfnis angepaßt“, sowie ein Volontariat von sechs Monaten in großen Parteiblättern (Borchardt 1904: 15). In der innerparteilichen Diskussion, ob Genossen für bürgerliche Zeitungen schreiben dürften, wurde dies gestattet, wenn die entsprechende Zeitung nicht gegen die SPD schrieb (diesem Antrag des Parteivorstands stimmte der Dresdner Parteitag zu, Protokoll 1903: 22 und 263 f ). Franz Mehring hat die Grenze der freien Meinungsäußerung klar gezogen: Wer sich einer Partei anschließt, verzichtet auf das Recht der freien Meinungsäußerung, soweit es der Disziplin und dem Programm dieser Partei widerstreitet: Nicht weil ihn die Partei dazu zwänge, sondern weil er sich selbst durch den Eintritt in die Partei diese Schranke anerlegt. (Mehring 1903: 643)
Meißner (2014: 11) kommt zu dem Schluss, dass sich die sozialdemokratischen Redakteure im Laufe der Zeit den bürgerlichen annäherten, „davon zeugen sowohl die Bereitschaft technische und inhaltliche Elemente der General-Anzeiger zu übernehmen als auch die Bestrebungen nach größerer Autonomie“.19 Sozialdemokraten konnten keine „Nur-Journalisten“ (Grohall 1961: 193 – 208) sein.
19 Zwei DDR-Qualifikationsarbeiten zum Verein Arbeiterpresse interpretierten diesen so, er habe „die Opportunisten bei der Versumpfung der Gesamtpartei“ unterstützt (Görtz 1981: 99) und sei ein „Hilfsmittel bei der opportunistischen Zersetzung der Presse und der gesamten Partei“ (Kniestedt 1985: 110) gewesen.
III. Die pommersche Sozialdemokratie III.1 Die pommersche SPD III.1.1 Im Kaiserreich Pommern war im Vergleich zu Sachsen oder Berlin sozialdemokratische „Diaspora“ (Zimmermann 2008: 65). Am Anfang der pommerschen Arbeiterbewegung stehen die Stettiner Hungerunruhen während der europäischen Agrarkrise 1846/47. Über diese „Kartoffelrevolution“, die in vielen Orten der Provinz die ärmere Bevölkerung erfasste, wurde auch in Großbritannien (mit Bild) berichtet: In the morning, a mob of the lower classes made an attack on the supplies of potatoes brought to market, and then, accompanied by a countless multitude of women and boys, proceeded to almost all the bakers’ shops, seized the bread, and destroyed the furniture and other articles […] It was not till the drums beat to arms, and till the troops assembled at the places that were threatened and patrolled the streets, and several desperate rioters were arrested, that tranquillity was in some measure restored […] The military, not being able to quell the riot, and the soldiers, officers, and general being pelted with mud and stones, it was at length necessary to fire, by which several persons were wounded and two killed. (Food Riots at Stettin 1847)
Während der Märzrevolution kommt es dann zu ersten Versammlungen (am 19. April 1848, „Wächter an der Ostsee“ 1848: 214), Streiks, Zusammenschlüssen der städtischen Unterschichten und zur Gründung eines „Allgemeinen Pommerschen Arbeiterblattes, Organ des Ausschusses Stettiner vereinigter Gesellen-Brüderschaften und Correspondenzblatt pommerscher Arbeiter“, von dem keine überlieferten Exemplare bekannt sind (Henkel/ Taubert 1986: 278 nach Wehrmann 1936). Dass sich aber „erstmals große Teile des Landproletariats gegen das junkerlich-kapitalistische Ausplünderungssystem“ erhoben (Ulbricht 1966: 111), war eine Übertreibung seitens führender SED-Funktionäre, eher ist von „sozialem Protest“ (Mellies 2011) zu sprechen. Allerdings war Forschung zu den Gebieten jenseits der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ oft nur über die Krücke der Arbeiterbewegung möglich, wie die Beispiele der DDR - Historiographie belegen. Was 1914 galt: „Etwas eingehender verfolgen müßte man vielleicht noch die Bestrebungen der Stettiner Arbeiterschaft“ (Zaddach 1914: 93), gilt mit Abstrichen noch immer: „Die Forschungen zur Geschichte der politischen Arbeiterbewegung, dem Schwerpunkt der DDR-Forschung, sind nach der Wende völlig zum Erliegen gekommen, Defizite wurden nicht beseitigt“ (Inachin 1999b: 27). Besonders problematisch ist die Verlegung des heutigen Mecklenburg-Vorpommern in die Geschichte. So handelt es sich zwar bei der „Geschichte der SPD in Mecklenburg und
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Die pommersche Sozialdemokratie
Vorpommern“ (Müller/Mrotzek/Köllner 2002) um einen wichtigen Beitrag, aber durch die räumliche Beschränkung bleibt die Geschichte der pommerschen Sozialdemokratie insgesamt ein Desiderat, zumal die inhaltliche Verknüpfung mit Mecklenburg aufgrund unterschiedlicher Staatlichkeit und Verfassungsordnung (in den selbstständigen Großherzogtümern galt bis 1918 der vorkonstitutionelle „Landesgrundgesetzliche Erbvergleich“ von 1755, dazu John 1997; nach 1918 wählten die Mecklenburger mehrheitlich sozial demokratisch, Freitag 2010) nicht sinnvoll ist. Es ist auch parteistrategisch unklug, denn die seit Wiedergründung des Landesverbandes (der von 1945 hatte vor der Zwangsvereinigung fast 20.000 Mitglieder, Bezirksleitungen 1986: 134) 1990 im östlichen Landesteil schwache SPD (Kost/Rellecke/Weber 2010: 247) täte gut daran, deutlicher auf ihre Verwurzelung auch im heute rechts- bzw. linkskonservativen Vorpommern hinzuweisen, zumal in Konkurrenz zur pragmatisch orientierten, mitgliederstarken Linkspartei. So ist auch der dezidiert für politische Bildung von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene Band eine verpasste Gelegenheit, da in der historischen Darstellung zu mecklenburglastig (Schwabe 1999, 2004, daher kritisch besprochen von Inachin 2002). Mit der Konstruktion eines historischen Mecklenburg-Vorpommerns wird einerseits Tradition erfunden und damit Geschichtspolitik betrieben, andererseits wirkt die Tabuisierung der sozialistischen Nachkriegszeit nach. Dabei gab es durchaus auch in der marxistischleninistischen Geschichtswissenschaft vereinzelt Forderungen nach Berücksichtigung des nun polnischen Ostens: Ein weiterer Mangel der bisherigen – jedenfalls der auf dem Gebiet der DDR angefertigten – Untersuchungen besteht meines Erachtens darin, daß man sich zu sehr nur auf Vorpommern beschränkt hat und das ehemalige ostpommersche Gebiet zum Teil einfach ausgeklammert hat […] Ja, wie sollen z. B. die Historiker der DDR eine Gesamtdarstellung der Kämpfe zur Niederschlagung des Kapp-Putsches im März 1920 in Deutschland schreiben, wenn die Untersuchungen über die Gebiete Hinterpommerns, Ostpreußens usw. fehlen? (Polzin 1965: 21)
Daher muss als Gesamtüberblick vorerst weiter auf Matull 1973 (c, zu Pommern: 233 – 308) zurückgegriffen werden. So hatte der „Stettiner Arbeiterverein“ bereits 1863 250 Mitglieder, 1869 wurde ein Gau Pommern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (Lassalle) gegründet (Matull 1973c: 236).1 Ab diesem Jahr kam es auch wieder zu Streiks in der Provinz (Matull 1973c: 236 – 240). 1874 stellte der ADAV mit Otto Kapell (Berlin) den ersten sozialdemokratischen Reichstagskandidaten auf, der 4.918 Stimmen bekam. Die Reaktion folgte kurz darauf: Am 29. Juli 1874 wurde der Stettiner ADAV -Ortsverband geschlossen (Matull 1973c: 246). Das Sozialistengesetz traf die noch schwache pommersche Sozialdemokratie schwer, wodurch sie sich von der bürgerlichen Welt und dem Staat entfernte (Matull 1973: 247 f ). 1881 wurde August Bebel auch in Pommern als R eichstagswahlkandidat
1 Herbert (1893: 3) zufolge hatte der Verein im Gründungsjahr bereits 800 Mitglieder.
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Abb. 5: Reichstagswahlergebnisse in Prozent im Regierungsbezirk Stettin 1871 – 1912. Quelle: Darstellung des Autors nach www.wahlen-in-deutschland.de, Valentin Schröder, Bremen.
aufgestellt,2 die Arbeiterorganisation blieb aber schwach (Herbert 1893: 7, auch Höft 2003). Matull (1973c: 249) sieht den entscheidenden Schritt zu ihrer Wiederbelebung auch erst in der Gründung des „Volksboten“ zum 1. Juli 1885 nach der Reichstagswahl. In diesen frühen Jahren gab es mehrere Ortsvereine, besonders in Vor- und Mittelpommern. Bei den Bauern und Landarbeitern allerdings drangen sozialdemokratische Ideen nicht recht durch, auch – neben dem Druck der Gutsherren und Pfarrer – wegen der Uneinigkeit über die Landwirtschaftspolitik in der Parteiführung (Ritter 1985: 63). Am 14. Februar 1888 wurde über Stettin der Belagerungszustand verhängt, nachdem es zu Krawallen gekommen war, Fritz Herbert wurde ausgewiesen:
2 Wegen Kandidatenmangels kam Bebel bei dieser Wahl auf 35 Kandidaturen (Bebel 1978 [1914]: 639).
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Die pommersche Sozialdemokratie
Welches Gefühl Einen beherrschen muß, der wie ein räudiger Hund davon gejagt, von den Seinen gewaltsam gerissen, aus dem Freundeskreise, der Heimath, dem Orte, wo man so lange seine Existenz hatte, vertrieben wird, das zu schildern, möge man mir erlassen. Jeder Deutsche hat bekanntlich das Recht, seine freie Meinung für sich zu behalten; das Aussprechen derselben ist meist gefährlich. (Herbert 1893: 10 f.)
Herbert zog nach Stargard, wo er auch den „Volksboten“ weiter herausgab (bis April 1890). Ab den 1890er Jahren gründeten sich über Stettin hinaus sozialdemokratische Wahl- und Arbeiterbildungsvereine und die Gewerkschaftsbewegung intensivierte sich (Matull 1973c: 252), ebenso wurden Maifeiern abgehalten (258). Datum
Ort
Datum
Ort
1876, 24.4.
Stettin
1910, 21. – 23.8.
Stettin
1891, 28.6.
Stettin
1912, 1. – 3.9.
Stettin
1892, 27./28.12.
Grabow
1914, 5. – 7.7.
Stralsund
1893, 17.9.
Stettin
1918, 22.12.
Stettin (Sonder-P.)
1894, 30.9.
Stettin
1919, 25./26.5.
Stettin
1895, 15.9.
Stettin
1920, 25.4.
Stettin (außerordentl.)
1896, 15.9.
Grabow
1921, 22./23.8. (1./2.1. außerordentl.)
Stettin
1897, 19.9.
Stettin
1924, 9.11.
Stettin (außerordentl.)
1899, 24./25.9.
Stettin
1927, 16./17.4.
Stralsund
1902, 28./29.9.
Stettin
1929, 5./6.10.
Köslin
1904, 28./29.8.
Stettin
1930, 10.8.
Stettin (außerordentl.)
1906, 2./3.9.
Grabow
1932, 27.3.
Stettin (außerordentl.)
1908, 23. – 25.8.
Köslin
1933, 4./5.2.
Stettin
Tab. 4: Parteitage der pommerschen SPD (nach Schwabe 2004: 119, ergänzt).
Fritz Herbert war um Ausgleich bemüht und sprach sich taktisch für einen mittleren Kurs aus. Das Zentralorgan „Vorwärts“ zitierte einen Artikel aus dem „Volksboten“ (mit dem eigenen Kommentar, die leitenden Genossen sollten einander nicht befehden, sondern sowohl praktisch arbeiten als auch die programmatischen Endziele „konsequent aussprechen“), in dem es u. a. hieß: Es ist in gewissen Kreisen zu Berlin schon so weit gekommen, daß man Genossen nicht mehr für zielbewußt hält, die nicht ein Glaubensbekenntnis an die Revolution ablegen. Das fortwährende Hervorheben der Revolution ist für die Propaganda sogar schädlich, weil Diejenigen, die sich bisher noch nicht mit der Sozialdemokratie beschäftigten, das Wort nicht in dem Sinne verstehen, wie es gemeint sein soll. […] Wir meinen, je nach der Landesgegend
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Abb. 6: Mandate im Pommerschen Provinziallandtag der Weimarer Republik. Darstellung des Autors nach Inachin 2004a: 161.
Abb. 7: Mitgliederzahlen der pommerschen SPD. Quelle: Darstellung des Autors nach Schwabe 1999: 106.
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muß die Taktik verschieden sein. Man muß in Berlin anders als in Hinterpommern sprechen… (Vorwärts Nr. 191, 18. 8. 1891: 3)
Ab der Jahrhundertwende rückten Blatt und Partei nach links. Innerhalb der Provinz schwankten die Mitgliederzahlen sehr: Im Wahlkreis Belgard-Dramburg-Schivelbein gab es 1914 nur 63 Sozialdemokraten, in Bütow-Schlawe 71 und in Greifenberg-Cammin 77, während es in Stettin 3.913 und in Randow-Greifenhagen sogar 4.299 waren (2. Beil. zu Volksbote Nr. 133, 11. 6. 1914: 3). Die Parteigliederungen hatten zuweilen mit inneren Konflikten zu kämpfen. Über den Schwund an Mitgliedern und „Volksbote“-Lesern im Wahlkreis Grimmen-Greifswald berichtete das Zentralorgan „Vorwärts“ (Nr. 137, 4. 6. 1913: 6): Der Rückgang ist auf innere Zerwürfnisse in Parteikreisen zurückzuführen. Diese Differenzen machen eine Menge Sitzungen, große Geldausgaben und viel Arbeit notwendig und führen andererseits dazu, daß die Parteibewegung statt vorwärts zu schreiten, mehr und mehr zurückgeht.
III.1.2 USPD (1919 – 1922) Die aus der Opposition gegen den „Burgfrieden“ hervorgegangene Unabhängige Sozial demokratie war zwar „auf dem besten Wege, zu der Protestpartei der enttäuschten Massen zu werden“ (Potthoff/Miller 202: 105). Der USPD gelang es jedoch „weder, ein geschlossenes, neues Programm, noch eine einheitliche Politik zu entwickeln“, sie musste „sich nach zwei Seiten hin profilieren, um ihre Existenzberechtigung nachzuweisen“ (Büttner 2010: 71). Schwächend wirkte sich die Ermordung des um Ausgleich bemühten USPD-Vorsitzenden Hugo Haase 3 aus, sodass die Partei auf dem Leipziger Parteitag 1919 die Diktatur des Proletariats als Räteherrschaft forderte (Potthoff/Miller 2002: 104). Der Erfolg bei Mitgliederzahlen und Wahlen verdeckte die innere Zerrissenheit, die schließlich beim Parteitag in Halle (Saale) 1920 dazu führte, dass sich die Mehrheit der KPD anschloss (gegen den Willen der meisten Funktionäre und Abgeordneten), während die Minderheit 1922 zur SPD zurückkehrte (Potthoff/Miller 2002: 106). Lamprecht (1999: 92) nennt anhand der knappen Abstimmungen z wischen Mehrheit und Opposition „die pommersche Sozialdemokratie bereits vor der Gründung der USPD politisch und organisatorisch gespalten“. Über die Lage in Pommern hieß es im März 1917 im preußischen Innenministerium: „In Stettin steht sich die Opposition und Mehrheit nahezu gleich stark gegenüber. Die Anhänger der Opposition sind hier Arbeitsgemeinschaftler. Die Stettiner Parteiverhältnisse liegen arg darnieder“ (zit. n. Janitz 1965: 51). Zur pommerschen USP traten der 1912 für Stettin in den Reichstag gewählte Ewald Vogtherr (1859 – 1923) und der Bezirksparteisekretär August Horn über (Matull 1973c: 270; Horn war von Januar bis November 1918 im Gefängnis, Lamprecht 1999: 92). Eine Hochburg der USPD war Stralsund (Müller/Mrotzek/Köllner 3 Haase (1863 – 1919) war 1911 – 1916 mit August Bebel und ab 1913 Friedrich Ebert SPD-Vorsitzender.
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2002: 114). Am 19. November 1917 verabschiedeten die Mitglieder der USPD in Stettin eine Resolution, in der sie „das russische Proletariat zu seiner kraftvollen Erhebung zur Befreiung aus politischer Knechtschaft“ beglückwünschten (zit. n. Lamprecht 1999: 91). Der „Volksbote“ konnte nur durch einen juristischen Trick der Mehrheitspartei erhalten werden (Koszyk 1958: 91 f ). Er hatte die drohende Spaltung der Partei bekämpft, so schrieb er über die sozialdemokratische Reichskonferenz 1916: Die Partei befindet sich gegenwärtig in der schwersten Krise seit ihrem Bestehen. Die Orientierung nach den bisherigen Schlagworten radikal und revisionistisch ist veraltet, der Krieg hat alles durcheinandergewürfelt. Das Blutvergießen in dem menschenmordenden Kriege und die Erregung über die Nahrungsmittelschwierigkeiten bilden vielfach den Mutterboden, aus welchem die eine Richtung ihre Kraft schöpft. Die andere Richtung steht auf dem Standpunkt, daß wir unsere soziale Entwicklung nicht preisgeben wollen. Wir müssen Einfluß auf den Staat gewinnen, um diesen zu reformieren; wer aber Rechte beansprucht, muß auch Pflichten übernehmen. […] Mögen die Beschlüsse so ausfallen, daß die deutsche Sozialdemokratie am Ende des Weltkrieges nicht in Trümmern liegt. (Volksbote Nr. 221, 21. 9. 1916: 1)
Der „Volksbote“ positionierte sich klar gegen einen neuen Oppositionskurs wie vor dem Krieg: In diesem Kriege, in dem es sich um die Aufrechterhaltung der politischen Einheit und des Wirtschaftslebens der deutschen Nation handelt, unterstützt die sozialdemokratische Mehrheit die nationale Verteidigung; gleichzeitig wirkt sie für einen raschen Friedensabschluß durch Unterhandlungen und für die Aufrechterhaltung der internationalen sozialistischen Beziehungen. Die sozialdemokratische Minderheit huldigt in der Th eorie denselben Grundsätzen. Aber in der Praxis hält sie, daß die nationale Verteidigung bereits gesichert sei und man müsse deshalb zur früheren Opposition gegen den Staat, gegen die Regierung zurückkehren und auch die Mittel zur Landesverteidigung versagen, obwohl die Widersacher Deutschlands den Krieg weiter vorbereiten, mit aller Kraft fortsetzen und immer neue Feinde gegen die Sicherheit Deutschlands aufmarschieren lassen. […] Die Beseitigung d ieses Systems kann aber nicht durch „Krieg bis ans Ende“, sondern durch den Sozialismus geschehen, zu dessen Wiederbelebung die sozialistischen Führer der feindlichen kriegführenden Hauptländer nichts tun wollen. (Volksbote Nr. 222, 22. 9. 1916: 1)
Mit der drohenden Spaltung rechnete die Redaktion früh, nahm sie aber kühl hin: Wenn wir nach Beendigung der Reichskonferenz in aller Ruhe das Ergebnis derselben abwägen, so sind wir der Meinung, daß es zu einer völligen Harmonie in der Partei wie vor dem Kriege nicht mehr kommen kann. Dazu geht die Auffassung über die Wege, welche die Partei einzuschlagen hat, zu weit auseinander. Keine Aussprache ist heute noch imstande, die tiefe Kluft zu überbrücken, w elche die beiden Richtungen trennt. […] Nur eine Hoffnung
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bleibt, daß die künftigen Klassenkämpfe die streitenden Teile zusammenschweißen und daß darauf diejenigen Genossen, w elche den Disziplinbruch verteidigen, selbst ihres Irrwegs inne werden. […] Ueber alle theoretischen Knifflichkeiten wird der goldene Mittelweg der praktischen Arbeit den Sieg davontragen. Einstweilen aber wird der erbitterte Kampf der beiden Richtungen in den Parteiorganisationen weitergehen. […] Man darf nicht übersehen, daß die hauptsächlichste Kraftquelle für die Minderheit die lange Dauer des Kriegs und die ungeheure Teuerung sowie der Widerstand der Konservativen gegen eine innere Neuorientierung bildet. Sind diese Ursachen beseitigt, dann wird die prinzipielle Politik, wie sie heute von der Mehrheit vertreten wird, nach allem, was man vernommen hat, für die Partei richtunggebend sein. […] Das Gespenst der Spaltung ist noch nicht beseitigt! […] Von den 7 Delegierten der Provinz Pommern haben 4 mit der Mehrheit, 3 mit der Minderheit gestimmt. Außerdem stimmte das Parteiausschuß-Mitglied mit der Minderheit. […] Wer sich nicht eingliedern kann und will, der mag seine eigenen Wege gehen; für die große Mehrheit wird der Kampf um das Wohlergehen des arbeitenden Volks der Leitstern sein und da gilt das Goethesche Wort im „Faust“: Grau, lieber Freund, ist alle Theorie, doch grün des Lebens goldner Baum. (Volksbote Nr. 226, 27. 9. 1916: 1)
Mit der Gründung der USPD nahm die Schärfe zu, auch wenn die neue Konkurrenz zunächst nicht ernstgenommen wurde: Partei-Nachrichten. Eine Konferenz der Oppositionsgruppen hat vom 6. bis 8. April in Gotha stattgefunden. […] Aus Pommern waren 2 Delegierte (Last und Horn aus Stettin) erschienen. Nach der „Leipz. Volkszeitung“ nennt sich die neu gegründete Partei „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands“. Dieser Name erinnert an die verkrachte Bewegung der Berliner Unabhängigen anfangs der 90er Jahre. Der Berliner Volkswitz nannte sie bald die „Abgehängten“. Es wird diesmal nicht viel anders sein. (Volksbote Nr. 86, 14. 4. 1917: 3)
Zwischen „Volksbote“ und der Stettiner USPD-Zeitung „Der Kämpfer“ kam es in den Folgejahren zu einem heftigen Federkrieg.
III.1.3 In der Weimarer Republik Dem Ende des E rsten Weltkriegs verdankte die pommersche SPD einen enormen Mitgliederzuwachs – von 1.256 im Jahre 1918 auf 28.685 im Jahre 1919; aus den Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung und zur preußischen verfassungsgebenden Versammlung ging sie als Siegerin hervor (fünf bzw. sieben Abgeordnete) (Matull 1973c: 270 f ). Der Erfolg der Sozialdemokratie blieb vorübergehend, er „war ein Zeichen der tiefen inneren Erschütterung, aber nicht der Revolutionierung der Sozialstruktur“ (Becker 2000: 211). 1919 kam es in mehreren pommerschen Städten zu Unruhen, die zum Belagerungszustand führten, gegen den sich SPD, Gewerkschaften und USPD erfolgreich zur Wehr setzten (Matull 1973c: 273 f ), ebenfalls unruhig war es während des Kapp-Putsches 1920 (Matull
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1973c: 275 und Schaubs 2008). Das „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ 4 hatte in Pommern 152 Ortsgruppen (Gauvorsitzender Theodor Hartwig, Matull 1973c: 277). In der Weimarer Zeit blühten auch die Unterorganisationen der SPD, so die Sozialistische Arbeiter-Jugend, die „Falken“ und die „Arbeiter-Wohlfahrt“ sowie Sportvereine (Matull 1973c: 282 f ).5 In der Endphase der Republik traten Überfälle auf sozialdemokratische und gewerkschaftliche Einrichtungen auf (Matull 1973c: 288 f ). Am 9. August 1932 verübte die SA einen Sprengstoffanschlag auf das Verlagshaus des „Volksboten“ in Stettin (Warmann 2009: 98 – 103). Dem Überfall auf die Stettiner Geschäftsstelle mit der „Volksdruckerei“ 6 (18. März 1933) folgte eine Verhaftungswelle, Ende März 1933 gab es bereits 10.000 pommersche politische Gefangene (Matull 1973c: 292). Anfang Mai wurde das Vermögen der SPD beschlagnahmt, am 22. Juni wurde die Sozialdemokratie verboten. Die Zustände auf der Vulcanwerft, die zum KZ umfunktioniert worden war, waren so schlimm, dass das Lager geschlossen wurde und Gauleiter Karpenstein seinen Posten verlor (Matull 1973c: 293). Bis 1935/36 konnte in kleinem Umfang illegal gearbeitet werden, dann kam es zu Verhaftungen, u. a. des ehemaligen Bezirkssekretärs Erich Dehl (Matull 1973c: 295). Zu den innerparteilichen Konflikten schreibt Matull nichts. Streitfrage war u. a. die Frage der Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien und den Kommunisten. Politisch stand die pommersche Sozialdemokratie links von der Parteimehrheit,7 besonders Stettin. Der Unterbezirk Stettin gehörte zur „langjährige[n] Kernlinke[n]“ der SPD, neben Sachsen, Berlin, Thüringen, Frankfurt am Main, Breslau und Hagen (Klenke 1987: 147, der auch einige Jahrgänge des „Volksboten“ ausgewertet hat). 1921 war die Frage einer Koalition mit der Deutschen Volkspartei auf Reichsebene in Pommern umstritten (Beil. zu Volksbote Nr. 232, 4. 10. 1921: 1). Vor dem Berliner Parteitag 1924 beschloss die Stettiner Unterbezirkskonferenz: „Die Reichstagsfraktion hat sich gegen jede bürgerliche Regierung in schärfste Opposition zu stellen“ – 35 Delegierte stimmten dafür, nur zwei dagegen (Beil. zu Volksbote Nr. 54, 4. 3. 1924: 1). Die Vorgänge in Sachsen 8 und der Umgang der Parteiführung 4 Zum Reichsbanner gab es 2016 eine Ausstellung im Pommerschen Landesmuseum Greifswald (Lysenko 2016). 5 Dazu (auf Reichsebene) kritisch Walter (2011b: 359), wonach die Sozialistische Arbeiterjugend in der Weimarer Zeit kriselte und ihr umfassender kultureller Anspruch gescheitert war. 6 Engeln (1990: 80) schätzt die sozialdemokratischen Druckereien in der Weimarer Republik als „offenbar erfolgreichsten Geschäftszweig“ der Verlage ein, wobei Informationen über deren Aufträge fehlen. 7 Auf dem Görlitzer Parteitag 1921 stimmten die pommerschen Delegierten für eine Koalition mit der DVP (Klenke 1987: 1118). Die Linksopposition entwickelte sich 1922/23 (Klenke 1987: 919). 8 Hier waren 1923 KPD-Minister an der SPD-Landesregierung beteiligt worden, was zu einer Reichsexekution führte. Diese verurteilte der sächsische Landesparteitag und forderte eine erneute Zusammenarbeit mit der KPD. Die Mehrheit der Landtagsfraktion setzte sich aber darüber hinweg und bildete mit Rückendeckung aus Berlin eine Koalition mit den Bürgerlichen. 1926 spaltete sich die sächsische SPD, die rechte „Alte Sozialistische Partei Sachsens“ bestand bis 1932.
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damit stießen in Stettin auf Widerspruch, man vermisste die innerparteiliche Demokratie, „wenn nur noch die Führer die Partei bilden wollen“: Heute kommt man nämlich in Berlin zu leicht in den Verdacht, zu den „politisch unreifen Elementen“ zu gehören, wenn man gegenüber Vorstandsmeinungen den nötigen respektvollen Abstand wahrt. […] Wenn das Urteil der Parteigenossen im Lande so wenig gilt, ja wozu brauchen sie sich dann überhaupt noch für die Partei so abmühen, daß die Bewegung stark und mächtig wird? (Volksbote Nr. 8, 10. 1. 1924: 1 f.)
Die Zeitung stellte aber die Treue zur Partei nicht infrage (zu frisch waren die Abspaltungen USPD und KPD). Einem linksoppositionellen Artikel von MdR Gustav Hoch gegen Bürgerliche und Kommunisten stellte die Redaktion voran: Die augenblickliche Lage der Partei, die vielfach fehlerhafte Politik der Reichstagsfraktion, der Disziplinbruch der sächsischen Fraktionsmehrheit und die fast unerträglichen wirtschaftlichen Verhältnisse haben eine Atmosphäre geschaffen, die manchen braven Genossen verzweifeln läßt. Dürfen wir darum das Banner der Partei sinken lassen? Diese Frage stellt Genosse Hoch, der seit Jahrzehnten dem linken Flügel der Partei angehört und beantwortet sie in dem Sinne: Jetzt ist die Treue zur Partei notwendiger als je! Das ist auch unsere Mahnung an die Genossen. (Volksbote Nr. 9, 11. 1. 1924:1)
Die Stettiner Genossen beantragten zum Heidelberger Parteitag 1925, im Programmentwurf den Begriff „Klassenkampf“ zu belassen: In dem Entwurf des Parteiprogramms wird das klare Bekenntnis zum Klassenkampf vermißt. Es fehlt die klare Klassenscheidung. Im Görlitzer Programm wurde noch gesagt, der Kapitalismus mache den Klassenkampf für die Befreiung der Arbeiterklasse zur geschichtlichen Notwendigkeit und zur sittlichen Forderung. Wir fordern, daß dieses Versäumnis nachgeholt wird. (Anträge zum Parteitag in Heidelberg. Das Parteiprogramm. 2. Beil. zum „Vorwärts“ Nr. 385, 16. 8. 1925: 3).9 9 Die Heidelberger Formulierung lautete schließlich: „Immer größer wird die Zahl der Proletarier, immer schroffer der Gegensatz z wischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen den kapitalistischen Beherrschern der Wirtschaft und den Beherrschten.“ Im Görlitzer Programm hatte es geheißen: „Die kapitalistische Wirtschaft hat den wesentlichen Teil der durch die moderne Technik gewaltig entwickelten Produktionsmittel unter die Herrschaft einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Großbesitzern gebracht, sie hat breite Massen der Arbeiter von den Produktionsmitteln getrennt und in besitzlose Proletarier verwandelt. Sie hat die wirtschaftliche Ungleichheit gesteigert und einer kleinen, in Überfluß lebenden Minderheit weite Schichten entgegengestellt, die in Not und Elend verkümmern. Sie hat damit den Klassenkampf für die Befreiung des Proletariats zur geschichtlichen Notwendigkeit und zur sittlichen Forderung gemacht.“ Schon Görlitz war eine „Zerreißprobe“
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Zum Kieler Parteitag 1927 unterbreitete der Bezirksparteitag Pommern eine Resolution, die mit der politischen Lage von Partei und Republik scharf abrechnete: Die politischen Ereignisse der letzten Jahre haben den einseitigen Klassencharakter der deutschen Republik mit letzter Deutlichkeit enthüllt. Sie haben gezeigt, daß die bürgerlichen Republikaner bereit sind, die Grundlage der Demokratie preiszugeben, um mit einer ausgesprochen antidemokratischen, faschistenfreundlichen Partei 10 gegen die Arbeiterschaft zu regieren. Die bürgerlichen Parteien haben erkannt, daß die republikanische Staatsform keinerlei Hindernis für die rücksichtslose Verfolgung der einseitigen Profitinteressen der Bourgeoisie darstellt. Es ist ihnen gelungen, aus der von der deutschen Arbeiterschaft geschaffenen Republik einen Staat zu machen, der, mindestens ebenso wie die einstige Monarchie, ein Herrschaftsinstrument in der Hand der Bourgeoisie ist. Sie haben es in ihrer überwiegenden Mehrheit abgelehnt, gemeinsam mit der Arbeiterschaft eine wahrhaft soziale Ausgestaltung der deutschen Republik vorzunehmen. […] Die innerhalb der sozialistischen Bewegung vielfach befürwortete und unterstützte Politik des Ausgleichs von Klassengegensätzen und der „Volksgemeinschaft“ ist heute als bürgerliche, antiproletarische Ideologie scharf gekennzeichnet, deren zeitweiser Einfluß auf die Politik der Sozialdemokratischen Partei die Lebensinteressen der Partei und damit des gesamten Proletariats schädigt. Auf Grund all dieser Ereignisse bekennt sich die Sozialdemokratie aufs neue zu der Lehre ihres Altmeisters Marx, daß die entscheidende Richtlinie für die Stellung des Proletariats zum Staate und für seine Politik in d iesem nur der auf die Ueberwindung des Klassenstaates gerichtete Klassenkampf sein kann. Sie betrachtet daher die bürgerliche Republik nur als diejenige Staatsform, in der der Entscheidungskampf z wischen Proletariat und Bourgeoisie seine letzte und schärfste Phase erreicht. Diesen Kampf mit allen Mitteln zu führen, erkennt die Sozialdemokratie als ihre dringendste gegenwärtige politische Aufgabe. […] Allein durch diese Politik wird es ihr gelingen, immer größere Arbeitermassen um ihre Fahnen zu scharen, die mit ihr das gleiche Ziel erstreben: Umgestaltung der politischen in die soziale Demokratie. (Vorwärts, Morgenausgabe, Nr. 192, 24. 4. 1927, 3. Beil. Anträge zum Parteitag: 3)
Der Parteitag mochte dieser Linie, die den Kampf gegen das Zentrum einschloss (als Konkurrenz um die Arbeiterschaft), nicht folgen und wies den Antrag zurück. Angesichts des Verhaltens der bürgerlichen Parteien in den folgenden Jahren erscheint die Stettiner Kritik berechtigt, angesichts des kommunistischen Drucks bleibt aber die Frage nach der Zukunftsfähigkeit fundamentaler Ablehnung des Kurses der Gesamtpartei.
z wischen Parteiführung und Basis, weil das Erfurter Programm „zur emotionalen Grundausstattung im Milieu“ gehörte (Weichlein 1999: 206). 10 An der Reichsregierung von Kanzler Hans Luther von Januar bis Dezember 1925 war die DNVP bis Oktober beteiligt, die DNVP war ebenso im Kabinett von Kanzler Wilhelm Marx von Februar 1927 bis Juni 1928 vertreten.
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Beim Magdeburger Parteitag 1929 beantragte der Parteivorstand einen Übergang zur Tagesordnung, um dadurch die Anträge zur Panzerkreuzer-11 und Koalitionsfrage abzuschmettern und eine Grundsatzdebatte im Richtungsstreit zu verhindern. Die pommerschen Delegierten stimmten mit der Minderheit geschlossen dagegen (Volksbote Nr. 123, 30. 5. 1929: 2). Die Beweggründe konnte Klenke noch nicht rekonstruieren. Seine Vermutung, es habe sich um „eine Motivlage im kernlinken Sinne“ gehandelt (Klenke 1987: 1125), trifft aber zu. Sie findet sich in der „Stellungnahme der Parteigenossen zum Magdeburger Parteitag“ (1. Beil. zum Volksboten, Nr. 130, 7. 6. 1929: 2). Genosse Dehl sagte: „Die Haltung der Partei in fast allen Fragen werde mit Demokratie begründet. Ich wünsche, daß die künftigen Parteitage mehr vom klassenkämpferischen Geist beseelt sind, als der letzte Parteitag in Magdeburg“ (1. Beil. zum Volksboten, Nr. 130, 7. 6. 1929: 2). Der Parteitagsdelegierte Schulz schloss die Mitgliederversammlung so: „Die pommerschen Genossen haben zu der Richtung gestanden, die man als Opposition bezeichnete“ (1. Beil. zum Volksboten, Nr. 130, 7. 6. 1929: 2). Die linke Minderheit kritisierte die Überidentifikation der SPD mit der Republik, die sie mit programmatischem Gesichtsverlust bezahle (Klenke 1987: 4 f 12). Die Parteilinke verfolgte mit dem politischen Kampf auch kulturelle Ziele, eine „sozialistische Parteikultur sollte solange in oppositionellem Treibhausklima reifen, 11 Der Bau des „Panzerkreuzers A“ war ein heftig umstrittenes Thema im Wahlkampf zum Reichstag 1928. Die SPD sprach sich gegen den Bau aus, Reichskanzler Müller musste sich aber dem Druck der DVP beugen. Das Schiff lief 1931 vom Stapel und wurde 1945 versenkt. 12 Lesenswert sind auch seine einleitenden Fragen, die gut die saturierten Einschätzungen aus Bonner Zeiten wiedergeben (1 – 3) und die noch in die Gegenwart strahlen, wonach Deutschlands Weg nach Westen ins Projekt Europa münde (Winkler 2004: 657). Die ökonomischen und politischen Erschütterungen seitdem machen diese Teleologie fragwürdig. Der Althistoriker Alexander Demandt verneinte schon 1993 unter Verweis auf Fundamentalismus, Bevölkerungsdruck und Technikfolgen eine historische Finalität, „die Endzeit-Idee ist ein Kind der Ungeduld“ (Demandt 1993: 225). Dies war gegen Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“ (1992) gerichtet. Dieser hatte aber bereits die Möglichkeit erwogen, dass sich nicht das liberale Posthistoire durchsetzen könnte: „Die Erfahrung lehrt, daß Menschen, die für die gerechte Sache nicht mehr kämpfen können, weil diese bereits in einer früheren Generation gesiegt hat, gegen die gerechte Sache kämpfen. Sie kämpfen um des Kampfes willen. Mit anderen Worten: Sie kämpfen aus einer gewissen Langeweile heraus, denn sie können sich nicht vorstellen, in einer Welt ohne Kampf zu leben. Und wenn der größte Teil ihrer Welt in friedlichen und wohlhabenden liberalen Demokratien lebt, dann kämpfen sie eben gegen Frieden und Wohlstand und gegen die Demokratie“ (Fukuyama 1992: 435 f ). Dies kann ein Erklärungsansatz sein, warum – neben ökonomischen, biographischen und kulturellen Verwerfungen – derzeit die extreme Rechte und der Islamismus in Europa stärker werden. Für den deutschen Osten kommt hinzu, dass die Euphorie von 1989/90 nicht durchzuhalten war, die Politik des demokratischen Staates also an Grenzen stößt, weil sie keinen Gefühlshaushalt betreiben kann. Auch hier wieder Fukuyama (1992: 413): „Heute stellen sie sich vor, daß sie glücklich wären, wenn sie dieses gelobte Land erreichten, denn dann wären viele Bedürfnisse und Wünsche erfüllt, die im heutigen Rumänien und China unerfüllbar sind. Eines Tages werden auch diese Menschen Spülmaschinen und Videorecorder und Privatautos besitzen. Aber werden sie dann auch mit sich zufrieden sein? Oder wird sich herausstellen, daß die Zufriedenheit des Menschen – der
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bis ein stabiler Milieuunterbau sozialistische Staatspolitik legitimatorisch und kapazitativ tragen konnte“ (Klenke 1987: 926). Die Linksopposition endete ab 1930, spätestens mit dem „Preußenschlag“, als „die Handlungsspielräume auf Null geschrumpft waren“ und „Resignation auch bei gestandenen Linken um sich griff“ (Klenke 1987: 936). Die Haltung der Sozialdemokraten in Pommern hatte sicher mit ihrem Status als Diaspora zu tun, die Gesellschaft hat sie auch in der Weimarer Republik nicht durchdringen können. Klenke (1987: 1186 f.) hat eine Tabelle der „regionale[n] Milieudichte der Parteiorganisation“ mit Stand 1. 1. 1928 erstellt, die den Diasporacharakter der pommerschen Sozialdemokratie verdeutlicht. Die Zahl der Mitglieder in Prozent der Einwohner betrug 0,5. Auf einen Quadratkilometer Provinzfläche kamen rechnerisch 0,3 Mitglieder. Ähnlich schlecht sah es nur in Ostpreußen aus, die übrigen Regionen kamen auf einen höheren Organisationsgrad (z. B. westliches Westfalen 0,9/2,3).
III.1.4 Widerstand im NS-Staat Auf Lücken und ideologische Vereinnahmung des Widerstands gegen das NS-Regime hat Inachin hingewiesen (2007, ähnlich bereits Görlitz 1961); die Arbeiterbewegung wurde in der DDR über-, in der Bundesrepublik unterbewertet. Für Pommern ist die Überlieferungslage schwierig, zumal es eine eher staatstreue und dem Nationalsozialismus überproportional zugewandte Provinz war. In einer Diktatur ist bereits das Bewahren geistiger Freiheit widerständiges Verhalten (Inachin 2004b: 84). Sofort nach den R eichstagswahlen vom 5. März 1933 setzten Terror und Verfolgung ein. Schwabe (2004: 20) schreibt, dass aus Mecklenburg und Vorpommern 30 Sozialdemokraten namentlich bekannt sind, die verurteilt, misshandelt und ermordet wurden, viele andere verloren ihre Anstellung und lebten „am Rande des Elends“. Nach dem 1. Mai 1933 folgte die Beschlagnahme des Gewerkschaftsvermögens. Die Sozialdemokratie verlor ihre Verlagshäuser, Druckereien und Buchhandlungen (Müller/Mrotzek/Köllner 2002: 159). Bis zum SPD-Verbot am 22. Juni 1933 versammelten sich noch Genossen, vergeblich auf das Signal zum aktiven Widerstand wartend – der Kurs der Parteiführung „desorientierte und deprimierte“ viele Mitglieder (Müller/Mrotzek/ Köllner 2002: 154). Lamprecht (1969: 101) zufolge machten sich schon vor dem Parteiverbot „Zerfallserscheinungen“ bemerkbar, sodass man von einer Parteiorganisation nicht mehr sprechen könne. Einzelne Genossen wirkten im Widerstand: SPD -Parteisekretär Erich Dehl hielt Kontakt zur Prager Exilführung und brachte Aufklärungsmaterial aus der ČSR nach Pommern, er wurde mit anderen Genossen 1935 verhaftet (Matull 1973c: 295). Das Grenzsekretariat der Sopade (die SPD im Exil) in Danzig bzw. Gdingen, das für Pommern und Ostpreußen zuständig war, leitete zeitweise Erich Brost (Inachin 2004b: 88). Seeleute schleusten über Stettin Informationen und Material ein und verhalfen Genossen zur Flucht (Inachin 2004b: 88). 1936 fanden politische P rozesse statt, zu e inzelnen A ktionen, die brutal Gegensatz zu seinem Glück – nicht in dem Ziel liegt, sondern im Kampf und Leiden auf dem Weg zu diesem Ziel?“
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verfolgt und mit Todesstrafen belegt wurden, kam es während des Krieges. In Stralsund trafen sich ab Sommer 1944 Sozialdemokraten, um den Neuanfang nach der militärischen Niederlage vorzubereiten (Müller/Mrotzek/Köllner 2002: 173). Der frühere „Volksbote“-Redakteur Karl Krahn hat seine eigene Widerstandsarbeit geschildert, er beschaffte illegales Informationsmaterial, saß im Zuchthaus Gollnow ein und war 1945 an der Neugründung der Stettiner KPD -Ortgruppe beteiligt, bevor die Stadtverwaltung Polen übergeben wurde (Krahn 1965, Bericht: Mai 1965). Inachin (2004b: 101) sieht als Merkmal des sozialdemokratischen Widerstands das Beharren in den Milieus und die Ablehnung des kommunistischen Aktionismus – „diese defensive Vorgehensweise machte das Eindringen von Gestapo-Spitzeln weit schwieriger als die Infiltration in kommunistische Untergrundgruppen“. Erschwert wurde die oppositionelle Haltung durch die außenpolitischen und wirtschaftlichen Erfolge des NS -Regimes (Inachin 2004b: 96).
III.1.5 Die Zwangsvereinigung zur SED 1946 Trotz des Drucks der sowjetischen Besatzungsmacht, der gemeinsamen Verfolgungserfahrung im NS-Regime und durchaus vorhandener Bestrebungen, die 1932/33 unterbliebene Einheit der Arbeiterbewegung nun nach Kriegsende herzustellen, bemühte sich die Sozialdemokratie im neuen Land Mecklenburg-Vorpommern in der SBZ, eigene Strukturen zu behaupten. Die Sowjetische Militäradministration verbot, die bis 1933 gültige Bezirksgliederung wiederherzustellen (Woyke 2008: 244). In Stralsund war es Max Fank (Bezirksleitungen der SED 1986: 95), der eine führende Position einnahm, doch bald die Vereinigung mit der KPD befürwortete (Schwabe 1998: 80). Der Versuch, in Stralsund wieder eine sozialdemokratische Zeitung herauszubringen, wurde von der Besatzungsmacht vereitelt (Kortüm 1956: 8). Dass Greifswalder Sozialdemokraten im Juni 1945 die Zulassung einer Ortsgruppe beim Stadtkommandanten beantragten und sich dabei eine Verschmelzung mit der KPD vorbehielten (Bezirksleitungen der SED 1986: 93), darf als politische List betrachtet werden. Da Greifswald der Roten Armee kampflos übergeben worden war, konnte mit einem größeren Entgegenkommen gerechnet werden. Der Landesparteitag der SPD fand am 7. April 1946 in Schwerin statt; zum Zeitpunkt der Zwangsvereinigung hatte die mecklenburg-vorpommersche SPD 83.266 Mitglieder, die KPD 70.516 (Bezirksleitungen der SED 1986: 205, 207). Das Grußwort sprach ein Vertreter der Militäradministration. Es gab keine Gegenstimmen zur Vereinigung. Der Zentralausschuss der (Ost-)SPD hatte die ideologische Zuverlässigkeit der Delegierten vorher sichergestellt: „Wo Funktionäre nicht eindeutig für die Einheit der Arbeiterschaft eintreten, können sie ein Amt in der Sozialdemokratischen Partei nicht länger bekleiden“ (zit. n. Schwabe 1999: 20). Mit der Stalinisierung der SED ab 1948 („Partei neuen Typs“ nach dem Vorbild der KP dSU ) wurden sozialdemokratische Positionen marginalisiert, bis 1953 wurden etwa 5.000 ehemalige Sozialdemokraten in Mecklenburg (Vorpommern wurde 1947 aus dem Landesnamen gestrichen) ausgeschlossen, verhaftet und verfolgt (Schwabe 1999: 20). Der
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genannte Max Fank 13 beispielsweise wurde wegen seiner Kritik an der SED ausgeschlossen und zu einer Zuchthausstrafe verurteilt (Schwabe 1998: 80).14 Nachdem auch in den Nordbezirken am 17. Juni 1953 Arbeiter gegen das SED-Regime protestierten, setzte eine weitere Fluchtwelle ein (Schwabe 2007: 65). Sozialdemokraten, die in den Westen gingen, halfen dort beim Wiederaufbau (Matull 1973c: 303).
III.1.6 Neuanfang 1989 in Vorpommern Den Konkursverwaltern des SED-Regimes (aus Pommern: Egon Krenz [geb. 1937 Kolberg], Hans Modrow [geb. 1928 Kreis Randow], Günter Schabowski [geb. 1929 Anklam], Lothar Bisky [geb. 1941 Kreis Rummelsburg]) standen 1989 evangelisch sozialisierte Oppositionelle gegenüber. Die sozialdemokratische Partei der DDR (SDP) wurde u. a. von Pfarrern gegründet, was zumindest ein soziologisches Paradoxon darstellt. Allerdings war auch die SED längst eine Kaderpartei, deren Bekenntnis zum werktätigen Volk schon seit dem Aufstand von 1953 brüchig geworden war. Die SPD in der Bundesrepublik hatte bis 1989 „im Rahmen ihrer entspannungspolitischen Vorstellungen an der Stabilisierungspolitik der SED “ festgehalten, wobei das gemeinsame Papier von 1987 („Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“) durchaus im Bewusstsein der DDR-Bürger eine Rolle spielte (Neubert 2000: 663 – 666). Der illegalen Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR am Tag der Republik, 7. Oktober 1989 (aus Stralsund Architektin Ursula Kaden, aus Greifswald Studentenpfarrer Arndt Noack), folgten die SDP-Gruppen Stralsund (18. 10. 1989) und Greifswald (26. 10. 1989 – zum Geschehen in den drei Nordbezirken der DDR s. Langer 1999). Kurzzeitig gab die Sozialdemokratie die „Vorpommersche Rundschau“ heraus, die sich aber wie die meisten Wendezeitungen (u. a. „Greifswalder Tageblatt“) nicht halten konnte. Die stürmische Entwicklung 1989/90 „ließ wenig Zeit und Raum für eine gründliche innerparteiliche Diskussion und damit über die Klärung der anstehenden inhaltlichen Fragen“, problematisch wurde die geringe Mitgliederzahl, „Arbeiter gab es nur wenige“ (Stutz u. a. 2007: 619). 1992 zählte der Landesverband Mecklenburg-Vorpommern nur etwas mehr als 3.000 Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten; ehemaligen SED-Mitgliedern 13 Eine Kurzbiographie von Gisela Klostermann in Schwabe (2004: 77 – 79). Fank floh in den Westen, wo er 1959 – 1961 Ratsmitglied in Wattenscheid wurde. Er starb 1978 in Hamburg. 14 Über einen alten Sozialdemokraten aus Rostock, Albert Schulz, der aus der SED ausgeschlossen wurde und floh, hieß es in der offiziellen Geschichtsschreibung der DDR: „Nur eine äußerst geringe Minderheit ehemaliger SPD-Mitglieder verharrte, bestärkt durch Verbindungen zur rechten Führung der SPD in den Westzonen, unbelehrbar auf antikommunistischen Positionen. (…) In einer Zeit, in der sich die SED um die stärkere Durchsetzung des demokratischen Zentralismus und die Planung der gesellschaftlichen Entwicklung als wesentliche Voraussetzung für die Höherentwicklung des revolutionären Prozesses bemühte und sich dabei Vorbehalten bürgerlicher Kräfte gegenübersah, konnte das Verhalten von Schulz nicht anders als fraktionell und parteischädigend bewertet werden“ (Bezirksleitungen der SED 1986: 432 f ).
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wurde der Beitritt nur in Ausnahmefällen gestattet (Schwabe 2004: 25 f., er sieht darin eine Förderung der innerparteilichen Geschichtslosigkeit 15). Der Wiederaufbau war schwierig, „es fehlte an Büroraum, Personal, technischen Hilfsmitteln und Finanzen – aber, anders als nach Kriegsende, vor allem an Mitgliedern und Funktionären“ (Müller/Mrotzek/ Möllner 2002: 233). Bei den vier Urnengängen 1990 (Volkskammer, Kommunen, Bundestag, Landtag) schnitt die SPD schlechter als demoskopisch erwartet ab. Seither erzielt sie im mecklenburgischen Landesteil bessere Ergebnisse als in Vorpommern – es haben sich Parteipräferenzen über vier politische Systemwechsel hinweg erhalten (Schoon 2007). Erschwerend für die Parteiarbeit war die Auflösung der Strukturen und Milieus (Flügge/ Hein 2013: 28), was durch die Deindustrialisierung noch verschärft wurde. Trotzdem ist es der SPD in Mecklenburg-Vorpommern „gelungen, strukturelle Mehrheitspartei im Land zu werden“ (Flügge/Hein 2013: 53). Allerdings gibt es besonders in Vorpommern eine „äußerst schwache strukturelle Verankerung“, die Mitgliederschwäche seit dem Deutschen Reich setzte sich auch im vereinigten Deutschland fort, „in vielen Gegenden des Landes gibt es de facto keine SPD“ (Schoon 2010: 247).
III.1.7 Stettiner Delegierte auf Parteitagen der SPD im Reich Die SPD als Programmpartei verfügt über eine lange Tradition von Grundsatzdebatten. Auch die pommerschen Delegierten nahmen daran teil, wie die gedruckten Protokolle der Parteitage auf Reichsebene bezeugen (von der Friedrich-Ebert-Stiftung digitalisiert). Die Stettiner warben insbesondere um Berücksichtigung des ländlichen Proletariats, das angesichts der industriellen Ballung andernorts (Sachsen, Thüringen, rheinisch-westfälisches Industrierevier, Berlin, Schlesien) zu kurz zu kommen drohte. Allerdings ist festzuhalten: „Ausstrahlung auf die Sozialdemokratie kam kaum aus dieser Region“ (Müller/Mrotzek/ Köllner 2002: 9). Deutschlandweit war der Einfluss der Sozialdemokraten abseits der großen Städte zu gering für eine gesellschaftliche Durchdringung. Umgekehrt würden Erfolge in der Diaspora die gesamte Partei beflügeln, gerade durch Erschließung von Wählern außerhalb der klassenbewussten Arbeiterschaft, argumentierte man in Pommern. So sagte Fritz Herbert, Stettin (Gründer des „Volksboten“), in Halle/Saale 1890: Die Angriffe auf die Fraktion kommen von Seiten Derer, die in den großen Städten sitzen und sich nicht die Mühe geben, aufs Land zu gehen und dort die ungleich schwerere Agitation zu betreiben. Dort fragt man uns zunächst immer: Was habt ihr bereits gethan? und kann man keine positive Antwort geben, dann ist es nichts mit dem Erfolg. Die Landbevölkerung ist bisher von uns noch nicht genügend berücksichtigt worden, auch bei den Arbeiterschutzanträgen. Wir müssen darauf hinarbeiten, daß auch den Landarbeitern das Koalitionsrecht gegeben wird. Ich habe während meiner Ausweisung aus Stettin manches auf dem platten Lande in der so verrufenen Provinz Pommern erreicht; aber weit mehr würde man dort den 15 Die Unvereinbarkeitsregelung entfiel im Juni 1990 (Müller/Mrotzek/Köllner 2002: 242).
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neuen Ideen zujauchzen, wenn die Führer und bewährten Kräfte mehr von den Städten hinausgingen, wenn nicht so oft der mit Mühe gewonnene Referent im letzten Augenblicke wieder abschriebe. Es wäre doch die größte Ruhmesthat, gerade Pommern zu gewinnen. Griffe hier die Fraktion ein, sie würde sich den besten Dank erwerben. (Protokoll 1890: 92 f.)
Als auf dem Erfurter Parteitag 1891 der Rosenheimer Delegierte von Vollmar auf die neue Lage nach Bismarcks Sturz hinwies und für die weitere politische Arbeit einen reformerischen Kurs beantragte (im Gegensatz zu Bebel), beharrte Herbert auf der traditionellen Linie, die allerdings auch Radikalisierungen von Links ausschloss; wichtig war die ideologische Kontinuität: Wir haben mehr Grund, uns mit Vollmar zu beschäftigen, als mit der Opposition, wie es die meisten Redner bisher gethan haben. Vollmar spricht vom Herrschen eines neuen Kurses. Wir in Pommern merken nichts davon, wir haben im Gegentheil Herrn von Puttkamer [das weitverzweigte pommersche Adelsgeschlecht von Puttkamer stellte zahlreiche preußische Offiziere und Staatsbeamte – H. B.] erhalten. Im Lande herrschen die alten Behörden, die alten Staatsanwälte, und andererseits wird der Kampf z wischen der Bourgeoisie und uns immer erbitterter. Die Frage der Taktik ist nicht allein nach den im Lande errungenen Erfolgen, sondern auch nach der Reinheit des Prinzips zu beurtheilen. Wir müssen Stellung nehmen, um Allen, die Vollmar ganz oder halb zugestimmt haben, zu erklären, daß der Parteitag diesen Weg nicht beschritten wissen will. Würden wir den Standpunkt Vollmar’s einnehmen, dann hätte die Opposition mit ihrer Behauptung recht, daß wir zu einer kleinbürgerlichen Reformpartei herabgesunken sind. Es muß ein Antrag angenommen werden, welcher die Taktik festlegt und erklärt, daß wir weder nach links, noch nach rechts gehen. (Protokoll 1891: 235 f.)
Der Stettiner Delegierte Franz Storch pflichtete Herbert bei, er sprach sich gegen die linke Berliner Opposition aus und beklagte mangelnde Unterstützung; das Zentralorgan sei ungeeignet: Wenn irgendwo in der Agitation vom Parteivorstande zu wenig geleistet wird, so ist es in Pommern. Alle unsere Bitten um einen Abgeordneten blieben erfolglos. Allerdings ist Liebknecht neuerdings dort gewesen. […] Die Berliner, wenigstens die ehrlichen Elemente, sollten ihre Augen doch nicht der Thatsache verschließen, wie sehr sie durch ihre Opposition unsere Agitation auf dem Lande erschweren. Wir sind z. B. nicht in der Lage, den „Vorwärts“ ungelesen und undurchgesehen auf das Land zu befördern; denn die Versammlungsberichte schaden uns mehr als sie uns nützen. (Protokoll 1891: 109)
Auf den SPD-Parteitagen wurden auch Fragen der wachsenden sozialdemokratischen Presse verhandelt. Das Protokoll von 1892 nennt im Anhang eine Zuschrift „Personal des Stettiner Volksboten“. Für diesen forderte der Randow-Greifenhagener Delegierte Storch mehr Unterstützung der Partei (Protokoll 1892: 104). Den aufkommenden Neid wegen der recht
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günstigen Arbeitsbedingungen der Journalisten wies Fritz Herbert 1894 zurück: „Wir können doch die Redakteure nicht in eine Scheune sperren […] Freuen wir uns vielmehr, daß wir solche Gehälter zahlen können“ (Protokoll 1894: 80). Über den Zugriff des Apparats auf die Zeitungen bestand in Pommern kein Dissens. Gustav Knappe sagte in Hannover, als es um die Berliner Möglichkeiten, auf das Zentralorgan „Vorwärts“ einzuwirken, ging: „Die Berliner haben ebenso ein Recht darauf, Einfluß auf ihr Blatt zu gewinnen, wie jeder Ort in der Provinz“ (Protokoll 1899: 284). Über den Erfolg der Agitation bestanden geteilte Auffassungen. Herbert: „Das unentgeltliche Vertheilen von Druckschriften auf dem Lande halte ich für ein geeignetes Mittel. […] Ueberstürzen wir nichts, der Landmann kommt zu uns, langsam aber sicher“ (Protokoll 1895: 149). Gustav Knappe fürchtete Wirkungslosigkeit von punktuell gültigem Material, Kalender s eien besser geeignet „als Flugblätter, die weggelegt werden“ (1897: 101). Knappe war auch offen für eine Unterstützung liberaler Kandidaten bei den preußischen Wahlen, wo Sozialdemokraten wegen des nach Steuerklassen gewichteten Stimmrechts geringe Chancen hatten: Die Freisinnigen sah er als „Damm gegen die Reaktion, den wir mit unseren eigenen Bausteinen nicht ausführen können… wir benutzen diese Leute nur, um einen Schaden, der uns droht, zu verhindern“ (1897: 205). Herbert – die Teilnehmer wechselten – hatte sich differenziert gegen Schutzzölle und für Freihandel ausgesprochen (1898: 190 f ). August Horn und Paul Höfs luden erfolglos zum Abhalten eines Parteitages nach Stettin nebst Ostseebootsfahrt ein (Protokoll 1904: 325; 1905: 360 f ). Auf dem Bremer Reichsparteitag 1904 bat MdR Körsten (Randow-Greifenhagen) um eine stärkere Berücksichtigung Pommerns und eine vermittelnde Sozialpolitik: Es besteht allerdings ein Unterschied zwischen Berlin VI [Wahlkreis – H. B.], Leipzig und Hinterpommern […] Wenn wir mit dem Achtstundentag in Pommern agitieren wollten, dann wäre es aus mit den Erfolgen; wir müssen zu dieser mittleren Politik greifen, das hat uns die Stimmen gebracht. (Protokoll 1904: 208 f )
Bebel entgegnete: Nach seiner [Körstens – H. B.] Auffassung hätte die Partei und die Fraktion in ihrer ganzen parlamentarischen und agitatorischen Tätigkeit immer nur auf die rückständigsten Wahlkreise Rücksicht zu nehmen […] Wir haben die Ansicht vertreten, daß wir die rückständigen Wähler zu erziehen haben (Sehr richtig!) und daß wir das einzig und allein von dem höheren Standpunkte des Prinzips aus können. (Protokoll 1904: 209)
Genosse Ledebour sagte gegen die pommerschen Vorschläge: Es ist erstaunlich, daß man einen Genossen daran erinnern soll, daß alle Reformisteleien in der Furcht vor der revolutionären Kraft und dem Willen der sozialdemokratischen Partei ihren Ursprung haben. Mit einer solchen Politik des Entgegenkommens gegen die b ürgerlichen
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Parteien und die Regierung, wie Körsten sie empfiehlt, würde das, was er will, der sozialdemokratische Fortschritt, geradezu vereitelt werden. Soweit ich die Partei kenne, ist jedoch keine Aussicht vorhanden, daß sie je auf s olche hinterpommersche Politik herunterkommen wird. (Protokoll 1904: 214)
Die Bremer Auseinandersetzung sorgte für Artikel im „Volksboten“. Die Reden Ledebours, Körstens und Bebels wurden in Artikeln erörtert. Genosse Hanisch 16 schrieb: Es ist wirklich schwer zu begreifen, wie eine so bescheidene Resolution, die doch nur den einen Wunsch ausdrückt, die Fraktion möge noch einmal auf die „Hinterpommern“ ein klein wenig Rücksicht nehmen, einen solchen Sturm der Entrüstung auf dem Bremer Partei tag unter den parlamentarischen Vertretern unserer Partei hervorrufen konnte. (Volksbote Nr. 224, 23. 9. 1904: 1)
Der pommersche Parteitag hatte den Antrag gestellt, dass sozialpolitischen Verbesserungen zugestimmt werden möge. Der „Volksbote“ kommentierte: Die Fraktion fühlte wohl selbst, daß die Kritik des Pommerschen Parteitages eine wunde Stelle in ihrer Tätigkeit bloßgelegt hatte und schickte deshalb ihre größten Redner ins Treffen, um den „Hinterpommern“, die sich erdreistet hatten, klüger als die Herren in Berlin zu sein, mal gehörig ob ihrer „Frechdachsigkeit“ die Leviten zu lesen. (Volksbote Nr. 224, 23. 9. 1904: 1)
In Stettin bereitete eine Versammlung den Bremer Parteitag nach (Berichterstatter Horn). Herbert brachte den Antrag ein, der „entschieden gegen die hochfahrende Art des Genossen Ledebour“ protestierte, „der die Parteigenossen Pommerns als rückständig und minderwertig hinzustellen beliebt hat“ (Volksbote Nr. 228, 28. 9. 1904: 3). Genosse Storch sprach sich gegen Herberts Resolution aus, „die Ausführungen Ledebours seien nicht so bös gemeint“, die Stettiner Versammlung nahm bei Storchs Gegenstimme die Herbert’sche Resolution an (Volksbote Nr. 228, 28. 9. 1904: 4). In der Debatte über politische Massenstreiks (ein Hauptstreitpunkt der Arbeiterbewegung,17 der ihre Spaltungstendenzen verstärkte und den 16 Alois Hanisch wurde 1853 im Kreis Leobschütz (Oberschlesien) geboren und arbeitete zunächst als Stellmacher in Altdamm. Ab 1889 lebte er in Stettin, wo er Modelltischler in den Oderwerken und bei Vulcan war. Ab 1890 Sozialdemokrat, ab 1895 Expedient und verantwortlicher Verleger des „Volksboten“, was er 1924 wegen eines Augenleidens aufgeben musste. Er gab „1907 und 1908 im Auftrage der Partei Randow-Greifenhagen sozialistische Monatsblätter heraus. Die Blätter, die noch heute überaus interessant nachzulesen sind, nannten sich ,Der Sozialdemokrat‘ und wissen die Gegner der Sozialdemokratie sowohl mit sachlichem Ernst und mit wissenschaftlichem Schwergeschütz, als mit Witz und Satyre, mit Spott und Hohn zu schlagen“ (1. Beil. zum Volksboten, Nr. 7–8. 1. 1928: 1). 17 Klotzbach (1981: 7) weist auf das Problematische d ieses Begriffs 1914 ff. hin, hält aber daran fest. Der Verfasser schließt sich an, nicht nur wegen der Etabliertheit, sondern auch zeitgenössischen
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Die pommersche Sozialdemokratie
linken Flügel von der Mehrheit entfremdete), hier wieder wegen des preußischen Dreiklassenwahlrechts, kam Fritz Herbert ausführlich und strategisch sehr überlegt zu Wort: Wenn bei der Wahlrechtsbewegung in Preußen keine anderen Mittel angewandt werden sollen als Versammlungen, so kann man sie ruhig einstellen. Versammlungen imponieren der Regierung nicht, auch nicht Straßendemonstrationen; diese wären ihr vielleicht sogar lieb, um der Arbeiterbewegung Blut abzuzapfen. Wir in Pommern sind nicht gewillt, die Flinte ins Korn zu werfen. Wir müssen versuchen, die Junker am Lebensnerv zu treffen und die Landarbeiter für den Massenstreik zu gewinnen. […] Das Junkertum ist durchaus nicht unüberwindlich. Marx sagt, daß eine politische Gewalt eine ökonomische Basis haben muß, sonst bricht sie zusammen; ohne ökonomische Basis kann sich die politische Gewalt nicht dauernd aufrecht erhalten. Durch die zunehmende Industrialisierung wird dem Junkertum der Boden abgegraben. […] Ich sehe nun nicht ein, warum die Bourgeoisie Süddeutschlands der Prügelknabe für die preußische Junkerreaktion sein soll; ein Massenstreik zur Erringung des allgemeinen Wahlrechts in Preußen braucht nur das norddeutsche Bundesgebiet zu umfassen. […] Die Bourgeoisie ist nicht auf seiten der Junker. Die Bourgeoisie ist eher geneigt, Konzessionen zu machen, schon aus Furcht vor einer Empörung; sie betrachtet die Konzessionen als Sicherheitsventil. Die Bourgeoisie sichert sich nur mehr Rechte, die kompakte Majorität aber, sie läßt die Arbeiter eher mitreden. (Protokoll 1906: 285)
1907 in Essen beklagte der Greifenhagener Delegierte Scharping, dass auf dem Lande das Wahlgeheimnis nicht gewahrt werde: „Wie oft ist uns von den Landarbeitern gesagt worden, wir können nicht für Euch stimmen, weil sonst unbedingt unser Arbeitsverhältnis gelöst wird“ (Protokoll 1907: 235). Ernst Mehlich tat sich 1909 im Kampf gegen den Alkoholmissbrauch hervor (Protokoll 1909: 268 f.), er forderte ebenso eine Professionalisierung der Arbeiterbibliotheken (497). Klotzbücher (2009) würdigt sein Engagement für diesen Bildungsbereich. 1920 forderte die Delegierte Schumann sozialen Wohnungsbau (Protokoll 1920: 263 f ): Wenn jetzt wieder Boden und Keller zu Wohnungen ausgebaut werden müssen, so ist dieser Zustand geradezu unerträglich. Vor allem wird die Gesundheit unseres Volkes dadurch aufs schwerste geschädigt. Die Tuberkulose nimmt überall überhand und die Gesundheit unserer Kinder wird aufs schwerste gefährdet. Auch die Sittlichkeit leidet unendlich darunter. Wenn heute gerade von bürgerlicher Seite geklagt wird, daß die Jugend sittlich verwahrlost, so ist das zum größten Teil darauf zurückzuführen, daß die Menschen in engen Räumen zusammengepfercht werden. […] Staat und Reich müssen Neubauten erstehen lassen. […] Beim Wohnungsbau schafft man nicht nur Wohnungen für die vielen Tausende, die eine Wohnung suchen, sondern auch Arbeitsgelegenheit. Verwendung, die oft im Widerspruch zur politischen Praxis stand, aber z. B. im „Volksboten“ ganz selbstverständlich war.
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In Kiel kritisierte 1927 der Delegierte Hermann Wilke die Parteiführung scharf. Die Frage der Fürstenentschädigung 18 habe die Arbeit der SPD-Presse erschwert. Wilke sagte: Es trifft nicht zu, daß diese Frage durch die Schuld der Redakteure der Bezirkszeitungen oder der Parteisekretäre nicht zur Ruhe kam. Die Funktionäre in den Betrieben und die, die die Kleinarbeit in der Partei leisten, waren ungehalten, und es bedurfte erst des ganzen Einflusses der Partei am Ort, um diese Genossen bei der Stange zu halten und die Werbearbeit durchzuführen. Wir wollen uns doch nichts vormachen! Diese Erledigung der Fürstenabfindung war eins der besten Agitationsmittel für die Kommunisten, welches wir ihnen als Material überließen […] Wenn wir aber hier von Tradition sprechen, so kann ich auf August Bebel hinweisen, der sich gegen die Mitarbeit von Sozialdemokraten an bürgerlichen Zeitungen wandte. Wer spricht heute darüber, daß namhafte Parteigenossen glauben, ihre Produkte nicht anders als an bürgerliche Zeitungen loswerden zu können. (Sehr richtig!) Ob sie sich demokratisch oder als etwas anderes bezeichnen, sind diese Blätter uns Sozialisten grundsätzlich feindlich gegenüber eingestellt. (Sehr richtig!) Man sollte deshalb mit seinen Donnerkeilen gegen die sogenannte Opposition etwas vorsichtiger sein. Ich bin auch nicht der Meinung, daß Parteiblätter, die in politischen Fragen eine andere Haltung als das sogenannte Zentralorgan der Partei einnehmen, der kommunistischen Partei billiges Agitationsmaterial liefern. Warum wird gerade die sogenannte Linke in der sozialdemokratischen Partei von den Kommunisten auf das gröbste angepöbelt und angefeindet? – Weil die Kommunisten genau wissen, daß die sogenannte Linke innerhalb der sozialdemokratischen Partei einen viel größeren Einfluß bei den großen Massen hat. (Protokoll 1927: 79 f )
Wilke vertrat damit eine radikalere Haltung, die wegen der Schwäche der pommerschen Sozialdemokratie gerade in diesen Jahren erklärlich war. Beim Kieler Parteitag traten die Differenzen der linken und rechten Strömungen der SPD offen zutage. Daran beteiligte sich auf der Linken auch der „Volksbote“. In seinem Leitartikel „Der Kieler Parteitag“ (22. 5. 1927: 1) hieß es: Wir haben immer die Ansicht vertreten: und mag der Minister noch so tüchtig sein, wenn er es nicht fertigbringt, den Apparat, mit dem er arbeiten soll, in seinem Sinne umzugestalten, dann bleibt eben in Wirklichkeit der alte Zustand in der Republik, wie er vorher in der Monarchie war.
Weiter heißt es zum Charakter des Reiches:
18 Es ging um das Vermögen der bis 1918 regierenden Häuser. Beim gescheiterten Volksentscheid 1926 stimmte die Mehrheit für eine entschädigungslose Enteignung, es nahm aber nicht die Mehrheit der Wahlberechtigten teil. Für Vorpommern vgl. Maur 1962.
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Die pommersche Sozialdemokratie
Die heutige Staatsform, die eine republikanische ist, bietet die Möglichkeit, daß der Staat auch zu einem republikanischen werde. Mit ihrer Verfassung macht sie ihn aber noch nicht zu einem solchen. Heute haben wir die Tatsache zu verzeichnen in Deutschland, daß der Staat, in dem sich Macht- und Klassenverhältnisse ausdrücken, keine grundsätzliche Veränderung gegenüber der früheren Zeit zeigt.
Eine Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien wird mit Verweis auf die Notwendigkeit marxistischer Umgestaltung strikt abgelehnt. – Tagelang berichtet der „Volksbote“ vom Parteitag, meist durch Abdruck der Sitzungsprotokolle. Insgesamt kommen die Stettiner Delegierten bei den Parteitagen der Reichspartei selten zu Wort. Die Einladungen, sich in der pommerschen Provinzhauptstadt zu versammeln, wurden ausgeschlagen. Jahr
Tagungsort
Name
1890
Halle/Saale
Fritz Herbert 19
1891
Erfurt
Fritz Herbert, Franz Storch
1892
Berlin
Fritz Herbert, Robert Scheffler, Franz Storch (Randow)
1893
Köln
Fritz Herbert, Alexander Kuntze
1894
Frankfurt/Main
Fritz Herbert, Franz Storch
1895
Breslau
Fritz Herbert, August Steinweg
1896
Gotha
Fritz Herbert, Albert Appel
1897
Hamburg
Gustav Knappe
1898
Stuttgart
Fritz Herbert
1899
Hannover
Gustav Knappe
1900
Mainz
Franz Storch
1901
Lübeck
Richard Krause
1902
München
Richard Milenz, Alois Hanisch (Grabow)
1903
Dresden
Fritz Herbert, Franz Storch
1904
Bremen
August Horn, Heinrich Schmidt (Grabow)
1905
Jena
Wilhelm Heidke (Randow), Paul Höfs
1906
Mannheim
Fritz Herbert, Dr. Ludwig Quessel (Randow)
1907
Essen
Wilhelm Goebel, Max Scharping (Randow),
1908
Nürnberg
Richard Milenz, August Müller (Randow)
1909
Leipzig
Ernst Mehlich
1910
Magdeburg
Otto Manike, Alois Hanisch (Randow)
1911
Jena
Berta Büchelt, Ludwig Ernst, Fritz Zyliegen (Randow)
1912
Chemnitz
Wilhelm Schmidt, Alois Hanisch (Randow)
1913
Jena
Robert Juul, August Horn (Köslin), Alois Hanisch (Randow)
19 Herbert nahm schon am Exilparteitag 1887 in St. Gallen teil (Lamprecht 1991: 189).
Die pommersche SPD 1917
Würzburg
Alexander Kuntze
1919
Weimar
Alexander Kuntze, Theodor Hartwig, Else Höfs 20, Franz Klütz (Randow)
1920
Kassel
Theodor Hartwig 21, Elisabeth Schumann
1921
Görlitz
Ewald Bollack (Bezirk Pommern)
1922
Augsburg
Otto Passehl 22
1924
Berlin
August Horn 23, Hermann Wilke (Bezirk Pommern), Theodor Hartwig (Partei)
1925
Heidelberg
Hermann Wilke (Bez. Pommern), Bülow (Reichstag), Th. Hartwig (Partei)
1927
Kiel
Hermann Wilke (Bez. Pommern), Theodor Hartwig (Partei)
1929
Magdeburg
Robert Schulz (Bez. Pommern), Gustav Schumann (Partei)
1931
Leipzig
Gustav Schumann (Partei), Hermann Wilke (Bezirk Pommern)
1916
Berlin
Fritz Herbert, Alois Hanisch (Randow)
1920
Berlin
Theodor Hartwig, Gustav Schumann
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Tab. 5: Stettiner Delegierte auf Parteitagen der SPD 1890 – 1931. Grabow wurde 1900 nach Stettin eingemeindet, Randow-Greifenhagen war der südlich anschließende Wahlkreis. 1916, 1920 Reichskonferenzen. Quelle: Präsenzlisten der jeweiligen gedruckten Protokolle, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.
III.1.8 Pommersche SPD-Parteitage Hier werden die Parteitage berücksichtigt, zu denen die „Volksboten“-Ausgaben erhalten sind oder die gedruckten Protokolle selbst, wo vorhanden; diese sind sehr umfangreich. Kurzberichte sind im Zentralorgan „Vorwärts“ zu finden, sie füllen die Überlieferungslücken des „Volksboten“. 1891 Über den pommerschen Parteitag 1891 in Stettin berichtete der „Vorwärts“, dass 40 Delegierte daran teilnahmen und 18 Orte vertraten. Die Partei erziele trotz großer Schwierigkeiten („besonders sind die Pastoren in Sorge um ihre Schäflein“) Erfolge. Zur Leitung der Agitation wurde eine fünfköpfige Kommission eingesetzt (Vorwärts Nr. 154, 5. 7. 1891: 10). 20 Eine Kurzbiographie von Else Höfs von Werner Lamprecht findet sich in Schwabe (2004: 68 f ). 21 Eine Kurzbiographie von Theodor Hartwig von Werner Lamprecht in Schwabe (2004: 74 f ). 22 Auch Delegierter auf dem Einigungsparteitag in Nürnberg (Zusammenschluss mit der Rumpf-USPD). 23 Horn war maßgeblich an der Gründung der USPD-Ortsgruppe in Stettin beteiligt, s. Janitz 1969: 204 f.
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Die pommersche Sozialdemokratie
1892 Im Zentrum des Parteitages in Grabow stand die Agitation. Ein Antrag, den „Volksboten“ in Privateigentum [es handelt sich wohl um einen Druckfehler, gemeint ist Parteieigentum – H. B.] zu überführen, fand keine Mehrheit, dafür wurde die Bildung einer Pressekommission mit fünf Personen beschlossen. Der Parteitag verabschiedete eine Resolution, wonach in allen Wahlkreisen der Provinz Kandidaten aufgestellt werden sollten, die dort wenigstens bekannt sein und möglichst auch wohnen sollten (Vorwärts Nr. 10, 12. 1. 1893: 4). 1893 Auf der Tagesordnung des Stettiner Parteitags am 17. September 1893 standen u. a. der Bericht der Agitationskommission, ein Rückblick auf die Reichstagswahlen sowie die künftige Tätigkeit (Vorwärts Nr. 185, 9. 8. 1893: 6). In Greifswald berichtete der Delegierte Poggendorf über den Parteitag und die dort diskutierte Landagitation (Vorwärts Nr. 235, 6. 10. 1893: 3). 1894 Eine Debatte, ob der „Volksbote“, im Privateigentum Fritz Herberts, in Parteieigentum gelangen sollte, gab es auch beim Stettiner Parteitag 1894. Ein entsprechender Antrag wurde mit 18 gegen 16 Stimmen abgelehnt. Angenommen wurde ein Antrag, der Kreisparteitage und deren Unterstützung durch die Agitationskommission ermöglichte (Vorwärts Nr. 234, 7. 10. 1894: 3). 1895 Hier berichtete der „Vorwärts“ knapp, dass der pommersche Parteitag beschloss, sich nur noch alle zwei Jahre zu versammeln. Die Delegierten forderten den Breslauer Parteitag der Gesamtpartei auf, sich gegen Landsmannschaftsvereine auszusprechen, „um eine Zersplitterung der Parteikräfte zu vermeiden“ (Vorwärts Nr. 221, 21. 9. 1895: 3 f ). 1897 Auf dem pommerschen Parteitag 1897 in Stettin wurde verlangt, dass die Landagitationsschrift „Der Pommer“ „eine mehr volksthümliche und den Landarbeitern leichter verständliche Schreibweise“ bekommt. Wegen eines Mangels an geeigneten Kräften“ w urden Doppelkandidaturen für die Reichstagswahlen zugelassen. Eine Resolution wurde angenommen, wonach der Beschluss des Kölner Parteitages (1893) der Reichs-SPD, sich wegen des Dreiklassenwahlrechts nicht an den preußischen Landtagswahlen zu beteiligen, aufgehoben werden sollte (der Hamburger Parteitag 1897 kassierte den Kölner Beschluss). Auch Lage und Eigentumsfrage des „Volksboten“ kamen wieder zur Sprache. Mit 20 gegen zehn Stimmen wurde die Überführung in Parteibesitz beschlossen: Da das Mißverhältnis der Anzahl der Abonnenten des „Volksboten“ zu den sozialdemokratischen Stimmen in Pommern in den letzten Jahren noch größer geworden und die
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105
Hebung d ieses Mißverhältnisses nur durch Uebernahme des „Volksboten“ in Partei-Eigenthum infolge der dadurch intensiver werdenden Agitation für unser Organ zu erwarten ist, hat eine von den Wahlkreisen Stettin und Randow-Greifenhagen zu wählende Kommission von sechs Mitgliedern bis zum 1. Januar 1898 die Uebernahme des Verlags des „Volksboten“ in Partei-Eigenthum durchzuführen. Unter den Bedingungen der Uebernahme müssen folgende enthalten sein: 1. Die Uebergabe des Verlags seitens des jetzigen Verlegers erfolgt ohne Geldentschädigung. 2. Der jetzige Verleger erhält auf wenigstens 5 Jahre die erste Redakteurstelle am „Volksboten“. 3. Der Druck des „Volksboten“ erfolgt auf wenigstens 5 Jahre in der Druckerei des jetzigen Verlegers. (Vorwärts Nr. 222, 23. 9. 1897: 3)
Damit trat Fritz Herbert den „Volksboten“ an die Partei ab, die zahlenmäßige Diskrepanz zwischen SPD-Wählern und „Volksboten“-Abonnenten blieb aber erhalten. 1899 Auf dem Stettiner Parteitag 1899 wurden „die geringen Fortschritte in der Provinz“ beklagt. Es wurde beschlossen, den „Pommer“ einzustellen und stattdessen Broschüren und einen Volkskalender zu verteilen. Genosse Kuntze berichtete über die Übernahme des „Volksboten“ durch die Partei, „ob alle Wünsche und Hoffnungen in Erfüllung gegangen sind, wolle er nicht erörtern“. Beigelegt werde die „Neue Welt“, auch kämen Illustrationen hinzu. Abonnentenzahl und finanzielle Verhältnisse hätten sich gebessert, „voraussichtlich sind in d iesem Jahre keine Zuschüsse erforderlich“, Kuntze stellte eine Erweiterung des Blattes in Aussicht, wenn die Mittel es erlaubten. Zur Taktik der Partei referierte Fritz Herbert. Zur Frage der Gültigkeit des Erfurter Programms (von 1891), das in die Kritik der Revisionisten geraten war, verabschiedete der pommersche Parteitag eine Resolution, wonach das Programm erst verändert werden solle, wenn es dafür eine empirische Basis gäbe. Wichtig sei die Einheit der Partei: In Erwägung, daß die freie Forschung nur der Wahrheit die Wege bahnen kann; in weiterer Erwägung, daß die Wahrheit zum Fortschreiten der Socialdemokratie ein unerläßlicher Faktor ist, sieht der Parteitag in der wissenschaftlichen Kritik des Programms unserer Partei und ihrer Taktik für dieselbe nur etwas Gutes. Um eine fundamentale Aenderung des Programms der Partei zu rechtfertigen, bedarf es eines gesichteten Materials, welches die Unzulänglichkeit desselben deutlich erkennen läßt. Da aber ein solches Material nicht vorliegt, erachtet der Parteitag eine Aenderung des Programms und der daraus sich ergebenden Taktik zur Zeit nicht den Interessen der Partei dienlich. (Vorwärts Nr. 227, 28. 9. 1899: 6)
1902 Im Bericht zur Presse auf dem Parteitag 1902 teilte Genosse Kuntze mit, dass der „Volksbote“ „in günstig zu nennenden Verhältnissen steht“, wenn auch mehr Abonnements nötig s eien. Fritz Herbert kündigte an, dass er in einiger Zeit von der Redaktion zurücktreten wolle, „aus Gesundheitsrücksichten und anderen Umständen, die er nicht näher erörtern könne“.
106
Die pommersche Sozialdemokratie
Ein Antrag des Wolgaster Wahlvereins, den provinziellen Teil besser auszugestalten, wurde zurückgezogen. Die Wolgaster schlugen ebenfalls die Errichtung einer Preßkommission „zur Kontrolle und taktischen Haltung sowie der Verwaltung des ,Volks-Boten‘“ vor, in der zwei Vertreter des Wahlkreises Stettin, ein Vertreter des Wahlkreises Randow-Greifenhagen und je ein Vertreter der übrigen Wahlkreise des Regierungsbezirks Stettin und der Regierungsbezirke Stralsund und Köslin sitzen sollten. Dieser Antrag sowie ein Kolberger Antrag für mehr Lokalberichte aus den Parteiorten der Provinz wurden „dem Verlage zur Erwägung anheimgestellt“ (Volksbote Nr. 228, 30. 9. 1902: 2). 1904 Zum Parteitag in Stettin lag bezüglich der Presse ein Wolgaster Antrag vor, in dem eine größere Zurückhaltung des „Volksboten“ gefordert wurde: 1. Unbeschadet des Rechts unserer Redakteure, zu den jeweiligen Parteifragen usw. Stellung zu nehmen, Polemiken zu führen, erklärt doch der Parteitag, daß er mit der vorjährigen Haltung der Redaktion des „Volksboten“ zum Revisionismus und zu den Parteiwirren nach dem Dresdener Parteitag nicht einverstanden ist, die einseitige Stellungnahme für den Revisionismus wird gemißbilligt. 2. Die Polemiken gegen die politischen Gegner resp. deren Organe sind auf das notwendige und taktisch richtige Maß zurückzuführen. Das gilt speziell für die Stettiner Antisemiten bezw. deren „Hochwacht“ und die Stettiner Konservativen und die „Pomm. Reichspost“. Durch die in letzter Zeit beliebte Kampfesweise unserer Redaktion wird den vorgenannten „Parteien“, dieser Sache und den Vertretern derselben – ungewollt – zu einer Bedeutung verholfen, die sie nicht haben bezw. nicht wert sind. (Beil. zu Volksbote Nr. 196, 22. 8. 1904: 2)
Im Leitartikel zum bevorstehenden Parteitag wies der „Volksbote“ den Revisionismusvorwurf zurück und meinte, dass sich nicht der Parteitag mit den „Polemiken gegen die Antisemiten und Junker“ befassen solle, sondern die Preßkommission, denn dafür sei sie eingesetzt worden (Volksbote Nr. 201, 27. 8. 1904: 1). Der genannte zweite Teil des Wolgaster Antrags wurde zurückgezogen, über den Teil zum Revisionismus wurde nach intensiver Diskussion nicht abgestimmt, man ging zur Tagesordnung über (Volksbote Nr. 206, 2. 9. 1904: 2). Der Provinzialparteitag beantragte für den Gesamtparteitag, sozialpolitische Verbesserungen zu unterstützen, was in Bremen für Diskussionen sorgte. 1906 In der Ankündigung des in Grabow abgehaltenen Parteitages stand die Notwendigkeit der Landagitation im Vordergrund, der die Landproletarier von „religiös-orthodoxen und konservativ-monarchischen Traditionen“ befreien sollte (Volksbote Nr. 204, 1. 9. 1906: 1). Die Partei konnte von weiteren Erfolgen der Organisation berichten, so war ein Sekretär eingestellt worden (Volksbote Nr. 206, Beil.: 1). Im Mittelpunkt der Debatte stand aber dann die Frage des politischen Massenstreiks, der reichsweit diskutiert wurde. In Pommern
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befürchteten die Genossen, nicht genügend Rückhalt, besonders auf dem Land, für einen Massenstreik zu haben (Volksbote Nr. 207, 5. 9. 1906, Beil.: 1, Nr. 208, 6. 9. 1906, Beil.: 1). Der pommersche Parteitag nahm schließlich eine Resolution des Genossen Quessel an, wonach der Parteivorstand aufgefordert wurde, Vorbereitungen für einen Massenstreik zu treffen, und dies nicht erst in ferner Zukunft (Volksbote Nr. 207, 5. 9. 1906, Beil.: 1 und Nr. 208, 6. 9. 1906, Beil.: 1). „Volksbote“ und zugehörige Buchhandlung in Stettin hatten sich weniger positiv als die Parteiorganisation entwickelt; besonders die Lokal- und Provinzberichterstattung seien auszubauen (Volksbote Nr. 208, 6. 9. 1906, Beil.: 2 und Proto koll SPD Pommern 1906). 1908 Der Kösliner Parteitag befasste sich kritisch mit dem „Volksboten“. Im Bericht hieß es: „Es ist zwar ein langsames und stetes Wachsen der Abonnenten zu konstatieren, aber die Entwicklung bleibt gegenüber dem allgemeinen Fortschreiten der Arbeiterbewegung zurück“ (Protokoll SPD Pommern 1908: 39). Zwar konnte der monatliche Zuschuss von 600 Mark ab 1. 4. 1907 eingestellt werden, aber die Inserateneinnahmen und der Reservefonds gingen zurück, zudem wurde die unpünktliche Zustellung beklagt (Protokoll SPD Pommern 1908: 39). Auch die Personalien (Ludwig Quessel ging nach Darmstadt, Nachfolger wurde Genosse Sommer; die Genossen Poupar und Passehl waren nur kurz beim Blatt) schadeten: „Der stete Wechsel in der Redaktion ist für den Volksboten jedenfalls nicht von Vorteil gewesen“ (40). Die Partei übernahm die Druckerei von Fritz Herbert (39). In der Aussprache sagte Genosse Kuntze: Wenn die Erziehung unserer Genossen in der Provinz mehr gefördert werden soll, müssen wir heute für die Zukunft unseres Blattes mehr tun, als es sonst der Fall gewesen ist. In der bisherigen Weise kann es nicht weitergehen. […] Früher stellte uns der Parteivorstand den anderen Blättern als Muster vor, s päter mußten wir selbst Kostgänger beim Parteivorstand werden. (73)
Der Parteitag beschloss u. a., Plakate für die Parteipresse anzubringen (74) und die Redaktion „anzuweisen und zu verpflichten, Briefkastenanfragen stets in höflicher, anständiger Form zu beantworten oder abzulehnen“ (75). In den zu gründenden Preßfonds sollten Pflichtbeiträge der Kreiswahlvereine fließen. Tagesordnungspunkt war auch die Landagitation.24
24 Zum Parteitag 1908 in Köslin gibt es einen Bericht in „Der Pommer“ Nr. 5, 15. 9. 1908: 1. Dort teilte die Agitationskommission mit, dass der „Pommersche Volkskalender“ in 287.000 Exemplaren verbreitet wurde, „Der Pommer“ in 16.000 Exemplaren. Über den „Volksboten“ heißt es: „Zwar ist die Zahl der Abonnenten des ,Volksboten‘ gewachsen, dafür aber sind die Einnahmen aus dem Inseratengeschäft zurückgegangen. Infolgedessen machte sich eine Verminderung des Redaktionsstabes, der am 1. Oktober 1906 auf drei Mann verstärkt worden war, auf zwei Mann notwendig.“
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Die pommersche Sozialdemokratie
1910 Die Debatte um die Stellung der Zeitung wurde beim Stettiner Parteitag fortgeführt: „Gewiß ist es schwer, dem ,Volksbote‘ in der Provinz eine solche Verbreitung zu geben wie am Erscheinungsort, aber dennoch könnte an vielen Orten mehr geschehen“ (Protokoll SPD Pommern 1910: 31). Der 1908 gegründete Preßfonds belastete die Ortsvereine finanziell (31). Dafür kam man ohne Zuschüsse des Parteivorstands aus (32), allerdings war die Druckerei noch nicht abbezahlt. Die Personalsituation war weiter instabil: Ernst Mehlich ging nach Dortmund, nur zwei Monate war Karl Böttcher (aus Nordhausen) in der Redaktion, Genosse Sommer verließ das Blatt. Dafür traten Stephan Heise (der später für die Stettiner USPD-Zeitung schrieb) und Gustav Schumann ihre Stellen an (32). In der Aussprache wurde wieder die mangelnde Verbreitung beklagt. Dazu meinte Genosse Kuntze: „Man hat darauf hingewiesen, daß die Landbevölkerung unsere Agitationsschriften nur schwer versteht, das trifft natürlich noch mehr auf den ,Volksbote‘ zu, der doch unzweifelhaft auf einer höheren geistigen Warte stehen muß und steht“ (77). Redakteur Heise beklagte die mangelnde Unterstützung (82): Wir müssen nicht nur bedauernd konstatieren, daß in manchen Orten die Leser des Blattes nicht einmal der Zahl der vorhandenen Parteigenossen entsprechen, sondern wir müssen bei Durchsicht der Provinzpresse leider auch oft finden, daß von seiten der Organisationsvorstände dieser Indifferenz unserer Presse gegenüber insofern Beihilfe geleistet wird, als wichtige Vereinsangelegenheiten im Inseratenteil der bürgerlichen Zeitungen publiziert werden, damit sie zur Kenntnis der Mitglieder kommen. […] Unsere Genossen mögen sich mehr der lokalen Berichterstattung befleißigen, dann fällt ihnen die Agitation leichter.
1912 Schon längst ist die Provinz Pommern nicht mehr der undurchdringliche Urwald, der keinen geistigen Spatenstich zuläßt. Rastlos und selbstlos zugleich, dabei sicher und zielbewußt dringen die Pioniere der Arbeit vor und mancher knorrige Ast mußte schon ihren wuchtigen Hieben weichen […] Wirklich zufrieden wird die Sozialdemokratie erst dann sein, wenn sie ihr erhabenes Ziel: die Befreiung der Menschheit aus den Fesseln des Kapitals, verwirklicht sieht. (Volksbote Nr. 204, 1. 9. 1912)
Nach dem Erfolg bei der Reichstagswahl sah sich die SPD auch in Pommern weiter im Aufwind. Der „Volksbote“ (Nr. 205, 3. 9. 1912) berichtete ausführlich und atmosphärisch dicht von der Versammlung, die der Arbeitergesangverein „Freier Männerchor“ eröffnete. Es folgt der Abdruck der Rede von Alois Hanisch (Randow-Greifenhagen). Hanisch verweist auf die Wiedergewinnung des 1907 verlorenen Reichstagsmandats. Anderntags verlas August Horn den Geschäftsbericht. Horn wurde während der Diskussion darüber persönlich angegriffen, weil sein Sohn zeitweise Mitglied in bürgerlichen Vereinen gewesen war. Zur Presse sprach Genosse Kuntze. Der „Volksbote“ habe äußerlich wie innerlich ein
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anderes Gesicht bekommen und könne „mit allen Parteizeitungen in Konkurrenz treten, wobei er manche überflügeln wird“. Kritisch sah Kuntze lokale Bestrebungen nach eigenen Zeitungen: Die Ansprüche der Genossen an ihr Blatt steigern sich. Am liebsten möchte jeder Kreis sein eigenes Blatt haben. Nur widerstrebend haben wir den Stralsundern ein Kopfblatt geben müssen, aber wir hoffen, daß d ieses Beispiel keine Nachahmung findet, da sonst die Zeitung nicht rechtzeitig fertiggestellt werden kann und die Kosten zu hoch werden. (Protokoll SPD Pommern 1912: 29)
Kuntze forderte aber weitere Mittel für die sich nicht selbst tragende Zeitung, woraufhin die Delegierten eine Abonnementpreiserhöhung beschlossen. Ferner verabschiedete der pommersche Parteitag eine Resolution gegen die Teuerung, die von der Zollgesetzgebung verursacht worden war (auch die Anzeigen jener Wochen nehmen das Thema Preissteigerung auf ) (Volksbote Nr. 207, 5. 9. 1912). Bis zum 6. September berichtete der „Volksbote“ über den Parteitag. Leseanreize für ein nicht sozialdemokratisches Publikum dürfte er bei so prominenter Platzierung (Titelseiten) vermieden haben. Im Rückblick (Volksbote, Beil. zu Nr. 208, 6. 9. 1912) wird u. a. gefordert, bessere Jugendarbeit zu leisten. Die Redaktion begrüßte die bekundete Unterstützung der Organisation für das Blatt und versprach: Wir werden auch in Zukunft den Klassenkampf mit aller Schärfe führen und nicht von den altbewährten Grundsätzen der Partei ablassen. Der Kampf ist unser Lebenselement, ihm wollen wir uns widmen in echter Kameradschaft und Brüderlichkeit und mit dem festen Entschluß, nicht eher zu ruhen, noch zu rasten, bis auch über Pommerns weiter Flur die Fahne des Sozialismus weht.
Als Mitglieder der Pressekommission wurden bestimmt: Drei vom Wahlkreis Stettin, drei vom Wahlkreis Randow-Greifenhagen, zwei von Vorpommern, einer von Hinterpommern, der Vorsitzende musste aus Stettin sein. (Volksbote, Beil. zu Nr. 207, 5. 9. 1912: 2). 1914 Stralsund als Austragungsort des letzten Vorkriegsparteitags der pommerschen Sozialdemokratie war wegen der weiten Anreisen umstritten. Die Tagesordnung enthielt den Bericht des Bezirksvorstandes, Presse, proletarische Frauenbewegung, Wirtschaftspolitik und Agrariertum, den Internationalen Kongress und Wahlen (Protokoll SPD Pommern 1914: 3). Aus Rostock war Genosse Kröger angereist, damit mecklenburgische und pommersche Organisation einander kennenlernten (12). August Horn beklagte im Geschäftsbericht eine Stagnation seit der Wahl von 1912 (15). In seinem Referat zur Presse sagte Genosse Kuntze, dass auch hier ein Rückschlag zu verzeichnen war, die Abonnentenzahl ging zurück, obwohl das Blatt besser ausgestaltet wurde:
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Nachdem ich in letzter Woche auf der „Bugra“ 25 in Leipzig war und dort die Ausstellung der Parteipresse sah, habe ich erkennen gelernt, daß der „Volksbote“ technisch und redaktionell so gut wie nur die besten Parteiblätter hergestellt ist. (Protokoll SPD Pommern 1914: 27)
Kuntze verwies auch auf die neue Beilage „Das proletarische Kind“ und höhere Honorare für lokale Mitarbeiter in der Provinz, „denn der ,Volksbote‘ soll ja kein Stettiner Lokalblatt, sondern ein Blatt für die Arbeiterbewegung der ganzen Provinz sein“ (Protokoll SPD Pommern 1914: 27). Kuntze sprach sich leidenschaftlich gegen den (später abgelehnten) Antrag Kolberg-Köslin, Greifswald-Grimmen und Naugard-Regenwalde aus, die Pressefondsmarken als obligatorischen Beitrag aufzuheben: „Mag einer verärgert über diesen Beitrag gehen; so laßt ihn zum Teufel laufen, wenn ihm seine sozialistische Gesinnung alle vier Monate keine 10 Pf. wert ist“ (28). Kuntze sprach sich auch entschieden gegen die Stralsunder Zeitungsgründungspläne aus („Riesendummheit“, 29). 1918 Der Vorbericht zum ersten Nachkriegsparteitag der pommerschen SPD schwankt z wischen Trauer und Zuversicht und versucht, dem Massentod einen höheren Sinn zuzubilligen (Volksbote Nr. 299, 21. 12. 1918: 1): Ist der blutige Aderlaß der vergangenen vier Jahre auch ein ganz enormer gewesen, ist die Zahl derjenigen, die Heimat und Familie nicht wiedersehen dürfen, eine unendlich große geworden, ist das, was wir heute als Sieg des Krieges zu verzeichnen haben, auch viel zu teuer erkauft, es ist doch ein köstliches, ein hohes Gut errungen worden, dessen Besitz uns von Herzen erfreuen kann. Das alte und morsche Ding: der Staat von Fürsten- und Geldsacks-Gnaden, ist zusammengebrochen, auf seinen Trümmern triumphiert die freie, sozialistische Republik. An Stelle der einst mächtigen Diktatur ist die proletarische Freiheit entstanden.
Am 22. Dezember 1918 tagten die pommerschen Sozialdemokraten nach vierjähriger Kriegspause, gleich anderntags wurde berichtet (Volksbote Nr. 300, 23. 12. 1918: 1). Zum Bedauern des Redakteurs entfiel auf dem Sonderparteitag der Tagesordnungspunkt „Unsere Aufgaben und Forderungen“. Die Konservativen hielt der Autor für ausreichend desavouiert und machte als Hauptgegner beim Stimmenkampf die Liberalen aus. Es ging vor allem um die Wahlkandidaten. In der Debatte wurde ein Antrag abgelehnt, eine gemeinsame Liste mit der USPD aufzustellen. Der Parteitag forderte die Arbeiter-und-Soldatenräte 26 auf, ihre Tätigkeit nicht mit der der Partei zu vermengen. Die Begrüßungsrede hielt Fritz Herbert (1860 – 1925) als Vorsitzender des Bezirksvorstandes. Er sagte u. a.: 25 Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik, 6. 5. – 18. 10.1914. 26 Der Volksbote trug zeitweilig (vom 18. 11. 1918 – 21. 10. 1919) den Untertitel „Publikationsorgan des Arbeiter- und Soldaten-Rates und des Magistrats Stettin“.
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Der Krieg hat viele Millionen Opfer gefordert. Diesen Opfern danken wir, daß sie die Heimat beschützt haben und durch ihren Tod die neue Zeit heraufführen halfen. Ohne diese Opfer hätten wir die Revolution und die Republik nicht bekommen. Leider hat uns auch der Krieg eine Spaltung der Partei gebracht, die noch nicht behoben ist. Wir halten an unseren alten Grundsätzen fest, und wir hoffen, daß sich auch die Mehrheit des Volkes dafür entscheidet. […] Was wir bisher erreicht haben, ist erst der Anfang des Sozialismus.
In der Debatte zur Agitation wurde betont, man bemühe sich um Zustellung des „Volks boten“ noch am Abend des Erscheinungstages. Es wurden zudem der Textmangel des Blattes beklagt sowie die sehr späte Zustellung auf dem Lande. In beiden Artikeln zeigt sich die große Hoffnung, die in der Zwischenzeit nach dem Waffenstillstand (11. November 1918) und vor dem Versailler Friedensvertrag (unterzeichnet 28. Juni 1919) auch in Pommern herrschte. Eine kritische Aufarbeitung der eigenen Rolle während des Burgfriedens wurde unterlassen. Auch die Frage der Kriegsursachen blieb zumindest publiziert nebulös, ebenso das Potential des Kaiserreiches zu friedlichen Reformen. Die Genossen wollten offenbar in die sozialistische Zukunft schauen, an die sie glaubten. Es fehlte auch die Zeit, da die Wahl zur Nationalversammlung sehr kurzfristig angesetzt worden war. 1919 Der 16. ordentliche Parteitag Ende Mai 1919 stand im Zeichen der politischen Umwälzungen und Herausforderungen. So berichtete der Bezirksvorstand: „Durch die Demokratie mußte der Weg gebahnt werden zum Sozialismus“ (Protokoll SPD Pommern 1919: 5). Anders als vor dem Krieg begrüßte der Bezirksvorstand nun lokale Zeitungsgründungen: „Dadurch, daß unsere Mitgliederzahl rapide wuchs, machten sich auch in anderen Kreisen unserer Provinz berechtigte Wünsche auf Herausgabe eigener sozialistischer Zeitungen geltend“ (8). Allerdings riet man zur Vorsicht wegen der Finanzierung. Genosse Pargmann sprach über die Parteipresse. Der „Volksbote“ habe während des Krieges einen „bedeutenden Rückgang erlitten“, seit November 1918 habe sich aber die Auflage versechsfacht, noch immer aber lese nicht jedes Parteimitglied die Zeitung (24). Und: „Neugründungen von Blättern dürfen nur im Einverständnis mit dem Parteivorstand und der Bezirksleitung erfolgen. Es darf unter keinen Umständen vorkommen, daß ein Parteiblatt zusammenbricht“ (25). In der Aussprache zum Geschäftsbericht warnte Fritz Herbert vor der „Zertrümmerung durch die Parteispaltung“ (27). Alexander Kuntze redete über „Die politische Lage und die Aufgaben der Partei“ (Protokoll SPD Pommern 1919: 33). Über den Zusammenbruch der internationalen Arbeiterbewegung sagte er: Wir konnten den allgemeinen Weltkrieg nicht aufhalten. Was haben aber die Völker und Genossen in den anderen Ländern getan? Wenn die deutschen Genossen fahrlässig gehandelt haben, dann die ausländischen noch viel mehr. […] Unsere ausländischen Genossen schwammen vollständig im Fahrwasser des Ententekapitalismus. […] Die 14 Punkte Wilsons
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sind in der Versenkung verschwunden. Und da gibt es noch Deutsche, die die Hand küssen, die sie schlägt. Was wird mit der Annahme der Friedensbedingungen geschehen? Nichts weiter, als eine Niederknüttelung der Arbeiterbewegung, des Sozialismus in Deutschland (33).
In der Diskussion dazu sagte Gen. Riedel (Finkenwalde): „Wir müssen aber berücksichtigen, daß es außer den Deutschen noch andere Menschen gibt, die schwer geschädigt sind. Das deutsche Volk müsse mit dazu beitragen, um die Schäden des Krieges auszugleichen“ (37). 1920 Im Vorbericht zum außerordentlichen Parteitag vor den ersten Reichstagswahlen der Republik und unter dem Eindruck des Kapp-Lüttwitz-Putsches wird die im Vergleich zur Gesamtpartei linkere Haltung der pommerschen Sozialdemokratie deutlich: Die Sozialdemokratische Partei hat die großen politischen Umwälzungen nach dem Kriege niemals als den Abschluß der proletarischen Revolution in Deutschland betrachtet. Sie hat stets die Ansicht vertreten, daß damit erst der erste Schritt, allerdings ein sehr großer, zur Befreiung der Arbeiterklasse aus den Fesseln des Kapitalismus getan sei. Zur gänzlichen Befreiung gehört aber nicht nur die politische Gleichberechtigung aller Bevölkerungsschichten, sondern vielmehr noch die wirtschaftliche. Solange noch der übergroße Teil des Volkes – und dazu gehören vor allem die im Dienste des Kapitals fronenden Kopf- und Handarbeiter – von dem kapitalistischen Untern[e]hmertum abhängig ist, so lange sind Freiheit und Gleichberechtigung nur erst scheinbar vorhanden. Das Unternehmertum ist in der Lage, die Auswirkungen der politischen Freiheiten bis zu einem gewissen Grade illusorisch zu machen durch die wirtschaftliche Macht. (Volksbote Nr. 96, 25. 4. 1920: 1)
Zur Frage einer Koalition mit den Bürgerlichen hieß es im selben Artikel, dass sie nicht erfolgen sollte, wenn der sozialdemokratische Einfluss gering ausfallen sollte. Denn: So sehr wir auf dem Boden des Parlamentarismus und der Demokratie stehen, haben wir uns dem Parlamentarismus doch nicht so verschworen, daß wir ihn nur in seiner heutigen Gestalt annehmen und daß wir alles Heil nur allein von ihm erwarten. […] Wir haben die Frage des Massenstreiks diskutiert, um d ieses Mittel gegebenenfalls auch anzuwenden. Diese und vielleicht auch noch andere Mittel werden angewendet werden, um unseren Einfluß im Parlament und bei jeder Regierung zur Geltung zu bringen.
Der Verfasser Gustav Schumann hielt auch das Grundsatzreferat beim pommerschen Partei tag, wo er diese Haltung bekräftigte: Sollen wir nach den Wahlen wieder in die Koalitionsregierung eintreten? Zweifellos müssen wir unseren Klassenkampfstandpunkt wahren. Die Meinung, daß wir das bisher nicht in genügender Weise getan haben, hat seine [!] Berechtigung. Die Klassenpolitik muß unser
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Grundsatz sein, darnach muß die Partei handeln. Unser Ziel ist die sozialistische Arbeiterregierung. (Beil. Volksbote Nr. 97, 27. 4. 1920: 1)
Schumann forderte eine Einheitsfront mit den Unabhängigen. Die Gegnerschaft zu den bürgerlichen Parteien müsse „aufs schärfste betont“ werden, man müsse um Frauen und Landarbeiter werben, aber „den Mittelständen müssen wir sagen, daß ihr Untergang nicht aufgehalten werden kann“ (Beil. Volksbote Nr. 97, 27. 4. 1920: 1). Der Parteitag nahm nach einer lebhaften Debatte folgende Entschließung (Katzenstein, Landgraf ) an: Der Kampf gegen die Reaktion muß mit aller Schärfe bis zur endgültigen Sicherung der Republik geführt werden. Das wichtigste Mittel ist die Erringung einer sozialdemokra tischen Parlamentsmehrheit und die Bildung einer sozialistischen Regierung. Der Parteitag erklärt seine Bereitwilligkeit, zu diesem Zweck mit der sozialistischen Arbeiterbewegung jeder Richtung zusammen zu wirken. Ergibt sich keine sozialistische Regierungsmehrheit, so ist ein Zusammenwirken mit bürgerlich-demokratischen Parteien nur soweit zulässig, als dadurch ein wirksamer Kampf gegen die Reaktion zur Sicherung der Republik und zum Ausbau der Errungenschaften der Revolution gewährleistet wird. Die endgültige Entscheidung über die parlamentarische Taktik wie über die Anwendung außerparlamentarischer Machtmittel ist Sache des deutschen Parteitages (Partei-Reichskonferenz). (Beil. zu Volksbote Nr. 97, 27. 4. 1920: 1 f.)
1921, 1./2. Januar Der außerordentliche Parteitag fand vor den Wahlen zum preußischen Landtag, dem Provinziallandtag und zu den Kreistagen statt. Genosse Decker hielt die Rede zur „Arbeit der Sozialdemokraten in der Preußischen Landesversammlung“. Er sagte zur personellen Kontinuität der Staatsverwaltung: Es zeigte sich auch, daß wir bei der Revolution einen großen Fehler gemacht haben, indem wir alle alten Bureaukraten in den Reichs- und Landesämtern ließen. (Vielfache Zustimmung.) Allerdings hatten wir nicht soviel Kräfte, um sämtliche Verwaltungsposten besetzen zu können; aber es hätte weniger geschadet, wenn ein Arbeiter mal eine Dummheit in der Verwaltung gemacht hätte, als daß die alten Reaktionäre im Amte blieben. Wir müssen alles daran setzen, bei den nächsten Wahlen eine sozialistische Mehrheit zu erhalten; dann müssen wir mit aller Rücksichtslosigkeit die Demokratisierung der Verwaltung durchführen und ein Recht schaffen, das mit dem Volksempfinden in Einklang steht. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 2, 4. 1. 1921: 1)
In der Diskussion über die Referate sagte Genosse Pargmann zur Lage der Zeitungen: Wenn wir uns die Entwicklung der Presseverhältnisse in Pommern ansehen, müssen wir immer mißtrauischer werden. Abgesehen von einigen kleinen demokratischen Blättern
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befindet sich die gesamte Presse in den Händen der Deutschnationalen. Unsere Parteipresse steht der geschlossenen Phalanx der deutschnatl. Presse gegenüber. Leider wird auch in Kreisen leitender Genossen die Notwendigkeit der Ausbreitung unserer Presse nicht genügend anerkannt. In einigen Orten ist die Abonnentenzahl der Parteiblätter im Verhältnis zu der Zahl der Parteimitglieder geradezu erbärmlich. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 2, 4. 1. 1921: 1)
Der Parteitag beschloss, dass die Hohenzollern keine Abfindung erhalten sollen, dass die milden Urteile in politischen Prozessen revidiert werden sollen und dass private Waffen abgeliefert werden müssen; der Parteitag protestierte gegen den weißen Terror in Ungarn. Für sozialdemokratische Mandatsträger wurde beschlossen, dass sie sich dem Fraktionszwang zu unterwerfen haben. Der Beschluss, dass jeder Genosse die Parteipresse lesen muss, wurde erneuert. Ebenso kam es zu einer Resolution zur Abstimmung in Oberschlesien, dessen Verbleib bei Deutschland gewünscht wurde, auch wenn „im alten wilhelminischen Staate gegen die Proteste der Partei schwere Sünden an den Oberschlesiern begangen“ worden waren (1. Beil. zu Volksbote Nr. 2, 4. 1. 1921: 2). 1921, 22./23. August Genosse Hartwig sagte auf dem ordentlichen Parteitag erfreut, dass die Anhängerschaft der USPD in Stettin stark zurückgegangen sei, für eine Einigung sei die Voraussetzung der Boden der Demokratie, örtliche Arbeitsgemeinschaften bräuchten die Zustimmung der Bezirksleitung. Für die Parteipresse und die Volksbuchhandlungen müsse unter Gewerkschaftsmitgliedern geworben werden. Genosse Pargmann sprach sich in der Diskussion für einen besser arbeitenden Parteiapparat aus, denn „überall werden bürgerliche Blätter in der Provinz von den Deutschnationalen aufgekauft und zu einem Konzern zusammengeschmolzen“ (Volksbote Nr. 196, 23. 8. 1921: 1). Zum Entwurf des neuen Parteiprogramms sagte Gustav Schumann kritisch gegen den „Reformsozialismus“: Bisher war es Grundsatz in unseren Programmen, daß sie so gehalten wurden, daß sie auch die Massen, die wir gewinnen wollen, damit begeistern. Das fehlt dem Entwurf. Die Einleitung entstammt der Studierstubenarbeit eines unserer besten Theoretiker. Auch daß man es vermeidet, auszusprechen, daß wir eine Partei des Klassenkampfes sind, wird nicht verstanden. Der Klassenkampf ist vorhanden und kann auch im Programm betont werden. […] Die Lassallesche Verelendungstheorie wird von der Partei nicht mehr aufgestellt. Aber eine ähnliche Erscheinung wird heute immer deutlicher sichtbar. […] Auch daß wir „mit Naturnotwendigkeit“ zum Sozialismus kommen werden, wird nicht mehr gesagt. […] Auch kann ich nicht anerkennen, wenn man die Forderung der Sozialisierung mit Rücksicht auf die Entente nicht ungeschminkt stellt. Der Entwurf ist doch zu sehr auf Gegenwart und nächste Zukunft eingestellt. (Volksbote Nr. 196, 23. 8. 1921: 2)
Der Parteitag nahm den Antrag Schumann an, der klarstellte, mit w elchen Parteien die SPD in Ländern und Reich koalieren solle (unter den Bedingungen Demokratisierung
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der Verwaltung, Republikanisierung der Reichswehr, pazifistische Außenpolitik, loyale Erfüllung des Friedensdiktats, Heranziehung der Besitzenden), ergänzt um den Zusatz, dass Regierungspartner „für Ausbau der sozialen Gesetze, Erweiterung der Rechte der Arbeiter, Angestellten und Beamten in der Rätegesetzgebung und Einfluß derselben auf die Gestaltung der Produktion eintreten“ müssen (Volksbote Nr. 197, 24. 8. 1921: 2). Dieser Zusatz schloss im Grunde bürgerliche Parteien aus. Der Programmentwurf müsse gründlich abgeändert werden. 1924 Vor dem außerordentlichen Parteitag 1924 begrüßte ein Artikel im „Volksboten“ die Delegierten, indem er den Bruderkampf des gespaltenen Proletariats nach der Novemberrevolution bedauerte: „Ein voller Sieg stand in Aussicht: nur ein teilweiser Fortschritt war das Resultat.“ Er erinnerte auch an den Putschversuch von Ludendorff und Hitler am 9. November 1923 (Volksbote Nr. 265, 9. 11. 1924: 1). Der Parteitag selbst verlief harmonisch: „Kein parteipolitischer Zwist, keine langwierigen taktischen Erwägungen füllten die Beratungen aus.“ (Volksbote Nr. 266, 11. 11. 1924: 1). Im Mittelpunkt standen die Wahlkämpfe, in die die Partei mit Optimismus ging, da die völkischen, deutschnationalen und kommunistischen Versammlungen sehr schlecht besucht s eien. (Volksbote Nr. 267, 12. 11. 1924: 1) 1927 Im Leitartikel zum Parteitag 1927 (Volksbote Nr. 90, 17. 4. 1927: 1) macht der „Volksbote“ seine Distanz zur Berliner Führung deutlich. Die pommersche SPD stehe „größtenteils im Gegensatz zu der Zentral-Parteileitung“. Die Stralsunder Versammlung müsse daher „auch mitbestimmend sein für die Geschicke der Gesamtpartei“. Der Artikel spricht sich gegen Koalitionen mit Bürgerlichen aus („Besitzbürgerblock“), weil solche Konstellationen nur die Unternehmer stärkten: Das gute Geschäft der Kapitalisten darf nicht gestört werden durch Forderungen der sozialistischen Arbeiterklasse. Die Gesetzgebung, die das Volk in seiner Mehrheit in die Hände der bürgerlichen Parteien gelegt hat, dient nicht mehr dem Schutze der Schwachen, sondern wird wieder benutzt zur Sicherung der wirtschaftlichen und politischen Macht der Besitzenden […] Daraus ergibt sich für die Sozialdemokratische Partei, daß sie ihre Oppositionsstellung nicht bezogen hat, um mit ihrer Hilfe wieder möglichst schnell in die Regierung hineinzukommen. (Volksbote Nr. 90. 17. 4. 1927: 1)
An die deutsche SPD richtete der Artikel weiter die Forderung, den Staat „aus den Händen der Besitzenden zu befreien und mit wirklich sozialem Inhalt zu füllen“, wozu sie „allerschärfs ten Klassenkampf“ brauche, keine „opportunistische Taktik“. Der Bericht vom Parteitag (Volksbote Nr. 91, 20. 4. 1927: 1) beginnt mit blumigen Schilderungen. Genosse Schumann gedachte in seiner Eröffnungsansprache zunächst der Verstorbenen, darunter Fritz Herbert und August Horn. Er machte dann im Verlauf der Rede das Bürgertum als politischen Feind aus:
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Ehemalige Mitstreiter für die Republik finden wir im Lager der schwärzesten Reaktion. Dadurch ist endlich Klarheit geschaffen. Wir haben jahrelang für die republikanische Staatsform gekämpft. Heute geht der Kampf nicht mehr um die Staatsform, sondern um die Macht, um die Herrschaft im Staate. Wir Sozialisten wollen keine kapitalistische, sondern die soziale, die sozialistische Republik. Wenn wir sie erringen wollen, müssen wir den Kampf mit dem gesamten Bürgertum aufnehmen. (Volksbote Nr. 91, 20. 4. 1927: 1)
Diese Aggressivität stand im krassen Gegensatz zur Schwäche der Partei in Pommern, die Theodor Hartwig im Geschäftsbericht skizzierte – und erklärt sich daraus. Besonders beklagte er den hohen Stimmenanteil der DNVP bei pommerschen Arbeiterschichten. Schlecht stehe es um die Landagitation. Nötig sei zudem, Leser des „Volksboten“ in der Partei zu organisieren, da die Leserzahl die der Mitglieder vielerorts um ein Vielfaches übersteige. Alexander Kuntze konnte im Bericht über die Presse vermelden, dass alle drei Regierungsbezirke eine Zeitung haben. Er schloss sogar einen pressehistorischen Abriss zur „Stettiner Freien Presse“ (richtig: Zeitung) von 1876/77 an. Dies nutzte er als aktuelle Warnung: „Presse und Parteiorganisation waren durch die Zwistigkeiten in den eigenen Reihen schon vor Erlaß des Sozialistengesetzes erledigt“ (Volksbote Nr. 91, 20. 4. 1927: 2). – So einstimmig wie geplant war der Parteitag nicht. Den Antrag, dem Zentrum schärfsten Kampf anzusagen, bejahten 32 Delegierte, 26 lehnten ihn ab. Die Entschließung enthielt u. a. die Passage, wonach die bürgerliche Republik Ort des Entscheidungskampfs zwischen Proletariat und Bourgeoisie sei. 193227 Glänzend haben die pommerschen Parteigenossen im ersten Wahlgang um die Reichspräsidentschaft den Ansturm des Faschismus abgewehrt, nun heißt es den zweiten Schlag zu führen gegen Hitler und seine Trabanten […] Es geht um Sein oder Nichtsein Preußens als Hort der deutschen Republik. […] In diesem entscheidungsschweren Wahlkampf steht die pommersche Parteigenossenschaft im Dorado der Reaktion auf vorgeschobenem Posten. (Volksbote Nr. 73, 27. 3. 1932: 1)
Unter Verweis auf Goethe (100. Todestag), die schwere politische Lage und die beschränkten finanziellen Möglichkeiten lud die SPD zum Parteitag, mitten im Wahlkampf um das Reichspräsidentenamt. Der ausführliche Bericht findet sich auf den Lokalseiten (Volksbote Nr. 74, 2. Beil., 30. 3. 1932). Bezirkssekretär Franz Klütz ergänzte zunächst den Tätigkeitsbericht. Während Klütz in der pommerschen SAP keine Bedrohung sah, bemängelte er das fehlende Engagement der Gewerkschafter für die SPD. In der Aussprache wurde deutlich, dass besonders in den kleinen Städten die SPD mit NSDAP und KPD um Jugendliche
27 Der Parteitag 1930 stellte die Kandidaten zur Reichstagswahl auf, Vorwärts Nr. 373, 12. 8. 1930: 2.
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konkurrierte. MdL Theodor Hartwig sprach anschließend über den Sieg Hindenburgs im ersten Wahlgang sowie die preußischen Landtagswahlen 28. Über die KPD hieß es: Die Kommunisten gehen den von ihnen eingeschlagenen Irrweg weiter. In einem Aufruf der kommunistischen Parteizentrale werden Braun und Severing abermals als „Wegbahner des Faschismus“ bezeichnet. Die Kommunisten geben die irrsinnige Parole heraus: „Unser Hauptstoß gilt den Machthabern von heute.“ […] Somit leisten sie dem Faschismus und der Reaktion Helfersdienste, die das heutige System stürzen wollen. Das ist die wahnsinnige Taktik der Kommunisten, die große Gefahren für das arbeitende Volk im Gefolge hat.
Tatsächlich befanden sich die Sozialdemokraten in einer verzweifelten Lage. Hartwig verwies auf die Erfolge der preußischen Politik. Genosse Kuntze hielt eine Abschiedsrede nach 50-jähriger Tätigkeit für die pommersche SPD. Schumann bestand in seiner Schlussansprache auf der Gesetzmäßigkeit der Entwicklung: „Die Entwicklung hat gezeigt, daß unsere Lehrmeister Marx und Engel [!] mit ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen Recht behalten haben und daß die Zukunft uns gehört“ (2. Beil. zu Volksbote Nr. 74, 30. 3. 1932: 6). Eine ausführlichere Berichterstattung zum Parteitag unterblieb, sie wäre wegen der Nachrichtenlage und überschaubaren Tagesordnung auch nicht nötig gewesen. 1933 „Stettin bleibt rot – trotz alledem“, machte der „Volksbote“ am 7. Februar 1933 auf (Nr. 32: 1). In großer Einmütigkeit 29 wurden beim außerordentlichen Parteitag die Kandidaten für die Reichstagswahl am 5. März sowie wirtschaftspolitische Forderungen aufgestellt (Sechsstundentag ohne Einkommensminderung als Anpassung der Arbeitszeit an den Produktivitätsfortschritt). Die Demonstration der Eisernen Front war die größte Stettins. Im Bericht hieß es: Keine Macht der Welt wird diesen Glauben brechen, keine Gewalt, kein Terror ihn erschüttern. Wir sind wir. Die Partei des arbeitenden Volkes […] Wir sind wir! Kein noch so säbelklirrendes, waffenstarrendes Gespenst des Vormärz wird uns in unserem Laufe hemmen. Wir marschieren, wir werden siegen. Denn mit uns zieht die neue Zeit.
28 Diese führten zu einer negativen Mehrheit von NSDAP und KPD. Um einen nationalsozialistischen Ministerpräsidenten zu verhindern, änderten die Regierungsparteien am 12. April die Geschäftsordnung, wonach auch im zweiten Wahlgang eine absolute Mehrheit nötig gewesen wäre. Dadurch blieb nach den Wahlen Otto Braun geschäftsführend im Amt, das Verfassungsproblem machte allerdings den „Preußenschlag“ möglich (Heimann 2011: 237 f ). 29 Vorher hatte der pommersche Bezirksvorstand „den Beschluß gefaßt, bis nach Beendigung des Wahlkampfes eine Sperre für Neuaufnahmen von Mitgliedern über den Bezirk zu verhängen, um die innige Geschlossenheit unserer Kampffront noch fester zu fügen und um unsaubere Manöver unserer Gegner abzuwehren“ (Volksbote Nr. 31, 5. 2. 1933: 2).
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Der Bezirksvorsitzende Schumann sagte warnend und kämpferisch: Es gibt noch Optimisten unter uns, und nicht nur bei uns, sondern im ganzen Reiche, die da glauben, es hat auch schon ärger in der Welt gebrauset und es wird nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Aber unter Umständen kann es schlimmer kommen, als wir es uns vorstellen. Wenn wir uns auf das Schlimmste einstellen, dann können wir nicht irregeführt werden. Keine Kampfmaßnahme darf unterlassen werden, die sich hinterher als erforderlich herausstellt. Keineswegs dürfen wir leichtgläubig sein und annehmen, daß man uns irgendwie nachsichtig behandelt; das wird man nicht tun. Man ist grundsätzlich nicht nachsichtig gegenüber der Arbeiterklasse. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 22, 7. 2. 1933: 1)
Die pommersche Sozialdemokratie tagte danach nie wieder.
III.1.9 Die Stettiner Genossen im „Vorwärts“ Das Zentralorgan der SPD erwähnt Stettin häufig.30 Im Kaiserreich sind es oft Meldungen mit Parteibezug oder zur sozialen Lage. In der Weimarer Republik kommen Berichte aus der Politik (v. a. rechte und linke Extremisten), Wirtschaft und Verkehr, Kriminalität sowie Sport vor. Die Stadt Stettin wird in Porträts vorgestellt (z. B. in Der Abend, Spätausgabe des Vorwärts, Nr. 538, 13. 11. 1928, Beil.: 1, Der Abend, Spätausgabe des Vorwärts, Nr. 392, 22. 8. 1931, Beil.: 1, Der Abend, Spätausgabe des Vorwärts, Nr. 219, 11. 5. 1932, Beil.: 1) oder als Schauplatz des politischen Kampfes. So hatte Hugenberg in Stettin gesagt, im Falle einer Katastrophe sollten nur Person und Eigentum derer geschützt werden, „die sich zu uns bekannt haben“ (Vorwärts, Morgenausgabe, Nr. 445, 23. 9. 1931: 2), was der „Vorwärts“ so kommentierte: „Deutscher Bürger, kaufe dir rechtzeitig ein deutsch-nationales Parteibuch, wenn du nicht gebrandschatzt und gekillt werden willst“ (Morgenausgabe Nr. 445, 23. 9. 1931: 2; in Stettin hatte der Parteitag der DNVP stattgefunden). Es finden sich im „Vorwärts“ auch Artikel über Veranstaltungen des Reichsbanners in Stettin (Vorwärts, Morgenausgabe, Nr. 388, 19. 8. 1926: 2; Vorwärts, Morgenausgabe Nr. 266, 8. 6. 1927, 1. Beil.: 2). Nach dem Tod Fritz Herberts wurde dieser gewürdigt: So hat er vierzig Jahre lang auf dem schwierigen Boden Pommerns als Pionier der deutschen Arbeiterbewegung gewirkt. Er selbst hat auch eine Geschichte der Sozialdemokratie Pommerns geschrieben, in der er eine der wirksamsten Kräfte gewesen ist. In ihr und in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie wird sein Name fortleben. (Vorwärts, Morgenausgabe, Nr. 244, 26. 5. 1925: 3; in der Abendausgabe Nr. 245 wird der Nachruf aus dem „Volksboten“ übernommen.)
30 2017 stellte die Friedrich-Ebert-Stiftung Digitalisate des „Vorwärts“ bis 1933 online, die recherchierbar sind, die Suchtreffer werden in der Seitenansicht angezeigt (Guercke 2016/2017).
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Der „Vorwärts“ gab die Rede auf dem Kieler Parteitag von 1927 wieder, in der Hilferding der linken Opposition innerhalb der Sozialdemokratie, zu der auch Stettin, insbesondere in der Koalitionsfrage, zählte, entgegentrat: Wenn freilich Berlin, Sachsen und Stettin vom Parteitag besondere Parteiarbeit gegen das Zentrum fordert, dann muß ich ihnen doch unfreundlich sagen: Kämpft erst gegen Kommunisten und Deutschnationale, die paar Zentrumsstimmen, die es da gibt, holt ihr noch später. Denn aus dem Rheinland und Westfalen sind solche Anträge nicht gekommen. Dort weiß man besser, wie man zur christlichen Arbeiterschaft sprechen muß. (Vorwärts, Morgen ausgabe, Nr. 247, 27. 5. 1927: Beil.: 1)
Rudolf Breitscheid fand in den Anträgen aus Zwickau und Stettin „sehr stark akademischen Charakter“ (Protokoll 1927: 207): Der Eindruck läßt sich nicht ganz abwehren, als ob in diesen Anträgen hier und da der Gedanke durchklänge, daß Republik und Demokratie mit verantwortlich s eien, wenn die Arbeiterschaft nicht mehr erreicht habe. Zum mindesten wird über die Republik in einer etwas abfälligen und den Zweifel stark betonenden Weise gesprochen und es so hingestellt, als ob die Republik schließlich nur ein Instrument für die kapitalistische Bourgeoisie sei. (Protokoll 1927: 207)
1931 war die Stettiner Opposition vorüber. Im Streit um den Pazifismus stellten sich Erweiterter Vorstand und Abteilungsleiter der SPD Groß-Stettin geschlossen hinter den Beschluss des Parteiausschusses vom 22. September 1931.31 Sie erachten die freie Meinungsäußerung innerhalb der Partei durch diesen Beschluß in keiner Weise gefährdet, sie verurteilen alle Bestrebungen, die eine Spaltung der Partei und abermalige Schwächung der Arbeiterklasse zur Folge haben. Die Einheit und Aktionsfähigkeit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist die Voraussetzung für die in der gegenwärtigen Situation notwendige Aktivierung ihrer Politik im Dienste des arbeitenden Volkes. (Der Abend, Spätausgabe des Vorwärts, Nr. 468, 6. 10. 1931: 2)
Auch das Parteiorgan von der Oder fand zuweilen Erwähnung im „Vorwärts“. 1892 wurde dem „Volksboten“ ein Bericht über die brutale Polizei bei der Maidemonstration 31 „Der Parteiausschuß beschließt, daß die Zugehörigkeit zur Deutschen Friedensgesellschaft und die Mitarbeit an der Zeitschrift ,Das andere Deutschland‘ unvereinbar ist mit der Zugehörigkeit zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Er beschließt dasselbe für alle diejenigen, welche entgegen dem Heidelberger Beschluß sich an Sonderbestrebungen beteiligen, wie sie durch die Gründung und Unterstützung der ,Freien Verlagsgesellschaft‘ zum Ausdruck kommen.“ (Vorwärts, Morgenausgabe, Nr. 445, 23. 9. 1931: 2)
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entnommen (Vorwärts Nr. 105, 5. 5. 1892: 3). Auch in den Presseschauen der sozialdemokratischen Titel wurde der „Volksbote“ angeführt (z. B. in der 2. Beil. zu Vorwärts Nr. 31, 6. 2. 1892: 1). 1893 wurde das tägliche Erscheinen des „Volksboten“ gemeldet, „der Fortschritt der sozialdemokratischen Partei ist hervorstechend gerade an unserem Stettiner Parteiblatt zu erkennen“ (Vorwärts Nr. 258, 2. 11. 1893: 3). 1895 wird ein eingestelltes Presseverfahren gegen den „Volksboten“-Redakteur Berger genannt. Das Verfahren war angestrengt worden, weil Berger über die Fälschung der „Emser Depesche“ geschrieben hatte, die aber bereits allgemein bekannt war (Vorwärts Nr. 53, 3. 3. 1895: 4). 1907 gab es zwischen Berlin und Stettin Streit um die korrekte Berichterstattung wegen der Frage, mit welcher Intention Genosse Kuntze die „Leipziger Volkszeitung“ als „Leipziger Pflanze“ bezeichnet habe, zudem kriti sierte der „Vorwärts“ eine verfälschende Zitation (Vorwärts Nr. 225, 26. 9. 1907: 3). 1908 wurde über einen Presseprozess gegen Otto Passehl berichtet, der angeblich alle preußischen Leutnants beleidigt hatte (Vorwärts Nr. 244, 17. 10. 1908: 3). 1910 gratulierte der „Vorwärts“ zum 25-jährigen Bestehen des „Volksboten“ (Vorwärts Nr. 152, 2. 7. 1910: 3). 1923 wurde der Streit z wischen „Volksbote“ und „Pommerscher Tagespost“, die aus Anlass des Ruhrkampfes mit den Franzosen auch die Sozialdemokraten anfeindete, dargelegt (Vorwärts, Abendausgabe, Nr. 89, 22. 2. 1923: 2). Das Zeitungsverbot während des Ausnahmezustandes 1923 und die Verschleppung der Beschwerde dagegen wurde berichtet (Vorwärts, Abendausgabe, Nr. 520, 6. 11. 1923: 3). 1929 wurde ein Bericht des „Volksboten“ wiedergegeben, in dem es um „deutschnationale Dynamithetze“ schleswig-holsteinischer „Agrardemagogen“ in Stralsund ging (Vorwärts, Morgenausgabe, Nr. 327, 16. 7. 1929: 2). 1932 brachte der „Vorwärts“ ein Urteil gegen den „Volksbote“-Redakteur Karl Krahn auf der Titelseite. Krahn hatte ein mildes Stettiner Urteil gegen einen nationalsozialistischen Studenten kritisiert und wurde daraufhin wegen Beleidigung der Stettiner Richter zu neun Monaten Gefängnis verurteilt (Der Abend, Spätausgabe des Vorwärts, Nr. 438, 16. 9. 1932: 1), die deutsche Justiz hatte sich wieder als auf dem rechten Auge blind erwiesen. 1933 wurde groß über die Aufklärung des SA -Überfalls auf den „Volksboten“ am 9. August 1932 berichtet (Vorwärts, Abendausgabe Nr. 12, 7. 1. 1933: 1, Morgenausgabe Nr. 13, 8. 1. 1933: 1).
III.2 Zur pommerschen KPD (1919 – 1933) In die Tiefe gehende Forschung zur pommerschen KPD blieb lange auf die DDR beschränkt. Ihre Erträge sind daher kritisch zu betrachten, können aber nicht ignoriert werden. Da die SPD während der Weimarer Republik von den Kommunisten scharf angegriffen wurde, muss diese Partei im Zusammenhang dieser Arbeit ebenfalls kursorisch betrachtet werden. Insgesamt ist Matull (1973c: 276) zuzustimmen, wonach „Überakzentuierung revolutionärer Details“ und heroisierende „Geschichtsklitterung“ zurückzuweisen sind. Andererseits kann man den dadurch erhaltenen und in der DDR nur marxistisch-leninistisch möglichen Zeitzeugenberichten auch dankbar sein (z. B. Otto 1965 zu Kolberg), gerade wenn es
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an anderen Quellen fehlt. Oder sich s päter auf Vorpommern beschränkt werden musste (z. B. Bezirkskommissionen 1970 zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bezirksleitungen 1986 zur SED in Mecklenburg). Ortsgruppen der KPD wurden überwiegend nach der Novemberrevolution 1918 gegründet (Polzin 1965: 20). In Stettin ging die Gründung von der Reichszentrale aus, die Karl Schulz 32 mit der Leitung der Parteiorganisation beauftragte; die erste Großversammlung fand am 3. April 1919 statt, im Oktober gab es bereits 1.500 Mitglieder (Janitz 1965: 55 – Janitz 1997 [Vortrag gehalten 1986] sieht die Gründung schon im Januar 1919 aus eigener Initiative von Arbeitern). Im Kapp-Putsch noch mit SPD, USPD und Gewerkschaften verbündet, kam es bei Diskussionen um Neuaufnahmen danach bereits zu „harte[n] Auseinandersetzungen mit den Rechtsopportunisten und Zentristen“ (Janitz 1965: 56). Streitpunkt waren für USPD -Anhänger besonders die 21 Leitsätze, die die Kommunistische Internationale 1920 für verbindlich erklärt hatte. Zu diesen Richtlinien (Institut für Marxismus-Leninismus 1959) gehörten u. a. die völlige Unterwerfung der kommunistischen Presse unter das Zentralkomitee (1), die Ausschaltung nicht linientreuer Kader (2), die Schaffung eines parallelen illegalen Apparats (3), die rückhaltlose Unterstützung der Sowjet republiken (14), Parteiausschluss bei Ablehnung (21). Mit diesen von Lenin verfassten Leitsätzen war die Bolschewisierung der deutschen Kommunisten vorgezeichnet, ebenso die Aggressivität gegen die SPD unter Berufung auf die wahre Marxrezeption. „Die Existenz der KPD ist ohne die Existenz und den Modellcharakter des bolschewistischen Rußland nicht vorstellbar“ (Geyer 1976: 17). Allerdings unterwarf sich die KPD nicht immer Moskau. Dieses riet 1925 davon ab, Thälmann für das Amt des Reichspräsidenten kandidieren zu lassen (Geyer 1976: 25). Eine Unterstützung des demokratischen Kandidaten Wilhelm Marx (Zentrum) durch die Kommunisten hätte wohl Hindenburg, vielleicht sogar später Hitler verhindert. Die Attraktivität des sowjetischen Experiments beschränkte sich nicht auf die Kommunisten, sondern erreichte auch Teile der Gewerkschaften und Sozialdemokraten (Geyer 1976: 2). Deutsche und russische Sozialdemokratie hatten sich schon seit der Jahrhundertwende entfremdet, was Kriegsgegnerschaft und Charakter der bolschewistischen Revolution noch verstärkten (Geyer 1976: 14). Spätestens mit dem „Spartakus aufstand“ 33 war das Verhältnis zerrüttet. 1924 setzten Sinowjew und Stalin Faschismus mit Sozialdemokratie gleich (Geyer 1976: 23). Ab 1928 sahen die deutschen Kommunisten auf Anweisung der Komintern in der SPD den sozialfaschistischen Hauptfeind, dabei blieb es bis nach der Errichtung der NS-Diktatur (Geyer 1976: 31 f ). Damit verbunden war die – schwierige – Transformation zur Kaderpartei nach stalinistischem Muster, was auch den Jugendverband betraf. Der Stettiner KJVD weigerte sich 1929, die Partei bei den Kommunalwahlen zu unterstützen, weil diese ihn als bloße „Hilfstruppe“ betrachtete (Köster 32 Karl Schulz (1884 – 1933) war seit 1905 in der SPD und auch in Mecklenburg maßgeblich an der KPD-Gründung beteiligt. 1923 Sekretär des Oberbezirks Nord. 1924 – 1928 in Moskau, nach dem Reichstagsbrand verhaftet und an den Folgen gestorben (Broué 2005: 985). 33 Zur Frühzeit der Spartakusgruppe in Stettin im Juni 1917 Wilhelmus 1961.
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2005: 111). Nach Hitlers Machtübernahme versuchte die Partei, in die Illegalität zu gehen, hatte aber damit so geringen Erfolg wie die SPD, zahlreiche Genossen wurden verhaftet oder ermordet (Lamprecht 200134). Der Stettiner „Volksbote“ hat die Kommunisten stets bekämpft. Er wies auf ihre Abhängigkeit von Sowjetrussland hin und benannte dessen verbrecherisches Regime. 1921 sah er in der KPD „so viel Konfliktstoffe und Todeskeime in sich, daß sie als Machtfaktor der deutschen Arbeiterklasse überhaupt nicht mehr in Betracht kommt. Sie geht ihrer Auflösung entgegen, weil sie geistig verwahrlost ist“ (Volksbote Nr. 195, 21. 8. 1921: 2). Er berichtete auch unter Zitation bolschewistischer Zeitungen über die Ermordung von Arbeitern in Russland, denen nach offizieller Aussage der „Mund mit Erde zugestopft“ wurde, während die deutschen Kommunisten sich mit den Völkischen verbrüdern (Volksbote Nr. 265, 9. 11. 1924: 3). Für die Sozialdemokratie war der Kommunismus eine Herausforderung, denn er stellte ihre bis zum E rsten Weltkrieg bestehende „organisatorische und intellektuelle Vormacht der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung“ infrage, stattdessen entstand „in der russischen Revolution ein Modell“, das zur Spaltung führte (Zarusky 2015: 110). Russische Emigranten berichteten in der sozialdemokratischen Presse über die brutalen Zustände in der bolschewistischen Diktatur, die Kommunisten „reagierten mit Diskreditierungsversuchen und Realitätsverweigerung“ (Zarusky 2015: 113). Im Februar 1933 herrschte in Moskau die Überzeugung, „die Machtübernahme Hitlers sei ein notwendiges Durchgangsstadium zum Sieg des Kommunismus in Deutschland“ (Zarusky 2015: 115). Das erschreckende Beispiel Russlands bestärkte die SPD darin, der Demokratie den Vorzug vor der Diktatur zu geben: Die russische Oktoberrevolution trug wesentlich dazu bei, daß sich die deutschen Sozialdemokraten von der Art des Marxismus emanzipierten, die sie vor 1914 kultiviert hatten. Die Emanzipation wurde nicht zugegeben, sondern beharrlich geleugnet; sie verlief weder konsequent noch kontinuierlich. (Winkler 1999: 22)
34 Vgl. auch Lamprecht 1965, der auch die Ratlosigkeit der SPD 1933 erwähnt (328) sowie seine gleichnamige Greifswalder Dissertation von 1965, die für „Westdeutschland und das kapitalistische Ausland“ gesperrt war.
IV. Der „Volksbote“ im Überblick IV.1 Vorläufer Ältere Stettiner Arbeiterzeitungen sind nach gegenwärtigem Stand nicht erhalten. Inwieweit die demokratischen Zeitungen der Märzrevolution zu den Vorläufern sozialdemokratischer Presse gezählt werden dürfen, ist diskutabel. Der SED fiel die Aneignung des „Erbes“ leicht; sie zog allerdings auch eine Linie von Jan Hus zu Ernst Thälmann (Haase 1988: 437). Die Leipziger Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität widmete sich u. a. den demokratischen und radikalen Blättern 1848/49, um eine Tradition zu konstruieren, verbunden mit marxistischer Kritik (z. B. Stöbe 1985, Michalsky 1988). So falsch ist die Suche nach vorangegangenen, ähnlichen Ansätzen nicht, sofern dies der tatsächliche Inhalt hergibt. Die liberale „Ostsee-Zeitung“ etwa rückte im Revolutionsverlauf nach links. Noch klarer auf dem Standpunkt sozialer Reformen, der auch Juden und Frauen einschloss, stand die Zeitschrift „Der Wächter an der Ostsee“. Oft äußerte sich der „Wächter“ zugunsten der ärmeren, arbeitenden Bevölkerung. Er forderte „Arbeitsertheilung“ statt Almosen (Wächter an der Ostsee 1847: 77); „der Magen ist ein gewaltiger Mahner, er macht seine Forderungen gebieterisch geltend“ (Wächter an der Ostsee 1847: 93). Es wurden ebenso die miserablen Lebensbedingungen der pommerschen Arbeiter während der Hungerkrise 1847 geschildert (1847: 130 f ). Dies noch unter der Vorzensur, die vermuten lässt, dass bei Pressefreiheit der Umfang kritischer Publizität größer gewesen wäre (der „Wächter“ hatte sich wegen Preßvergehen zu verantworten). Für die Arbeiter forderte die Zeitschrift von den Stettiner Stadtvätern „Beschäftigungsanstalten, jedem zugängliche geheizte Arbeitszimmer… aber ohne allen pietistischen Beigeschmack“ (Wächter an der Ostsee 1847: 137). Revolution forderte der „Wächter“ nicht, sondern Umgestaltung der Verhältnisse: Gehört die Zukunft dem Socialismus, wie behauptet wird, so ist es doch eine arge Verkehrtheit und Einseitigkeit vieler Socialisten mit Geringschätzung auf politische Reformen herabzusehen, da diese politischen Reformen nothwendig der socialen vorangehen m üssen und sociale Fortschritte ohne vorhergegangene politische Reformen häufig unmöglich [sind – H.B]. (Wächter 1848: 52) Schutz der Arbeit gegen die Tyrannei des Besitzes. Über dem Werthe des Besitzes steht der des Menschen und schöpferischer Arbeit. Anerkennung des Armen als Menschen durch Gewährung menschenwürdigen Unterhalts. Öffentliche (allgemeine Staats) Armenpflege. (Wächter 1848: 153)
Auf dem Wege demokratischer, gesetzlicher Entwicklung sollte in ferner Zukunft die Republik errichtet werden (162). Der „Wächter“ wollte ab 1. Juli 1848 zum täglichen Erscheinen übergehen (1848: 504). Wehrmann (1936: 78) fand keine weiteren Spuren des „Wächters“.
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Der „Volksbote“ im Überblick
Abb. 8: Stettiner Freie Zeitung. Quelle: Exemplar des Internationalen Zeitungsmuseums Aachen.
Henkel/Taubert (1986: 235 f., 281) geben die Berliner „Demokratische Zeitung“ als Nachfolgerin des Stettiner Titels an (bis Juli 1850). Herbert (1893: 4 – 7) berichtet, teils ihm mündlich überliefert, von Gründung und Ende eines sozialdemokratischen Blattes aus der Zeit vor dem Sozialistengesetz. So bildete die Presse den einzigen Beratungsgegenstand des pommerschen Parteitags 1876. Man beschloss die Gründung der „Stettiner Freie[n] Zeitung“. Herbert zufolge erschien die Probenummer im September (tatsächlich November, was Ungenauigkeiten des ihm Erzählten nahelegt), ab Oktober dreimal wöchentlich, als Ableger der „Berliner Freie[n] Presse“ und dort gedruckt. Sie soll etwa 1.200 Abonnenten gehabt haben. Wegen Streitigkeiten mit Berlin und innerhalb der Stettiner Partei gingen die Zeitung und ihre gleichnamige Abspaltung bald ein, zum Schaden der Anteilseigner.1 An ein auch pommersches Publikum richtete sich kurzzeitig der aus dem Nachbarland eingeführte „Mecklenburg-Pommer[i]sche Arbeiter- Freund“ (1876 – 1878).2 Im Internationalen Zeitungsmuseum Aachen hat sich die erste Nummer der „Stettiner Freien Zeitung – Organ für das werkthätige Volk der Provinz Pommern“ erhalten (26. 11. 1876). Sie weist auf die Verbindung zur „Berliner Freien Presse“ (Vorläufer des „Vorwärts“) hin, wodurch es ihr möglich war, „hinsichtlich des Inhaltes der Zeitung die befähigsten und anerkannt tüchtigsten Kräfte zu Mitarbeitern zu haben“ (Stettiner
1 Hirsch (1876: 13) stellt die damalige reichsweite Professionalisierungsdebatte der Parteipresse dar. 2 Der lassalleanisch geprägte zentrale „Neue Social-Demokrat“ hatte im November 1873 in Stettin 58 Abonnenten (Fricke 1987 I: 511).
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Freie Zeitung, 26. 11. 1876: 1). Die Ausgabe enthält einen Aufruf der Sozialdemokratie (seit 1875 Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands) zur Reichstagswahl 1877. Bei dieser Wahl erreichte die SAPD reichsweit 9,1 Prozent der Stimmen, ein Erfolg angesichts des absoluten Mehrheitswahlrechts und einer der Gründe für Neuwahl und Sozialistengesetz 1878. Neben übernommenen Artikeln gibt es auch bereits Provinz- und Lokalberichterstattung in dieser Probenummer. Engagiert wird gegen „bessere Gesellschaft“ und „politische Bauernfängerei“ angeschrieben. Auch werden „moderne Geschäfts-Usancen“ zulasten von Arbeitern und deren Witwen angeprangert. Das Feuilleton gibt eine Kurzgeschichte wieder, Protagonist ist ein Lokomotivführer. Durch die Zwangspause der Verfolgungszeit musste der „Volksbote“ gut 20 Jahre später bei null anfangen (mit anfänglich 400 Abonnenten, Höft 2003), er hat sich auch nicht weiter auf den Vorläufer berufen.
IV.2 Im Kaiserreich Obgleich bereits eine große Anzahl von Zeitungen existiren, so ist doch im Laufe der Zeit ein Bedürfniß nach einem Organ entstanden, welches die Interessen der Arbeiter vertritt. Wohl sagt jedes Blatt, daß es für das Wohl der Arbeiter eintrete, aber leider ist es damit schlecht bestellt. Viele haben gar keine Ahnung von den Bedürfnissen der Arbeiter. […] Wir werden das manchesterliche 3 Princip entschieden bekämpfen. […] Wir treten besonders für das während der letzten Session im Reichstage eingebrachte Arbeiterschutzgesetz, welches einen 10 stündigen Normalarbeitstag für Erwachsene, eine 8 stündige Arbeitszeit für jugendliche Arbeiter, die Abschaffung der Kinderarbeit, die Einschränkung der Frauenarbeit, Regelung der Gefängnißarbeit, Abschaffung der Sonntagsarbeit und Einführung eines Minimallohnes fordert. Wir sind ferner für die Einführung einer Altersversorgung für Arbeiter […] Auf politischem Gebiete fordern wir die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und Verleihung größerer Rechte an das Volk. Wir sind also gegen alle Ausnahmegesetze, in welcher Form sie sich auch zeigen mögen. Wir fordern das gleiche, directe und geheime Wahlrecht für alle Körperschaften, also auch zu Communal- und Landtagswahlen. […] Das Blatt wird speziell die Interessen der Kleinbürger, Handwerker und Arbeiter vertreten, und wenn diese, welche die große Masse des Volkes bilden, sich fest zusammenschließen, so werden sie eine Macht bilden und einen bestimmenden Einfluß auf das Staatsleben ausüben. Wir werden alle Ereignisse auf dem sozialen Gebiete besprechen, als Lohnbewegungen, Streitigkeiten mit Arbeitgebern u. dgl. m. Unser Blatt soll ein Organ für diejenigen werden, denen die 3 Das Manchestertum ging auf eine englische Partei zurück, die gegen Getreidezölle kämpfte. Später bedeutete Manchestertum unbegrenzten Freihandel, also weder Schutzzölle noch Sozialpolitik wie Sozialversicherung oder Arbeitszeitregelung. Es gebe eine natürliche Gesetzmäßigkeit einer Wirtschaft völlig freier Konkurrenz (Wörterbuch Geschichte, von Fuchs, Konrad, und Heribert Raab, CD-ROM, Digitale Bibliothek, Bd. 71, Berlin: Directmedia 2002: 3.436, Artikel „Manchestertum“). 1847 hatte der bekannte britische Befürworter des Freihandels, Richard Cobden, Stettin besucht (Wehrmann 1911: 471).
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Der „Volksbote“ im Überblick
Spalten der Presse bisher verschlossen waren und wir hegen deshalb die feste Hoffnung, daß die Arbeiter für weiteste Verbreitung sorgen und uns in jeder Hinsicht unterstützen werden. (Volksbote Nr. 1, 5.7. 1885: 1)
Mit diesem Programm stellte sich der „Stettiner Volksbote“ seinen pommerschen Lesern vor. Es ist ein politisches Programm, kein allein publizistisches. Damit wird das Spannungsfeld von gesellschaftlichen und journalistischen Forderungen bereits umrissen. Unter dem Sozialistengesetz 4 (das als Ausnahmegesetz abgelehnt wird) musste ein klares Bekenntnis zur SPD vermieden werden, auch wenn ihre praktischen kurzfristigen Ziele genannt werden – tunlichst nicht das marxistische Gesamtkonzept. Ansonsten wird in die Zeitung kaum eingeführt. Die Anonymität von Redakteuren war lange üblich und juristisch seit den Erfahrungen des Kulturkampfes gegen den Katholizismus sinnvoll. Immerhin folgt im Lokalteil noch eine Präzisierung, vielleicht erst dort, um der polizeilichen Überwachung nicht gleich zu Beginn zu viel Material zu liefern. Der „Volksbote“ wird allen Lokal-Ereignissen seine volle Aufmerksamkeit schenken, vor Allem aber wird er die Auswüchse der Presse zu beschneiden suchen und namentlich die inkorrekten Berichte der hiesigen Zeitungen einer Kritik unterziehen. […] Der hiesigen Presse scheint die am Sonntag erfolgte Ankündigung, daß ein Blatt erscheinen solle, welches nur die Wahrheit schreiben werde, große Schmerzen zu verursachen. Wie nun aber dem drohenden Unheile abhelfen? Vielleicht durch ein Denunciatiönchen? (Volksbote Nr. 1, 5.7. 1885: 2)
Es folgen Beispiele von Verdrehungen durch die konservativen und liberalen örtlichen Titel, die SPD-Agitation vermuten und die Anwendung des Sozialistengesetzes fordern.5 Der „Volksbote“ machte deutlich, wessen Interessen er vertrat. In einem Bericht über einen Chemnitzer Prozess hieß es: Offen und geradeaus für Recht und Freiheit! Keine Geheimbündelei, keine Verschwörungen, aber auch nicht den Nacken gebeugt vor den Gewalthabern – so soll die Arbeiterpartei dastehen und weiter kämpfen – das ist ihre Pflicht, das ist ihre Ehre! (Volksbote Nr. 27, 18. 10. 1885: 1 f., aus dem „Berliner Volksblatt“ entnommen)
Früh wurden Arbeiter um Mitarbeit durch Texte gebeten (z. B. Volksbote Nr. 1, 7. 1. 1886: 1), das Abonnenteninteresse jedoch war kleiner als erhofft, ein Problem, das die Zeitung lange hatte: 4 Der im Ausland hergestellte und illegal verbreitete „Sozialdemokrat“ hatte 1887 in Stettin 30 Abonnenten (Fricke 1987 I: 532). 5 Dass die Sozialdemokraten als Bürgerschreck erschienen, muss nicht verwundern. Nicht nur aus ideologischen Gründen. Die „Neue Stettiner Zeitung“ ist im Lokalen voll mit Kriminalfällen, in die Arbeiter verwickelt waren.
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Die Unterstützung der Arbeiter ist leider nicht in der umfangreichen Weise eingetreten, wie sie bei der großen Zahl der in Stettin und nächster Umgebung beschäftigten Arbeitern eigentlich sein müßte. Eine große Zahl von Arbeitern und Handwerkern scheut sich aus übertriebener Furcht, das Organ, das für ihre Interessen eintritt, zu abonniren, obgleich sie sonst mit demselben sympathisiren. (Volksbote Nr. 50, 3. 7. 1887: 1)
Wegen der zeitweiligen Ausweisung des Zeitungsgründers musste der „Volksbote“ in Stargard erscheinen. Auch dort hatte er Presseprozesse zu bestehen, etwa wegen Verletzung der Impressumspflicht, Beleidigung, Bannbruchs und Verstößen gegen das Sozialistengesetz (Volksbote Nr. 56, 24. 7. 1887: 2; Volksbote Nr. 82, 24. 10. 1889: 4; Volksbote Nr 93, 1. 12. 1889: 2 f ). Wegen der Prozesskosten wurden die säumigen Abonnenten ermahnt; trotz Gefängnisstrafen für Redakteure konnte die Zeitung weiter erscheinen: Nachdem durch die gegen uns geführten Prozesse bedeutende Kosten erwachsen sind, müssen wir dringend ersuchen, die noch rückständigen Abonnementsgelder schleunigst zu berichtigen. Während bei andern Blättern das Abonnementsgeld im Voraus entrichtet werden muß, glauben viele unserer Leser, mit ihrem Abonnementsgelde mehrere Monate lang restiren [im Rückstand sein – H. B.] zu können. […] Ferner theilen wir mit, daß während der Zeit unserer Inhaftirung in dem Erscheinen unseres Blattes keine Unterbrechung eintreten wird. (Volksbote Nr. 38, 19. 5. 1889: 1)
Das Sozialistengesetz hat Fritz Herberts Einfluss in Pommern eher noch vergrößert, er wurde in der Provinz bekannt, auch unter Menschen, die seine Zeitung nicht lasen, aber wegen seiner Verfolgung durch die Behörden mit ihm sympathisierten: Je mehr Verfolgungen, desto mehr Ansehen und Einfluß. Wenn heute, wie uns mehrfach berichtet wurde, selbst in abgelegenen hinterpommerschen Dörfern von Herbert gesprochen wird, so ist das nur den fortwährenden Maßregelungen zu danken. „Ein tüchtiger Mann muß es doch sein, sonst würde er nicht so viel verfolgt werden“, so spricht das Volk und wendet uns seine Sympathien zu, ohne daß es je nur eine Zeile von uns gelesen oder ein Wort von unseren Lippen gehört hat. (Volksbote Nr. 30, 18. 4. 1889: 1)
In einer Rede in Greifenhagen verneinte Herbert eine revolutionäre Absicht der Sozialdemokraten, vielmehr träten sie für Reformen ein, wobei ihnen die gesellschaftliche Entwicklung zuarbeite: Redner vertheidigt die Sozialdemokratie gegen den Vorwurf, daß sie den Staat umstürzen und Revolution machen wolle. Es sei doch gewiß besser, nach all den Kämpfen und Leiden die Früchte unserer Thätigkeit in Ruhe und Frieden zu genießen, als vorher auf den Barrikaden erschossen zu werden. Die Sozialdemokratie stehe auf dem Boden des Gesetzes und sei nichts weiter als eine Reformpartei; Reformen würden aber von ihr so lange gefordert
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werden, bis das wirthschaftliche Elend aus der Welt geschafft sei. Die Verhältnisse treiben sich von selbst auf die Spitze; unsere Aufgabe brauche nur zu sein, die Massen geistig zu klären. Wie Tag und Nacht, so wechsle Fortschritt und Reaktion ab. Gleichwie im Kulturkampfe, so werde der Staat auch gegenüber der Sozialdemokratie die Segel streichen. (Volksbote Nr. 41, 20. 5. 1889: 3)
Deutlicher wurde Herbert nach der Aufhebung des kleinen Belagerungszustandes in Stettin und der Beendigung seiner Ausweisung. Erfreut schrieb er und benannte dabei den Sozialismus: Von morgen an gehören wir nicht mehr zu den Ausgewiesenen und können Stettiner Gebiet wiederum ohne hohe obrigkeitliche Bewilligung betreten […] Der Belagerungszustand, die schneidigste Waffe des Ausnahmegesetzes, ist ein mächtiges Agitationsmittel für die Arbeiterpartei […] Die Regierung hat an dem „Kleinen“ in Stettin keine Freude erleben können […] Wir sind der Meinung, daß es gegen den Sozialismus überhaupt kein Heilmittel giebt und daß schließlich die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung sich zu demselben bekennen wird. (Volksbote Nr. 76, 3. 10. 1889: 1 f.)
Die Rückkehr Herberts war ein bedeutendes Ereignis für Stettin, er selbst war überrascht: Um die Anwesenheit einer zu großen Menschenmenge, bei welcher dann auch die heilige Hermandad [spanische Ortspolizei – H. B.] nicht gefehlt hätte, zu vermeiden, war der Zeitpunkt der Ankunft nur den näheren Freunden bekannt. Es hatten sich trotzdem etwa 100 Genossen zur Begrüßung eingefunden. […] Zu Sonntag Nachmittag waren die Leser dieses Blattes zu einem gemüthlichen Beisammensein nach dem Naß’schen Lokale eingeladen und zahlreich, noch bis zum späten Abend, erschienen die Freunde, alte und viele neue, welch letztere erst unter der Herrschaft des „Kleinen“ zu bewußten Sozialdemokraten geworden sind. Es sind wohl mindestens im Laufe des Tages 1000 Personen dagewesen […] Die Uebersiedelung unseres Geschäfts nach Stettin kann so bald nicht erfolgen, da wir so vollständig von der Verlängerung des Belagerungszustandes überzeugt waren, daß wir noch auf ein ganzes Jahr eine Wohnung gemiethet haben. (Volksbote Nr. 78, 10. 10. 1889: 3 f.)
Eine Volksversammlung mit Fritz Herbert als Redner hatte fast 4.000 Besucher (Volksbote Nr. 80, 17. 10. 1889: 3). Leider fehlen die Nummern zum Ende des Sozialistengesetzes, es folgt eine größere Überlieferungslücke. 1896 ging der „Volksbote“ zu einem größeren Format über, Otto Ohl wird als verantwortlicher Redakteur genannt, ab 30. 4. 1896 war dies Emil Henning (vorher Carl Nathusius, Matull 1973c: 250). Es gab im Stettiner „Volksboten“ zahlreiche Personalwechsel, die auch auf den Parteitagen zur Sprache kamen. Das Blatt hatte auch Vertriebsprobleme, weil Austräger mehr Abonnenten hatten, als sie Exemplare mitnahmen, sodass nicht alle Kunden ihre Zeitung bekamen. „Die ganze Lotterei
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geschieht nur, um den an sich doch geringen Vortheil einiger Abonnenten einzuheimsen“ (Volksbote Nr. 119, 23. 5. 1896: 3). Die Zeitung half auch Arbeitern in praktischen Fragen bei Konflikten mit Behörden oder Arbeitgebern, nicht immer wurde dies aber durch weitere Abonnements gedankt: Wenn die Arbeiter mit den Behörden oder ihren Arbeitgebern in Konflikt kommen, dann suchen sie Hilfe bei dem Organ der Sozialdemokratie, dem „Volksboten“. Im Uebrigen hält aber Mancher von denjenigen, die uns bei solchen Anlässen zu finden wissen, es nicht der Mühe für werth, unser Blatt auch zu abonniren, dagegen wird die kapitalis tische Presse natürlich gelesen und man steckt von jener Seite alle Gemeinheiten, welche über die Arbeiter verbreitet werden, ruhig ein. Was könnte aus unserem Organe gemacht werden, wenn sich jeder Arbeiter die weiteste Verbreitung angelegen sein ließe! (Volksbote Nr. 157, 8. 7. 1896: 3)
Die Zeitung war auf Zuschüsse des Parteivorstandes angewiesen, „voraussichtlich wird das Blatt auch fernerhin noch Hilfe bedürfen“ (Bericht des Parteivorstands, 1898, Volksbote Nr. 224, 24. 9. 1898: 1 f ). Die Zuschüsse des Parteivorstandes, die der Stettiner „Volksbote“ erhielt, lagen 1898 – 1907 bei zusammen 18.600 Mark (SPD: Unsere Betriebe 1926: 54). Das war deutlich weniger, als die strukturell vergleichbaren Zeitungen in Danzig und Königsberg (Großstädte innerhalb einer eher agrarisch und kleinstädtisch geprägten Provinz) erhielten. Fritz Herbert selbst sagte, dass er gern mehr Inhalt liefern würde, das ginge aber nur mit mehr Absatz: In der Konferenz ist auch gesagt worden, der „Volksbote“ biete zu wenig Stoff. Ich bedauere selbst, daß ich nicht in der Lage bin, ein größeres Blatt herausgeben zu können. Ich würde es mit der lebhaftesten Freude begrüßen, wenn wir hier ein großes Arbeiterblatt haben würden, aber mit den ewigen Lamentationen wird der Sache nicht genützt, sondern geschadet, indem dadurch den Lauen ein bequemer Vorwand geliefert wird, wenn sie den „ Volksboten“ nicht abonniren. Man sollte lieber für Vermehrung der Abonnenten sorgen, dann wird das Format sofort vergrößert, ohne daß das Abonnementsgeld erhöht zu werden braucht. (Volksbote Nr. 226, 25. 9. 1896: 3)
1904 wurde ein großer Relaunch des „Volksboten“ angekündigt: Vom 1. Dezember an wird der „Volksbote“ als Tageblatt großen Stils, mit allen Mitteln moderner Zeitungstechnik ausgerüstet, erscheinen. Der Nachrichtendienst, die Vermitte lung von Neuigkeiten von nah und fern, die für die Zeitung das blutbildende Element darstellen, wird eine Neu-Organisation erfahren, die den „Volksboten“, was die Aktualität der Berichterstattung anbetrifft, auf g leiche Stufe mit den leistungsfähigsten Zeitungen heben wird. (Nr. 277, 25. 11. 1904: 1)
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Der „Volksbote“ im Überblick
Angekündigt wurden auch ein Berliner Berichterstatter sowie ein „Vertrag mit der leistungsfähigsten deutschen Telegraphenagentur“ (die nicht genannt wird), aktuelle Illustrationen, mindestens sechsseitiges Erscheinen, aber alles zu einem erhöhten Preis (frei Haus 65 Pfennig). Dennoch bleibe die Zeitung günstig: „Auch nach dieser Erhöhung des Abonnementspreises bleibt der ,Volksbote‘ noch immer das billigste sozialdemokratische Tageblatt in ganz Deutschland“ (Volksbote Nr. 277, 25. 11. 1904: 1). Trotz dieser Ankündigung blieben Illustrationen bis zum E rsten Weltkrieg die Ausnahme. So gab es Karten mit dem Schlachtenverlauf im Russisch-Japanischen Krieg von 1905. Nach der Jahrhundertwende kam es zu einem Aufschwung, besonders 1911/1912. Der Geschäftsbericht über das erste Geschäftsjahr des „Volksboten“ nach Übernahme der Druckerei in Parteiregie fiel günstig aus. Zwar gab es hohe Kosten für Übernahme und bauliche Veränderungen und große Verluste durch Verkauf alter Maschinen und Schriften, aber Redaktion und Geschäftsleitung konnten ausgebaut werden. Die Jahresrechnung wies einen Überschuss von 5.188,39 Mark aus. Dank der inhaltlichen Ausgestaltung konnten 3.000 neue Abonnenten gewonnen werden, trotz einer Abonnementspreiserhöhung auf 70 Pfennig im Monat. Die Vergünstigungen für Arbeitervereine bei Inseratenaufgabe entfielen künftig (Volksbote Nr. 177, 1. 8. 1912: 3). Problematisch blieb die hohe Fluktuation beim Personal. Auch mussten die pommerschen Wahlkreise weiter Pflichtbeiträge zahlen: Vielleicht bewahrheitet sich nun der längst gehegte Wunsch, daß bezüglich der Redaktion eine Beständigkeit eintritt. Nur solche Leute können mit Erfolg auf einem Gebiet wirken, wenn sie sich eingearbeitet haben. Dieses war durch den Wechsel in den letzten Jahren in der Redaktion leider nicht möglich. […] Wenn auch die Druckerei bereits in Parteieigentum übergegangen ist, so darf vorläufig doch nicht daran gedacht werden, die Pflichtbeiträge der Wahlkreise aufzuheben. Noch bedarf es des Ausbaues unseres Parteiblatts. […] Jedoch steht die Leserzahl der Parteipresse in allen Wahlkreisen in keinem Verhältnis zur abgegebenen Stimmenzahl für unsere Partei. Für die Provinz kommt noch hinzu, daß die Zahl der Leser nicht einmal der Zahl der politisch Organisierten gleichkommt. Es ist dieses allerdings auf die Beschäftigungsverhältnisse unserer Parteianhänger zurückzuführen, dennoch müßte die Zahl der Leser unserer Parteipresse größer sein. (Bericht des Bezirksvorstandes, 2. Beilage zu Volksbote Nr. 191, 17. 8. 1912: 4)
Beim pommerschen Parteitag 1912 konnte Genosse Kuntze zufrieden feststellen, dass die Zeitung Fortschritte gemacht habe, und das mit nur drei Redakteuren; sie solle die e inzige der Provinz bleiben: Endlich sind nun auch die Klagen verstummt, die auf Parteitagen und Kreiskonferenzen über Ausstattung und Inhalt der Zeitung früher erhoben worden sind. Seit die Druckerei Parteieigentum wurde, hat sich mit einem Schlag alles zum Besseren gewandt. Der „Volksbote“ hat äußerlich und innerlich ein anderes Gesicht bekommen, und kann mit allen
Im Kaiserreich
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arteizeitungen in Konkurrenz treten, wobei er manche überflügeln wird. […] Es sind nun P in einer Stettiner Versammlung andere Vorschläge gemacht worden, so der, die Redaktionsbesetzung zu vermindern. Das ist vollständig indiskutabel, da keine Zeitung vom Umfang des „Volksboten“ mit weniger als drei Redakteuren arbeiten kann. Es muß auch beachtet werden, daß der „Volksbote“ teurer arbeiten muß, als jeder bürgerliche Betrieb, da er den Arbeitern mehr gibt, als der Tarif verlangt. […] Die Ansprüche der Genossen an ihr Blatt steigern sich. Am liebsten möchte jeder Kreis sein eigenes Blatt haben. Nur widerstrebend haben wir den Stralsundern ein Kopfblatt geben müssen, aber wir hoffen, daß d ieses Beispiel keine Nachahmung findet, da sonst die Zeitung nicht rechtzeitig fertiggestellt werden kann und die Kosten zu hoch werden. (Volksbote Nr. 206, 4. 9. 1912: 3)
Auf demselben Parteitag wurde ein Antrag, den Untertitel des Volksboten in „Organ der sozialdemokratischen Partei Pommerns“ umzuändern, zurückgezogen (Beil. zu Volksbote Nr. 207 vom 5. 9. 1912: 1 f ). Im März 1913 hatte der Stettiner „Volksbote“ eine Auflage von 11.000 Exemplaren, so vielen wie Erfurt und Offenbach; Berlin hatte 155.000, Königsberg 6.000 – 7.000 (Fricke 1987 I: 539, 541). Für die Agitation sollten dem „Volksboten“ auch gegnerische Flugblätter und Broschüren zugeschickt werden (Beil. zu Volksbote Nr. 296 vom 19. 12. 1911: 1). Für die Zeitung warben Genossen vor Ort, wobei die Beteiligung nach Ansicht der Redaktion hätte größer ausfallen müssen (Volksbote Nr. 153, 3. 7. 1913: 39). Die Belieferung mit Inhalten aus Berlin sorgte zuweilen für Konflikte, weil das Parteipressebüro auch Inhalte weitergab, die einigen missfielen: Durch Vermittelung unseres Parteipressebureaus erhielten wir drei Artikel des Genossen Mehring, betitelt: „Das historische Wesen des Imperialismus“, die in der Hauptsache eine Inhaltsangabe des kürzlich erschienenen Buches der Genossin Luxemburg darstellt. Das Pressebureau machte ausdrücklich darauf aufmerksam, daß die Artikel eine Privatarbeit seien, die mit dem Bureau gar nichts zu tun hätten. Der „Vorwärts“ fährt nun gegen das Pressebureau scharfes Geschütz auf, da „solche Verbreitungen nicht Aufgabe des Bureaus ist und dem Zweck dieser Institution durchaus widerspricht“. Seine Notiz hat bewirkt, daß auch bereits der Parteivorstand zu der Sache Stellung genommen und Vorsorge getroffen hat, daß sich ähnliche Vorkommnisse nicht wiederholen. Wir hätten nicht geglaubt, daß diese Gefälligkeit des Pressebureaus, denn weiter ist es doch nichts, an irgend einer Stelle wird Anstoß erregen können. […] Im übrigen aber sind wir dem Genossen Mehring für seine Arbeit recht dankbar. (Beil. zu Volksbote Nr. 38, 14. 2. 1913: 5)
Im Vorfeld des pommerschen SPD-Parteitages 1914 bemerkte der Bezirksvorstand: Wir haben einen sehr schlechten Boden zu bestellen, wo durch die verschiedenen Dinge uns die Erfolge unserer Arbeit streitig gemacht werden. Trotzdem haben wir keine Ursache, mißmutig zu sein. […] Agitation und Organisation müssen auch in Zukunft in den Mittelpunkt unserer Tätigkeit gestellt werden. (Beil. zu Volksbote Nr. 137, 16. 6. 1914: 2)
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Der „Volksbote“ im Überblick
IV.3 In der Weimarer Republik Die Parteispaltung überstand der „Volksbote“ durch ein taktisches Manöver: Die bisher offene Handelsgesellschaft hatte sechs Gesellschafter. Drei waren Soldaten, von den übrigen drei gehörten zwei zur Opposition. Der Geschäftsführer Kuntze gründete im September 1917 eine GmbH, die Genossen Horn und Neumann wurden überstimmt, weil die Gesellschafter Wissmann und Müller im Urlaub waren bzw. eine Vollmacht ausgestellt hatten. Allerdings wurde Fritz Herbert im März 1918 entlassen und durch Otto Hoffmann ersetzt, vermutlich, weil Herbert „den Abonnentenschwund nicht aufhalten konnte“ (Koszyk 1958: 91 f ). Während des Ausnahmezustands 1923/24, der durch den Ruhrkampf verursacht worden war, hielt der „Volksbote“ an seiner linken Auffassung fest und forderte einen Fortgang der unvollendeten Novemberrevolution: Wir dürfen vor allem nicht vergessen, daß die durch den verheerenden Krieg hervorgerufene Revolution noch längst nicht abgeschlossen ist. Gewiß entwickelt sie sich nicht gradlining, sie darf aber nicht durch Fehler von unserer Seite gehemmt werden. Deshalb muß die Arbeiterklasse selbst mehr auf dem Posten sein. Sie muß wieder aktiver als im letzten Jahre an den politischen Geschehnissen im Staatsleben Anteil und damit am Klassenkampf selbst interessierter teilnehmen. Alles Heil nur von den Führern erwarten, ist ganz und gar unsozialistisch und heißt, sich die Befreiung von den Fesseln des Kapitals doch etwas zu leicht zu machen. (Volksbote Nr. 1, 1. 1. 1924: 1)
Der „Volksbote“ kritisierte den Ausnahmezustand, weil auch in Pommern „teilweise auf Grund irgendeiner Denunziation endlose Verhaftungen vorgenommen wurden, ohne daß den der Freiheit beraubten Personen irgend ein Rechtsmittel zur Verfügung stand“ (Nr. 2–3. 1. 1924: 1). Einen Tag später wurde die Zeitung unter Vorzensur gestellt (Nr. 3–4. 1. 1924: 1), es finden sich in den Folgeausgaben Weißräume wie während des Krieges. Dagegen protestierte der „Volksbote“ beim Staatsgerichtshof.6
6 Anlass war der Artikel „Was geschieht mit den Schutzhaftgefangenen?“ in Nr. 290, 30. 12. 1923. In dem Schreiben vom 3. 1. 1924 heißt es: „An sich sind die Gründe, die den Inhaber der vollziehenden Gewalt in Stettin zu dieser Massnahme veranlassen, nach unserer Meinung nicht stichhaltig. Man wird doch wohl im Ernste nicht behaupten können, dass das Ansehen der militärischen Dienststelle dadurch so schwer geschädigt wird, dass der Zeitung nicht nur die grössten technischen, sondern auch grosse wirtschaftliche Schwierigkeiten bereitet werden und vor allem die freie Meinungsäusserung unter Kuratell [!] gestellt werden muss.“ Am 10. 1. 1924 ergänzte Pargmann über die veröffentlichte Notiz, „dass diese für pommersche Verhältnisse in der ruhigsten und sachlichsten Weise geschrieben worden ist.“ Und: „In allen Verlegerkreisen herrscht geradezu Empörung über die Zumutung des Inhabers der vollziehenden Gewalt. In der Zwischenzeit wird jetzt die Zensur ausgeübt, und zwar in einer Weise, dass die Fortexistenz des gesamten Unternehmens in Frage gestellt ist.“ Als Nachtrag schrieb Pargmann am 10. 1. 1924: „Bemerken wollen wir nur noch, dass es rund eine Stunde gedauert hat, bis der Zensurbogen freigegeben wurde. Auf diese Art ist unsere Postauflage nicht mehr vollständig
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Der „Volksbote“ hielt an der sozialistischen Vision fest. In seinem Aufmacher „Jahreswende – Zeitenwende“ (Nr. 1, 1. 1. 1925: 17) berief er sich auf den Begriff des Zukunftsstaates, der in der Tagespolitik in den Hintergrund gerückt war. Er forderte den revolutionären Willen der Partei: Wir haben uns daran gewöhnt, mit der Erringung des „Zukunftsstaates“ – brauchen wir ruhig einmal dieses zu Unrecht fast verschollene Wort – als einer unumstößlichen, durch die ehernen Wirtschaftsgesetze gegebenen Tatsache zu rechnen. […] Wir haben all diese Tatsachen als Selbstverständlichkeit hingenommen, wir rechnen mit ihnen und vertrauen auf sie, aber ein Faktor ist doch von uns allen erheblich vernachlässigt worden: der Wille zu dieser Umgestaltung der gegenwärtigen und der Erringung der zukünftigen Gesellschaft.
Weiter knüpft dieser Artikel an die Hoffnungen auf die sozialistische Zukunft an, wie sie im „Volksboten“ vor 1914 skizziert worden waren: Und erst wenn die soziale Befreiung nicht Herren und Knechte mehr kennt, nicht Lohn und Profit, sondern Gemeinschaft, erst dann hat der Sozialismus seine große Aufgabe erfüllt. Sozialismus bedeutet darum einen neuen sittlichen Gedanken der Welt, eine Versittlichung des Begriffs Arbeit. Arbeit soll Gemeinschaft sein, Schwesterdienst, Bruderfreude. Die politisch-wirtschaftliche Gestaltungstat des Sozialismus soll aus der Weltenwende, in der wir leben, heraus werden lassen die neue Weltperiode der Liebe.
Die Beteiligung der SPD an der politischen Macht der jungen Republik veränderte auch ihre Publizistik: „Den sozialdemokratischen Zeitungen fiel nunmehr die Aufgabe zu, Regierungspolitik zu interpretieren“ (Koszyk 1972: 303). Weiter lag die Zahl der Abonnenten deutlich unter der der Wähler (Koszyk 1972: 305). Die Zeitungen modernisierten sich in den 1920er Jahren, es kam zu einer „allgemeine[n] Auflockerung des sozialdemokratischen Zeitungsstils“ (Koszyk 1972: 308). Wichtig wurde die Bebilderung durch illustrierte Beilagen (z. B. zentral „Volk und Zeit“) und Pressefotografie.8 Die 1925 gegründete Konzentration AG besorgte die gemeinsame Beschaffung von Roh- und Hilfsstoffen und Betriebsmitteln zum Versand gekommen und dem Geschäft wiederum ein ungeheurer Schaden erwachsen.“ Das Wehrkreiskommando schrieb dem Staatsgerichtshof am 12. 1. 1924 u. a.: „Die Art und Weise wie d ieses Blatt schreibt, ist nicht dazu angetan, beruhigend auf die Bevölkerung zu wirken. Ich muss den Volksboten als ein Hetzblatt übelster Art bezeichnen. Schon seit längerer Zeit schrieb er gegen den Ausnahmezustand Artikel, die das Mass der sachlichen Kritik bei weitem überschritten.“ Der Chef der Heeresleitung v. Seeckt erkannte die Verhängung der Vorzensur als berechtigt an (15. 1. 1924). Generalleutnant von Tschischwitz hob die Vorzensur mit dem 17. 1. 1924 wieder auf (Bundesarchiv R 3009/333). 7 Artikel zum Jahreswechsel waren oft programmatisch, sie verbanden Rückblicke mit A ussichten oder Forderungen. 8 Zum Visualisierungsschub der Zwischenkriegszeit s. Leiskau/Rössler/Trabert 2016.
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Der „Volksbote“ im Überblick
(Koszyk 1972: 309). Die Geschäftsführer der Konzentration AG tagten 1927 in Stettin, Otto Wels lobte in seiner Begrüßung: Zunächst möchte ich dem Genossen Pargmann für die vorbildliche Ausstattung des Saales danken, und es wäre begrüßenswert, wenn die guten Erzeugnisse der Pommerschen Drucke reien zur Nacheiferung anspornen würden. Wir fühlen uns hier alle wie im Hause eines wohlhabenden Verwandten. Die Art, wie wir aufgenommen werden, ist etwas ungewöhnlich. Der Parteivorstand wird nicht immer in der Lage sein, dem Beispiel folgen zu können. (Protokoll der Geschäftsführerkonferenz 1927: 3)
Auf der Tagesordnung standen die wirtschaftliche Lage der Parteibetriebe, die Fürsorgekasse, Gemeinschaftsreklame und die Internationale Presseausstellung in Köln 1928. Es waren die guten Jahre der Weimarer Republik: Der Zeitungskatalog der Inseraten-Union konnte 1,23 Millionen zahlende Leser melden und verwies noch darauf, dass weiter Leser hinzukamen (Zeitungskatalog 1928: 3). Einen großen Unterschied zur Kaiserzeit macht auch die Bebilderung des Volksboten aus, die stark zunimmt, wie auch allgemein vom Visualisierungsschub in der Weimarer Zeit zu sprechen ist. Mit der Wirtschaftskrise ab 1929 gingen die Auflagen und Titel zurück, u. a. in Stettin wurden für zahlungsschwache Leser Wochenblätter verbreitet (Koszyk 1972: 314 f ). In die Weimarer Zeit fallen auch Zeitschriften der Gewerkschaften („Pommerscher Arbeiterbund/Pommersche Arbeiterzeitung, Wochenzeitung für vaterländische Politik“ (1923 – 1933) und die vom „Volksboten“ herausgegebene „Die freie Gewerkschaft“ (1924 – 1933) (Myk 1997b). Der „Volksbote“ der Weimarer Zeit ist ein anderer als der der Vorkriegszeit, abwechslungsreicher im Inhalt und Layout und bereit, auch den Unterhaltungsbedürfnissen seiner Leserschaft nachzukommen, ohne auf die politische Linie zu verzichten. In den „Mitteilungen des Vereins Arbeiterpresse“ hatte Reiner Kempkens 1926 gefordert: In der sozialdemokratischen Zeitung muß jedes einzelne Familienmitglied zu seinem Rechte kommen: der Vater, die Hausmutter, der erwachsene Sohn, die heranwachsende Tochter und die schulpflichtigen Kinder. Für den Vater die Gebiete Politik, Partei, Gewerkschaftliches, Wirtschaftliches; für die M utter: Roman, Lokales, Vermischtes, Hauswirtschaftliches, Frauen frage, Gesundheits- und Erziehungswesen, Kinderpflege, Küche; für die Jünglinge: Sport und Belehrendes, jedoch populäres, nicht „literarisches“ Feuilleton (auch Belehrung über Alkohol und Nikotin, jedoch in diplomatischen Dosen); auch die Kleinen haben Anspruch auf ihre Märchen, leichten Rätsel, Spiele usw. (zit. n. Zerges 1982: 105)
Ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre baute der „Volksbote“ die Lokal- und Provinzberichterstattung aus, örtliche Berichte werden nun auch Aufmacher. Der „Volksbote“ erfreute sich der „besten Beliebtheit in seiner ganzen Geschichte“ (Włodarczyk 2005: 42). In den „Mitteilungen des Vereins Arbeiterpresse“ wurde das mit der bürgerlichen Konkurrenz begründet. Unumstritten war die Regionalisierung nicht:
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Wollte das Stettiner Parteiorgan, der „Volksbote“, nach Beendigung der Inflation nicht vollkommen unter die Räder kommen, so mußte er sich zu einem modernen Tageblatt umgestalten, denn nur auf dieser Basis war die Konkurrenz mit dem alteingesessenen „Generalanzeiger“ aufzunehmen. Diese Umstellung ist seit 1925 langsam und unter ziemlich heftigen Widerständen aus den Funktionärskreisen erfolgt. Schon früher, aber in verstärktem Maße seit Mai 1930, geht die Redaktion des „Volksboten“ von dem Grundsatz aus, auf der ersten Seite das zu bringen, was jeweilig für Stadt und Regierungsbezirk Stettin von besonderem Interesse sein kann. Gleichgültig, ob es sich um politische oder wirtschaftliche oder völlig unpolitische oder provinzielle oder lokale Angelegenheiten handelt. Im Wahlkampf mußte natürlich die Wahlpropaganda in den Vordergrund treten, aber auch hier bemühte man sich, die normale Linie nicht ganz abbrechen zu lassen, indem man den Polemiken gegen die pommerschen Gegner und dem Wahlkampf in Stadt und Provinz einen Platz auf den ersten beiden Seiten vorbehielt. (Haupt 1930)
In der deutschen Parteilinken stieß dieser reichsweit anzutreffende Kurs auf Ablehnung, die sozialdemokratischen Zeitungen würden „zur seichtesten politischen Oberflächlichkeit erziehen“ (Bieligk 1931: 69) und ihre sozialistische Aufgabe nicht erfüllen: „Es ist von dem geistigen Leben und dem Ringen um die politischen Entscheidungen der Sozialdemokratie fast nichts mehr festzustellen“ (Bieligk 1931: 70).
IV.4 Das Ende der Zeitung 1933 Der „Volksbote“ vom 28. Februar 1933 machte mit einem Beschluss des pommerschen Provinzialausschusses vom 25. Februar auf, wonach beim Staatsgerichtshof Klage gegen Papen als Reichskommissar von Preußen wegen der verfassungswidrigen Auflösung des Provinziallandtages erhoben wurde. Die Titelseite ruft zudem kommunistische Wähler auf, bei den Wahlen am 5. März für die SPD zu stimmen („Schluß mit der Spaltung“). Seite 2 erinnert an den Todestag Friedrich Eberts. In Gelsenkirchen kündigt der frühere Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrum) Widerstand gegen die neuen Machthaber an. Die Beilage weist auf eine geplante Rede Paul Löbes hin. Den Beamten wird ihr Abdriften nach rechts vorgeworfen („Habt ihr alles vergessen?“, 1. Beil. zu Volksbote Nr. 50, 28. 2. 1933: 2). Später folgt ein Wahlaufruf: „Freiheitskampf in Pommern – Das werktätige Volk steht bei der Sozialdemokratie“ (2. Beil. zu Volksbote Nr. 50, 28. 2. 1933: 1). Die Entscheidung zwischen Freiheit und Knechtschaft sei die zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Es folgen die üblichen Rubriken. Die letzte Nummer des „Volksboten“ (Nr. 52) im 49. Jahrgang erschien am 1. März 1933. Sie enthielt nur die Bekanntmachung des Polizeipräsidenten. Aufgrund der Notverordnung zum Schutze von Volk und Staat wurde die Zeitung vom 28.2. bis 13. 3. 1933 verboten. Bei dieser vermeintlich provisorischen Maßnahme blieb es. Zwar bezog sich die Verordnung (Reichsgesetzblatt 1933, Nr. 17) nach dem Reichstagsbrand auf die „Abwehr
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kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“, § 1 suspendierte aber sämtliche Grundrechte der Reichsverfassung unabhängig von politischer Richtung. Formal legal lieferten sich Volk und Staat schutzlos einer Räuberbande aus, der Ausnahmezustand wurde die Regel. Das finis Pomeraniae nahm hier seinen Anfang. Am 18. März 1933 besetzten Nationalsozialisten das Verlagsgebäude, im Keller wurde ein „Schutzhaftlager“ eingerichtet, das wegen der Unruhe in der Stettiner Bevölkerung auf das ehemalige Werftgelände des „Vulcan“ verlegt wurde (Warmann 2000: 52). Die gewaltsame Schließung wurde in der örtlichen NS-Presse beschönigend und mit offensichtlichen Lügen gespickt so beschrieben (Pommersche Zeitung, Nr. 224, 21. März 1933): Am Sonnabendabend wurde das Gebäude des „Volks-Boten“ von der NSDAP, der Hilfspolizei und der Polizei besetzt. Das dabei gefundene, inzwischen dem Preußischen Innenministerium zugeleitete Material erbrachte den einwandfreien Beweis für eine illegale Beteiligung der Stettiner SPD und des „Volks-Boten“-Betriebes. Die Besetzung des bis auf die Familie des Hausmeisters geräumten Gebäudes vollzog sich in großer Schnelligkeit und Disziplin. Zu beiden Seiten des Gebäudes wurde die Straße abgesperrt und dann das Haupttor des Gebäudes geöffnet. In wenigen Minuten war das ganze Gebäude durchsucht und überall hell erleuchtet. Schon eine knappe Viertelstunde nach der Besetzung wehte auf dem Dache des „Volks-Boten“ unter dem Gesang des Horst-Wessel-Liedes, in das die Menge auf der Straße einstimmte, die Hakenkreuzfahne. Wir sind in der Lage, an anderer Stelle einen Teil des Materials, das in den Schreibtischfächern der elegant eingerichteten Zimmer des „VolksBoten“ gefunden wurde, zu veröffentlichen. Schon aus dem, was wir heute bringen, mag jeder Arbeiter erkennen, daß die SPD längst restlos erledigt gewesen wäre, wenn die vertraulichen Briefe und Dokumente, die in den geheimen Fächern des „Volks-Boten“-Hauses schlummerten, schon vor den letzten Wahlen bekannt gewesen wären. Nicht minder lehrreich wäre für jeden, der auch heute noch seine SPD-Beiträge wacker zahlt, ein Rundgang durch die Räume der oberen Spitzen der Partei und des Verlages. Einen größeren Gegensatz als etwa das einfache Arbeitszimmer Adolf Hitlers im Braunen Haus und das mit echten Möbeln, phantastisch weichen Lederklubsesseln, mit Elfenbein und Marmor ausgestattete Zimmer des Stadtrats und Verlagsdirektors Pargmann kann man sich nicht vorstellen. Da sieht man mächtige Geweihe, die von der kostspieligen (Rechnungen sind gefunden) Jagdleidenschaft des Herrn Pargmann erzählen. Da sieht man seltene Zimmerpflanzen, ein üppiges Rauchservice, mehrere Rauchverzehrer, alles aus teuerstem Material. Ein großer, schwerer Teppich dämpft die Schritte der Eintretenden. Nicht viele von den SA-Männern, Hilfspolizisten und Polizeibeamten, die das Gebäude besetzt halten, haben schon je in ihrem Leben ein so verschwenderisch ausgestattetes Zimmer gesehen. Es entspricht durchaus dem Lebensstil, den die Führer der SPD schon zu bald nach dem 9. November gefunden haben und als dessen leuchtendes Beispiel fortan neben Philipp Scheidemann auch Wilhelm Pargmann gelten wird. In neckischer Weise fragten von verschiedenen Wänden große Plakate: „Wo bleibt der zweite Mann?“ Die Erfinder dieses Wahlspruches hätten sich wohl nie träumen lassen, daß er durch den Einmarsch von Nationalsozialisten in die sozialdemokratischen Parteihäuser
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beantwortet werden würde. In den Zimmern der Parteifunktionäre und „Volks-Boten“Angestellten wurden auch Waffen gefunden. Unser Bild zeigt die Morgensterne, mit denen die Marxisten, wenn es besser für die gekommen wäre, bei günstiger Gelegenheit Nationalsozialisten oder Polizeibeamten den Schädel eingeschlagen hätten. Mit der Besetzung des „Volks-Boten“-Hauses ist ein Herd der Beunruhigung für die Stettiner Bevölkerung endlich gesäubert worden.9
Nach dem Verbot des „Volksboten“ und der SPD wurde deren Vermögen beschlagnahmt.10 Im Stettiner Staatsarchiv ist eine Akteneinheit (Verwaltung der SPD-Vermögen) erhalten, die dokumentiert, wie die Volksdruckerei verscherbelt wurde. Die Inventarliste enthält neben dieser auch die Buchhandlungen in Stettin, Stargard, Anklam und Swinemünde. Auf dem Gebäude Schillerstraße 10 (später war hier der Reichsarbeitsdienst untergebracht, Höft 2011: 14) lastete noch eine Hypothek von 91.144 Reichsmark, weswegen eine Rotationsmaschine, Akzidenz- und Zeitungssetzerei sowie der Maschinensaal dem Stettiner Consum- und Sparverein übereignet werden mussten (24. 4. 1933). In nationalsozialistischer Mischung aus kleinkarierter Akribie und Bosheit wurde dann um die wertvolle Einrichtung gefeilscht, wobei sich die örtliche Druckerkonkurrenz unrühmlich hervortat. Hessenland kaufte gleich am 22. April 1933 drei Linotype-Setzmaschinen. Karl Andreas, Reparaturwerkstatt für graphische Maschinen, stellt beim Verwalter des SPD-Vermögens Gau Pommern, Lamprecht, „den Antrag, die Verkäufe der pommerschen SPD-Buchdrucke reien dem einzigen pommerschen Handwerksbetrieb auf diesem Spezialgebiet, also mir zu übertragen […] Mein Verdienst bei den Verkäufen soll der denkbar geringste sein, da einzig und allein die Arbeitsbeschaffung, entsprechend dem großen Aufbauprogramm der NSDAP, massgebend ist“ (22. 6. 1933). Kruse und Sohn, Papier- und Schreibwaren-Großhandlung, schreibt an den Kreis-Kampfbundleiter des gewerblichen Mittelstandes, dass die verbliebenen Maschinen der Volksdruckerei nicht an kleine Drucker verschleudert werden sollen (19. 6. 1933), Karl Tesch wünscht einen Koboldautomaten (ein Druckautomat) und verweist auf seine lange NSDAP-Mitgliedschaft (30. 6. 1933). Aus Berlin schreibt die Firma Mergenthaler, um Zwischenhandel mit Linotypes zu verhindern (26. 8. 1933). Bis es schließlich detailliert um Einrichtungsgegenstände ging: Falls man der Meinung ist, die Buchhandlung als solche vermieten zu können, ist natürlich eine Abgabe der Regale nicht möglich. Da jedoch der Buchladen ausserhalb des Verkehrs 9 Die liberale „Stettiner Abendpost/Ostsee-Zeitung“ (20. 3. 1933: 3) gab nur die Meldung des Polizeipräsidenten wieder, wonach NSDAP-Mitglieder eigenmächtig in das Gebäude eingedrungen waren, woraufhin die Polizei es besetzt hielt. – Wehrmanns Zeitungsbibliographie (1936: 87) vermerkt „eingegangen 1933“. 10 Am 10. Mai 1933 wurden reichsweit alle sozialdemokratischen Betriebe, Grundstücke, Anlagen und Barmittel enteignet (Danker/Oddey/Roth/Schwabe 2003: 113). Die Bestandsaufnahme des eingezogenen Vermögens der Konzentration durch die DAF dauerte bis Anfang 1934 (Engeln 1990: 132).
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Der „Volksbote“ im Überblick
Abb. 9: Aus der vorletzten Ausgabe des „Volksboten“ (28. 2. 1933, Nr. 50). Quelle: Haus Stettin, Lübeck.
Redaktion
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liegt, ausserdem schon in Stettin eine Anzahl von Buchhandlungen ein mehr als fragwürdiges Dasein führt, wird eine Vermietung zu dem alten Zweck kaum möglich sein […] Bei einer ev. Uebernahme des Grundstücks durch die S. A. würde sowieso von der letzteren kein Pfennig bezahlt werden. Ich stelle daher anheim, den Verkauf der Ladeneinrichtung freizugeben und mir auf Grund Ihrer Erfahrungen und Kalkulation einen Preis anzugeben, für den ich die oben angeführten Regale verkaufen darf. (Konzentration AG, 23. 6. 1934)
Redakteure des bereits verbotenen „Volksboten“ (Karl Krahn und Hermann Glander) trafen sich im Frühjahr 1933 mit dem illegalen Bezirkssekretär der KPD, Hermann Matern; sie wurden später zu langen Haftstrafen verurteilt (Lamprecht 2001: 52).
IV.5 Redaktion Im Durchschnitt arbeiteten vor dem E rsten Weltkrieg drei Redakteure pro sozialdemokratischer Zeitung (Leesch 2014: 77). Das traf auch auf den „Volksboten“ zu. Ein „Sitzredakteur“, der nach den zahlreichen Presseprozessen die Haftstrafe absaß, ohne dass eine Zeitung darunter litt, war daher nicht möglich, weshalb Gefängnisstrafen den „Volksboten“ empfindlich trafen. Ebenso wenig konnte der gesamte Zeitungsinhalt in Stettin allein erstellt werden. Daher gab es Korrespondenzen, die die Parteipresse belieferten,11 z. B. die Reichstagsberichterstattung von Kurt Baake (Kampffmeyer 1929: 12; der Parteivorstand hatte sie für alle Parteizeitungen verpflichtend gemacht, Fricke 1987 I: 611), die „Berliner Korrespondenz für die sozialdemokratische Parteipresse“ von F riedrich 12 Stampfer (ab 1903) oder die „Sozialdemokratische Partei-Korrespondenz“ von Wilhelm Schröder (ab 1906). Über diese Korrespondenz äußerte sich der Berliner Polizeipräsident anerkennend: Eine schier unerschöpfliche Quelle zur Information der Versammlungsreferenten, aber auch der sozialdemokratischen Parlamentarier bildet die zweiwöchentlich erscheinende, 16 bis 24 Seiten starke „Sozialdemokratische Partei-Correspondenz“, die nicht nur reiches statistisches und tagesgeschichtliches Material bringt, sondern u. a. auch jede Blöße, die sich die Gegner gegeben haben, jede angriffsfähige Entgleisung bürgerlicher Redner und Zeitungen, jede Maßnahme der Regierung, der Verwaltung, der Gerichte und der Parlamente, die sich nur irgendwie agitatorisch ausschlachten läßt, so sorgfältig bucht, daß es
11 Bereits 1877 war eine „Socialdemokratische Correspondenz“ beschlossen worden, die die Lokalpresse mit Berichten aus dem Reichstag und aus der sozialen Bewegung versorgte, Fricke 1987 I: 513. 12 Fricke (1987 I: 550 f.) bezeichnet den Einfluss von Stampfers Korrespondenz als (im SED-Sinn) negativ (opportunistisch). Die Übernahmen der Privatkorrespondenzen seien auf unzureichende Ausbildung, Arbeitsüberlastung und Zeitmangel zurückzuführen.
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für den, der diese Korrespondenz fleißig durcharbeitet, ein leichtes ist, nicht besonders versierte bürgerliche Gegner mit kräftigem Gegenstoß aus dem Sattel zu heben. (zit. n. Fricke 1987 I: 613)
Fricke (1987 I: 615 f.) nennt bis 1917 27 Privatkorrespondenzen für die s ozialdemokratische Presse. 1908 nahm das „Sozialdemokratische Pressebureau“ seine Arbeit auf (Leesch 2014: 78). Auch wurden häufig Artikel aus anderen SPD-Zeitungen übernommen. So bestand das Blattmachen im Redigieren, Kommentieren und in der lokalen und regionalen Berichterstattung, während der Mantel auf Zulieferungen angewiesen war (was bei deutschen Regionalzeitungen bis heute verbreitet ist). Kritik daran trat schon zeitgenössisch auf. 1909 stellte Heinrich Ströbel 13 fest: Immer und immer wieder begegnen einem die gleichen wohlbekannten Korrespondenzartikel. Die ganze Politik … wird von der Berliner Korrespondenz gemacht. Die größere Aktualität ist durch eine bis dahin unerhörte Uniformität erkauft worden. Selbst das kleinste Blatt, das nur von Anleihen lebte, schnitt früher doch aus mindestens einem halben Dutzend Blättern seinen Wochenbedarf zusammen, während heute Dutzende von Blättern in allen wichtigen Fragen von einer einzigen Korrespondenz ihre Inspiration empfangen. (zit. n. Fricke 1987 I: 551)
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Sozialdemokratische Pressedienst aufgebaut (von Adolf Braun, Kampffmeyer 1929: 12 f ). Das war nötig, um das herrschende Nachrichtenmonopol zu brechen: Vor dem Weltkriege befand sich die sozialdemokratische Presse in ihrem ganzen Depeschendienst von dem offiziösen Wolffbureau und von kapitalistischen Nachrichtenbureaus in starker Abhängigkeit. Diese Bureaus trieben zugestandenermaßen eine ausgesprochene prokapitalistische und militaristische, von ihren Nährvätern geleitete Nachrichtenpolitik. Sie wirkte richtunggebend auf die Auswahl, die Abfassung und die Form ihrer politischen und wirtschaftlichen Telegramme ein. Schreiende ökonomische und politische Mißstände wurden oft überschminkt oder gar nicht gemeldet. Zur Verhüllung unbequemer Tatbestände bedienten sich die bürgerlichen Bureaus vielfach eines farblosen Stils. Sie nahmen den Nachrichten, die das Bewußtsein ihrer Leser gegen bestimmte soziale Klassen oder politische Gruppen aufrütteln konnten, jede Schärfe und Kraft. Der verschwommene Inhalt der telegraphierten Nachrichten korrumpierte oft deren Form. (Kampffmeyer 1929: 24)
Der „Volksbote“ teilte seinen Lesern (Nr. 277, 25. 11. 1904: 1) mit, dass er einen „Vertrag mit der leistungsfähigsten deutschen Telegraphenagentur“ eingegangen war, nannte deren 13 Ströbel (1869 – 1944) war Redakteur beim „Vorwärts“ und Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses.
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Namen aber nicht. Zudem werde es einen Berliner Berichterstatter geben, mehr Illustrationen und die Zeitung werde mit mindestens sechs Seiten erscheinen, allerdings zu einem erhöhten Preis (frei Haus 65 Pfennig). Sozialdemokratische Journalisten waren im Kaiserreich mit ihrer häufigen handwerklichen Tätigkeit vorher und wegen ihres politischen Engagements ein „Sonderfall“ (Wilke 2000a: 294 f ). Mögliche Angaben zu „Volksbote“-Redakteuren schwanken z wischen umfangreicher Literatur zum Zeitungsgründer Fritz Herbert und bloßer Namensnennung. Im Zusammenhang dieser Arbeit werden einige Redakteure mit Kurzbiographien vorgestellt, zu vielen anderen ist das nicht möglich. So werden in den späten 1890er Jahren Otto Ohl, Carl Nathusius und Emil Henning genannt, ab 1902 Hermann Faber. Fritz Herbert hat 1921 in der Beilage „Der Volksbote und sein neues Heim“ (zu Volksbote Nr. 305, 31. 12. 1921) die Personalsituation so zusammengefasst: Bis 1898 redigierte ich den „Volksboten“ allein, dann kam als Lokalredakteur Genosse Faber hinzu, dem später Genosse Mehlich und nach diesem Heise folgte. Heise ist Unabhängiger geworden und nach Beendigung des Krieges nicht wieder in die Redaktion eingetreten. 1903 nach der Reichstagswahl trat ich aus der Redaktion aus. Mein Nachfolger wurde nach einem kurzen Zwischenspiel mit Genossen Winter der Genosse Dr. Quessel, jetzt in Darmstadt; diesem folgte Genosse Sommer und 1910 Genosse Schumann, der heutige politische Redakteur des Blattes. Während des Krieges habe ich lange Zeit das Blatt wiederum allein redigiert. Nach Kriegsende trat ich aus der Redaktion aus, da für den Etat des Blattes drei Redakteure zu viel waren. Die heutige Redaktion besteht aber wieder aus drei Genossen: neben Genossen Schumann noch aus den Genossen Richter und Lanzke.
Der Sozialdemokratische Pressedienst vom 16. 9. 1932: 5 meldet eine neunmonatige Gefängnisstrafe für Karl Krahn, der ein mildes Urteil gegen einen nationalsozialistischen Studenten kritisiert hatte. Krahn wurde nach der „Machtergreifung“ zu einer langen Haftstrafe verurteilt (Lamprecht 2001: 52). Da Artikel in Zeitungen nicht gezeichnet wurden, sind sie meistens nicht konkreten Verfassern zuzuordnen. 1927 erschien eine Anzeige im „Vorwärts“, wonach der „Volksbote“ einen „tüchtige[n] Lokalredakteur“ suche. Gewünscht wurden „lebendiger Stil“ und „zeichnerische Befähigungen“ sowie „Angaben über die bisherige journalistische Tätigkeit“ (Vorwärts, Morgenausgabe, Nr. 480, 11. 10. 1927, Beil. Unterhaltung und Wissen: 2). Das Handbuch des Vereins Arbeiterpresse von 1927 (72) nennt als Ressortverantwortliche beim „Volksboten“: Gustav Schumann für Hauptschriftleitung, Politik, Parteinachrichten, Volkswirtschaft und verschiedene Beilagen. Paul Pankowski berichtete über Gewerkschaftliches, Soziales, Aus aller Welt und Theater. Das Lokale und die Provinz oblagen Erich Ott. Als Berichterstatter werden Schwabenthal und Zöllner erwähnt. Hermann Glander Hermann Glander wurde 1902 in Stettin geboren, machte eine kaufmännische Lehre und arbeitete in der Autofabrik Stoewer. 1925 trat er in die SPD ein. Im „ Volksboten“
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schrieb er über kulturelle und Naturthemen. 1935 wurde er zu viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er einer jüdischen Stettiner Familie zur Flucht verholfen hatte. Nach seiner Entlassung 1939 führte er mit einem Teilhaber eine kleine Spedition. 1943 wurde er in das Bewährungsbataillon 999 gesteckt und geriet 1945 in Wiesbaden in Kriegsgefangenschaft. 1946 kam er nach Anklam, dann wurde er Redakteur bei der Greifswalder Ausgabe der „Landes-Zeitung“ (SED ). Er wechselte 1948 nach Schwerin, wo er im Kulturteil der „Landes-Zeitung“ sowie für den Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst arbeitete. Glander engagierte sich im Kulturbund und wurde Lektor im Schweriner Petermänken-Verlag. Von 1955 bis 1972 war er Redakteur der protestantischen Monatsschrift „Glaube und Gewissen“, die vom Zentralkomitee der SED bezahlt wurde. Er starb 1994 (Stockfisch 2003). Fritz Herbert Der Gründer des „Volksboten“ wurde am 7. Juni 1860 in Artern (preußische Provinz Sachsen, heute Thüringen) geboren. Der gelernte Schriftsetzer und Buchdrucker ging 1882 nach Stettin, zu diesem Zeitpunkt war er schon Sozialdemokrat. Zunächst führte er den „Volksboten“ im Ein-Mann-Betrieb als Redakteur, Drucker, Verleger und Expedient. 1887 kandidierte er erstmalig für den Reichstag, nach einer tumultartigen Wahlveranstaltung wurde über Stettin der Kleine Belagerungszustand verhängt und Herbert ausgewiesen, der nach Stargard ging. Dort erschien der „Volksbote“ weiter und wurde teils illegal verbreitet. Nach dreimonatiger Haft 1890 (Presseprozesse) kehrte Herbert nach Stettin zurück, wo ihn Tausende Einwohner begrüßten. Er wurde Stadtverordneter Stettins (bis zu seinem Tode) und 1893 – 1898 sowie 1903 – 1907 Mitglied des R eichstages. Während der Novemberrevolution war Herbert Mitglied des vom Reichsrätekongress gewählten Zentralrats der Deutschen sozialistischen Republik, 1919 – 1925 Mitglied des preußischen Landtags und regionaler Gremien. Er starb am 24. Mai 1925 in Stettin. Wegen seiner bestimmenden Rolle in der pommerschen Sozialdemokratie nannten ihn die Genossen „kleiner Fritz“ (vgl. Lamprecht 1991). Auf Herbert geht die älteste Geschichte der SPD in Pommern zurück (1893), darüber hinaus war er literarisch tätig. Aus der evangelischen Kirche war Herbert milieutypisch ausgetreten, er wurde Mitglied der Freireligiösen Gemeinde (Todesanzeige im Volksboten, Nr. 120, 26. 5. 1925: 3). Herbert hat sich auch überregional geäußert. In der „Neuen Zeit“ schrieb er 1901, woraus sich Rückschlüsse auf seine publizistische Tätigkeit ziehen lassen: „Die Neutralität ist ein Zwittergebilde, das ich nach Möglichkeit überall bekämpfe“ (Herbert 1901: 636). Im März 1918 wurde Herbert, von den Unabhängigen als „Sozialimperialist“ geschmäht, als Redakteur entlassen (Koszyk 1958: 92). 1920 warnte Fritz Herbert in der „Neuen Zeit“ vor den rechten Kräften in der jungen Republik: „Pommern ist ein Hort der Reaktion und wird es bleiben, aber wohl kann die Putschgefahr durch eine geschickte Gegentaktik sehr vermindert werden“ (Herbert 1920: 140). Fritz Herbert litt an Asthma. Sein Nachruf füllte die ganze Titelseite des „Volksboten“ aus (Nr. 120, 26. 5. 1925: 1), der auch die innerparteilichen Konflikte nicht aussparte:
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Und wenn er auch für seine unermeßliche Arbeit auf all diesen Gebieten nicht immer den Dank geerntet hat, den er ohne Zweifel verdiente, so beweist doch der gewaltige Fortschritt der Stettiner und pommerschen Arbeiterschaft, daß seine emsige Tätigkeit von großem Erfolge gekrönt worden ist. Es ist nun einmal so bei der Arbeiterschaft: sie kennt nur selten Dank für diejenigen, die ihre ganze Lebenskraft für die Sache der Arbeiterschaft hingeben, sie verlangt aber von ihren Führern sehr viel. […] Etwas mehr Anerkennung bei Lebzeiten würde aber doch wesentlich dazu beitragen, die Arbeitsfreudigkeit noch mehr zu beleben.
Das Gebäude des „Volksboten“ setzte seine Fahne zum Gedenken auf Halbmast (Anzeige in Nr. 120, 26. 5. 1925: 4). Der Sohn Fritz Willi Hans Herbert, im E rsten Weltkrieg Freiwilliger, promovierte an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Greifswald zur „strafrechtlichen Haftung des verantwortlichen Redakteurs“ (Herbert [jun.] 1922). Fritz Lamm Lamm war eine der wirkungsmächtigsten sozialistischen Persönlichkeiten pommerscher Herkunft, wenn auch seine Zeit in Stettin durch die NS -Diktatur jäh beendet wurde. Am 30. Juni 1911 geboren, arbeitete er zunächst als Kaufmann im väterlichen Betrieb. Er war Angehöriger des jüdischen Bürgertums, wandte sich aber der Arbeiterbewegung zu. Seit 1930 Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend, begann er im selben Jahr ein Volontariat beim „Volksboten“. Allerdings wurde ihm bereits nach einem halben Jahr gekündigt, weil ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn begonnen hatte. Da der Stettiner Jugendverband zu radikale Ansichten vertrat, reiste sogar der SAJ -Vorsitzende Erich Ollenhauer an. Diese Versammlung, bei der Lamm gegen die Brüning-Tolerierung auftrat, war der Grund für das Verfahren. Wegen „parteischädigenden Verhaltens“ wurde Lamm aus SPD und SAJ ausgeschlossen und wandte sich der SAP zu (die in Pommern nur bis zu 180 Mitglieder hatte, Lamprecht 2001: 41). Er wurde Bezirksleiter Pommern des Sozialistischen Jugendverbandes und Stettiner Ortsvorstand der SAP . Am 5. Februar 1933 demonstrierten in Stettin etwa 25.000 Menschen gegen den aufziehenden Faschismus, organisiert von der „Eisernen Front“; dies wurde der letzte Versuch, die drohende Gefahr abzuwenden. Die Stettiner SAP ging in die Illegalität, die bis 1935 aufrechterhalten werden konnte. Bereits am 2. Januar 1934 war Fritz Lamm wegen Hochverrats vom Reichsgericht zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, die er in Naugard verbringen musste. Nach der Entlassung floh er zunächst in die Schweiz, wurde von dort nach Österreich abgeschoben, floh in die Tschechoslowakei, nach Frankreich, wo er u. a. Sekretär Fritz Sternbergs wurde. Bei Kriegsausbruch als „feindlicher Ausländer“ interniert, floh er erneut und gelangte nach Kuba. Dieser abenteuerliche Weg rettete ihm vermutlich das Leben, da er als Marxist, Jude und Homosexueller dreifach bedroht war. 1948 kam er nach Stuttgart, wo er für die „Stuttgarter Zeitung“ arbeitete. Wieder Mitglied der SPD geworden, schloss man ihn 1963 erneut aus, weil Lamm weiter zu linke Positionen vertrat. Er engagierte sich dann bei den Freidenkern und wurde Förderer wie Vorbild der „Neuen Linken“. Er starb 1977 (vgl. Benz 2007).
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Ernst Mehlich 1882 im schlesischen Ellswig geboren, war der gelernte Buchdrucker z wischen 1907 und 1910 Redakteur des „Volksboten“, z wischen seiner Tätigkeit bei der Dortmunder „ArbeiterZeitung“. Durch Selbststudium wurde er Fachmann für Literatur und Bibliothekswesen. Aus Stettiner Vorträgen entstand sein „Kleiner Leitfaden für Arbeiterbibliotheken“, der als bedeutender Beitrag zur Volksbildung gilt. Als die Arbeiterbibliotheken zunehmend funktionslos geworden waren, sprach er sich für die Eingliederung der Bestände in Volksbüchereien aus. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Mehlich Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats Dortmund-Hörde, Vorsteher der Dortmunder Stadtverordnetenversammlung, er war Staatskommissar für das rheinisch-westfälische Industriegebiet und Mitglied von Provinziallandtag und Preußischem Staatsrat. Er starb durch einen Anschlag auf die Eisenbahnstrecke nach Berlin 1926 (vgl. Klotzbücher 2009). Erich Ott 1903 geboren, Redakteur des Stettiner „Volksboten“, blieb nach dem Verbot der Zeitung in seiner Heimatstadt Stettin. Er arbeitete illegal weiter (zusammen mit Stettiner Kommunisten, Inachin 2004b: 99) und wurde verhaftet. In Leipzig wurde Ott Mitglied im Führungsgremium des „Antifaschistischen Blocks“, dem „Provisorischen Zentralausschuß“, der im Juni 1945 entstand, und dann enger Mitarbeiter des Oberbürgermeisters als Leiter des Nachrichtenamtes. Er gründete die „Leipziger Zeitung“ mit, deren Geschäftsführer und Chefredakteur er wurde. Im Januar 1948 wurde sie verboten. 1949 – 1952 (Tod mit 49 Jahren) war er mecklenburgischer Landtagsdirektor (vgl. Deuse 1997). Paul Pankowski Der 1885 geborene Schriftsetzer trat 1908 in die SPD ein und war ab 1919 Redakteur, dann Chefredakteur des „Volksboten“. Zeitweise war Pankowski für den redaktionellen Teil der Stettiner USPD-Zeitung „Der Kämpfer“ verantwortlich (Impressum in „Der Kämpfer“, Nr. 137, 10. 7. 1920: 4). Nach kurzer Haft 1933 emigrierte er in die Tschechoslowakei, von dort ging er 1938 nach Schweden, wo er der Stockholmer SPD-Gruppe vorsaß. Nach Deutschland kehrte er nie zurück und soll in den 1960er Jahren gestorben sein (vgl. Sozialistische Mitteilungen, http://library.fes.de/fulltext/sozmit/1945-079.htm#P257_64884 [24. 07. 2020]). Wilhelm Pargmann Pargmann, geboren am 20. Februar 1884 in Plau am See (Mecklenburg), war gelernter Buchdrucker und Setzer. 1914 wurde er Geschäftsführer der „Volkszeitung“ in Mülhausen (Elsass – nach Kriegsende wurden die nach 1871 zugezogenen Deutschen von Frankreich vertrieben). Im Februar 1919 übernahm er die Geschäftsführung des „Volksboten“. 1919 – 21 war er Mitglied des preußischen Landtags. Er war nach 1921 Mitglied des pommerschen Provinziallandtages und des Bezirksvorstandes der SPD sowie Stettiner S tadtrat. P argmann engagierte sich auch im Verein Arbeiterpresse (Vorwärts, Morgenausgabe Nr. 246, 26. 5. 1927, 2. Beil.: 2). Nach der Machtergreifung inhaftiert, emigrierte er in die Schweiz. Pargmann
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starb am 4. Dezember 1944 in Basel (vgl. Schröder 1995: 645). Die nationalsozialistische „Pommersche Zeitung“ (Nr. 224, 21. März 1933) schrieb über ihn in typischer Häme und Verachtung: Unter dem von der Polizei nach der Besetzung des „Volks-Boten“-Hauses beschlagnahmten Material befindet sich der Schriftwechsel des Verlagsdirektors und Stadtrates Pargmann, den er noch am selben Tage geführt hatte. Besonders aufschlußreich ist dabei ein Brief, den Pargmann an einen Freund und Gesinnungsgenossen ins Elsaß schrieb. Dieser Brief läßt sowohl die moralische Verfassung eines führenden SPD-Bonzen, als auch erhebliche Schlüsse auf die politischen Machenschaften mit dem Auslande zu. Der Brief lautet: Herrn Albert Röllinger Mülhausen/Oberelsaß Corso-Cinema, P./J., 18. 3. 33 Lieber Freund Albert! In den letzten Wochen bei dem Drunter und Drüber in Deutschland habe ich sehr häufig an Mülhausen gedacht. Die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in Deutschland sind augenblicklich so, daß ich in absehbarer Zeit doch damit rechnen muß, den Staub wieder einmal von den Füßen zu schütteln und ins Ausland zu gehen. Das Gemeine bei dieser ganzen Angelegenheit ist ja, daß diese Verhältnisse nur durch das Verschulden meiner eigenen Parteifreunde entstehen konnten. Du kennst ja die Einstellung wahrscheinlich auch, und weißt, daß die nicht zu übertreffende grenzenlose Anständigkeit (ich sage immer Waschlappigkeit) diese unmöglichen Zustände herbeigeführt hat. Der von mir bisher geleitete Betrieb ist restlos lahmgelegt; die Zeitung verboten. Das Gesamtpersonal scheidet mit dem 1. April aus. Ob der Betrieb noch in irgendeiner Form aufrecht zu erhalten sein wird, erscheint mir mehr als fraglich. Bietet sich nun bei Euch im Elsaß für einen alten Patting wie ich mit 50 Jahren noch die Gelegenheit, sich in irgendeiner Weise durchs Leben zu schlagen? Daß ich mich daran gewöhnen muß, manches, was ich im letzten Jahre als selbstverständlich angesehen habe, wieder abzustreifen, ist klar. Was ich aber sehr gerne möchte, ist, wieder ungehindert atmen zu können und ungehindert das sagen zu dürfen, was man auf dem Herzen hat. Du weißt, frische Luft ist für den Menschen bekömmlicher als das eleganteste Zuchthaus. Also, alter Junge, sei so lieb, teile mir einmal deine Ansicht über die ganzen Verhältnisse im Elsaß und auch in Frankreich mit. Mit besten Grüßen auch an zu Hause Dein Pargmann In diesem Brief gibt also der Stadtrat Pargmann zu, daß er genau wie sein Genosse Braun und wie zahlreiche andere, mit denen noch abgerechnet werden soll, über die Grenze fliehen will. Das bittere Eingeständnis, daß er vieles wieder „abstreifen“ muß, was er „als s elbstverständlich
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angesehen“ hat, ist ein schönes Eingeständnis für den „gehobenen Lebensstil“, den er sich auf Kosten seiner Genossen geleistet hat. Am bedeutsamsten aber ist, daß Pargmann nach Frankreich will, um „ungehindert das sagen zu dürfen, was man auf dem Herzen hat“. Das ist genau dasselbe, was die Genossen in Paris vor kurzem und immer getan haben; sie benutzen die französische Presse und die französische Politik, um skrupellos gegen die nationale Regierung in Deutschland Opposition zu treiben. Er erkundigt sich im Schlußsatz schon nach den Möglichkeiten einer solchen Arbeit, da er Auskunft über „die ganzen Verhältnisse“ von seinem Freunde anfordert. Wenn Pargmann uns gerade noch diesen Brief liegen ließ, den er am selben Tag diktiert hatte und dessen Durchschlag noch nicht abgelegt und beiseitegeschafft war, so kann man sich denken, was er sonst noch an „Beziehungen“ laufen hat. Pargmann konnte sich durch nichts mehr belasten, als durch den Satz: „Du weißt, frische Luft ist für den Menschen bekömmlicher als das eleganteste Zuchthaus.“ Er hält sich also selber für zuchthausreif. Wir sehen ein einheitliches Bild: Führende SPD-Führer trachten in großer Anzahl, nach Frankreich zu entkommen, um dort ihre politische Arbeit gegen Deutschland in übelster Lügenarbeit persönlich fortzusetzen. Sie werden zu schlimmen Feinden des nationalen Aufbaus. Ihre Genossen, ihre Wähler und Anhänger lassen sie im Stich, um sich selber in Sicherheit zu bringen. Das sind die Helden des Marxismus!
Otto Passehl Passehl wurde 1874 in Gützkow (Vorpommern) geboren und war Mühlenarbeiter, bevor er Angestellter einer Gewerkschaft, dann Genossenschaft wurde. 1907 trat er in die Redaktion des „Volksboten“ ein. Aus dem E rsten Weltkrieg kehrte er versehrt zurück. Von 1919 bis 1933 saß er in Kreistag und Kreisausschuss Greifenhagen. Er wirkte in zahlreichen Aufsichtsräten mit und war von 1924 bis Juni 1933 Mitglied des Reichstages. Während der NS-Zeit war er inhaftiert und starb 1940 bei Greifenhagen (vgl. Schröder 1995: 646). Passehl verfasste einen Bericht „Zeitungsschreiber – Verblaßte Erinnerungen aus einem wilden Leben“ in der Beilage „Der ,Volksbote‘ und sein neues Heim“ zu Nr. 305 des „Volksboten“ vom 31. 12. 1921. Demnach hat er bereits 1898/99 kleine Arbeiten im „Volksboten“ veröffentlicht, bevor er Stettin für einige Jahre verließ. Ludwig Quessel Ludwig Quessel (1872 – 1931) wurde in Königsberg geboren, war gelernter Uhrmacher, studierte Staatswissenschaften in Zürich und promovierte 1903 in Zürich. Ab 1894 war er Mitglied der Preßkommission für die Königsberger „Volkstribüne“/„Volkszeitung“ und bei dieser 1903/1904 Redakteur (er wurde in Ostpreußen verdächtigt, antizarische Schriften zu schmuggeln, Matull 1973a: 367), bevor er zum Stettiner „Volksboten“ ging und auch den monatlich erscheinenden „Pommer“ redigierte. 1907 wurde er Chefredakteur des Darmstädter „Volksfreundes“. Quessel war zeitweise Mitglied des Reichstages (Sperlich 1983: 207, Hagelweide 2016: 1.826). Er setzte sich u. a. für die jüdische Wiederbesiedlung Palästinas und die Bewahrung der jüdischen Kultur ein (Beiträge in den „Neuen jüdischen Monatsheften“, H. 2/1916, H. 9/1917). 1919 erschien sein Buch „Der moderne Sozialismus“
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(bei Ullstein). Dort sprach er sich für ein vereinigtes Europa mit einer „sehr weitgehenden Sozialisierung“ aus (Quessel 1919: 260). Otto Passehl zählte Quessel „trotz seiner gelegentlichen unpolitischen Verirrungen zu den feinsten Köpfen der Partei“ (Beil. zu Volksbote Nr. 305, 31. 12. 1921). Johannes Richter Richter (geboren am 2. November 1895 in Stettin, gestorben am 23. April 1970 in Bad Wiessee, Oberbayern) war gelernter Schriftsetzer und trat 1915 in die SPD ein. Von 1919 bis 1922 war er SAJ-Bezirksleiter in Pommern und Redakteur beim „Volksboten“. Dann siedelte Richter nach Hamburg über, wo er Redakteur des „Hamburger Echos“ wurde. 1927 – 1933 Stadtverordneter in Altona und Vorsitzender der SPD-Fraktion, wurde er 1933 entlassen, mit Berufsverbot belegt und unter Polizeiaufsicht gestellt. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurde er zeitweise im KZ Fuhlsbüttel inhaftiert. 1946 – 1959 war er Chefredakteur des „Hamburger Echo“, 1966 – 1970 Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft (vgl. SPD-Landesorganisation Hamburg 2003: 121 f ). Gustav Schumann Schumann (geboren 16. Oktober 1879, Jüterbog, gestorben 16. März 1956, Bad Sachsa) machte in Berlin eine Lehre zum Bürogehilfen und wurde 1900 SPD-Mitglied. 1908 – 1910 arbeitete er beim Sozialdemokratischen Pressebüro in Berlin, dann wurde er Redakteur des „Volksboten“ (bis 1930 – mit Ausnahme der Kriegsjahre an der Front). 1913 – 1930 war Schumann Stadtverordneter in Stettin. 1919 wurde er Mitglied des SPD-Bezirksvorstands, dem er bis 1933 angehörte. Von 1919 bis 1926 war er Mitglied des Provinziallandtages der Provinz Pommern und von 1921 bis 1926 Mitglied des Preußischen Staatsrats. 1924 übernahm er den Vorsitz des SPD-Bezirksvorstandes Pommern, wurde Mitglied des zentralen SPD-Parteiausschusses und gehörte bis 1933 dem Vorstand des pommerschen Städtetages an. Von 1924 bis 1933 gehörte er dem Reichstag für den Wahlkreis 6 (Pommern) an. Seit Februar 1930 besoldeter Stadtrat in Stettin, wurde er 1933 aus dem Dienst entlassen. In der NS-Zeit wurde Schumann mehrfach inhaftiert und zog 1940 in den Harz. 1944 wurde er im KZ Buchenwald interniert und im Januar 1945 entlassen. Nach 1945 übernahm er den Vorsitz der SPD in Bad Sachsa, wo er von November 1945 bis März 1953 dem Stadtrat angehörte. Von September 1948 bis Dezember 1949 war er Bürgermeister der Stadt. Er gehörte von 1948 bis 1952 dem Kreistag des Landkreises Osterode an (vgl. Lamprecht: Gustav Schumann in Schwabe 2004: 74). Kurt Stern Stern, auch Bols-Stern oder Stern-Bols, wurde 1904 in Halle/S. geboren. Er besuchte ein Stettiner Gymnasium, machte bei Karstadt eine Lehre und war dann freier Journalist, der auch für den „Volksboten“ schrieb. Wegen illegaler Tätigkeit verhaftet, sprang er im August 1933 aus dem Stettiner Polizeigefängnis, wodurch er seinen rechten Arm verlor. Er floh in die ČSR, wo er für die Sopade wirkte. Über Polen emigrierte er 1936 nach Schweden, dort
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wurde er sozialwissenschaftlicher Archivar. Er starb 1956 in Stockholm. Von Stern sind Briefe aus der Nachkriegszeit erhalten, in denen er die mangelnde Einsicht der Deutschen und den Verlust seiner Heimatstadt beklagt (vgl. Fink 2009). August Winter Dem gebürtigen Schlesier (1866 – 1907, Krämer 2000) verdankt sich eine der wenigen autobiographischen Ausführungen von Redakteuren im „Volksboten“. Der zweiteilige Artikel „Ein neuer Redakteur“ („Volksbote“, Nr. 157, 9. 7. 1903: 3 sowie Nr. 158, 10. 7. 1903: 3) sei hier deswegen leicht gekürzt wiedergegeben: Werte Parteigenossen und Parteigenossinnen von Stettin und Provinz Pommern! Wie Ihr wohl bereits wißt, hat Eure Zeitung eine neue Leitung erhalten und zwar in meiner Person. Von Haus aus schlesischer Bauernsohn, Sohn eines deutsch-österreichischen Bauern, der sich in Deutsch-Schlesien im Gebiete der alten Cisterzienserabtei Grüssau im Jahre 1864 angesiedelt hatte, war ich schon auf der Elementarschule, die ich mit einigen Ueberspringungen der unteren Klassen erledigte, wurde bestimmt, daß ich studieren und natürlich – meine Mutter ist katholisch – Pfarrer werden sollte. Die Leute auf dem Lande kennen als wohllebigen Mann natürlich nur den Pfarrer, der es „gut hat“ und wollen deshalb, wenn sie ihrem Sohne eine gute Zukunft und sich ein angenehmes Alter wünschen, daß der Sohn „geistlich“ wird. Mein Vater war anderer Meinung. Er hatte noch lebhafte Erinnerung an die deutsche Freiheits-Bewegung der 40er Jahre und seit dieser Zeit sich viel mit freiheitlicher und später mit sozialistischer Litteratur beschäftigt. […] Meine Studien begann ich auf der Universität Breslau; ich studierte klassische Philologie und Germanistik und zur Unterstützung dieses Studiums Sprachvergleichung, Sprachgeschichte und Sanskrit. Meine Doktor-Arbeit, die in das Gebiet der indischen Philosophie gehörte und mir vom Bonner Professor Jacobi anvertraut worden war, gab ich in Breslau im Jahre 1893 heraus. Ich stand nunmehr vor der Frage, was ich nun eigentlich werden sollte, Staatsbeamter oder Volksführer? Mit meinem früh angenommenen Sozialismus, den ich nicht verleugnen konnte trotz des Wunsches der Eltern, konnte ich nicht preußisch-deutscher Staatsbeamter werden. Ich bereitete mich deshalb auf die Mitarbeit in der Arbeiter-Bewegung vor und änderte mein Studium insofern, als ich Nationalökonomie und Wirtschaftsgeschichte auf der Universität in Breslau unter dem stark marxistischen Professor Werner Sombart als auch als Hauslehrer in Posen und Schlesien und das Agrarwesen an der Quelle kennen lernte […] Litterarisch beteiligte ich mich am „Vorwärts“, an dem vom Genossen Schippel seiner Zeit geleiteten „Sozialdemokrat“, an der „Neuen Zeit“ und dem „Sozialistischen Akademiker“, an der Breslauer „Volkswacht“ und an anderen Veröffentlichungen, schrieb damals auch meine Arbeit über die Breslauer Schneiderei in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik und befaßte mich zuletzt vor allem mit Oberschlesien, der terra incognito auch bei der Sozialdemokratie. Trotz aller Bedenken stellte ich mich im Frühjahr 1897 ganz auf meine eigenen Beine, was finanziell bereits seit 1893 geschehen war und ging als Litterat nach Oberschlesien, das heißt, nach dem oberschlesischen Industriebezirk, dem zweitgrößten Industriebezirk Deutschlands. […]
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Meine Arbeit hatte gezeigt, daß die Arbeiterbewegung auch in Oberschlesien, auf einem sehr unfruchtbaren Boden, gedeihe [… Die Bewältigung der noch von Genossen auf dem Münchener Parteitag bewunderten Größe der Arbeit hatte indes die unangenehme Folge, daß es meine Nervenkräfte über Gebühr in Anspruch nahm, was zu deren Verschlechterung führte. Ich mußte zuletzt, als nichts mehr half, ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen und habe da auch Hilfe gefunden, sodaß ich im Jahre 1903 die umfangreiche Sekretariatsarbeit samt der laufenden Parteiarbeit und der für die 12 oberschlesischen Wahlkreise notwendige Wahlarbeit leiten und mitmachen mußte und konnte. Nach der Beendigung der oberschlesischen Wahlarbeit packte ich mein Ränzel und zog nach Stettin an den dortigen „Volksboten“, der, da Genosse Herbert von dessen Redaktion zurücktritt, einen neuen Leiter braucht. Unserem Parteivorstande wollte es wenig gefallen, daß ich Oberschlesien verließ, da aber ein Ersatzmann für meinen Stettiner Posten nicht zu haben war – falls er überhaupt gesucht worden ist – so mußte ich meinem mit den Stettiner Genossen abgeschlossenen Anstellungsvertrage folgen und es Legien und dem Parteivorstande überlassen, sich neue Leute zu besorgen, die nun auch besorgt sind. […] Meine nächste Aufgabe ist, Stettin und Pommern, Land und Leute kennen zu lernen, zu ihnen zu reden und zu schreiben über die Wahrheiten der sozialistischen Lehren, darauf hinzuwirken, daß die alte Sklaverei der Landarbeiter unter den agrarischen Herrschaften endlich einmal ein Ende nimmt, und daß überhaupt die Klassenscheidung, die jetzt besteht, einem neuen goldenen Zeitalter Platz macht. Werte Parteigenossen und Genossinnen! Es besteht hier noch ein arges Mißverhältnis zwischen der Zahl derer, die Abonnenten unserer Zeitung sind und derer, die zu uns gehören und dies auch bei der letzten Reichstagswahl durch ihre Stimmabgabe für unsere Partei gezeigt haben. Wo sind die 15000 Proletarier von Stettin und Umgebung abonniert? Ohne Zeitung kann heute kaum jemand auskommen; sind also die Tausende des pommerschen Proletariats bei bürgerlichen Zeitungen abonniert, die sie unterhalten, aber nicht belehren und vor allem sie nicht über sich selbst und ihre Lage belehren? Es muß in der Tat so sein; so darf es aber nicht bleiben. Wir müssen dafür sorgen, daß wir unser Blatt in gewissen Beziehungen, die mit unseren Grundsätzen nichts zu thun haben, den bürgerlichen guten Blättern angleichen. Man kann und soll auch vom Gegner lernen da wo er Gutes leistet. Die Leiter der bürgerlichen Presse haben mehr Erfahrung als wir über die geschickte Führung von Zeitungen, wir müssen sie in dieser Hinsicht nachahmen. […]
Winter war nach Stettin gekommen, weil ihn die politischen Kämpfe in Oberschlesien aufgerieben hatten. Dort hatte sich neben der SPD die „Polska Partya Socjalistyczna zaboru pruskiego“ etabliert, „die Ausfälle des hochgradig nervenkranken Mannes hatten manchen Gegensatz verschärft“ (Wehler 1971: 166).14 Beim „Volksboten“ konnte Winter 14 August Winter scheint es an Verständnis für die polnische Frage gemangelt zu haben. Er schrieb in den „Sozialistischen Monatsheften“: „Die Nationalpolen machen schon jetzt Geräusch genug, wahrscheinlich bereits zu viel; einige junge Leute, die sich gern reden hören, tun, als ob Oberschlesien für sie schon gewonnen sei. Indes kann dieser Parteiagitationsrummel nicht
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Der „Volksbote“ im Überblick
Abb. 10: Verlagssitz in Stettin, Schillerstraße Nr. 10, Volksbote Nr. 305, 31. 12. 1921. Quelle: Haus Stettin, Lübeck.
nicht lange bleiben, denn seine psychische Erkrankung kehrte zurück. August Winter verbrachte seine letzten zweieinhalb Lebensjahre umnachtet in der Nervenheilanstalt Rybnik in Oberschlesien (Krämer 2000: 218 f ). lange anhalten, ohne an Bedeutung zu verlieren. Er ist, wie gesagt, lediglich national“ (Winter 1903: 127 f ).
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IV.6 Weitere SPD-Zeitungen Pommerns Da Stettin innerhalb der Provinz eine Sonderrolle zukam, wurden Gründungen auch in den ländlichen Gebieten nötig, wobei die Partei die jeweils größten Städte als Erscheinungsort wählte. In Greifswald erschien seit 1922 täglich die „Greifswalder Volkszeitung“ als Ableger des „Vorpommer“ (Stralsund), in einer Auflage von (1926) 4.500 Stück. Köslin hatte die „Volkszeitung für Hinterpommern“, 1919 gegründet, ab 1923 „Der Hinterpommer“ als Nachfolgeorgan. Die erfassten Auflagenzahlen bewegen sich z wischen 6.500 (1925) und 8.200 Stück (1931). In Köslin kam auch ein Wochenblatt der SAP heraus („Sozialist“, 1932). Die „Stargard-Pyritzer Volkszeitung“ (1919 – 1933) als Ableger des „Volksboten“ hatte (1925) eine Auflage von 3.900 Exemplaren, sie kam in Stargard heraus. Für Stettin selbst wird noch die „Stettiner Freie Zeitung“ für Ende 1876 erwähnt. Monatlich erschien dort von 1905 bis 1914 „Der Pommer“ mit 16 – 21.000 Stück. Die Stettiner USPD brachte 1919 – 1922 den „Kämpfer“ heraus. Als Nebenausgabe des Kösliner Blattes erreichte in Stolp ab 1927 der „Grenz-Bote“ das Publikum mit (1928) 3.500 Exemplaren.15 „Stralsunder Volkszeitung“ (1911 – 1918) und „Der Vorpommer“ (1919 – 1933) richteten sich an neuvorpommersche Arbeiter, letztgenannter mit bis zu 11.200 Stück (1928) (Angaben nach Koszyk/Eisfeld 1980). Im Vergleich zu den sozialdemokratischen Zentren mag dies dünn erscheinen, angesichts der pommerschen Wirtschafts- und Sozialstruktur erreichte die SPD aber eine vollständige räumliche Abdeckung der Provinz. Überall war es möglich, auch über das nähere geographische Umfeld informiert zu werden. Nun sind verstreute kleine Zeitungen in Kaiserreich und Weimarer Republik üblich gewesen, sie waren aber doch meist konservativ oder vorgeblich apolitisch, dabei auf Übernahmen (Hugenbergs Materndienst) angewiesen. Erst die Konzentrationen durch NS-Eingriffe, alliierte Lizenzierung und dann die bundesdeutsche Marktentwicklung – hier besonders die Verteilung der DDR -Bezirks zeitungen 1990 – lassen die vormalige Titelfülle reich wirken. Ideologisch hatte der Leser bis 1933 eine größere Auswahl als danach, was die politische Kultur aber eher beschädigte als beförderte – Stimmenkonkurrenten waren Feinde und oft koalitionsunfähig. Im heute polnischen Teil Pommerns („Westpommern“) erscheinen vier Zeitungen in Stolp/Słupsk, Köslin/Koszalin und Stettin/Szczecin („Kurier Szczeciński“ und „Głos Szczeciński“). Vorpommern teilen sich „Ostsee-Zeitung“ und „Nordkurier“ mit Sitz in Rostock und Neubrandenburg, also Mecklenburg.
15 In Stolp erschien während der Märzrevolution (um 1849 – 1850, Wehrmann 1936: 95) eine demokratische Zeitung „Volksbote“. Über seine Artikel schreibt der (reaktionäre) Hilliger (1898: 24), er „putschte die Tagelöhner gegen die Kreisstände auf“. Das Blatt liegt mikroverfilmt vor (Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn).
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IV.6.1 „Der Pommer, Organ für die ländliche Bevölkerung Pommerns“ (Stettin) Die deutsche, besonders ostelbische Landwirtschaft befand sich durch russische und nordamerikanische Konkurrenz seit etwa 1880 in einer Dauerkrise (Aldenhoff-Hübinger 2002: 29 – 32), bei der die „Grundbesitzverteilung im Osten eine verhängnisvolle Rolle“ (Weber 2001 [1894]: 9.150) spielte. Auch die pommersche Sozialdemokratie und ihre Zeitung waren sich der sozialen Lage auf dem Lande bewusst und thematisierten sie schon früh: Wer die pommerschen ländlichen Zustände, die oft eine große Aehnlichkeit mit denen der Zuchthäuser haben, kennt, der wird die Abnahme der ländlichen Bevölkerung begreiflich finden. Wer unter den erbärmlichen Verhältnissen noch nicht gänzlich versklavt ist, sucht sich eine neue Heimath. […] Und dabei sind die letzteren [die Landarbeiter – H. B.] mit geringer Ausnahme noch so dumm und wählen ihre Bedrücker in den Reichstag, statt die Kandidaten der Arbeiterpartei, welche nur allein für die Interessen der arbeitenden Bevölkerung eintreten. (Volksbote Nr. 61, 11. 8. 1889: 4)
Das Motiv, dass sich die Landarbeiter, die noch unter der preußischen Gesindeordnung standen, gegen ihre Befreiung wehren, taucht im „Volksboten“ häufig auf, dessen Perspektive für die Landwirtschaft klar war. Fritz Herbert schrieb: Dieser Nothstand [der Landwirte – H. B.] kann aber durch kein Mittel der heutigen Gesetzgebung, sondern nur durch Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise und Einführung einer Wirthschaftsform nach den kommunistischen Grundsätzen der Sozialdemokratie gehoben werden. (Volksbote Nr. 89, 16. 4. 1896: 1)
Die pommersche Sozialdemokratie vertraute auf den Gang der Geschichte: Durch den kapitalistischen Fortschritt, der zu einer Abwanderung in die Städte führte, werde sich der Sozialismus durchsetzen: Der Bauer ist ein konservatives Element, ein Hort aller reaktionären Bestrebungen geworden. Der Bauer trägt wesentlich die Schuld, daß Junker und Pfaff in Deutschland noch die Macht haben, von der sie in unseren Tagen oft einen so unheilvollen Gebrauch machen. Die Industrie unterhölt und zerstört diesen Rückhalt der Reaktion. Sie zieht die ländlichen Arbeitskräfte aus der Stille und Abgeschiedenheit des Dorfes in das Getümmel des Arbeitsmarktes und in das Getriebe der modernen Großproduktion; aus der „Unschuld vom Lande“, deren Haut dazu diente, daß sich die Junker Riemen daraus schneiden konnten, wird ein klassenbewußter Arbeiter, der mit den Millionen seiner Brüder gegen den Druck des Kapitalismus ankämpft. […] Diese von der Industrie bewirkte großartige Umwälzung, die keine Macht der Erde aufhalten kann, ist für uns eine sichere Bürgschaft, daß wir die politische Macht erringen werden. (Volksbote Nr. 91, 18. 4. 1896: 1)
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Die Landbevölkerung schüttelt die konservativen Täuschungen ab und sieht in dem Junker thum wieder die alten Feinde; sie kämpft Schulter an Schulter mit dem Proletariat der Städte um Freiheit und Brot und die Minderheit der rückständigen Kleinbauern muß grimmig zusehen, wie die politische Macht der Sozialdemokratie weiter und weiter wächst. […] Der Kapitalismus hat Eile, sich selber abzuschaffen. (Volksbote Nr. 128, 4. 6. 1896: 2)
Früh bemühte sich der „Volksbote“, dessen Schwerpunkt in Stettin lag, auch die ländlichen Regionen Pommerns einzubinden und dort Leser wie Berichterstatter zu werben: Aufruf! Die Genossen in der Provinz ersuche ich höflichst, mir baldigst Material über die Lage der ländlichen Arbeiter (Dauer der Arbeitszeit im Sommer und Winter, Frauen- und Kinder-Arbeit und deren Dauer, Lohnhöhe in Akkord oder Tagelohn, Schilderung der Wohnungsverhältnisse, des Hofgängerwesens, der Nahrungsweise etc.) sowie über die Verhältnisse im Grundbesitz (ob der Grund und Boden sowie die Häuser im Orte einem einzelnen Gutsbesitzer gehören oder ob daneben noch andere Besitzer vorhanden sind) gefälligst übermitteln zu wollen. Ich bemerke dabei, daß Jeder die Angaben nach seinem Gutdünken machen kann und daß sich Niemand zu geniren braucht, wenn er auch kein ordentliches Deutsch schreibt […] Das Material soll zu einer eingehenden Schilderung der Verhältnisse in Pommern verwandt werden. Fritz Herbert. (Volksbote Nr. 191, 17. 8. 1896: 4)
Bald erschien ein eigenes Blatt für die Landagitation, „Der Pommer“. Genosse Schmidt berichtete 1896 auf der Kreiskonferenz für den Wahlkreis Randow-Greifenhagen, wonach der „Pommer“ alle zwei Monate verteilt wurde, im April und Juni/Juli 9.310 Exemplare. In der Diskussion wurde beklagt, dass er (wie der „Volksbote“) zu wenig Stoff biete und „gemeinverständlicher und volksthümlicher“ geschrieben werden müsse (Volksbote Nr. 225, 24. 9. 1896: 3). Die Verbreitung des „Pommer“ auf dem Land stieß auf Schwierigkeiten, sowohl juristische als auch welche der Akzeptanz der Verteiler: Als im Januar d. J. der „Pommer“ in Bahn [Kleinstadt nahe Stettin – H. B.] verbreitet wurde, da wurden an die Verbreiter natürlich sofort Strafmandate geschickt. 8 Personen sollten je 15 Mark berappen. Natürlich wurde sofort Widerspruch erhoben und es erfolgte wie immer Freisprechung, aber die Sache hatte doch eine Menge Kosten verursacht. […] Die dortige Gegend ist der dunkelste Theil des Kreises Greifenhagen und die Bewohner werden schon einsehen, daß unsere Genossen keine Vagabunden, sondern ganz anständige Leute sind, welche kein anderes Ziel im Auge haben, als selbstlos die Elenden und Unterdrückten aus ihrer Noth zu befreien. (Volksbote Nr. 301, 23. 12. 1896: 1)
Es stellt sich die Frage, ob die pommersche SPD für die Agitation den richtigen Ton traf. Landarbeiter wurden als „gleichgültig und stumpf“ (Volksbote Nr. 164, 12. 7. 1901: 2) bezeichnet und bedürften der Aufklärung durch Arbeiter, die wegen der Arbeitslosigkeit in den Städten aufs Land gingen:
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Sie werden den landwirthschaftlichen Arbeitern erzählen, was sie in den Städten gehört und gesehen; sie werden sich auch ihre gewohnte Lektüre auf das Land senden lassen; an den Winterabenden, wo man auf dem Lande so oft die lange Zeit mit allerlei Tändeleien todtschlägt, werden sie mit den ländlichen Arbeitern sich über die modernen sozialen Probleme unterhalten. Und so werden sie in den Landproletariern das Klassenbewußtsein erwecken, den Drang nach Besserung und das Gefühl, nicht nur zu harter Arbeit, sondern auch zur Theilnahme an den Genüssen des Lebens berufen zu sein. (Beilage zu Volksbote Nr. 234, 2. 10. 1901: 1)
Wehrmann (1936: 89) bezeichnet als Erscheinungszeitraum 1894 bis April 1898. Die SPD griff die Idee eines Blattes für die Landbevölkerung wieder auf, Streitpunkt war, ob man Flugblätter, Zeitschriften oder Kalender verwenden solle (Volksbote Nr. 202, 29. 8. 1904: 2, Nr. 203, 30. 8. 1904: 1). Kurzzeitig brachte die pommersche SPD einen „Landboten“ heraus. Zu d iesem schrieben die Wolgaster Genossen in ihrem Antrag zum Provinzialparteitag 1904, er habe „seinen Zweck nicht erfüllt, das scheiterte an der Abhängigkeit der Arbeiter usw.“, doch habe der „,Landbote‘ als Ergänzung zu den Flugblättern wertvolle Dienste geleistet“ (Beil. zu Volksbote Nr. 196, 22. 8. 1904: 2). 1904 nahm der Parteitag den Antrag des Genossen Dr. Matz an, alle zwei Monate ein Landorgan, „Der Pommer“, herauszugeben und den Kreisvertrauensleuten oder Kreiswahlvereinsvorsitzenden in gewünschter Menge zu übersenden (Volksbote Nr. 203, 30. 8. 1904: 2). Es erschien bis Juli 1914. Die Papieroriginale befinden sich in der Universitätsbibliothek Greifswald, das Mikrofilmarchiv der deutschsprachigen Presse hat sie 2015 verfilmen lassen. „Der Pommer“ wurde unentgeltlich verschickt. Verantwortlicher Redakteur und Verleger war Ludwig Quessel, gedruckt wurde bei Fritz Herbert. August Horn schrieb in der ersten Nummer: Die Unternehmer und Großgrundbesitzer fürchten nichts so sehr, wie die politische Aufklärung ihrer Arbeiter. Denn je unaufgeklärter die Arbeiter in politischer Hinsicht sind, um so willfährigere Ausbeutungsobjekte bilden sie […] „Der Pommer“ wird es als seine Aufgabe ansehen, seine Leser über alle wichtigen politischen Vorgänge zu unterrichten. Er wird den Feinden des Volkes die heuchlerische Maske vom Antlitz reißen; er wird seine Stimme erheben gegen alle diejenigen, deren Streben darauf gerichtet ist, das arbeitende Volk zu entrechten und auszuwuchern […] Wir ersuchen daher unsere Freunde und Leser, uns über alle Vorkommnisse, durch w elche sich der kleine Mann und der Arbeiter sich beschwert fühlt, zu berichten. (Der Pommer, Nr. 1, 1. 1. 1905)
Auf dem Provinzparteitag 1906 konnte bereits berichtet werden, dass vom „Pommer“ 130.000 Exemplare verteilt worden waren (Beil. zu Volksbote Nr. 206, 4. 9. 1906: 1). 1912 berichtete der pommersche Bezirksvorstand (2. Beil. zu Volksbote Nr. 191, 17. 8. 1912: 1 f.):
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Abb. 11: „Der Pommer“ Nr. 2, 1. 3. 1906. Quelle: Mikrofilmarchiv der deutschsprachigen Presse, Dortmund. Der „Pommer“ wurde regelmäßig alle zwei Monate herausgegeben. Nur während der Reichstagswahlbewegung erschien er monatlich. Die Auflage ist von 16000 auf 20500 herauf gegangen, in der Zeit der Wahlbewegung stieg diese sogar auf 23000 Exemplare. Der Verbreitungskreis hat sich ausgedehnt. Im Jahre 1910 erfolgte der Versand nach 384 Orten, jetzt sind es 470 Orte, wohin der „Pommer“ kommt. Wenn die Verbreitung auch eine Ausdehnung erfahren hat, so muß doch gesagt werden, daß seitens der Kreisleitungen viel mehr Wert darauf gelegt werden müßte, Adressen aus weiteren Orten zu erlangen. […] Die Beträge, die für die Herstellung des „Pommer“ ausgegeben werden, sind durchaus nicht unbedeutend. Jedoch dürfen wir auf dieses Agitationsmittel nicht verzichten, da es uns die einzige Möglichkeit bietet, mit den meisten Orten ständig in Fühlung zu bleiben. Neben dem wurde Wert darauf gelegt, die Landarbeiterschaft mit den Zielen und Bestrebungen der Sozialdemokratie vertraut zu machen und die erbärmlichen Zustände auf dem Lande aufzudecken.
1914 belief sich die Auflage des „Pommer“ auf 19.000 Exemplare, die alle zwei Monate versendet wurden – im entsprechenden Bericht des Bezirksvorstandes zum Parteitag hieß es aber, dass dem Sekretariat mehr Adressen bekannt gemacht werden müssten, um „dauernd mit unsern Anhängern in der Provinz in geistiger Fühlung“ zu bleiben; die Zahl der verschickten Exemplare nach Wahlkreisen lag z wischen 680 (Stolp-Lauenburg) und 2.481 (Ueckermünde-Usedom-Wollin) (2. Beil. zu Volksbote Nr. 133, 11. 6. 1914: 2).
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Inhaltlich behandelte „Der Pommer“ Themen, die für Landarbeiter interessant sein konnten, beispielsweise die soziale Lage auf dem Lande (Obdachlosigkeit im Alter, den zunehmenden Einsatz von Maschinen in der Landwirtschaft, durch den Schnitter arbeitslos wurden, die Wildschäden im Zusammenhang des Jagdvorrechts der Junker, die ausländischen Wanderarbeiter, den Kampf um den Achtstundentag, Landstreicher, Landflucht, Streik- und Gerichtsberichte [auch aus dem Ausland], Schulfragen. G roßen Raum nehmen Parteinachrichten ein (grundsätzliche politische Fragen, Haltung der Sozialdemokratie, Aufrufe zum Parteieintritt, Parteitage und -versammlungen). Es wird gegen die politischen Gegner (Liberale, Konservative, Antisemiten) argumentiert und für den 1. Mai geworben. Tagesaktuelle Th emen traten wegen der selteneren Erscheinungsweise nicht so häufig auf, es sei denn, sie hatten langfristige Bedeutung, wie z. B. das „Daily-Telegraph“-Interview Wilhelms II.16 (Der Pommer Nr. 1, Januar 1909: 2 f.; „das persönliche Regiment bringt unser Vaterland in die größte Gefahr, deshalb muß das persönliche Regiment beseitigt werden“ [3]). Wie im „Volksboten“, für den eifrig geworben wurde, finden sich Widerlegungen von Vorwürfen gegen die Sozialdemokratie, ebenso Aufrufe zur Leserbeteiligung durch wahrhaftige Berichte über die Zustände in Pommern. „Der Pommer“ verwendete kürzere Sätze als der „Volksbote“ und bemühte sich um allgemeine Verständlichkeit. Die Anzeigen sind überwiegend Eigenanzeigen sozialdemokratischer Verlage, besonders Stettins. Es ist anzunehmen, dass Texte übernommen wurden, besonders, wenn sie journalistisch länger gültig waren, z. B. die Frage des Christentums im Staat, der Kampf gegen den Militarismus oder geschichtliche Th emen, deren Auswirkung auf die Gegenwart erörtert wurde. Theoretische Grundsatzdebatten wie im „Volksboten“ fehlen. In den Berichten aus pommerschen Kleinstädten und Dörfern wurden u. a. Missstände aufgezeigt und behördliche Übergriffe gemeldet.
IV.6.2 „Der Vorpommer“ (Stralsund) Der Stettiner „Volksbote“ der Vorkriegszeit enthielt bei den Nachrichten aus der Provinz auch die Rubrik „Stralsund-Franzburg-Rügen“, für die als verantwortlicher Redakteur Wilhelm Goebel, Stralsund, angegeben wurde. Einen „Überblick über die Entwicklung der SPD -Presse in Vorpommern“ hat der Sozialdemokrat Otto Kortüm 17 (1891 – 1966) 16 Der deutsche Kaiser hatte sich zur Englandpolitik geäußert, was als unsensibel und herablassend empfunden wurde. Das Manuskript war vor der Veröffentlichung vom Auswärtigen Amt abgesegnet worden. Wilhelm II. erlitt einen Nervenzusammenbruch und dachte an Abdankung. Seine Stellung besonders in den Medien wurde schwer beschädigt (Glaab 2008: 201 f ). 17 Kortüm, 1891 im Kreis Demmin geboren, arbeitete bei Reichspost und Reichsfinanzverwaltung. SPD -Mitglied war er seit 1918. Er war u. a. Mitglied des Provinziallandtages und des Stralsunder Magistrats. 1933 wurde er ins KZ Sonnenburg (bei Küstrin) verschleppt. 1938 trat er in die NSDAP ein, wirkte im Untergrund und entging einer Verhaftung 1944 nur, weil er an der Ostfront kämpfte. Von der sowjetischen Armee wurde er als Stralsunder Oberbürgermeister
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Abb. 12: Stralsunder Volksstimme Nr. 1, 27. 3. 1891. Quelle: Internationales Zeitungsmuseum, Aachen.
maschinenschriftlich 1956 verfasst (im Bestand des Instituts für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund). Demnach wurde bereits 1891 auf Anregung Fritz Herberts eine Kommission für die Gründung eines Parteiorgans eingesetzt und im selben Jahr die „ Stralsunder Volksstimme“ gegründet (drei Nummern haben sich im Internationalen Zeitungsmuseum Aachen erhalten), die bei Herbert in Stettin gedruckt wurde, redigiert von Genossen Herbert Drachholtz und später Adolf Genzen; das Blatt ging jedoch wieder ein (Kortüm 1956: 1). In der „Einladung zum Abonnement“ (Stralsunder Volksstimme Nr. 1, 27. 3. 1891: 4) schrieb Drachholtz u. a.: Während die Interessen der besitzenden Klassen von einer großen Anzahl Zeitungen vertreten werden, hat den Arbeitern immer ein Organ gefehlt, das sich voll und ganz in den Dienst ihrer Interessen stellt. Dieser Mangel ist von der arbeitenden Bevölkerung von Stralsund und Umgegend oft recht bitter empfunden worden. […] Wohl wissen wir, daß wir einen schweren Stand haben werden, ein großer Theil der Bevölkerung steht uns gleichgiltig oder gar feindselig, sei es aus Unverstand oder aus Noth, um die Arbeit nicht zu verlieren, gegenüber.
Die „Stralsunder Volksstimme“ wurde noch vor dem sozialdemokratischen Wahlverein gegründet (Jahnke u. a. 1968: 15). 1911 – 1918 erschien der „Volksbote“ mit einem Stralsunder Kopf („Stralsunder Volkszeitung, Volksbote für die arbeitende Bevölkerung des Wahlkreises Stralsund, Franzburg, Rügen, Stettin“). 1914 war Paul Göbel der Lokalredakteur, eingesetzt, auf Druck der Kommunisten aber nach wenigen Monaten wieder abgesetzt. 1949 floh er in den Westen und starb 1966 in Hamburg (Gisela Klostermann: Otto Kortüm, in Schwabe 2004: 79 f ).
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Abb. 13: Der Vorpommer, 21. 7. 1932 (Nr. 169), mit dem Aufmacher zum „Preußenschlag“. Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.
die Auflage betrug 650 Stück (Handbuch des Vereins Arbeiterpresse 1914: 123). Erst nach der Novemberrevolution wurde eine eigene Zeitung für Stralsund und Neuvorpommern gegründet, wobei es wieder Hilfe aus Stettin gab (Alex Kuntze, Wilhelm Pargmann, Gustav Schumann), der Stettiner Genosse Poupar zog nach Stralsund, ab 1. 1. 1920 kam der „Vorpommer“ heraus (Kortüm 1956: 2). Schnell erreichte der „Vorpommer“ eine Auflage von 9.000 Stück. Während des Kapp-Putsches wurde die Redaktion von aufständischen Soldaten besetzt, die die Maschinen unbrauchbar machten (Kortüm 1956: 3). Als der Reichsparteivorstand weitere Zuschüsse ablehnte und sogar die Schließung empfahl, sprangen wieder die Stettiner Sozialdemokraten ein, allerdings zu dem Preis, dass der politische Teil als Maternseiten nun aus Stettin kam (Kortüm 1956: 5). 1924 wurde das Unternehmen als „Volksdruckerei Stralsund“ wieder selbstständig, die Geschäftsführung blieb bis 1928 an der Oder (Wilhelm Pargmann) (Kortüm 1956: 6). Im März 1933 wurde der „Vorpommer“ geschlossen und bald das Vermögen beschlagnahmt; Versuche, nach der sowjetischen Besetzung 1945 eine neue SPD -Zeitung zu gründen, scheiterten (Kortüm 1956: 8 f ). Inhaltlich scheint anfänglich eine große Abhängigkeit vom Stettiner „Volksboten“ bestanden zu haben. Die Titelseite des „Vorpommer“ vom 14. Januar 1920 (Nr. 11) mit dem nachdenklichen Leitartikel zum Versailler Vertrag:
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Der Tag des Friedensschlusses schließt eine Periode ab, wie sie blutiger und grauenvoller von keiner Menschheit keines Zeitalters durchlebt worden ist. Unfähigkeit und böser Wille, Dilettantismus und krankhafte Großmannssucht – das waren die Stigmata, die jene Epoche unauslöschlich und für alle Zeiten charakterisieren werden. Wenn wir uns heute fragen, was die ersten zwei Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts als ihnen wesentliches Charakteristikum aufzuweisen haben, so müssen wir beschämt schweigen, es sei denn, daß wir des in Waffen starrenden Europas und Deutschlands schimmernder Wehr gedenken wollten; müssen schweigen, auch wenn wir über Deutschlands Grenzen hinausblicken. Und nun die Armseligkeit unseres Jahrhunderts! Es bedurfte erst der schrecklichen Erfahrungen eines fast fünfjährigen Weltkrieges, um das Klägliche, das Aueßerliche, das Unkulturhafte des Militarismus zu erkennen und zu verabscheuen. […] Eine neue Epoche beginnt, aber müde Menschen sind ihre Träger. Hier sind gewisse Grenzen gesteckt. Und doch: Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag. Glück auf den Weg!
beispielsweise entsprach der Titelseite des „Volksboten“ vom 13. Januar 1920 (Nr. 9) – die neuvorpommerschen Leser bekamen also Artikel mit einem Tag Verzögerung. Um das Stralsunder Blatt aufzuwerten, wurden bald die Preise erhöht, was mit der allgemeinen Teuerung (Anzeigensteuer, Erhöhung der Papierpreise, höhere Kosten für Materialien und Betriebsstoffe, Redaktions- und Nachrichtendienste, Post- und Telegraphendienste, Löhne und Gehälter, Spedition) erklärt wurde: Die deutsche Presse befindet sich in einer schweren Krise. Falls es ihr nicht gelingt, gegenüber ihren von Monat zu Monat anwachsenden beispiellosen Unkosten entsprechende Einnahmen aufzubringen, sind die Folgen unabsehbar. […] Wir sehen uns daher, wie alle deutschen Zeitungen, genötigt, eine Bezugspreiserhöhung zum 1. Februar 1920 einzuführen… Dafür werden wir bemüht sein, den „Vorpommer“ an Umfang und Inhalt so auszustatten, wie es die Verhältnisse zulassen. […] Ein Eingehen der sozialistischen Blätter würde eine Schwächung der von unserer Partei befolgten Politik bedeuten, der die zur Verbreitung ihrer Ideen notwendige Grundlage entzogen würde. (Der Vorpommer Nr. 22, 27. 1. 1920: 3)
Im Zusammenhang dieser Arbeit kann „Der Vorpommer“ nur kursorisch betrachtet werden. In der Endphase der Weimarer Republik hielt er die Nationalsozialisten für bereits besiegt, als bei der Reichspräsidentenwahl 1932 Hitler unterlag – die „Republik zerschlug das Hakenkreuz“ (Der Vorpommer Nr. 84, 11. 4. 1932: 1). Bestärkt wurden die Redakteure durch den Stimmenrückgang der NSDAP bei der Reichstagswahl vom 6. November 1932; Ziel war, von den Braunen enttäuschte Wähler nicht der KPD zu überlassen: Dies konjunkturhaft emporgetriebene Gebilde, das sich kapitalistisch den Unternehmern gegenüber und antikapitalistisch gegenüber den Proleten gegenüber [!] gebärdet, ohne feste Grundlage auf Wahn und Demagogie aufgebaut, ist ins Wanken gekommen. […] Es wird eine ernste Aufgabe sein, die proletarischen Elemente, die instinktiv fühlen, daß sie von der
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NSDAP . betrogen worden sind, zum Bewußtsein ihrer wahren Klasseninteressen zu bringen
und dafür zu sorgen, daß sie nicht auf die Dauer das Opfer kommunistischer Demagogie werden. (Der Vorpommer, Nr. 263, 8. 11. 1932: 1)
Im Jahresrückblick wurde die Stärke der Arbeiterbewegung betont, die Hitler bereits in die Schranken gewiesen habe und der dies auch künftig gelingen werde: Die Nationalsozialisten wollten im Jahre 1932 das „Dritte Reich“ errichten, sie wollten die Marxisten „mit Stumpf und Stiel ausrotten“. Die Führer und Unterführer der Nationalsozialisten übertrafen sich gegenseitig in gewaltigen Kraftworten: denn der Siegesmarsch der Nazis sei unaufhaltsam. Gemeine, brutale Gewalt gegen eigene Volksgenossen regierte die Stunde, und fast schien es, als ob sich der blutige, faschistische Hitler-Terror auch in Deutschland durchsetzen könnte. Hitler und seine Führer haben in ihrem brutalen Kampf die unzerbrechliche Kraft der modernen Arbeiterbewegung unterschätzt. Sie haben geglaubt, sie könnten die Gewerkschaften im Sturme erobern und die Organisationen der Eisernen Front zerstören. Der Einbruch in die marxistische Front ist den Nazis nicht gelungen. Dieser Einbruch wird ihnen auch nie gelingen. (Der Vorpommer Nr. 302, 31. 12. 1932: 1)
Eine Verfilmung des Blattes liegt nur bis 1932 vor.
IV.6.3 „Der Kämpfer“ (USPD, Stettin) Die Parteispaltung der Sozialdemokratie machte ein neues Organ der Unabhängigen nötig. Dieses trug den Namen „Der Kämpfer“ und erschien zunächst wöchentlich, dann täglich. Verantwortlich war Stephan Heise (1883 – 1945), der vor dem E rsten Weltkrieg u. a. die „Volksbote“-Beilage „Für unsere Frauen“ redigierte. Heise, gelernter Buchbinder, ging später nach Frankfurt am Main, wo er Redakteur und Kommunalpolitiker wurde. Im NS-Regime wurde er mehrfach verhaftet und kam beim Todesmarsch der Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen im März 1945 um (Sozialistische Mitteilungen – Fußnoten, http://library.fes.de/fulltext/sozmit/1945-079.htm [24. 07. 2020]). Wehrmann (1936: 91) gibt als Verlag irrtümlich „Verlag Stettiner Volksbote“ (tatsächlich war es zunächst Max Holze, später eine eigene Genossenschaft) an und nennt als Fortsetzung: „Der Stürmer, Organ der vereinigten kommunistischen Partei Deutschlands (Bez. Pommern)“ nach dem Übertritt der meisten Unabhängigen zur KPD. „Der Kämpfer“ konnte nach der USPDSpaltung nicht weiter erscheinen. „Der Kämpfer“ entsprang der Enttäuschung über den Kurs der Mehrheitssozialdemokratie, die zugunsten der neuen republikanischen Ordnung die Gestaltung der sozialis tischen Gesellschaft vertagt hatte. Schon in der ersten Nummer hieß es: Am 1. Mai hielt das internationale Proletariat Heerschau, musterte die Bataillone der klassenbewußten Kämpferschar, warb neue Streiter zum Kampf für Menschenglück und
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Abb. 14: Der Kämpfer vom 25. 12. 1921 (Nr. 301) mit einem Gedicht von Paul Pankowski zum Weihnachtsfest. Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. Völkerfrieden. Und die ständig wachsende Zahl der Männer und Frauen, die dem revolutionären Banner Gefolgschaft schwuren, gab uns die frohe Zuversicht des endgültigen Sieges. Jahrtausendelanges Menschheitssehnen hat seine Erfüllung gefunden – so glaubten und hofften wir – wenn einst der Maitag nach der sozialen Revolution anbricht. – Der Weltkrieg zertrümmerte unsere Hoffnungen! Wir erlebten eine Enttäuschung, die um so schmerzlicher war, als wir sie an denen erlebten, die das Vertrauen der Massen zu Führern und Vertrauensleuten des Proletariats berufen hatte. Noch kurz vor Eintritt der Katastrophe, die schon ihre Schatten vorauswarf, versammelten sich die Führer des internationalen Proletariats in Basel und schwuren sich treue Gemeinschaft im Kampf gegen den Krieg. […] Schmählicher ist kein Bund gebrochen worden als dieses Bündnis der sozialistischen Internationale! Der heiligste der Maigedanken, die Völkerfriedensidee wurde in den Schmutz getreten und jene, deren Pflicht es war, die Vorkämpfer im Kampf gegen den Krieg zu sein, sanken zu Zuhältern der Reaktion herab, predigten den Arbeitermassen das Durchhalten und den Burgfrieden, wo es ihre Pflicht war, den Krieg und die Klassenherrschaft der Kapitalisten zu bekämpfen. Durch ihren Verrat an der sozialistischen Pflicht sprengten die Sozialimperialisten in Deutschland die Einheit der Partei auseinander, verschuldeten, daß die entfesselte Kriegsfurie viereinhalb Jahre Europas Fluren verheerte und alle Völker in Jammer, Not und Elend stürzte. […] Aus den
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Der „Volksbote“ im Überblick
Trümmern des kaiserlich-imperialistischen Deutschlands sollte eine sozialistische Republik erstehen, das war der Wunsch und Wille der Revolution! […] Aber die Wiedervereinigung des Proletariats konnte nicht bewirkt werden durch die Gemeinschaftsarbeit mit den korrupierten [!] rechtssozialistischen Führern, welche die Sünden ihrer Vergangenheit wie ein Bleigewicht mit sich herumschleppen. […] Und so ist Deutschland, seitdem die Rechtssozialisten allein das Staatsruder in der Hand halten und die Herrschaft mit ihren bürgerlichen Freunden teilten, seit sie mit der Gewalt der Waffen die niederschlugen, die sich gegen ihr Regiment erhoben, zu einem grollenden Vulkan geworden, der bald hier bald dort Flammen und Verderben speit und dessen Flammen nicht mehr zu löschen sind. (Der Kämpfer, Wochenschrift, Nr. 1, 1. 5. 1919: 1)
Anders als die MSPD befürwortete „Der Kämpfer“ die Diktatur des Proletariats statt des Parlamentarismus, da dieser nur ein Mittel der besitzenden Schicht zur Herrschaftsausübung sei: Die Revolution hat die Arbeiterklasse einen anderen als den gesetzmäßigen Weg gehen lassen. Durch Gewalt übernahm die Arbeiterklasse die politische Macht, welche sie vordem durch die Demokratie erringen wollte. Nun trat ein bezeichnender Wechsel ein: die bisherigen Gegner der Demokratie wurden im Handumdrehen ihre eifrigsten Freunde und forderten sie bald mit allem Ungestüm: Warum? Weil nun die Demokratie den Kapitalisten als das zweckmäßigste Mittel erschien, dem Proletariat die neugewonnene politische Macht wieder zu entreißen oder wenigstens seine Kraft zu lähmen. Mit sicherem Blick für Realitäten, wie er leider den regierungssozialistischen Realpolitikern nicht eigen ist, erkannten sie, daß Demokratie ohne Sozialismus für das Proletariat zunächst ein Heft ohne Klinge ist, während die Rechtssozialisten über der Demokratie den Sozialismus vergaßen. Wer die wirtschaftliche Macht besitzt, beherrscht damit die Demokratie, deshalb war in den Tagen nach der Revolution zunächst etwas ganz anderes zu tun, als Wahlverordnungen zu erlassen und eine Nationalversammlung wählen zu lassen. […] Wer es anders und besser machen, sich dabei Zeit lassen wollte, wurde verschrien als Terrorist, Spartakist und Bolschewist. […] Spießbürger will seine Ruhe haben, deshalb steht niemals die Mehrheit des Volkes hinter den aktiv handelnden Revolutionären und sind die Letzteren zunächst immer nur Terroristen. Erst nach vollzogenem Umsturz wendet sich die Masse des Volkes den siegreichen Terroristen zu und aus dem Terror wird legale Staatsmacht! Sollte durch die deutsche Revolution nicht nur eine Demokratie, sondern eine wirkliche sozialistische Republik entstehen, so mußte der Terror der revolutionären Sieger eben auch auf das wirtschaftliche Gebiet ausgedehnt werden, bis durch einige beweiskräftige Tatsachen auch dem Spießbürger klar gemacht war, daß der Sozialismus nicht das Schreckgespenst ist, vor dem ihn die kapitalistische Presse gruselig gemacht hat. […] Abgesehen von den wenigen sozialdemokratischen Zeitungen steht die gesamte deutsche Presse in seinem [des Kapitalismus – H. B.] Dienst und durch fortgesetzte geschickte Beeinflussung durch dieselbe suggeriert er schließlich dem Wähler, daß der die Kandidaten der kapitalistischen Parteien
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wählen muß, wenn er seine eigenen Interessen vertreten wolle. […] Solange sie [die Kapitalisten – H. B.] die unbeschränkten Herren der Produktionsmittel sind, können sie die Produktion stören und durch geschickte Propaganda die Schuld daran auf Regierungsmaßnahmen wälzen, kurz, der Kapitalismus hat auch in der vollendetsten Demokratie noch die mannigfaltigsten Trümpfe in der Hand, um sie zunächst mit Erfolg gegen den Sozialismus auszuspielen und aus dem Parlament, dieser einzigen Errungenschaft der Revolution, ein Mittel zu deren Vernichtung zu machen! (…) Je mehr der kapitalistische Einfluß durchgreifende sozialistische Produktionsregelung verhindert, desto mehr wird die kapitalistische Presse zu beweisen suchen, daß der Sozialismus nur eine Th eorie sei, w elche in der Praxis nicht zu verwirklichen ist und damit großen Eindruck bei den Gedankenlosen erzielen. Denn auch die uneingeschränkte Pressefreiheit ist, solange die wirtschaftliche Macht des Großkapitals nicht ausgeschaltet ist, nur die Freiheit, den Sozialismus in der öffentlichen Meinung totzuschlagen. Will das revolutionäre Proletariat seine sozialistische Sendung erfüllen, so bedarf es dazu der proletarischen Diktatur! (St. H. [= Stephan Heise]) (Der Kämpfer, Wochenschrift, Nr. 1, 1. 5. 1919: 3 f.)
Im Unterschied zum bolschewistischen Russland sollte Deutschland nicht von einer Kaderpartei, sondern von Räten regiert werden: Heute ist das Gebot der Stunde: Abkehr von der formalen Demokratie, von Bureaukratie und Parlamentarismus und statt dessen staatlicher Wiederaufbau durch das Rätesystem! Das Rätesystem… Der geruhsame Bürger bekreuzigt sich und auch dem bonzengläubigen Rechtssozialisten läuft ein kalter Schauer über den Rücken! Das Rätesystem, ist das nicht Bolschewismus und blutrünstige Diktatur? Schreitet in seinem Gefolge nicht Not und Elend, Mord und Brand, das wüste Chaos? Nein! Das Rätesystem ist aufbauende Arbeit; es ist der fruchtbarste Gedanke, den unsere Zeit gebar! Es verbindet die Wirtschaft mit der Politik, Gesetzgebung und Verwaltung zu eins und ist deshalb die idealste staatliche Organisation! […] Selbst der zunächst „entrechtete“ Unternehmer erhält sein Wahlrecht wieder, sobald er durch die fortschreitende Sozialisierung aufhört, ein „Ausbeuter“ im marxistischen Sinne zu sein. – Stephan Heise (Der Kämpfer Nr. 2, 10. 5. 1919: 2 f.)
In Abgrenzung zu den übrigen Parteien hatte die USPD, die aus dem Protest gegen den deutschen Kriegskurs entstanden war, Verständnis für die Friedensbedingungen des Versailler Vertrages: Wir allein haben das Recht gegen einen Vergewaltigungsfrieden zu protestieren, denn nur wir allein haben den deutschen Imperialismus bei den Gewaltfriedensschlüssen von BrestLitowsk und Bukarest [Rumänien trat die Dobrudscha an Bulgarien ab – H. B.] bekämpft. Die andern ernten nur was sie säeten und wenn sie an das Gericht der Völker apellieren [!], so können sie nur die Antwort erhalten: ihr werdet gezüchtigt, wie ihr es verdient habt! (Der Kämpfer, Wochenschrift, Nr. 1, 1. 5. 1919: 2)
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„Der Kämpfer“ hoffte, dass aus den Trümmern der Nachkriegszeit der Sozialismus entsteht: Gerade wir unabhängigen Sozialisten, die wir während des Krieges und auch zur Zeit des scheinbaren Triumpfes [!] des deutschen Imperialismus einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrecht [!] der Völker verlangten, wir müssen auch Protest heute gegen diesen Gewaltfrieden erheben! Aber wir stimmen nicht mit ein in das Wutgeheul der bürgerlichen Presse, das die nationalen Leidenschaften des Volkes aufpeitschen soll und die Regierung zur Ablehnung des Friedensvertrages zwingen will. Die lautesten Schreier gegen den „Schandfrieden“, den uns die Entente aufbürden will, die jetzt einen neuen furor teutonicus hervorrufen möchten, sind ja die alldeutschen Kriegshetzer von einst, sind die Schuldigen an dem beispiellosen Zusammenbruch des deutschen Volkes! Die Hauptschreier im Lager der bürgerlichen Protestler sind jene Gesellen, die nicht genug annektieren konnten, als sie den deutschen Militarismus Sieger zu sein wähnten und damit den uns zugemuteten Frieden geradezu herausgefordert haben. […] Gemessen an der Raubgier des deutschen Imperialismus sind also die Friedensbedingungen der Entente nicht einmal etwas so Unerhörtes, wie sie die deutsche Presse darstellt. […] Auch die Proteste der Rechtssozialisten fallen nicht sehr ins Gewicht. Sie haben während der ganzen langen Kriegsdauer dem deutschen Imperialismus Handlangerdienste geleistet, nur dann und wann mit hohlen Deklamationen, nie aber durch die Tat seine Schandtaten bekämpft. […] Es nützt kein Sträuben, die Regierung wird und muß unterzeichnen! Sie unterschreibt das Todesurteil der deutschen Großmachtstellung als Mitschuldige an dem Zusammenbruch des deutschen Volkes! Die Regierungsparteien haben ja nicht nur die Politik betrieben und unterstützt, die Deutschland in diese Katastrophe stürzte, sie haben auch nach der Revolution alles getan, um die Welt davon zu überzeugen, daß nur die Firma, nicht das Regierungssystem gewechselt hat! […] Die Not der kommenden Jahre wird den Klassenkampf verschärfen und die Sozialisierung des deutschen Wirtschaftslebens erzwingen. […] Darum fürchten wir auch diesen Gewaltfrieden nicht! Wir wissen, daß er nur ein Geburtshelfer der Weltrevolution sein kann, die diesen Pack [wohl Pakt – H. B.] zerreißt! (Der Kämpfer Nr. 3, 17. 5. 1919: 1 f.)
In derselben Nummer heißt es: Diese brutale Verneinung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes in einer Zeit, wo dieses Recht der Nationen auf dem Markte der Geschichte dröhnend verkündet worden, ist eine Drachensaat schlimmster Art. Gelingt es der Entente, diese Pläne zu verwirklichen und ihnen Dauer zu geben, so wird ein Zustand in Europa geschaffen, der für die Völker bald ebenso unerträglich sein wird wie jener vor dem Weltkrieg. Es wird eine Atmosphäre des Hasses und der Verzweiflung geschaffen, in der die Ansätze zur Völkerversöhnung verkümmern müssen, in der die nationalistischen Gewaltinstinkte wieder alle wahre Menschheitskultur überwuchern und ersticken würde, in der der Befreiungskampf des Proletariats aufs schwerste durch die Ablenkung der Volkskräfte auf das Gebiet der nationalen Streitigkeiten gehemmt werden würde. (Der Kämpfer Nr. 3, 17. 5. 1919: 3)
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Besonders die Verbindung mit Russland wurde für die Zukunft gewünscht: Das einzig richtige ist: Wir unterschreiben unter Protest, wie Trotzki den Brester Frieden und verbinden uns so schnell wie möglich mit der Sowjet-Regierung Rußlands. Denn Rußland und Deutschland zusammen können sich wirtschaftlich aushelfen und können zur Not zusammen wirtschaftlich existieren. (Der Kämpfer, Nr. 4, 24. 5. 1919: 2)
Ökonomisch sollte die Planwirtschaft der Ausweg aus der kapitalistischen Misere werden, politisch erreicht durch die Diktatur des Proletariats als Übergang: Das Ziel der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei ist: Die organisierte planmäßig arbeitende sozialistische Gesellschaft. In dieser Gesellschaft wird es weder Privateigentum an den Produktionsmitteln noch Klassen und Klassenherrschaft geben. Die staatlichen Herrschaftsmittel werden in gesellschaftliche Verwaltungsorgane umgewandelt sein. Das Bedürfnis wird vor der Produktion festgestellt, der Warenhandel durch die Verteilung der Produktion ersetzt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, muß das Proletariat die Staatsgewalt erobern, d. h. die Macht, die heute in den Händen der besitzenden Klasse liegt, muß in die Hände der Proletarier fallen. Damit wäre die Diktatur des Proletariats, seine Alleinherrschaft, errichtet. Die Diktatur des Proletariats ist nur das Mittel zur Errichtung der sozialistischen Gesellschaft; die Diktatur ist also nur eine vorübergehende Erscheinung. […] Kein Zweifel, das Proletariat bildet heute die ungeheure Mehrzahl des Volkes. Doch das Proletariat selbst ist noch nicht in seiner ungeheuren Mehrzahl sozialistisch gesinnt. Und darauf kommt es an. (Der Kämpfer Nr. 6, 8. 6. 1919: 3)
Die Funktionäre der MSPD und der Gewerkschaften seien für diesen Übergang ungeeignet, da sie zu viele Kompromisse mitgetragen hätten. Nur die reine marxistische Ideologie sei brauchbar: Als Anhänger der rein materialistischen Geschichtsauffassung sehen wir in den meisten jetzt scheinsozialistischen Partei- und Gewerkschaftsführern die Opfer einer Entwickelung. Ihre „praktische“ Arbeit und die stets ängstliche Abwägung der realen Verhältnisse, wie sie sich in ihren Augen darstellte, hat die sozialistische Partei dahin geführt, daß sie sich auf die friedliche Ueberwindung des kapitalistischen Staates eingestellt hat. Im Augenblick der Katastrophe, als das militärische und das kapitalistische Wirtschaftssystem zusammenbrach, verlor sie jede Initiative und jeden Halt. Sie war eine Organisation geworden, die der staatlichen Bürokratie durchaus wesensverwandt war. Die Partei- und Gewerkschaftsführer waren Bürokraten, dank der mangelhaften Aufklärung der Massen Absolutisten geworden, die wohl etwas für die Arbeiter, aber nichts durch sie erreichen wollten. Die Kriegspolitik der Rechtssozialisten war eine Folge der absolutistischen Herrschaft der Parteiführer, zugleich aus der Angst um die Parteigelder, um ihre Stellung diktiert. Diese Sünde wider den sozialistischen Geist konnte nur gerechtfertigt werden durch Lug und Trug, durch Täuschung der Massen. (Der Kämpfer Nr. 10, 6. 7. 1919: 4)
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Im Leitartikel „Rätesystem oder Parlamentarismus“ (Der Kämpfer Nr. 14, 3. 8. 1919: 1 f.) wurde das allgemeine Wahlrecht abgelehnt, da es eine Waffe in den Händen des Bürgertums sei: Wir haben früher auch bisweilen Kritik an dem allgemeinen Wahlrecht geübt. Wir sagten: die Menschen sind einander nicht gleich, also sollen auch ihre Stimmen nicht gleich sein. Ein Mensch, der nur von seinem Kapital lebt, nicht arbeitet, nur als Parasit, als Drohne am Körper der Gesellschaft schmarotzt, soll doch ebensoviel dreinzureden haben, wie ein Arbeiter, der durch seine Arbeit die Gesellschaft in Stand hält. Dieser Grund war gewissermaßen ein ethischer. Jetzt können wir noch besser sagen: das Ziel unserer Politik, die jetzt notwendige Arbeit des sozialistischen Ausbaus der Gesellschaft, ist so völlig dem Interesse der Bourgeoisie entgegengesetzt, daß sie diese Arbeit möglichst zu verhindern und zu hinter treiben suchen wird. Wer wird bei dem Bauen einer Wohnung Leute dabei aufnehmen, die nach Kräften zu hindern und zu zerstören suchen? Steht es einmal fest für die Arbeitermassen, daß sie ihre politische Herrschaft zum Aufbau des Sozialismus benützen wollen, so muß sie die Bourgeoisie von der Mitarbeit ausschließen; Kapitalinteressen dürfen nicht mitreden. Das ist zwar keine formelle Demokratie, die Arbeiterdemokratie, die die Lebensinteressen der Masse vertritt. Sie ist dasselbe was Marx die Diktatur des Proletariats nannte. Sie ist im großen Maßstab jetzt in Rußland durchgeführt worden, nachdem die Pariser Kommune im Jahre 1871 die ersten Anfänge gezeigt hatte. Man könnte nun fragen, wie sich das praktisch machen läßt, bestimmte Personen wegen ihrer Zugehörigkeit zur Bourgeoisie vom Wahlrecht auszuschließen – abgesehen noch davon, daß das immerhin äußerlich als ein ungerechter Willkürakt erscheinen wird. Aber man vergißt dabei, daß die Herrschaft der proletarischen Massen gar nicht die Form einer Parlamentsregierung annehmen wird. (…) Parlamentsherrschaft ist das Steckenpferd der Fachpolitiker, die durch lange Reden in der „Quasselbude“ ihre Unentbehrlichkeit zeigen wollen. Ihnen graut vor dem Bolschewismus, denn wo bleiben sie dann? Wenn statt lange Reden zu halten, praktisch gearbeitet werden muß, sind sie in der Tat überflüssig!
Großen Raum nahm die Auseinandersetzung mit dem „Volksboten“ ein, in der es schnell persönlich wurde. So schrieb Heise zu Gerüchten, er wolle Stettin wegen taktischer Diffe renzen innerhalb der pommerschen USPD verlassen: Nun, ich denke nicht daran, solange ich das Vertrauen der Parteigenossen genieße, von einem Kampfplatz zu weichen, auf dem ich meiner Partei mehr wie anderwärts n utzen kann und habe deshalb erst vor wenig Tagen ein auswärtiges Angebot ausgeschlagen, durch das ich ein um 3000 Mark höheres Einkommen haben konnte. Denn ich halte es für meine Ehrenpflicht, für die Sache meiner Partei zu kämpfen und dabei materielle Interessen gering zu schätzen. Es soll aber in der Volksbotenredaktion Leute geben, die für ein gut bezahltes Pöstchen ihre grundsätzliche Auffassung zu ändern vermochten! St. Heise. (Der Kämpfer Nr. 17, 24. 8. 1919: 4)
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Des Weiteren wurde der „Volksbote“ „Stinkende[r] Bote“ genannt (Der Kämpfer, Nr. 14, 3. 8. 1919:6). Über die „gemeingehässige Schreibweise des Redakteurs Hoffmann“ 18 hieß es: Seit einiger Zeit erscheinen im „Volksboten“ wiederholt Artikel und Notizen, die dazu geeignet sind, nicht nur unsere Partei in einer unerhörten Art und Weise zu verunglimpfen, sondern auch noch mehr Verwirrung und Zerfleischung in die Arbeiterschaft zu tragen. – Und nun ist während des Krieges all das, was wir mühsam mit aufgebaut haben, durch die Spaltung der Partei auf Jahre hinaus zerstört worden. […] Denn schon im Januar 1916 schrieb ich als Vorsitzender der Stettiner Partei an Herbert, der damals Redakteur im „Volksboten“ war, aus dem Schützengraben, daß ich, sollte ich zurückkommen, seine Richtung auf das äußerste in allen Versammlungen bekämpfen würde. Eine Kopie d ieses Briefes kann jeder bei mir einsehen. Der Krieg ging weiter. Heise bekam seine Kündigung als Redakteur des „Volksboten“ ins Feld nachgesandt. All die radikalen Säulen von früher fielen, – aus materiellen Gründen, – um. Ich will keine Namen nennen, obwohl es vielleicht gut wäre. Jeder, der sich nicht zu Heine, David, Landsberg, Scheidemann, Ebert und vielen anderen bekannte, wurde aus der Partei hinausgeworfen. Im „Volksboten“ holte man sich von außerhalb den Redakteur Hoffmann. In welcher Art und Weise diese politische Null nun ihre Tätigkeit ausübt, das haben wir erst recht während der Zeit der Revolution erfahren und sehen es jetzt fast täglich. […] Die Rechtssozialisten und mit ihnen Hoffmann sonnten sich im Glück. Und die Arbeiterschaft, die da gehofft hatte, nun, da die alten Machthaber gestürzt s eien, bräche für sie endlich das Morgenrot der Freiheit herein, sie sah sich bitter in ihren Hoffnungen getäuscht. Die rechtssozialistische Partei hatte sich mit der kapitalistischen Gesellschaft abgefunden. Sie glaubte durch Arbeitsgemeinschaften mit dem Unternehmertum, durch Konzessionen die bürgerliche Gesellschaft auszuhöhlen. In Wirklichkeit haben sie die sozialdemokratische Partei ausgehöhlt. Der Idealismus ging bei ihnen flöten, und das Materielle, der Egoismus blieb. Jeder von ihnen suchte eine Pfründe zu erhaschen, einer versuchte den andern im Schimpfen auf Unabhängige und Kommunisten zu übertrumpfen. Wenn August Bebel diese Sorte Sozialisten noch gesehen hätte, er hätte sie steinigen lassen. (Beil. zu Der Kämpfer Nr. 195, 16. 9. 1920: 1)
Um täglich erscheinen zu können, gründete die Zeitung eine eigene Genossenschaft: Parteigenossen! Noch viel schneller und gewaltiger würde der Fortschritt unserer Bewegung sein, wenn wir eine gut ausgebaute Tageszeitung zur Verfügung hätten. Der Kapitalismus beherrscht die Presse und verseucht die öffentliche Meinung. Die rechtssozialistische Presse leistet ihm dabei Helfersdienste. […] Aus allen Gegenden der Provinz rufen unsere Parteigenossen nach einer eigenen Zeitung, um der Verfälschung der öffentlichen Meinung 18 Otto Hoffmann hatte 1918 Fritz Herbert beim „Volksboten“ ersetzt. Er war seit 1911 Redakteur des „Neumärkischen Volksblattes“ in Landsberg/Warthe gewesen, zuvor Mitglied des Zentralvorstandes Berlin und der Pressekommission des „Vorwärts“ (Koszyk 1958: 92).
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irksam entgegentreten und unsere Ideen täglich in die Massen tragen zu können. […] w In dieser Erkenntnis hat sich in Stettin die Verlagsgenossenschaft „Der Kämpfer“ gebildet und somit den Grundstein gelegt für die Unabhängige sozialdemokratische Tagespresse. Die aufgebrachten Mittel genügen aber noch nicht im Entferntesten, unser Projekt sofort zu verwirklichen. Nur außerordentliche Maßnahmen können wirksam helfen. Die Massen unserer Parteimitglieder müssen selber Hand ans Werk legen. Sie müssen die kleinen Ersparnisse und Kapitalien, die sie in Sparkassen und Banken angelegt haben, als Gründungs- und Betriebskapital zuführen. […] Träger der Unternehmung ist die Verlags- und Druckerei genossenschaft „Der Kämpfer“. Diese Genossenschaft gibt Anteilscheine zu 20 Mark heraus, welche von den einzelnen Organisationen planmäßig unter den Parteimitgliedern zu vertreiben sind. (Der Kämpfer Nr. 15, 10. 8. 1919: 1)
Die Sparguthaben wurden mit 3,5 Prozent verzinst (Der Kämpfer Nr. 21, 21. 9. 1919: 4). Ab 1. November 1919 kam der „Kämpfer“ täglich heraus (mit neuer Nummerierung), „von der Warte des prinzipientreuen Sozialismus wird er die politischen Ereignisse betrachten, alle Reaktion und die verräterische Politik der Scheinsozialisten wird er rücksichtslos bekämpfen!“ (Der Kämpfer Nr. 26, 26. 10. 1919: 1:) Jedes Parteimitglied musste Genossenschafter werden (Der Kämpfer Nr. 1, 1. 11. 1919: 2). Die USPD sah sich auf dem Weg, die alte Partei zu überflügeln: Als durch die Kriegspolitik der Sozialpatrioten die einst geeinte und anscheinend so festgefügte deutsche Sozialdemokratie auseinandergesprengt wurde, da war es in Pommern nur ein verhältnismäßig kleines Häuflein Aufrechter, das treu zu den Prinzipien des revolutionären Sozialismus hielt, und vielleicht mehr als anderwärts konnten die Verräter an den proletarischen Interessen sich im politisch rückständigen Pommern den herausfordernden Titel „Mehrheitspartei“ zulegen. Noch Monate nach der Revolution, die sie zu verhindern suchten und deren Früche sie doch so gierig ernteten, schien es als ob sie eine „Mehrheitspartei“ bleiben würden. Wie einst das Schandregiment der Junker, stellten sie den ganzen offiziösen Apparat in ihren Parteidienst, Ströme von Gift und Galle spie ihre Presse gegen uns aus, und kein Tag verging, ohne daß ein Kotwurf gegen die ehrlichen Verfechter des Sozialismus von diesen traurigen Gesellen geschleudert wurde. […] Ende Juli waren in den unabhängig-sozialdemokratischen Vereinen der Provinz bereits über 13000 Mitglieder organisiert, das sind mehr als jemals vor dem Krieg die geeinte Sozialdemokratie in Pommern organisierte Genossen zählte. Die scheinsozialistischen Organisationen, die im April 20000 Mitglieder mustern wollten, haben recht viele davon an unsere Organisationen abgeben müssen und sich deshalb schon selbst abgewöhnt, sich noch hochtrabend „Mehrheitspartei“ zu nennen. Würden nicht auch in Pommern eine Anzahl kommunistischer Hitz- und Wirrköpfe ihr Wesen treiben, so wäre die USP sicherlich heute die bestorganisierte Partei der Provinz. Jedenfalls fehlt ihr aber nicht viel zu diesem Ziel und hält ihr Zuwachs wie bisher an, dann wird sie in Kürze all ihre Gegner um ein Paar Nasenlängen schlagen. (Beil. zu Der Kämpfer, Nr. 1, 1. 11. 1919: 1)
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Durch den Kapp-Putsch sah sich „Der Kämpfer“ in seiner Distanz zur Republik bestätigt: Aber gerade das pommersche Proletariat hat alle Ursache der verfassungsmäßigen „demokratischen“ Regierung mit stärkstem Mißtrauen zu begegnen! Hat es doch in den Monaten nach der Novemberrevolution erst mit Kopfschütteln, dann mit Staunen, später mit Murren und zuletzt voll Zorn wehrlos zusehen müssen, wie durch die Fehler und Schwäche der Regierung die Junkerreaktion in unserer Provinz wieder erstarkte, sich mit Waffen versah und zur offenen Gegenrevolution rüstete! Alle seine Warnungen wurden in den Wind geschlagen und es sah schon den Tag seiner Versklavung wieder kommen, als zu seinem Glück die Kappleute verfrüht und täppisch losschlugen und deshalb an dem empörten Protest des arbeitenden Volkes scheitern mußten. Wenn die Gegenrevolution so schnell und so gründlich niedergeschlagen wurde, so hat die Regierung der Bauer und Konsorten nichts dazu getan. Im Gegenteil, sie hat durch den Truppenaufmarsch gegen die Stettiner Arbeiterschaft aller Welt klar gezeigt, daß sie unbelehrbar ist; mit den alten Gewaltmethoden gegen die Arbeiterschaft weiter regieren möchte und sich nicht scheut, dazu wieder die Hilfe der Gegenrevolutionäre anzunehmen, die dem deutschen Volk in diesen Tagen so teuer zu stehen kam! (Der Kämpfer Nr. 50, 24. 3. 1920: 1)
Die lokale und regionale Berichterstattung trug die Überschrift „Vom pommerschen Kampfplatz“. Der „Kämpfer“ fühlte sich dem „Volksboten“ überlegen (Der Kämpfer Nr. 184, 3. 9. 1920: 1): Was den Inhalt unseres Blattes betrifft, kann er sich mit dem „V.-B.“ [Volksboten – H. B.] natürlich mehr als messen, was bei der Anspruchslosigkeit der Volksbotenleser noch nichts bedeuten würde. Und die Geschäftslage? Sie ist nicht so glänzend wie bei vielen bei der Berliner Lindenstraße 19 in Schuldknechtschaft befindlichen rechtssozialistischen Blättern, zu denen ja auch der „Volksbote“ gehört, – aber sie ist genügend und so gut, wie es die Macht der Arbeitergroschen ermöglicht.
In der Pressefehde mit dem „Volksboten“ griff auch dieser zu scharfen Worten. Die Bedrohung durch die USPD wurde erkannt: „Die rinnende Unreinlichkeit ihrer Gehirne richtet bedauerlicherweise einen Teil der Arbeiterschaft geistig vollkommen zugrunde“ (Volksbote Nr. 259, 6. 11. 1919: 2). Gustav Schumann sah sich veranlasst, „in eigener Sache“ dem „politischen Brunnenvergifter“ Stephan Heise zu erwidern, der auf die gemeinsame frühere Freundschaft hingewiesen hatte: Kommt Herrn Heise erst heute das Bewußtsein, nachdem er unzählige Beweise seiner sonderbaren Freundschaft gegen mich gegeben hat, seit wir beide nicht mehr an dem gleichen 19 In der Lindenstraße 3 in Berlin-Kreuzberg befanden sich die Redaktion des „Vorwärts“ und der Parteivorstand der SPD.
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Der „Volksbote“ im Überblick
Strange ziehen? […] Oder ist seine fanatische Wut gegen den „Volksboten“ und seine Redakteure speziell aber gegen mich, so groß, daß er gar nicht weiß, was er schreibt und redet? (Volksbote Nr. 245, 21. 10. 1919: 3)
Kurz darauf hieß es im „Volksboten“ zu den „Produkten der Geistesathleten aus der Poststraße“: Das Organ der hiesigen Unabhängigen ist zweifellos das langweiligste Blatt Pommerns, das von seinen wenigen Lesern hauptsächlich nur wegen seiner Wirkung als Schlafmittel geschätzt wird. Um überhaupt existieren zu können, muß es schon ab und zu den „Volksboten“ ausschlachten. (Volksbote Nr. 227, 28. 11. 1919: 3)
Dritte Internationale und Spaltung der Partei Von Anfang an bestimmte die Frage der internationalen Zusammenarbeit der revolutionären Parteien die USPD und auch den „Kämpfer“, der diesen Debatten weiten Raum gab und daher inhaltlich verengter war als die lokale Konkurrenz. Früh zeigte sich ein Zwiespalt zwischen moskaufreundlicher Basis und kritischer Redaktion. Eine Vorentscheidung wurde bereits 1919 getroffen: Der Bezirkstag entschied sich mit allen gegen 11 Stimmen für den Anschluß an die dritte Internationale, weil er mit den deutschen sowohl als auch mit den Sozialpatrioten im Ententelager keinerlei Gemeinschaft haben will. Ob bei d iesem Beschluß alle Faktoren eingehend gewürdigt sind, ob nicht Geschäftspolitik zu sehr entscheidend war, das wollen wir heute, nachdem der Bezirksparteitag entschieden hat, nicht mehr untersuchen. Begreiflich ist es, daß das revolutionäre Proletariat von der zweiten Internationale nichts mehr wissen will, denn gar zu arg hat sie die Hoffnungen enttäuscht, die vor und während des Krieges die Arbeiter auf sie, die nur ein Instrument des Klassenkampfes sein sollte, setzten. (Beil. zu Der Kämpfer, Nr. 1, 1. 11. 1919: 1)
Genossin Nemitz aus Berlin hatte auf dem ersten Bezirkstag der USP Pommern gesagt: Die Regierung bemüht sich, die Diktatur des Proletariats durch bluttriefende Greuel-Phantasien vom Bolschewismus zu verlästern. Unter dem „Bolschewismus“, wie man ihn an allen Straßenecken plakatiert, mit verhungerten Weibern und Kindern, mit Totenschädeln, Särgen und Blutlachen, schmachten wir in Deutschland schon jahrelang, und Aufgabe des Proletariats ist es, dieses volksfeindliche System auszurotten. […] Über die Frage der künftigen Internationale haben wir mit den Scheidemännern Deutschlands und der übrigen Länder nicht mehr zu diskutieren. Unser Weg weist nach Moskau. Alle revolutionären Kräfte der Westländer müssen zur 3. Internationale herangezogen werden. (Beil. zu Der Kämpfer, Nr. 1, 1. 11. 1919: 2)
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Stephan Heise selbst sprach sich gegen den Anschluss an die Dritte Internationale aus, „die großen Massen des industriellen Proletariats seien in der 2. Internationale vereinigt. Durch unsere Teilnahme an derselben müsse diese revolutioniert werden. Letzteres werde durch unser Verbleiben in der 2. Internationale erleichtert und nur so die Weltrevolution gefördert.“ Anders Horn. Der hielt „es für unmöglich, die nationalistische Mehrheit der 2. Internationale auf die sozialistische Entwicklungslinie zurückzuführen. So wie eine rein liche Scheidung zwischen revolutionären Sozialisten und Scheinsozialisten in Deutschland erfolgen muß, müsse sie auch in der Internationale erfolgen“ (Beil. zu Der Kämpfer Nr. 1, 1. 11. 1919: 2). Von einem Leitartikel Bernhard Düwells (Der Kämpfer Nr. 16, 21. 11. 1919: 1), der sich für Moskau aussprach, distanzierte sich Heise sogar durch einen Hinweis der Redaktion: „Was er über Genf [geplanter Sozialistenkongress, der 1920 stattfand – H. B.] sagt, findet unsere volle Zustimmung, nur können wir seinen Optimismus bezüglich des Entgegenkommens der jeweils herrschenden Richtung in der Moskauer Internationale leider nicht teilen.“ Düwell hoffte auf ein Einlenken der russischen Kommunisten; die proletarische Diktatur „wollen wir laut Parteiprogramm. Deshalb müssen wir nach Moskau. Nicht aus Liebe zum Bolschewismus, sondern trotz ihm, um ihn zu überwinden zum Vorteil und Ansporn des revolutionären Kampfes der ganzen Welt“ (Der Kämpfer Nr. 18, 23. 11. 1919: 1). Die Parteispitze bemühte sich um Ausgleich mit Moskau, das Zentralkomitee distanzierte sich deutlich von der Zweiten Internationale: Eine schärfere Verurteilung der 2. Internationale als der radikale Bruch mit ihr, ist nicht denkbar. Damit fallen alle Anklagen des Moskauer Exekutivkomitees gegen unsere Partei, nach denen wir die Verderblichkeit „jenes Reformismus, der tatsächlich in der 2. Internationale vorherrschte und sie zugrunde gerichtet hat“, verdunkeln und verhüllen und nicht im Bewußtsein der Massen vertiefen und entwickeln. Ebenso steht jener Vorwurf, daß die Führer unserer Partei Versuche unternommen haben, „eine vierte, eine Bastardinternationale, zu gründen“, im krassesten Gegensatz zu den Tatsachen. (Der Kämpfer, Nr. 137, 10. 7. 1920: 1)
Die moskaukritische Haltung Heises wurde Diskussionsgegenstand beim zweiten Bezirkstag der USP Pommerns, ebenso wurde dem Blatt mangelnde Professionalität attestiert: Vogtherr tritt dafür ein, dem „Kämpfer“ künftig schon äußerlich ein besseres Bild zu geben. Die neue Redaktion muß angehalte [!] werden, den Inhalt in der Vertretung wichtiger politischer und grundsätzlicher Fragen einheitlich zu gestalten. Die Verwendung von Wolff’s Depeschen muß sehr vorsichtig und fast stets mit dem nötigen Kommentar erfolgen. […] Heise betont, daß er sich zwar bemüht habe zunächst auch das äußere Bild der Zeitung zu bessern, das scheitere aber an technischen Schwierigkeiten. Die mangelnde Mitarbeit aus den Kreisen der Genossen ist zu beklagen. Daher kam es, daß Redner oft nur seine eigene Meinung vertreten konnte. Redner wendet sich gegen die seiner prinzipiellen Haltung gemachten Vorwürfe. Er solle zu sehr rechts stehen, aber er laufe auch nicht allen kommunistischen Dummheiten nach. […] Redner will sich auch der dritten Internationale nicht
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Der „Volksbote“ im Überblick
mit Haut und Haaren verschreiben. Es muß wie nach rechts so auch nach links eine scharfe Grenze gezogen werden. Alle Genossen müssen helfen, innerlich und äußerlich die Zeitung zu heben. Genossin Geffke (Stettin) kritisiert die prinzipielle Haltung der bisherigen Redaktion in den oben erwähnten Fragen. Die Mitarbeiter aus der Partei seien oft taktlos behandelt worden. Die Wahl der Preßkommission muß s olche Genossen gewinnen, die imstande sind, die Zeitung nach jeder Richtung zu überwachen. (Der Kämpfer Nr. 176, 25. 8. 1920: 2)
Als die 21 Bedingungen der Dritten Internationale bekannt wurden, übernahm „Der Kämpfer“ (Nr. 180, 29. 8. 1920: 1) Artikel und Überschrift „Unannehmbar“ aus der „Leipziger Volkszeitung“: Die Moskauer Kommunistische Internationale hat den großen Gedanken des internationalen Zusammenschlusses aller revolutionären sozialistischen Parteien der Welt erschlagen. Restlos erschlagen – für Jahre erschlagen. Sie will keine Internationale aller Revolutionäre, sie will nur eine Internationale der Kommunisten sein. Die Internationale einer Gruppe, die, von Rußland abgesehen, in allen Ländern nur eine kleine Minderheit der revolutionären Arbeiterschaft umfaßt, die in allen außerrussischen Ländern nicht über das Stadium der Sekte hinausgekommen ist. Das Moskauer Exekutivkomitee will alle Parteien, die zur dritten Internationale zugelassen werden, in die Schablone dieser Gruppe zwingen und sie zu bloßen ausführenden Organen seiner selbst, der Moskauer Zentrale, machen. […] Diese Bedingungen laufen auf die Forderung der völligen Aufgabe der Selbstständigkeit unserer Partei hinaus. Sie bedeuten, darüber kann niemand im Zweifel sein, die Sprengung unserer Partei. Ihre Konsequenz ist der bedingungslose Anschluß an die KPD. und die Unterstellung unter die Führung dieser Partei. Das hat freilich nicht mehr viel zu bedeuten, wenn man die Bedingung annimmt, daß alle Weisungen des Moskauer Exekutiv-Komitees unbesehen auszuführen sind, ohne Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse Deutschlands, ohne Rücksicht auf den Willen und die Anschauungen der Parteimitglieder, die zum unbedingten Gehorsam gegen die Weisungen der Oberen in Moskau verpflichtet werden. Dieser Gedanke, die revolutionäre Arbeiterbewegung der ganzen Welt von einer Zentralstelle aus diktatorisch zu regieren und in Bewegung zu setzen, diese Uebertragung des Ideals einer Verschwörergesellschaft auf eine internationale Massenbewegung ist so ungeheuerlich, so wahnsinnig unwirklich, daß eine Umsetzung in die Praxis überhaupt niemals möglich ist. […] Toller ist es wohl kaum jemals von einer Partei gefordert worden. Hier gibt es nur eine Antwort: Unannehmbar! Wir sind überzeugt, daß die Partei in ihrer Gesamtheit zu diesem Schluß kommen muß. Wir sind wirklich gespannt darauf, ob sich noch irgend jemand in unserer Partei finden wird, der die Annahme dieser Bedingungen zu fordern wagt. […] Es kann unseres Erachtens nur eine Frage kurzer Frist sein, daß die revolutionären Parteien, die sich dem anmaßenden Diktat von Moskau nicht unterwerfen wollen und können, sich zu jener Internationale zusammenschließen werden, die die Kraft der gesammelten Aktion der revolutionären Massen zu verbinden weiß mit der notwendigen Rücksicht auf die Eigenart der staatlichen und sozialen Bedingungen, unter denen die Arbeiter der verschiedenen Länder
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leben. Es ist traurig, daß diese Internationale aufgerichtet werden muß ohne die russischen Genossen, aber es ist nach diesen Vorgängen nichts anderes mehr möglich.
Auch die kommunistischen Vorstellungen zu Presse und Parteiorganisation wurden abgelehnt: Moskau will uns diktieren, daß in der Presse der dritten Internationale nur der extremste Radikalismus zu Wort kommen darf und wenn zur organisatorischen Leitung, zur politischen und journalistischen Vertretung der Partei unter solchen Umständen sich nicht genügend intellektuelle Kräfte finden – was u. E. überhaupt ausgeschlossen sein muß, wenn man ihnen verwehrt, ihr selbständiges eigenes Denken zum Ausdruck zu bringen – so sollen an Stelle der erfahrenen Kräfte „einfache Arbeiter aus der Masse“ genommen werden. Wir haben gewiß nichts gegen den einfachen Arbeiter aus der Masse einzuwenden. Wir und viele hundert andere, die heute an führender Stelle in der Arbeiterbewegung stehen, sind einfache Arbeiter aus der Masse. Aber eben deshalb wissen wir auch, wie schwer es ist, sich zur Arbeit in verantwortlichen Posten aus der Masse hervorzuarbeiten und haben in jahrzehntelanger Tätigkeit feststellen müssen, wie wenigen leider dieser Aufstieg gelingt. Das Moskauer Diktat erfüllen, hieße die Partei der Halbbildung und dem Dilettantismus ausliefern und würde bedeuten, sie zu vernichten. Und diese Vernichtung würde um so schneller erfolgen, als ja auch die „zuverlässigen Kommunisten“ nicht dem Gebot folgen dürfen, das ihnen in gegebenen Situationen die eigene Klugheit lehrte, nein sie sollen widerspruchslos dem Befehl der Moskauer Bonzen folgen. Und wenn sie nicht tanzen wie jene pfeifen, sollen sie bei den sich häufiger wiederholenden Säuberungsaktionen aus der Partei herausgeschmissen werden. Jedem Maulhelden- und persönlichem Schiebertum wird damit Tür und Tor geöffnet und statt der sachlichen Arbeit, der historischen Einsicht und wissenschaftlichen Qualität triumphiert schließlich die ödeste Phrase. Leider ist nicht die ganze Partei einmütig in der Ablehnung dieser Zumutung. Eine Anzahl jener Genossen, die sich von unseren theoretischen Uebereinstimmungen mit den wichtigsten Prinzipien der 3. Internationale so weit haben hinreißen lassen, daß sie die praktischen Bedenken gegen deren Taktik vergessen und deshalb den Anschluß an dieselbe mit Eifer verfechten, können von ihrer Liebe noch nicht los. So beginnt jetzt in den Spalten der großen Parteiblätter ein Streit zu toben, der für die Einheit der Partei das Schlimmste befürchten läßt, selbst wenn – dessen sind wir gewiß – die überwältigende Majorität der Parteigenossen ablehnen wird, unter das kaudinische Joch [nach einer Niederlage der Römer – H. B.] der Moskauer zu kriechen. […] Mit ihren Eintrittsbedingungen erreicht die Kommunistische Internationale nur, was seit langem das unerreichbare Ziel des Strebens der KPD. gewesen ist, die Abspaltung des linken Flügels der USP. Wir hoffen allerdings, daß sie dabei keinen großen Fischzug machen werden, denn wir vertrauen der gesunden Einsicht des deutschen Proletariats, daß es sich nicht einer Parteiorganisation anschließen wird, in der die Diktatur das oberste Gesetz und die Massen nur Kulturdünger sein sollen. Ein solches Parteigebilde mag sich ein aus Analphabeten bestehendes Volk gefallen lassen und mag auch zu dessen Gunsten wirken, eine denkende Arbeiterschaft will ihre eigenen Wege gehen! (Der Kämpfer 181, 31. 8. 1920: 1)
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Vermutlich Paul Pankowski (Kürzel P. P.) schrieb im „Kämpfer“ (Nr. 187, 7. 9. 1920: 1): Die revolutionäre Kraft der künftigen sozialistischen Internationale wird nicht etwa von der in ihr herrschenden eisernen Disziplin abhängen, sondern im Gegenteil von der Freiheit des Proletariats der einzelnen Länder, je nach den gegebenen Verhältnissen, den Kampf gegen den Kapitalismus zu führen und von der Fähigkeit, diese Freiheit im marxistischen Sinne auszunützen. Deshalb erscheint es uns von vornherein unnatürlich und unwissenschaftlich, die Internationale in den russischen Stiefel zu zwängen, es würde dasselbe Ende für die 3. Internationale bedeuten, wie es die 2. Internationale genommen hat. […] Es kommt für uns garnicht [!] in Frage, den Anschluß an die 3. Internationale zu erwägen, den halten wir für selbstverständlich, einzig und allein wenden wir uns gegen die Aufnahmebedingungen und die darin zutage tretende Anmaßung der russischen Kommunisten.
Gerade die Freiheit kam den Unabhängigen zu kurz, Ewald Vogtherr beharrte auf ihr: Es gilt, im Interesse des sozialistischen Aufbaues, im Interesse der Aktionsfähigkeit und Aktionsfreudigkeit der Massen, ihnen ihre Eigenart und ihr Selbstbestimmungsrecht auch nicht entfernt so zu beschränken, wie es die Bedingungen des Anschlusses an die 3. Internationale gerade den Deutschen gegenüber tun wollen. Das Nationale ist zurückzustellen in der internationalen Aktion. Diese Aktion muß und kann einheitlich sein, auch wenn nicht die unfehlbare Macht eines Fünfzehnmännerkollegiums sich anmaßen darf, die Organisationsfragen zu regeln, die Freiheit der Kritik und der Presse in allen Ländern zu rationieren, als handele es sich um politische Säuglinge oder willenlose Heloten. Die sozialistischen Arbeiter aller Länder haben den gemeinsamen Willen, in und mit der Internationale sich und allen Menschen die im Sozialismus verborgenen Güter des Glückes und der Freiheit zu erringen. Auch der Freiheit, und dazu lassen sie sich nicht vorerst diktatorisch beherrschen. Sie wollen proletarische Diktatur, um sich von jeder Diktatur zu befreien. (Der Kämpfer, Nr. 196, 17. 9. 1920: 2) Mehr als jede andere braucht eine proletarische Partei Willensfreiheit, Meinungsfreiheit, Preßfreiheit, wenn sie sich und ihre Internationale vorwärts bringen soll zu gemeinsamer revolutionärer Aktion. […] Die revolutionäre 3. Internationale, aufgebaut auf Zwang, Unfreiheit und Selbstentrechtung, kann nicht die Organisation werden, um Freiheit und soziale Gleichberechtigung aller zu erringen. (Der Kämpfer, Nr. 199, 21. 9. 1920: 1)
„Der Kämpfer“ (Nr. 208, 1. 10. 1920: 1) brachte zum Spaltungsparteitag in Halle einen Artikel, um dessen Abdruck der Autor und USPD-Vorsitzende Arthur Crispien bat: Die Hüllen fallen! Die Unabhängige Sozialdemokratie soll zertrümmert und ihre Mitglieder den Kommunisten zugetrieben werden. […] Denn nur dadurch vermeinen die Kommunisten eine große Partei werden zu können. Dazu haben sie die Moskauer Internationale mißbraucht. Deshalb haben sie das Exekutivkomitee zu immer größerer Verschärfung der
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Bedingungen veranlaßt und dadurch den Anschluß der Unabhängigen Sozialdemokratie als Partei verhindert.
Die Annahme der 21 Bedingungen und damit das Ende der großen USPD bewertete „Der Kämpfer“ (Nr. 225, 21. 10. 1920: 1) sehr negativ, hielt aber an der eigenen Parteiarbeit fest: Das Werk der Parteizertrümmerung, das die verkappten Kommunisten seit Monaten in eifriger Minierarbeit in unserer Partei begonnen und durch die Annahme der 21 Punkte vollendet haben, kann das Bürgertum aller Länder mit Freude und Genugtuung erfüllen. […] Die Spaltung ist eine vollendete Tatsache geworden. […] Alle jene Elemente, denen unsere Partei immer nur als Zielscheibe für gehässige Angriffe und unwürdige Treibereien, als Rahmen für geheime Konventikel und „kommunistische Zellen“ mit deutlich ausgeprägtem Spaltungscharakter diente, können nun gemäß ihrer Ueberzeugung ihr Wirkungsfeld in die Reihen der Kommunistischen Partei verlegen. Unsere Partei, die fest auf dem Boden des Leipziger Aktionsprogramms steht und sich in den bisherigen Kämpfen als Führerin des deutschen Proletariats bewährt hat, wird durch das Ausscheiden dieser Elemente nur an innerer Geschlossenheit und Aktionsfähigkeit gewinnen.
In Stettin selbst kam es zu Tumulten, der örtliche USP-Vorsitzende Ernst sagte: So sehr die Absplitterung eines Teiles unserer Partei zu beklagen sei, nachdem die Trennung auf dem Parteitage stattgefunden habe, könne es auch hier keine Verkleisterung mehr geben, deshalb müsse er in Konsequenz des Beschlusses der Funktionärssitzung alle, die nicht mehr zur Partei gehören, ersuchen, den Saal zu verlassen. Während der nun einsetzenden Pause versuchten einige Redner, ohne daß ihnen das Wort erteilt wurde, zu sprechen. Die anwesenden Neukommunisten weigerten sich, das Lokal zu verlassen. Ihr Anführer Ohlhof schickte sich ebenfalls an zu sprechen, als er die Rednertribüne betrat, wurde die Versammlung vom Vorsitzenden geschlossen und die Anwesenden verließen den Saal. […] Wenn auf der Abstimmung vor dem Parteitag 15 Stimmen mehr für die Befürworter der Moskauer Internationale in der Mitgliederversammlung abgegeben wurden, so zeigte die gestrige Versammlung, daß bei dem größten Teil der Befürworter die Besinnung bereits wieder zurückgekehrt ist. (Der Kämpfer Nr. 228, 24. 10. 1920: 3)
Funktionäre und Zeitung kämpften weiter gegen die feindliche Übernahme: Die Stettiner Neukommunisten haben ein Flugblatt herausgegeben, das vor der gestrigen Mitgliederversammlung der USP. an deren Mitglieder verteilt wurde. Sie wenden sich damit gegen „die Crispien, Ledebour, Hilferding und Genossen und deren ,Nachbeter‘ Horn, Ernst, Müller und Genossen“ die als Klopffechter der Demokratie bezeichnet werden. Dem Redakteur des „Kämpfer“ wirft man geistige „Inferrorität“ (gemeint ist wahrscheinlich Inferiorität, d. h. Minderwertigkeit) vor, weil er die Aufnahme d ieses Pamphletes im „Kämpfer“ abgelehnt
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hat. […] Ferner wird behauptet, „Der Kämpfer“ berichte in geradezu skandalöser Weise über den Parteitag und habe die Reden der Befürworter gräßlich entstellt wiedergegeben. […] Es liegt uns nicht daran, uns mit den Neukommunisten in eine Polemik einzulassen, wir fühlen uns unseren Genossen gegenüber lediglich verpflichtet, aufzuzeigen, mit welchen Mitteln der Verleumdung und Lüge von den Neukommunisten gearbeitet wird, um den Keil der Spaltung nach russischem Muster immer weiter zu treiben. (Der Kämpfer Nr. 228, 24. 10. 1920: 3)
Die Bezirksleitung der Provinz Pommern teilte mit: Es ist daher Spiegelfechterei schlimmster Art, wenn diejenigen, die auf dem Standpunkt der dritten Internationale stehen, erklären, sie s eien noch Mitglieder der USPD. und das Recht zu haben glauben, noch länger ihre zerstörende Arbeit in der Partei fortzusetzen. Jetzt muß sich jeder entscheiden: USPD. oder KPD. Ein Zwischending gibt es nicht, deshalb müssen die Mitglieder in den Organisationen Klarheit schaffen. In den pommerschen Parteiorganisationen dürften nicht allzuviel Mitglieder vorhanden sein, die der USPD. den Rücken kehren, und jene, die es dennoch tun, werden sehr bald einsehen, wie verkehrt es war, die Kraft des revolutionären deutschen Proletariats zu brechen. (Der Kämpfer Nr. 230, 27. 10. 1920: 1)
Mit aller Kraft kämpfte die Zeitung gegen die Unterwanderung durch die vereinigten Kommunisten: Neukommunisten kündigen an, „1. den Kämpfer abzubestellen, 2. ihre Anteile und Guthaben zu kündigen bezw. zurückzuziehen, wenn der Vorstand der Genossenschaft nicht sofort eine Generalversammlung der Genossenschaft einberufe und sich weiterhin weigern, Versammlungsanzeigen, Inserate der Neukommunisten aufzunehmen.“ – Die Pressekommission hat einstimmig beschlossen, ebenso wie die Inserate der Kommunisten, Syndikalisten usw. auch die Inserate der Neukommunisten aufzunehmen, jedoch ist die Pressekommission mit den Vorständen der Parteivereine dahin einig geworden, um Irreführungen zu vermeiden und der Verkleisterungstaktik der Neukommunisten innerhalb unserer Partei ein Ende zu machen, alle Inserate abzulehnen, die unter Mißbrauch des Namens der USP. aufgegeben werden, oder die sich prinzipiell gegen unsere Partei richten. Das Zerstörungswerk der Moskaugänger richtet sich jetzt, nachdem sie ihre Aufgabe in der Partei erfüllt haben, folgerichtig auch gegen unsere Presse. Aber auch d iesem Ansturm werden wir voll Zuvertrauen auf die gesunde Vernunft der überwiegenden Mehrheit der Arbeiterschaft ruhig entgegen sehen. Zur wahren Charakterisierung des groß angelegten Moskauer Plans gegen unsere Partei und unsere Presse sei nur erwähnt, daß die Anhänger der Neukommunisten schon vor dem Parteitage ihre Spareinlagen aus der Genossenschaft zurückgezogen haben, weil der „Kämpfer“ konsequent die Moskauer Illusions- und Zertrümmerungspolitik ablehnte. (Der Kämpfer Nr. 231, 28. 10. 1920: 3)
Allerdings standen die Verlautbarungen der Parteiführung und der kommentierenden Redakteure im Widerspruch zur Basis, die sich in Urwahlen für das Zusammengehen
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mit den Kommunisten aussprach, auch in Stettin und vielen anderen Städten (Wheeler 1975: 135). Die Rumpf-USPD wollte weiterbestehen (Prager 1921), aber die Inflation machte ihre finanzielle Grundlage zunichte, sodass es zur Wiedervereinigung mit der SPD kam (Wheeler 1975: 153). August Horn 20 schrieb zwar noch (Der Kämpfer Nr. 257, 30. 11. 1920: 1) über „Die Zukunft der Unabhängigen Sozialdemokratie“: Nachdem die unvermeidliche Spaltung in der USPD. eingetreten ist, wird in den Zeitungen und Versammlungen seitens der Gegner aller Schattierungen unserer Partei mit großem Aufwand von Worten und Tinte dem Volke verkündet: Die USPD. habe aufgehört zu existieren und werde nun bald von der politischen Schaubühne verschwinden. Die bürgerlichen Parteien freuen sich diebisch über die Spaltung und wissen, daß die Frist ihrer Herrschaft dadurch etwas verlängert ist. Die Rechtssozialisten hoffen auf einen großen Zuwachs von Proletariermassen, die bisher in der USPD. organisiert waren, oder gar auf eine Verschmelzung. Die Kommunisten träumen von einer großen revolutionären Massenpartei und im Geiste sehen sie schon Massenbataillone zur revolutionären Aktion nach ihrem Wunsch aufmarschieren. Aber alle Gegner der USPD. werden in ihren Erwartungen arg getäuscht werden. Schon nach einigen Monaten werden sie sehen, daß ihr Wünschen und Sehnen zu Wasser geworden ist. Die USPD. wird von neuem erstarken und weiter die revolutionäre Führung im proletarischen Klassenkampf behalten. Dieses wird nicht geschehen, weil wir es wollen, sondern weil es geschichtlich gegeben ist.
Doch die Tage der zwischen links und rechts zerriebenen USPD und ihrer Stettiner Zeitung waren gezählt. Die alte Teleologie („Im Schoße des Kapitalismus wurde der Sozialismus geboren und wird als reife Frucht den Kapitalismus überwinden“ – August Horn im „Kämpfer“ Nr. 293, 16. 12. 1921: 1) überzeugte nicht mehr. Auch die USPD-nahe „Sozialistische Proletarierjugend“ schloss sich der „Kommunistischen Jugendinternationale“ nach monatelangen binnenorientierten Debatten an, wenn auch mit knapperem Ergebnis (Walter 2011b: 69). 20 August Horn, 1866 im Kreis Memel geboren, gelernter Schuhmacher, kam während des Sozialistengesetzes nach Stettin. Ab 1905 Bezirkssekretär der pommerschen SPD. Horn stimmte 1916 auf der SPD-Reichskonferenz gegen die Burgfriedenspolitik. 1917 gehörte er in Gotha zu den Gründungsmitgliedern der USPD. Er begrüßte die russische Oktoberrevolution und wurde wegen einer Friedensdemonstration verurteilt und erst während der Novemberrevolution entlassen, danach war er im Stettiner Arbeiter- und Soldatenrat tätig und Delegierter bei der Reichskonferenz der Räte. 1920 wurde Horn für die USPD in den Reichstag gewählt. Er kehrte nach dem Zerfall der Unabhängigen zur SPD zurück und wurde Mitglied des Bezirksvorstandes Pommern und blieb bis zum Tod 1925 Mitglied des Reichstages (Günter Köhler: August Horn, in Schwabe 2004: 69 – 71; auch Schröder 1995: 518). In seinem Nachruf (1. Beil. zu Volksbote Nr. 74, 28. 3. 1925: 1 – Horn war nach der Parteivereinigung Gesellschafter des Verlages des „Volksboten“) hieß es: „Ein stark ausgeprägtes Persönlichkeitsgefühl und das zähe Festhalten an einer einmal gefaßten Meinung machten ihn zu einem scharfen Debatteredner und als Versammlungsredner war er kein glänzender Rhetoriker, aber seine Worte kamen aus dem Innersten seines Herzens und wurden getragen von der Begeisterung für die hehre Sache des Sozialismus.“
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Es waren auch diese Erfahrungen der Zerschlagung der USPD , die eine Zusammenarbeit der Arbeiterparteien 1932/33 verhinderten. Die Kommunisten versuchten erneut, die sozialdemokratische Parteibasis gegen die Funktionäre auszuspielen. Der „Volksbote“ hatte die Hallenser Ereignisse so eingeordnet: „Es ist kein Parteitag der Unabhängigen Partei, sondern ein solcher der deutschen Sektion der russischen Kommunisten“ (Volksbote Nr. 243, 17. 10. 1920: 1). Die MSPD -Zeitung erhoffte von der USPD -Spaltung eine „Gesundung der Arbeiterbewegung“, denn „die ganze Politik der USP war von Anfang bis zum Ende eine einzige bewußte Irreführung des Proletariats“ (Volksbote Nr. 245, 20. 10. 1920: 2). Über die verbliebene Rumpf-USP , die an der „Diktatur des Proletariats“ festhielt, hieß es ablehnend: Wir möchten aber jetzt schon nicht verschweigen, daß wir jede Diktatur einer Minderheit über eine Mehrheit als im Grunde gegenrevolutionär und reaktionär ablehnen müssen. Alles in allem kann man sagen: das rechte Bruchstück der USP. zeigt dieselbe opportunistische Zweideutigkeit, dieselbe absichtliche Verschwommenheit wie die alte USP., als Ganzes. Es ist weder Fisch noch Fleisch, weder sozialdemokratisch noch bolschewistisch. So ist auch dieser Rest vom Schicksal dazu bestimmt, in Trümmer zu zerfallen und aufgeschluckt zu werden. (Volksbote Nr. 246, 20. 10. 1920: 1)
Über die Unabhängigen in Pommern schrieb der „Volksbote“, „daß die Stettiner Radikalinskis in der jetzigen schweren Zeit nichts Besseres zu tun wissen, als sich gegenseitig zu spalten. Ein wahres Gaudium für die Unternehmer und Reaktionäre!“ (Nr. 248, 23. 10. 1920: 3). Dort wurde dem „Kämpfer“ vorgehalten, er habe in der Frage der Moskauer Bedingungen eine „Schaukelpolitik“ betrieben. Nach der Wiedervereinigung von SPD und USPD 1922 auf dem Nürnberger Parteitag sah der „Volksbote“ die Partei vor großen Aufgaben, „was gewesen, wird bald wie ein Spuk erscheinen“. Genannt wird ebenfalls ein Beschluss der bisherigen USP-Bezirksleitung, „in allen Parteiorten geschlossen in die Vereinigte Sozialdemokratische Partei überzutreten und nicht nur zahlende Mitglieder zu werden, sondern auch aktiv tätig zu sein“ (Volksbote Nr. 229, 30. 9. 1922: 1 f ). Das Blatt konnte in einer Eigenanzeige mitteilen: „Das alleinige Organ der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei ist nunmehr der ,Volks-Bote‘. Er muß in jeder Proletarierwohnung zu finden sein“ (Volksbote Nr. 229, 30. 9. 1922: 3). Seinen Untertitel änderte er von „Organ für die arbeitende Bevölkerung Pommerns“ in „Organ der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Pommerns“.
IV.6.4 „Volks-Zeitung für Hinterpommern“/„Der Hinterpommer“ (Köslin) Ab 1. April 1919 erschien in Köslin die „Volks-Zeitung für Hinterpommern“ unter der Leitung von Robert Witt. Zunächst hatte sie vier Seiten Umfang. Programmatisch schrieb sie (Nr. 1, 1.4. 1919: 1):
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Eine neue Freundin stellt sich mit der vorliegenden ersten Nummer der „Volkszeitung für Hinterpommern“ den Genossen und Genossinnen sowie der gesamten Bevölkerung Hinterpommerns in Stadt und Land vor. […] Sie will sich in den Dienst aller derjenigen stellen, die Rat und Hilfe bedürfen in diesen schweren Zeiten. Sie will aber mehr als das: Sie will Führerin und Bannerträgerin sein in dem großen weltgeschichtlichen Kampfe, den das deutsche Proletariat gegenwärtig zu bestehen hat, um seine endliche und endgültige Befreiung vom kapitalistischen Joch durchzusetzen. Und in d iesem Kampfe muß auch die Bevölkerung Hinter pommerns ihren Mann stellen. Die dumpfe Atmosphäre, mit der die früheren Machthaber namentlich die Landbevölkerung zu umgeben verstanden haben, hat der frische Windhauch der Revolution hinweggefegt. Nun ist auch in unserer engeren Heimat die Bahn frei geworden, den Aufstieg ihrer Bevölkerung zu einer höheren Kultur in die Wege zu leiten. […] Daß die errungene Freiheit nicht wieder verloren geht, darüber zu wachen ist ganz besonders die Presse berufen. Und auch die „Volkszeitung für Hinterpommern“, die mit der vorliegenden Nummer auf den Plan tritt, will ihr bescheiden Teil dazu beitragen, das durch die Revolution Errungene zu erhalten und weiter zu bauen. Sie wird stets ein wachsames Auge haben auf alles, was in der Welt, in unserem Vaterlande und besonders in unserer engeren Heimat vorgeht. Sie wird die Leser und Leserinnen informieren über das, was vorgeht und sie wird die Proletarier auch zum Kampfe rufen, wenn die Freiheit des Volkes irgendwie bedroht sein sollte. Eine Freundin will die „Volkszeitung für Hinterpommern“ sein allen denen, die auf dem Boden wahrer Freiheit und wahren Rechts stehen. Ihre Politik findet ihre Richtlinien im Programm der soz. Partei Deutschlands, das restlos zu verwirklichen stets ihr Ziel sein wird.
Die Partei muss mit der „Volks-Zeitung“ unzufrieden gewesen sein, denn im Dezember 1920 gab es einen Personalwechsel, um „das Organ zu einem Heimatsblatt umzugestalten“. Man wollte „mehr sein als ein chronologisches Spiegelbild der Tagespresse, wir wollen ,Wissen‘ geben, denn Wissen ist Macht, jene Macht die unser Volk allein auf eine höhere Kulturstufe bringen kann.“ Weiter hieß es: „,Fehler einsehen und besser machen‘ steht auf der Fahne unserer Partei geschrieben, es soll auch unsere Losung sein“ (Volks-Zeitung für Hinterpommern Nr. 294, 21. 12. 1920: 3). Verantwortlicher Redakteur war nun Fred H ermann Deu. Das Blatt ist nicht durchgängig erhalten und verfilmt, es scheint aber häufiger das Führungspersonal ausgetauscht worden zu sein. Ab 1923 hieß es „Der Hinterpommer“ und baute den redaktionellen Teil weiter aus. 1926 wird als redaktionell verantwortlich Bruno Prause genannt, 1930 Georg Wischmann. Das Blatt brachte Meldungen aus den Kreisen des Regierungsbezirks Köslin und hatte Beilagen z. B. zu Heimatkunde, Volkswirtschaft, Frauen und Satire mit großem unterhaltenden Anteil. 1933 überfielen und besetzten die Nationalsozialisten die Verlagsdruckerei (Kubiak 2011: 225). Für den östlichsten Teil des Regierungsbezirks Köslin wurde ein eigener Titel als Nebenausgabe eingeführt („Stolper Volkswille“ ab 1. 1. 1921, Nebenausgaben der „Volks-Zeitung“ gab es ebenfalls für Neustettin und Belgard). Ab 1. 1. 1927 erschien der „Grenz-Bote“ für die Kreise Stolp, Lauenburg und Bütow, der teilidentisch mit dem „Hinterpommer“ war und sich bis zum Verbot 1933 behauptete.
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Abb. 15: Der Hinterpommer, Köslin, Nr. 98, 28. 4. 1930. Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.
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Abb. 16: Der Spatz Nr. 12, 1930, Volksdruckerei Stettin, Beil. u. a. zu „Der Hinterpommer“. Text: „Also, mein lieber Thälmann, daß du nicht in Berlin bist, wenn es sich um deutsche Arbeiterinteressen handelt, ist ja nicht so schlimm. Aber, wenn es sich um russische Angelegenheiten handelt, mußt du selbstverständlich da sein!“ Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.
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V. Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich Im Folgenden wird die Berichterstattung des Stettiner „Volksboten“ zu von mir ausgewählten Th emen nachgezeichnet (vgl. Kap. I.7). Dies soll zeigen, auf welchem publizistischen Niveau diese SPD-Zeitung argumentierte. Es wird gezeigt, wie das Blatt nach dem Erfolg bei den Reichstagswahlen 1912 aus einer Position der Stärke heraus den Sozialismus nahen sah (V.1). Insbesondere Preußen müsse sich modernisieren (V.2). Gegenüber den Polen in den östlichen Provinzen müsse sich die Politik fundamental ändern (V.3). Die Sozialdemokratie dürfe sich nicht durch innerparteiliche Diskussionen spalten (V.4). Erinnerungspolitisch wird die offiziöse Geschichtsdeutung zurückgewiesen (V.5). Der Homosexualitätsskandal um den Berliner Hof mache die Verkommenheit der herrschenden Clique deutlich (V.6). Die Antisemiten s eien eine bösartige, aber auch lächerliche Gruppierung (V.7). Alkoholismus sei ein Problem aller Schichten, die Abstinenzlerbewegung aber nur scheinbar ein Verbündeter der Arbeiterbewegung (V.8). Der Sozialismus erfülle die Versprechen des Christentums, das auf den Machterhalt der Regierung herabgesunken sei (V.9). Erst im Sozialismus werde die Gleichberechtigung der Frauen erreicht (V.10). Die Landarbeiter müssten für den Zukunftsstaat gewonnen werden, was wegen ihrer geringen Bildung schwierig sei (V.11). Wettrüsten und Großmannssucht der Staatsführung brächten die Gefahr eines Weltkrieges mit sich (V.12). Im Ersten Weltkrieg stand der „Volksbote“ unter strenger Zensur (V.13). Das Feuilleton bemühte sich um Popularisierung von Literatur und Wissenschaft unter sozialdemokratischen Vorzeichen (V.14). Erziehung der arbeitenden Schichten zum Sozialismus und Zurückweisung der bürgerlichen Presse waren das publizistische Ziel der Zeitung (V.15). Die Textbeispiele machen deutlich, dass der „Volksbote“ in Fundamentalopposition zum wilhelminischen Staat stand, ebenso wie zur bürgerlichen Mainstreampresse. Sein geistiger Horizont ist der zu errichtende „Zukunftsstaat“, auch wenn dessen Erringung und Gestalt eher gefordert als konkret beschrieben wird.
V.1
Das Deutsche Reich nach den Wahlen von 1912
Bei den Reichstagswahlen vom Januar 1912 wurde die SPD mit Abstand die größte F raktion. Von diesem Erfolg beflügelt, finden sich im Stettiner „Volksboten“ vermehrt Leitartikel und grundsätzliche Erörterungen zum Charakter des Reiches und der notwendigen Umgestaltung. Leider kann nicht mehr festgestellt werden, in welchem Maße für die pommersche Berichterstattung die sozialdemokratischen Korrespondenzen verwendet, gekürzt, ergänzt oder überarbeitet wurden – die Korrespondenzen in ihrer ursprünglichen Gestalt sind nicht erhalten. Die Sozialdemokratie verortete sich innerhalb der gesetzmäßigen Entwicklung zum Sozialismus. Über die Liberalen, die im 19. Jahrhundert die fortschrittliche Bewegung gewesen waren, hieß es unter dem Eindruck der monopolkapitalistischen Zuspitzungen:
Das Deutsche Reich nach den Wahlen von 1912
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In der Maienblüte kapitalistischer Entwicklung gab sich der Liberalismus als Kapitalisten partei ohne Umschweif und Vorbehalt, schwor auf die Theorien von St. Manchester, und während er auf politischem Gebiet den Kampf um die Demokratie gröblich vernachlässigte, bekämpfte er auf wirtschaftlichem jeden staatlichen Eingriff. Er war ein Gegner der Sozialversicherung, der Verstaatlichungen, des gesetzlichen Arbeiterschutzes. So hat er im „Kampf mit geistigen Waffen“ eine Schlacht nach der andern gegen die Sozialdemokratie verloren und auch die faktische Entwickelung gab ihm Unrecht. Die Entstehung der Trust, der allbeherrschenden, jede Konkurrenz ausschließenden Unternehmungen, der täglich sichtbarer werdende Zusammenhang z wischen Staatsgewalt und Wirtschaftsleben, löschten mit einem großen Schwamm alle wirtschaftsliberalen Grundsätze aus. Der Linksliberalismus von heute hat jede wirtschaftstheoretische Grundlage verloren. (Volksbote Nr. 188, 14. 8. 1912: 1)
Hingegen würde schon die Erfüllung der im Erfurter Programm 1891 aufgesetzten Forderungen innerhalb des Systems d ieses transformieren, die Verweigerung durch die bürgerlichen Parteien, die den wilhelminischen Staat stützten, zum Umsturz führen: Unsere Theorie sagt uns, daß der Sozialismus nicht durch eine Revolte hungriger, zerlumpter Bettler auf den Ruinen der bisherigen Gesellschaft errichtet werden kann, sondern nur das Resultat des machtvollen Aufstieges einer um jede Position, um jeden Fortschritt kämpfenden organisierten Proletarierarmee ist. […] Das sind ja ganz unmögliche Forderungen, rufen sie [die bürgerlichen Parteien – H. B.] aus, die vielleicht für eine phantastische sozialistische Gesellschaft mit lauter Engeln und Brüdern passen könnten, aber nicht für unsere heutige kapitalistische Welt, wo die Menschen, an Besitz, Tatkraft und Zielen verschieden, nur durch Egoismus beherrscht, einander bekämpfen und von einer starken Staatsgewalt im Zaume gehalten werden müssen. Aber darin irren sie sich. Dieses Programm enthält nichts, was mit dem Kapitalismus unvereinbar wäre. Es läßt die Ausbeutung selbst und den Klassengegensatz bestehen und will nur alle hinzukommende Unterdrückung und Zurückstellung des Proletariats beseitigen, seine politische Entrechtung, seine Versklavung unter dem Militarismus, den schlechten Unterricht seiner Kinder, die sinnlose Vergeudung seiner Arbeitskraft. […] Die Erfüllung unserer Augenblicksforderungen, die die Arbeiter körperlich und geistig kräftig machen und die politische Macht in die Hände der Volksmehrheit legen würde, würde eine allmähliche, friedliche Umgestaltung der Gesellschaft zum Sozialismus anbahnen. […] Durch ihre reaktionäre Reformfeindlichkeit treibt sie [die Bourgeoisie – H. B.] die Arbeitermassen in unsere Reihen hinein und nötigt sie, dasjenige, was nicht friedlich gegeben wird, im energischen, revolutionären Kampfe zu erobern. (Leitartikel „Unsere Gegenwartsforderungen“, Volksbote Nr. 222, 22. 9. 1912: 1)
Politischer Konkurrent waren die Liberalen, die an den Eigentumsverhältnissen nichts ändern wollten und daher für Arbeiter nicht wählbar seien, im Grunde auch für Angestellte nicht, wenn diese ihre prekäre Lage erkennen würden:
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
So, wie die Bourgeoisie immer weiter nach rechts rückt, so geht auch der sogenannte Fortschritt immer mehr in das Fahrwasser der Reaktion über. Die Arbeiter wären Toren, wollten sie auch nur vorübergehend in das Netz der liberalen Maulhelden gehen. Die wirtschaftliche Entwicklung führt mit Naturnotwendigkeit zur vollständigen Trennung des Besitzes von den Besitzlosen. Jede bürgerliche Partei ohne Ausnahme tritt aber mehr oder weniger für die Erhaltung der heutigen Gesellschaft und damit für die bestehenden Besitzverhältnisse ein. Damit wäre das Los des Arbeiters für ewig besiegelt, wollte er nicht selbst in Gemeinschaft mit seinen Klassengenossen für ein besseres streiten. (Volksbote Nr. 235, 8. 10. 1912: 1) Es wird zwar Leute geben, die glauben, der Zusammenschluß der beiden liberalen Gruppen mache Raum für eine bürgerlich-demokratische Partei frei. Das ist ein Irrtum. Die Fortschrittliche Volkspartei tut, was das Bürgertum von ihr verlangt. Der Mittelstand und die Finanzkapitalisten in ihren Reihen machen gern und überzeugt den Weg nach rechts mit. Was übrig bleibt, sind Angestellte aller Art, und die werden, sobald sie überhaupt zu einer Einsicht in ihre Lage gelangt sind, sehr schnell erkennen, daß für sie die „bürgerliche“ Demokratie höchstens eine ganz vorübergehende Station sein kann, und daß ihre Lohnempfängereigenschaft sie in die sozialistische Armee hineinzwingt. (Beil. zu Volksbote Nr. 238, 11. 10. 1912: 1)
Die Liberalen, die einst für die Demokratisierung eingetreten waren, seien nicht vertrauens würdig: Sie [die Liberalen – H. B.] betrachten es als einen Vorwurf, als ein Verbrechen, Republikaner zu sein. Und sie haben auch ganz recht, denn für sie ist der Monarch der Schirmherr der bestehenden Staatsordnung, die für das liberale Bürgertum so angenehm ist. Deshalb huldigen sie dem Monarchen aus aufrichtigem Herzen; dann aber sind sie eben keine Demokraten mehr, und sie sollen uns nicht zumuten, ihnen zu glauben, daß es ihnen ernstlich um eine Demokratisierung Deutschlands zu tun sei. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 152, 2. 7. 1913: 1)
Über das katholische Zentrum, das im evangelischen Pommern keine Rolle spielte, hieß es knapp: Das Zentrum will als politische Partei ein Bett sein, in welchem sich alle Bevölkerungsschichten wohlfühlen sollen. Dabei wird das Zentrum fortgesetzt in Widersprüche verwickelt und keine Bevölkerungsschicht kann zufriedengestellt werden. (Beil. zu Volksbote Nr. 153, 3. 7. 1913: 1)
Hauptgegner der pommerschen Sozialdemokratie waren die Konservativen, die besonders im östlichen Teil der Provinz sehr erfolgreich waren. Sie verträten nur die Interessen der Junker und Militärs:
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Wenn die Rechte von der Starkerhaltung des Reiches spricht, dann denkt sie, sofern es sich nicht grade um die Vermehrung der Rüstungen handelt, an die Sicherstellung der bundesstaatlichen Kompetenzen. Sie sagt Reich und meint den Föderalismus. Aber nein, sie meint auch nicht den Föderalismus, sondern sie meint Preußen. Und sie meint schließlich auch nicht Preußen, sondern sie meint das Preußen, in dem mit Hilfe eines auf ihre Interessen zugeschnittenen Wahlrechts die Junker die Herrschaft ausüben. Das Reich ist ihr gleichgültig, nur auf das junkerlich reaktionäre Preußen kommt es ihr an. (Volksbote Nr. 154, 4. 7. 1913: 1) Es ist das Lebensprinzip des deutschen Konservativismus, die Privilegierung des Großgrundbesitzes und des Adels zu verteidigen. Es würde für ihn direkt eine Revolution bedeuten, wenn er diesen Boden verlassen wollte. […] Sie [die konservative Partei – H. B.] bleibt eine agrarische Interessenvertretung und wird trotz aller künstlichen Stützen, über die sie verfügt, langsam aber sicher zu der politischen Machtlosigkeit herabsinken, die der wirtschaftlichen Bedeutung der Schichten entspricht, deren Interessen sie wahrnimmt. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 161, 12. 7. 1913: 1)
Letztlich seien die Konservativen eine absolutistische Kriegspartei: Weit zurückgehende und in den letzten Jahrzehnten außerordentlich vermehrte Erfahrung lehrt, daß der Konservatismus, dessen Kern das junkerliche Großagrariertum und der Hof- und Militäradel bildet, das schlimmste aller volksfortschritts- und kulturfeindlichen Elemente ist. Als das zu erhaltende „Gute“ hat er immer das Schlechte ausgegeben: die Ungerechtigkeit aller Art; den ganzen Inhalt des auf Volksausbeutung und -unterdrückung gerichteten erworbenen Rechts; die Vergewaltigung der Volksrechte und -freiheiten; die Gesetze und Einrichtungen, die dazu dienen sollen, den politischen, wirtschaftlichen und allgemein kulturellen Fortschritt, die intellektuelle und materielle Hebung der Massen zu verhindern. Seine politische Grundidee ist die des monarchischen Absolutismus, trotz aller Wandlungen, die das monarchische Regiment erfahren hat, geblieben: die Herrschaft eines Monarchen, der seine Aufgabe darin sieht, den Anschauungen der Junker und der ihnen verbündeten lichtscheuen Kirchenmänner zu dienen. Dem Konservatismus verdankt das Volk die Rückständigkeit des Volkserziehungswesens, der Schule, die Knebelung der Wissenschaft an den Universitäten, den verderblichen Einfluß der Kirche auf die Schule. […] Und ebenso hat er aufs neue die alte Erfahrung bestätigt, daß er die Hauptstütze des Militarismus, des Wettrüstens ist, daß seine Sehnsucht auf einen schauderhaften Krieg gerichtet ist. […] Und diese gewissenlose, schamlose Sippe nennt sich „Volks- und Kulturpartei“! Wir sagen nicht: „hol sie der Teufel“, denn sie ist Beelzebub selbst, das verkörperte Prinzip des Bösen. Aber die Zeit wird kommen, wo das Volk ihr den Daumen aufs Auge und die Knie auf die Brust setzt. Die Schändung der deutschen Kultur durch den „Kulturkonservatismus“ wird ein Ende nehmen! (Volksbote Nr. 166, 18. 7. 1913: 1)
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
Der Reichskanzler sei entsprechend eine getriebene, schwache Figur: „Herr Theobald v. Bethmann Hollweg war während seiner Kanzlerschaft allezeit der Lappen, an dem sich die bürgerlichen Parteiführer ihre Stiefel abwischten“ (Volksbote Nr. 67, 20. 3. 1913: 1). Insgesamt wurde die Bedeutung von Regierung und Parlament so eingeschätzt, dass sie im Schatten des preußischen Königs und deutschen Kaisers stand. Auch die 1871 vereinbarte föderative Verfassung sei ausgehöhlt: Es ist nur noch eine Illusion, zu glauben, wir lebten im Deutschen Reich, einem Bundesstaate, dessen Gesetze von einem Reichstag und einer Versammlung gleichberechtigter einzelstaatlicher Regierungen gemacht würden. In Wirklichkeit leben wir in einem Kaisertum Groß-Preußen, das von Berlin aus zentralistisch regiert wird, und dessen „Königreiche“, „Großherzogtümer“ oder sonstwie benannte Provinzen sich mit einem kümmerlichen Rest von Selbstverwaltung bescheiden müssen. (Volksbote Nr. 15, 18. 1. 1913: 2)
Die politische Verfassung halte mit der ökonomischen Entwicklung nicht Schritt. Dass die eigentliche Macht bei den Rückständigsten liege, sei ein Anachronismus: Die politische Entwicklung Deutschlands geht einen eigentümlichen Gang. Während der Kapitalismus reißend Fortschritte macht und der Bourgeoisie immer mehr die Leitung des gesamten Wirtschaftslebens in die Hände bringt, versäumt es diese nämlich am wirtschaftlichen Einfluß stetig zunehmende Bourgeoisie völlig, dem politischen System des Parlamentarismus, das ihrem Wesen entspricht, zu größerer Macht zu verhelfen, oder läßt den Parlamentarismus sogar verfallen. Die ganze Regierungsgewalt verbleibt in Deutschland nach wie vor der Bureaukratie, die wiederum in der Hauptsache abhängig ist von der wirtschaftlichen [!] schwächsten, entwickelungsfeindlichsten Kapitalistengruppe, dem aristokratischen Großgrundbesitz. (Volksbote Nr. 175, 29. 7. 1913: 1)
Zwar war der Reichstag die zentrale Bühne der Sozialdemokratie, aber letztlich auch nur eine Phase: Ein Parlament, dessen einzige Leistungsfähigkeit darin besteht, äußersten Zumutungen des Absolutismus gegenüber noch Fuß beim Mahl zu halten, ist kein wirkliches Parlament, sondern im günstigsten Falle eine Körperschaft, die sich mit einem vormärzlichen Staatsrat vergleichen läßt. Indem wir diese Ohnmacht des Reichstags feststellen, wissen wir uns frei von jeder Schadenfreude. Der bürgerliche Parlamentarismus ist ein notwendiges Durchgangsstadium der geschichtlichen Entwicklung… […] Und für eine Klasse, die so auf den Kampf gestellt ist, wie das Proletariat, gibt es günstigere Kampfplätze, als ein Parlament, das jedem Kampfe den perversen Genuß vorzieht, sich selbst für null und nichtig zu erklären. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 85, 10. 4. 1914: 1)
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Kritik am Monarchen war publizistisch heikel, da von Strafverfolgung bedroht (Majestätsbeleidigung). Dennoch schreibt der „Volksbote“ kritisch über die wankelmütige Persönlichkeit des Kaisers. Sie erschwere politisches Handeln und die Verwaltung: Unter Wilhelm II. hat es so viele Ueberraschungen gegeben, daß man immer wieder auf neue gefaßt ist. Man fragt nicht mehr danach, ob etwas einen Sinn hat, sondern man gehorcht. […] Unsere Beamten sind von der peinlichsten Genauigkeit in der Beobachtung der ihnen gewordenen Vorschriften. Doch das Denken haben sie sich abgewöhnt, denn der Eine denkt für sie alle, und außerdem kann ihr ganzes Schema durch den wirklichen oder vermeintlichen Willen des Einen über den Haufen geworfen werden. Das eben ist die Wirkung des persönlichen Regiments. (Volksbote Nr. 33, 8. 2. 1913: 1)
Abstoßend sei die unheilige Allianz der kapitalistischen und dynastischen Interessen: Unsere von Marx begründete Geschichtsauffassung hat mit der bürgerlichen Anschauung aufgeräumt, als seien es die großen Männer, die Fürsten, die Politiker oder die Erfinder, die die Geschichte machen. Daher blickt der sozialdemokratische Arbeiter mit überlegenem Lächeln auf die Lobeshymnen und den Weihrauch herab, die die bürgerliche Presse bei solchen Feiern ihren Fürsten spendet; er weiß, daß die wirkliche Geschichte die Geschichte der Massen ist, die sich durch die materiellen Kräfte ihres Arbeitslebens entwickeln, daß das Wesen und der Kampf der Klassen Charakter und Wesen der Ereignisse und der darin wirkenden Personen bestimmt. […] Das neue Deutsche Reich und sein Kaisertum ist wesentlich eine Schöpfung des Kapitalismus und trägt den Charakter, nur aus den Bedürfnissen des Kapitals entstanden zu sein, auf allen Seiten zur Schau. […] In dem Kampfe gegen die Sozialdemokratie hat Wilhelm II. sich von Anfang an an die Spitze der bürgerlichen Welt gestellt. Zuerst, als nach dem Zusammenbruch des Sozialistengesetzes der Versuch gemacht werden mußte, durch Sozialreformen die Revolution zu beschwichtigen. Dann, als dieser Versuch fehlgeschlagen war und die neue Prosperität die Unterdrückungsgelüste des Kapitals mächtig anstachelte, in den vielen bekannten scharfen Angriffen und Drohungen gegen unsere Partei in seinen Reden. Dabei spielte wesentlich der Umstand mit, daß der Kaiser gerade mit denjenigen Kreisen des Großkapitals verkehrte, die die Befürworter der schärfsten Gewaltpolitik gegen das Proletariat sind. Der Sozialdemokratie waren zur Abwehr dieser Angriffe die Hände gebunden durch eine rigorose Handhabung der Majestätsbeleidigungsparagraphen, die die harmlosesten Bemerkungen und die sachlichste Kritik mit blutigen Strafen ahndete. […] Durch seinen starken politischen Einfluß hat der Kaiser wesentlich dazu beigetragen, Deutschland und seine Bourgeoisie in die Bahnen dieser neuen imperialistischen Politik zu treiben. […] Denn die Politik, die sich in dem Kaiser verkörpert, ist gerade die Politik, die die Arbeiterklasse aufs äußerste bekämpft und bekämpfen muß. […] Wo Byzantinismus und Fürstenvergötterung als Waffe im Klassenkampf auftritt, als Mittel, den Geist der Massen zu betören, da muß allerdings die Sozialdemokratie mit ihrer Aufklärung eingreifen. (Volksbote Nr. 137, 14. 6. 1913: 1)
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Die vielen staatlichen Feiern und Kaiserreden könnten nicht täuschen: Diese innere Unwahrheit des ganzen Treibens ist es, was uns andern, uns republikanisch Gesinnten, diese Festtage so schwer erträglich macht. Man mag in respektvollem Schweigen beiseite stehen, wenn sich andere dem Ueberschwang von Gefühlen ergeben, die einem selber fremd sind. Aber Prunk ohne Geist, Redeschall ohne Gesinnung fordern zum Widerspruche heraus. Als aufrichtiger Mensch fühlt man den Drang, inmitten der Festfeiernden aufzustehen und ihnen zuzurufen: Aber das alles glaubt ihr doch selbst nicht! […] Ein ehrliches Verhältnis zu Wilhelm haben eigentlich – so sonderbar es auch klingt – nur die Sozialdemokraten. […] Fünfundzwanzig Jahre lang ist die deutsche Politik unter Musikbegleitung und Fahnengeschwenke von Enttäuschung zu Enttäuschung marschiert, und je schlimmer es ward, desto brutaler glänzten die Farben, desto lauter klang Trompetengeschmetter, Hurrageschrei. (Volksbote Nr. 138, 15. 6. 1913: 1)
Den Beginn der Kolonialpolitik, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkte (Marokko krisen), hatte schon der frühe „Volksbote“ als überflüssig kritisiert: Deutschland hat es nicht nöthig, sich Feinde zu machen wegen der Ostafrikanischen Gesellschaft oder wegen der Kokosnüsse auf Samoa. Der Lärm unserer Kolonialpatrioten wird nicht im Stande sein, die vernünftige Ueberlegung bei unserem Volke zu übertäuben und es zu verhindern, die Kolonialpolitik nach ihrem wahren Werthe zu prüfen. Heilen wir erst unsere Schäden daheim, an denen wir kranken! (Volksbote Nr. 12, 14. 2. 1889: 1)
Mit der Verschärfung der imperialistischen Politik grenzte sich die Zeitung weiter vom „Hunnentum in deutschen Kolonien“ (3. Beil. zu Volksbote Nr. 52, 2. 3. 1913: 1) ab. Die unterworfenen Völker des Südens bräuchten keine Kolonialherren zur Zivilisierung, sondern proletarische Solidarität: Nun zeigt sich aber, daß die Behauptung von der grenzenlosen Faulheit und Unproduktivität der Eingeborenen falsch ist. Sowohl in französischen Kolonien und im Kongo-Staat, als auch in Togo, Kamerun und Deutsch-Ostafrika besteht und entwickelt sich eine Produktion der Eingeborenen: die Schwarzen bauen Kakao, Kaffee, Baumwolle, wenn sie Vorteil davon haben. Es steht also keineswegs so, daß entweder kapitalistische Wirtschaft der Weißen betrieben werden muß oder die Schwarzen „Wilde“ bleiben. Daraus ergeben sich Schlüsse für das Verhalten der Sozialdemokratie zur sog. Kolonialpolitik. […] Nach wie vor muß unsere Aufgabe sein, die Interessen der Eingeborenen wahrzunehmen, die kapitalistische Raubpolitik zu bekämpfen. Nur steigt die Gefahr immer mehr, die Lage der Eingeborenen wird immer trostloser und dieser furchtbaren Tragödie gegenüber dürfen wir nicht untätig bleiben. Dem sterbenden Afrika kann nur das internationale Proletariat Rettung bringen. (Beil. zu Volksbote Nr. 138, 17. 6. 1914: 1)
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Die kolonialen Gegensätze seien auszuräumen. So müsse Russland von Annexionen osmanischen Territoriums abgehalten werden, zugleich sei aber die Lage der Armenier unter türkischer Herrschaft zu verbessern (im E rsten Weltkrieg geschah unter deutscher Duldung das genaue Gegenteil): Ein Moment der steten Beunruhigung jedoch bleibt die armenische Frage immerhin. Um so dringender ist es deshalb, daß die Mächte durch eine energische Einmischung in die armenische Reformfrage dem russischen Imperialismus in Kleinasien den Boden unter den Füßen entziehen. Namentlich die deutsche Diplomatie sollte es sich angelegen sein lassen, mit aller Energie in dieser Richtung hinzuwirken, nicht nur um den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in Kleinasien zu dienen, sondern um auch einmal einem bedrückten, dem Untergang geweihten Volke die rettende Hand entgegenzustrecken. (Volksbote Nr. 177, 31. 7. 1913: 1)
In historischen Rückblicken macht der „Volksbote“ die deutsche „Einigung von oben“ (statt der großdeutschen „Einigung von unten“ innerhalb der Grenzen des Deutschen Bundes 1, die 1848 Ziel der Revolution gewesen war) mit den Annexionen als Geburtsfehler des Reiches aus. Der Bismarckkult des Bürgertums entbehre jeder Grundlage, weil die Einverleibung Elsass-Lothringens und das Sozialistengesetz unverzeihlich seien: Mehr als vierzig Jahre sind verflossen, seitdem Karl Marx, mitten im Lärm des deutsch-französischen Krieges, den Siegern von Sedan den wahrhaft weisen Rat erteilt hat, der französischen Republik einen ehrenvollen Frieden zu gewähren, das heißt, die zwei Provinzen Elsaß und Lothringen nicht gewaltsam von Frankreich abzureißen.2 […] Es kam die ungeheure Vertiefung des nationalen Gegensatzes zwischen Deutschland und Frankreich, der wie eine unaufhörlich schwärende Wunde die Lebenssäfte Europas vergiftet; es kam der bewaffnete Friede mit seinem Rüstungsfieber und es kam die Zweiteilung der Mächtegruppen durch die russisch-französische Allianz, welche das Zarentum zum Gebieter in Europa machte. […] Hätten damals Deutschland und Frankreich nach dem Sturze Napoleons III. durch einen
1 Die außerhalb des Deutschen Bundes gelegene Provinz Preußen (Ost- und Westpreußen bildeten 1824 – 1878 eine gemeinsame Provinz) sowie Teile Posens gehörten 1848 – 1851 ebenfalls zum Deutschen Bund. 2 In seiner Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“, 1870/71. – Auch Nietzsche warnte vor Hybris nach Sedan: „Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg hinter sich dreinzieht, ist vielleicht die schlimmste ein weitverbreiteter, ja allgemeiner Irrtum: der Irrtum der öffentlichen Meinung und aller öffentlich Meinenden, daß auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe und deshalb jetzt mit den Kränzen geschmückt werden müsse, die so außerordentlichen Begebnissen und Erfolgen gemäß seien. Dieser Wahn ist höchst verderblich: nicht etwa weil er ein Wahn ist – denn es gibt die heilsamsten und segensreichsten Irrtümer – sondern weil er imstande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des ,deutschen Reiches‘“ (Nietzsche 2000 [1874a]: 3.734 f ).
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ehrenvollen Frieden sich versöhnt und Freundschaft miteinander geschlossen – Preußen und das übrige Deutschland hatten ja, wie offiziell verkündet wurde, den Krieg nur gegen den Kaiser Napoleon geführt – so wäre ein europäischer Krieg heute etwas Undenkbares. Frankreich und Deutschland im Bunde können einen solchen jederzeit verhindern oder zum mindesten lokalisieren. Auch wäre, wie Marx damals schon andeutete, Deutschland ganz von selbst in die Bahnen einer freiheitlichen Entwicklung gedrängt worden; die Junkerherrschaft von heute wäre nicht gekommen. […] So sind wir nach vierzig Jahren schlimmer daran, als jemals, und dem Staatsmann, dem wir dies in erster Linie zu verdanken haben, werden unverdrossen und unablässig von dankbaren Deutschen neue Denkmäler gesetzt! (Beil. zu Volksbote Nr. 48, 26. 2. 1913: 1) Daß Bismarck kein wirklicher Staatsmann war, zeigte sich, als er im Jahre 1870 auf die Höhe seiner Erfolge gelangt war. Er war gedankenlos genug, sich einzubilden, daß er mit demselben Mittel, womit er einmal unter besonderen Umständen einen großen Erfolg gehabt hatte, immer neue Erfolge erringen könne. […] Was half es ihm, daß er seine brutalen Mittel immer mehr brutalisierte? Sie trafen um so weniger, je gehässiger sie wurden. So fiel Bismarck endlich über die anschwellende Kraft der Sozialdemokratie, und dem Ohnmächtigen blieb nur übrig, sich bis an seinem Sterbetag an der Phantasie eines großen Blutbades 3 zu berauschen, worin die deutsche Arbeiterbewegung erstickt werden sollte. (Beil. zu Volksbote Nr. 103, 5. 5. 1914: 1)
Mit ihrer Kritik standen die Sozialdemokraten allein: „Das gebildete Deutschland feierte die spät errungene staatliche Einheit und empfand es in seiner Mehrheit nicht als Mangel, daß ihm die politische Freiheit, für die die Liberalen vor 1871 gekämpft hatten, vorenthalten blieb“ (Winkler 2002: 265).
V.2
Preußen
Preußen wird im Stettiner „Volksboten“ seltener thematisiert als das Reich – hier spiegelt sich der Bedeutungszuwachs des Gesamtstaats und seiner Bühne, des Reichstags, wider. In Preußen kämpfte die Sozialdemokratie gegen das Dreiklassenwahlrecht, das nach den Erfahrungen der Krone mit der preußischen Nationalversammlung 1848 eingeführt worden war. Die preußischen Wähler wurden nach Art. 71 der Verfassung von 1850 in drei Abteilungen gegliedert, nach den Summen der entrichteten direkten Steuern. Dieses Zensuswahlrecht stand in krassem Gegensatz zum allgemeinen Wahlrecht für Männer zum Reichstag. Doch 3 Der alte Bismarck, nicht mehr im Amt, sagte über die Sozialdemokraten u. a.: „Sie sind die Ratten im Lande und sollten vertilgt werden“ oder „die soziale Frage hätte einst durch Polizeimittel gelöst werden können, jetzt wird man militärische anwenden müssen“ (zit. n. Gall 1980: 715).
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fand es angesichts der sozialdemokratischen Wählerstimmen auch Befürworter unter Liberalen, denn es erschien als „das einzige Bollwerk, das Preußen und seine Institutionen und Traditionen vor dem Sozialismus schütze“ (Clark 2007: 640). Mit der Reform des Wahlrechts verband die SPD den Anspruch, zugleich ein neues Preußen zu errichten, „nämlich ein preußisches Volk, eine preußische Nation. Bisher hat es nur Untertanen gegeben“ (Volksbote Nr. 126, 1. 6. 1908: 1). Die Idee des Volksstaates sollte auch für Preußen gelten: So ist’s nun einmal im guten alten Preußen! Die Junker sagen dem Volke brutal ins Gesicht, daß sie weiterregieren wollen, ohne sich um Recht und Vernunft viel zu kümmern. […] Aber dieses gute Preußen ist alt und auch von ihm wird das Schicksal unerbittlich den Tribut des Alters fordern. Fern aufdämmern zeigen sich die Umrisse eines guten neuen Preußens, und dieses gute neue Preußen wird unser, wird des Volkes sein. (Volksbote Nr. 99, 29. 4. 1913: 1)
Insbesondere die anachronistische Rolle Preußens im Reich wurde angegriffen, die erst ende, wenn „den junkerlichen Herrenmenschen, den Scharfmachern des Geld- und Geburtsadels die politische Macht aus den Händen gerissen“ worden sei (Volksbote Nr. 101, 1. 5. 1913: 1). Durch den Erfolg bei den Reichstagswahlen 1912 beflügelt, nahm sich die Sozialdemokratie die Umwandlung Preußens vor: Es muß ihnen [den Wählern – H. B.] gezeigt werden, wie die Zugehörigkeit zum Reich nicht zu verhindern vermag, daß sie in Preußen unter der Herrschaft eines erbärmlich brutalen Polizeigeistes stehen, daß der Preuße immer noch einige Schuh tiefer in dem Sumpf des Untertanenverhältnisses drin steckt als der größte Teil der übrigen Reichsbewohner; daß Preußen – Wilhelm II. hat es selbst gelegentlich bezeugt – die Rolle einer Zucht- und Korrektionsanstalt innerhalb des Reiches spielt. (Volksbote Nr. 100, 30. 4. 1913: 1)
Die Grundrechte der Preußen seien eine „Lügensammlung“, in Wirklichkeit herrsche das Militär: Daß der Wille des Königs – wohl verstanden, wenn er sich mit den Auffassungen dieser Kreise und dem Willen der Generäle deckt – oberstes Gesetz ist, dem der Pöbel einfach zu parieren hat; daß der Reichstag eine Schwatzbude ist, die gegebenenfalls ganz einfach zugemacht wird, das ist dort ein selbstverständliches Dogma. […] Durch eine eiserne und blutige Disziplin ist es gelungen, dem gemeinen Manne jedes selbständige Denken auszutreiben, ihn zu einem Automaten zu machen, der auf Kommando jeden Griff maschinenmäßig ausführt und sich, wenn er Vater und Mutter niedergeschossen hat, mit dem frohen Gefühle der Pflichterfüllung zur Ruhe legt. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 80, 4. 4. 1914: 1)
Allerdings hatte der „Volksbote“ einige Jahre zuvor über die Entstehung des Deutschen Reiches und die preußische Rolle dabei geschrieben (im Leitartikel „Vierzig Jahre Preußenherrschaft“):
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
So hatte die neue nationale Aera des heiligen Trons [!] und des heiligen Eigentums begonnen durch einen Bund Deutscher mit Fremden gegen Deutsche, sie wurde geweiht durch den Umsturz von Tronen [!] und gefestigt durch die gewaltige Einziehung fremden Eigentums. Auch das neue Preußen, das Land der Untertanentreue, der Gottesfurcht und frommen Sitte ist emporgewachsen auf dem vulkanischen Boden revolutionärer Entwicklung. […] Die Bourgeoisie hat unter der Herrschaft des Preußentums gedeckte Tische und volle Schüsseln gefunden. Das Proletariat aber ist nicht satt geworden von den Segnungen des sozialen Königtums, und wäre es satt, so dürstete ihm doch nach Freiheit. (Volksbote Nr. 152, 3. 7. 1906: 1)
Tatsächlich belegten die Einigungskriege (1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Österreich, 1870/71 gegen Frankreich) und insbesondere die Annexionen (Schleswig, Holstein, Hannover, Hessen-Kassel, Nassau, Frankfurt am Main), dass Preußen unter Bismarck erfolgreich zur „Revolution von oben“ bereit gewesen war, woran die Sozialdemokratie argumentativ anschließen konnte (wenn territoriale und politische Neuanfänge möglich waren, warum nicht auch ökonomische?). Lothar Gall hat dem „weißen Revolutionär“ Bismarck zutreffend bescheinigt, er habe „den historischen Prozeß zeitweise enorm beschleunigt und in stürmischem Tempo das heraufgeführt, was wir abkürzend die moderne Welt nennen“ (Gall 1980: 729). Preußen hatte Potential und wurde denn auch während der Weimarer Republik zu einem (sozial-)demokratischen Pfeiler der Republik. Doch hatte das Preußen nach 1918 „einen Mehrfrontenkampf zu bestehen“, angegriffen von Reaktion, Linksradikalen und den inneren Strukturproblemen des Reiches (Bracher 2003: 537 f ). Das handelnde Personal war nach der Novemberrevolution nur unzureichend ausgetauscht worden. So analysierte nach dem „Preußenschlag“ der thüringische Parteilinke Franz Petrich, dass es ein Fehler gewesen war, nur die Spitzenpositionen zu besetzen, die der SPD leicht entwunden werden konnten (nach Klenke 1987: 505). Insofern spricht Klenke sogar davon, dass der 20. Juli 1932 „Illusionen über das angeblich republikanische Bollwerk Preußen in der SPD zerstörte“ (Klenke 1987: 503). Auf dem pommerschen SPD-Parteitag war bereits 1921 beklagt worden, dass die alten Kräfte in der Verwaltung belassen worden waren.
V.3
Polen
Mit den polnischen Teilungen (1772, 1793, 1795 sowie 1815, als das napoleonische Herzogtum Warschau beseitigt wurde) war ein großer Teil des östlichen Nachbarn preußisch geworden, seit 1815 blieb vor allem die Provinz Posen ein innenpolitisches Problem Preußens. Besonders deutlich war das während der Märzrevolution 1848 geworden, in der auch die deutsche Nationalversammlung keine befriedigende Lösung fand. Die drei Teilungsmächte Preußen, Russland und Österreich waren sich in der Bekämpfung der polnischen Bestrebungen zur Wiederherstellung der polnischen Staatlichkeit einig. Die politischen Gegensätze verschärften sich mit dem zunehmenden Nationalismus der Zeit (und griffen auch auf Oberschlesien über), verbunden mit dem Kampf gegen die katholische Kirche
Polen
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durch die evangelischen Behörden. Mit der deutschen Reichsgründung verstärkten sich die Bemühungen, den deutschen Bevölkerungsanteil in den Ostprovinzen zu erhöhen, insbesondere mit der 1886 gegründeten „Ansiedlungskommission“, mit der polnische Landgüter aufgekauft und an Deutsche verteilt werden sollten; Bismarck sprach sozialdarwinistisch vom „Kampf ums Dasein“ (Nipperdey 1998c: 272). 1894 gründeten die Radikalnationalisten Hansemann, Kennemann und Tiedemann den „Verein zur Förderung des Deutschtums in den Ostmarken“ (ab 1899 Ostmarkenverein), deren Anhänger „Hakatisten“ genannt wurden (Nipperdey 1998c: 273). Auch das Schulwesen wurde „bewußt zum Kampfinstrument gegen die Muttersprache herabgewürdigt“, hatte aber einen gegenteiligen Effekt (Broszat 1972: 136). Die preußische Verwaltung, mit der sich die Polen Anfang des 19. Jahrhunderts arrangieren konnten, wurde polenfeindlich – hier wirkte sich die deutsche Einheit negativ auf seine östlichen Bürger aus:4 Das übernationale Preußentum konnte sich mit dem Polentum auf seinem Staatsgebiet abfinden, das Deutschtum empfand es als Fremdkörper, ebenso umgekehrt das Polentum. […] Aber jetzt wurde der preußische Staatsgedanke deutsch und national und durch den Einstrom eines vom Liberalismus herkommenden und genährten deutschen Nationalismus gewandelt. Er verlor damit seine Fähigkeit, nationale Gegensätze zu überwinden. (Frauendienst 1959: 359)
Der Stettiner „Volksbote“ sprach sich gegen die offenkundige „Unvernunft und Ungerechtigkeit der preußischen Polenpolitik“ aus, der „gigantische Schwindel des Hakatismus“ sei vor allem ein Mittel der Bereicherung seiner Verfechter: Dabei kennen die Slaven jenseits der schwarz-weißen Grenzpfähle sehr genau den stinkenden Sumpf der Korruption, auf dem der Hakatismus in Preußen-Deutschland gedeiht; sie wissen, daß diese schmähliche Polenhetze, diese systematische Rechtsminderung eines großen Teils der preußischen Bevölkerung ursprünglich nichts anderes war als eine gigantische Spekulation bankerotter Junker, die ihre verwirtschafteten Klitschen mit dem blanken Gelde der Steuerzahler wieder hochbringen wollten; sie wissen, daß die Ostmarken der Tummelplatz für strebsame Bureaukraten ist, die eine mit Ostmarkenzulagen gefügig gemachte Schaar von Untergebenen gegen die Polen losgelassen haben, um selber eine rasche Karriere zu machen. (Volksbote Nr. 135, 12. 6. 1908: 1)
In einem Grundsatzartikel (Volksbote Nr. 117, 22. 5. 1913: 1 – Cieślak [1983: 142] hebt diesen Text in seiner Erörterung zum Verhältnis der Sozialdemokratie zur Polenfrage hervor) wurden die Grundzüge der sozialdemokratischen Polenpolitik dargelegt, es wurde aber
4 Entsprechend schreibt Conze (1983: 107): „Der Kampf um die Menschen, die vor der Reichsgründung weithin noch nationalpolitisch indifferent gewesen waren, ist von den Deutschen trotz oder besser wegen der Macht ihres Nationalstaats nicht gewonnen worden.“
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deutlich, dass die SPD Schwierigkeiten hatte, die unteren Schichten vom Sozialismus zu überzeugen, zudem wurde ihr unterstellt, durch ihren Internationalismus langfristig auch die polnische Kultur und Selbstbestimmung zu gefährden: Warum tritt die Sozialdemokratie für die Polen ein? Jedoch, die Unterdrückungspolitik der preußischen Regierung bekämpfen wir auf alle Fälle; auch für diejenigen Polen treten wir ein, die nicht Sozialdemokraten sind und es auch nicht werden wollen. Wir treten für sie ein, nicht um irgend welche kleinlichen Parteivorteile zu ergattern, und ohne jede Rücksicht auf etwaigen Dank, einfach deshalb, weil wir es tun müssen auf Grund unserer Prinzipien. Ganz ebenso wie wir ja auch für die Gleichberechtigung der bürgerlichen Frauen kämpfen, obwohl es sehr wahrscheinlich ist, daß sie das Wahlrecht, das wir ihnen erringen werden, gegen uns gebrauchen werden. Die Sozialdemokratie erstrebt die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt. Die Sozialdemokratie ist eine internationale Partei, und damit ist schon gesagt, daß sie das polnische Volkstum genau ebenso verteidigen muß, wie jedes andere Volkstum. […] Wer – aus angeblich „nationalen“ Gründen – über die anderen herrschen will, der muß notwendigerweise befürchten, daß die anderen danach streben werden, das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln, ja daß die anderen über ihn werden herrschen wollen. […] Wer dagegen, wie die Sozialdemokratie, eine Zusammenfassung aller Kulturnationen zu gemeinsamer Tätigkeit, eine wahre Verbrüderung der Völker anstrebt, der kann schlechterdings keine Unterdrückung des einen Volkes durch das andere dabei gebrauchen oder auch nur dulden. Deshalb ist auch der Vorwurf ganz falsch, der uns von den Nationalpolen so oft gemacht wird, daß wir die Polen, wenn auch durch sanfte Mittel, germanisieren wollten. […] Was die preußische Polenpolitik erstrebt – wenn sie es auch niemals erreichen kann – ist die Abtötung dessen, was das Beste am Polentum ausmacht, ist eine Germanisation in dem Sinne, daß das Polentum alles aufgibt, was es aus eigener Kraft geleistet hat und noch leisten kann, und ein sozusagen spurloses Untertauchen der Polen im Deutschtum. Das aber wäre ein unermeßlicher Verlust für die Kultur der Zukunft, und schon aus diesem Grunde müssen wir es bekämpfen. Wir wollen nicht, daß die Leistungen irgend eines Volkes untergehen, ausgelöscht werden aus der Geschichte, sondern sie sollen nutzbar gemacht werden für die ganze große Völkerfamilie. […] Dazu kommt noch ein zweites. Diese Unterdrückung trifft den polnischen Proletarier härter als den polnischen Bourgeois und Edelmann. […] Dieselbe polnische Bourgeoisie, die in Landwirtschaft, Industrie und Handel den polnischen Arbeiter ausbeutet, wie nur irgend ein Bourgeois das tut – dieselbe polnische Bourgeoisie findet für ihre politischen, arbeiterfeindlichen Zwecke die bereitwilligste Unterstützung eben dieser polnischen Arbeiter. Und es hält [!] unendlich schwer, dem polnischen Arbeiter seine Klassenlage klarzumachen.
Kurz vor Kriegsbeginn erneuerte der „Volksbote“ seine Kritik („Die Polenhetze und das Proletariat“):
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Bei der Erwürgung und Aufteilung des polnischen Staates hat zweifellos Preußen von den drei Teilungsmächten die schäbigste und infamste Rolle gespielt. […] In den von Preußen unterjochten Gebieten wurde dann von der Bureaukratie systematisch daran gearbeitet, den Polen ihre Nationalität zu rauben, sie zu „germanisieren“. Daß sie dabei auf Granit beißen, weil es ein Unding ist, ein Volk mit tausendjähriger Kultur zu vernichten, geht den Herren nicht ein und in ihrer Wut, daß die schönsten Pläne fehlschlagen, versteigen sie sich dann zu den niederträchtigsten Mitteln. […] Nationale und religiöse Verhetzung war noch immer ein probates Mittel der herrschenden Klassen, die arbeitenden Massen von der Verfolgung ihrer Klasseninteressen abzulenken. Also nicht nur humanitäre Gründe, die jeden Kulturmenschen veranlassen müssen, die nationale Unterdrückung eines Volkes zu verabscheuen, sondern das proletarische Klasseninteresse zwingt die Sozialdemokratie, mit allen Mitteln diese schamlose Germanisierungspolitik zu bekämpfen. Das polnische Volk wird nicht untergehen. Je mehr es verfolgt wird, desto mehr stählt sich sein Widerstand. Das ist gut so. Denn jedes Volk hat das Seine zu leisten für die Kultur der Menschheit. Die Pflicht des deutschen Proletariates aber ist, den deutschen Namen nicht schänden zu lassen durch eine barbarische Ausrottungspolitik, bei der die bürgerlichen Parteien samt und sonders der Regierung Henkerdienste leisten. (Beil. zu Volksbote Nr. 83, 8. 4. 1914: 1)
Er ging allerdings nicht so weit, sich für eine Abtrennung der polnischsprachigen Gebiete auszusprechen (zu der es dann 1919 kam, dann aber auch mit deutschen Minderheiten im wiederhergestellten Polen). Für Nordschleswig (seit 1864 preußisch) hingegen hatte er vorgeschlagen, es wieder Dänemark zu überlassen (was dann 1920 geschah) (Beil. zu Volksbote Nr. 91, 19. 4. 1914: 1). Auf die schlechte Lage der polnischen Saisonarbeiter wies der „Volksbote“ mehrfach hin, was wie die Polenfreundlichkeit auch von der Wissenschaft Volkspolens gewürdigt wurde (so von Cieślak 1961). Die deutsche Sozialdemokratie bekämpfte Nationalitätenhetze, fand aber selbst zu keinem positiven Modell, Wehler (1971: 214) macht dafür „den meist unbewußten Nationalisierungsprozeß auch in den Reihen der SPD“ verantwortlich. Der „Volksbote“ sprach sich 1904 gegen nationale Überheblichkeit aus und forderte die Befreiung aller: Von nationaler Ueberhebung und Rassendünkel frei zu halten, vermag sich aber nur die sozialdemokratische Arbeiterpresse, weil sie die Befreiung der Arbeiterklasse auf ihre Fahne geschrieben, w elche nur das gemeinsame Werk der Arbeiter aller Kulturländer sein kann. Die sozialdemokratische Presse verteidigt deshalb die internationalen Werte gegenüber einem beschränkten und sittlich minderwertigen Nationalismus. […] Denn die Sozialdemokratie bekämpft nicht nur die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse. (Volksbote Nr. 196, 22. 8. 1904: 1)
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V.4
Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
Die Partei zwischen Dresdner Parteitag (1903) und Kriegsausbruch
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts diskutierte die Sozialdemokratie über ihren Kurs. Sollte sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten politisch mitarbeiten oder in der Fundamental opposition verbleiben? Eduard Bernstein forderte nach den Reichstagswahlen von 1903, dass die SPD einen Sitz im Reichstagspräsidium beansprucht. Durch die Formalität der Besuche beim Kaiser würden „die politischen Grundsätze der Socialdemokratie in keiner Weise berührt“ (Bernstein 1903b: 479). Der Stettiner „Volksbote“ unterstützte diese Forderung. Aus agitatorischen Gründen bin ich der Meinung, daß es ein schwerer Fehler ist, die Beteiligung am Reichstagspräsidium abzulehnen; eine s olche Abstinenzpolitik mache ich nicht mit. (Volksbote Nr. 187, 13. 8. 1903: 1 – der Artikel trägt das Kürzel hr)
Ebenso unterstützte die Zeitung die Beteiligung an den preußischen Wahlen. Die Parteidisziplin erfordere Mitarbeit auch bei Ablehnung: Aus den Diskussionen hat die Frage, ob wir uns an den Wahlen [zum Landtag – H. B.] beteiligen sollen, auszuscheiden. Die höchste Instanz, der Parteitag, hat die Wahlbeteiligung beschlossen und diesen Beschluß hat jeder auszuführen, mag er auch im Herzen ein Gegner der Wahlbeteiligung sein. Das erfordert die Parteidisziplin. (Volksbote Nr. 188, 14. 8. 1903: 1)
Der „Volksbote“ bemühte sich um Ausgleich der innerparteilichen Gegensätze, die insbesondere auf dem Dresdner Parteitag 1903 zutage getreten waren. Dresden war von der Revisionismusdebatte geprägt, was zu scharfen gegenseitigen Angriffen geführt hatte. Die Zeitung befand, dass solche Debatten eher den Gegnern als der Partei nützten: Mit Bedauern müssen wir auf die Art und Weise der Verhandlungen zurückblicken und die Arbeiterschaft im Lande hat ein Recht zu sagen: An Stelle solcher Parteitage lieber gar keinen. Das Maß des öden „Gezänks“ und der Taktlosigkeiten wurde bis zum Ueberlaufen gefüllt! Anstatt daß die Vertreter der Partei in Dresden Waffen schmiedeten zu weiteren Parteierfolgen, insultierten sie sich gegenseitig und lieferten unsern Gegnern Waffen. (Volksbote Nr. 222, 23. 9. 1903: 1)
August Bebel, der Parteivorsitzende, war vor dem Weltkrieg die entscheidende Persönlichkeit der SPD, der „Volksbote“ sprach ihm seine Führungsrolle uneingeschränkt zu: Sein Mund sprach nie etwas anderes, als was leidenschaftlicher Drang nach Wahrhaftigkeit ihn zu sagen zwang. Doch alles das würde nicht ausreichen, die einzigartige Stellung zu erklären, die Bebel heute in unserer Partei einnimmt. (Volksbote Nr. 262, 9. 11. 1903: 1)
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1907 löste Kanzler Bülow den Reichstag auf, wegen der Finanzierungsfrage des Kolonialkrieges in Deutsch-Südwestafrika wurden die Wahlen „Hottentottenwahlen“ genannt. Ziel war die Bildung eines Kartells von Konservativen bis Liberalen, um Zentrum und Sozialdemokraten zu schwächen. Die SPD legte zwar an Stimmen zu, verlor aber wegen der ungünstigen Wahlkreiseinteilung und des Stichwahlverfahrens die Hälfte ihrer Abgeordneten (Bergsträsser 1965: 168 – 170, er nennt den entstehenden „Bülow-Block“ einen nur taktischen Erfolg – zu einer Zusammenarbeit von Zentrum und SPD kam es dann erst in der Weimarer Republik). In Stettin verlor Fritz Herbert sein Mandat (es ging an den Liberalen Heinrich Dohm), auch Randow-Greifenhagen ging verloren (bisher Alwin Körsten, nun der Konservative Fritz von Steinaecker). Für den „Volksboten“ lag die Ursache für diese Niederlagen nicht in der eigenen Arbeit, sondern im Zustand der Gesamtpartei. Pommern müsse aktiver die Geschicke der deutschen Sozialdemokratie gestalten: Auch das zweite pommersche Mandat der Sozialdemokratie ist verloren gegangen. Die rote Fahne, die schon zweimal über Stettin wehte, ist wieder herunter geholt; Pommerns sozialistisches Proletariat wird im neuen Reichstage keinen Vertreter zählen. […] Freilich sind es nicht die eigenen Fehler, denen die pommersche Sozialdemokratie ihre Niederlage zu verdanken hat. […] Aber eine Partei, die als geschlossene Phalanx in den Kampf zieht und einheitlich handelt, leidet auch einheitlich unter den Fehlern, die von einzelnen Gruppen der Partei begangen werden. Daraus ergibt sich für die pommersche Sozialdemokratie die Lehre, ihren Einfluß innerhalb der Partei mehr zur Geltung zu bringen, als dies bis dahin der Fall war, und mit größerer Entschiedenheit ihre weitschauende Politik zu vertreten, selbst wenn dies ohne persönliche Reibungen nicht durchführbar ist. (Nr. 31, 6. 2. 1907: 3)
Mit innerparteilichen Debatten jedenfalls würden keine Wahlen gewonnen. Die SPD müsse über ihre Zentren hinaus wirksam sein wollen und dürfe sich nicht abschotten: Als man in Dresden den Grundsatz proklamierte, daß in allen Parteifragen in Zukunft die „Parteiseele“ – natürlich wie sie sich in Leipzig und Berlin und nicht etwa München oder Stettin offenbart – das letzte Wort zu sprechen habe, daß die Redakteure und Redner nicht auf die „Volksseele“ zu lauschen, sondern blindlings der „Parteiseele“ zu folgen hätten, da war es uns sofort klar, daß man nach einem solchen Grundsatz wohl eine geschlossene Gesellschaft, nicht aber eine Millionenpartei erfolgreich führen könne. (Volksbote Nr. 33, 8. 2. 1907: 1)
Als die genauen Zahlen bekanntgegeben wurden, fühlte man sich in der Provinz in der eigenen Taktik bestätigt. Der mittlere Kurs sei erfolgreich gewesen und das richtige Rezept für die Zukunft. Der Leitartikel hieß selbstbewusst „Pommern in Deutschland voran!“: In Wirklichkeit kann aber die pommersche Sozialdemokratie sogar einen gerechten Stolz über den Ausgang der Wahlen empfinden, denn die genauen Ergebnisse der letzten
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Reichstagswahlen, die das Statistische Amt kürzlich veröffentlicht hat, zeigen uns, daß Pommern zu denjenigen Gauen des Reiches gehört, welche den Wahlkampf am besten überstanden haben […] Da äußere Gründe für unseren Erfolg kaum festzustellen sind, so sind wir genötigt, nach inneren zu forschen. Zu diesen zählt aber zweifellos die besonnene, von allen Ausschreitungen des Radikalismus sich klug zurückhaltende Taktik, welche die pommerschen Genossen in ihrer großen Mehrheit stets befolgt haben. Dadurch hat sich die pommersche Sozialdemokratie einen Fonds des Vertrauens in der Bevölkerung erworben, den auch die schmählichen Lügen des Reichsverbandes [gegen die Sozialdemokratie, 1904 gegründet – H. B.] und die Manöver des Hottentottenblocks nicht erschüttern konnten. Bleibt die pommersche Sozialdemokratie dieser Taktik treu, bemüht sie sich, Intoleranz jeder Art aus ihren Reihen fern zu halten und jede ehrliche Meinung zu achten, so wird ihr auch in Zukunft der Erfolg nicht fehlen. (Volksbote Nr. 213, 12. 9. 1907: 1)
Nach einer anfänglichen Polemik gegen das Bürgertum („In frühlingsstürmendem Freiheitsrausch hat das deutsche Bürgertum den reaktionärsten Reichstag gewählt, der jemals dagewesen ist“, Volksbote Nr. 32, 7. 2. 1907: 1; „Nur wenn das Kleinbürgertum uns in der Stichwahl beigestanden hätte, hätten wir das Mandat retten können, aber dieses war förmlich vom Tropenkoller besessen und stimmte uns nieder. Nun, die Ernüchterung wird nicht ausbleiben. Bis zur nächsten Wahl ist der Kolonialschwindel Jedem klar und das Uebrige wird die demnächst präsentierte Steuerrechnung besorgen“, Volksbote Nr. 34, 9. 2. 1907: 1) erkannte der „Volksbote“ die Notwendigkeit, auch um Nichtproletarier zu werben. Er druckte einen Text Paul Göhres aus der „Neuen Gesellschaft“ ab, in dem es hieß: Wir haben mit unserem gegenwärtigen Programm auf die Länge der Zeit vielen nichtkapi talistischen Schichten zu wenig zu bieten… Jeder weiß ja auch, womit dieser bisherige Mangel zusammenhängt: mit der Theorie, die wir ererbt haben und die gerade in den letzten Jahren mitunter in fast terroristischer Weise als unantastbar aufrecht erhalten worden ist. […] Nicht der Revisionismus – das Wort ist so töricht, wie sein Inhalt aufgebauscht ist –, aber eine Revision auch unserer Theorie und unseres Programms, ohnehin schon seit längerem im Anzuge, wird die notwendige Folge unserer schweren Schlappe von 1907 sein, nachdem der Geist von 1903 so deutlich Fiasko gemacht hat. (Volksbote Nr. 36, 12. 2. 1907: 2)
Die Mittelschichten müssten überzeugt werden oder wenigstens nicht länger Gegner sein: Wir haben uns offenbar zu sehr gewöhnt, die bürgerlichen Elemente, wenn sie nicht in der Sozialdemokratie organisiert sind, als unsere Gegner zu betrachten. Nun gibt es aber zahlreiche Elemente im Mittelstand, die ihrer ökonomischen Lage nach zwar nicht zum Proletariat gehören, aber auch nicht zum kapitalistischen Unternehmertum. Diese Elemente für die Kulturideale der aufwärtsstrebenden Arbeiterschaft zu gewinnen, oder sie doch wenigstens der Sozialdemokratie gegenüber zu neutralisieren, erscheint uns als ein wichtiges Gebot proletarischer Politik. (Volksbote Nr. 58, 9. 3. 1907: 1)
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„Die Bedeutung der Massenorganisation“ legte der „Volksbote“ (Nr. 180, 4. 8. 1912: 1) dar, indem er die syndikalistische Bewegung (u. a. Übernahme der Betriebe durch Gewerkschaften) in die Schranken wies: Organisation der Proletarier sei notwendig, nach der Erringung der politischen Macht sei der Umbau zum Sozialismus möglich, in dem die bisher vom Bürgertum Beherrschten selbst bestimmen: Wenn die Syndikalisten ihre Ablehnung der parlamentarisch-politischen Kampfmethode begründen wollen, reden sie nicht über deren wirkliche Bedeutung, die stetige Steigerung der Macht des Proletariats – dazu fehlt ihnen die marxistische Einsicht. Sie kritisieren das Ziel der Sozialdemokratie, die Eroberung der Staatsgewalt. Was ändert sich im Wesen der Welt, sagen sie, wenn eine sozialdemokratische Mehrheit ins Parlament kommt und sozialistische Minister an die Stelle der bisherigen treten? Von einem einfachen Wechsel der Regierungspersonen kann die Umwälzung der Gesellschaft nicht abhängen. Es ist lächerlich, zu glauben, daß die Arbeiter bloß dadurch, daß sie einmal bestimmte Zettel in eine Urne werfen, die soziale Revolution durchführen können. So einfach geht das nicht, dazu ist noch etwas ganz anderes nötig. Es ist beachtenswert, daß die Beweisführung gar nicht spezifisch syndikalistisch ist. Von den reformistischen Gewerkschaftsführern hört man bisweilen ähnliche Argumente: wenn wir die politische Herrschaft erobert haben, wird es uns noch gar nicht möglich sein, den Sozialismus durch Staatsdekret einzuführen, wenn die wirtschaftliche Entwicklung dazu nicht reif ist. So unrichtig der Schluß selbst ist – denn die politische Herrschaft bedeutet die Beseitigung der Hemmnisse, die der raschen wirtschaftlichen Umwälzung zum Sozialismus im Wege stehen – so richtig ist das Empfinden, das sich in dieser gemeinsamen reformistisch-syndikalistischen Kritik ausspricht. Das Empfinden nämlich, daß der Ausbildung der Organisation der Arbeiter eine entscheidende Rolle im sozialen Umbildungsprozeß zukommt. […] Die Herrschaft der Bourgeoisie beruht auf der straffen Organisation der Staatsgewalt gegenüber der Zersplitterung der Masse. Die Organisation der Masse ist also die Schaffung jener Macht, die allein imstande ist, der Macht des Staates siegreich entgegenzutreten. Daher bedeutet die gewerkschaftliche Organisation etwas viel Gewaltigeres und Größeres als den bloßen Zusammenschluß der Arbeiter zur Erringung besserer Arbeitsbedingungen. Sie bedeutet den Anfang der Aufhebung der unterdrückenden Gewalt, den Anfang der neuen Freiheit der Menschheit, die nur in der organisierten Selbstbestimmung über ihr Schicksal bestehen kann.
In Stettin hieß es im Bericht des Bezirksvorstandes (Parteisekretär August Horn), dass weiter ein harter politischer Kampf notwendig sei. Gegner seien nicht nur Gutsbesitzer und die K irche, sondern auch das liberale Bürgertum. Letztlich habe das Proletariat keine Verbündeten, könne aber, wenn es seiner selbst gewiss sei, auch allein siegen: Arbeit wird es für alle Genossen und Genossinnen auch in Zukunft geben. Obgleich die siegende Macht auf unserer Seite liegt, so wenden unsere Gegner doch alle Mittel an, um uns den Sieg streitig zu machen. Wir werden auch fernerhin alle Kräfte zusammenfassen
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müssen, wollen wir nicht ins Hintertreffen gelangen. Die Feinde des arbeitenden Volkes von rechts wie von links benutzen jede Gelegenheit, ihre Position zu stärken, damit sie die Klassenherrschaft aufrechterhalten können. Trotz aller Annäherung der Liberalen an die Sozialdemokratie bleibt doch die Tatsache bestehen, daß unser Kampf nicht ausgefochten werden kann nur gegen konservativ-klerikale Junker- und Pfaffenherrschaft, sondern daß zu unseren Feinden auch das liberale Bürgertum zu rechnen ist. Wir sind auf unsere eigene Kraft angewiesen. Das Proletariat ist aber stark genug, wenn es zum Klassenbewußtsein gekommen ist, mit allen Gegnern fertig zu werden. (2. Beil. zu Volksbote Nr. 193, 20. 8. 1912: 4)
Von den politischen Grundsätzen dürfe nicht abgewichen werden: Die Arbeiterklasse will die Macht erobern; sie muß dazu die Massen aufklären und zusammenscharen; sie kann daher nur eine Politik betreiben, die ihr die Massen immer mehr zuführt und die tiefsten Grundlagen ihrer Macht stärkt, und auf dieses Ziel darf sie nicht für augenblickliche Vorteile und äußerliche Scheinmacht verzichten. Sowie das Proletariat anders dasteht als die Bourgeoisie, muß auch die Politik der Sozialdemokratie notwendig anders sein als die des Liberalismus: keine Realpolitik, sondern Prinzipienpolitik. (Volksbote Nr. 234, 6. 10. 1912: 1)
Um die Ziele der Sozialdemokratie zu erreichen, müsse jedes Parteimitglied immer politisch aktiv sein, nur mittleres Engagement genüge nicht: Was ist Parteipflicht? Es gibt so manchen Parteigenossen, der da glaubt, wenn er seine Parteibeiträge regelmäßig zahlt, seine Parteizeitung liest, bei besonders wichtigen Versammlungen und Kundgebungen nicht fehlt, und bei Wahlen sozialdemokratisch stimmt, dann sei er schon ein idealer Parteigenosse, der, wie er meint, seine „Pflicht“ gewissenhaft erfüllt habe. Ein Sozialdemokrat, der gerade nur seine „Pflicht“ tut, der ist noch lange nicht der Parteigenosse, wie ihn die Partei und unsere Sache braucht. […] Hinweg mit aller Lauheit, die uns nicht vorwärts bringt; nur immer mutig ans Werk gegangen und keinen Tag geruht. Jeder sei ein ganzer Mann, keiner verlasse sich auf den andern. Parteipflichten sind Ehrenpflichten, die jeder selbst erfüllen muß! (Beil. zu Volksbote Nr. 250, 25. 10. 1912: 3)
Die Sozialdemokratie stand nicht nur im Wettbewerb mit den Liberalen, sondern auch mit Strömungen innerhalb der Arbeiterbewegung, die die organische Parteiarbeit zurückwiesen. Um 1900 bedeutend war der Anarchismus 5. Dieser sei dem Sozialismus aber unterlegen, 5 „Eine politische Ideologie und Bewegung, die auf Beseitigung jeder Autorität und jeden Rechtszwangs, insbes. des Staates, abzielt und größte Ausdehnung der persönlichen Freiheit im freien, jederzeit lösbaren Zusammenschluß der Individuen erreichen will“; bekannte Vertreter waren Proudhon und Bakunin; von Anarchisten wurden zahlreiche politische Terrorakte und Attentate verübt (Wörterbuch Geschichte, von Fuchs, Konrad, und Heribert Raab,
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weil er die gesellschaftlichen Gesetze nicht kenne, sondern unwissenschaftlich sei und eigentlich noch eine bürgerliche Vorstellung: Weil der Anarchismus der heutigen Gesellschaftsordnung gleichfalls feindlich gegenübersteht und auch eine kommunistische Gesellschaft wünscht, ist der Vergleich der beiden Anschauungsweisen das beste Mittel, die besondere Eigenart der sozialdemokratischen Grundanschauungen klar hervorzuheben. Der Anarchismus sieht in der Herrschaft von Menschen über Menschen die Wurzel alles Uebels. […] Daher braucht nur der Staat durch die Empörung der zum Freiheitssinn erwachten Massen beseitigt zu werden; dann werden die Menschen, von allem Zwange von oben erlöst, als freie Menschen ihre Arbeit kommunistisch regeln. […] Der Anarchismus operiert mit dem aus der Zeit des Kleinbetriebs stammenden Gegensatz von Freiheit und Zwang, und übersieht, daß es noch ein drittes gibt, das weder die absolute Freiheit noch der Zwang ist: die Organisation mit ihrer freiwilligen Disziplin das zu dem Großbetrieb, zu unserer heutigen hochentwickelten Technik gehörende Prinzip. Die Organisation allein kann die Arbeiterklasse und damit die Menschheit von der unterdrückenden Herrschaft einer ausbeutenden Klasse befreien; daher geht der wirkliche Kampf z wischen diesen beiden Prinzipien: Zwangsgewalt und Organisation. […] Während die anarchistische Th eorie also im Grunde die alte bürgerliche Th eorie von Freiheit und Gewalt ist, statt auf die Bedürfnisse der Bourgeoisie, auf die Bedürfnisse der von der Bourgeoisie unterdrückten Klassen zuspitzt, steht die sozialistische Theorie den bürgerlichen Anschauungen als eine völlig neue Wissenschaft der Gesellschaft gegenüber. Mehr noch, sie ist die erste wirkliche zusammenhängende Wissenschaft der gesellschaftlichen Erscheinungen, gegen die alle bürgerlichen Anschauungen nur unwissenschaftliche Phantasien und einen unklaren Aberglauben bilden. Der Sozialismus sucht nicht in einer Einzelerscheinung, in dem Staat und der Gewalt, den Grund alles Uebels und in einem abstrakten Freiheitsprinzip die Rettung. Er bringt das ganze gesellschaftliche Leben mit all seinen verschiedenen Kräften in Zusammenhang auf der Grundlage der Produktionsweise. Auf der Produktionsweise, der Form der Arbeit zur Erzeugung des Lebensunterhalts, beruhen die anderen gesellschaftlichen Institutionen, Recht und Sitte, Gewalt und Kultur, Staat und Politik, sowie die Anschauungen und Ideen der Menschen, die alle wieder als Kräfte zur Festigung oder zur Umwälzung der bestehenden Wirtschaftsordnung wirken. […] Der Anarchismus kümmert sich nicht um die Wirtschaft, denn, wenn nur erst der Staat beseitigt ist, wird sich die Wirtschaft schon gestalten, wie es am besten ist. Der Sozialismus betrachtet umgekehrt die Gestaltung der politischen Organisation als einen Ausfluß der Wirtschaftsweise. […] Daher werden ihre [die sozialdemokratischen – H. B.] Vorstellungen über diese Zukunft sich wandeln mit der Entwicklung der Gesellschaft selbst, die immer neue Einblicke gewährt, im Gegensatz zu den feststehenden Konstruktionen der Utopisten aller Art, auch der Anarchisten. Das feste Fundament der Sozialdemokratie bleibt der marxistische CD -ROM , Digitale Bibliothek, Bd. 71, Berlin: Directmedia 2002, Artikel „Anarchismus“:
217 – 220).
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Grundsatz, daß nur die realen Kräfte der wirklich vorhandenen Gesellschaft die Zukunft bestimmen, und daß nur die Erkenntnis dieser Kräfte uns einen Einblick in die Zukunft geben kann. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 12, 15. 1. 1913: 1 f.)
1913 beging die deutsche Sozialdemokratie ihr 50-jähriges Bestehen, im selben Jahr, als das offizielle Deutschland die 100-jährige Wiederkehr der Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich feierte. Der „Volksbote“ druckte einen Text Franz Mehrings, der die lassalleschen und marxschen Wurzeln der Partei versöhnen wollte und sich gegen das „Marx-Pfaffentum“ wandte: „Lassalle hat oft geirrt, aber nicht weniger oft haben Marx und Engels geirrt, und der größte Irrtum ihres Lebens ist gewesen, daß sie das historische Werk Lassalles so gänzlich verkannt haben“ (Volksbote Nr. 51, 1. 3. 1913: 1). In einem ganzseitigen Artikel auf der Titelseite wies die Zeitung sowohl die Feiern zu 1813 als auch zum 25. Thronjubiläum Kaiser Wilhelms II. zurück und stellte das Parteijubiläum in den Vordergrund; die deutsche Sozialdemokratie sei weltweit führend: Ganz Deutschland hallt zurzeit von dem Festgetöse der Jubiläumsfeiern wider. Daneben donnern die Pauken und schmettern die Trompeten des bürgerlichen Mordspatriotismus wie nie. Dieses alles gilt der Erinnerung an das Kriegsjahr 1813, das Deutschland aus der Fremdherrschaft des Franzosenkönigs befreite und dem 25jährigen Regierungsjubiläum des deutschen Kaisers. Feiert das Bürgertum das Gedenken der Freiheitskriege um deswillen, weil deutsche Bürger und Soldaten das Land der preußischen Freiheit überlieferten, so begeht es das Fürstenjubiläum, um in devotem Byzantinismus dem Herrscher für seine Regierungszeit, die gleichzeitig als Zeit kostbarsten Friedens gepriesen wird, überschwenglichen Dank abzustatten. Es ist schon wiederholt ausgeführt worden, daß sich die Arbeiterklasse an diesem Festtrubel nicht beteiligt. Das Proletariat vergißt die „teuren Toten“ von 1813 nicht und schmückt auch ihre „Urne mit dem Eichenkranz“, aber es läßt sich von dem Rauch des patriotischen Feuerwerks nicht die Augen verblenden. Es fälscht die Wahrheit nicht in höfisch-chauvinistische Geschichtslegenden um wie jene, die heute in patriotischen Verzückungen schier vergehen wollen. Aus d iesem Grunde läßt uns auch das Regierungsjubiläum Wilhelms II. vollkommen kalt. Wir sehen hier keinen Anlaß zu festlichem Gepränge, weil unter der Regierungszeit das deutsche Volk und noch mehr das preußische nicht mehr von einem freiheitlichen Zug zu verspüren bekommen hat, als es sich selbst unter großen Opfern erkämpft hat. […] Weit höher als der höfisch-militärische Rummel des Bürgertums steht das Jubiläumsfest des deutschen Proletariats, die Halbjahrhundertfeier der deutschen Sozialdemokratie, deren Gedenktag der 23. Mai ist. […] Die Partei, die sich auf dieser Erkenntnis aufbaute, entfernte sich weit von allen übrigen Parteien, indem sie den Klassenkampf auf ihre Fahne schrieb. Dadurch wurde das deutsche Proletariat vorbildlich auf dem Gebiete der Politik. […] Auf der Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus hat Lassalle die Politik des Proletariats unmittelbar aufgebaut und ihr damit die unverrückbaren Richtlinien gezogen, die die proletarische Politik bewahren von dem ewig im Dunkeln umhertastenden Experimentieren aller Tages- und Gelegenheitspolitiker. […] Die Arbeiter Deutschlands haben
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sich als die besten Organisatoren aller Kulturländer erwiesen und werden um die Erfolge, die sie auf diesem Gebiete errungen haben, von ihren Klassengenossen in zwei Weltteilen beneidet. (Volksbote Nr. 118, 23. 5. 1913: 1)
In einem Leitartikel zum Staatssozialismus (Volksbote Nr. 120, 25. 5. 1913: 1) wurde darauf hingewiesen, dass der Kampf gegen den einstigen liberalen Kapitalismus der freien Konkurrenz vorüber sei. Abgelehnt wird die revisionistische Auffassung von einer Verbesserung des Staates hin zu einer demokratischen Verfassung, diese sei eine Illusion, wie auch eine Zusammenarbeit mit dem Bürgertum: Unser Kampf ist nicht gegen den früheren, den toten, sondern gegen den lebenden Kapitalismus gerichtet. Die alte Ideologie des freien Wettbewerbs ist abgetan; gegen sie b rauchen wir unsern geistigen Kampf kaum mehr zu richten. Die Seiten des Kapitalismus, die damals als die wesentlichsten kritisiert werden mußten, sind unwesentlich geworden, und damit muß auch unsere Kritik sich ändern. In unserer Propaganda des Sozialismus kann die zweckmäßige Organisation und die Regelung von oben nicht mehr die erste Stelle einnehmen, seitdem der moderne Kapitalismus Schritte zur zweckmäßigen Organisation und zur Regelung von oben im Interesse des Großkapitals unternimmt und sie als Mittel benutzt, die Arbeiter schlimmer zu unterdrücken und auszubeuten. […] Jetzt kann nicht mehr ein doktrinäres Schema als Staatssozialismus gelten der dem Feind besser dient als uns – jetzt muß die Verfechtung des Arbeiterinteresses nur zu oft zur Zurückweisung der schädlichen staatlichen Einmischung in die Arbeiterangelegenheiten führen, jetzt wird in dem Bilde des Sozialismus das andere Element, die Freiheit und die Selbstbestimmung der Organisationen von selbst mehr hervortreten. Für Deutschland macht das in der Praxis nicht viel Unterschied: hier war die Staatsgewalt immer der schlimmste Feind und Bedrücker der Arbeiter und ließ daher in den Gedanken der sozialistischen Arbeiter nur wenig Raum für die Staatsfrömmigkeit. Aber in der Propaganda, namentlich des Revisionismus, spielte doch die Illusion eines besseren demokratischen Staates eine Rolle, der in freieren Ländern zum Wohle der Arbeiter sozialistische Reformen einführte und bei uns mit Hilfe des fortschrittlichen Bürgertums verwirklicht werden müsse. Diese Illusion hat durch die moderne Entwicklung ihre Existenzberechtigung verloren.
In der Beilage zum „Volksboten“ (Nr. 122, 28. 5. 1913: 1) forderte Rosa Luxemburg größere Anstrengungen der SPD, die sich auf ihren Erfolgen nicht ausruhen dürfe. Sie bestimme zwar die öffentliche Debatte, doch müsse nun den Sozialismus erringen, da man in einer Zeit des endenden Imperialismus und eines verfallenden Parlamentarismus lebe: Für die herrschenden Klassen, die das Größte an Leistung, Kampf und Ideal hinter sich haben, sind historische Jubiläen nur ein Mittel, in Selbstzufriedenheit das Vergangene zu preisen und das Bestehende mit einem von der Vergangenheit erborgten Nimbus zu verklären. Für eine revolutionäre Klasse, wie das moderne Proletariat, die das Größte noch
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vor sich hat, sind geschichtliche Erinnerungstage nicht eine Gelegenheit, mit einem Blick auf die eigene Vergangenheit triumphierend zu konstatieren, „wie herrlich weit wir’s schon gebracht“ haben, sondern vor allem ein Anlaß zur Selbstkritik, zur Prüfung des Geleisteten und Verständigung über das zu Leistende. […] Seit fünfzig Jahren dreht sich die Politik und das ganze öffentliche Leben Deutschlands um die Sozialdemokratie. Sie ist das starke Triebrad des sozialen Fortschritts im Reiche, sie ist der Hort der freien wissenschaftlichen Forschung und der Kunst, sie ist der einzige Anwalt der Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts, sie ist die Beschützerin und Weckerin der Volksjugend, sie ist das Bollwerk des Völkerfriedens, sie ist die Verkünderin der Auferstehung von Millionen aus dem tiefen Schacht des materiellen Elends, worin sie die kapitalistische Ausbeutung verbannt hat. All dies ist sie aber nur, weil und solange sie das bleibt, was sie als ihren historischen Geburtsschein mitgebracht hat: eine rücksichtslose Partei des revolutionären Klassenkampfes um die Verwirklichung der Endziele des Sozialismus. […] Heute, in der imperialistischen Schlußphase, der internationalen Kapitalherrschaft, heute in der tiefsten Verfallsperiode des bürgerlichen Parlamentarismus würde das Verharren bei dem Ausbau der Parteiorganisation und bei parlamentarischer Betätigung allein nicht ein Aktionsprogramm der Arbeiterklasse, sondern ein Programm der Passivität, der Indolenz, trotz äußeren ziffernmäßigen Wachstums ein politisches Trippeln auf demselben Fleck sein. Die mächtigste Parteiorganisation kann heute nicht Selbstzweck sein, sie muß sich als Hilfsmittel zur revolutionären Mobilmachung der großen Volksmasse bewähren. […] Und jetzt, wo schon der beginnende Untergang der kapitalistischen Sonne auf einem blutroten Flammenmeer den Himmel färbt, wo schon im Tale selbst das erste Nahen eines neuen Tages immer vernehmbarer wird, da ist es für die Masse der aufgeklärten Arbeiterschaft an der Zeit, sich dessen bewußt zu werden, daß sie in den fünf Jahrzehnten mündig, stark und reif geworden ist. Kraft und Mündigkeit verpflichtet aber zu einer Politik, die an Kühnheit, Weitblick und Größe jener würdig wäre, aus der vor einem halben Jahrhundert der Allgemeine deutsche Arbeiterverein hervorgegangen ist.
Der Tod August Bebels war ein Schock für die Partei, der „Volksbote“ schrieb würdigend: Ein Riesenheer von geschulten Klassenkämpfern hat er schaffen helfen, das durchdrungen ist von seinen Lehren: daß die politischen und wirtschaftlichen Kämpfe der Gegenwart Machtkämpfe sind und daß sie nur dann siegreich durchgeführt werden können, wenn die Proletariermassen sich geschlossen um die Fahne des Sozialismus scharen. […] Und wenn der Tag einst gekommen sein wird, wo die Proletarier aller Länder ausholen werden, um der bürgerlichen Klassengesellschaft den Todesstoß zu versetzen, dann werden sie ihres unvergeßlichen Bebel gedenken, der ihnen nicht nur kämpfen, sondern auch siegen gelernt [!] hat. (Volksbote Nr. 190, 15. 8. 1913: 1 f.)
Dass Bebel nicht ersetzt werden könne, war der Zeitung klar, die Partei selbst müsse ihn beerben:
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Die Partei ist keine monarchische, sondern eine demokratische Organisation. Wenn der Eine aus dem Leben geht, der von ihren Anfängen bis in die letzten Tage ihr einflußreichster Ratgeber gewesen ist, so kann die Partei wohl die Aemter besetzen, die durch seinen Tod erledigt sind, nicht aber die Stellung erneuen, die ein persönlich Erworbenes war, und mit der Persönlichkeit verschwindet. Die Sozialdemokratie hat keinen Führer mehr und wird keinen Führer mehr haben in dem Sinne, in dem Bebel ihr Führer gewesen ist. In die Arbeit, die dieser Eine getan hat, werden sich viele, alle teilen müssen. […] Bebels Tod ist für die Arbeiter ein ungeheurer Verlust. Aber niemals wird er ein Gewinn für ihre Feinde sein, die zu Lebzeiten des Führers auch seine schlimmsten Widersacher gewesen sind! (Volksbote Nr. 192, 17. 8. 1913: 1)
In Stettin und im Wahlkreis Randow-Greifenhagen fanden Gedächtnisfeiern für August Bebel statt (Volksbote Nr. 193, 19. 8. 1913: 3): „Ueber manch wetterhartes Antlitz sah man während derselben die Tränen rinnen, ein Beweis, wie schmerzhaft der Tod August Bebels in den Proletarierherzen empfunden wird.“ Genosse Schumann hielt im Bredower Schützenhaus eine Rede: In dieser Stunde, so führte Redner etwa aus, wo die politisch organisierte Arbeiterschaft Randow-Greifenhagens hier versammelt ist, stehen Tausende von klassenbewußten Proletariern an der Bahre eines großen Mannes, nehmen Millionen von Arbeiterherzen Abschied von einem Toten, der ihr politischer Führer, ihr gewissenhafter Ratgeber, ihr leuchtendes Vorbild und ihr Bannerträger im Kampfe um die Befreiung der ganzen Menschheit aus dem Joche des Kapitalismus war. In dieser Stunde werden im Züricher Krematorium die sterblichen Reste unseres verstorbenen Genossen August Bebel den Flammen übergeben… Damit verschwindet, was an diesem herrlichen Menschen vergänglich war. August Bebel bleibt aber auf ewig unser; das was er geschaffen hat, lebt in uns fort, unaustilgbar. […] Was uns aber schmerzlich stimmt, ist, daß wir den besten Führer unserer Partei verlieren. Es wäre falsch, zu glauben, die Partei ginge nun zugrunde. Die Sozialdemokratie ist eine Bewegung, die die wirtschaftlichen Verhältnisse mit Naturnotwendigkeit geschaffen haben. Sie wäre auch ohne Bebel gekommen und wird auch ohne ihn weiter vorwärts schreiten.
Genosse Hanisch „wies besonders darauf hin, daß es gerade die Parteigenossen des Kreises Randow-Greifenhagen waren, die stets die grundsätzliche Haltung Bebels in allen Parteifragen anerkannt und immer auf seiner Seite gestanden hätten“ (Volksbote Nr. 193, 19. 8. 1913: 3). Die pommersche Sozialdemokratie wurde bis zum Weltkrieg schärfer in ihrer Ablehnung der bestehenden Verhältnisse: Die Aufgaben, die die Sozialdemokratie zu erfüllen hat, sind ganz andere, als ihr von reformistischer Seite künstlich aufgezwungen werden. […] Die Bettelsuppen der Arbeiter fallen immer dürftiger aus, und deshalb dürfen wir uns nicht, wie es die Parteireformer wollen,
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
in dieser ungastlichen Gesellschaft häuslich niederlassen, sondern müssen mit aller Macht danach streben, möglichst schnell aus dem Hause hinauszukommen. Die Arbeiterschaft kann sich darin nicht wohl fühlen und fühlt sich ja auch nicht. Wir wollen deshalb dieses Unbehagen nicht unterdrücken, sondern wollen es zur hellen Empörung entfachen. (Volksbote Nr. 215, 13. 9. 1913: 1)
Zum Parteitag in Jena hieß es kritisch (zur Frage des Massenstreiks): „Anscheinend ist dem Parteivorstand noch die bessere Einsicht gekommen, daß die Verhältnisse auch ohne sein Zutun dahin drängen, in Zukunft schärfere Waffen im Klassenkampfe anzuwenden“ (Volksbote Nr. 223, 23. 9. 1913: 1). Julian Borchardt wurde dahingehend zitiert, dass die Sozialisierung kommen werde, die „Enteignung [werde – H. B.] sich als politische Notwendigkeit von selbst ergeben“ (Beil. zu Volksbote Nr. 78, 2. 4. 1914: 1). Das Parlament sei wichtig, „aber wir dürfen auch nie vergessen, daß der bürgerliche Parlamentarismus nimmermehr über seinen Schatten springen kann. Die wachsende Macht des Reichstags gegenüber der Regierung ist eine Augentäuschung, wenn darunter eine neue Etappe des proletarischen Emanzipationskampfes verstanden werden soll“ (Volksbote Nr. 99, 29. 4. 1914: 1). Notwendig sei die politische Aktion der Arbeiter, insbesondere der Streik: Heute werden die beiden Hauptparolen der Maifeier: der Achtstundentag und der Völkerfrieden mit jedem Tage dringender und lebendiger, angesichts des immer unerträglicheren Drucks der Ausbeutung wie der wilden Orgien des Militarismus. […] Was ist unsere besondere Aufgabe in der gegenwärtigen Situation? Es ist die Erkenntnis, daß nur proletarische Massenaktionen in ihrer ganzen Wucht und Macht im Stande sind, unsere parlamentarische Aktion fernerhin zu stützen und zu erweitern. Daß in großen entscheidenden Momenten des parlamentarischen wie des gewerkschaftlichen Kampfes, der inneren wie der internationalen Politik nur der höchste Druck jener Massenaktionen, die Arbeitsruhe, im Stande ist, der proletarischen Sache zum Siege zu verhelfen. (Volksbote Nr. 101, 1. 5. 1914: 1)
Allerdings stieß die Agitation des „Volksboten“ an Grenzen. In ganz Deutschland sei der 1. Mai 1914 nicht so erfolgreich gewesen wie erhofft, da viele Proletarier lieber abwarten würden: Wenn man die Nachrichten aus dem Reiche durchsieht, findet man ja ganz respektable Beteiligungsziffern aufgeführt. Sie weisen aber bei weitem nicht die Teilnahme auf, die der große und erhabene Gedanke des Weltfeiertages der Arbeit überall hätte auslösen müssen. […] Mit dem immer stärkeren Zurückweichen beweisen die Arbeiter, daß sie sich auch heute noch angesichts ihrer mächtigen wirtschaftlichen und politischen Organisationen und ihres geistigen Aufstiegs dem Unternehmertum gegenüber nicht als Fordernde, sondern mehr als Abwartende sehen. Damit geben sie den Scharfmachern Wasser auf ihre Mühlen. (Volksbote Nr. 102, 3. 5. 1914: 1)
Die Partei zwischen Dresdner Parteitag (1903) und Kriegsausbruch
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Aufgabe der Partei sei nicht die Schaffung von Staatsmonopolen des gegenwärtigen Staates, sondern dessen Umwandlung in eine Herrschaft des Proletariats. Erst diese werde die Arbeit umwälzen: Scheidet nun die Verstaatlichung aus dem Gegenwartsprogramm der Sozialdemokratie aus, geht ihr dann nicht etwas Wesentliches, gerade das Sozialistische, verloren? Nein, denn das Wesentliche des Sozialismus ist der Klassenkampf, die Eroberung der Herrschaft durch das Proletariat, die die Aufhebung der Ausbeutung bringen wird. Kapital und Arbeiterklasse stehen einander als die beiden großen Organisationsmächte gegenüber, die um die Beherrschung der Produktion miteinander ringen. Der Staat kann uns dabei kein Helfer sein, auch nicht in formeller Hinsicht; er steht auf der andern Seite. Der Kampf gegen ihn und gegen das monopolistische Großkapital der Kartelle und Trusts ist ein einziger Kampf, der gegen sie zusammen mit der Waffe der proletarischen Organisation geführt werden muß. Erst die Niederwerfung dieser politischen und wirtschaftlichen Kapitalorganisation wird die Möglichkeit eröffnen, eine Organisation der Arbeit im sozialistischen Sinne durchzuführen. (Beil. zu Volksbote Nr. 133, 11. 6. 1914: 1)
V.4.1
Sozialistische Zukunft
Marx und Engels sahen in der stürmischen kapitalistischen Entwicklung die Geburtswehen einer neuen Zeit. In naher Zukunft würde durch das Proletariat das Privateigentum an den Produktionsmitteln überwunden werden. Unter dem Eindruck des noch gültigen Sozialistengesetzes formulierte der „Volksbote“ 1889 noch vorsichtig die Gesetzmäßigkeit der politisch-ökonomischen Entwicklung: Und die soziale Revolution sehen wir jeden Tag vor unseren Augen in unblutigster Weise sich vollziehen, jeden Tag sehen wir die gesellschaftlichen Verhältnisse sich verändern, jeder Tag stürzt Altes und schafft Neues. Die Konstruktion der Gesellschaft befindet sich in beständiger Veränderung und Umbildung. […] Was Personen hier thun können, ist einfach auf Grund der gewonnenen Erkenntnis der sozialrevolutionären Richtung des gesellschaftlichen Gestaltungsprozesses die gegebenen Schlüsse zu ziehen und da sagen allerdings die Sozialdemokraten, diese sozialrevolutionäre Richtung führe zu einem neuen, vom gegenwärtigen verschiedenen, aber vollkommenen Gesellschaftszustand. Wenn man will, ist mit diesen wenigen Worten Ursprung, Wesen und Ziel des Sozialismus erklärt; ob man dies annehmen will oder nicht – fest steht, daß diese Anschauung eine rein wissenschaftliche ist. (Volksbote Nr. 96, 12. 12. 1889: 2)
August Bebel hatte 1893 im Reichstag den Anspruch und die Zuversicht der deutschen Sozialdemokratie klar formuliert: „Die Zukunft gehört uns und nur uns“ (Der sozialdemo kratische Zukunftsstaat 1893: 21). Eine gewaltsame Änderung der Verhältnisse erschien nicht notwendig, weil der Kapitalismus selbst seiner Abschaffung entgegenarbeite. Für
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
den „Volksboten“ bedeutete das, die Organisation der Arbeiter zu stärken, um dann im geschichtlichen Moment den Neuaufbau anzugehen: So bereitet der Kapitalismus in seiner Entwickelung selbst seinen Zusammenbruch vor und arbeitet ununterbrochen an dem unausbleiblichen Umsturz der bestehenden Verhältnisse. So braucht die Sozialdemokratie gar nichts umzustürzen. Sie hat einzig die Aufgabe, ihre Anhänger zu sammeln, aufzuklären und zu organisiren, damit sie in der Lage seien, am Tage des allgemeinen Zusammenbruchs der kapitalistischen Gesellschaftsordnung mit starker Hand ein neues gesellschaftliche Gebäude aufzubauen. (Volksbote Nr. 95, 23. 4. 1896: 1)
Philosophische Grundlage der deutschen Arbeiterbewegung war damals der Materialismus, also die Vorstellung, „daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln“ (Marx 2004 [1857]: 2.901). Der geschichtliche Fortschritt von Gesellschaftsform zu Gesellschaftsform führe in den Sozialismus, der nur einzusehen sei: Unter dem Gesichtswinkel der materialistischen Geschichtsauffassung betrachtet, steht der endgiltige Sieg der Sozialdemokratie außer allem Zweifel. Derselbe ist auf zwei Wegen möglich. Entweder bleibt die bürgerliche Gesellschaft in ihrer blindwüthigen Profitsucht starrköpfig verbohrt gegen jede neu gefundene Wahrheit, dann schafft sie die Machtmittel selbst herbei, die Ueberlegenheit der Sozialdemokratie zu vollenden, oder sie macht sich die gefundene Wahrheit zu eigen und hilft mit, allen Menschen einen behaglichen Wohlstand zu begründen, anstatt die Masse in bitterster Armuth darben zu lassen, während eine kleine Minderheit in allen raffinirten Genüssen des Luxus und Ueberflusses zu schwelgen vermag. Dabei mag sich die bürgerliche Gesellschaft sträuben wie sie will, sie wird wider Willen in die sozialistische Denk- und Auffassungsweise hineingedrängt. So mächtig wirkt der Impuls der materialistischen Geschichtsauffassung. (Volksbote Nr. 164, 16. 7. 1896: 2)
Die Uneinsichtigkeit in diesen vorgezeichneten Weg sei nur pathologisch zu erklären: Wenn auch ein paar halb verrückte Gewerkvereinler und Buchdrucker aus Liebedienerei gegen ihre kapitalistischen Bedrücker die Sozialdemokratie und ihre Vorkämpfer schmähen und verlästern, der Tag, an welchem die hohen Ideale des Sozialismus über Unverstand und Bosheit triumphiren, kommt doch, weil er kommen muß, denn alle Umstände arbeiten darauf hin. Unser die Welt, trotz alledem! (Volksbote Nr. 178, 1. 8. 1896: 1 f.) Weder Junker noch Pfaff, weder liberaler noch demokratischer Bourgeois, weder Zünftler noch Antisemit können in der ernsthaften Hoffnung leben, diese zahlreiche und thatkräftige Arbeiterklasse jemals ihren Interessen dienstbar zu machen. Denn die Zeiten, da das Volk
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ehrfürchtig zu den herrschenden Klassen aufsah und sein Joch als eine Fügung der Vorsehung geduldig auf sich nahm, sind vorüber auf immer. Wir sind in eine neue historische Zeit eingetreten, seitdem das Klassenbewußtsein der Arbeiter geweckt worden ist. Dies letztere ist die große That der Sozialdemokratie. Klassenbewußte Arbeiter bekämpfen Feudalismus und Kapitalismus gleichermaßen; sie suchen ihre Selbstbefreiung nur im Sozialismus. (Volksbote Nr. 187, 12. 8. 1896: 2)
Einen gewaltsamen Umsturz lehnte der „Volksbote“ (und mit ihm die Partei) ab. Die Umgestaltung zur Planwirtschaft, die die Bedürfnisse der Menschen befriedige, erfordere einen kühlen Kopf: Wir Sozialdemokraten sind Revolutionäre. Wir wollen eine gründliche Umwälzung im Fundament der Gesellschaft. Aus dem Sumpfe des Kapitalismus, in welchem die leibliche, geistige und sittliche Wohlfahrt von Millionen Menschen verkommt, wollen wir die Gesellschaft herausziehen und sie auf dem gesunden Fundamente des Sozialismus aufbauen. Das ist eine gewaltsame Aufgabe, zu deren Lösung Jahrzehnte, vielleicht sogar viele Jahrzehnte nothwendig sind. Aber Unordnung, Ungesetzlichkeit, wüste Wirthschaft braucht es dabei nicht zu geben. Im Gegentheil, mit je strengerer Gesetzlichkeit sich die Umwälzung vollzieht, um so sicherer ist ihr Erfolg, um so schneller stellt sich derselbe ein. Die Ersetzung der heutigen planlosen Verworrenheit in der Erzeugung der Lebensgüter, wie in ihrer Vertheilung unter ihre Erzeuger durch eine von den Bedürfnissen der Gesellschaft diktirte Ordnung erfordert begreiflicherweise die weiseste und vernünftigste Geltendmachung aller Intelligenz. […] Aus einem „Umsturz“, von welchem selbst die Freisinnigen reden, würde nie und nimmer die sozialistische Gesellschaft, sondern nur der, wenigstens zeitweilige, Ruin der Gesellschaft hervorgehen. (Volksbote Nr. 192, 18. 8. 1896: 1)
Über das Kommunistische Manifest, die Gründungsurkunde der sozialistischen Arbeiterbewegung, hieß es ehrfurchtsvoll und im Vertrauen auf seine weitere Gültigkeit: War die bürgerliche Revolution dieser Tage gleich einem Feuer von Stroh und dürrem Holz, das unter starker Rauchentwicklung jäh aufflackerte und aufprasselte, aber ebenso schnell wieder in sich zusammensank, so glich dieses Dokument der proletarischen Revolution einem Leuchtfeuer, das ruhig und sicher in einer Höhe aufflammte, um heute noch der kämpfenden Arbeiterklasse in allen Stürmen den Weg zu weisen. Für uns Sozialdemokraten ist um dieser paar klassischen Seiten von Marx und Engels das Jahr 1848 zum mindesten ebenso wichtig, wie um der Schüsse willen, die in ihm die Soldaten der bürgerlichen Revolution und die der feudalen Reaktion miteinander wechselten, ganz zu schweigen von den dicken Bänden, zusammengeschwätzt von den Hirn- und marklosen Helden der Frankfurter Paulskirche, der preußischen Nationalversammlung und sonstiger Brutstätten des parlamentarischen Kretinismus! […] Mögen Splitterrichter und Stäubchensieber an dieses große Werk mit kleinem Blick herantreten, dafür werden die Leitsätze des
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
ommunistischen Manifestes noch heute auf Schritt und Tritt von dem einzigen „orthoK doxen Marxisten“ bestätigt, den es wirklich gibt: nämlich aus der Entwicklung der Gesellschaft selbst! (Volksbote Nr. 35, 11. 2. 1908: 1)
Über seinen Verfasser Karl Marx schrieb das Stettiner Blatt zum 25. Todestag ehrerbietig: Man kann Marx hassen oder lieben, verwerfen oder verherrlichen, aber man kann ihn nicht mehr aus der Welt hinwegdenken, deren Geschichte er durch sein Gedankenwerk angehört. An den Stammen der Menschheit sind die Zeichen seines Geistes eingegraben – furchtbar geheimnisvolle Runen für die einen, für die andern aber, die ungeheure Masse, freundlich sichere Wegweiser, die zur Höhe hinaufführen. (Volksbote Nr. 62, 13. 3. 1908: 1)
Im Leitartikel „Die Vergesellschaftung der Arbeit“ forderte der „Volksbote“ bessere Arbeitsbedingungen und die gerechte Verteilung der Produkte der Arbeit: Der Nachweis, daß heute für Millionen und Abermillionen die Arbeit eine Last und Qual und ein unerträglicher Zwang ist, daß also der „Zuchthausstaat“ mit all seinen Schrecken in der Gegenwart besteht, ist leicht zu führen. […] Also nicht darauf kommt es an, ob wir die Vergesellschaftung der Arbeit wollen oder nicht, sondern darauf, daß wir diesen Vorgang klar erkennen, und wie wir uns ihm gegenüber einzurichten haben, insbesondere inbezug auf die Verteilung der durch die verbesserten Arbeitsmethoden geschaffenen Werte, von denen der Arbeiter zur Zeit trotz seiner schweren Plage erst einen jammervoll geringen Bruchteil erhält. (Volksbote Nr. 138, 16. 6. 1908: 1)
Im Wahlkampf für den Reichstag 1912 wurde das Fernziel des Gemeinschaftseigentums benannt: Das Ziel der Sozialdemokratie ist die Beseitigung der kapitalistischen Lohnknechtschaft, die Verwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in eine sozialistische, die jedem Arbeitenden ein menschenwürdiges Dasein sichert. Herrschaft des Volkes in Reich, Staat und Gemeinde, Herrschaft von Reich, Staat und Gemeinde über das gesamte Wirtschaftsleben; also Wirtschaftspolitik durch das Volk für das Volk… […] Die Sozialdemokratie bekämpft alle Vorrechte der besitzenden Klassen, sie sucht den Einfluß der öffentlichen Gewalt auf den Wirtschaftsprozeß ständig im Interesse der besitzlosen Klassen zu erweitern und erstrebt letzten Endes die Ueberführung aller Produktionsmittel aus dem Privateigentum in das öffentliche Eigentum. (Volksbote Nr. 283, 3. 12. 1911: 1)
Die durch Wahlen errungene Macht der Arbeiterklasse führe zum Sozialismus – hier lässt sich aber eine gewisse Relativierung der Gesetzmäßigkeit erkennen, nötig sei praktisches Engagement:
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Von dem Augenblick der Eroberung der politischen Macht durch die Sozialdemokratie an schlägt die Entwicklung eine neue Richtung ein, zum sozialistischen Zukunftsstaat hin. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 289, 10. 12. 1911: 1) Der Sozialismus wird nicht kommen, weil die gesellschaftliche Produktion viel vernünftiger ist, als eine private, sondern weil die Arbeiterklasse sie notwendig durchführen muß, sobald sie die politische Herrschaft erobert hat. Unsere Aufgabe als Partei ist daher nicht, die Menschen zu der theoretischen Einsicht der Vorzüglichkeit der sozialistischen Wirtschaftsordnung zu bringen. Unsere Aufgabe ist, die Arbeiterklasse mächtig im Klassenkampfe zu machen, damit sie möglichst rasch die Herrschaft erobern kann. (2. Beil. zu Volksbote Nr. 64, 16. 3. 1912: 1)
Verheißungsvoll für die unter hoher zeitlicher und körperlicher Belastung leidenden Arbeiter war die Vorhersage, dass die „Aufhebung des Gegensatzes z wischen Kapital und Arbeit“ (Volksbote Nr. 65, 17. 3. 1912: 1) auch dazu führe, dass durch die Steigerung der Produktivität auch die Erschöpfung sinke: Kein bleibender Gewinn für die Menschheit steckt darin, daß die Feder der menschlichen Spannkraft durch die maßlose Profitgier des Kapitals bis zur äußersten Grenze belastet wird, die sie ja noch erträgt, ohne zugrunde zu gehen. Der Sozialismus, der die Produktivität der Arbeit über das heutige Maß enorm steigern wird, wird zugleich die arbeitende Menschheit von dieser unerträglichen Ueberlastung dieser Kraft befreien. Für das Proletariat wird er nicht nur das Zeitalter des Ueberflusses, nach den Jahrhunderten des Elends, sondern auch das Zeitalter der Ruhe nach dem Jahrhundert der Abrackerung sein. (Volksbote Nr. 167, 20. 7. 1912: 1)
Die klassische liberale ökonomische Theorie des Marktes indes habe abgewirtschaftet: Der Sozialismus will nicht unabhängige Privatbetriebe voneinander abhängig machen, als Teile eines Ganzen. Denn auch jetzt sind sie von der Gesamtheit abhängig. Er will die gegenseitige Abhängigkeit aus einer unbewußten zu einer bewußten machen. Statt durch ein blindes ökonomisches Gesetz, das sich als eine geheimnisvolle höhere Macht durchsetzt,6 gegen 6 Der schottische Ökonom Adam Smith hatte 1776 u. a. geschrieben: „Jeder einzelne ist stets darauf bedacht, die vorteilhafteste Anlage für das Kapital, über das er zu gebieten hat, ausfindig zu machen. Er hat allerdings nur seinen eignen Vorteil und nicht den des Volkes im Auge; aber gerade die Bedachtnahme auf seinen eignen Vorteil führt ganz von selbst dazu, daß er diejenige Anlage bevorzugt, w elche zugleich für die Gesellschaft die vorteilhafteste ist“ (Smith 1906: 227). „Allerdings beabsichtigt er in der Regel weder, das allgemeine Wohl zu fördern, noch weiß er, in welchem Maß er es befördert. Wenn er dem heimischen Gewerbfleiß vor dem fremden den Vorzug gibt, so hat er nur seine eigene Sicherheit vor Augen, und wenn er diesen Gewerbfleiß so lenkt, daß sein Produkt den größten Wert erhält, so bezweckt er lediglich seinen eignen Gewinn und wird in diesem wie in vielen anderen Fällen
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
die die Menschen machtlos sind, wird dann die Einheit der gesellschaftlichen Produktion durch eine bewußte Regelung hergestellt. Die liberale Freiheit, d. h. das blinde Wirken des ökonomischen Gesetzes, wird unmöglich von dem Augenblick an, wo die proletarische Volksmasse, für die diese Freiheit nur Freiheit des Hungerns bedeutet, das Gesetz erkennt, ihm seinen unbekannten, geheimnisvollen Charakter abstreift, und seiner verheerenden Macht durch den Aufbau der Organisation der arbeitenden Menschheit ein Ende bereitet. Gegen diese Gefahr greift die alternde bürgerliche Gesellschaft zu den Abhängigkeitsformen und dem Autoritätsglauben des feudalen Mittelalters zurück, ohne dabei jedoch den Arbeitern eine entsprechende Sicherung gegen seine moderne Lebensnot zu bieten. Mit der Praxis dieser Reaktion wird das Proletariat durch rücksichtslosen Kampf schon fertig werden. Wo sie sich aber als Th eorie breitmacht, kann es dafür nur Spott und Hohn übrig haben. (Volksbote Nr. 186, 11. 8. 1912: 1)
Der Leitartikel „Der Kapitalismus als Revolutionär“ (Volksbote Nr. 193, 20. 8. 1912: 1) verwendet zwei Argumente: Die Tendenz zur Monopolbildung arbeite dem Sozialismus zu, ebenso die Eintönigkeit der Maschinenbedienung: An zwei Erscheinungen tritt es besonders klar zutage, wie revolutionierend die kapitalis tische Entwicklung wirkt, wie sie selbst die Vorbedingungen schaffte, die die Ersetzung des Kapitalismus durch den Sozialismus, also den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung im Interesse der Menschheit selbst unvermeidlich machen. Die eine dieser kapitalistischen Entwicklungstendenzen drängt auf die Zusammenballung der Einzelbetriebe zu großen Industrieverbänden, Kartellen und Trusts hin, die schließlich in einem einheitlich geleiteten Riesenbetrieb mit einheitlicher Preissetzung einmünden müssen. Die andere Entwicklungstendenz ist die Differenzierung der Arbeit bis zur Einschulung des Arbeiters auf einen einzelnen immerwährend wiederholten Handgriff, wodurch der Arbeiter zu einem bloßen Maschinenbestandteil gemacht wird. […] Wird aber erst der Sozialismus an Stelle des Kapitalismus treten, gehen alle Betriebe, große wie kleine, in den Besitz der Gesamtheit über, dann wird das gesteigerte Individualinteresse aller Betriebsmitglieder, die gleichzeitig als Gesellschaftsmitglieder auch Nutznießer des Betriebsergebnisses sind, den Einfluß der Konkurrenz als Fortschrittsfaktor ersetzen. […] Ein Mensch, der Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr nur einen einzelnen Handgriff, und zwar unter steter gespannter Aufmerksamkeit zu verrichten hat, muß notwendigerweise schließlich verblöden. Er hört allmählich auf, ein denkender Mensch zu sein und
von einer unsichtbaren Hand geleitet, einen Zweck zu befördern, der ihm keineswegs vorschwebte. Das Volk hat davon keinen Schaden, daß jenes seine Absicht nicht war. Oft fördert er durch die Verfolgung seines eignen Interesses das der Gesellschaft weit wirksamer, als wenn er es zu befördern wirklich beabsichtigte. Ich habe niemals gesehen, daß Leute, die zum allgemeinen Besten Handel zu treiben vorgaben, viel Gutes ausgerichtet hätten“ (Smith 1906: 230).
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wird zu einem Maschinenbestandteil. […] Also unsere geschätzten Widersacher können auch hieraus die Lehre gewinnen, daß es die Verhältnisse sind, die revolutionierend wirken, daß der Kapitalismus selbst durch seine eigenen Entwickelungstendenzen über sich selbst hinausgetrieben wird, so daß er schließlich mit Naturnotwendigkeit in den Sozialismus ausmünden muß. Wir Sozialisten erläutern nur diesen Prozeß und suchen ihn durch bewußtes und planmäßiges Eingreifen zu einem schleunigen und gedeihlichen Ende zu bringen.
Die Sprache, mit der die sozialistische Zukunft beschrieben wird, ist voll Hoffnung und Begeisterung. Die Geschichte vollende sich in allgemeinem Glück: Alte Menschen so gut wie alte Klassen lieben das Zurückschauen; die Zukunft bietet ihnen wenig mehr und ihre Gedanken weilen meist bei den großen Taten, die sie früher vollbrachten. Ganz anders die Arbeiterklasse; sie ist voll Jugendkraft und hat die ganze Zukunft vor sich. Die Vergangenheit ist ihr wie eine finstere Nacht der tiefsten Erniedrigung, des furchtbaren Elends, der hoffnungslosen Versklavung, und nur am Schluß die aufdämmernde Hoffnung, die ersten Anfänge einer Dämmerung, die Anfänge seines Freiheitskampfes und seines Emporsteigens. Mit Abscheu wendet sich der Blick des Arbeiters von jener Zeit hinter ihm; vor ihm liegt seine Welt, nur vorwärts blickt er, in die Zukunft, die sein Glück, seine Befreiung, seinen Sieg in ihrem Schoße birgt. […] Erstens müssen die materiellen Mittel da sein, die hochentwickelten Bedürfnisse zu befriedigen; sie beruhen auf der Entwicklung von Naturerkenntnis und Technik. Zweitens müssen die Menschen einen festen geschlossenen Zusammenhang gewonnen haben, der jeden einzelnen dem Ganzen ein bewußtes Glied einordnet und damit erst eine Menschheit als einen Organismus mit eigenem Willen und eignem Handeln schafft. […] Mit Grauen denkt die bürgerliche Klasse an die künftige Revolution, die sie sich als einen blutigen Krawall, als einen furchtbaren Zusammenbruch aller Ordnung denkt. Sie weiß nicht, daß das, was sie unter dem Namen des Zusammenbruchs des Kapitalismus erschreckt, nichts anderes ist, als der Werdeprozeß der Organisation der Menschheit. (Volksbote Nr. 303, 29. 12. 1912: 1) Eine neue Kultur steigt aus der Entwicklung der kapitalistischen Welt empor, so erhaben, so großartig und gewaltig, so entzückend und blendend, daß alles, was die Welt bisher als höchste Kultur bewunderte und pries, gegen sie als primitive und barbarische Roheit erscheint. Sie ist der Ausdruck der neuen, sich entwickelnden Produktionsweise, die zum erstenmal die ganze Menschheit zu einer einheitlichen, solidarischen Gemeinschaft zusammenfassen wird und sie durch die Macht des Geistes über die Natur und die Macht des Gemeinsamkeitsgefühls über ihr eigenes Handeln zur Meisterin über ihr eigenes Schicksal macht. Gegen diesen Sozialismus wird die ganze bisherige Geschichte der Menschheit mit ihrer Not und ihrem Elend, mit ihrem Hunger und ihrem Kampf des Menschen gegen den Menschen, mit ihrer Klassentrennung und ihrer Ausbeutung zu einem Zustand der rohesten Barbarei, zu einem menschenunwürdigen tierischen Dasein. (Volksbote Nr. 109, 11. 5. 1913: 1)
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
Bürgerliche Kritik an Th eorie und Praxis sei nicht stichhaltig, da sie in überlebten Mustern stecke: Wie schwer diejenigen, deren Geist noch völlig im alten bürgerlichen Denken befangen ist, zum richtigen Verständnis des Marxismus kommen, zeigt sich am besten in der Behauptung, die marxistische Th eorie und die sich auf sie stützende sozialistische Praxis stehen in grellem Widerspruch zu einander. Bekannt ist die von bürgerlichen Professoren als „Widerlegung“ des Marxismus immer wieder neu aufgetischte Beweisführung, Marx selbst habe an den von ihm behaupteten „naturnotwendigen“ Untergang des Kapitalismus nicht geglaubt, sonst hätte er nicht seinen praktischen Aufruf an die Proletarier aller Länder gerichtet. Was naturnotwendig geschehen muß, danach braucht man doch nicht noch besonders zu streben. Daß die Sozialdemokratie so fieberhaft tätig ist, die Arbeiter zum Kampfe gegen den Kapitalismus zu organisieren, beweist, daß sie an einen „naturnotwendigen“ Zusammenbruch des Kapitalismus nicht glaubt, also in Wirklichkeit gar nicht auf marxistischem Boden steht. Der Fehler dieser schönen Beweisführung liegt darin, daß diejenigen, für die die „Willensfreiheit“ das unerschütterliche Axiom ihres Denkens ist, sich keine andere Notwendigkeit vorstellen können, als eine s olche, die außerhalb des Menschen liegt und als äußerer Zwang auf ihn wirkt. Gerade darin aber besteht die Umwälzung der Wissenschaft durch den Marxismus, daß er die Notwendigkeit im menschlichen Handeln festgestellt hat. Das Denken, Wollen und Handeln der Menschen wird durch die Lebensverhältnisse, durch ihre wirtschaftlichen Bedürfnisse und ihre Klassenlage bestimmt. Der Marxismus sagt daher: die Menschen werden d ieses oder jenes wollen, und deshalb wird es notwendig geschehen; die Proletarier werden unter der Wirkung ihrer Ausbeutung den Kampf gegen den Kapitalismus so lange führen, bis er beseitigt ist, und darin liegt die Naturnotwendigkeit des Sozialismus. (Volksbote Nr. 168, 20. 7. 1913: 1)
Die wirtschaftlichen und politischen Krisen hingegen seien letztlich nützlich: In dem Kapitalismus steht das großartig gestiegene Produktionsvermögen der Menschheit im Widerspruch zu der alten Eigentumsform. Da die Produktivkräfte nicht aufzuheben und zu vernichten sind, besteht die einzig mögliche Lösung des Widerspruchs darin, daß ihre Fessel, das Privateigentum, gesprengt wird. Damit tritt der Sozialismus an die Stelle des Kapitalismus. So bieten die Krisen, weil sie das innere Wesen des Kapitalismus aufdecken, die vorzüglichste theoretische Begründung der Notwendigkeit des Sozialismus. […] Der Wechsel von Prosperität und Krise bringt eine allgemeine Unsicherheit mit sich: jeder muß damit rechnen, daß er heute plötzlich die beste Arbeitsgelegenheit hat und in einem Jahre mit zahllosen Kollegen monatelang arbeitslos herumwandern muß. Die Krise rüttelt sie auf und läßt kein Gefühl der Ruhe und Sicherheit aufkommen: der Wechsel der Konjunktur treibt den Geist zum Nachdenken und revolutioniert die Köpfe. So tragen gerade die Krisen in hohem Maße dazu bei, die Arbeiterbewegung revolutionär zu machen und revolutionär zu erhalten. Darin liegt ihre große Bedeutung für die Praxis des Sozialismus. (Volksbote Nr. 174, 27. 7. 1913: 1)
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Wie konkret die Organisation und Verteilung der gesellschaftlichen Produktion geschehen soll, schrieb der „Volksbote“ nicht. Der Sozialismus gehe über die Befriedigung der Bedürfnisse durch die Planwirtschaft hinaus und befreie die gesamte Menschheit, weil bei höchst gesteigerter Planmäßigkeit, d. h. wenn die ganze Menschheit planmäßig Hand in Hand arbeitet, die Menge der Produkte so riesenhaft anwachsen muß, daß auch die ausschweifendsten Bedürfnisse befriedigt werden können. Erst, wenn das der Fall ist, kann das Reich der persönlichen Freiheit beginnen, kann jeder tun und genießen, was ihm beliebt, kann jeder seine Persönlichkeit, seine Besonderheiten zu seinem eigenen Glück und zum besten der Menschheit frei ausreifen und entwickeln lassen. (Volksbote Nr. 176, 30. 7. 1913: 1)
Głowacki und Dziechciaruk (1988) sehen in der pommerschen Sozialdemokratie vor dem Weltkrieg linksradikale Tendenzen. Ihrer Schlussfolgerung aber, die SPD in Pommern habe eine Diktatur des Proletariats angestrebt (74), kann nicht zugestimmt werden – das ist eine marxistisch-leninistische Teleologie. Włodarczyk (2005: 37) sieht Radikalismus nur im Jahr vor dem Kriegsausbruch 1914 voll ausgeprägt. Tatsächlich wurde es im „Volksboten“ visionär, so hieß es in Nr. 130 (7. 6. 1914: 1): Tritt aber auch das Gebot der Notwendigkeit als Gebot des Herren auf, so ist deshalb nicht jedes Gebot des Herren ein Gebot der Notwendigkeit. Nicht bloß, weil Laune und Willkür sie oft bestimmen, sondern erstens, weil der Herr zugleich Ausbeuter ist, und seine Gebote durch Notwendigkeiten der Ausbeutung bestimmt werden, die keinem Bedürfnis der Gesamtgesellschaft entsprechen, sondern für die Ausgebeuteten nur Nachteil und Druck bedeuten; Befreiung von der Arbeit Härte, freie Zeit und Spiel, Entwicklung des Geistes, der Kultur und des Wissens wird alles auf der einen Seite, bei den Ausbeutern monopolisiert – für die Massen vereinigen sich die Unterdrückung und die Ausbeutung zu einer doppelten Sklaverei, als direkte Lebensnot und als Zwangsgewalt von oben. Und zweitens wird jede Klassenherrschaft durch die Entwicklung der Wirtschaft überholt und dann, jeder Notwendigkeit bar, als reine Unvernunft doppelt schwer gefühlt, bis sie gestürzt wird. Mögen nun aus den Massen im Laufe der Entwicklung immer neue Schichten nach oben drängen; sich der Herrschaft bemächtigen und die Wirtschaftsordnung zu einer neuen Stufe weiterentwickeln: der grundlegende Gegensatz zwischen ausbeutenden Herrschern und ausgebeuteten Massen bleibt jedesmal bestehen und wird unter dem Kapitalismus sogar zur höchsten Schärfe ausgeprägt. Aber damit ist auch das Ende nahe; die materielle Notwendigkeit d ieses Herrschaftsverhältnisses – die ungenügende Produktivität der Arbeit – verschwindet immer mehr. Allerdings, je mehr die Zeit reif wird zur Umwälzung, je unhaltbarer die heutige Klassenherrschaft wird, je ungestümer der Freiheitsdrang von unten wird, um so schwerer wird der Druck von oben gemacht, in der trügerischen Hoffnung, damit die Revolution verhindern zu können. So kommt gerade in der Zeit des Ueberganges noch ein künstlicher Druck zu der überlieferten Klassenherrschaft hinzu. Die materiellen Vorbedingungen zur
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
Weltorganisation der Menschheit sind schon vorhanden. Technik und Weltverkehr sind so hoch entwickelt, daß nur eine weltumfassende Wirtschaftseinheit ihnen genügen kann. Dann können sie den Menschen eine allseitige Befriedigung ihrer weitesten Lebensbedürfnisse sichern. Aber es fehlt noch an der geistigen Organisation. Solange die arbeitenden Massen noch nicht eins sind im klaren Denken und Wollen, noch isoliert und zersplittert sind, die große Menschengemeinschaft noch nicht sehen, die im Werden begriffen ist, und nur an ihr kleines Ich mit den kleinen nächsten Interessen denken, solange müssen sie noch in Knechtschaft leben. Die Organisation dieser Massen, die Vereinigung all ihrer Kräfte zum gemeinsamen Ziel, gibt ihnen erst die Kraft, die herrschende Klasse im Kampf zu besiegen. Damit wird nicht nur die Kapitalherrschaft beseitigt, sondern auch der jahrtausendelangen Herrschaft von Menschen über Menschen ein Ende bereitet.
Karl Marx selbst war skeptisch, was den Zukunftsstaat betraf. Als eine Besucherin zu Marx sagte, sie könne ihn sich „nicht in einer nivellierenden Zeit denken, da Sie durchaus aristokratische Neigungen und Gewohnheiten haben“, antwortete Marx: „Ich auch nicht. Diese Zeiten werden kommen, aber wir müssen dann fort sein“ (Kugelmann 1964: 288).
V.4.2
Revisionismusdebatte und Massenstreik
Auf Luthers Spuren (Vorwort, das dem Parteitag abspricht, den Verfasser zu einem Widerruf zu veranlassen) verteidigte Eduard Bernstein (1850 – 1932) seine Marxexegese im von der Orthodoxie heftig bekämpften Buch (Bernstein 1902 [1899]). Es ging in der Debatte um 1900 um nichts weniger als die theoretische und praktische Basis wie Zukunft der Arbeiterklasse und ihrer Gesellschaftsvorstellung. Bernstein hatte die Fortschritte der kapitalistischen Ordnung anerkannt und daraus den Schluss gezogen, dass diese durch Reformen verbessert und nicht gewaltsam abgeschafft und durch die proletarische Diktatur ersetzt werden sollte. Verfassungsmäßige Gesetzgebung gewährleiste positive sozialpolitische Arbeit, während Merkmal der Revolution die Negation sei (Bernstein 1902: 182). Mehr noch: Bernstein fand die Arbeiterklasse noch nicht entwickelt genug, um die Macht zu übernehmen (184). Die Marx-Engels-These vom Untergang des Kapitalismus treffe weder zu noch sei dieser Untergang wünschenswert. Zudem kritisierte Bernstein eine erstarrte Marxverehrung; Lassalle sei wieder zu würdigen und Marx „war schliesslich auch nur ein Mensch“: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.7 So wird aus einer Theorie, die selbst Product der praktischen Arbeiterbewegung und der Entwickelung der sie begleitenden geistigen Strömungen war, eine göttliche Offenbarung, die vollkommen war vom ersten Tage an; die in alle Ewigkeit war, ist und sein wird, wie am Anfang aller Dinge. Gibt man aber in dieser Weise den Marxismus als der Weisheit letzten Schluss aus, 7 Johannesevangelium 1, 1.
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dann schadet man dem Andenken von Marx mehr, als man ihm nützt, denn dann zwingt man die vorwärtsdrängende Erkenntnis, um ihre Berechtigung zu erweisen, polemisch gegen Marx aufzutreten. (Bernstein 1903a: 264 f.)
Diese bald Revisionismus genannte Auffassung stieß sofort auf heftigen Widerspruch. In ihrer Rezension forderte Rosa Luxemburg den Parteiausschluss des „kleinbürgerlich-demokratischen Fortschrittler[s]“ (Luxemburg 1968 [1899]: 99). Karl Kautsky, mit Bernstein Verfasser des Erfurter Programms 1891 (was den Streit so pikant machte), stellte sich ebenfalls gegen den Revisionismus. Ihn sollte später Lenin als „Kleinbürger“, „schändlichen Verräter am Sozialismus“, „Helfershelfer der konterrevolutionären Bourgeoisie“ schmähen (Lenin 1974 [1919]: 264 f ). Die Spaltung der Arbeiterklasse fand also nicht nach, sondern schon vor dem E rsten Weltkrieg statt. Die Mehrheitssozialdemokratie blieb zwar marxistisch, aber näherte sich 1914/1918 Bernstein’schen Positionen an – um den Preis der kommunistischen Sezession, die sich selbst für marxtreu hielt. Die „Einheit der Arbeiterklasse“ konnten sich beide Flügel nur noch als Sieg der eigenen Positionen vorstellen. Je nach ideologischem Standpunkt kann man Bernstein als Meilenstein der SPD auf dem Weg zur Volkspartei oder als Totengräber der Arbeiterbewegung betrachten (so westdeutsch-dogmatisch z. B. Fülberth 1971). Adorno schrieb über den real existierenden Sozialismus und dessen Legitimation zur Klassikerrezeption: „Die politische Praxis… hat mit der Th eorie von Marx und Engels so viel zu tun wie die heilige Inquisition mit der Bergpredigt“ (Adorno 2004 [1961]: 18.288). Koszyk (1966: 207) bescheinigt der Revisionismusdebatte der SPD eine Ausnahmestellung: „Niemals zuvor und s päter erreichte eine Partei die Höhe einer solchen öffentlichen demokratischen und freien Diskussion.“ Włodarczyk (2005: 36 – 38) hat die politische Haltung des Stettiner „Volksboten“ vor dem E rsten Weltkrieg beschrieben. Die Zeitung positionierte sich Włodarczyk zufolge gegen Bernstein und entwickelte sich – mit personell bedingten Ausnahmen – zu einem Blatt, das radikaler als andere den Massenstreik, der Anfang des 20. Jahrhunderts ebenfalls heftig von der SPD diskutiert wurde, befürwortete. Die gemäßigten Redakteure Hermann Faber und Ludwig Quessel wurden 1906 durch Otto Passehl und Bruno Sommer ersetzt, letzterer 1910 durch Gustav Schumann. Nach dem Lübecker Parteitag schrieb der „Volksbote“: Hatten die Genossen in früheren Jahren zu thun, damit die Partei nicht radikale Purzelbäume schlägt, so wird jetzt darum gekämpft, daß die Partei noch auf dem Boden der Wissenschaft bleibt und sich nicht in dem Kampfe um die Augenblicks-Interessen verliert. Was die diesmaligen Debatten gespannter machte, war der Umstand, daß Bernstein, an dessen Namen sich so viele Hoffnungen der Bourgeoisie knüpfen, selbst anwesend war und seine Ansichten vertheidigte. […] An Bernstein hat in der letzten Zeit die Bourgeoisie überhaupt mehr Freude gehabt als die Genossen. (Volksbote Nr. 234, 2. 10. 1901: 1)
Nach dem Münchener Parteitag 1902 hieß es: „Die Partei ist auch tolerant genug, um der Bethätigung jeder persönlichen Meinung freien Spielraum zu gewähren. Wegen
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Meinungsverschiedenheiten wird ein Ausschluß aus der Partei sicher nicht erfolgen. […] Raum für Alle hat die Partei.“ (Volksbote Nr. 223, 24. 9. 1902: 1). Wir haben uns daher auch damit begnügt, auf die Anrempelung der „Leipz. Volksztg.“ ruhig zu erwidern, daß sich unsere Kollegin mit der Annahme, der „Volksbote“ sei ein revisionistisches Kampforgan, auf dem Holzwege befindet. […] Wir sahen uns daher auch nicht genötigt, um Mißverständnisse zu vermeiden, zu betonen, daß unser Radikalismus nicht in Demut vor Bebel, Kautsky oder Mehring erstirbt. Natürlich bekämpfen wir den Revisionismus nicht mit Schimpfkanonaden, sondern mit sachlichen Argumenten. […] Als Revisionist bezog unser Redaktionsmitglied [Quessel – H. B.] die Universität Zürich, als überzeugter Marxist kehrte er zurück. Aber gerade diese Erfahrung schützt ihn auch davor, alle diejenigen Genossen, die – wie einst auch er – an der Richtigkeit der Marx’schen Theorie der sozialen Entwickelung zweifeln, nach Renegatenart als Verräter und Schurken hinzustellen. Eine Partei, die den Anspruch erhebt, auf wissenschaftlicher Grundlage zu stehen, muß es sich auch gefallen lassen, daß diese Grundlagen unaufhörlicher Kritik unterzogen werden. Gibt die Partei den Anspruch, auf dem Boden der Wissenschaft zu stehen, auf, sieht man in dem theoretischen Teil unseres Programms nicht mehr Lehrsätze der Wissenschaft, die immer neu bewiesen werden müssen, sondern unwandelbare Dogmen, die man blindlings glauben muß, dann allerdings müssen die Zweifler „fliegen“. (Volksbote Nr. 238, 12. 10. 1903: 1 f )8
Beim pommerschen SPD-Parteitag 1904 wurde heftig über die Haltung des „Volksboten“ in der Revisionismusdebatte diskutiert. Teile der Basis (Otto Passehl, Wolgast) argumentierten gegen den „taktischen Revisionismus“ vor dem Dresdner Parteitag. Die Wolgaster Genossen unterbreiteten den (nicht angenommenen) Antrag: „Der Parteitag erklärt, daß er mit der vorjährigen Haltung der Redaktion des ,Volksboten‘ zum Revisionismus und zu den Parteiwirren nach dem Dresdner Parteitag nicht einverstanden ist; die einseitige Stellungnahme für den Revisionismus und die damit zusammenhängenden Erscheinungen wird mißbilligt“ (Volksbote Nr. 206, 2. 9. 1904: 2). Fritz Herbert erwiderte:
8 Die LVZ schrieb dazu: „So sehr wir uns über diese Entwickelung freuen, so möchten wir doch dem Kollegen Quessel noch etwas mehr Lebenserfahrung und Parteipraxis wünschen, ehe er wieder in solchen halb persönlichen, halb politischen Fragen das Wort nimmt“ (zit. n. Volksbote Nr. 244, 19. 10. 1903: 1). Hinzu trat die Auseinandersetzung um Mehring, der sich in den 1870er Jahren antisozialdemokratisch geäußert hatte – und nun Chefredakteur der „Leipziger Volkszeitung“ war. So schrieb der Volksbote: „Und leider müssen wir gestehen: noch nie hat ein Mann mit einer solchen Vergangenheit eine derartige Rolle in einer Partei spielen können. […] Denn daß ein Saulus zum Paulus wird, erleben wir alle Tage; daß aber ein Mann, der heute anbetet, was er gestern verbrannt, und morgen verbrennt, was er heute angebetet, ein ehrlicher und überzeugter Parteigenosse wird, ist noch niemals vorgekommen. Eine s olche Persönlichkeit ist entweder ein Gesinnungslump oder ein moralisch kranker Mann. Wir neigen der letzteren Annahme zu“ (Volksbote Nr. 249, 24. 10. 1903: 1). Die Zeitung empfahl einen Tadel, keinen Parteiausschluss (Volksbote Nr. 250, 26. 10. 1903: 1).
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Man arbeitet dort [in Wolgast – H. B.] nach dem vortrefflichen Grundsatz: Was man sonst nicht begreifen kann, sieht man als Revisionismus an. […] Man macht sich einen Popanz zurecht und tauft ihn Revisionismus. Ich vertrete die gewerkschaftliche und genossenschaftliche Arbeit und verlange, daß man keine Gelegenheit vorbeigehen läßt, soziale Reformen zu erzielen. (Volksbote Nr. 206, 2. 8. 1904: 2)
Gegen den Vorwurf des Revisionismus verwahrte sich Redakteur Quessel, der von sich sagte, er sei kein orthodoxer Marxist und sehe Teile der Lehre als veraltet an. Aber: Indes, gerade meine Studien haben die Ueberzeugung in mir vertieft, daß die Beseitigung des Privateigentums an Produktionsmitteln, die Aufhebung der Klassengegensätze, die Vernichtung der kapitalistischen Ausbeutung das oberste Ziel, der Polarstern unseres Strebens sein müsse. Ich kann mich mit der Reformierung der bürgerlichen Gesellschaft nicht begnügen. Ich kenne kein anderes Mittel zur Erreichung unseres Endziels, als den unversöhnlichsten Klassenkampf, der indes kein Kampf mit ungesetzlichen Mitteln sein darf. In der Junkermonarchie einen Anteil an der Regierung zu erstreben, wäre nach meiner Meinung für das Proletariat ein Unglück und in den bürgerlichen parlamentarischen Republiken ein gefährliches Experiment, zu dem man sich nur in Zeiten allerhöchster Not verleiten lassen darf. (Volksbote Nr. 206, 2. 9. 1904: 2)
Die innerparteilichen Querelen setzten sich fort, Wolgast (Passehl) und Stettin (Herbert) warfen einander gereizte Stimmung und falschen Ton sowie Einmischung in die Wahlvereine vor (Volksbote Nr. 237, 8. 10. 1904, Beil.: 2 und 3). Die Auseinandersetzungen wurden bis in die Rubrik „Eingesandt“ hinein geführt, auch unsachlich: Und deshalb wird die lokal-patriotische Herbert-Doktrin: „Stettiner Parteiangelegenheiten den Stettinern“ – bei uns wenig Anklang finden. Warum Dich denn in Ruhe lassen, lieber Fritz, es polemisiert sich doch so gemütlich und so garnicht boshaft! Nicht wahr? (Otto Passehl) – Soll ich mich vielleicht wegen jeder Aeußerung, die ich hier tue, in jedem Orte der Provinz verantworten? Das wäre doch zu albern! Und damit Schluß. Auf weitere Anzapfungen gehe ich nicht ein (Fritz Herbert). (Volksbote Nr. 241, 13. 10. 1904: 3)
Auch das „Berliner Tageblatt“ berichtete über die Stettiner Diskussionen und kam zu dem Schluss: „Man sieht aber schon jetzt, daß wenigstens der Abgeordnete Herbert sich seinen Glauben an das nahe Endziel auch von Bebel nicht kommandieren läßt“ (zit. n. Volksbote Nr. 246, 21. 10. 1903: 1). Der „Volksbote“ wies den Revisionismusverdacht strikt zurück: Der Satz der [Stettiner – H. B.] Resolution, daß die Versammlung die Erweiterung der politischen Rechte ohne Rücksicht auf opportunistische Gründe verlange, richtet sich direkt gegen den taktischen Revisionismus und Opportunismus. Die Resolution lehnt mit E ntschiedenheit
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den seiner Zeit von den Revisionisten vertretenen Standpunkt ab, wonach der deutschen Sozialdemokratie garnichts Unglückseligeres passieren kann, als daß sie vorzeitig in die Lage käme, die politische Macht zu übernehmen, weil sie angeblich nicht befähigt sein soll, sie ersprießlich zu gebrauchen und festzuhalten. […] Die Arbeiter haben daher alle Ursache, die Augen offen zu halten, daß nicht unter der Maske des Hyperradikalismus anarchistische Ideen in unseren Reihen propagiert werden. Dieser Gefahr gegenüber ist es denn auch notwendig, die Grenzlinien zwischen Anarchismus und Sozialismus nicht zu verwischen. (Volksbote Nr. 246, 21. 10. 1903: 2) Die ganze Geschichte der deutschen Sozialdemokratie ist Zurückweisung der Revolutionsmacherei. Das gründet viel tiefer als in der Furcht vor den Bajonetten. Unsere geschichtlichen Aufgaben gehen viel zu weit, um durch einen Gewaltstreich durchgeführt werden zu können. […] Wir wollen die gesamte politische Organisation des Landes und die ökonomischen Grundlagen seiner Existenz anders gestalten. Das können wir nicht durch einen nächtlichen Ueberfall im Hofpalast und auch nicht durch einen Volksauflauf erreichen, sondern nur durch Organisation des Proletariats. (Volksbote Nr. 247, 22. 10. 1903: 1)
Beim pommerschen Parteitag 1906 brachte Quessel eine Resolution zugunsten des Massen streiks ein. Bartels Kritik an der Haltung sozialdemokratischer Zeitungen war DDR geprägt – allerdings vermitteln einige Artikel des „Volksboten“ den Eindruck politischer Unentschiedenheit. Hier ist aber zu berücksichtigen, dass einerseits die Partei selbst viele Strömungen umfasste und andererseits die Erfahrungen des Sozialistengesetzes nachwirkten. Gewiß hätten wir Grund genug, uns über die Revolution zu unterhalten. Nicht weil wir die Revolution provozieren wollen, sondern weil die Möglichkeit vorliegt, daß gegen alle unsere Bemühungen, die Massen zurückzuhalten, die Scharfmacher von oben die Revolution provozieren würden. Die Erörterung der Chancen einer politischen Revolution ist aber für eine Kollektivberatung innerhalb der Polizeischlingen der deutschen Versammlungs- und Preßfreiheit ein schwieriges Ding. (Volksbote, Nr. 232, 5. 10. 1903: 1) Es wird von unsern Revisionisten behauptet, daß nun einmal die kapitalistische Wirtschaft mit den kapitalistischen Entwicklungstendenzen die wirklich bestehende und also die einzig mögliche sei. Daß aber das kapitalistische Entwicklungsprogramm befolgt wird, solange die ausbeutenden Klassen herrschen, kommt nicht daher, weil es das einzig mögliche ist, sondern weil es für sie das einzig mögliche ist. Könnten wir ihr dessen Durchführung unmöglich machen, hätten wir die Macht, ihre Herrschaft zusammenbrechen zu lassen, so hätten wir auch die Macht und die Möglichkeit, sofort unser eigenes Programm durchzuführen. (Volksbote Nr. 38, 14. 2. 1908: 1)
Die Debatte schwelte weiter, der „Volksbote“ vermisste eine klare Haltung der Parteiführung:
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Man wird finden, daß von allen Radikalen zusammen nicht entfernt so viel parteischädigendes geleistet wird, als von der Handvoll „Reformisten“. Wo bleibt denn hier die Initiative des Parteivorstandes? Unser Gothaer Parteiorgan sagt mit Recht: man muß eben Revisionist sein, um sich in der Partei alles erlauben zu können. (Volksbote Nr. 218, 17. 9. 1911: 1)
In einem aus Erfurt übernommenen Artikel von Heinrich Schulz hieß es andererseits, dass die meisten Revisionisten gar keine s eien, sondern „nur durch ihre praktische Tätigkeit nach rechts gedrängt worden“ seien (Beil. zu Volksbote Nr. 244, 18. 10. 1911: 1). 1913 diskutierte der Reichsparteitag über die Frage des Massenstreiks. Der „Volksbote“ sprach sich für dieses politische Mittel aus: Der Massenstreik ist die Kampfmethode des Proletariats, die seinem gesellschaftlichen Wesen am meisten angepaßt ist, die nur von ihm angewandt werden kann, in der die wesentlichsten Elemente der proletarischen Kraft zum Ausdruck kommen, und die daher in der Eroberung der politischen Herrschaft eine äußerst wichtige Rolle spielen wird. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 74, 30. 3. 1913: 1)
In Jena wurde die Resolution 94 angenommen, wonach der Massenstreik erst erwogen werden sollte, wenn die Bedingungen für seinen Erfolg gegeben seien: Indem der Parteitag den Massenstreik als unfehlbares und jederzeit anwendbares Mittel zur Beseitigung sozialer Schäden im Sinne der anarchistischen Auffassung verwirft, spricht er zugleich die Ueberzeugung aus, daß die Arbeiterschaft für die Erringung der politischen Gleichberechtigung ihre ganze Kraft einsetzen muß. Der politische Massenstreik kann nur bei vollkommener Einigkeit aller Organe der Arbeiterbewegung von klassenbewußten, für die letzten Ziele des Sozialismus begeisterten und zu jedem Opfer bereiten Massen geführt werden. (Protokoll 1913: 193)
Der „Volksbote“ (Nr. 221, 20. 9. 1913: 1) war damit nicht einverstanden, sondern befürwortete den Streik, denn dieser sei eine Möglichkeit, Reform (statt Revolution) durchzusetzen: Sollen die Massen sich nur immer verteidigen und niemals selbst die Initiative ergreifen dürfen? Das kann doch kein Arbeitervertreter wollen. […] Wenn dem Arbeiter immer wieder gezeigt wird, daß er trotz aller Anstrengungen nur ein Hundeleben führt, wenn sein Gewissen wachgerüttelt wird und er zur Erkenntnis gebracht wird, daß der heutigen Gesellschaft nur durch Machtkämpfe etwas abgerungen werden kann, dann werden nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Organisationen davon Vorteile haben. Eine andere Frage ist dabei allerdings die, ob es in diesem Falle immer nur nach den Wünschen von oben her gehen wird. Höchstwahrscheinlich nicht. Dann werden sicher die geschobenen Massen auch einmal die Rolle der Schiebenden übernehmen. […] Es hieße einer Sache Gewalt antun, wollte man, wie es leider auf dem Parteitage geschehen ist, s olche Regsamkeit als Ausfluß
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
einer aufgehetzten Masse bezeichnen. Daß der politische Massenstreik auch nur ein Mittel ist, um in der gegenwärtigen Gesellschaft Reformen durchzudrücken und nicht eine Waffe zur endgültigen Befreiung der Arbeiterklasse von dem Drucke des Kapitalismus, muß unbedingt festgehalten werden. Deshalb ist es Demagogie, wenn gesagt wird, alle Verteidiger des Massenstreiks gefährdeten die jahrelange Reformarbeit von Partei und Gewerkschaften. Und auch der Parlamentarismus wird durch die Propagierung des Streiks nicht untergraben, sondern die Massen werden dadurch erst zu dem, was sie überhaupt sein sollen, nämlich zum Rückgrat der ganzen parlamentarischen Tätigkeit.
V.5
Geschichte und Erinnerung: 1848 und 1813
Die deutsche Sozialdemokratie befand sich auch geschichtspolitisch in der Situation, gegen das herrschende bürgerliche Geschichtsbild zu opponieren, um den Arbeitern ihren Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen. Als Partei des ökonomischen und politischen Neuanfangs musste sie mit der Tradition der Erzählung von den gekrönten Häuptern brechen. Um den Anspruch auf eine Umgestaltung der Verhältnisse zu legitimieren, mussten gängige Vorstellungen sowohl der Ereignisgeschichte als auch der Geschichtsphilosophie dekonstruiert werden. Marx hatte zwar im „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ einen Bruch empfohlen: Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen. (Marx 2004 [1869]: 11.630)
Doch argumentierten er und besonders Engels mit geschichtswissenschaftlichen Argumenten, so zur Rolle von Arbeit, Klassenkämpfen und zu den zurückliegenden Revolutionen. Auch die Abkehr von der idealistischen Philosophie machte den Rückgriff auf die überlieferten Wissensbestände notwendig. Popularisiert wurde das materialistische Geschichtsbild vom Pommern Franz Mehring. Das sozialdemokratische Geschichtsbild stieß auf eine akademisch wie gesellschaftlich verbreitete Auffassung, mit der kleindeutschen Einheit habe die deutsche Geschichte ihren Höhepunkt erreicht: „Für die nationalliberale Historikergeneration, die durch die Schule Rankes gegangen war, fiel das politische Ideal des Nationalstaats zusammen mit dem wissenschaftlichen Ideal der kritisch geprüften Wahrheit“ (Fehrenbach 1997: 382). Die prinzipielle Offenheit der Geschichte und die Erörterung von Alternativen (oder verpassten Chancen) rückten in den Hintergrund. Historiker und Lehrbuchverfasser bemühten sich darum, „den Aufstieg und die ,deutsche Mission Preußens‘ in den Mittelpunkt aller Betrachtung
Geschichte und Erinnerung: 1848 und 1813
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der neueren deutschen Geschichte zu rücken“ (Winkler 2002: 264). Der Schweizer Jakob Burckhardt schrieb schon 1872 in einem Brief, dass „die ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen“ werden würde (zit. n. Fehrenbach 1997: 382). Der konservative Historiker Treitschke kennzeichnete die deutsche Sendung Preußens so: Also mit dem einen Fuß im Reiche, mit dem andern draußen stehend, gewann der preußische Staat das Recht, eine europäische Politik zu führen, die nur deutsche Ziele verfolgen konnte. Er durfte für Deutschland sorgen, ohne nach dem Reiche und seinen verrotteten Formen zu fragen. (Treitschke 1997 [1879 – 1894]: 13)
Großdeutsch-katholische Einwände, wonach Preußen eher zerstörerisch gewirkt habe (Historisch-politische Blätter 1873: 38), drangen ins kollektive Bewusstsein der evangelischen Öffentlichkeit nicht vor. Ganz zu schweigen davon, was die große Politik für die kleinen Leute bedeutete – diese Perspektive wurde nur von der Sozialdemokratie berücksichtigt, während die Freiheitsideale der Liberalen hinter die Reichsbegeisterung zurücktraten. Hier erinnerte die Sozialdemokratie, auch im Stettiner „Volksboten“, an die Diskrepanz von 1848 und 1871. Als Erinnerungsort war die Märzrevolution für die Arbeiter von besonderem Wert: Als Begründung der Feindschaft mit den Konservativen und des Misstrauens den Liberalen gegenüber. So schrieb die Zeitung an der Oder: Wir wollen mit den alten Herren nicht darüber streiten, ob die Errungenschaften, die Deutschland seit 1848 gemacht hat, in der heute bestehenden Form für das Volk von besonderem Nutzen sind. Man würde den heutigen Verfassungen im Reiche und den Einzelstaaten nicht zu nahe treten, wenn man dieselbe wahrer konstitutioneller Staaten für durchaus unzulänglich fände […] „Jeder Preuße ist vor dem Gesetze gleich!“ und dabei macht man für ganze Kategorien von Staatsbürgern Ausnahmegesetze. Die Versammlungsfreiheit existirt nicht mehr und, wenn jemals, so steht jetzt neben der Preßfreiheit der Galgen. Die Gewerbefreiheit und auch die Freizügigkeit werden immer mehr beschnitten; die wirthschaftliche Reaktion feiert neben der politischen ihre Triumphe. Und die Einheit Deutschlands? Die einzelnen Staaten sind gegenwärtig noch durch die verschiedensten Gesetze und Rechtsanschauungen getrennt… Auch die Grenzeinheit Deutschlands ist durchaus nicht vorhanden. Während das Deutsche Reich über Gegenden herrscht, in denen lediglich französisch, polnisch oder dänisch gesprochen wird, steht Deutsch-Oesterreich außerhalb des Rahmens der deutschen Einheit. Bis jetzt ist in keiner Beziehung etwas Ganzes errungen worden. Dabei sind die Klassengegensätze seit 1848 in Deutschland mehr gewachsen – die Reichen sind noch immer reicher, die Armen noch ärmer geworden. (Volksbote Nr. 70, 11. 9. 1887: 1)
Zum Jahrestag des 18. März 1848 (Barrikadenkämpfe in Berlin) brachte der „Volksbote“ mehrfach Leitartikel, die den Verfall des Bürgertums (das sich auf wirtschaftliche Betätigung verengt hatte) beklagten und die Sozialdemokratie als rechtmäßige Erbin der revolutionären Bewegung betrachteten:
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
Das Bürgerthum von heute ist freilich sehr zahm geworden; mancher der Kämpfer von 1848 hat im Reichstage für das fluchwürdige Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie gestimmt. Der Tanz um das goldene Kalb hat die Sinne umnebelt und wenn die Arbeiter ihre Rechte auf eine bessere Lebenshaltung geltend machten, wird Staatsanwalt und Polizei zur Hilfe gerufen. Mit d iesem feigen Bürgerthum konnte ein Bismarck leicht fertig werden. Wohl wissen wir, daß es auch im Bürgerthum noch Männer giebt, welche mit Stolz auf das Jahr 1848 zurückblicken, aber es sind ihrer doch sehr Wenige; das Reservelieutenantswesen hat sich zu tief eingenistet. Die Fahne der Freiheit ist dem Bürgerthum entglitten. Dafür ist eine neue Partei entstanden, welcher auch manche Demokraten der alten Schule beigetreten sind. Die Sozialdemokratie hat die Fahne der Freiheit wieder emporgehoben und wird nicht eher rasten, bis der Kampf siegreich beendet ist. (Volksbote Nr. 65, 18. 3. 1898: 1) Während andere Nationen längst zur politischen Selbstbestimmung vorangeschritten sind, läßt sich das deutsche Volk noch immer am Gängelband der Bureaukratie zerren, läßt es sich durch jede Drohung oder jede Posse der Herrschenden von der geraden Bahn zur Freiheit ablenken. So war es allzu oft schon. So war es auch in jenem Jahre, das als einzige kurze Periode von Sturm und Drang die langsam mühselige, schwerfällige Entwicklung des politischen Lebens in Deutschland durchbrach. Ein kurzer, jäher Aufschrei, und schon war alles wieder still. […] Und doch erscheint dem aus der heutigen Zeit Rückblickenden das damalige Bürgertum gar noch als tapfer, als heroisch gegen das Geschlecht unserer Tage, gegen dieses Geschlecht, das auch das Andenken an seine revolutionären Vorkämpfer verloren hat und es allein der modernen Arbeiterklasse überläßt, der größten Zeit bürgerlichen Freiheitskampfes zu gedenken. (Volksbote Nr. 65, 18. 3. 1907: 1) Das kämpfende Volk hatte seine Aufgabe gelöst und die Machtmittel des alten Systems zerschlagen; mehr konnte es nicht machen und die Reihe war nun an der Bourgeoisie, ein neues politisches System an die Stelle des alten zu setzen. Aber da empfand die Bourgeoisie ihren Gegensatz gegen die Volksmasse stärker als den Gegensatz nach oben, und seine Hauptsorge war, mit der alten Staatsgewalt Frieden zu schließen zur gemeinsamen Niederhaltung des Volkes. Daß sie dabei um die Herrschaft selbst geprellt wurde, war ihr verdienter Lohn. […] Aus Furcht vor den Arbeitern gab die Bourgeoisie die Ansprüche auf die Staatsgewalt auf, und sie gab sich damit zufrieden, daß eine über ihr stehende, von Junkern beherrschte Staatsgewalt die Einrichtung schuf, die für die Entwicklung des Kapitalismus unumgänglich notwendig waren. Tatsächlich wurde die Bahn für den Kapitalismus geebnet, der sich seitdem auch in der Tat beispiellos entwickelt hat; aber ohne die bürgerliche Freiheit, die ihn sonst überall begleitet. […] Die deutsche Einheit ist zustande gebracht, aber nicht als bürgerlicher Einheitsstaat, sondern als ein notdürftiger Zoll- und Militärbund unter preußischer Führung. (Volksbote Nr. 66, 18. 3. 1908: 1)
Besondere Aufmerksamkeit und scharfe Kritik fand 1913 die hundertjährige Wiederkehr der Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich (z. B. wurde in Leipzig das monströse
Geschichte und Erinnerung: 1848 und 1813
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Völkerschlachtdenkmal eingeweiht). Der „Volksbote“ widersprach der Legende vom tapferen preußischen König und einer unzutreffenden Darstellung der Volksbeteiligung. Über die Konvention von Tauroggen (preußisch-russischer Waffenstillstand vom 30. 12. 1812) hieß es, sie sei von besonderem Interesse, weil es den anfänglichen und ursprünglichen Charakter der nationalen Bewegung von 1813 im deutlichsten Gegensatz zeigt zu der gewöhnlich in Festreden und Büchern sich breit machenden Königlich Preußischen Geschichtsklitterung. […] Tatsächlich hat Friedrich Wilhelm niemanden gerufen, sondern ist geradezu an den Haaren herbeigezogen worden, um endlich die Volksbewaffnung und die Kriegserklärung gegen Napoleon gutzuheißen. Der deutsche Befreiungskrieg ist in seinen Anfängen eine durchaus revolutionäre Bewegung gewesen. Leider ist sie vom Herbst 1813 ab umgebogen und zugunsten von König- und Junkertum mißbraucht und verfälscht worden. (Volksbote Nr. 2, 3. 1. 1913: 3)
Franz Mehring schrieb zutreffend, dass sich die Freiwilligen von 1813 mitnichten zugunsten der Restauration verpflichtet hatten: Wenn anders die geschichtlichen Zeugnisse wahrheitsgetreu berichten, so hat freilich die preußische Monarchie keinen Anlaß, das Jubeljahr zu feiern. Ihr damaliger Vertreter benahm sich im Jahre 1813, wie übrigens auch vor- und nachher, so überaus kläglich, daß selbst die preußischen Historiker darauf verzichtet haben, diesen Mohren weiß zu waschen. […] Auf die Frage: Wer soll feiern? bleibt keine andere Antwort, als: die Sozialdemokratie. Sie verschmäht natürlich allen tosenden Lärm, aber sie darf sich mit gutem Gewissen sagen, daß sie den arbeitenden Massen der Nation jene blinde und blöde Vertrauensseligkeit ausgepaukt hat, die den Landwehren von 1813 so teuer zu stehen gekommen ist. Und wenn es abermals heißen sollte: das Volk steht auf, der Sturm bricht los, so wird um höhere Menschheitsziele gerungen werden, als um die Wiederherstellung zertrümmerter Fürstenkronen und Junkerwappen. (Beil. zu Volksbote Nr. 32, 7. 2. 1913: 1, übernommen aus „Chemnitzer Volksstimme“)
Die Kritik des „Volksboten“ traf auch die seinerzeit populäre preußische Königin Luise (1776 – 1810): Das ewige Festefeiern im neudeutschen Reiche, das in so häßlichem Gegensatze zu dem wachsenden Elend der Massen steht, hat manche seltsame Erscheinung gezeitigt, aber kaum schon eine so seltsame wie an d iesem 10. März. […] Am 10. März hat sich kein Ereignis vollzogen, dessen die Geschichte gedenkt, es ist nur der Geburtstag einer Königin, die in den Tagen des Glücks in tausend höfischen Nichtigkeiten aufging, in den Tagen des Unglücks aber nie ein Herz für die ächzende Not der Massen verraten hat. […] Und so mögen die herrschenden Klassen am 10. März ihre patriotischen Feuerwerke abbrennen. Die Raketen leuchten für einen Augenblick auf, um zu zeigen, wie unausfüllbar die Kluft zwischen den
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
unterdrückenden und den unterdrückten Klassen gähnt, und der Rest ist ein fader Dunst, wie der Katzenjammer nach einem mühsam abgequälten Rausche. (Volksbote Nr. 58, 9. 3. 1913: 1)
Zudem wurde – in den Jahren der imperialistischen Aufrüstung und außenpolitischen Isolation des Reiches – die Instrumentalisierung von 1813 für aktuelle Kriegspläne zurückgewiesen: Wahrlich: die herrschenden Mächte in Preußen-Deutschland haben gar keinen, sie haben auch nicht den allergeringsten Anlaß, die hundertste Wiederkehr der Tage von 1813 festlich zu begehen, denn in Wahrheit bedeuten für sie jene Tage nichts anderes als die Erinnerung an schwachmütige Erbärmlichkeit. Das deutsche Volk aber, der wahre Held jener Tage, weist es weit von sich ab, die Erinnerungsfeier herabzuwürdigen zu einem Fest des Radaupatriotismus und der Völkerverhetzung. Wenn es dankbar seiner Väter gedenkt, die damals ihr Leben für die Unabhängigkeit des Vaterlandes in die Schanze schlugen, so vergißt es auch nicht, daß es die Errungenschaften der großen französischen Revolution waren, denen die Heere Napoleons in Deutschland die Bahn brachen, und daß es erst des Tages von Jena bedurfte, um in Preußen-Deutschland die Bahn freizumachen für Bauernbefreiung und Städteordnung, für die Beseitigung des alten überlebten Ständestaates und für die Schaffung wenigstens der ersten Anfänge eines modernen Staatswesens. Ohne in einen sinnlosen und ungeschichtlichen Napoleonkultus zu verfallen, vergißt das deutsche Volk des weiteren nicht, daß die französischen Heere es gewesen sind, die dem ganzen alten Jammer der deutschen Vielstaaterei, der traurigen deutschen Zerrissenheit zum guten Teil ein Ende bereitet haben und daß ohne den eisernen Besen dieser Heere außer allem ständisch-feudalen Unrat auch im Jahre 1813 noch anstatt 30 bis 40 deutscher Vaterländer deren 300 bis 400 bestanden hätten. […] Also: zur Entfesselung einer wüsten Orgie des Franzosenhasses und der Völkerverhetzung liegt gerade in d iesem Jubiläumsjahre nicht der allermindeste Anlaß vor. […] Den einen großen Despoten hatte das deutsche Volk eingetauscht gegen neunundreißig kleine und kleinliche Despötchen! So war das Opfer von 1813 nicht gemeint gewesen. (Volksbote Nr. 62, 14. 3. 1913: 1)
Hier wird die Rolle gewürdigt, die der französische Kaiser für die deutsche Geschichte gehabt hat – „am Anfang war Napoleon“ (Nipperdey 1998a: 11). Goethe und Hegel hatten das schon als Zeitgenossen erkannt, während „das Fortschrittsbürgertum von 1913 längst vergessen hat, daß die Freiheitskriege in ihrem besten Teil ein – deutschbürgerlich mißlungenes Gegenstück zum großen Emanzipationskampf des Bürgertums in Frankreich, zur französischen Revolution gewesen ist“ (1. Beil. zu Volksbote Nr. 63, 15. 3. 1913: 1). Im Leitartikel „Patriotismus vor hundert Jahren und jetzt“ wurde die Kriegstreiberei anhand der historischen Analyse erneut zurückgewiesen: Mag die nationale Politik aber von der Masse der Bevölkerung mitgemacht werden und die nationale Ideologie weite Schichten mitreißen, so pflückt doch nur die Bourgeoisie die Früchte davon. […] Aber schon sind die Ziele des klassischen bürgerlichen N ationalismus
Geschichte und Erinnerung: 1848 und 1813
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überholt; wieder ist ein halbes Jahrhundert verflossen und an die Stelle der nationalen Politik des aufsteigenden Kapitalismus ist der Imperialismus getreten. Jetzt handelt es sich nicht mehr darum, einen einheitlichen Nationalstaat zu festigen, sondern um Weltmacht zu gewinnen, um fremde Weltteile zu erobern. Wenn man heute von Patriotismus redet, von Vaterlandsliebe, die sich in der Bewilligung einer erheblichen Verstärkung der Armee und der großen dazu gehörigen Lasten äußern soll, so handelt es sich in Wirklichkeit nur um die Vorbereitung eines großen Raubzuges in Afrika und Asien, wozu man sich gegen die lieben Nachbarn rüstet, die sonst dagegen etwas einwenden könnten. […] Für die Volksmassen zaubert man das Bild der „patriotischen“ Erhebung von 1813 empor. Es wird nicht viel helfen. Die heutige Wirklichkeit setzt sich doch durch; die Massen wollen von den neuen Ansprüchen des Molochs nichts wissen, und der Patriotismus der Bourgeoisie wird sich wieder glänzend in der altbekannten Weise bewähren, daß sie den Besitzlosen den Hauptteil der Lasten aufbürdet. (Volksbote Nr. 64, 16. 3. 1913: 1)
Und schließlich gehören dem „Volksboten“ zufolge 1813 und 1848 zusammen: Das Volk kann die Erinnerung an das Jahr 1813 sehr wohl feiern, aber es kann sie nicht feiern in Gesellschaft von Generälen, Junkern und Landräten, es kann sie nicht feiern im Sinn und im Interesse der Monarchie. Hier werden durch eine widerwärtige Geschichtsfälschung zwei Dinge zusammengeworfen, die durchaus nicht zueinander gehören. Das Volk kann des Jahres 1813 wie des Jahres 1848 mit erhobenem Haupt gedenken, es hat in beiden Jahren mit vorübergehendem Erfolg gegen die Despotie gekämpft, gegen die landfremde, wie gegen die angestammte. Aber die Monarchie? Daß nach dem 17. März 1813 noch ein 18. März 1848 möglich war und notwendig wurde, ist eine Tatsache, um dessentwillen die Monarchie ihr Haupt in Scham verbergen müßte. Sie hat kein Recht, das Gedächtnis des Freiheitskrieges von 1813 festlich zu begehen. (Volksbote Nr. 65, 18. 3. 1913: 1)
Unter Rückgriff auf den erwähnten „Achtzehnte[n] Brumaire des Louis Bonaparte“ schrieb der „Volksbote“ (Nr. 46, 23. 3. 1913: 1) davon, dass es sich bei den offiziellen Feiern um einen Bluff handelt (der durch den Krieg die letzte Selbstinszenierung der Hohenzollern wurde): Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Das Jahr 1913 ist besonders dazu bestimmt, ein Jahr zu sein, in dem die Gespenster der Vergangenheit lebendig werden und ihr Unwesen treiben. Hundert Jahre sind seit dem Freiheitskriege von 1813 verflossen, der die drückende Franzosenherrschaft durch eine ebenso drückende Junker- und Polizeiherrschaft ersetzte. In bunter Reihe ziehen die Gestalten, die die Zeit von der Tauroggener Konvention bis zur Leipziger Völkerschlacht füllen, an unseren Augen vorüber, suchend und strebend, auf unser heutiges Handeln einen unzeitgemäßen Einfluß zu gewinnen. Aber wie sonderbar nehmen sich diese Gestalten in unserer modernen Gesellschaft aus! […] So sind die Rollen verteilt: die eine Klasse drängt nach Wahrheit und Wissenschaft, strebt der Zukunft entgegen, und die andere zieht alle Mächte der Tradition
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und der Vergangenheit heran, um ihr Steine in den Weg zu rollen. Daher wachsen diese Bilder der Vergangenheit nicht aus sich selbst durch einen Naturprozeß im Menschengeist hervor; sie werden künstlich hervorgezaubert, mit aller Anstrengung zu beleben gesucht und aufgeputzt. […] Denn wenn die Tradition der Vergangenheit von einer herrschenden Klasse doch nur im eigenen Interesse zum Volksbetrug verwendet wird, dann muß auch notwendig die Geschichtsfälschung an die Stelle der historischen Wahrheit treten. Wie der Zweck, so die Mittel. Die Gespenster, die sie aufruft, um die aufsteigende Klasse zu verwirren, sind nur klägliche Puppen mit ehrwürdigen Gewändern umkleidet. […] Die wirklichen Gestalten von 1813, wahrheitsgetreu dargestellt, werden keinen Proletarier von den Idealen des völkerbefreienden Sozialismus ablenken.
Mit seinen Artikeln zu geschichtlichen Th emen kämpfte der „Volksbote“ auch gegen den Geschichtsunterricht, der besonders in der Volksschule wesentliche Erkenntnisse ignorierte: Nach der Auffassung und Darstellung der Volksschule sind die Erfindungen und Entdeckungen lediglich das Werk der „großen Männer“, aus derem Haupte sie fertig hervor gesprungen sind, wie Minerva einst aus dem Haupt des Zeus. Kein Wort weiß der Unterricht der Volksschule von einer gesellschaftlichen Entwicklung oder gar von den Gesetzen dieser Entwicklung. Der ganze Geschichtsunterricht der Volksschule besteht im wesentlichen aus einer öden Aneinanderreihung von Kriegs- und Fürstengeschichten und einer blöden Eindrillung von zusammenhangslosen Daten. (1. Beil. zu Nr. 106, 8. 5. 1913: 1)
Nicht besser stehe es um die Geschichtswissenschaft: Die deutsche Wissenschaft besitzt bisher keine Geschichte der Freiheitskriege, sondern sie hat nur Legenden hervorgebracht. Drei Grundrichtungen der Legendenbildung lassen sich unterscheiden: die byzantinische, die nationalistische, die radikale Legende. Die byzantinische dreht den Leierkasten: Der König rief und alle, alle kamen. Die nationalistische Auffassung läßt die deutschen Völker in einem gewaltigen Aufstand des Stammesgefühls und des Einheitsdrangs die Fremdherrschaft abschütteln. Die radikale Darstellung endlich sieht in dem Kampf gegen Napoleon einen wirklichen Freiheitskrieg, der die innere Befreiung der Völker auch von den eigenen Machthabern zum Ziele hat, und der mit der Verfolgung der durch die Versprechungen der Fürsten gelockten und betrogenen Freiheitskämpfer endet. […] Der heutigen Erkenntnis aber, die sehen will, ist die Bedeutung der Freiheitskriege durchaus klar. Weltpolitisch betrachtet, ist der Sturz Napoleons der kapitalistisch industrielle Sieg Englands über das kontinentale Europa. Von der inneren Politik der Völker aus beurteilt, sind die Freiheitskriege die siegreiche Konterrevolution gegen die Freiheit von 1789. (Volksbote Nr. 199, 26. 8. 1913: 1)
Der letzte Satz dieses Artikels traf zu. Es dauerte bis nach dem Zweiten Weltkrieg, bis sich diese Erkenntnis durchgesetzt hatte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Artikel des
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„Volksboten“ einem modernen Geschichtsverständnis zugearbeitet haben, die Beiträge zur Wiederkehr von 1813 und 1848 beherzigten zudem eine kritische Haltung zur Geschichte, die Nietzsche empfohlen hatte: Hier wird es deutlich, wie notwendig der Mensch, neben der monumentalischen und antiquarischen Art, die Vergangenheit zu betrachten, oft genug eine dritte Art nötig hat, die kritische: und zwar auch diese wiederum im Dienste des Lebens. Er muß die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, daß er sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert und endlich verurteilt: jede Vergangenheit aber ist wert, verurteilt zu werden – denn so steht es nun einmal mit den menschlichen Dingen: immer ist in ihnen die menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen. (Nietzsche 2000 [1874b]: 3.894)
V.6
Eulenburgaffäre 1907 – 1909
Durch die Affäre Eulenburg, die der bekannte Journalist Maximilian Harden 9 ausgelöst hatte, wurde das politische Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts schwer erschüttert. Deutschland erschien „als das Land der Homosexualität, da hier mit dem Eulenburg/MoltkeSkandal der größte politische Homosexualitätsskandal stattfand“ (Bösch 2006: 29). Es ging immerhin um den Einfluss, den Homosexuelle um Philipp zu Eulenburg (männliche Homosexualität war nach § 175 Strafgesetzbuch ein Straftatbestand) auf den Kaiser, den Reichskanzler Bülow und besonders auf die Außenpolitik des Reiches hatten. 1907 – 1909 kam es zu mehreren Prozessen, die großes Aufsehen erregten und den Berliner Hof schwer beschädigten. Im Gefolge des Skandals erstarkte auch der Antisemitismus (Hirsinger 2008). Für die oppositionelle SPD ergab sich durch die Schlammschlachten vor Gericht die Gelegenheit, auf die Hofkamarilla und deren Unmoral hinzuweisen. Die Artikel zu diesem Thema nehmen im Stettiner „Volksboten“ großen Raum ein. Die SPD befürwortete die Abschaffung des § 175, da er als Erpressungswerkzeug benutzt werden konnte: Im § 175 scheinen die Herrschaften in und um Berlin endlich ein Mittel gefunden zu haben, mit dem man nicht so sorgfältig operieren muß, sondern plump dreinschlagen kann. Man braucht nur auf eine beim Kaiser bisher gut angeschriebene Person zu deuten und mehr oder weniger verblümt zu behaupten, daß es hier nach § 175 schmecke, und sofort kommt der Beschuldigte ins Wackeln. […] Nach unserer Anschauung ist der homosexuelle Verkehr, so lange nicht etwa Kinder und Halbwüchsige dazu verführt werden, Privatangelegenheit der Betreffenden. Daß das deutsche Strafgesetzbuch sich auch um so interne Dinge des Einzelnen kümmert, ist nur ein Beweis für die Rückständigkeit d ieses Kodex. (Volksbote Nr. 245, 19. 10. 1907: 1) 9 Hardens Wochenzeitung „Die Zukunft“ war eine wichtige Stimme im Kaiserreich (vgl. Young/ Lerg-Kill 1971).
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Sie verband die Berichterstattung, die stark kommentierenden Charakter trug, mit dem Ruf nach politischer Reform – der Adel habe ausgedient: Ein Schmutz, der auf beiden Seiten gleich hoch liegt, und alle Spuren eines symptomatischen Schmutzes trägt, so daß man als das Resultat d ieses Skandalprozesses schon jetzt die Tatsache registrieren darf, sie sind faul bis aufs Mark, diese herrschenden Klassen… (Volksbote Nr. 251, 26. 10. 1907: 1) Mit dem Prozeß Moltke-Harden beginnt in der Geschichte der preußisch-deutschen Selbstherrschaft ein neues Kapitel, das solange dauern wird, bis das Volk dem System des Absolutismus und der antiparlamentarischen Hofkabale endlich das lange verdiente Ende bereitet. (Volksbote Nr. 252, 28. 10. 1907) Das blaue Blut ist so von Dreck verdickt und die wandelnde Leiche Aristokratie haucht schon solche Verwesungsdünste aus, daß es nicht allzu heftiger Fanfarenstöße mehr braucht, um auf den Anfang vom Ende hinzuweisen. (Beil. zu Volksbote Nr. 252, 28. 10. 1907: 1)
Dass die sozialdemokratische Agitation von der Affäre profitierte, räumte der „Volksbote“ unumwunden ein: Harden, der hämische Gegner unserer Partei, hat durch seine Prozeßführung uns und der Volkssache wider Willen mächtig genützt. Er hat uns unschätzbares Agitationsmaterial verschafft, ohne daß wir von dem Niveau unserer sachlich-prinzipiellen Kampfesweise in den Schmutz hinab zu steigen brauchten, der haushoch bis zum Tron [!] und zur Krone der Hohenzollern hinaufspritzte. (Volksbote, Nr. 258, 4. 11. 1907: 1)
Es wurde im „Volksboten“ auch bemerkt, dass durch die Prozesse die Unabhängigkeit der Justiz und die Freiheit der Presse bedroht wurden: Wahrhaftig schuldig sind jene, die die Betätigung homosexueller Neigungen zu einem förmlichen Sport ausbildeten und wehrlose Untergebene zu ihren Orgien mißbrauchten. Sie gehen frei aus. Wahrhaft schuldig sind jene, die von dem schimpflichen und verbrecherischen Treiben der Höflinge wußten und keinen Finger rührten, um ihm Einhalt zu gebieten und Recht und Gesetz zur Geltung zu bringen. Ihnen wird kein Haar gekrümmt. […] Der Feldzug gegen die Kamarilla endet mit einem Feldzug gegen die Presse. (Volksbote Nr. 261, 7. 11. 1907: 1) Aber gerade, weil es uns um Persönliches nicht im mindesten zu tun ist, können wir nicht übersehen, daß dieses neue Prozeßverfahren in der Person Hardens die Freiheit der öffentlichen Kritik selbst bedroht. […] Es handelt sich also in der zweiten Auflage des Hardenprozesses gar nicht mehr um die Person des Herrn Harden, sondern es handelt sich einfach
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um die Frage, ob es der Publizistik in Preußen-Deutschland erlaubt sein soll, Wahrheiten auszusprechen, die herrschenden Mächten nicht bequem sind. Harden ist heute politisch weiter nichts als das weggeworfene Werkzeug einer Klique – aber als Angeklagter ist er ein völlig unschuldiger Mann. Jetzt sieht man ihn zum zweitenmal auf der Anklagebank, auf der man bisher noch keinen Verführer der Soldaten, keinen Schänder der Armee gefunden hat! (Volksbote Nr. 293, 16. 12. 1907: 1)
Die Artikel über die Affäre um Harden, Kuno von Moltke und Eulenburg sind ein Beleg dafür, dass es sich, obwohl der Journalismus schon auf dem Weg der Ausdifferenzierung und Modernisierung war, bei der deutschen um die „hysterischste Gesellschaft“ Europas (Birkner 2012: 366) gehandelt hat. Für Wilhelm II. bedeuteten Eulenburg- und „DailyTelegraph“-Affäre von 1908 eine schwere Erschütterung (Nipperdey 1998c: 734 – 738). Der „Volksbote“ sah im Skandal „die Konsequenzen der monarchischen Staatsform“ (Nr. 301, 27. 12. 1907: 1). Der deutsche Kaiser erlebt viel Unglück mit den Leuten die seine Gunst genossen! […] Irren ist ja menschlich, aber wo Gottes Gnade angeblich so sichtbarlich waltet, müßten nach gemeinem Menschenverstand viele und schwere Irrtümer ausgeschlossen sein. (Volksbote Nr. 108, 9. 5. 1908: 1)
Im Verlauf des Skandals wurden die moderaten Positionen am Hof geschwächt. Eine Parlamentarisierung des Reiches während des Sturzes von Reichskanzler Bülow erschien kurz darauf möglich, scheiterte aber an den unterschiedlichen Interessen der politischen Parteien im Reichstag (Winkler 2002: 301). Für die politische Publizistik waren diese Jahre eine Zeit, die die Macht der Presse offenkundig machte. Der österreichische Publizist Karl Kraus beschloss seine „Erledigung“ Maximilian Hardens denn auch mit der Forderung: „Der Prozeß Harden-Moltke ist ein Sieg der Information über die Kultur. Um in solchen Schlachten zu bestehen, muß die Menschheit lernen, sich über den Journalismus zu informieren“ (Kraus 2007 [1907]: 11.949). Die Sozialdemokratie hielt an ihrer Forderung, die Strafbarkeit homosexueller Handlungen abzuschaffen, fest: Zu der staatsbürgerlichen Freiheit, die wir erkämpfen, gehört auch die Freiheit in Geschlechtsdingen, und deshalb ist die Aufhebung des Paragraphen auch eine wichtige politische Forderung. […] Allerdings könnte man einwenden, daß eine Partei, deren Kampfziel so weltumspannend ist wie die Befreiung der arbeitenden Klasse, sich nicht um den Emanzipationskampf einer Handvoll Homosexueller zu mühen brauche. Aber mit Verlaub! Wir halten es da mit Ferdinand Lassalle, der es schon als soziale Unterdrückung ansah, wenn einem einzigen Menschen Unrecht geschah, und hier stehen Hunderttausende unter einem entwürdigenden Ausnahmegesetz. (Beil. zu Volksbote Nr. 178, 2. 8. 1911: 1)
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V.7
Antisemitismus Wer die Frage beantworten will, warum die große Mehrheit der Deutschen die Ausgrenzung der Juden nach 1933 widerspruchslos hinnahm und zumeist z wischen Indifferenz und Mitmachen schwankte, kommt am gesellschaftlichen Antisemitismus vor 1933 nicht vorbei. (Bajohr 2006: 26)
Um 1800 entstand mit der Romantik auch die neuere, ethnisch begründete Form der Judenfeindschaft,10 die sich parallel zur Judenemanzipation entwickelte. Die Philosophie jener Zeit, der deutsche Idealismus, will nicht nur die K irche vernünftig machen oder zu ihr zurückkehren, sondern wendet sich auch gegen das Judentum, das mit dem Glauben an Gott auch die Befolgung seines Gesetzes verbindet. Immanuel Kant behauptet im „Streit der Fakultäten“, „die Euthanasie des Judenthums ist die reine moralische Religion, mit Verlassung aller alten Satzungslehren“ (1798: 81). Auch bei Fichte und Hegel ist die jüdische Religion dem Christentum letztlich nachrangig und eine „negative Projektionsfläche“ (Hentges 2009: 27). Die entstehende Verbindung von deutscher Nation und christlichem Glauben wurde früh als Gefahr für die deutschen Juden erkannt. Saul Ascher schreibt in der „Germanomanie“: „Die Juden, heißt es, sind weder Deutsche noch Christen, folglich können sie nie Deutsche werden“ (1815: 14). Und Moses Hess sah eine „letzte Katastrophe“ voraus (1862: 122). Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879 – 1881, den der Historiker Heinrich von Treitschke ausgelöst hatte, machte die Ablehnung von Juden gesellschaftsfähig (Malitz 2005). Im Imperialismus kam es durch den Antisemitismus zur „Eröffnung einer volksfestlichen Spielwiese und emotionalen Ersatzbeschäftigung“ (Hacks 2003: 397). Der Begriff Antisemitismus tauchte 1879 zum ersten Mal in Deutschland auf und verbreitete sich schnell; er knüpfte an den traditionellen christlichen Antijudaismus an, der Schmähschriften hervorbrachte (Greive 1983: 67), und etablierte sich parallel zum „Schwund an Liberalität“ 11 des Deutschen Reiches (Berding 1988: 85). Es entstanden antisemitische Parteien, die die „Lösung der Judenfrage“ zum Ziel hatten (Berding 1988: 86). Der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker sah in Juden die treibende Kraft der sozialistischen Bewegung (Berding 1988: 93). Die Deutschkonservative Partei nahm 1892 in ihr Tivoliprogramm den Punkt auf: „Wir bekämpfen den vielfach sich vordrängenden und zersetzenden jüdischen Einfluß auf unser Volksleben“ (zit. n. Berding 1988: 98). Volkov (1985: 230 f.) sieht im Antisemitismus ein Mittel der Integration des 1871 geeinten Deutschlands, zum Überdecken des sozialen Elends und zur Selbstverständigung der Rechten. 10 1819 kam es in weiten Teilen Deutschlands zu „pogromartigen Ausschreitungen wie im Mittel alter“ („Hep-Hep-Krawalle“) (Benz 2004: 80). 11 Valentin spricht gar von einer „Erstarrung“ und der verpassten Möglichkeit, „das Deutsche Reich von innen heraus neu zu gründen […] und so den freien Volksstaat mit dem starken Volkskaisertum zu schaffen“ (1977 [1931]: 591).
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Die katholische Kirche lehnte den Antisemitismus ab, auch, weil er schließlich auch sie treffen würde: „Die letzte Folge des völk.[ischen] A.[ntisemitismus] ist die Verwerfung des Christentums seiner jüd.[ischen] Abstammung wegen u. die Förderung des altgerm. [anischen] Heidentums mit dem Wotansdienst“ (Rieder 1926: Sp. 223 f ).12 Unter den politischen Strömungen der Neuzeit nimmt die Sozialdemokratie bei der Bekämpfung des Antisemitismus einen Ehrenplatz ein. Sie gewichtet Klassenfragen höher als s olche der „Rassen“. Die Arbeiterbewegung beruft sich u. a. auf Marx, Lassalle, Bernstein, die aus jüdischen Familien stammten. Theologischer Antijudaismus kam für die SPD nicht infrage, da sie mit der verfassten Religion überhaupt brach. Modernen biologistischen Antisemitismus musste sie zurückweisen, weil sie ihn für einen Ablenkungs- und Unterdrückungsmechanismus hielt. 1893 verabschiedete der Reichsparteitag eine Resolution gegen den Judenhass: Die Sozialdemokratie bekämpft den Antisemitismus als eine gegen die natürliche Entwicklung der Gesellschaft gerichtete Bewegung, die jedoch trotz ihres reaktionären Charakters und wider ihren Willen schließlich revolutionär wirkt, weil die von dem Antisemitismus gegen die jüdischen Kapitalisten aufgehetzten kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Schichten zu der Erkenntnis kommen müssen, daß nicht blos der jüdische Kapitalist, sondern die Kapitalistenklasse überhaupt ihr Feind ist und daß nur die Verwirklichung des Sozialismus sie aus ihrem Elende befreien kann. (Protokoll 1893: 224)
Bebel wollte damit antisemitische Stereotype für den sozialistischen Kampf fruchtbar machen. Koszyk bemerkt zur Haltung der SPD: In ihrem unerschütterlichen Zukunftsoptimismus meinte die Sozialdemokratie, daß ähnlich wie die bürgerliche Gesellschaft, als deren Produkt sie den Antisemitismus bewertete, am Ende beide Übel durch das gleiche Heilmittel beseitigt würden, nämlich den Sozialismus. (Koszyk 1992: 61)
Allerdings sagte Bebel auf dem Kölner Parteitag 1893 auch: „Unzweifelhaft zeichnet das, was man Schacher nennt, einen Theil der Juden besonders aus“ (Protokoll 1893: 230). Er kritisierte damit eine führende Rolle von Juden bei der Entwicklung des modernen Kapitalismus und erklärte so, „daß der Antisemitismus zuerst in den handeltreibenden Kreisen Boden fand; der Haß richtete sich gegen den Juden als Konkurrenten“ (Protokoll 1893: 230). Scheidemann war der Ansicht, die Politisierung durch den Antisemitismus für die SPD nutzbar machen zu können: 12 Der Artikel „Juden“ im selben katholischen Lexikon allerdings kritisiert die führende Rolle von Juden in der Kultur: Die Literatur leiste „einer pessimistischen u. christentumsfeindl. Lebensanschauung Vorschub“, die Presse arbeite „an der Entwurzelung der Volksideale“ (Müller 1927: Sp. 1.656 f ).
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Nun mag man den Antisemitismus noch so hart verurteilen, ein Verdienst hat er sich dennoch erworben: er hat es verstanden, Schichten unserer Bevölkerung politisch zu interessieren, die in Bewegung zu setzen zuvor keiner anderen Partei gelungen war. In den Städten hat er das vollkommen verspießerte und versimpelte Kleinbürgertum mobil gemacht, auf dem Lande hat er vielfach das Kleinbauerntum von der Annahme gründlich kuriert, daß der „gnädige Herr“ alles am besten wissen und alles zum besten zu gestalten suchen werde. (Scheidemann 1906: 632)
Scheidemann hoffte, dass sie „den ganzen Antisemitismus in seiner ganzen Jämmerlichkeit erkennen und dann den Blick nach vorwärts richten. Das bedeutet dann politisch denken lernen und Sozialdemokrat werden“ (636). Doch erreichte diese Argumentation die „Stehkragenproleten“ (Bernd 2004: 22) nicht. In Pommern bestanden 1887 56 Synagogengemeinden, von denen die Stettiner mit 2.388 Mitgliedern die größte war ( Wilhelmus 2007: 57). In Hinterpommern kam es 1881 zu antijüdischen Pogromen (Wilhelmus 2004: 107 – 112). Die jüdische Bevölkerung in Pommern war gering, 1925 zählte sie 7.761 Menschen ( Wilhelmus 2007: 68), 1932 waren es nur noch 6.455 bei 47 Gemeinden, wobei Stettin als einzige Stadt einen Zuwachs verzeichnete (Wilhelmus 2004: 134 f ). Bei der Reichstagswahl 1903 erzielten die Antisemiten in Stettin das drittbeste Ergebnis (Mellies 2012b: 335). Antisemitismus in den Seebädern und völkische Burschenschaften an der Greifswalder Universität vergifteten das Klima in der Weimarer Zeit (Wilhelmus 2007: 71 f.), ebenso die in Pommern starke DNVP (zu deren Antisemitismus Bernd 2004). Von 1919 bis 1930 hatte Pommern einen (getauften) jüdischen Oberpräsidenten, Julius Lippmann 13 (Wilhelmus 2004: 136). Lippmann wurde 13 Lippmanns Konversion war seinerzeit umstritten und auch ein Thema im Wahlkampf 1911/12. Der „Volksbote“ schrieb: „Unsere ,anständigen‘ Gegner, die Liberalen, haben bisher schon recht erkleckliche Verdrehungskunststückchen geleistet, denn nur mit derartigen Mittelchen vermögen sie die Kosten des Wahlkampfes zu bestreiten. Wollten sie mit ehrlichen Waffen fechten, wäre ja auch ihre Niederlage unausbleiblich. Da in der Person ihres Kandidaten ein Mangel liegt, der insbesondere für unsere jüdischen Mitbürger ein Stein des Anstoßes ist, so suchen sie mit den klobigsten, verlogensten Angriffen gegen die Sozialdemokratie diesen Mangel zu verdecken. In einem Flugblatt, das sie dieser Tage durch die Post den einzelnen Wählern zustellen ließen, und das nach Stil und Inhalt als seinen geistigen Vater Lippmann nicht verleugnen kann, schwindeln sie frech und dreist, die Sozialdemokratie ,bekämpft auch häufig mit antisemitischen Witzeleien auf niedrigste Weise ihre Gegner jüdischer Abstammung‘. Das ist zwar frech geschwindelt, aber der Exjude Lippmann möchte sich mit solchen Schwindelmanövern gar zu gern die endgültig verlorenen Sympathien seiner ehemaligen jüdischen Glaubensgenossen erwerben. Das ist aber vergeblich, denn bei dem Uebertritt Lippmanns zum Christentum spielen Dinge eine Rolle, die eine s olche Handlung zu einer unverzeihlichen machen! […] Es wäre also – nach dieser Darstellung – für Lippmann nicht nur ein Gebot der Dankbarkeit, sondern auch eines des Charakters gewesen, seinen Glaubensgenossen in ihrem Kampf gegen die ungerechte staatliche und gesellschaftliche Zurücksetzung beizustehen, statt ,die Flinte ins Korn zu werfen‘, wie ihm mit Recht von einem angesehenen Mitglied der hiesigen jüdischen Gemeinde vorgeworfen wurde! Selbst wenn er persönlich zu anderen religiösen Ansichten gekommen wäre, war es doch eine Ehrenpflicht, bei der verfolgten Glaubensgemeinschaft
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zur Zielscheibe antisemitischer Propaganda der DNVP ( Schröder 1989: 32 f ). 1921 wurde in Stargard ein Lager für eingewanderte Ostjuden eingerichtet, dessen katastrophale Bedingungen auch die Reichsregierung beschäftigten (Wilhelmus 2004: 139 f ). Der 30. Januar 1933 war „der Tag des Widerrufs“ (Mayer 1996: 11 – 24) im deutsch-jüdischen Verhältnis, das schon lange einseitig gewesen war (Goldstein 1912). Nach 1945 fanden überlebende Juden in den polnischen „Westgebieten“ Zuflucht, wegen des wachsenden Antisemitismus der Volksrepublik nur vorübergehend (Hirsch 2011). Der „Volksbote“ berichtete zeitweise über antisemitische Versammlungen, die in Stettin stattfanden. Meistens machte er sich über den geringen Besucherzuspruch und das dürftige intellektuelle Niveau dieser Veranstaltungen lustig und riet Arbeitern von der Teilnahme ab. Ein Arbeiter, welcher sich den antisemitischen Ulk auch einmal anhören wollte, sendet uns folgenden Bericht: Herr Liebermann stellte sich zunächst vor; er meinte, seine Thätigkeit sei durch die Presse theilweise schon bekannt. Doch ich glaube, da irrt sich der Herr; Niemand in meiner Nähe konnte sich erinnern, von dem Wundermann etwas gelesen zu haben. Da ist natürlich wieder die „verjudelte“ Presse schuld, die s olche „Größen“ todtschweigt. […] Die Rede wurde so langweilig, daß einige Herren sich entfernten, andere die Zeitung lasen. […] Ich war von dem Vortrage aber so schläfrig geworden, daß ich nach Hause ging. (Volksbote Nr. 28, 10. 4. 1887: 2 f )
Über den prominenten Antisemiten Otto Böckel hieß es: „Herr Dr. Böckel hat sich im Reichstage als ein großes Licht gerade nicht gezeigt; diese sind unter den Antisemiten auch überhaupt nicht zu finden“ (Volksbote Nr. 47, 23. 6.1887: 2). Über die Zerwürfnisse innerhalb der Antisemiten hieß es: „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“ (Volksbote Nr. 87, 10. 11. 1887: 4). Zum Vorurteil, Juden s eien besonders schlimme kapitalistische Ausbeuter, schrieb das Blatt: Es ist uns noch nie eingefallen, zwischen jüdischen und christlichen Kapitalisten einen Unterschied zu machen. Wir sind gegen die Inhaber der großen Konfektionsgeschäfte in Stettin, die fast ausschließlich Juden sind, ebenso zu Felde gezogen, wie gegen die „christ lichen“ Fabrik- und Gutsbesitzer. […] Die Antisemiten wollen die jüdischen Mitbürger aus Religions- und Rassenhaß, wohl auch aus Brotneid oder aus Aerger darüber, daß ihnen die Juden kein Geld borgen, rechtlos machen, und damit machen sie den Dummen weis, die soziale Ungerechtigkeit zu beseitigen. Eine sonderbare Art, das Unrecht dadurch aus der Welt zu schaffen, daß man noch mehr Unrecht einführt. (Volksbote Nr. 66, 29. 8. 1889: 1)
Um der antisemitischen Agitation entgegenzutreten, erhoben auch Genossen das Wort in den Versammlungen: s einer Väter auszuharren, wie es z. B. unser verstorbene Genosse Singer tat, trotzdem er Atheist war.“ (Beil. zu Volksbote Nr. 8, 11. 1. 1912: 2) – Zu Lippmann auch Becker 2020.
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
Auch die Sozialdemokraten sollten zum alleinseligmachenden Antisemitismus bekehrt werden, doch haben die Herren eingesehen – die erste vernünftige Einsicht –, daß sie da tauben Ohren predigen. […] Von sozialdemokratischer Seite sprachen die Herren Knappe, Waschkau und Ernst. Die beiden ersteren haben den Herren klar gemacht, daß zwischen Antisemiten und Arbeitern niemals Freundschaft bestehen wird. […] Wir möchten den Arbeitern anempfehlen, die Versammlungen der Antisemiten überhaupt nicht zu besuchen; wenn den letzteren an einer Diskussion mit den Sozialdemokraten gelegen ist, so mögen sie in die Arbeiterversammlungen kommen. (Volksbote Nr. 76, 3. 10. 1889: 3 f.)
Zu einer sozialdemokratischen Versammlung gegen den Antisemitismus, in der Fritz Herbert sprach, kamen mehr als 3.000 Teilnehmer (Volksbote Nr. 86, 7. 11. 1889: 3). H erbert sagte u. a.: In Stettin sind es hauptsächlich die Schneider, aus denen sich die Anhänger des Antisemitismus rekrutiren. In erster Linie liegt das daran, daß die Handwerker im Allgemeinen noch tief in der Unwissenheit stecken; der Arbeiter ist viel gebildeter. […] Redner faßt das Ergebnis seines Vortrags dahin zusammen, daß der Antisemitismus, der nur dazu da sei, die Massen irre zu führen und die Emanzipation der Arbeiterklasse aufzuhalten, mit aller Kraft bekämpft werden müsse und schließt mit den bekannten Worten des Dichters: Rechte Menschen soll’n wir werden / Und das ist, was Jeder kann, / Ob er Christ sei oder Jude, / Heide oder Muselmann. (Volksbote Nr. 87, 10. 11. 1889: 1 f.)
Während eines Streiks der Stettiner Schneider wurde den jüdischen Unternehmern allerdings besondere Zurückhaltung empfohlen: „Da die Konfektionäre Juden sind, so gebietet schon die einfache Klugheit, in der heutigen Zeit, wo man die Juden als die größten Ausbeuter hinstellt, nachzugeben“ (Volksbote Nr. 50, 28. 2. 1896: 3). Zu d iesem Anlass taucht auch das Motiv der Gier auf: Wir haben die Konfektionäre genug gewarnt, es nicht bis zum Aeußersten kommen zu lassen; wenn der Schneiderstreik, wie es den Anschein hat, zu einer allgemeinen Judenhetze ausgeschlachtet werden soll, dann trägt die unglaubliche Verblendung und die Profitgier jener Konfektionäre die Schuld, die an Stelle des Herzens einen Geldsack haben. (Volksbote Nr. 52, 2. 3. 1896: 3)
Den Versuch des Antisemiten Otto Böckler, diesen Streik politisch auszunutzen, wiesen die Stettiner Arbeiter jedoch zurück: Den Konfektionsstreik und die Arbeiter-Vertretung streifte Herr Böckler nur beiläufig, aber die volle Schaale seines Zornes goß er über die Presse aus, die selbstverständlich durch und durch verlogen und verjudet ist […] Ihm wurde in der Versammlung entsprechend vom Genossen Ohl gedient […] Schließlich wurde folgende Resolution mit allen (anwesend
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waren kaum 200 Personen) gegen 11 Stimmen angenommen: „Die heutige Versammlung erklärt sich mit den Ausführungen des Herrn Böckler nicht einverstanden. Sie versichert die streikenden Konfektions-Arbeiter ihre Sympathien, findet aber nicht, daß die Antisemiten irgendwie im Stande oder Willens sind, den Arbeitern zu helfen […]“ […] Das Resultat seiner Bemühungen ist für Herrn Böckler ein geradezu vernichtendes und wird ihm wohl für lange Zeit die Lust nehmen, sich eine zweite Niederlage zu holen. (Volksbote Nr. 54, 4. 3. 1896: 3)
Als der antisemitische Referent Ahlwardt die Sozialdemokratie „Judenschutztruppe“ nannte, hielt Genosse Herbert dagegen: „In Stettin befinde sich unter den Genossen ein einziger Jude, der ihm hoch willkommen sei. Er habe in seinem Leben viele achtbare Juden kennen gelernt und er wünsche nur, daß alle Antisemiten auch so achtbar wären“ (Volksbote Nr. 36, 12. 2. 1898: 2). Über ihre Ziele ließen die Antisemiten ihr Publikum nicht im Unklaren. Hans von Mosch sagte 1901: „Und Sie sollen einmal sehen, wenn wir 100 Redner durch Deutschland hindurchbürschten, dann bekommen wir auch 200 Abgeordnete, die uns dann ein Gesetz gegen die Judenbande schaffen, die wir dann hinausschmeißen können aus Deutschland“ (Volksbote Nr. 230, 27. 9. 1901: 3). Die Haltung des „Volksboten“ blieb klar: „Der Antisemitismus drückt das Volk auf eine tiefere Kulturstufe, der Sozialismus bringt es zu höherer Kultur. Der Antisemitismus ist ein Barometer, um die Dummheit eines Menschen zu messen“ (Nr. 240, 14. 10. 1902: 1). Über die antisemitischen Kandidaten in Stettin und Randow-Greifenhagen hieß es: Die Taktik, nach der sie vorgehen, ist ebenso einfach wie durchsichtig: alles Elend, das der Kapitalismus und das Junkertum über das deutsche Volk gebracht hat, wird einfach den Juden in die Schuhe geschoben. „Tut nichts, der Jude wird verbrannt!“ [aus Lessings „Nathan der Weise“ {1779} – H. B.] – das ist die stereotype Antwort der Herren Sepke und Förster auf die zwingendsten Nachweise, daß nicht die Juden, sondern Kapitalismus und agrar-konservativer Feudalismus die Springquellen sind, aus denen das Elend breiter Volksschichten sprudelt. (Volksbote Nr. 299, 22. 12. 1906: 1)
Allerdings waren die Antisemiten doch erfolgreich, insofern, als es ihnen gelang, die „Judenfrage“ (Bernstein sprach deshalb von „wenn man will, der sogenannten Judenfrage“, 1893: 228) auf der politischen Agenda zu etablieren und damit die emanzipatorischen Erfolge infrage zu stellen. In einem längeren Beilagenartikel, der sich der modernen rassischen Terminologie bedient, heißt es: Die Lösung der Judenfrage ist ein Problem, mit dem sich nicht nur die Antisemiten – freilich nur in einer so rohen Form, daß sie für „Politiker“ gar nicht diskutabel ist – beschäftigen, sondern auch die Juden selbst, denn die Gegensätze, die sie in Rasse und Religion gegen die Völker Europas bilden, sind doch eben nicht abzustreiten. […] Es kommen in der Hauptsache nur zwei Antworten in Betracht: die des Zionismus d. h. die Auswanderung
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nach einem in Palästina oder anderswo zu gründenden reinem Judenstaate oder die Assimilierung, – die Verschmelzung mit den Wirtsvölkern. (Beil. zu Volksbote Nr. 88, 13. 4. 1908: 1)
Am Schluss wird die sozialdemokratische Ansicht vertreten, „daß das größte Hemmnis der Assimilierung zur Zeit die christliche Staatsreligion ist und daß mit der von der Sozial demokratie geforderten völligen Trennung der Kirchen aller Art vom Staate die große Hälfte der Aufgabe gelöst“ würde (Beil. zu Volksbote Nr. 88, 13. 4. 1908: 1)14. Zum langen Streit z wischen Rabattsparvereinen und Konsumvereinen tadelte der „Volksbote“ die publi zistische Konkurrenz am Ort: Das Organ der Stettiner Liberalen bringt eine schwulstige Begrüßung der Rabattsparvereine, die heute und morgen in Stettin tagen, und fordert sogar auf, die Häuser zu beflaggen. […] Die Liberalen haben ja schon immer an politischer Knochenerweichung gelitten, man muß aber an Gehirnerweichung leiden, wenn man den Juden – und diese gehören doch fast ausnahmslos zu den Lesern der „Ostsee-Zeitung“ – zumutet, zu Ehren der Antisemiten auch noch zu flaggen. Wir hoffen, daß die Bürgerschaft Stettins noch nicht so antisemitisch verseucht ist, wie die Leitung der „Ostsee-Zeitung“. Die liberale Tante hat sogar entdeckt, daß die Rabattsparvereine, deren bisherige Tätigkeit, wie wir in vor. Nr. [162, 14. 7. 1912: 2 – H. B.] ausführten, hauptsächlich in einer öden Hetze gegen Juden und Konsumvereine besteht, eine hohe „nationale Aufgabe“ erfüllen. […] Die Hundstagshitze entschuldigt viel, aber doch nicht alles. (Volksbote Nr. 163, 16. 7. 1912: 2)
Insgesamt gelten dem „Volksboten“ die Antisemiten nicht als satisfaktionsfähig: „Wenn diese feigen Deutschtümler und Antisemiten, die in der Denunziation ihre Hauptstärke sehen, die deutsche Gesinnung repräsentierten, würde man sich schämen müssen, ein Deutscher zu sein“ (Volksbote Nr. 294, 17. 12. 1912: 1 f ). Er kritisierte aber auch, wenn sich Juden besonders national oder auch kaisertreu und antisozialdemokratisch gaben. Im Leitartikel zu einer Debatte im preußischen Landtag schrieb er (Nr. 79, 5. 4. 1913: 1):
14 Kautsky ging so weit zu behaupten: „Die Juden haben daher nicht den mindesten Grund, aus Furcht vor ihrer Assimilierung den einzigen Rettungsweg zu verschmähen, der ihnen offensteht: die energische Anteilnahme am Klassenkampf des Proletariats. Der Zionismus ist eine undurchführbare Idee“ (Kautsky 1914: 91). Mit dem Sozialismus würden Antisemitismus und Judentum verschwinden: „Nur aus dem Antisemitismus, aus der Verfolgung zieht das Judentum als besondere, von seiner Umgebung abgesonderte Korporation seine Existenz. Ohne die Verfolgung wäre es längst aufgesogen worden. Es muß mit ihr verschwinden“ (93). Und weiter: „Wir sind nicht völlig aus dem Mittelalter heraus, solange das Judentum noch unter uns existiert. Je eher es verschwindet, desto besser für die Gesellschaft und die Juden selbst. Dies Verschwinden bedeutet keineswegs einen tragischen Prozeß, wie etwa das Aussterben der Indianer oder der Tasmanier. Es bedeutet nicht einen Untergang in Stumpfsinn und Verkommenheit, sondern ein Aufsteigen zu höherer Kraft, zu Wohlstand und Gedeihen, die Erschließung eines ungeheuren Feldes der Betätigung“ (94).
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Die Judendebatte, die am Donnerstag im preußischen Dreiklassenhause geführt worden ist, wird man mit ästhetischem Vergnügen und stiller Heiterkeit lesen. Die Sozialdemokratie ist es gewohnt, von arischen Rassetheoretikern als gänzlich verjudet hingestellt zu werden, weil sie als einzige unter allen Parteien Deutschlands nie nach der Abstammung oder der Konfession ihrer Leute, sondern immer nur nach ihrer Tüchtigkeit und ihrem Charakter gefragt hat. […] So duldsam sie [die Sozialdemokratie – H. B.] selbstverständlicher Weise gegenüber allen Unterschieden der Konfession und der Rasse ist, oder richtiger, mit welcher Nichtbeachtung sie über alle diese althergebrachten nichtssagenden Unterschiede hinwegsieht, so unduldsam ist sie aber und muß sie sein gegen alle Selbsterniedrigung, gegen alles geduldige Tragen von Verletzung und Zurücksetzung, gegen jede schwächliche Preisgabe eingeborener Menschenrechte. Und darum kann sie unmöglich an jenem Teil der deutschen Juden Gefallen finden, der in das germanische Bärenfell gehüllt, den Speer der Väter in der Rechten, gegen Frankreich und England, Serbien und Bulgarien, mit besonderer Vorliebe aber auch gegen die „vaterlandslose Sozialdemokratie“ zu Felde zieht. Gewiß ist jener andere Teil nicht weniger lächerlich, der sein Heil in Zion gefunden hat und den deutschen Juden einreden will, sie hätten, da sie Juden seien, kein Recht, sich als Deutsche zu fühlen. […] Gerade aber weil der deutsche Jude zum deutschen Volke gehört und Pflichten gegenüber dem Volke hat, darf er sich nicht selber preisgeben, denn durch Preisgabe oder auch nur schwächliche Verteidigung seiner Gleichberechtigung hat man noch nie seinem Volke gedient. Der Jude, der sich die Zurücksetzung seiner Rasse gefallen läßt, ist nicht nur ein schlechter Jude, sondern auch ein schlechter Deutscher und überhaupt ein kläglicher Mensch. Woraus natürlich nicht folgt, daß nun alle Juden in Preußen-Deutschland unbedingt Sozialdemokraten sein müßten. […] Aber jene vorbehaltslose, den Chauvinisten nachempfundene „Hingabe an das Vaterland“, so wie es ist, die Begeisterung für ein Heer, das den Juden von den Ehren des sogenannten „ersten Standes“ ausschließt, die Erinnerungsseligkeit an Zeiten, in denen die Juden entrechtet und geknechtet waren, und die Kirchgänge zu patriotischem Gedächtnis – sie wirken wirklich nicht besonders erhebend, und man wird die wenig erbaulichen Eigentümlichkeiten derartiger Situationen immer noch kritisieren können, ohne deswegen zu den Antisemiten geworfen werden zu dürfen.15
Leuschen-Seppel (1978) sieht den sozialdemokratischen Umgang mit dem Antisemitismus im Kaiserreich kritisch, weil er „antipluralistisch gefaßt war, d. h. die völlige Assimilation der Juden als Voraussetzung ihrer konfliktfreien Integration implizierte und postulierte“ (279). Aus dem Antisemitismus der Kaiserzeit, den der „Volksbote“ vor allem lächerlich gefunden hatte, wurde in der NS-Diktatur blutiger Ernst. 1938 hielt der nationalsozialistische Gauleiter Franz Schwede-Coburg (1888 – 1960) eine Rede auf dem Paradeplatz in Stettin, kurz nach der „Reichskristallnacht“: 15 Bernstein (1893: 233) wandte sich gegen den Begriff Philosemitismus, denn dieser könne „auch heißen: Liebedienerei vor dem kapitalistischen Geldjudenthum, Unterstützung eines jüdischen Chauvinismus, Beschönigung von Juden begangenen Unrechts, von Juden entwickelter häßlicher Eigenschaften.“
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
Wir wollen aber auch heute die letzten Konsequenzen daraus ziehen und uns endgültig und restlos von der jüdischen Pest freimachen. (Stürmischer Beifall und Händeklatschen!) […] Im Interesse des deutschen Volkes und für seine glückliche Zukunft sind wir nun gezwungen, mit der Judenbrut in Deutschland aufzuräumen. […] Die Zeit der Juden ist in Deutschland aus! (Lebhafter, langanhaltender Beifall und Händeklatschen!) (Pommersche Zeitung, Nr. 135, 12. 11. 1938: 10)
Ebenfalls in der „Pommerschen Zeitung“ (Nr. 143, 20. 11. 1938: 1 f.) wandte sich Hauptschriftleiter Roland Buschmann gegen das „Verbrechen“ der „Humanitätsduselei dem Judentum gegenüber“, „dessen Ausmerzung längst beschlossene Sache ist“ und das „aus dem deutschen Leben zu verschwinden hat“.
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Der Kampf gegen den Alkoholismus
Der Alkoholmissbrauch wird als auch pommersches Problem seit dem Mittelalter beschrieben (Trinken 1846). Bis in die Gegenwart ist der (meist männliche) Alkoholkonsum in den Gebieten des ehemaligen Obersächsischen Reichskreises (Pommern, Brandenburg, Sachsen, Thüringen) höher als im Süden und Westen (Robert-Koch-Institut 2010: 148). Was als verträgliche Menge an Substanzzufuhr gelten kann, unterliegt medizin- und sozial geschichtlichen Schwankungen. Entscheidend sind die Folgen, von chronischen physischen und psychischen Auffälligkeiten bis zu rauschverursachter Kriminalität und Verwahrlosung. Allerdings gehört die Abstinenzler- bzw. Temperenzbewegung auch in die Traditionslinie der Volkshygiene, dient also dem großen Projekt der Moderne: Allgemeine Rationalisierung, die ins Irrational-Inhumane kippen kann. Ebenso ließ sich die Trink(un)kultur zur Verachtung der Schichten instrumentalisieren, die viel tranken bzw. nicht mehr als andere, aber öffentlich, also Arbeiter und Bauern.16 Entsprechend war die 1907 auf dem Essener SPD-Parteitag beschlossene Resolution zum Alkohol ein dialektisches Glanzstück. Dort wurde neben Prävention durch Hebung des Lebensstandards und das, was therapeutisch „kontrolliertes Trinken“ heißt, z. B. ein Ende des Trinkzwangs bei Arbeiterzusammenkünften gefordert (Protokoll 1907: 409 f 17). In hohen Steuern oder Verboten sah man aber eine Bedrohung, hervorgerufen aus Klassengegensätzen. Der „Volksbote“ verfolgte in der Alkoholfrage eine mittlere Position. Er befürwortete mäßigen Konsum. Besonders sprach er sich gegen die harten Getränke aus, denn 16 Entsprechend fordert eine Rezension zur „Alkoholfrage“ (Grüttner 1991), sich von der geschichtswissenschaftlichen Beschränkung auf die Unterschichten zu befreien, weil diese einem kommunikativen Trick des Bürgertums gehorche. 17 Auf dem Parteitag kamen von Abstinenzlern auch schärfere Vorschläge zur Sprache, man einigte sich aber auf den Antrag Wurm als Kompromisspapier, wonach die Lebensbedingungen verbessert werden müssten.
Der Kampf gegen den Alkoholismus
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es sei offenkundig, „wie sehr der Schnapskonsum überall dort abnimmt, wo auch der arme Mann in der Lage ist, sich ein gutes Glas Bier zu beschaffen“ (Volksbote Nr. 30, 29. 10. 1885: 2). Zugleich äußert die Zeitung Verständnis für das Trinken angesichts der schwierigen Lebensverhältnisse: Nur das Vergessen im Rausch giebt dem Armen reine Freude, will man ihm da verdenken, wenn er den Rausch liebt und sich durch ihn für kurzes Vergessen des Elendes freilich noch elender macht? Denn auch dieser „Freund des Armen“, der Rausch, ist ein ebenso falscher Freund, wie der Prediger der Zufriedenheit. (Volksbote Nr. 78, 10. 10. 1889: 1)
Ferner wird kritisiert, dass die bürgerliche Presse den Alkoholismus der Arbeiter anprangert, ohne sich gegen die Ursachen zu wenden und die oberen Schichten ebenfalls zu ermahnen: Dieselbe Presse, die heute Krokodilsthränen weint über die Zunahme der Trunksucht, ist es in erster Linie, die alle Bestrebungen der Arbeiter auf Verbesserung und Sicherung ihrer Lebensunterhaltung bekämpft; die in jeder gewerkschaftlichen und politischen Bethätigung der Arbeiter eine Gefahr für die Existenz des Bourgeoisstaates erblickt; die aber kein Wort der Mißbilligung findet, wenn die Unternehmer die Löhne kürzen und die Arbeiter an der Ausübung ihrer politischen Rechte hindern… […] Ihr ist immer in solchen Fällen der ländliche und versoffene Arbeiter, der öffentliches Aergernis erregt, ein Mittel, um die Noth und das Elend in den Arbeiterfamilien mit der Trunksucht der Männer zu entschuldigen. […] Wenn die verelendeten Arbeiter alle Kommerzienräthe wären und sich im Wein übernommen hätten, dann würden sie nur angeheitert sein. (Volksbote Nr. 288, 5. 12. 1901: 3)
Der „Volksbote“ sprach sich auch gegen Versuche der Abstinenzlerbewegung aus, die Frage des Alkoholkonsums zu einer zentralen Frage der Arbeiterbewegung zu machen. Man solle nicht deswegen innerparteiliche Konflikte schüren: Wir rechnen den mäßigen Alkoholgenuß zu denjenigen Genußmitteln, welche die Lebensfreude erhöhen und welches nach ärztlicher Ansicht absolut unschädlich ist. Uebermäßig genossen, ist auch Kaffee, Thee, Tabak schädlich, und hierauf verzichten die Abstinenzler doch auch nicht. Hat Jemand Lust, die Abstinenzfrage zu erörtern, so mag er das im Wahlverein vor den Genossen thun; wir hoffen, daß die Presse davon verschont bleibt. Red. d. Volksb. (Nr. 221, 17. 9. 1901: 3)
Im Gegenteil würden die anti-alkoholischen Bestrebungen „in letzter Linie nichts weiter als eine Stärkung der Reaktion und des Muckerthums bedeuten“ (Volksbote Nr. 141, 20. 6. 1902: 1), denn:
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
Wenn die Orden der Guttempler, die Abstinenz-Vereine und alles, was den Arbeiter heut vor den schrecklichen Folgen des Alkoholgenusses retten will nur den zehnten Theil an Agitationskraft und Mitteln, die sie gegen den Alkohol aufbringen, aufwenden würde im Kampfe zur Verbesserung der Lebenshaltung der Arbeiter, dann würde m. E. damit dem Schnapsteufel mehr Abbruch geschehen, als durch die schönsten Predigten der sogenannten Mäßigkeitsvereine. (Beil. zu Volksbote Nr. 231, 28. 9. 1901: 2) Privatim kann natürlich Jeder seine Liebhabereien treiben, so toll er nur mag; mögen auch die Herren Bourgeois an Stelle von Bier und Wein Wasser oder Milch trinken; man möge aber die Arbeiterschaft mit den sog. guten Rathschlägen verschonen, die Wichtigeres zu thun hat, um zu ihrem großen Ziele zu gelangen. (Volksbote Nr. 235, 8. 10. 1902: 1)
Die Artikel im „Volksboten“, die sich prononciert gegen den Alkohol aussprechen, wurden aus anderen Zeitungen übernommen, so aus dem „Vorwärts“, wonach der Alkoholgenuss beseitigt werden müsse, „weil die Menschen, die eine zunehmende Degeneration für die Rolle der Arbeitssklaven tauglich werden ließ, sich nicht einmal zur freien Persönlichkeit erheben können“ (Beil. zu Volksbote Nr. 215, 15. 9. 1902: 1). Émile Vandervelde schrieb 1906 aus Brüssel: Tatsache ist, daß die Arbeiterorganisation den Alkoholismus vermindert und umgekehrt, daß alles, was den Alkoholkonsum vermindert, die Hilfsmittel der Arbeiterorganisation vermehrt, das moralische Niveau des Proletariats erhöht und ihm neue Kraft zuführt im Kampfe um seine Emanzipation. (Beilage zum Volksboten Nr. 173, 27. 7. 1906: 1)
Vandervelde berichtete 1914 an den Kongress der belgischen Arbeiter: „Mit dem Alkoholismus verhandelt man so wenig wie mit der Pest oder der Cholera. ,Mäßigkeit‘ ist nicht am Platze, wo es sich um ein Gift handelt“ (Beil. zu Volksbote Nr. 82, 7. 4. 1914: 2). Aus der „Neuen Gesellschaft“ übernommen wurde ein Text von Auguste Forel über die Folgen des Trinkens: Wenn sie trinken, vernachlässigen die Arbeiter selbst ihre Familienpflichten, vertrinken einen Teil ihres Lohnes, bringen Verwirrung in ihre Organisationen, diskreditieren ihre sozialreformatorische Arbeit, verlieren die Sympathie der ruhigen und arbeitsamen Geister, werden zu Sklaven der Wirte und der Alkoholkapitalisten, und reißen dadurch die mühsam aufgebaute, sozialistische Mauer wieder herunter. […] Fort damit! Die Enthaltsamkeit des Alkohols bedeutet keinen Verlust, im Gegenteil nur einen Gewinn für jeden. Sie gibt dem Menschen seine natürliche Kraft, seine Kampffähigkeit, seine vernünftige Ueberlegung zurück und macht ihn dazu fähig, das Geldausbeutungssystem erfolgreich zu bekämpfen und eine neue soziale Aera anzubahnen, in welcher es kein Proletariat und keine Kapitalisten, sondern nur Menschen und zwar bessere, glücklichere und gesundere Menschen geben wird. (Volksbote Nr. 212, 11. 9. 1907: 1)
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In einem Bericht über die Fürsorge für Alkoholkranke in Pommern wurden neue Ansätze der Behandlung hervorgehoben: „Es ist ein Fortschritt, daß man die Trinker als Kranke und nicht als Verworfene behandelt“ (Beil. zu Volksbote Nr. 107, 9. 5. 1913: 5). Der „Volksbote“, der die Studenten der pommerschen Universität Greifswald sehr kritisch sah, nahm auch deren Trinksitten aufs Korn: Die „Romantik des Studentenlebens“ soll im Einverständnis von Rektor und Senat der hiesigen Universität durch öffentliche Saufgelage auf dem Fischmarkt jeden Montag morgen aufgefrischt werden. Den Anfang mit diesen öffentlichen Saufgelagen hat man bei dem Kaiserjubiläumsrummel gemacht und daran so großen Geschmack gefunden, daß man diesen Unfug zur dauernden Einrichtung machen will. Die hiesigen Abstinenzvereine protestieren mit Recht gegen diese Uebertragung des studentischen Saufkomments auf die Straßen, weil erstens in Greifswald genug Kneipen sind und zweitens solche öffentlichen Saufgelage demoralisierend auf die heranwachsende Jugend wirken müssen. Wenn man heutzutage mehr und mehr bestrebt ist, die heranwachsende Jugend zur Mäßigkeit und Nüchternheit zu erziehen, dann darf ihnen nicht jede Woche aufs neue vor Augen geführt werden, daß „das Geld versaufen“ „ein hoher, herrlicher Beruf“ sei. Solche „Marktfeste“ mögen bei besonderen Gelegenheiten am Platze sein um eine gemütliche fröhliche Stimmung zu wecken, aber sie sind vom Uebel, wenn aus der Ausnahme die Regel wird. (Volksbote Nr. 153, 3. 7. 1913: 3)
V.9
Religion, Kirche und Atheismus
Pommern war evangelisch, der preußische König zugleich Oberhaupt der Landeskirche (Summepiskopat). Nachdem Wilhelm II. 1890 ein „soziales Kaisertum“ ausrief, tagte die Pommersche Provinzialsynode, auf der der Greifswalder Theologe Hermann Cremer 18 die Kirche zwar zu mehr sozialem Engagement aufforderte, aber auch Sozialdemokratie und Kapitalismus Brüder nannte, die durch Materialismus und Mammon verbunden seien; Cremers Kommission wollte sich auch an die Öffentlichkeit wenden, um vor der Sozialdemokratie zu warnen – 13 Mitglieder der Synode forderten eine Abmilderung (Bloth 1979: 205 f ). Staatskirche und Sozialdemokratie standen einander ablehnend gegenüber, im Erfurter Programm (1891) forderte die Partei die „Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu religiösen und kirchlichen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen.“ 18 Hermann Cremer, 1834 im westfälischen Unna geboren, hatte seit 1870 den Lehrstuhl für syste matische Theologie der Universität Greifswald inne und war bis 1889 Pfarrer an der Greifswalder Marienkirche. Er forschte zur Bibel und wirkte kirchenpolitisch im orthodoxen Sinne (Deutsche Biographische Enzyklopädie, hrsg. von Killy, Walter, Bd. 2, München: dtv/K. G. Saur 2001: 398).
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Entsprechend zahlreich sind die Artikel im Stettiner „Volksboten“, die sich kritisch mit der Kirche befassen. Schon in der ersten Nummer wurde zum Kirchenaustritt aufgefordert: Wir wünschen selbstverständlich, daß die Grundsätze der freireligiösen Gemeinden 19 im Volke immer tiefere Wurzeln fassen mögen, namentlich bitten wir Alle, w elche bereits mit den traditionellen religiösen Anschauungen gebrochen haben, auch aus der Landeskirche auszuscheiden. (Volksbote Nr. 1, 7. 1. 1885: 4)
Über die Teilnehmer der Generalsynode hieß es im ersten Jahrgang der Zeitung, „daß diese Herren vielfach nur sehr geringe Kenntnisse von dem eigentlichen Volksleben haben, deshalb auch das Monotone in ihren Reden“ (Volksbote Nr. 30, 29. 10. 1885: 2). Der „Volksbote“ vertrat eine Art Substitutionstheologie: Die Sozialdemokratie trete als Heilslehre an die Stelle des Christentums. Im Leitartikel „Pfingsten“ wurde sogar der publizistische Erfolg mit dem Heiligen Geist verknüpft: Die Gleichheit in der christlichen Religion ist inzwischen in die Brüche gegangen […] Eine Parallele mit der ersten Verbreitung des Christenthums läßt sich nur mit der Propaganda für die sozialdemokratischen Lehren ziehen […] Ist es nicht gleichsam, als ob eine Art heiligen Geistes auch heute über die Männer des Volkes gekommen wäre, die, in der Jugend meist ohne tiefere Bildung, aber begabt mit scharfem Verstande, mit eiserner Energie unermüdlich sich Wissen aneignen, um mit den „Gelehrten“ unserer Zeit in Wort und Schrift den Kampf für Freiheit und Recht zu führen? […] So feiern die Arbeiter am besten Pfingsten, wenn sie, erfüllt von dem heiligen Geist der neuen Lehre, überall Anhänger für dieselbe zu gewinnen suchen, wobei die Verbreitung der Arbeiterpresse nicht vergessen werden darf. (Volksbote Nr. 44, 9. 6. 1889: 1 f.)
Die Zeitung wandte sich auch gegen Bestrebungen, sich aus religiösen Gründen mit der prekären sozialen Lage abzufinden: Die Zufriedenheit ist das schlimmste Laster. Keine Dummheit, keine Branntweinpest, kein anderes Laster kann so sehr ein Volk zurückbringen, als Zufriedenheit. Zufriedenheit ist moralischer Tod und zieht geistige und körperliche Vernichtung nach sich. […] Ein Arbeiter, der bei ungenügender Ernährung, in Mangel und Dürftigkeit, bei seiner darbenden Familie sich zufrieden fühlt, gehört ebenso ins Tollhaus, als ein anderer Narr, der sich einbildet, ein Weltherrscher zu sein, Todesurtheile ausstellt oder ein solcher, der im Verfolgungswahnsinn tobt. […] Es hat sich eine religiöse Richtung gebildet, die sich fälschlich „christlich“ nennt, die aber in Wirklichkeit nichts anderes ist, als ein Mißbrauch des Christenthums zu kapitalistischen Zwecken. Diese Richtung ist bemüht, den Arbeitern vorzureden, die geistige 19 Auch die Stettiner freireligiöse Gemeinde traf später Kritik, sie sei „religiöser Krimskrams“ und „Mysticismus“ (Volksbote Nr. 70, 11. 9. 1887: 4).
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Krankheit, „Zufriedenheit“ genannt, wäre etwas besonders Verdienstliches, etwas Gottgewolltes, etwas von Jesu Gelehrtes. Diese kapitalistische Richtung ist heute im Christenthum der Kirchen sehr vorherrschend. (Volksbote Nr. 78, 10. 10. 1889: 1) Es ist schwer zu begreifen, wenn man in der heutigen Zeit, wo die Mehrheit der Bevölkerung durch das Schicksal verbittert und verfinstert ist, davon redet, daß vor 1889 Jahren der Erlöser erschienen sei. Noch wie damals leidet das Volk, nur in anderer Form. Aber mehr wie jemals sehen wir heute der Zukunft frohlockend entgegen, es ist in unserer Zeit wirklich ein Erlöser erschienen, der die Menschheit von vielen Leiden befreien wird, und dieser heißt: Sozialdemokratie. (Volksbote Nr. 99, 22. 12. 1889: 1)
Die Pfarrer seien weltfremd und begriffen die Gesellschaft nicht, in der sie leben: Wir sind weder fromm noch gläubig, aber es ist uns ernst mit dem Programmsatze, daß Religion Privatsache sein soll. Unsere Feinde kennen die Welt nicht, in der sie leben. Die Struktur ihrer eigenen Bourgeoiswelt ist ihnen fremd. Der kapitalistische Produktionsprozess selber ist es doch, der den Proletarier immer und immer wieder veranlaßt, seinen Blick von den Sternen abzuwenden und auf „irdische“ Angelegenheiten zu richten. Die Weltanschauung des ganzen Volkes wird durch den Kapitalismus nothwendig und unvermeidlich eine materialistische. (Volksbote Nr. 56, 6. 3. 1896: 1 f.)
Das Christentum habe sich historisch überlebt und weiche der wissenschaftlichen Weltanschauung, weswegen Kinder von Dissidenten nicht am Religionsunterricht teilnehmen sollten: Sonach bleibt also Alles beim alten; nach wie vor besteht in Preußen Gewissensfreiheit, sie besteht aber auch nicht. Die Religion, die dem Volke erhalten bleiben soll, wird nur zu bald einer andern, auf sittlicher Grundlage beruhenden weichen müssen. Daß die Kinder, sobald sie älter werden, ihre Entscheidung treffen, darauf kann sich der Kultusminister verlassen. Wir geben uns der Hoffnung hin, daß die Entscheidung zu Gunsten einer Anschauung ausfällt, die dem Dogmenglauben abhold und dem Wahren, Schönen und Edlen zugethan ist. (Volksbote Nr. 70, 23. 3. 1896: 1) Die kirchlichen Lehren sind im Lichte der Gegenwart als Nebel zerflossen und gehören der Geschichte an. Die rückständigen Elemente ausgenommen, haben sich die zivilisirten Kreise längst von ihnen losgesagt […] Das Proletariat aber, das klassenbewußte, läßt sich durch noch so berückende Sirenentöne die kirchlichen Illusionen nicht einflößen und durch neblige Vorstellungen und weibliche Gefühle seine Thatkraft und Kampfesenergie schwächen und lähmen. (Volksbote Nr. 40, 17. 2. 1897: 2)
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
In einem historischen Artikel über den Reformator Melanchthon heißt es, die theolo gischen Händel s eien „für uns moderne Menschen nichts als mittelalterliche Kuriositäten“ (Volksbote Nr. 41, 18. 2. 1897: 1). Das eigentlich Revolutionäre seien „Buchdruckerkunst und das Schießpulver, der Kompaß und das Teleskop“ (Volksbote Nr. 41, 18. 2. 1897: 2). Das heutige Christentum sei Instrument der Besitzenden, die selbst schon nicht mehr glaubten: Das Christenthum ist ehedem wohl die Religion der Armen gewesen, heute ist sie aber die Religion der Reichen. Warum bemühen sich denn die Herrschenden so krampfhaft und lassen es sich so viel Geld kosten, um die Religion dem Volke zu erhalten, während sie selbst längst mit dem Kirchenglauben gebrochen haben? Weil eben die K irche die Verbündete der Reaktion und des Kapitalismus ist! […] Daß die Menschheit sich von der Bevormundung der Geistlichkeit allmälig befreit, ist übrigens im Interesse des Fortschritts und der Kultur nothwendig. (Volksbote Nr. 131, 9. 6. 1902: 1)
Die Distanz zur Kirche und zur Glaubenspraxis sei gerade in evangelischen Gebieten offenkundig: Mit der Frömmigkeit des Volkes geht es bergab. Das ist im Interesse des Fortschritts auf das Lebhafteste zu begrüßen, denn heute sind die Frommen zugleich reaktionär. Das gilt in gleicher Weise vom Katholizismus wie vom Protestantismus. Die katholische K irche hält ihre treuen Schäflein besser an der Leine; die Katholiken haben über Mangel an Kirchenbesuchern nicht zu klagen, obwohl es in katholischen Orten viel zu viel Kirchen giebt. Anders in protestantischen Gegenden. Dort sind, wenigstens in den großen Städten, wie beispielsweise Berlin und Stettin, im Verhältnis zur gesammten Bevölkerung gerade nicht zu viel Kirchen, aber nach der geringen Zahl der Besucher noch immer zu viel, denn die Kirchen sind meist leer. Nur an hohen Feiertagen, wo die liebe Frauenwelt die Kirche vielfach aus Eitelkeit besucht, um den neuen „Staat“ [festliche Kleidung – H. B.] zu zeigen, sind die Kirchen gefüllt. (Volksbote Nr. 141, 20. 6. 1902: 1)
Karl Kautsky schrieb in der „Neuen Zeit“, worauf es dem Proletariat kirchenpolitisch ankam: „tatkräftige Eroberung des Diesseits“, nicht „duldende[s] Harren auf das Jenseits“ (Kautsky 1903: 86). Der „Volksbote“ widmete entsprechend den Messias um: Der biblische Heiland ist in der Praxis im Laufe der Zeiten von den Reichen zu einem Heiland der Reichen gemacht worden. Unser Heiland aber, der die Welt wirklich von allem Uebel erlösen und den Frieden auf Erden bringen wird, das ist der Sozialismus, die Betätigung der Solidarität aller Arbeitenden. (Volksbote Nr. 300, 24. 12. 1903: 1)
Auch in den örtlichen Parteiorganisationen war das Verhältnis zum Christentum Thema, befördert durch die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich 1905. Die oft noch
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frommen Frauen müssten aufgeklärt, der Religionsunterricht bekämpft und der Kirchenaustritt gefördert werden. Es wurden aber auch Stimmen laut, die die Vereinbarkeit von Sozialismus und Glauben vertraten. Die Mitgliederversammlung Wahlverein RandowGreifenhagen diskutierte so: Redner [Genosse Großjohann – H. B.] gibt seiner Auffassung dahin Ausdruck, daß für die Sozialdemokratie Religion nun und nimmermehr Privatsache sein könne. Gegenüber den Frauen tolerant sein, heiße in der Praxis nichts anders, als sie im Aberglauben und in der Unwissenheit stecken lassen. Nicht Toleranz, sondern Aufklärung sei gegenüber den Frauen von Nöten. Wenn man die Kinder den Wünschen der Frauen gemäß taufen lasse, wäre man wohl tolerant gegenüber den Frauen, aber intolerant gegenüber den Kindern, deren freier Entschließung man vorgreife. Ein wirklich freies Geschlecht heranzuziehen, sei nur möglich, wenn die Eltern dafür sorgen, daß die Einflüsse des Religionsunterrichts in den Schulen auf das kindliche Gemüt durch einen freien Moralunterricht möglichst abgeschwächt würden. – Genosse Scharping kann nicht umhin, es als eine grobe Inkonsequenz zu bezeichnen, wenn Parteigenossen, die innerlich mit der K irche gebrochen haben, ferner Mitglieder der Kirche bleiben. Die Sozialdemokratie müsse die Religionsgemeinschaften, denen der Staat seine ganze Machtfülle zur Verfügung stelle, bekämpfen, weil dieselben in den Schulen der Jugend einen Glauben oktroyieren. […] [Genosse Twellmeier:] Sozialist im marxistischen Sinne könne ein religiöser Mensch allerdings nicht sein. Im übrigen sei er der Meinung, daß für die heutige Gesellschaft Religion nicht Privat- sondern Hauptsache sei. Die Religion sei für den Kapitalismus ein Mittel, sich willfährige Ausbeutungsobjekte heranzuziehen. Daher sei es Aufgabe der Sozialdemokratie, die Massen mit den Naturwissenschaften bekannt zu machen, um so allmählich die religiösen Anschauungen zu verdrängen. […] [Genosse Julius Müller:] Die Frage, die jeder zu entscheiden habe, sei unerbittlich so gestellt: Willst Du Dich Deinem Herrgott anvertrauen oder selbst dein Schicksal schaffen? Entschließt sich ein Arbeiter für das erstere, so ist er Christ, der notgedrungen unseren Bestrebungen innerlich fernstehen müsse, entschließt er sich für das letztere, so müsse er zur Teilnahme an dem Kampf der sozialdemokratischen Arbeiterschaft kommen. […] [Genosse Lohrenscheidt:] Er hielt es aus agitatorischen Gründen für sehr bedenklich, zu sehr den Kampf gegen die Religion zu betonen. Der Programmsatz: „Erklärung der Religion zur Privatsache“ müsse beibehalten werden. […] [Genosse Quessel:] Es stände einer Partei, die sich jede Einmischung des Staates in Glaubenssachen verbittet, auch wahrlich schlecht an, ihrerseits ihren Mitgliedern irgend eine Verpflichtung aufzuerlegen, und wäre es auch nur die, aus einer K irche auszutreten, der sie innerlich bereits fernstehen. Es ist ein großer Irrtum, wenn einige Genossen annehmen, daß eine solche Stellungnahme der Partei nur durch agitatorische Rücksichten diktiert sei. Nein, die Masse der Parteigenossen hat sich glücklicherweise zu der Wahrheit durchgerungen, daß jede, auch die geringste Einmischung in diese Sphäre im Widerspruch zu der geistigen Freiheit steht, die wir in der sozialistischen Gesellschaft begründen wollen. […] Man könne daher sehr wohl Christ und Sozialist sein. (Beil. zu Volksbote Nr. 57, 8. 3. 1905: 1)
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Letztlich sei das Absterben des Christentums aber, so der „Volksbote“, eine Befreiung, der Opfertod Jesu nur Einbildung eines furchtsamen menschlichen Geistes, dieser bestehe nur im Diesseits: Der Wunderglaube starb an dem Kreuze der Wissenschaft seinen Martertod – man braucht ihn nicht zu lieben, um seine große Tragödie mitzufühlen: eine Weltanschauung, die Jahrtausende lang Denken und Handeln der Menschen bestimmt hatte, starb schmählich, stückweise dahin. […] Der Odem der Wahrheit hat die Grüfte gesprengt, der erwachende menschliche Geist dehnt sich in Frühlingsfreiheit. Den finstern Gott, der seinen eigenen Sohn leiden ließ, um eine dunkle Schuld der Menschheit zu sühnen, hat er als Schreckgespenst der eigenen geängs teten Phantasie erkannt; ihn hemmt keine Schranke des Jenseits. (Volksbote Nr. 95, 22. 4. 1905: 1)
„Ein wirklich religiöser Mensch muß den Zustand, den die Sozialdemokratie anstrebt, als den einzig wünschenswerten anerkennen“ (Volksbote Nr. 178, 2. 8. 1906: 1). Zu Pfingsten erneuert ein Leitartikel von Wilhelm Liebknecht (bereits 1893 für den „Vorwärts“ verfasst) den Anspruch der Sozialdemokratie, das Christentum abzulösen: Die Sozialdemokratie, die auch eine neue Kirche gegründet hat, die echte, internationale Weltkirche, sie verfährt ähnlich wie die Gründer der alten christlichen K irche. Wir stellen uns nicht in die Luft, sondern knüpfen an das an, was wir vorfinden. Die Wissenschaft lehrt uns, daß die Kulturentwicklung der Menschheit organisch, ununterbrochen voranschreitet […] Wer von uns freie Zeit hat und den Geist in sich verspürt, der ziehe Pfingsten aus zu den „Heiden“, die gegen das weltbefreiende Evangelium bisher taub waren – und predige mit feuriger Zunge die Botschaft der Befreiung des arbeitenden Volkes durch den Sozialismus, der Erlösung der Arbeiter durch die Arbeiter, der Errichtung des Reichs der Gerechtigkeit, Freiheit und Bruderliebe. (Volksbote Nr. 134, 10. 6. 1905: 1)
Der „Volksbote“ bezieht auch die kirchlichen Feste in seine Kritik ein. Es sei eine „praktische Ausübung von Kulthandlungen für den Wissenden nicht mehr möglich“ (Volksbote Nr. 299, 23. 12. 1907: 1). Selbst Weihnachten sei verdorben und müsse durch Feiern der Arbeiter ersetzt werden: Denn abgesehen von kleinlicher, abstoßend-protzenhafter Brockenbarmherzigkeit zieht die Liebe des christlichen Weihnachtsfestes nur enge Familienkreise in ihren Bereich, wendet sie sich ab von der werktätiger Menschenliebe am meisten bedürftigen großen Masse des Volkes, der freilich nicht mit Bettelbissen, sondern nur mit umfassender sozialer Liebestätig keit geholfen werden kann. […] Es besteht immer noch das alte Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnis und das Christentum konnte daran auch nichts ändern, wenn es auch gewollt hätte. Aber das wollte es gar nicht – es wollte den Menschen nur von seinen irdischen Bestrebungen abziehen und verwies ihn einfach auf einen Himmel, den die heidnische Menschheit bis dahin gar nicht gekannt hatte. Der „Friede auf Erden“, den es
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v erkündet, das ist der Friede der Unterwerfung, der Friede, den die Peitsche herstellt. (Volksbote Nr. 300, 24. 12. 1907: 1) Dieses Christentum, das eine Religion der allgemeinen Erlösung werden sollte und nur eine Religion der allgemeinen Knechtung geworden ist, kann selbstverständlich der auch nach wirtschaftlicher Erlösung seufzenden und drängenden Arbeitermasse nichts mehr sagen und nichts mehr geben. […] Zur Feier ihrer zukünftigen Erlösung von wirtschaftlichem Drucke aber und zur Propagierung d ieses sittlichen, weil die Menschheit auf eine höhere Stufe hebenden Ideals haben sie sich, im Gegensatz zur ganzen bürgerlichen Welt, ein eigenes Fest geschaffen, das Maifest der Arbeit, das einst wohl das christliche Osterfest ganz ablösen wird. (Volksbote Nr. 92, 18. 4. 1908: 1)
Gegner seien aber nicht die Glaubenssätze, sondern die verfasste K irche: In dem großen Befreiungskampfe der Arbeiterklasse hat sich das Christentum als der zäheste Widersacher erwiesen; die christlichen Volksschichten haben bisher unserm Vordringen die meisten Hemmnisse entgegengesetzt. […] Religion und Sozialismus können schon deshalb nicht Gegensätze sein, weil sie über völlig verschiedene Fragen handeln; dieser beschäftigt sich nur mit der materiellen Gestaltung des Wirtschaftslebens, jene besteht in bestimmten Anschauungen über das Uebernatürliche. […] In philosophischen Meinungen und metaphysischen Anschauungen besteht kein Zwang; darüber läßt sich reden; was wir wollen und worauf wir uns verpflichten, ist nur die materielle Umgestaltung der Lebensverhältnisse. […] Der angebliche Gegensatz von Religion und Sozialismus ist nur Vorwand; tatsächlich handelt es sich um den Gegensatz zwischen Kirche und Klassenkampf. […] Die christliche Religion, die sie gegen uns verteidigt, ist nichts als die Lehre der Solidarität der Ausgebeuteten mit den Ausbeutern, ist die Lehre des Duldens, der Demut, des Bettels und des Klassenverrats. (Volksbote Nr. 232, 4. 10. 1911: 1) Der Klerikalismus fürchtet nur einen Feind: die Sozialdemokratie, von der er keinen Pardon zu erwarten hat. Wir rechnen es uns zur Ehre, von der volks- und kulturfeindlichsten Macht, die die Welt kennt, gehaßt und bekämpft zu werden. Wir wissen, daß es mit dieser Macht auch in Deutschland zu Ende gehen wird, trotz der Parteien und Regierungen, die der Kirche und dem Zentrum die Schleppe tragen. Wir wissen es, weil der Klerikalismus den Wurm im Gebälk hat, und seine Gemeinschädlichkeit mit jedem Tage offenbarer wird, wir wissen es, weil das unaufhörliche Wachstum unserer Reihen uns die Gewähr gibt, daß wir genug sein werden, um den Erbfeind aller Kultur, aller Freiheit und alles Fortschritts niederzuringen. (Beil. zu Volksbote Nr. 183, 8. 8. 1911: 1) Der Geistliche, der katholische wie der protestantische, beschränke sich auf die intensive, menschliche, weltoffene Pflege einer edlen durch keinerlei Selbstsucht entwürdigten Religiosität an den Menschen, die dieser Religiosität bedürfen zu müssen glauben. (Beil. zu Volksbote Nr. 255, 31. 10. 1911: 1)
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Diese verfasste Kirche habe sich von Christus abgewandt: So ist’s recht: Wenn der hungrige Magen knurren will, so lehrt ihn Psalmen und Lobgesänge singen, denn auch eine Mißernte ist eine Gabe Gottes. Nur schade, daß der hungrige Magen ein Rebell ist, an dem alle Dressurkunststücke wirkungslos bleiben. […] Christus, der der Armen und Elenden Heiland war, dürfte von diesen Taten seiner Jünger nicht sehr erbaut sein; er würde gegen sie und ihre Freunde kämpfen, vereint mit der Sozialdemokratie! (Beil. zu Volksbote Nr. 282, 2. 12. 1911: 1) Die christliche Heilslehre fiel bei den von Rom geknechteten und ausgebeuteten Völkern Kleinasiens auf fruchtbaren Boden. Willig – nicht mit Heldenmut, sondern demutsvoll und ergeben nahmen die Bekenner der neuen Lehre alle Verfolgungen auf sich. Aber die ehemals Bedrückten, Beschimpften und Gestoßenen werden, zu Herren geworden, selbst zu Bedrückern und Verfolgern. […] Schwert und Scheiterhaufen, Hexenprozesse und Inquisition – das sind die Merksteine derjenigen Religion, die der Menschheit die Liebe und den Frieden bringen sollten. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 301, 24. 12. 1911: 1)
Zu Ostern 1912 griff der „Volksbote“ die neuen Strömungen an, die Christen- und Neugermanentum verbinden wollten (und damit eine Entwicklungslinie des Nationalsozialismus wurden): „Ostern. Ein christlich-germanisches Fest.“: Christlich-germanisch ist Trumpf. So wie es den Jesuiten nicht genügt, Christen zu heißen, so genügt es heute nicht mehr, deutsch zu sein. Man muß christlich-germanisch sein, sonst hat man kein Recht, mitzuzählen. Das Christentum allein macht es nicht, zumal ihm, was leider auch der entschiedenste Antisemit nicht leugnen kann, ein fataler altjüdischer Beigeschmack anhaftet, und das Germanentum allein macht es auch nicht, denn das ist zu steifnackig und rauh, um den Verkündern der christlich-germanischen Heilsbotschaft gefallen zu können. Das Christentum muß erst sozusagen germanisch desinfiziert und das Germanentum christlich gebändigt werden, wenn es einen guten Osterklang geben soll. Diese wunderliche Mixtur aus billiger Philologenweisheit und christlicher Theologie wird uns als das Wundermittel angepriesen, das die kranke Zeit heilen soll. […] Denn dieses christliche Germanentum, das durch das landesübliche Ostergeläute der gutgesinnten Presse hindurchklingt, ist tönende Schelle und klingendes Erz.20 […] Warum sollten wir uns das schöne Gut eines erfrischenden Osterspazierganges durch christlich-germanischen Trübsinn verkümmern lassen? (Volksbote Nr. 82, 7. 4. 1912: 1)
Stattdessen sei es die Sozialdemokratie, die den eigentlichen Gehalt des Christentums bewahre: 20 „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.“ (1. Korinther 13, 1)
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In jeder Religion, auch im Christentum, steckt ein doppeltes Prinzip, ein individualistischrevolutionäres und ein konservativ-reaktionäres. Die orthodox-protestantische Auffassung leugnet natürlich das erstere und knüpft ausschließlich an das letztere an. In ihren Augen sind Welt und Menschheit, so wie sie sind, das Werk und damit der Ausdruck des Willens Gottes. […] Wer an Gott glaubt und ihn als seinen Vater über alle Dinge liebt, muß ebenso inbrünstig an diejenigen glauben und diejenigen lieben, die mit ihm Gotteskinder und dadurch vor Gott in d iesem Leben seine Brüder und Schwestern sind. […] So gehört Christentum und Politik in der Tat heute eng und wesenhaft zusammen. Aber nur in der einen möglichen und allein ehrlichen Formulierung: Ein Christ muß Sozialdemokrat sein. (Beil. zu Volksbote Nr. 14, 18. 1. 1912: 1) Tatsache ist, daß die sozialdemokratische Organisation eine Kampforganisation gegen die herrschende ausbeutende und unterdrückende Klasse, nicht aber eine Kampforganisation gegen die Kirche ist. Tatsache ist weiter, daß umgekehrt die Kirchen immermehr den Charakter von Kampforganisationen gegen die Sozialdemokratie annehmen, daß sie sich damit solidarisch erklären mit der Klasse, deren Herrschaft die Sozialdemokratie bekämpft, daß sie sich mitverantwortlich machen für die weltliche Einrichtung, die die Sozialdemokratie kritisiert. […] Mögen also die andern die Religion zur Parteisache machen, für die Sozialdemokratie bleibt sie nach wie vor im Sinne ihres Programmes Privatsache! (Volksbote Nr. 182, 7. 8.1912: 1)
Auf lange Sicht werde aber die Religion verschwinden, weil mit dem Sozialismus ihre materielle Basis entfalle – ein Kirchenkampf sei daher gar nicht notwendig: Die Religionslosigkeit des Proletariats steigt mit der zunehmenden Erkenntnis, daß die materielle Bedürfnisbefriedigung der Menschen alles übrige von sich abhängig macht. Und wenn man die Entwicklung der Religion von ihren frühesten Anfängen an betrachtet, dann kommt man ja auch zu der Ueberzeugung, daß stets die wirtschaftlichen Verhältnisse mitbestimmend auf die Religion der Menschen gewirkt haben: Das gibt uns die feste Zuversicht, daß der Glaube an übernatürliche Mächte nur noch in der kapitalistischen Gesellschaft Raum hat; in der sozialistischen Gesellschaft wird man ihn nicht mehr kennen. Trotzdem kann den Parteigenossen, die heute selbst als Sozialdemokrat noch der Ansicht sind, ohne religiösen Glauben nicht auskommen zu können, unmöglich untersagt werden, ihren Glauben noch weiter zu behalten. (Volksbote Nr. 200, 28. 8. 1912: 1) Die moderne gebildete Bourgeoisie mit ihren Gelehrten sieht auch die Welt voll Rätsel, die Zukunft voll Unsicherheit; sie sieht sich durch die Gefahr des Unterganges in einer schrecklichen proletarischen Revolution bedroht, die ihr das Ende aller Kultur dünkt – und sieht kein Mittel, sie aus eigener Kraft abzuwenden. Daher versenkt sie sich in Mystizismus und Glauben, die natürlich nur verschwommene Duseleien bleiben können. […] Diesen natürlichen Prozeß durch eine besondere Bekämpfung der Religion beschleunigen zu wollen,
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würde gerade die entgegengesetzte Wirkung ausüben. Man könnte den Zentrumsführern kein größeres Vergnügen machen. (Volksbote Nr. 204, 1. 9. 1912: 1)
In der Stettiner Lokalpolitik bekämpfte die SPD kommunale Ausgaben für kirchliche Zwecke: Nachdem alle Mittel, sowohl die gewaltsame Niederhaltung wie der geistige Kampf gegen die Sozialdemokratie vollkommen versagt haben, flüchten sich die herrschenden Klassen in die Arme der Kirche. Diese soll vollbringen, wozu sie selbst zu unfähig oder ohnmächtig sind. Niemals hat ein Ausspruch dem Wunsche der herrschenden Klassen mehr entsprochen als der: „Die Religion muß dem Volke erhalten werden.“ Jawohl! Die Religion soll das Volk in Demut gegen die regierende Kaste und in gottgewollter Ergebenheit in das soziale Elend erhalten. Mit der Aussicht auf das himmlische Manna soll das hungernde Volk über den Mangel an irdischem Brot hinweggetäuscht werden. Die Geistlichkeit ist nichts weiter als die Gendarmerie des Klassenstaats und hat im Sinne der herrschenden Gewalten zu predigen; wer sich dagegen aufbäumt, dem wird der Brotkorb höher gehängt oder ganz entzogen. Früher erlaubten sich auch noch die Liberalen, über die Religion ihre freien Ansichten zu äußern, aber d ieses Vergnügen verkneifen sie sich längst. Junge Sünderinnen werden alte Betschwestern; unsere Liberalen sind auf ihre alten Tage fromm geworden. Auch das ist ein Beweis für die Greisenhaftigkeit des Liberalismus. […] Nach unsern Grundsätzen ist Religion die private Sache jedes Einzelnen und es dürfen daher keine öffentlichen Mittel für s olche Zwecke verwandt werden. Wer die Sehnsucht nach Befriedigung religiöser Bedürfnisse hat, soll in die eigene Tasche greifen, um die Kosten zu decken; die Liberalen greifen aber nach alter Gewohnheit in die Taschen fremder Leute. […] Ueberall ist die K irche das Hindernis für den geistigen Aufstieg des Volkes. Erst wenn sich ein Volk von der Pfaffenherrschaft befreit hat, kommt es vorwärts. (2. Beil. zu Volksbote Nr. 268, 15. 11. 1912: 5)
Allerdings war Stettin nicht frei von Wunderglauben – das Blatt kritisierte Arbeiter, die einen englischen Kettenbrief in Gebetsform abschrieben (Beil. zu Volksbote Nr. 38, 14. 2. 1913: 5). In den außenpolitischen Krisenjahren vor dem Ersten Weltkrieg tritt zur allgemeinen Religionskritik auch die Kritik am Missbrauch des Glaubens durch den Militarismus. Nicht die Kirche, sondern die SPD sichere den Frieden: Heute drängen sich Bilder einer blutbefleckten Gegenwart zwischen alle Freuden des Festes. Und es ist nicht der rechte Weihnachtsgeist, der sich mit der Scheu eines schlechten Gewissens von ihnen wegwendet. Lernen wir, auch zur unbequemsten Zeit, die Wahrheit ertragen. Kein Engel des Friedens schwebt in dieser heiligen Nacht über unsern Häuptern, die apoka lyptischen Reiter, Krieg, Not und Pest, kommen mit verhängten Zügeln dahergesprengt. Kann ihnen jemand wehren, sind wir es! Die Kirche vermag es nicht: ihre Verheißung gilt nicht dem Diesseits, und hoffnungslos verklingen ihre Glocken in einer friedlosen Welt. (Volksbote Nr. 301, 25. 12. 1912: 1)
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Dass die Arbeiterbewegung von ihren Gegnern als Ersatzreligion gesehen wurde, griff ein Leitartikel auf und wies – in religiös anmutender Sprache – auf die schon eintretende Verwirklichung hin: Empor zum Licht! So verwirklicht die Arbeiterbewegung, das Emporheben der Millionen zur Wohlfahrt, zur Kultur, zur geistigen, sittlichen und materiellen Erhebung jetzt den Prozeß der Selbstbefreiung und Selbsterlösung der leidenden Menschheit. Allerdings scheint es auf den ersten Blick mit der sozialdemokratischen Befreiung der Menschheit ähnlich zu stehen wie mit der christlichen: sie ist auch erst ein Ideal, eine Theorie, eine erhoffte Zukunft und keine Wirklichkeit. In d iesem Sinne höhnen unsere Gegner bisweilen, daß die Sozialdemokratie nur eine neue Religion ist, die die Massen in Ekstase versetzt durch die Verheißung eines herrlichen Jenseits, hier eines Jenseits der Revolution, die immer aufgeschoben wird. Die so reden, haben jedoch den wesentlichen Unterschied nicht gesehen, der in dem Ausdruck enthalten ist, daß unsere bessere jenseitige Welt nicht im Himmel, sondern auf Erden liegt, daß unsere Erlösung keine phantastische, sondern eine wirkliche aus der materiellen Not ist. […] Ob wir dabei von der Revolution reden als von einem Schlußakt dieser ganzen Entwickelung, oder als von der Entwickelung selbst, in der wir stehen, ist ziemlich gleichgültig. […] Daher ist die Selbstbefreiung der Volksmasse ein Vorgang, der schon jetzt alltäglich stattfindet; eine Wirklichkeit von heute schon. […] Die Auferstehung der Freiheit, das ist unsere Hoffnung und unser Ziel. Wir bereiten rote Ostern in anderem Sinne vor, als die sie uns schaffen, die durch das Blut das Gottessohnes erlöst und befreit sein wollen, und nichts anderes kennen als den Wunsch, andere, die schwächer sind, in Fesseln zu schlagen. (Volksbote Nr. 69, 23. 3. 1913: 1)
Die preußischen Kirchenverhältnisse seien besonders beklagenswert – sie seien ein Machtinstrument wie Beamtenschaft, Militär und Polizei und weit entfernt von der frohen Botschaft: Vor dem heiligen Geist, der sich, ohne vorher die polizeiliche Genehmigung eingeholt zu haben, mit Brausen verkündigt, haben die Machthaber in Preußen von jeher die denkbar stärkste Abneigung gehabt, und was sie heute Religion und Christentum nennen, ist ja nur dazu da, um den heiligen Geist neuer Gedanken und neuer Bewegungen vom Staate fernhalten zu helfen. Man beruft sich auf einen Revolutionär, um in seinem Namen moderne, freiheitliche Regungen zu ersticken. Christentum und Religion sind zu Waffen in den Händen der Herrschenden geworden. […] Das Christentum, das an dem ersten Pfingstfeste mit Brausen kam, ist zu einer königlich preußischen Regierungsinstitution geworden und der heilige Geist von damals ist im Laufe der Zeit in den preußischen Polizeigeist umgefälscht worden. […] Die christliche Religion ist zum Büttel geworden. Sie rangiert in den Augen derer, die sich am lautesten zu ihr bekennen auf einer Linie mit dem Unteroffizier und dem Gensdarmen. Nichts täte Preußen mehr not als ein neues Pfingsten, als der Sieg des neuen heiligen Geistes der Freiheit. (Volksbote Nr. 109, 11. 5. 1913: 1)
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Das Christentum sei historisch verfälscht worden, handele es sich doch ursprünglich um eine Religion des Friedens – so wurde der falsche Glaube Feind des wahren: Ein richtig verstandenes und praktisch geübtes Christentum schließt den Krieg unter den Völkern vollständig aus. Aber wann hätte man in allen Jahrhunderten der Kirchenherrschaft eine derartige Wirkung des Christentums bemerken können? Von der Zeit, da Karl der Große die Sachsen schlug bis zum jüngsten Balkankrieg ist die Weltgeschichte voll von bestialischen Gräueln, die im Namen des Christentums verübt wurden. Ein Christentum, das leere Glaubensformeln oder bloßes Machtstreben ohne christlich-sittlichen Inhalt darstellt, ist weiter nichts, als ein Deckmantel für alle menschlichen Schwächen und Verbrechen, und ein so mißbrauchtes Christentum ist immer der größte Feind des echten Christentums gewesen. (Volksbote Nr. 113, 17. 5. 1913: 1)
In einem Leitartikel wurde demgemäß zum Kirchenaustritt aufgefordert, vor allem, wenn die innere Bindung erloschen sei: Wer sich zu sozialdemokratischen Grundsätzen bekennt – zu demokratischer Freiheit, sozialistischer Wirtschaftsordnung, Neutralität des Staates in religiösen Dingen – der mag auf kirchlichem Gebiet glauben oder nicht glauben, was er mag. Die Partei hat sich darum nicht zu kümmern. […] Man kann nicht an der Tatsache vorübergehen, daß heute Ungezählte mit der Kirche äußerlich noch verbunden sind, obgleich das innere Band der Ueberzeugung längst zerrissen ist. […] Und darum darf wohl als allgemeine sozialdemokratische Auffassung der Satz ausgesprochen werden, daß in die K irche nicht hineingehört, wer ihre Lehre nicht mehr glaubt. […] Die Aufforderung zum Austritt aus der Landes kirche enthält also nichts Religionsfeindliches, auch Geistliche haben die Auffassung, daß der Ungläubige der Kirche am besten den Rücken kehre, für durchaus berechtigt erklärt. Die nicht kirchlich gesinnten Bevölkerungselemente haben aber andererseits auch ein Recht auf Existenz außerhalb der K irche und auf volle staatliche Gleichberechtigung. (Volksbote Nr. 212, 10. 9. 1913: 1)
Ungewöhnlich ist ein Artikel, der für die Arbeiterbewegung den Auszug aus Ägypten zum Vorbild nimmt – hier wird nicht der sozialdemokratisierte Jesus Christus zum Maßstab, sondern Moses: Nicht kämpfend sich selbst die bessere Welt erobernd, sondern sie demütig bettelnd von den Gnaden einer höheren Allmacht erhoffen – das war die Form, die das Christentum der Befreiungssehnsucht geben mußte, und die im schroffsten Gegensatz zu dem Grundgedanken des Sozialismus steht. […] wie überhaupt das Alte Testament mit seinem streitbaren Judenvolk einen ganz anderen Geist atmet, als die marklose Sklavenphilosophie des Neuen Testaments. Zwar ging es hier, wie bei allen alten Volkssagen, nicht ohne Zeichen und Wunder ab; aber es handelte sich doch um den Uebergang aus irdischer, materieller Knechtschaft
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im Aegyptenland zur irdischen, materiellen Freiheit im gelobten Lande Kanaan. Und d ieses gelobte Land mußte man sich mit dem Schwerte erobern. So steht die Ideologie der alttestamentischen Osterfeier uns viel näher als die christliche. […] Moses mußte seine Juden zuerst von den Fleischtöpfen Aegyptens wegführen, damit sie in dem harten Wüstenleben kampffähige kühne Streiter werden konnten. Erst müssen die Laster des Sklaven, die Unterwürfigkeit, die Furchtsamkeit, die Zufriedenheit, der kleinliche Egoismus, die durch lange Knechtschaft tief in die Seele eingebrannt sind, überwunden und durch die Tugenden des Kämpfers, durch Unbotmäßigkeit, Stolz und furchtlosen Heroismus ersetzt werden, bevor überhaupt an eine neue Gesellschaft gedacht werden kann; das gilt vor allem auch von unserem heutigen Kampfe. (Volksbote Nr. 86, 12. 4. 1914: 1)
Kurz vor Kriegsbeginn weist der „Volksbote“ erneut auf die Mängel des Christentums hin, seine Allianz mit der Macht, seine konfessionellen Kämpfe und seine zwiespältige Rolle in den Kolonien: Fast überall in der Welt erblicken wir das offizielle Kirchentum, katholisches wie protestantisches an der Seite von Nationalismus und Militarismus. Schon längst nicht mehr kann die Kirche dem sozialen Proletariat den Ruhm streitig machen, das Banner der Verbrüderung und des Friedens allen Völkern voranzutragen. […] Alle Welt weiß, was es mit dem Christentum der preußischen Edelsten und Besten auf sich hat. Ihr Ideal im Innern ist Gewaltherrschaft nach schonungsloser Niederwerfung aller freiheitlichen Bestrebungen, ihr Ideal nach außen ist der Krieg, und ihre ganze Politik ist gar nichts anderes als die unaufhörliche Vorbereitung auf diese beiden heutigen Eventualitäten. Das konservative Christentum trieft von Blut. (Volksbote Nr. 125, 31. 5. 1914: 1) Es [das Christentum – H. B.] tritt überall mit dem ganzen Glanz der europäischen Kultur und auch mit der „Macht“ der weißen Rasse auf – und was sehen wir? Das „Pfingstwunder“ verblaßt dennoch allmählich. Von den 1800 Millionen Menschen, auf die man die Bevölkerung der Erde gegenwärtig schätzt, sind kaum 550 Millionen Menschen Christen, die sind in drei große, sich gegenseitig Ketzerei und Aberglauben vorwerfende Lager 21 gespalten. (2. Beil. zu Volksbote Nr. 125, 31. 5. 1914: 1)
V.10 Frauen Die Frau der neuen Gesellschaft ist sozial und ökonomisch vollkommen unabhängig, sie ist keinem Schein von Herrschaft und Ausbeutung mehr unterworfen, sie steht dem Manne als Freie, Gleiche gegenüber und ist Herrin ihrer Geschicke… Sie wählt für ihre Thätigkeit diejenigen Gebiete, die ihren Wünschen, Neigungen und Anlagen entsprechen und ist 21 Katholiken, Orthodoxe, Protestanten.
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unter den gleichen Bedingungen wie der Mann thätig… In der Liebeswahl ist sie gleich dem Manne frei und ungehindert. Sie freit oder läßt sich freien und schließt den Bund aus keiner anderen Rücksicht als auf ihre Neigung. (Bebel 1879: 433)
Bebels historisch-theoretische Schrift „Die Frau und der Sozialismus“ nahm vorweg bzw. umriss sozialdemokratische Geschlechterpolitik, die heute zumindest rechtlich deutsche Gegenwart ist. Zwar haben beruflich Frauen noch nicht durchgehend mit den Männern gleichgezogen (und auch das Marx’sche, bei Bebel wieder auftretende Ideal der täglichen Berufsrollenvielfalt hat sich für beide Geschlechter nicht erfüllt), doch in erotischen Belangen sind Frauen ganz selbstbestimmt. Die heutigen Hemmnisse sind jedenfalls nicht juristischer Natur, ein gewaltiger Fortschritt. Bebel fordert ebenso sexuelle Aufklärung und Ehescheidung (434) sowie Kinderbetreuung „in Fällen, in welchen sie Hilfe braucht“, also nicht aufgezwungen (438). Mit dem Ende der Klassenherrschaft ende auch die Herrschaft des Mannes über die Frau (441). Dass auch innerhalb des Kapitalismus eine weitgehende Gleichheit erreicht werden könnte, erschien der Sozialdemokratie unmöglich. Bebel befürwortet das Wahlrecht für Frauen, ist aber in der Begründung nicht frei von – zumindest aus heutiger Sicht – Misstönen (280 f.): Sind unsere Frauen unfähiger als die weit tiefer stehenden Neger, denen man in Nordamerika die Gleichberechtigung zuerkannte? Oder soll eine geistig hochstehende Frau weniger Recht haben als der roheste, ungebildetste Mann; z. B. als ein unwissender, hinterpommerscher Tagelöhner oder ein ultramontaner [erzkatholischer – H. B.] polnischer Kanalarbeiter, und nur deshalb, weil der Zufall diese als Männer zur Welt kommen ließ?
Die Artikel im Stettiner „Volksboten“ befassen sich zunächst mit der prekären Situation der Frauen. So sprach er sich gegen eine Verfolgung der verbreiteten Prostitution aus: Moralische Indignation hilft hier nichts. Polizeimaßregeln richten gleichfalls nichts Besonderes aus. Die Ursache der Prostitution, die soziale Noth muß gehoben werden. Man gebe dem Volke Brot, nicht Steine. Man schaffe soziale Reformen, man betrachte die Frauenfrage als integrirenden Bestandtheil der sozialen Frage. (Volksbote Nr. 24, 8. 10. 1885: 1)
Und beklagte, dass arbeitende Proletarierfamilien das Elend nur weitergeben können: Die Frau ist in den Webereien, der Mann im Bergwerke, auf Bauten beschäftigt, beide sind außer dem Hause, sehen sich nur am Abend und sind dann so müde und abgespannt, daß ein inniges Verhältnis zwischen Mann und Frau nicht denkbar ist. Die Kinder sind der Aufsicht irgend einer alten, mürrischen „Ziehmutter“ übergeben und reifen langsam, welken langsam ihrem Schicksal entgegen, dem Tode oder dem Webstuhl. (Volksbote Nr. 36, 19. 11. 1885: 1)
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Das Blatt forderte sogar, dass Frauen weniger arbeiten sollen, damit die Männerlöhne steigen (hier spielte vermutlich Lassalles ehernes Lohngesetz eine argumentative Rolle, wonach der Lohn nur das Existenzminimum sichert, Lassalle 1984 [1863]: 123): Man schaffe zunächst eine gesetzliche Beschränkung der Frauenarbeit, wodurch die Frau nicht nur der Familie zurückgegeben wird, sondern sie vermindert auch das Angebot der Arbeitskräfte, infolgedessen der Lohn des Mannes steigen muß. (Volksbote Nr. 50, 3. 7. 1887: 2)
Zunehmend werden aber die den Frauen vorenthaltenen Rechte thematisiert, wenn auch zunächst noch mit einer Unsicherheit, inwieweit die Ehe davon betroffen sein könnte: Nach unserer Meinung werden den Frauen eine Reihe von natürlichen Rechten vorenthalten, die ihnen zustehen, so daß sie sich in einer gewissen Abhängigkeit von dem männlichen Geschlecht befinden, die einem wirklich demokratischen Sinne nicht zusagen kann. […] Es ist allerdings schwierig, die Grenze zu ziehen, bis wohin das selbstständige Eintreten und Wirken des Weibes im öffentlichen und Erwerbsleben machen [!] soll. Zweifellos ist ein bedeutender Unterschied zwischen verheiratheten und unverheiratheten Frauen in dieser Beziehung zu machen. (Volksbote Nr. 49, 24. 6. 1888: 1)
Die Zeitung wies Vorschläge, die von Bismarck eingeführte Zivilehe wieder abzuschaffen, zurück. Die Interpretation des Sündenfalls und der (katholisch) sakramentale Charakter der Ehe seien abzulehnen: Die Idee der Kirche, daß der Charakter der Ehe ein „übersinnlicher“, steht so sehr im Widerspruch mit der Natur, ist ein so monströser Nonsens, daß sie gar nicht ernst zu nehmen ist. Und nichts erniedrigt das Weib mehr, als das theologische Dogma, daß das Weib „die Ursache der Sünde“ ist und daß der Mann des Weibes Herr sein soll. Niemals ist es der theologischen Anmaßung auf den wirklich sittlichen Charakter der Ehe angekommen; immer nur war der Hierarchie das Ehedogma ein Mittel zur Unterdrückung des rein menschlichen Denkens, Empfindens und Handelns. (Volksbote Nr. 111, 13. 5. 1896: 1)
Letztlich werde die Frau erst im Sozialismus befreit sein. In der neuen Gesellschaftsordnung würden Prostitution und männliche Bevormundung aufhören: Die bürgerliche Gesellschaft muß und wird die Eiterbeule der Prostitution behalten, so lange der Kapitalismus besteht, mit dem die ganze bürgerliche Welt zu Ende gehen wird. In dieser hat man trotz aller schönen Phrasen zur Ehre des weiblichen Geschlechtes es nicht vermocht, dasselbe vor der Schmach der Prostitution zu bewahren […] Aber die Prostitution wird nur unter einer sozialistischen Produktionsform verschwinden, und der Sozialismus wird ohne abgedroschene Sittensprüche, aber durch sozial-ökonomische Gerechtigkeit das Weib zu Dem erheben, was es sein soll. (Volksbote Nr. 115, 19. 5. 1896: 1)
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
Die Frauen aller Klassen haben mit gleichem Nachdruck die rechtliche Gleichstellung mit dem Mann in der Ehe verlangt. Sie wird ihnen verweigert werden, so lange es eine kapitalistische Produktionsweise giebt; d. h. sie werden unter d iesem Produktionszustand die faktische Gleichberechtigung auch dann nicht erlangen, wenn man sie ihnen formell zugestehen sollte. In der bürgerlichen Gesellschaft ist, wie Engels sagt, der Mann in der Familie der Bourgeois.22 (Volksbote Nr. 157, 8. 7. 1896: 1)
Aus der „Gleichheit“ übernahm der „Volksbote“ das Programm der entstehenden Frauen bewegung: Die denkende Proletarierin will aus einer sozial Unmündigen zur gleichberechtigten Gesellschaftsbürgerin werden, aus einer ausgesaugten und geknechteten Lohnsklavin zur freien Arbeiterin in einem Gemeinwesen, von freien, gleichberechtigten Arbeitern. (Volksbote Nr. 198, 21. 8. 1901: 1)
Es gibt allerdings einen erheblichen Widerspruch z wischen den publizistischen Aussagen zur Gleichberechtigung der Geschlechter und der Bewertung der Frauen als Rezipientinnen. Hier greift der „Volksbote“ Frauen wegen ihrer Lektürevorlieben und ihres mangelnden Interesses an der Arbeiterbewegung an. Dass seine Abonnentenzahlen sich nicht wie gewünscht entwickelten, führte er auf den Einfluss der Proletarierfrauen zurück. Diese müssten daher agitiert werden: Wollten wir völlig indifferente Frauen auf die Lektüre unserer Parteizeitungen v erweisen, so würden wir sehr schwer vorwärts kommen. Das hat uns die Erfahrung oft genug gelehrt. Sind doch die indifferenten Frauen die schlimmsten Gegner unserer Presse. Sie sind nicht einmal zum Abonnement, geschweige denn zum Lesen derselben zu bewegen. Ja, wie oft sind es die uns geistig fernstehenden Frauen, die unsere Parteizeitungen wieder abbestellen, nachdem der Mann dieselbe abonniert hatte. Woher mag das kommen? Unseres Erachtens daher, daß die Parteizeitungen diesen Frauen eine zu schwere, ihnen unverdauliche geistige Kost bieten. Die Parteizeitungen behandeln die verschiedenen politischen Tagesfragen notwendigerweise von allgemeinen sozialistischen Gesichtspunkten aus. Es ist das eine den Frauen ganz fremde Ideenwelt, in welche sie dort eingeführt werden, für die sie kein Verständnis und daher kein Interesse haben. (Beil. zu Volksbote Nr. 16, 19. 1. 1905: 1)
22 „Die moderne Einzelfamilie ist gegründet auf die öffne oder verhüllte Haussklaverei der Frau, und die moderne Gesellschaft ist eine Masse, die aus lauter Einzelfamilien als ihren Molekülen sich zusammensetzt. Der Mann muß heutzutage in der großen Mehrzahl der Fälle der Erwerber, der Ernährer der Familie sein, wenigstens in den besitzenden Klassen, und das gibt ihm eine Herrscherstellung, die keiner juristischen Extrabevorrechtung bedarf. Er ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat.“ (Engels 2004 [1884]: 9.463)
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Wir meinen jene Schichten, die in Verschlingung von Hintertreppenromanen Erkleckliches leisten. Die Summe des durch diese Art Lektüre geschaffenen geistigen und körperlichen Elendes zu erfassen ist unmöglich, es fehlen uns die Wertgrößen, um den Grad der Zerstörung anzuzeigen […] Wer stellt aber das Hauptkontingent zu der hier in Betracht kommenden Leserschar? Es sind die Frauen. Für das, was des Lesens wert ist, was alle Menschen interessieren müßte: Politik, Kunst und Wissenschaft, sind sie sehr wenig zu haben. […] Außer dem Neuigkeitskram liest man nur noch die meist auf Erweckung von Gefühlsduselei spekulierenden Romane, das ist die tägliche geistige Nahrung, die von dem weitaus größten Teil der weiblichen Bevölkerung verschlungen wird […] Wird in einem Haushalte ein Arbeiterblatt gelesen, so sind es regelmäßig die Frauen, die das nicht haben wollen. Es ist zu schwer, sich plötzlich in eine neue Gedankenwelt hineinzufinden. Da ist es nun Sache der Männer, den Frauen und Töchtern Dinge zu erklären, die ihrem Verständnis noch fern liegen, ihnen zu sagen, warum überhaupt die Arbeiterpresse gelesen werden muß und warum die bürgerlichen, besonders die sogenannten parteilosen Blätter das Arbeiterinteresse schädigen. Unsere Zeitungen berichten über viele Dinge, die die Frau, auch wenn sie bisher der Sache noch fernstand, leicht begreifen kann, wenn sie nur den guten Willen hat. Mit der Zeit versteht man manches, was einem vorher unbegreiflich war. Unsere Parteizeitungen können nicht dem Begriffsvermögen eines jeden Anfängers Rechnung tragen, es muß auf die große Masse der Fortgeschrittenen Rücksicht genommen werden. Sache dieser ist es, den noch Rückständigen ein Helfer zu sein. (Volksbote Nr. 179, 3. 8. 1906: 3). Frauen, erwacht! Vieles müßt ihr erdulden, aber manches durch eigene Schuld! Frauen, werft die Gleichgiltigkeit [!] von euch ab und lernt den gewerkschaftlichen und politischen Kampf eurer Männer verstehen und unterstützen! (Beil. zu Volksbote Nr. 164, 17. 7. 1906: 1)
Die Stettiner Genossinnen scheinen sich inhaltlich im Blatt nicht wiedergefunden zu haben. Eine Frauenversammlung forderte vom Volksboten „eine regelmäßige Frauenkorrespondenz, wie andere Parteiblätter sie bringen“ (Volksbote Nr. 170, 24. 7. 1906: 3). Noch vor dem Ersten Weltkrieg bekamen sie die Beilage „Für unsere Frauen“ (redigiert von Stephan Heise). Das publizistische Selbstverständnis des „Volksboten“ erlaubte es aber nicht, das Produkt den Rezipientinnen anzupassen, sondern die Rezipientinnen dem Produkt. Diesen pädagogischen Journalismus konnte die Zeitung nicht ablegen: Jeder Parteigenosse, der an der Agitation für die Parteipresse mit beteiligt ist, hat die Erfahrung gemacht, daß es der Widerstand der Frauen unserer Presse gegenüber ist, der als Haupthindernis bei der Ausbreitung unserer Zeitung zu überwinden ist. […] Nun muß auch zugegeben werden, daß die bürgerliche Presse es verstanden hat, unter Rücksichtnahme auf den politischen Tiefstand und die Sensationslüsternheit vieler Frauen, diese für sich einzufangen. Aber es bleibt nicht aus, daß auch die Schimpfartikel der bürgerlichen Presse über die Gewerkschaftsbewegung und unsere Partei gelesen werden. Wenn nun der sozialdemokratische Zeitungsagitator kommt, dann hat er seine liebe Not, eingefressene Vorurteile zu
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zerstreuen und diese Frauen auf andere Gesichtspunkte aufmerksam zu machen, so z. B. auf die Lebensmittelverteuerung und deren Ursachen, die Rechtlosigkeit der Frauen und manche andere Gelegenheit, wofür man dann auch einiges Verständnis findet. Aber dann ist der Abonnementspreis wieder etwas zu hoch und der gewohnte Tratsch steht nicht drin und noch mehr meist nichtssagende Einwände werden geltend gemacht. […] Daß wir unser Parteiblatt zu einem gewöhnlichen Klatschorgan herabwürdigen wollen, sollte von Parteigenossen weder gedacht noch ausgesprochen werden. Die politische Rückständigkeit soll durch unsere Presse doch gerade bekämpft, nicht aber gefördert werden. Wenn wir die rückständigen Frauen für die Parteipresse gewinnen wollen, so dürfen wir nicht die Form der Zeitung, sondern wir müssen die Auffassung der Frauen über die Bedeutung der Presse umwandeln. (Volksbote Nr. 55, 6. 3. 1907: 2 f.)
In einem „Brief an eine Arbeiterfrau“ hieß es entsprechend: Es ist gewiß nicht wegzuleugnen, daß wir Frauen heutzutage von allen politischen Fragen und Ereignissen immer nur indirekt berührt werden. Wir kennen die politische Welt fast alle nur durch die Vermittelung der Männer. […] Sie müssen also selber an sich arbeiten, das allein zwingt die Männer zur Achtung und Anerkennung; auch jene, die noch gern mit der alten Weisheit umgehen, „die Frau verstehe das alles ja nicht.“ Doch ich will gern glauben, daß Ihr eigener Mann nicht zu diesen gehört. (Beil. zu Volksbote Nr. 9, 11. 1. 1907: 1)
Auch die Frauenbeilage kam ohne Bekämpfung der weiblichen Lesevorlieben nicht aus: Wir allein kämpfen dafür, daß den sonnensehnsüchtigen Proletarierkindern eine sorglose, heitere Kindheit, eine schöne, gehaltvolle Jugend, ein menschenwürdiges Dasein werden möge. […] Und darum müssen wir diese Mütter selbst für ihre großen Aufgaben erziehen. Wir müssen den Jahrtausende alten finsteren Bann aus den armen Weiberhirnen verscheuchen, müssen sie aus den dumpfen Tiefen der Knechtseligkeit in das reine Höhenlicht freien Menschentums erheben. […] Ein wirksames Mittel haben wir für diesen Zweck: Unsere Presse! Die Presse, dieser treueste Eckehard des Proletariats, sie wird auch in unseren Frauen den Prometheusfunken entzünden, der in jedem Menschen schläft – den Drang nach Wissen. Die Proletarierin, die keine Zeit hat, die noch so reichen Schätze eines umfangreichen Buches sich zu eigen zu machen, sie wird sich dort die Minuten abstehlen können, um ihre Zeitung zu lesen. […] Jede Arbeiterin, die auf Ehre und Reinlichkeit hält, darf darum ein bürgerliches Blatt in ihrer Wohnung nicht dulden, weil sie sich nicht für ihre sauer verdienten Pfennige beschimpfen, verdummen lassen darf. (Für unsere Frauen, Nr. 31, Beil. zu Volksbote, 5. 8. 1911: 1)
Was die bürgerlichen Blätter an Stoff für Frauen boten, sei „viel Schund“ mit „Sensationsmache“, die „auf die Gedankenlosigkeit ihrer Leser spekuliert“ (Beilage „Für unsere
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Frauen“, Nr. 1, 12. 1. 1913: 1). Viel Erfolg bei Frauen hat das nicht gebracht. Auf der Konferenz der sozialdemokratischen Frauen Pommerns wurde beklagt, dass es nur 1.712 politisch organisierte Genossinnen gab, überwiegend im Raum Stettin. Die Forderung, eine Parteisekretärin anzustellen, wurde immerhin für die Zukunft erwogen (Beil. zu Volksbote Nr. 48, 26. 2. 1913: 2). Die Krise der traditionellen Lebensformen thematisierte ein Leitartikel „Die Auflösung der Familie“, er deutet sie als Vorboten der sozialistischen Erneuerung: Unter dem Sozialismus wird die Arbeit bewußt geregelte kollektive Arbeit mittels technisch hoch entwickelter Werkzeuge sein; der unproduktive Kleinbetrieb mit seiner Kraftvergeudung verschwindet. An dieser Arbeit nehmen die Frauen ähnlich wie die Männer teil; die alte Arbeitsteilung, die sie an das Haus fesselte, hört auf. Das Eheverhältnis sowie das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist dann nicht mehr wie unter dem Kleinbetrieb mit einer Produktionseinheit verbunden, die ihr Wesen bestimmt; sie haben ihren wirtschaftlichen Charakter verloren und werden zu rein persönlichen Verhältnissen. Sie können dabei also die Formen entwickeln, die der dann in viel höherem Maße sozial gewordenen menschlichen Natur entsprechen. Von einer Wiederherstellung der alten Familie als einer scharf nach außen abgegrenzten kleinen Lebenseinheit innerhalb der Gesellschaft wird dabei keine Rede sein können. Wie der Kapitalismus der schmerzvolle Uebergang von dem alten Kleinbetrieb zu einer sozial organisierten Weltproduktion ist, ist auch die heutige Auflösung der Familie eine Uebergangserscheinung von der Jahrtausende alten kleinbürgerlichen Familie zu einer höheren Form des menschlichen Zusammenlebens. In den inneren Widersprüchen z wischen einer traditionell erhaltenen Form und einem verschwundenen Inhalt, die ein solcher Uebergang zeitigt, wurzeln alle qualvollen Entartungserscheinungen, die die heutige Auflösung der Familie begleiten. (Volksbote Nr. 162, 13. 7. 1913: 1)
Diese Hoffnung erfordert aber dem „Volksboten“ zufolge die Mitarbeit der Frau: Die wahnsinnige Verkehrtheit unserer Gesellschaft ist es, die die Millionen von Arbeiterinnen zu Sklaven entwürdigt, die ihnen zwar ihre Mutterpflichten läßt, sie aber zwingt, von der Erziehung ihrer Kinder abzusehen, und sie verurteilt, übersättigen Genuß für wenige Tausende zu schaffen. […] Erst wenn die Menschheit hinweggeschritten sein wird über diese Gesellschaft und sich durchgerungen hat zu einer wahrhaft sozialen Organisation des Lebens, erst dann wird die blühende Erde wieder eine Stätte des Menschen- und Mutterglücks sein. […] Auch die Proletarierin muß die Hand zum Schwur erheben. (Volksbote Nr. 101, 1. 5. 1914: 2)
Tatsächlich konnten die Sozialdemokratinnen viel erreichen, die Kämpfe der Kaiserzeit zahlten sich in der Weimarer Republik aus. Die Genossin und Frauenrechtlerin Ottilie Baader (1847 – 1925) schrieb in ihren Erinnerungen:
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Wir haben statt des Arbeitstages von 13, 15, ja oft mehr Stunden jetzt den Achtstundentag, um den die Kämpfe vieler Jahre geführt worden sind. Das schmachvolle preußische Vereinsgesetz, das uns Frauen auf g leiche Stufe mit Idioten und Verbrechern stellte, ist einem freieren Reichsvereinsgesetz gewichen. Das freie Wahlrecht, für das wir in jahrzehntelangem Kampfe gestanden haben, ist errungen worden, und vieles andere. (Baader 2004 [1921]: 3.301 f.)
V.11 Landarbeiter Pommern war eine arme Provinz. Nur in Posen, Ost- und Westpreußen war das Pro-KopfEinkommen niedriger; für die Landarbeiter gab es keine Arbeitszeitbegrenzung und keine Sonntagsruhe (Inachin 1999a: 467). Die kapitalistische Entwicklung auf dem Land verursachte Erschütterungen des Sozialgefüges: „An die Stelle der halbfeudalen Interessengemeinschaft trat die agrarkapitalistische Beziehung“ (Herbert 2003: 19). Durch polnische Saisonarbeiter verschärfte sich die Konkurrenz, da die Gutsbesitzer die Hoffnung hegten, „die vermehrte Zulassung von Polen könne nämlich dem übertriebenen Anspruchsdenken der einheimischen Arbeiterschaft Einhalt gebieten“ (Herbert 2003: 31). Viele Landarbeiter zogen in die großen Städte oder wanderten nach Übersee aus; Pommern hatte 1880 – 1884 zusammen mit Westpreußen die höchste Auswanderungsrate von 1,2 Prozent (Bade 2005: 191).23 Auf dem Land hatte es die Sozialdemokratie schwer. Sie war auf die Bedürfnisse des Industrieproletariats zugeschnitten, zudem waren die ländlichen Strukturen von Wirtschaft, K irche und Verwaltung noch traditionell. Der Wolgaster Arbeiter bildungsverein sah im Kleinbauerntum den „geborene[n] und geschworene[n] Feind“ (Vorwärts Nr. 182, 7. 8. 1895: 3, aus dem „Volksboten“). Es gab auch ökonomische Gründe, kein Zeitungsabonnement einzugehen: Meyer (1967: 321 – 323) hat errechnet, „wie viele Jahresabonnements einer Zeitung mit der jeweiligen Jahreslohnsumme hätten bezahlt werden können“. Für die preußischen Ostprovinzen ermittelt er für das Jahr 1893 die Zahl 44,21, während Essener Krupp-Metallarbeiter 1895 auf 147,05 kamen. Auf dem pommerschen SPD-Parteitag 1908 sagte August Horn in seinem Referat „Landarbeiter und Klassenkampf“: Das Bildungsniveau unserer Klassenanhänger, besonders auf dem Lande, wird vielfach von uns überschätzt; es steht viel tiefer, als im allgemeinen angenommen wird. Dazu kommt, daß ihr Körper durch die lange Arbeitszeit und schlechte Ernährung so erschlafft ist, daß sie beim besten Willen nicht imstande sind, geistige Nahrung in sich aufzunehmen. Das ist besonders bei unserer Agitation in Betracht zu ziehen. Gewiß, viele Landarbeiter fühlen, daß sie uns zugehören, aber das genügt doch nicht. Die Leute müssen wissen, warum sie S ozialdemokraten 23 „Keine Heimat, kein Recht, nur Demütigungen, brutale Unterdrückung, Mißhandlung und Knechtung – das ist das Los unserer Landproletarier. Ein Mittel, die Hölle ihres Daseins zu bessern, gibt es für sie vorläufig noch nicht, ihnen bleibt nur das einzige: Die Flucht.“ (Volksbote Nr. 262, 8. 11. 1912: 1) Siehe auch von Koeller 2019.
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sind. Aber das kann man selbst mit den populärsten Schriften nicht erreichen. Da muß die mündliche Agitation mehr und mehr einsetzen. (Protokoll SPD Pommern 1908: 25)
In der Diskussion sagte Fritz Herbert: Die Landarbeiterfrage ist für uns das brennendste Problem. Die Industriearbeiter haben wir zum größten Teil gewonnen. Den Rest in unsere Reihen zu bringen, ist eine Frage der Zeit. Auch unsere Partei hat sich schon des öftern mit der vorliegenden Frage beschäftigt. Aber man täusche sich nicht. Die kleinen Bauern werden wir nie für uns gewinnen. (Sehr richtig!) Denen sitzt der Eigentumsteufel, wie Genosse Wengels privatim sagte, viel zu tief in den Knochen. Das müssen wir bedenken. Deshalb müssen wir unser Programm auf die Landarbeiter zuschneiden. (Protokoll SPD Pommern 1908: 29)
Der Parteitag verabschiedete eine Resolution, wonach der Emanzipationskampf „in erster Linie seitens des industriellen Proletariats erfolgen“ müsse, aber „die Landbevölkerung durch Wort und Schrift aufzuklären“ sei (Protokoll SPD Pommern 1908: 30). Der Stettiner „Volksbote“ wies auf das Elend auf dem Lande hin, insbesondere wandte er sich gegen die konservative Verklärung des Landlebens. So besprach er 1896 (Nr. 59, 10.3.: 1) ein Buch eines Landgeistlichen und schloss: „Man thut gut, s olche Schilderungen denen entgegenzuhalten, die nicht genug auf die Unzucht der Großstädte und ihre Verjudung hinweisen können.“ Die Landbevölkerung erwies sich als „Bollwerk der Reaktion“: Aus diesen Gutsbezirken, fügen wir hinzu, rekrutieren sich zum großen Teil jene Arbeitermassen, die dank der Auffassungen, die ihnen von frühester Jugend eingeprägt sind, so außerordentlich schwer für die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen ihrer Klasse zu gewinnen sind, die sich immer und immer wieder bereit finden lassen, ihren Brüdern in den Rücken zu fallen in jedem großen Kampfe, den die Arbeiterklasse zu führen gezwungen ist. (Volksbote Nr. 40, 17. 2. 1908: 1)
Die örtlichen Behörden, Gutsbesitzer und Pfarrer behinderten die Arbeit der Sozialdemokratie in den Kleinstädten und Dörfern: Und dann fehlt auf dem Lande jede geistige Anregung. Wer sich erlaubt, gegen den Stachel zu löcken, der ist geliefert. Unsere Genossen auf dem Lande machen ein reines Martyrium durch. (Volksbote Nr. 165, 18. 7. 1911: 1) Die sozialdemokratische Wahlagitation auf dem Lande hat mit mannigfaltigen Schwierigkeiten zu rechnen. Selten steht uns ein Versammlungslokal zur Verfügung und außerdem werden uns noch erhebliche Schwierigkeiten bereitet, wenn unsere Genossen der Landbevölkerung in Versammlungen unter freiem Himmel den Weg zur Befreiung aus Junkerdruck und kapitalistischer Knechtschaft zeigen wollen. (Beil. zu Volksbote Nr. 282, 2. 12. 1911: 1)
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Eine weitere Schwierigkeit bestand im Bildungsgefälle von Journalisten und möglichen Lesern. Zwar gab es kaum Analphabetismus, aber die Landarbeiter lasen entweder wenig oder anderes als sozialdemokratische Presse: Eine ungeheure Anzahl Agitationsmaterial ist in den zwei Jahren verteilt worden. Der Erfolg würde besser sein, wenn das Material alles gelesen, und, was die Hauptsache ist, verstanden würde. Hier liegt ein großes Hindernis vor uns. Die Erziehung der Volksmassen, namentlich auf dem Lande, wird auf einem so tiefem Niveau gehalten, daß das Verständnisvermögen nur schwach ausgebildet ist. Hierzu tritt das Milieu, in welchem die breiten Schichten dieser Menschen leben müssen. Geistig und körperlich abgespannt, sind sie froh, wenn sie ihre matten Glieder zur Ruhe betten können, ohne sich bewußt zu werden, unter w elchen elenden Verhältnissen sie ihr kümmerliches Dasein dahinschleppen. Wenn wir d ieses berücksichtigen, dann dürfen wir uns nicht wundern, daß unsere Aufklärungsarbeit nur langsam voranschreitet. (Bericht des Bezirksvorstandes, 2. Beilage zu Volksbote Nr. 191, 17. 8. 1912: 1)
Der gebürtige Greifswalder Hans Fallada fragte noch 1925 in der „Literarischen Welt“: „Was liest man eigentlich in Hinterpommern?“ und antwortete nach einer anekdotischen Schilderung des dürftigen Leseverhaltens: „Künstler Deutschlands, hier liegt eine große Provinz, die zu erobern euch vorbehalten ist! (Ihr werdet sie nicht erobern)“ (Fallada 2012: 66). Die mangelnden Erfolge des „Volksboten“ außerhalb Stettins veranlassten die Partei zur Gründung einer kostenlosen Zeitschrift für die Landbevölkerung, „Der Pommer“. – Die Gewinnung der Landbevölkerung für den Sozialismus oder wenigstens die Republik misslang auch in der Weimarer Zeit. In den Kleinstädten und Dörfern Pommerns hatten die Deutschnationalen und später die Nationalsozialisten ihre Hochburgen. Die erhoffte „Mobilisierung des Milieus aus einer unpolitischen Orientierungslosigkeit“ heraus bewerkstelligte die DNVP, die sich auf die örtlichen Eliten stützen konnte (Hildebrand 2004: 301). Zum späteren Wahlverhalten dort sagt Pyta (1989: 515 f.): Daß die SPD in vielen abgeschiedenen Bauerndörfern keine, die Hitler-Partei hingegen fast alle Stimmen erhielt, hing nicht nur mit der antimarxistischen Gesinnung des Landvolks zusammen. Eine weitere Ursache war das politische Monopol, das die NSDAP in einigen Regionen des protestantischen Deutschlands ausüben konnte. In manchen Gebieten Oldenburgs, der Lüneburger Heide, Holsteins, Frankens, der Pfalz, Pommerns oder Ostpreußens war die Hitler-Bewegung die einzige Organisation, welche unablässig und mit enormem Einsatz um die dort ansässige Bevölkerung warb. Wenn die SPD sich überhaupt in diese Gegenden wagte, dann fast nur zu Wahlzeiten.
Allerdings wiederholte sich m. E. nur das Problem, das schon vor 1914 bestanden hatte, es fehlte an Menschen dort, die sozialdemokratische Positionen vertraten. Es gab schlicht zu wenig Genossen. Saul (1975: 171) beschreibt die Probleme der ostelbischen Landagitation im Kaiserreich, es
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hatten gerade die schwachen städtischen Parteiorganisationen in Pommern, Ostpreußen, Westpreußen und Posen die Hauptlast zu tragen. Ihnen waren die ausgedehntesten und verkehrsmäßig am wenigsten erschlossenen Landgebiete zugewiesen, während sie gleichzeitig ununterbrochen die aktivsten Parteimitglieder durch die Abwanderung nach dem Westen verloren.
Die politische Macht in der Provinz lag beim großgrundbesitzenden Adel (Buchsteiner 1991). Zudem hatten die konservativen Landräte Kreisblätter gegründet, deren Inhalt ab 1863 der staatlichen „Provinzialkorrespondenz“ (dazu Stöber 1999, der verdeutlicht, wie nachrangig die Medien auf dem Land in der Mediengeschichte behandelt werden) und später den „Neuesten Mitteilungen“ 24 (bis 1894) entnommen wurden, was man geheim hielt (Saul 1975: 187 – 190 – nur der pommersche Oberpräsident sprach sich 1890 für das offene System der Provinzialkorrespondenz anstelle der geheimen Pressebeeinflussung aus, Saul 1975: 190; das preußische Innenministerium förderte ab 1899 die Neue Reichskorres pondenz, deren Artikel die Lokalblätter abdruckten, Saul 1975: 192). Derweil kämpfte der „Volksbote“ mit seiner geringen Verbreitung. Das Zentralorgan „Vorwärts“ (Nr. 223, 29. 8. 1913: 3) berichtete, dass das Stettiner Arbeiterblatt im Wahlkreis Stolp-Lauenburg 1913 nur 88 Exemplare absetzte, bei 292 Parteimitgliedern.
V.12 Gegen Imperialismus und Kriegsgefahr Schon die Zeitgenossen bezeichneten die Jahre 1880/90 – 1914 als imperialistisches Zeitalter, in dem die Staaten nach Weltherrschaft strebten (Schöllgen 1986: 1). In Afrika und Asien prallten die Interessen der europäischen Mächte aufeinander, zwischen Deutschland und Frankreich bestand seit der Annexion Elsass-Lothringens 1871 (die aus deutscher Sicht eine Wiederangliederung war) ein scharfer Gegensatz. Der Stettiner „Volksbote“ befürchtete früh, dass daraus ein Weltkrieg erwachsen könnte: Die Annektion Elsaß-Lothringen’s hat Europa in den Zwei- und Dreibund gespalten. Wie, wenn das Wort von Karl Marx – mit dem er nicht allein steht – daß der Krieg mit Frankreich nothwendig und unvermeidlich einen Krieg mit Rußland bringen müsse, sich erfüllen sollte? Wenn dann der Weltkrieg käme, dessen schauderhafte Verheerungen alle Phantasie übertreffen müßten? (Volksbote Nr. 152, 2. 7. 1896: 1)
Dies bezog sich auf Karl Marx, der bereits während des deutsch-französischen Kriegs vor einer unheilvollen Zukunft gewarnt hatte.25 In den Jahren vor dem E rsten Weltkrieg 24 Beide Titel sind als „Amtspresse Preußens“ digitalisiert und mit Volltextsuche frei online zugänglich: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/amtspresse/ [28. 07. 2020]. 25 „Glauben die Deutschtümler wirklich, daß Freiheit und Frieden Deutschlands gesichert sei, wenn sie Frankreich in die Arme Rußlands hineinzwingen? Wenn das Glück der Waffen, der
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äuften sich die Warnungen, verbunden mit dem Bekenntnis, sich der Aufrüstung und h der Völkerfeindschaft entgegenzustellen: Die Sozialdemokratie wird ihren Kampf gegen die Nationenverhetzung und die gegenseitig sich überbietenden wilden Wettrüstungen, die zu Lande, zu Wasser und nun auch in den Lüften betrieben werden, mit Aufgebot aller Kräfte fortführen. (Volksbote Nr. 240, 14. 10. 1907: 1)
Die behauptete Einkreisung des Reiches sei vor allem Folge schlechter Regierung. Zudem bezweifelte man an der Oder, dass der geforderte Befreiungsschlag mit einem deutschen Sieg enden müsse: Immer zahlreicher wird die Schar der unverantwortlichen Ratgeber, die da meinen, Deutschland müsse den Ring der Koalitionen mit Gewalt zerbrechen, ehe es zu spät geworden sei. […] Wollte man ernstlich die Völker Europas allemal zur Schlachtbank führen, wenn sich das Ungeschick der deutschen Regierung in eine unentwirrbare Kette von Verlegenheiten verstrickt hat, so würden die Völker Europas mit Recht in einer geistig so unfähigen nur durch brutale Gewalt wirkenden Macht eine ewige Gefahr [sehen – H. B.] und sich erst recht dem Vernichtungskriege gegen sie zusammenschließen. Woher nehmen aber unsere alldeutschen Kriegshetzer überhaupt die so sichere oder doch mit so lautem Brustton der Ueberzeugung vorgetragene Ansicht, daß Deutschland in einem europäischen Kriege Sieger bleiben müsse? (Volksbote Nr. 137, 15. 6. 1908)
Im Leitartikel „An der Schwelle des Weltkrieges!“ wurde der drohende Kampf, den keiner recht anstrebe, als Problem der kapitalistischen Produktivkräfte gedeutet: Man muß gestehen: den Völkern Europas wird mit Faustschlägen beigebracht, was Imperialismus ist. […] Das Tragische, oder auch das Tragikomische an der Situation ist, daß Europa wieder einmal an der Schwelle eines Weltkrieges steht, ohne daß aller Wahrscheinlichkeit nach auch nur eine einzige Macht diesen Weltkrieg will. […] Die kapitalistische Gesellschaftsordnung erweist sich als zu eng für die ungeheuren Produktivkräfte, die der Kapitalismus selber geschaffen hat. […] An der Arbeiterklasse ist es, die zuckende Flammenschrift an der zerbröckelnden Wand des Kapitals lesen und deuten zu können. Daß sie dann auch zur rechten Zeit handeln wird, dafür ist uns nicht bange. (Volksbote Nr. 230, 1. 10. 1911: 1)
Übermut des Erfolgs und dynastische Intrigen Deutschland zu einem Raub an französischem Gebiet verleiten, bleiben ihm nur zwei Wege offen. Entweder muß es, was auch immer daraus folgt, der offenkundige Knecht russischer Vergrößerung werden, oder aber es muß sich nach kurzer Rast für einen neuen ,defensiven‘ Krieg rüsten, nicht für einen jener neugebackenen ,lokalisierten‘ Kriege, sondern zu einem Racenkrieg gegen die verbündeten Racen der Slawen und Romanen.“ (Marx 2004 [1891] {1870/71}: 12.368)
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Aus Anlass der Marokkokrise (Frankreich und Deutschland stritten um den souveränen Staat) von 1911 fand in Stettin eine Friedensdemonstration statt, als „Ein Paroli den Kriegshetzern!“: In dichten Scharen drängten die festlich gekleideten Männer und Frauen den beiden Versammlungslokalen von Haack, Alleestraße und Gramatke, Gustav Adolfstraße zu. Man sah es den Leuten an, daß es ihnen nicht bloß darum zu tun war, sich einen schönen Sommernachmittag nutzlos entgehen zu lassen. […] Die Sache des Sozialismus und des Völkerfriedens war es, die die Tausende brüderlich vereinigte. Die Arbeiterschaft ist sich bewußt: wenn es vielleicht auch diesmal noch gelingen werde den Würgeengel des Weltkrieges von der Schwelle der Kultur zu scheuchen, so ist damit noch lange nicht alle Gefahr beseitigt. Der Würgeengel wird wiederkommen! (Volksbote Nr. 207, 5. 9. 1911: 1)
Eine echte Friedenspolitik brauche zudem ein parlamentarisches Regierungssystem mit einem Kanzler, der verantwortlich ist: Die Sozialdemokratie will die Friedenspolitik – doch will sie keine Friedenspolitik, die von Agadirfahrten [das deutsche Schiff „Panther“ wurde nach Marokko entsandt – H. B.] und kannibalischem Kriegsgeschrei begleitet wird. Aber auch die Sozialdemokratie will für den immerhin denkbaren Fall, daß dem deutschen Reich durch einen Angriff von außen ein Krieg aufgezwungen würde, kein Gouvernement von 1809 an der Spitze des Reiches finden. […] Regierungsfähig kann aber nur ein verantwortliches Reichsministerium sein, dessen Politik mit dem Denken und Empfinden der Volksmehrheit in dauernder Fühlung bleibt. (Volksbote Nr. 261, 7. 11. 1911: 1)
Scharf grenzte sich der „Volksbote“ von den Großmachtphantasien ab. Der Wettlauf mit Großbritannien sei letztlich aussichtlos und zu teuer bezahlt, notwendig sei die Verbesserung der Lebensbedingungen innerhalb Deutschlands: Selbst wenn die Weltkarte nach den kühnsten Wünschen der Alldeutschen revidiert würde, so gäbe das noch kein Weltreich, das sich mit dem britischen Imperium messen könnte. Man würde riesenhafte Ströme Menschenbluts vergießen und ungeheure wirtschaftliche Werte vernichten, um zum Schluß zur Einsicht zu kommen, daß politischer Machtzuwachs kein Heilmittel ist gegen wirtschaftliche Verelendung. Nicht in der Gewinnung Südmarokkos oder Abessiniens, noch sonst eines Länderfetzens, nicht in einem neuen Zug nach Paris oder in der Vernichtung der englischen Flotte liegt der Keim zu einer glücklicheren Zukunft des deutschen Volkes, sondern er liegt in der Zunahme der Bildung, der politischen Freiheit, der Tüchtigkeit, der kulturell höheren Lebensgewöhnung der Massen, in der Pflege freundschaftlicher Beziehungen mit den anderen Nationen, in der Entwicklung aller glücklichen Eigenschaften, die ein Volk lebenskräftig und wirtschaftlich unüberwindlich machen: er liegt in Dingen, um die sich der kapitalistische Imperialismus nicht kümmert, denen aber der Sozialismus mit allen Kräften zustrebt. (Volksbote Nr. 238, 11. 10. 1911: 1)
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Abb. 17: Aufruf zu einer Friedensdemonstration, Volksbote vom 2. 9. 1911. Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.
Die internationale Arbeiterbewegung werde die Militaristen zur Verantwortung ziehen: Das internationale Proletariat schiert [!] sich den Teufel darum, ob Deutschland oder Frankreich militärisch etwas stärker ist; es hat nur eins im Auge: die eigene Macht gegen die Bourgeoisie zu stärken und seinen Willen gegen den Willen der Kriegshetzer durchzusetzen. Und wenn da von Hochverrat geredet wird, dann könnten die Rollen wieder einmal, wie so oft in der Geschichte, aber jetzt mit unendlich viel mehr Recht, vertauscht werden. Dann wird die große Volksmasse über die Sippe von Kapitalisten und Kriegshetzern zu Gericht sitzen. (Volksbote Nr. 203, 31. 8. 1911: 1) Wenn aber die bürgerlichen Agitatoren jetzt durch das Land ziehen, um ihre hohlen Deklamationen von der vaterlandslosen Sozialdemokratie zum besten zu geben, so werden alle
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vernünftigen Leute wissen, was sie davon zu halten haben. Die Sozialdemokraten aller Vaterländer lieben ihr Vaterland viel zu sehr, als daß sie es den gierigen, brutalen Kriegshetzern als wehrlose Beute überantworten wollten! (Volksbote Nr. 300, 23. 12. 1911: 1)
Das Wettrüsten bewirke eben nicht Frieden, sondern erhöhe die Kriegsgefahr: Bald wird das Geschrei nach einer weiteren Verstärkung der deutschen Seemacht wieder durch alle Gassen gellen, und es wäre mehr als wunderbar, wenn die deutsche Regierung diesem Verlangen nicht eine sehr sympathische Aufnahme bereitete. So geht der Wahnsinn des Wettrüstens weiter, und die deutsch-englischen Beziehungen spitzen sich mehr und mehr zu. (Volksbote Nr. 165, 18. 7. 1912: 1) Wir stehen gegeneinander bis an die Zähne bewaffnet, und in irgend einem Moment, dessen Eintreten von unserem Willen unabhängig ist, werden wir uns in einem fürchterlichen Kriege befinden. Im übrigen ergibt man sich seinem Schicksal. (Volksbote Nr. 171, 25. 7. 1912: 2)
Im Leitartikel „National und International“ (Volksbote Nr. 194, 21. 8. 1912: 1) wurde dem proletarischen Internationalismus der Vorrang vor dem bürgerlichen Nationalismus gegeben: Der Arbeiter darf sich auch bei der Behandlung nationaler Fragen nur auf den Klassenstandpunkt stellen. Unser Internationalismus besteht darin, daß wir, wo das proletarische Interesse mit dem, was man nationales Interesse nennt, in Widerspruch gerät, dem proletarischen Interesse den Vorrang einräumen. […] Das nationalistische Demagogentum versucht, das Klassenbewußtsein der Arbeiter zu trüben und die Arbeiter zum Verrat an ihrer Klasse zu erziehen. Das ist echt bürgerliche Politik.
Kurz vor dem E rsten Weltkrieg kam es in Südosteuropa zu den Balkankriegen, in denen junge Nationalstaaten die europäischen Gebiete des Osmanischen Reiches aufteilten und später gegeneinander stritten. Italien kämpfte gegen die Türkei, um Libyen zu erwerben. Der „Volksbote“ warnte vor deutscher Einmischung, diese sollte auch nicht zugunsten des Verbündeten Österreich-Ungarn stattfinden: Kommt es in der Balkanfrage zu keiner Verständigung z wischen dem Dreibund und der Tripelentente, dann werden die Ereignisse, die sich am Balkan entwickeln, die Quelle dauernder europäischer Kriegsgefahr entwickeln. Käme es auch nicht von heute auf morgen zum Aeußersten, so müßte man sich doch auf Jahre verwickelter diplomatischer Verhandlungen, Unruhe und Unsicherheit gefaßt machen, ehe die Frage Krieg oder Frieden zwischen den europäischen Hauptmächten zur Entscheidung käme. […] Läßt sich d ieses [der Erhalt der Türkei – H. B.] aber nicht durchführen, dann hat das deutsche Volk nicht das geringste Interesse daran, für etwaige Machtansprüche Oesterreichs im nahen Orient mit Gut und Blut einzutreten. (Volksbote Nr. 230, 2. 10. 1912: 1 f.)
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Kein Land hat ungestraft die Bestie im Menschen entfesselt: auch Italien wird zu seinem Schaden gewahr werden, daß die Roheit des Krieges den Krieg überlebt und daß der als kriegerischer Heroismus verherrlichte Rückfall in die Barbarei das Werk von Jahrzehnten sozialer Erziehungsarbeit zerstört. (Beil. zu Volksbote Nr. 237, 10. 10. 1912: 1) Nur wer den Balkankrieg für das Vorspiel eines europäischen Krieges oder zum mindesten schwerer europäischer Konflikte hält, kann heute von dem Krieg noch anderes und mehr erwarten, als ein ganz sinnloses Schlachten. (Volksbote Nr. 238, 11. 10. 1912: 1)
In der chauvinistischen Rhetorik der bürgerlichen Rechten sah man den Versuch, von inneren Problemen abzulenken, „jetzt sollen die Klagen des Volkes über seine Not durch chauvinistisch-patriotisches Kriegsgeschrei übertönt werden“ (Volksbote Nr. 231, 3. 10. 1912: 2). Die SPD werde versuchen, den Krieg aufzuhalten, sollte dies misslingen, werde der Krieg den politischen Umbruch zugunsten der Arbeiterklasse zur Folge haben: Kein Interesse an der Machtverteilung im nahen Osten kann groß genug sein, um die Entfesselung einer Katastrophe zu rechtfertigen, die ganz Europa in den Abgrund führt. Gelingt es aber der Sozialdemokratie nicht, diese Katastrophe aufzuhalten, dann wird sie nur noch darauf bedacht sein können, den Gang der Ereignisse zu einer vollständigen Umwälzung aller staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrem Sinne auszunützen. Der eigentliche Sieger im großen Krieg der Zukunft würde das internationale Proletariat sein. Die Sozialdemokratie will den Krieg nicht, weil er entsetzliche Leiden für die Massen des Volkes im Gefolge hat. Aber nicht sie ist’s, sondern die herrschenden Klassen sind es, die sein letztes Ergebnis zu fürchten haben. (Volksbote Nr. 243, 17. 10. 1912: 1)
Die Solidarität mit Österreich-Ungarn sei nur möglich, wenn die Minderheiten dort gleichgestellt würden, insbesondere in der ungarischen Reichshälfte mit seiner „selbstsüchtigen magyarischen Herrscherkaste“ (Volksbote Nr. 257, 2. 11. 1912: 1). Die k. u. k. Monarchie („das längst überlebte habsburgische Unreich“, Beil. zu Volksbote Nr. 262, 8. 11. 1912: 1) sei sonst gefährdet: Oesterreich-Ungarn ist deshalb an einer Wende seines Schicksals angekommen. Dem sicheren Verderben kann es nur entgehen, wenn es entschlossen bricht mit seiner bisher im Interesse des magyarischen Herrschaftsklüngels befolgten Orientpolitik. (Volksbote Nr. 258, 3. 11. 1912: 1) Es ist die Pflicht der deutschen Staatsmänner, ihren österreichischen Gast mit Nachdruck darauf aufmerksam zu machen, daß es nach dem Wort des Schöpfers des deutsch-österreichischen Bündnisses nicht die Aufgabe des Deutschen Reiches ist, seine Untertanen mit Gut und Blut zur Verwirklichung von nachbarlichen Wünschen herzuleihen. […] Für die Väter und Mütter, für die Frauen Deutschlands ist es Zeit, sich zu fragen, ob sie ihre Söhne und Männer auf das Schlachtfeld schicken wollen, um zu entscheiden, wem von zwei fremden
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Staaten in einem fremden Meer [die Adria – H. B.] ein Hafen gehören soll! Wer zweifelt an der Antwort? So lange Vernunft die Oberhand behält, bleibt nur der Friede gewiß. Aber von den Stufen des Habsburger Throns steigt der Wahnsinn ins Land und heischt blutige Opfer. Hüten wir uns vor dem unheimlichen Gast! (Volksbote Nr. 266, 13. 11. 1912: 1)
Die deutsche Außenpolitik solle friedlichen Handel befördern, nicht dummen Expansio nismus: Das Ziel der deutschen Politik kann nur sein, dem deutschen Handel mit friedlichen Mitteln den Weg nach Vorderasien wie nach der ganzen Welt offenzuhalten. Dazu ist das Treiben der Alldeutschen aber am allerwenigsten geeignet. Deutschland kann seine Stellung in der asiatischen Türkei nur dadurch festigen, daß es aufs bestimmteste erklärt, rein wirtschaftliche, aber keinerlei territoriale Interessen zu verfolgen. Seine Politik muß von ruhig abwägenden, friedlich gesinnten Geschäftsleuten gemacht werden, nicht von mundtapferen Hanswürsten und Kindsköpfen. (Volksbote Nr. 261, 7. 11. 1912: 1)
Als ein Ergebnis der Balkankriege wurde Albanien unabhängig. Der „Volksbote“ wies auf diese Pikanterie angesichts der slawischen Minderheiten in den Kaiserreichen, denen die Selbstbestimmung verwehrt wurde, hin: Die polnische Frage liegt den Deutschen, die kroatische den Oesterreichern bedeutend näher als die albanische, und wenn sich die Regierungen von Berlin und Budapest jetzt auf einmal für nationale Autonomie am Balkan begeistern, so liegt die Frage nahe, warum sie nicht lieber vor der eigenen Türe kehren. (Volksbote Nr. 262, 8. 11. 1912: 1)
Die Aufgabe der Sozialisten aller Länder sei der Kampf gegen den militaristischen Zeitgeist. Der Kongress der Internationale in Basel 1912 hatte das Bekenntnis zum Frieden bekräftigt: Das Streben der Internationale geht aber eben darauf hinaus, den Geist der Angriffslust in den Massen nicht aufkommen zu lassen, einen Volkskrieg zwischen den Hauptmächten der europäischen Zivilisation unmöglich zu machen. (Volksbote Nr. 269, 16. 11. 1912: 1) Auch Pommerns Arbeiterschaft verabscheut den Krieg. Sie weiß sich eins mit den Arbeitsbrüdern und -schwestern aller Länder und weilt im Geiste unter ihnen, wenn sie die Stimme erheben gegen Völkermord und Kulturverwüstung. (Volksbote Nr. 270, 17. 11. 1912: 1) Aber die Zeit soll vorüber sein, wo ein blindes Ungefähr Hundertausende [!] in die Vernichtung hinabstürzt, wo die Menschen bluten und sterben, ohne zu wissen, wofür und warum, von fremden Mächten als ihr blindes Werkzeug gebraucht und zerbrochen! Den Willen, solchem mörderischen Wahnsinn mit allen Kräften zu wehren, verkündet der Baseler Kongreß schon durch die Tatsache seines Zusammentritts aller Welt. In dem Augenblick,
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da schändliche Kräfte am Werk sind, die Völker auseinander und gegeneinander zu hetzen, konstituiert er sich als eine Bundesversammlung dieser Völker, als ein wahres internationales Parlament der Menschheit und Menschlichkeit. (Volksbote Nr. 274, 23. 11. 1912: 1)
Krieg als Mittel der Politik sei abzulehnen, da er Probleme eben nicht löse: Es gehört keine Prophetengabe dazu, um vorauszusehen, daß ein europäischer Krieg noch weniger zu einer dauernden Lösung der zwischen den Völkern schwebenden Machtfragen führen könnte, als der Balkankrieg eine endgültige und selbständige Lösung der Balkanfrage gebracht hat. Der wahre Sieg wirklicher Vernunft ist nicht der Sieg durch den Krieg, sondern der Sieg über den Krieg. (Beil. zu Volksbote Nr. 282, 3. 12. 1912: 6)
Auch im Reichstag traten Sozialdemokraten gegen die Kriegsbefürwortung auf. Sowohl eine Blankovollmacht für Österreich-Ungarn als auch religiöser Kriegskitsch wurden abgelehnt: Der Kanzlerrede war die unbedingte Bundesgenossenschaft mit Oesterreich zu entnehmen. Er hat nicht in Aussicht gestellt, daß Deutschland auch nur eine Nachprüfung der Berechtigung österreichischer Forderungen vornehmen und davon seine Unterstützung abhängig machen würde. Damit ist unserem Bundesgenossen eine Blankovollmacht gegeben für seine Politik. […] Das deutsche Volk kann verlangen, daß die österreichische Regierung nicht ungerechtfertigterweise einen Krieg hervorruft. (Genosse Ledebour, Volksbote Nr. 283, 4. 12. 1912: 1) Wir bekennen uns zu dem christlichen Ideal des Weltfriedens. Es haben ja einige Theologen zu beweisen versucht, daß der Krieg sich mit dem Christentum vertrage, und Theologen können ja schließlich alles beweisen. Aber es wird ihnen schwer werden, zu beweisen, daß die Religion, die die Nächstenliebe zum Fundament hat, es billigt, daß die Menschen sich mit Massenmordmaschinen massakrieren. (Sehr wahr! b. d. Soz.) Der Krieg soll ein Gottes gericht sein. Das ist schwerste Gotteslästerung. Gott ist, nach dem Christentum, liebender Vater, und die Menschen sind seine Kinder. Soll dieser liebende Vater wirklich damit einverstanden sein, daß die Streitigkeiten unter seinen Kindern mit Kruppschen Kanonen ausgetragen werden? Es ist eine Frivolität, diese Dinge mit der christlichen Religion in Zusammenhang zu bringen. (Lebh. Zust. b. d. Soz.) Was wir da sehen ist der kapitalistische Zersetzungsprozeß der christlichen Religion, das innere Verfaulen der altreligiösen Werte. (Unruhe rechts) (Genosse Dr. David, Beil. zu Volksbote Nr. 284, 5. 12. 1912: 2)
Für die Interessen der Kapitalisten ziehe das Proletariat nicht in den Krieg: Während die Revolutionen der Bourgeoisie sich gegen die noch in vorkapitalistischer Unbeweglichkeit verharrende Umwelt zu wehren hatten, wächst in einer ganz kapitalistischen, aber durch scharfe nationale Gegensätze gespaltenen Welt die proletarische Organisation als ein einziger solidarischer Weltverband der Massen aller Sprachen auf. Daß diese Kampfgenossen
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nicht gegeneinander für kapitalistische Interessen Krieg führen wollen, ist selbstverständlich. Die proletarische Revolution, das Erwachen der Massen zum Klassenbewußtsein und zu geschlossener Einheit des Handelns, braucht keinen Krieg; sie vollzieht sich durch den rastlosen Ausbau der Organisationsmacht der Massen, den wir nicht durch Kriege gestört sehen wollen. (…) Aber man kann hinzufügen, daß nichts eine s olche Revolution so sehr beschleunigen könnte, als Kriegsgefahr und Krieg, die von den herrschenden Klassen herauf beschworen werden. (Volksbote Nr. 293, 15. 12. 1912: 1) Die Familien mit vielen Kindern werden immer weniger. Daß diese Erscheinung den herrschenden Klassen unangenehm ist, ist begreiflich, denn woher soll das Kanonenfutter zur Verteidigung des lieben Vaterlandes herkommen, wenn der Nachwuchs geringer wird. Unsere herrschenden Klassen sind bekanntlich Gemütsmenschen; sie üben die Herrschaft im Klassenstaate schrankenlos aus, verweigern den Arbeitern die gleichen Rechte in Staat und Kommune, behandeln sie wie Heloten, verlangen aber von den von ihnen Unterdrückten, daß sie den Heldentod für das Vaterland der Besitzenden sterben sollen! (Volksbote Nr. 7, 9. 1. 1913: 3) So zeigt der hochentwickelte Kapitalismus eine Rückkehr zu der gewalttätigen Eroberungspolitik alter Zeiten in potenzierter Form. […] Weltmachtstellung durch immer stärkere Rüstungen ist daher das Losungswort der Bourgeoisie auf dieser Stufe der Entwicklung. Wenn die Regierung jetzt den Volksmassen wieder neue Militärlasten auferlegen will, oder vielleicht gar das Volk zum Kriege aufruft, um die „Lebensinteressen“ Deutschlands zu verteidigen, so wissen die Arbeiter jetzt, wofür sie leiden und bluten sollen. (Volksbote Nr. 34, 9. 2. 1913: 1)
Da die Bürgerlichen die Heeresvorlage 1913 unterstützten, bleibe als Friedenspartei nur die SPD: Wer Rüstungen will, treibt zum Kriege, aber dieser Krieg wird einer sein, in dem sich mehr als zwei Nationen gegenüberstehen. Die Parteien, die zu der neuen Heeresvorlage „Ja“ sagen, laden die schwere Verantwortung auf sich, die Vorbedingungen d ieses Krieges geschaffen zu haben. Die Bürgerlichen scheinen diese Verantwortung leicht zu nehmen, und die ganze Last der Arbeit im Dienste des Friedens und der Kultur ruht auf den Schultern der Sozialdemokratie. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 44, 21. 2. 1913: 1)
Dem „Vorwärts“ entnahm der Stettiner „Volksbote“ eine Berechnung, wonach ein europäischer Krieg über eine Million Tote verursachen würde, und fragte: „Glaubt wirklich jemand, daß eine derartige Katastrophe die jetzigen Staaten nicht ins Mark treffen würde?“ (Beil. zu Volksbote Nr. 295, 18. 12. 1912: 1 f). Ein Europa, das gegen sich selbst Kriege führe, werde seine Weltgeltung an die Vereinigten Staaten von Amerika abtreten, selbst der Sieger werde verlieren: Wer mit dem Kriege spielt, mit dem Kriege, der der fürchterliche Weltkrieg werden würde, der arbeitet unbewußt für die sichere und endgültige Verlegung des Schwergewichtes der
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Welt in wirtschaftlicher wie kultureller Hinsicht von Europa nach Nordamerika. Der künftige Weltkrieg muß so ungeheuerliche Folgen haben, so wahnwitzig ins Riesenhafte wirtschaftliche Güter vernichten, daß an eine Entschädigung des Siegers durch den Besiegten nicht gedacht werden kann, daß in gleicher Weise erschöpft werden müssen Sieger wie Besiegter. (Beil. zu Volksbote Nr. 50, 28. 2. 1913: 1)
Das Deutsche Reich solle sich die Ängste Österreich-Ungarns nicht zu eigen machen. Als Verbündeter sei es nicht so wertvoll, wie Berlin meine: Was haben wir im Deutschen Reiche gegen Serben und Bulgaren? Welche Ursache hätten wir, sie als unsere Feinde zu betrachten? Höchstens die eine Ursache, daß sie die Feinde unseres Freundes sind. Warum sind sie aber die Feinde unseres Freundes? Nur weil dieser Freund durch seine miserable Politik gegenüber den Südslaven und durch schutzzöllnerische Maßnahmen zugunsten der ungarischen Viehjunker fahrlässiger und schuldhafter Weise Reibungsflächen geschaffen hat, die seinen Bündniswert bedeutend herabsetzen. (Volksbote Nr. 56, 7. 3. 1913: 1)
Für die Arbeiterklasse komme der militaristische Patriotismus nicht infrage, ihr Vaterland sei die Klassengemeinschaft aller Länder. Nicht andere Staaten seien der Feind, sondern die Besitzenden: Wer einem Patriotismus der Arbeiter das Wort redet, befruchtet damit den geistigen Boden, aus dem dem Moloch Militarismus immer wieder neue Kraft für weitere Forderungen zufließt. Dieser Boden wird zerstört durch eine grundsätzliche Aufklärung über die Bedeutung des Vaterlandes für die Arbeiter. Die Arbeiter haben kein Vaterland, sagte schon das kommunistische Manifest. Aus seinem Geburtsort schon früh durch die Not verjagt, wandert der Arbeiter in der Welt herum; bald ist diese, bald jene Stadt sein Wohnort, und überall ist die Mietskaserne sein Heim. Kein eindringender Feind kann seine Wohlfahrt vernichten, denn er hat eigentlich keine Wohlfahrt; sie ist nicht an irgend einen Besitz gebunden, sondern an Arbeitskraft und Arbeitsgelegenheit. […] Unsere Liebe zum Vaterland besteht darin, daß wir alle Volksgenossen zu glücklichen, freien Menschen machen wollen. Aber der Feind, der dazu bekämpft und niedergeworfen werden muß, wohnt nicht jenseits der Grenze: es ist die Bourgeoisie, die herrschende Klasse des eigenen Landes. […] Das Vaterland der Arbeiter ist ihre Klassengemeinschaft, und sie erstreckt sich über die Grenzen des Landes hinaus, umschlingt die Proletarier der verschiedenen Länder mit einem internationalen Band und fügt sie zu einem gemeinsamen Kampf gegen den ganzen Kapitalismus zusammen. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 80, 6. 4. 1913: 1)
Das Reich solle besser seine Isolation durchbrechen, indem es sich nach Westen orientiere und sich mit Frankreich anfreunde, sodass d ieses auf den russischen Verbündeten verzichten könnte:
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In seiner Reichstagsrede, mit der er die Milliardenmilitärvorlage einleitend begrüßte, sprach Herr v. Bethmann, der Feind des allgemeinen Wahlrechts, die Behauptung aus, das Volk in seiner großen Mehrheit wolle, daß diese Vorlage Gesetz werde. Niemand beruft sich lieber auf das Volk als die Gegner der Demokratie, aber sie tun es nur, wenn sie wissen, daß das Volk keine Gelegenheit hat, ihnen zu erwidern. Wie das Volk über die Militärvorlage denkt, könnte nur mit den Mitteln einer demokratischen Verfassung, durch Volksabstimmung festgestellt werden. Man wird sich hüten, diesen Weg zu beschreiten. […] Wäre es wirklich wahr, daß die slawische Gefahr so groß ist, – wir denken auch in dieser Beziehung etwas weniger ängstlich – dann könnte das Germanentum sicher nicht bei dem halbslavischen Oesterreich, sondern nur bei den Westmächten Deckung suchen. Daß sich der „welthisto rische“ Gegensatz zwischen England und Deutschland in lauter Rosenwölkchen aufgelöst hat, begrüßen wir mit Freuden und buchen es als einen Erfolg sozialdemokratischer Politik. Warum wir nicht auch unser Verhältnis zu Frankreich so verbessern könnten, daß wir von dieser Seite keinen Krieg zu fürchten haben, bleibt das Geheimnis des leitenden Staatsmannes. Frankreich ist russenfreundlich, nicht aus Vorliebe für den Zarismus, sondern, weil es sich allein einem deutschen Angriff nicht gewachsen fühlt. In dem Augenblick, in dem Frankreich nicht mehr glaubt, daß ihm Deutschland etwas böses will, hört das widernatürliche Bündnis zwischen Zar und Republik auf, eine Wirklichkeit zu sein. (Beil. zu Volksbote Nr. 83, 10. 4. 1913: 1)
Der deutsche Militarismus hingegen verursache schon im Frieden hohe Kosten und sei nur Geschäft: Mancherlei sind der Lasten und Opfer, die der Militarismus den Völkern auferlegt. Am schlimmsten sind die Blutopfer im Kriegsfall selbst, wenn die Blüte des Volkes hingeschlachtet oder verkrüppelt und ihr bißchen Wohlfahrt und Lebensunterhalt vernichtet wird – nicht für irgend ein hohes wertvolles Gut, sondern für die Profitinteressen des Kapitals. Aber auch im Frieden lastet der Militarismus schwer auf den Massen. Daß die jungen Männer in den Jahren ihrer frischesten Arbeitskraft ein paar Jahre aus ihrer Tätigkeit herausgeholt werden, um sie in zwecklosem Paradedrill zu vergeuden, bedeutet eine Einbuße an Verdienst, einen Verlust unentbehrlicher Arbeitskraft oder unentbehrlichen Einkommens für die Familie und eine Verringerung der schon erworbenen Fachgeschicklichkeit, also jedenfalls erhebliche persönliche Opfer. (Volksbote Nr. 92, 20. 4. 1913: 1) Der „Patriotismus“ aber – oder vielmehr das, was man so nennt – ist für den Kapitalismus von heute das großartigste Geschäft, das sich nur überhaupt denken läßt, und so treibt er dieses Geschäft in allen Ländern, rasend, rücksichtlos bis zur Vernichtung der Völker. Gegen den vaterlandslosen und volksfeindlichen, kriegshetzerischen und landesverräterischen Kapitalismus kämpfen wir Sozialisten mit allen Mitteln. Darum nennen uns die Goldschreiber des Kapitals vaterlandslose Gesellen! (Volksbote Nr. 93, 22. 4. 1913: 1)
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Zudem habe der Wehrdienst eine verheerende Wirkung auf den revolutionären Geist: Der Militarismus ist das Werkzeug, mittels dessen die Bourgeoisie dem Proletariat noch dazu ihre eigene Feigheit und Unterwürfigkeit künstlich einzuimpfen sucht, um es für revolutionäre Aktionen unfähig zu machen. Das ist der schlimmste Fluch des Militarismus, daß er das erwachende revolutionäre Selbstgefühl der Massen, diese große Macht der Befreiung der Menschheit, zu töten sucht. […] Harte Erfahrungen des Lebens und eine lange, gründliche Erziehungsarbeit der Sozialdemokratie sind nötig, die Wirkungen des Kasernenlebens dem Proletariat wieder auszutreiben. (Volksbote Nr. 98, 27. 4. 1913: 1)
Dabei seien die Arbeiter in anderen Ländern nicht Fremde oder gar Feinde, sondern Brüder: Die sozialistischen Arbeiter sehen in den fremdsprachigen Arbeitern jenseits der Grenze keine „fremden Völker“, die ihnen im übrigen gleichgültig sind, sondern ihre Brüder, ihre Freunde, mit denen sie durch die engsten Bande der Klassensolidarität und der Kampfgemeinschaft verbunden sind, deren Kämpfe und Siege sie als ihre eigenen Angelegenheiten empfinden und oft materiell unterstützen. Die Zumutung, gegen diese Kameraden zu marschieren und Krieg zu führen, ist für sie genau so widernatürlich und frevelhaft, wie die Aufforderung, auf ihre eigenen Familienangehörigen zu schießen. Die Arbeiter verschiedener Länder fühlen sich als Mitglieder einer großen Weltnation, für die die regierenden Ausbeuter aller dieser Länder das feindliche Fremdvolk sind, das bekriegt und besiegt werden muß. (Volksbote Nr. 109, 11. 5. 1913: 1)
Der „Volksbote“ erhoffte vom Wehrdienst Effekte, die dieser nicht beabsichtigte. In einer Erörterung „Die Sozialdemokratie und die Armee“ hieß es, dass nur ein Drittel der Soldaten aus einem sozialistischen Milieu komme, „aber auch die Indifferenten werden vielfach durch die Behandlung, die sie erdulden müssen, vorbereitet für die spätere Aufklärung über unsere Zustände durch die Sozialdemokratie. Der Militarismus selbst lockert den Boden, in dem die sozialdemokratische Saat aufgehen soll“ (Beil. zu Volksbote Nr. 154, 4. 7. 1913: 1). Die deutsche Außenpolitik sei derweil „grotesk aber gefährlich“: Türkenfreundschaft, wie sie v. d. Goltz kultiviert hat, und „Nibelungentreue“ gegenüber Oesterreich-Ungarn wirken hier zusammen, um unter Umständen eine sehr bedenkliche Situation heraufzubeschwören, und deshalb muß immer wieder mit allem Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß die Interessen des deutschen Volkes durchaus nicht identisch sind mit den Ansprüchen der habsburgischen Monarchie. Die Serben und Rumänen sind keine Gefahr für uns und sie würden aufhören, es für Oesterreich-Ungarn zu sein, wenn es sich entschließen könnte, seine Unterdrückungspolitik im Innern aufzugeben. (Volksbote Nr. 170, 23. 7. 1913: 1)
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Das Ergebnis der Balkanwirren: Der Karren unserer auswärtigen Politik ist aber so verfahren, daß unsere Diplomatie immer wieder als Zuflucht nur das Festhalten an dem Bündnis mit dem unzuverlässigen Oesterreich zu empfehlen weiß. Die Situation spitzt sich, wie man sieht, immer mehr zu und die nächsten unvermeidlich kommenden Balkanwirren werden wieder den allgemeinen Krieg in die nächste Nähe rücken. Die Diplomatie der herrschenden Klassen ist der Situation nicht mehr gewachsen. Die Verwirrung wird immer größer. Wenn ihr [!] gesteuert werden soll, müssen die Völker sich selbst regieren und auch ihre äußere Politik der Beeinflussung oder Beherrschung durch interessierte Koterien entziehen. (Beil. zu Volksbote Nr. 217, 16. 9. 1913: 1)
Linksbürgerlicher Pazifismus genüge aber nicht, erst der Sozialismus sichere den Frieden: Ihr [der internationen Sozialdemokratie – H. B.] genügt nicht ein platonisches Bekenntnis zur Friedensliebe und zur Friedenssicherung, mit dem bürgerliche Philanthropen hervortreten, wie grundsätzlich und ernst d ieses Bekenntnis auch gemeint sein möge. Soll das Friedensevangelium seine Erfüllung finden, so muß die Axt gelegt werden an die starken Wurzeln alles kriegerischen Unheils, die in der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung ihren Boden haben. Diese Ordnung muß fallen, wenn der unzerstörbare Friedensbund der Völker auf der Basis kulturgemeinschaftlichen Völkerrechts erstehen soll. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 204, 31. 8. 1913: 1)
Mitte 1914 glaubte der „Volksbote“, dass der Krieg weniger wahrscheinlich werde. In Frankreich hatten die Sozialisten bei der Wahl einen großen Erfolg erzielt, mit England war es zu einem Interessenausgleich gekommen, der Bourgeoisie schien das Spielen mit einem Weltkrieg wichtiger als sein tatsächliches Eintreten: Noch sind die Feinde des Friedens stark, noch sind Rückschläge, Ueberrumpelungen nicht ganz unmöglich. Dennoch: man kann es sich nur schwer vorstellen, daß der Ausbruch eines Krieges überhaupt noch denkbar ein könnte z wischen zwei Völkern, die durch die Wahlen von 1912 und 1914 ihrem gemeinsamen Friedenswillen in so überwältigender Weise Ausdruck geben. Man kann sich nur schwer vorstellen, daß eine Regierung hüben oder drüben den wahnwitzigen Mut finden könnte, einer mehr als hundertköpfigen Fraktion das Wort „Krieg!“ ins Gesicht zu schreien. Jede der beiden Regierungen wird wissen, daß ein Versuch, gegen das benachbarte Volk die Hand zu erheben, auf einen zäh verbissenen Widerstand im Parlament stoßen und daß dieser Widerstand ungeheure Massen des Volkes mit sich fortreißen würde. […] Der Sieg der französischen Brüder ist auch unser Sieg! Es lebe Frankreich, das Vaterland der Revolution! Es lebe die vereinigte deutsche und französische Sozialdemokratie! (Volksbote Nr. 110, 13. 5. 1914: 1) Imperialistische Gelüste beseelen die Bourgeoisie. Sie muß Eroberungspläne hegen, muß darauf ausgehen, die noch nicht kapitalistischen Völker unter ihre Herrschaft zu bringen,
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weil die kapitalistische Wirtschaft nicht mehr auskommen kann ohne Ausbeutung der Menschenmassen der ganzen Welt. Deshalb muß die Bourgeoisie mit dem Gedanken des Weltkrieges spielen, trotzdem für jeden Denkenden klar ist, daß ein Krieg in Europa unfehlbar zur Revolution führen muß, bei der die Herrschaft der Bourgeoisie auf dem Spiele steht. (Volksbote Nr. 125, 31. 5. 1914: 1) Das Ende der deutsch-englischen Feindschaft bedeutet aber auch das Ende der intimen englisch-russischen Freundschaft. […] Die Festtage der englisch-russischen „Verbrüderung“ sind jedenfalls dahin, und wenn jetzt auch noch nicht die Fasttage eingetreten sind, so immerhin die grauen, trostlosen Wochentage. (Volksbote Nr. 129, 6. 6. 1914: 1) Es ist natürlich gelogen, wenn behauptet wird, in Deutschland wollten maßgebende Kreise einen neuen Krieg mit Frankreich. Richtig ist dagegen leider, daß sehr einflußreiche Kreise die dauernde Spannung wollen: denn die Erhaltung des französischen Schreckgespenstes ist ebenso zur Existenzbedingung des deutschen Militarismus geworden, wie die Erhaltung des deutschen Schreckgespenstes die Existenzbedingung des französischen Militarismus ist. (Volksbote Nr. 129, 6. 6. 1914: 1)
Die Balkankriege waren mit Gräueltaten verbunden, die die europäische Öffentlichkeit aufschreckten. Der Stettiner „Volksbote“ wies aber darauf hin, dass bereits die Kolonialkriege ein Übermaß an Brutalität hervorgebracht hatten, die letztlich auf die kapitalistische Weltordnung zurückzuführen seien: Also Schande über die Balkanvölker! Gemach! Und die Amerikaner auf den Philippinen? Die Franzosen in Tonkin [Nordvietnam – H. B.] und jetzt in Marokko? Die abgeschnittenen Hände der Untertanen des Kongokönigs Leopold von Belgien? Die Hunnentaten an Mord, Plünderung und Schändung in China? Die Trothasche Taktik der Deutschen in Südwest [heute Namibia – H. B.]? Wer von ihnen darf den Stein aufheben und sich besser dünken, als jene Balkanbestien? Nicht Schande über diesen und jenen: Schande über das System der Eroberung, des Massenmords, der Krieg, der Massenplünderung, die Kolonialpolitik genannt wird. Schande über das System des Kapitalismus, der Betrug und Gewalt zu Herren der Gesellschaft, der Imperialismus, der wilde Eroberungsgier und brutale Herren macht zu Herrschern des Erdballs gemacht haben! Und nicht weichliche Klage oder gar gegenseitige Beschuldigung und kleinlicher Streit über Mehr und Minder in Einzelheiten vermögen hier Besserung zu schaffen – nur das organisierte System des Widerstandes der nach höheren Menschheitszielen strebenden Massen wird wie die Ausbeutung im Innern so auch die Gewalttat und die tierische Entartung gegenüber den Angehörigen anderer Völker überwinden. Nieder darum mit dem Kriege! Nieder mit Eroberungspolitik und Ausbeutung! Nieder mit der kapitalistischen Entartung, der chauvinistischen Verseuchung der Völker! (Beil. zu Volksbote Nr. 128, 5. 6. 1914: 1)
Kriegsberichterstattung
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Hält man sich den weiteren Gang der Geschichte vor Augen, so sind die Äußerungen des „Volksboten“ (wie der anderen sozialdemokratischen Zeitungen) erschreckend klar und prophetisch. Der Weltkrieg, ausgelöst durch imperialistischen Größenwahn und inkompetente Politiker, würde lang und grausam werden, Europa dauerhaft schwächen und die inneren Verhältnisse revolutionieren. Zur Verhinderung des Weltenbrandes schlug die Zeitung die Demokratisierung des Reiches, die Aufgabe Österreich-Ungarns, den Verzicht auf territoriale Vergrößerung und die Aussöhnung mit Großbritannien und Frankreich vor. Einen dauerhaften Frieden bringe aber nur der Sozialismus.
V.13 Kriegsberichterstattung In einer sarkastischen Rezension des Buches „Im Zeitalter Wilhelms des Siegreichen“ (Colmar von der Goltz, Berlin: Bondi) wandte sich der „Volksbote“ gegen Kriegsgelüste („Wir brauchen Krieg, es geht uns zu gut“, 1. Beil. zu Nr. 134, 12. 6. 1914): Alle Arbeiter, Beamten, Geschäftsleute usw., die davon überzeugt sind, daß es ihnen viel zu gut geht, werden dem Feldmarschall unbedingt zugeben müssen, daß der Krieg das allerbeste Mittel ist, sie und ihre Familien von dem Leiden eines überflüssigen Wohllebens zu befreien. Wenn es einmal glücklich soweit ist, daß Hunderttausende auf den Schlachtfeldern verwesen, Hunderttausende als Krüppel heimkehren und Kinder nach ihren Ernährern schreien, dann kann der Feldmarschall Freiherr v. d. Goltz sagen: Es ist erreicht!
Im Nachruf auf Bertha von Suttner („Die Waffen nieder“, Friedensnobelpreis 1905) wieder holte die Redaktion ihre pazifistische Haltung, verbunden mit Kritik an bürgerlichem Imperialismus, der Zeichen des Verfalls dieser Klasse sei (Beil. zu Volksbote Nr. 145, 25. 6. 1914). Gleich am Tage der Meldung der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo wandte sich der Leitartikel gegen eine Unterstützung Wiens. Dem „unglückliche[n] Staat“ bleibe „nichts übrig als qualvoll langsames Verderben“. Solidarität mit dem undemokratischen Verbündeten sei fehl am Platz (Volksbote Nr. 149, 30. 6. 1914: 1): Darum muß heute schon gesagt werden, daß Deutschland auf keinen Fall Grund hat, eine gegen Serbien gerichtete österreichische Gefühlspolitik mitzumachen. […] Die Politik der deutschen Regierung hat nichts anderes zu tun als unverwirrt von persönlichen Empfindungen, die Interesse [!] des deutschen Volkes zu s chützen, sie hat nicht die Aufgabe, Habsburg zu rächen oder Oesterreich zu retten. […] Niemand weiß, wie spät oder wie früh für Oesterreich der Tag der Katastrophe kommt. Kommt er aber, ehe Deutschland, Frankreich und England einig sind, dann wird bald darauf Europa in seinem Blute schwimmen. […] Wir wollen die Toten mit allen Ehren bestatten, aber wir wollen mit den Lebendigen leben und nicht Schicksalsgenossen derer sein, die dem Untergang geweiht sind.
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Die „Volksbote“-Ausgaben zu Julikrise und Kriegsausbruch 1914 sind nicht erhalten; aufschlussreich wären die Nummern, um der Frage eines „Augusterlebnisses“ oder der Einschätzung der Schlacht von Tannenberg gegen die Russen nachzugehen. Ein Indiz gibt der „Vorwärts“ vom 1. August 1914 (Nr. 207: 10, dort werden auch Demonstrationen in Stralsund, Gollnow und Kolberg erwähnt), wonach die pommerschen Arbeiter nicht in den Kriegsjubel einstimmten: In Stettin hatten an mehreren Abenden Haufen unreifer Hurraschreier Straßendemonstrationen veranstaltet und unter dem Schutz der Polizei ihre Begeisterung ausgetobt. Als aber am Dienstag abend die Stettiner Arbeiter und am Donnerstag die Proletarier aus den zum Stettiner Stadtgebiet gehörigen Bezirken des Wahlkreises Randow-Greifenhagen ihren Friedenswillen bekunden wollten, da war Polizei in kriegstarken Korps aufgeboten. Die beiden Demonstrationsversammlungen waren von insgesamt 5000 Personen besucht, die mit tiefem Ernst den Darlegungen des Redakteurs Heise [vom Volksboten – H. B.] lauschten. Die Friedensdemonstrationen nahmen einen erhebenden Verlauf.
Die nächste verfügbare Ausgabe des „Volksboten“ vom 1. Oktober (Nr. 229: 1) meldet „Große Kämpfe in Ost und West“. Die Sozialdemokratie hatte am 4. August 1914 nicht nur den Kriegskrediten, sondern auch der Selbstentmachtung des Reichstages (keine Wahlen und öffentlichen Sitzungen) zugestimmt. Wie hatte August Bebel auf dem Essener Parteitag gesagt? Ja, es wäre doch sehr traurig, wenn wir heute, wo große Kreise des Volkes sich Tag für Tag viel mehr um die Politik kümmern wie früher, noch nicht sollten beurteilen können, ob es sich im einzelnen Falle um einen Angriffskrieg handelt oder nicht. (Protokoll 1907: 255)
Würde wieder ein Krieg ausbrechen, stelle er alles Bestehende in Frage. – Bebel sagte allerdings auch, für einen Krieg mit Russland nehme er „die Flinte auf den Buckel“. Er starb rechtzeitig (1913). Der Krieg gegen Russland war fester Bestandteil der Marx’schen Theorie, da der Zar Garant der reaktionären Ordnung der nachnapoleonischen Zeit gewesen war. Für einen Zweifrontenkrieg war dieser Ansatz weniger geeignet – Albert Südekum vom rechten Parteiflügel hatte nur zugesagt, dass sich die SPD im Falle eines russischen Angriffs nicht gegen die Regierung stellen werde (Clark 2013: 673). Die SPD verband mit dem Krieg Hoffnungen auf Verbesserungen im Inneren, schuf aber unbeabsichtigt die Grundlage ihrer Abspaltungen. Im Bemühen, nicht als „vaterlandslose Gesellen“ zu gelten, kam auch der „Volksbote“ den Bedürfnissen der Obersten Heeresleitung entgegen: Es geht nicht an, daß die Presse durch eigenmächtige Veröffentlichungen über die Kriegslage dem Gegner wertvolle Fingerzeige gibt, daß sie Schwächen des eigenen Landes vor aller Welt bloßstellt oder durch eine pessimistische Darstellung der Kriegsereignisse erst erzeugt. […] Darüber hinaus ist es auch noch verständlich, daß die Militärbehörde, unter deren Macht
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die Presse jetzt steht, die Entstehung innerer Parteikämpfe zu vermeiden wünscht. […] Das Vorurteil, sozialistische Propaganda sei unvereinbar mit der Landesverteidigung, dürfte nach alledem, was die Sozialdemokratie bisher gezeigt hat, gründlich beseitigt sein. Sozialdemokratische Gesinnung und beste Soldatentugend schließen einander nicht aus und darum wird und muß die sozialdemokratische Presse ihrer Gesinnung nach bleiben, was sie bisher war. Auf einem sehr wichtigen Gebiet besteht sogar zwischen der Arbeiterpresse und einer ihre Aufgaben richtig erkennenden Militärverwaltung eine besonders enge Ideengemeinschaft. […] Indem die Arbeiterpresse bemüht ist auf dem weiten Felde der Kriegsfürsorge und der Wirtschaftserhaltung anregend, fördernd, Hindernisse aus dem Wege räumend, tätig zu sein, leistet sie für die erfolgreiche Durchführung des Krieges vielleicht mehr als manches Blatt, das solche Notwendigkeiten übersieht. („Aufgaben der Presse“, Volksbote Nr. 230, 2. 10. 1914: 1)
Allerdings war der Stettiner „Volksbote“ bereits früh behördlichen Repressionen ausgesetzt gewesen. Der „Vorwärts“ berichtete am 27. 9. 1914 (Nr. 264: 3), dass das pommersche Blatt „neuerdings einer besonders scharfen, sich auf den ganzen Inhalt beziehenden Zensur unterstellt“ wurde, ebenso wurde „der Straßenverkauf bis zum 30. d. M. untersagt und den Lazaretten verboten, bis zu diesem Tage das Blatt anzunehmen“. Kruse (1993, er hat auch den Stettiner „Volksboten“ von Oktober bis Dezember 1914 ausgewertet) nennt Beispiele hoher Kriegsbegeisterung in der sozialdemokratischen Presse, die es so im „Volksboten“ nicht gibt. In der Partei bestand die Hoffnung auf den Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung, „der endgültige Sieg müßte dann ja der Arbeiterbewegung, so meinte man, wie eine reife Frucht in den Schoß fallen“ (Koszyk 1958: 16). Ob Friedrich Stampfers Artikel „Sein oder Nichtsein“, den viele sozialdemokratische Zeitungen brachten, auch in Stettin erschien, ist unbekannt. Seine Logik aber: „ein freies deutsches Volk, das sich sein Vaterland eroberte, indem es dieses sein Land verteidigte“ (Volksstimme, Magdeburg, Nr. 178, 2. 8. 1914: 2), war in den Gedächtnisartikeln zu 1813 noch zurückgewiesen worden. Durch den Druck der Pressekontrolle ist bei o. g. Artikel die Absicht denkbar, die Militärzensur abzumildern, durch grundsätzliche Zustimmung Freiräume der Berichterstattung zu schaffen, denn oft tauchen im „Volksboten“ Weißräume auf. Ende Juli 1914 hatte der Parteivorstand zu Demonstrationen aufgerufen, „zum letztenmal bekräftigten deutsche und französische Sozialisten so ihre einheitliche Auffassung. Wiederum zehn Tage später standen sie sich mit dem Gewehr in der Hand gegenüber“ (Koszyk 1958: 25). Die sozialdemokratische Presse war „in den ersten Augusttagen nicht mehr wiederzuerkennen“ (Fricke 1987 I: 617). Im „Volksboten“ sind jedoch bereits 1914 nachdenkliche Töne zu vernehmen: Zwar ist es leider nicht möglich, einen Krieg so zu führen, daß er keine Wunden zurückläßt, und sein oberstes Gesetz heißt nicht leben und leben lassen, sondern töten, um nicht getötet zu werden. Ist aber der Moment gekommen, in dem der eherne Mund der Kanonen verstummt, dann tritt das große Gesetz der Völkererhaltung in sein volles Recht. Dann ist der
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Abb. 18: „Volksbote“ vom 20. 10. 1914, Beil.: 1. Quelle: Haus Stettin, Lübeck. Zeitpunkt gekommen für die Schaffung des dauernden Friedens, der keine immer wieder aufreißenden Wunden, keine Gedanken an Rache und Wiedervergeltung zurückläßt. […] Und je mehr die Völker in die gleiche Reihe der Zivilisation einrückten, desto unmöglicher wurde der Gedanke an einen Frieden, in dem ein einziges Herrenvolk über lauter Knechtvölker herrscht. (Volksbote Nr. 229, 1. 10. 1914: 2)
Und trotz der Erfolgsberichte von den Fronten nahm der „Volksbote“ einen Artikel von Karl Kautsky auf, der (für heutige Leser) erschreckend klarsichtig war: Sollte der Friedensschluß nur einen Waffenstillstand bringen, mit fieberhafter Vorbereitung eines neuen Weltkrieges, dann wird der Schwerpunkt der ökonomischen aber auch
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der sozialistischen Entwicklung aus dem Herzen Europas, in das ihn der Krieg von 1870 verlegte, eine neuerliche Verlegung erfahren. Der Fortschritt der Menschheit wird dadurch nicht aufgehalten werden, aber Europa wird aufhören, ihn zu führen. (Volksbote Nr. 241, 15. 10. 1914: 1)
Der „Volksbote“ kritisierte auch die „Geschmacklosigkeit und Roheit“ der Witzblätter, die sich über das Massensterben russischer Soldaten lustig gemacht hatten (Volksbote Nr. 232, 4. 10. 1914: 4). Im Lokalen wurde berichtet, dass sich Arbeiterfamilien „aus berechtigtem Mißtrauen“ von den kriegsgeschichtlichen Volksabenden im Stadttheater fernhielten (Volksbote Nr. 231, 3. 10. 1914: 3). Dies ist unter den Bedingungen eines Krieges im Ausnahmezustand schon sehr viel an Skepsis. Die US-amerikanische Propagandaanalyse zum Zweiten Weltkrieg hat zurecht auf die Bedeutung der Th emen und Texte hingewiesen, die in den untersuchten Materialien nicht vorkommen (George 1959). Die Ablehnung des Kriegs kann durchaus in Redaktion und Leserschaft des „Volksboten“ viel größer gewesen sein, als sich anhand des manifesten Inhalts feststellen lässt. Eine Geschichte des Ungesagten aber ist schwer zu schreiben. Stöber (2007: 216) meint, dass „die Presse im Ersten Weltkrieg der Meinungsbildungsfunktion noch nachkommen konnte“, Koszyk (1972: 19) sah eine „unter dem Zwang der Zensur irregeführte öffentliche Meinung“. Kruse (1993: 223 f.) stellt fest, dass die Kriegsunterstützung bei den Parteifunktionären und ihrer Presse stärker ausgeprägt war als bei der Anhängerschaft, weil die Führung sich eine Integration der Partei in die Gesellschaft und deren Transformation erhoffte. Im vierten Kriegsjahr hielt man an dieser Hoffnung fest: „Deutschland ist auf dem Weg von der preußischen Autokratie zum deutschen Volksstaat“ (Volksbote Nr. 88, 17. 4. 1917: 1). Die eigentliche Kriegsbegeisterung hatte 1914 nur sechs Wochen lang angehalten, im Frühjahr 1917 entglitten der Reichsführung „die Zügel der öffentlichen Meinung“ (Koszyk 2010: 455). Dem Kriegsverlauf wird im Zusammenhang dieser Arbeit nicht weiter nachgegangen. Als der Reichstag 1916 eine Friedensresolution verabschiedet, zweifelt der „Volksbote“ am Erfolg bei den feindlichen Regierungen, er wird in einer Presseschau des „Vorwärts“ zitiert (im Teil der Zeitungen, die zur Parteimehrheit gehören, Beil. zu Vorwärts Nr. 345, 16. 12. 1916: 1). Die Stettiner Presseverhältnisse kamen 1917 im Reichstag zur Sprache. Der SPD-Abgeordnete Heine protestierte dagegen, dass die Alldeutschen gegen die Reichstagsmehrheit hetzen, aber der „Volksbote“ verboten wird, weil er die „Heimkrieger“, die „sich sicher hinter der Front“ fühlen, kritisiert („Vorwärts“, Nr. 280, 12. 10. 1917: 4). Auch im preußischen Abgeordnetenhaus wurden die pommerschen Zustände angegriffen. Genosse Braun sagte: Der kommandierende General in Stettin scheint durchaus von alldeutsch-konservativem Parteifanatismus befangen zu sein. Der Stettiner „Volksbote“ hat darunter außerordentlich zu leiden. Er wurde für drei Tage verboten wegen eines Artikels, der in zahlreichen Zeitungen ungehindert abgedruckt worden ist, und dann unter Vorzensur gestellt. Alles, was der konservativen Partei, der Vaterlandspartei und den Annexionisten unangenehm ist, wird dort herausgestrichen. (Vorwärts Nr. 166, 19. 6. 1918: 2)
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Der preußische Innenminister Drews erwiderte, er habe keinen Einfluss auf die Militärbehörden. Genosse Braun kritisierte das „Wüten der Zensur in Stettin“, das Zeitungsverbot sei vom Polizeipräsidenten mit der Begründung versehen worden, dass die Ausübung der Vorzensur „zu viel Arbeit“ mache; die Beamten, so Braun, sollten sich nicht länger als „Handlanger dieser Militärdiktatur benutzen“ lassen (Vorwärts Nr. 169, 22. 6. 1918, Beil.: 2). Ab 1917 mehrte sich die Unruhe im Volk, es begannen Streiks, die die Mehrheitssozialdemokratie nicht unterstützte, aber als Aufforderung an die Reichsregierung verstand, an den inneren Verhältnissen etwas zu ändern (insbesondere die Reform des preußischen Wahlrechts wurde immer wieder verschoben): Ebenso wie die Gewerkschaften lehnt die sozialdemokratische Partei die Verantwortung für die Streikbewegung ab, das tun auch, wie berichtet wird, die Unabhängigen. […] Man kann einer Bewegung nur Herr werden, wenn man die Ursachen, aus denen sie ihre Kraft saugt, beseitigt. Möge die Regierung klug genug sein, diesen Weg zu beschreiten. (Volksbote Nr. 26, 31. 1. 1918: 1) Auch wir fürchten durch den Streik eine ungünstige Beeinflussung der Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk, wie wir das bereits gestern ausgesprochen haben, aber dafür ist die sozialdemokratische Partei nicht verantwortlich! Infolge der langen Kriegszeit haben viele Leute ihre Nerven nicht mehr in der Gewalt, die Ernährungsfrage peitscht die Massen auf und nicht nur diese regen sich auf, sondern das Bürgertum, das bessere Kost gewöhnt ist, schimpft noch viel mehr. (Volksbote Nr. 27, 1. 2. 1918: 3) Als der Krieg ausbrach, hat sicher kein Sozialdemokrat daran gedacht, daß in seinem Verlauf es zu massenhaften Arbeitseinstellungen kommen könnte. Kein Sozialdemokrat hat es gewollt, keiner hat es für möglich gehalten. Wenn das Nichtgewollte und Unwahrscheinliche dennoch Tatsache geworden ist, so ist das ein Beweis dafür, daß die Dinge eben oft stärker sind, als die Menschen. (Volksbote Nr. 32, 7. 2. 1918: 1)
Neue Hoffnung im festgefrorenen Weltkrieg gaben die Entwicklungen im Osten. Dort putschten die Bolschewiki unter Lenin gegen die Kerenskiregierung, die am Krieg festgehalten und einen Sonderfrieden abgelehnt hatte. Mit dem Krieg gegen das zaristische Russland hatte die deutsche Führung die Sozialdemokratie 1914 geködert, mit den „für die SPD am Vorabend des E rsten Weltkriegs so bedeutsamen Topoi vom asiatisch-verschlagenen und eroberungslüsternen Rußland“, die auf Marx und Engels zurückgingen (Zarusky 1992: 20). Nun gab es eine plötzliche Veränderung: Die für Russland desaströsen Verluste schienen den Weltkrieg zumindest im Osten zu beenden und damit auf die Westfront auszustrahlen (der deutschen Rechten und der Obersten Heeresleitung schien ein Siegfrieden wieder in erreichbare Nähe zu rücken).
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Die Friedenssehnsucht ist so groß, daß nicht nur die Flotte, sondern alle Arbeiter- und Soldatenräte der Front den sofortigen Frieden verlangen. […] Man sagt sich, für Rußland ist der Krieg doch verloren und für die Kriegsziele der Entente, für Elsaß-Lothringen wollen wir nicht sterben. Bei gutem Willen auf deutscher Seite wird es möglich sein, mit Rußland bald zu einem annehmbaren Frieden zu gelangen. […] Die Diplomaten haben den Krieg begonnen, die Völker beenden ihn. In diesen Tagen wird sich das Schicksal der Welt entscheiden. (Volksbote Nr. 263, 10. 11. 1917: 1)
Die MSPD betrachtete die St. Petersburger Ereignisse aus dem Blickwinkel des Friedenswunsches, weshalb man sich in den russischen Richtungsstreit nicht einmischen wollte (so Scheidemann, nach Zarusky 1992: 34), in der USPD setzte die Diskussion über den Bolschewismus ein, an der sie schließlich zerbrechen sollte. Darum enthielt sich der „Volksbote“ einer Kritik der Zersprengung der russischen verfassungsgebenden Versammlung 26 durch die Umstürzler. Eine lange Lebensdauer wurde dem neuen Regime aber nicht prognostiziert: Die Bolschewisten haben mit der Konstituante, deren Mehrheit ihnen nicht genehm war, kurzen Prozeß gemacht und sie mit Waffengewalt auseinandergetrieben. […] Die Bolschewiki-Regierung hat das Votum des Volkes, weil es gegen sie ausgefallen war, nicht anerkannt. Wir wollen darüber nicht rechten, in revolutionären Zeiten muß man revolutionäre Mittel gelten lassen. Wenn nun auch durch diesen Gewaltakt sich die Bolschewisten noch momentan an der Regierung halten, auf die Dauer können sie gegen die Volksströmung nicht regieren. (Volksbote Nr. 20, 24. 1. 1918: 1)
Die Reichsregierung hatte die Diskussion über die Kriegsziele teils geheim, teils verlogen geführt (Mommsen 1969). Bei den Friedensverhandlungen mit der neuen russischen Regierung wurde deutlich, worum es eigentlich gegangen war, um enorme Gebietsgewinne auf Kosten der russischen Westgebiete (die neben Finnland, das Schweden 1809 an Russland verloren hatte, überwiegend aus den Teilungen Polens resultiert hatte, von Polen, Balten, Weißrussen, Ukrainern bewohnt sowie deutschen und jüdischen Minderheiten). F riedrich Stampfer protestierte in seinem Leitartikel „Denk es, o Deutschland!“ 27 gegen diesen Annexionismus – dafür waren die Arbeiter nicht in den Tod gegangen:
26 Bei den Wahlen hatten die Bolschewiki nur ein Viertel der Stimmen bekommen. Wahlsieger waren die Sozialrevolutionäre geworden. Die russische Konstituante wurde nach nur einem Tag aufgelöst. 27 Die Überschrift bezieht sich auf ein weitverbreitetes Arbeitergedicht von Karl Bröger, dessen letzte Strophe lautet: „Immer schon haben wir eine Liebe zu dir gekannt / Bloß haben wir sie nie mit einem Namen genannt / Herrlich offenbarte es erst deine größte Gefahr / Daß dein ärmster Sohn auch dein getreuester war / Denk es, o Deutschland!“ (z. B. abgedruckt in Busse 1915: 77).
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Als sich Deutschland in seiner größten Gefahr befand, da waren es die schwieligen Fäuste, die es – ohne zu fragen, wie das alles gekommen war, ohne darüber zu klagen, wie man sie zuvor behandelt hatte – aus dieser Gefahr herausrissen. […] Wenn diese Gefahren heute längst nicht mehr so groß sind wie früher, wenn im Osten kein Feind mehr steht und eine Zertrümmerung der deutschen Westfront nicht nur zu den am wenigsten wünschenswerten, sondern auch zu den am wenigsten wahrscheinlichen Dingen der Welt gehört, so verdankt Deutschland das seinen Arbeitern, die daheim seine Rüstung schmiedeten und die sie draußen kämpfend und sterbend trugen. […] Was wäre wohl geworden, wenn man den deutschen Arbeitern in der Zeit der größten Gefahr gesagt hätte: „Ihr blutet und sterbt für Kurland, Litauen, Longwy, Briey [diese französischen Gebiete wurden wegen ihres Erzes und ihrer Kohle schon 1914 im „Septemberprogramm“ der Reichsregierung beansprucht – H. B.], für die Vernichtung der belgischen Selbständigkeit und – für die Reform des preußischen Herrenhauses“?? Die Bewegung, die durch die Massen des arbeitenden Volkes geht, beruht auf tiefsittlichen Gründen. Sie ist – heute muß offen gesprochen werden – der Befürchtung entsprungen, daß man sie irregeführt hat. (Volksbote Nr. 27, 1. 2. 1918: 1)
Als der Frieden von Brest-Litowsk geschlossen wurde, warnte der „Volksbote“ vor den Folgen einer Revanche. Das Deutsche Reich habe rauschhaft wie im Schlussverkauf gehandelt. Wenn die kommunistische Illusion der „Weltrevolution“ zerplatzt sei, werde ein Rückeroberungskrieg beginnen: Die große Tragödie des Ostens endet wie eine Posse. Noch nie ward in solcher Laune F rieden geschlossen. Sonst hat der geschlagene Gegner in zähem diplomatischem Ringen zu retten versucht, was nur zu retten war. Hier ist, nach langem Sträuben, dem Sieger mit fast höhnisch wirkender Bereitwilligkeit alles in den Schoß gefallen, was er verlangt. Nun greift nur zu und seid nicht blöde. Und blöde, d. h. schüchtern, ist die mittelmächtliche Diplomatie keineswegs gewesen. Sie hat die weltpolitische Konjunktur ausgenutzt wie nur je eine Hausfrau den Ausverkaufstag eines Warenhauses, und mit überfüllter Markttasche kehrt sie heim. Freilich, wer nicht bloß an den Augenblick denkt, der muß sich sagen: Was wird daraus? Zunächst folgt doch eines: eine ingrimmige Feindschaft, die aus dem Krieg in den Frieden hinübergetragen wird. Und gerade jene Schicht des russischen Volkes, die sich bis vor kurzem noch als das internationale völkerverbindende Element gefühlt hat, trägt diesen Groll am schwersten: es erhofft die Befreiung vom Druck des deutschen Imperialismus nun nicht von einer Anstrengung der nationalen Kräfte sondern von der internationalen Revolution. Wenn dieser Traum zu Ende geträumt sein wird, wird Rußland reif werden für den russischen Befreiungskrieg. (Volksbote Nr. 54, 5. 3. 1918: 1)
Zudem gaben die deutschen Gebietsgewinne im Osten den Westmächten Argumentationshilfe für die Fortsetzung des Krieges:
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Der jetzt mit Rußland abgeschlossene Friede muß von jedem weitsichtigen Politiker als einer der schlimmsten bezeichnet werden, der uns hätte beschert werden können. Er ist ein Machtfrieden, wie er von den Annexionisten gefordert worden ist, deren Wünsche im Osten getreulich erfüllt worden sind. […] Fragen wir uns nun, w elchen Einfluß dieser Frieden auf die Operationen im Westen haben wird, so müssen wir leider mit der Wahrscheinlichkeit rechnen, daß er zur wesentlichen Verlängerung des Krieges beitragen wird; denn jetzt haben die Kriegshetzer in den Ententeländern Oberwasser. Sie werden mit lauter Stimme verkünden, daß den Ländern der Alliierten das g leiche Schicksal wie Rußland droht, wenn es nicht gelingt, Deutschland niederzuschlagen. (Volksbote Nr. 55, 6. 3. 1918: 1)
Tatsächlich spielte denn Brest-Litowsk auch eine Rolle bei den Pariser Vorortverträgen. – Dem russischen Sozialismus wurden wenig Chancen eingeräumt, da es nach marxistischer Lehre an den Vorbedingungen mangele: In Rußland fehlen alle Voraussetzungen für den Sozialismus. Die wirtschaftliche Entwicklung ist noch längst nicht so weit fortgeschritten, daß man das Land sozialistisch organisieren könnte. Die Arbeiterorganisationen sind schwach und ohne Erfahrung; die Massen kulturell und wirtschaftlich ungebildet, Fabrikwesen und Landwirtschaft böse heruntergewirtschaftet und sorgfältigster ruhiger Pflege bedürftig. Nur ein Wunder könnte die Volkskommissare in den Stand setzen, das russische Wirtschaftsleben auf sozialistischer Basis wieder aufzubauen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie Rußland nur immer tiefer zerrütten und das Volk in immer entsetzlicheres Elend stoßen. (Volksbote Nr. 53, 3. 3. 1918: 1)
Die 14 Punkte des US-Präsidenten Wilson zu den Forderungen eines Friedensschlusses mit den Mittelmächten waren abgedruckt worden (Volksbote Nr. 9, 11. 1. 1918: 1), ebenso ihre Zurückweisung (Reichskanzler Hertling, Volksbote Nr. 22, 26. 1. 1918: 1 f ). Die Rede Scheidemanns im Hauptausschuss des Reichstages, in der er sich für einen Verständigungsfrieden aussprach, wurde im Wortlaut wiedergegeben (Volksbote Nr. 23, 27. 1. 1918: 1 f ). In elf Punkten stimmte Scheidemann Wilson zu, Elsaß-Lothringen müsse aber deutsch bleiben, gegenüber der verbündeten Türkei dürfe man nicht treulos werden; Polen wurde nicht erwähnt. Der Krieg müsse schnell enden, nur für die Alldeutschen seien Menschen „billig wie Brombeeren“.
V.14 Feuilleton Untersuchungen zum Feuilleton mehren sich mit der sich etablierenden Zeitungswissenschaft in der Weimarer Republik (Feddersen 1923 nur maschinenschriftlich). Vorher hatte es lange eine „nachlässige Behandlung“ (Schindler 1928: 97) erfahren. Für Hans Traub bestand der Kern in der Feuilletonspitze, er verstand darunter
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die künstlerische Gestaltung eines originellen Einfalls über ein Alltagserlebnis. Das Festhalten eines Augenblicks aus dem Strom des Geschehens, das Glitzernlassen des gefangenen Eindrucks in dem Spiegel eines eigenartigen Könnens und Wissens. (Traub 1928: 144)
Vor dem Weltkrieg war das Feuilleton auch Gegenstand auf SPD-Parteitagen. Hier wurde beklagt, dass es zu wenig werbend sei, weil zu distanziert und zu wenig neugierig: Das Feuilleton unserer Parteipresse steht in seiner heutigen Zusammensetzung dem Gefühlsleben und der geistigen Auffassungsfähigkeit der meisten Leser der Arbeiterpresse und besonders derer, die es werden sollen, fern. […] Die Genossen, denen der Unterhaltungsteil anvertraut ist, müssen Entdecker werden… Allzu seltene Gäste sind in unserem Feuilleton auch Humor und Satire. (Franke 1914: 25 f.)
Auch in der pommerschen Sozialdemokratie spielte die Frage der Gestaltung des Ressorts eine Rolle. Auf dem Parteitag 1906 beantragte Genosse Grimm aus Ueckermünde, die Theaterberichte einzuschränken und dafür die Landtagsverhandlungen zu bringen. Der Antrag wurde abgelehnt (Protokoll SPD Pommern 1906: 22 f ). Ein reichhaltiges sozialistisches Feuilleton entstand mit der Professionalisierung in der Weimarer Republik, „das halb einem Bildungsideal erzieherischer Art nachstrebt, halb einen angreifenden, stark mit Satire arbeitenden Kampfgeist bekundet“ (Meunier/Jessen 1931: 93). Diese Entwicklung fiel in die sich verschärfende Medienkonkurrenz, in der sich die Zeitung sich verändernden Nutzungsgewohnheiten stellen musste: Wir haben neben der Zeitung das Kino, das Radio, die Schallplatte und alle anderen Kinder der modernen Vergnügungs- und modernen Amüsierindustrie mit ihren pseudokünstlerischen Darbietungen. Gegen diese ganz auf der Oberfläche treibenden Strömungen der modernen Zeit tritt die Zeitung in schärfste Konkurrenz. Sie muß ein gewisses Äquivalent bieten, das Publikum anreizen, anlocken, um diese Konkurrenz zu bestehen, sie muß aller Pseudokunst so viel wirkliche Kunst entgegenstellen können, daß sie und ihr Einfluß letztens doch überwiegen. (Meunier/Jessen 1931: 185)
Der Stettiner „Volksbote“ bemühte sich um Vermittlung von Literatur, Naturwissenschaft und sozialistischer Weltanschauung als Gegenerzählung zum Bürgertum. Berichte aus dem Universitätsbetrieb und dem akademischen Milieu schieden für den „Volksboten“ aus. Er hielt nichts von den „treudeutschen Bourgeois-Jünglinge[n]“, die „auf die ,Proleten‘ mit unsäglicher Verachtung“ blickten und sich neuen Ideen verweigerten. „Deutscher Art angemessen ist der Saufkomment und der Paukkomment“ (Volksbote Nr. 49, 27. 2. 1913: 2).
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V.14.1 Zeitungsgedichte Die sozialistische Lyrik hatte ein emanzipatorisches Bildungsinteresse. Sie war gekennzeichnet durch ihren politischen Bezug. Sie organisierte, sie solidarisierte, sie appellierte, sie war ausdrucksstark. Ihre Autoren waren in der Regel Arbeiter, in Ausnahmefällen jedoch auch bürgerliche Autoren, die sich unter dem Einfluß der Arbeiterbewegung für das Proletariat entschieden. (Schütz 2003: 20)
Die Geschichte findet „in der Poesie eine ihrer allerwichtigsten Quellen“ und „Aufschlüsse über Zeitliches und Nationales“ (Burckhardt 2009 [1905]: 87). Für diese Kunstform war die Tages- oder Wochenzeitung nicht der schlechteste Ort. Aktuelle Themen zu verarbeiten, in Vers und Reim zu pointieren, macht das Zeitungsgedicht für das Feuilleton brauchbar. Das Zeitungsgedicht muss sofort verständlich sein. Es ist zeitgebunden, darin dem politischen Witz ähnlich. Daraus folgt, dass es weder experimentell sein noch sich auf Aussagen zur Innenwelt des lyrischen Subjekts beschränken darf. Darum wirkt es notwendig später nicht mehr oder nur historisch. Als Beispiel „Der heilige Geist“ (Für unsere Frauen, Beilage zum Volksboten, 31. 5. 1914: 1), der verdichtet den Anspruch der Arbeiterklasse, die wahre, diesseitige Religion zu verkörpern (das Reich „Gottes in Form der sozialistischen Gesellschaftsordnung“, Diehl 1980: 381), erhebt – „Jesus war Sozialdemokrat“ 28: Nein, er fehlt nicht, fühlst sein Weben, Gehst du zu dem Volke hin, Das nur Arbeit hat vom Leben, Kargen Lohn, doch mut’gen Sinn. Dort hat sich der Geist geborgen, Wo er neu befruchtet blüht Und, dreist spottet aller Sorgen, Tief als Zukunftssehnsucht glüht. Wunder diesem Geist entsprießen – Dieses heil’gen Geistes Licht Macht das Arbeitsvolk zum Riesen, Der der Knechtschaft Ketten bricht.
Zum o. g. Beispiel passt die Einschätzung Martin Rectors, ein Gedicht könne entlarvender sein als beabsichtigt, klarer benennen, was sonst kaum identifizierbar ist:
28 So der „Vorwärts“, 25. 12. 2010, http://www.vorwaerts.de/artikel/jesus-war-sozialdemokrat. [29. 07. 2020]
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Hier begegnet wieder die bereits bekannte Vorstellung von der vermeintlich revolutionären Kraft des reinen Geistes. Diese in der sozialdemokratischen Lyrik nachgerade topische Vorstellung ist dem Wissenschaftsoptimismus Liebknechts und der Eisenacher nicht minder verpflichtet als dem Idealismus Lassalles; sie bezeichnet eine theoretische Grundschwäche der Sozialdemokratie, die in der poetischen und metaphorischen Redeweise deutlicher zutage tritt als in anderen Texten. (Rector 2004: 2.299)
Zeitungsgedichte erscheinen in der sozialdemokratischen Presse früh. Bereits der „Volksstaat“, das Zentralorgan der SDAP, gab ihnen Raum und trug so zur Entwicklung der sozialistischen Lyrik bei (Fricke 1987 I: 501). Die Merkmale der „Agitationslyrik“ waren politische Metaphorik und Pathosformeln, die an den Vormärz anknüpften (Diehl 1980: 334). Formal waren sie konventionell. Im „Volksboten“ finden sich vereinzelte Gedichte vor dem E rsten Weltkrieg, besonders in den Beilagen. Themen sind der revolutionäre Kampf, die Abwehr christlicher Überlieferung (zu den Festtagen auf der Titelseite) und die soziale Lage: Und dennoch rief das gleiche Werde Hervor uns aus dem Mutterschoß Und dennoch kommt auch Ihr zur Erde Hilflos und weinend, nackt und bloß. Warum für Euch das Festgeläute Für uns den Grabgesang der Not? Warum für Euch die reiche Beute Für uns die Wunden und der Tod? (Auszug, Robert Seidel: „Ihr und Wir“, Für unsere Frauen, Beil. zum Volksboten, 7. 7. 1912: 1)
Gedichte werden auch eingesetzt, um satirisch Nachrichten zu kommentieren. Aufgenommen wurde auch ein letzter Gruß eines Verstorbenen („Zurück nehm’ wieder mich die Natur, / Die mir das Dasein gegeben, / Und der Wind soll verwehen die letzte Spur / Von einem vergangenen Leben“) (Beil. zu Volksbote Nr. 170, 24. 7. 1912: 2). Diehl zufolge versiegte die Parteilyrik zwischen 1905 und 1910: Die sozialdemokratischen Lyriker nach der Jahrhundertwende lehnten nicht nur eine spezifische Klassenliteratur ab, sondern sie waren auch nicht bereit, politische Gebrauchslyrik mit dezidiert operativem Charakter zu produzieren. Nicht mehr der politische Kampf und der Klassenkampf sollten in der Lyrik thematisiert werden, vielmehr sollte sich die Dichtung neuen Themen, neuen Stoffen zuwenden. (Diehl 1980: 736)
Der Erste Weltkrieg habe das „Ende der sozialdemokratischen Lyrik besiegelt“ (Diehl 1980: 750). Dennoch erschienen in den Zeitungen weiter Gedichte, auch im Stettiner „Volksboten“. Im Zentrum steht nicht mehr die Programmatik. Manche Verse zeigen
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zeitgenössisches Denken, hier nach dem Ersten Weltkrieg den Mythos, Deutschland wäre angegriffen worden, es habe Kampfbegeisterung geherrscht, das Heer sei unbesiegt geblieben, und die Toten vergehen nicht, sondern spuken: Sie schritten mit lachendem Munde Und jauchzendem Sang in den Krieg; Sie dachten an Tod nicht und Wunde Sie träumten nur Kämpfe und Sieg. Die Freiheit der Heimat zu schützen, Zog Tausend um Tausend vorbei, Mit Rüstung und Roß und Geschützen, – Und Meiner war mit dabei. Nun sind sie uns wiedergekommen In blitzenden Waffen und Wehr: Kein Feind hat die Ehre genommen Dem unüberwundenen Heer. Es winken die Fahnen und grüßen Und rufen die Liebsten herbei, – Doch ich muß mein Fenster verschließen: Denn meiner ist nicht dabei. Ich schließe die Augen und träume: Da schau’ ich ein andres Heer, Das wandelt durch luftige Räume, Schier unübersehbar daher; Ich schau einen Friedhof in Flandern, Da liegen sie Reihe um Reih’ Die nächtlich so reiten und wandern, – Und Meiner ist mit dabei. („Und meiner war mit dabei“, Wilhelm Schneider-Clauß, 1. Beil. zu Volksbote Nr. 287, 7. 12. 1918: 1)
Hier „wird Lyrik zur Gebrauchskunst: Propaganda, Werbung, auch Satire binden sie so stark an einen Zweck, dass die Ränder zwischen Text und Kontext nicht systematisch zu ziehen sind“ (Lamping 2016: 106). Hinzu kam ein konservatives Kulturverständnis der Sozialdemokratie. So hat Franz Mehring in einer Kritik am naturalistischen Dichter Arno Holz diese mit der Gültigkeit der Klassik begründet: Die Silbenmessung, wie sie sich seit der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, namentlich aber mit der klassischen Literatur in die deutsche Sprache einbürgerte, widersprach durchaus ihrem „natürlichen Genius“, will sagen, ihrer bisherigen historischen Entwicklung, aber sie ist ein gewaltiger Hebel der deutschen und mittelbar auch der europäischen Kultur geworden. Mit ihr steht und fällt unsere klassische Literatur, deren Bedeutung für das moderne Geistesleben bis auf die glorreichen Tage der naturalistischen Aesthetik noch von keinem vernünftigen Menschen bestritten worden ist. […] Dagegen ist es sehr
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nhistorisch und ganz phantastisch, aus souveräner Machtvollkommenheit ein neues Weltu alter der Lyrik verkünden zu wollen. Das läuft auf die reine Formspielerei hinaus – trotz oder auch wegen des angeblich radikalen Bruches mit allen überlieferten Formen der Lyrik. (Mehring 1899: 540 und 542)
Rudolf Franz schätzte die Qualität der revolutionären Lyrik gering ein, „mit ihrem künstlerischen Werte sieht es im ganzen nur mäßig aus“, was er auf die Verwendung militaristischer Terminologie zurückführte, die mit der politischen Lage wenig zu tun habe (Franz 1911: 341). Das letzte Gedicht im „Volksboten“ hatte der Leser August Witschke eingesandt. Die Redaktion kommentierte den Abdruck mit: „Seine Verse sind gewiß keine Kunstwerke, mit ,Literatur‘ haben sie nichts zu tun – aber sie sind echt!“ (1. Beil. zu Volksbote Nr. 49, 26. 2. 1933: 3) Es folgten „die pyromanischen Lyriker des ,Dritten Reiches‘“ (Schöne 1965: 11), nach dessen Zusammenbruch „bemühten sich sozialistische Dichter [in der DDR – H. B.], im Sinne ihrer marxistisch-leninistischen Weltanschauung Einsichten in die objektiven Zusammenhänge zu entwickeln“, aber „sie begnügten sich oft mit der poetischen Illustration und Versifizierung von Erkenntnissen und Losungen“ (Haase/Geerdts/Kühne/Pallus 1976: 427). Bei politisch engagierter Lyrik zeigt sich: „die Musen unterliegen nicht der Befehlsgewalt der politischen Machthaber“ (Schöne 1965: 9).
V.14.2 Fortsetzungsromane Als das Bürgertum noch für sich beanspruchen konnte, die Befreiung aller zu betreiben, entstand der Roman als neue Gattung, verbunden mit dem Schwund der Religion: „Der Roman ist die Epopöe der gottverlassenen Welt“ (Lukács 2009 [1920]: 68). Die Arbeiter bewegung später schwankte zwischen Aneignung des klassischen Erbes und Propagierung neuer Formen, die auch für Leser mit geringerer formaler Bildung und weniger Zeit geeignet waren. Leser, die nach Texten verlangten, die mit ihrer Lebenswelt zu tun hatten oder eskapistisch mit dieser versöhnten. Es blieben aber auch die Theoretiker der Arbeiterdichtung emanzipatorisch im Gefolge der Aufklärung. Den Optimismus, den die bürgerliche Literatur nach der Märzrevolution aufgab, führte die Sozialdemokratie weiter, nun bezogen auf das Proletariat. Der pommersche Literaturwissenschaftler C hristian Friedrich von Blanckenburg hatte 1774 programmatisch gefordert, was der Roman für die „Menge“ sein sollte: Diese Veränderung in unsrer Theilnehmung kann das menschliche Geschlecht seiner Vervollkommung näher bringen. Der Romanendichter soll es mit dahin führen helfen […] Und ich ehre die nackte Menschheit, die, von allem, was ihr S itten und Stand, und Zufall geben können, entblößte Menschheit so sehr; ich möchte sie so gern in ihr wahres Vorrecht wieder eingesetzt sehen; ich möchte so gern alle Welt davon überzeugen, daß ein heller Kopf und ein reines Herz die wichtigsten Stücke in unserm Posten sind. (Blanckenburg 2007 [1774]: 57.046 f.)
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Wobei marxistische Denker auf die Diskrepanz z wischen bürgerlichem Selbstverständnis und tatsächlichem Verhalten bereits in der Goethezeit hinwiesen. „Eine Klassiker-Ausgabe war ein Erwerb fürs Leben. Ja, eine Stiftung für die Söhne und Enkel […] Sie stand im Schrank, aber wurde sie auch gelesen?“ (Benjamin 1980 [1932]: 643; Beispiele nennt Prutz 1870). Es las das Bürgertum, das Lektüre zunächst auf Männer, Besitzende oder Gebildete beschränken wollte, selbst auch Triviales (so sei z. B. der Schauerroman nach dem Scheitern der napoleonischen Neuordnung Europas entstanden, als biedermeierliche „Gemütsausschleimung“, Hacks 1984 [1982]: 253). Kennzeichen des bürgerlichen Romans ist der „Konflikt z wischen Ich und Gesellschaft“, „aus dieser gesellschaftlichen Spannung schöpft der Roman seine narrative Spannung“ (Vietta 2007: 16). Die Grundstruktur des Romans hatte schon Hegel dargelegt: Nun gilt es, ein Loch in diese Ordnung der Dinge hineinzustoßen, die Welt zu verändern, zu verbessern, oder ihr zum Trotz sich wenigstens einen Himmel auf Erden herauszuschneiden […] Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts Weiteres, als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit […] Mag einer auch noch so viel sich mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden seyn, zuletzt bekömmt er meistens doch sein Mädchen… und wird ein Philister so gut wie die Anderen auch. (Hegel 1837: 216 f.)
Insofern bot die Industrialisierung eine Möglichkeit zur romantischen Auflehnung gegen das Ende von Geschichte und Literatur; die Massenpresse war Podium für beider Fortsetzung. Sie konnte an die Leserevolution des 18. Jahrhunderts anknüpfen, verband sie aber mit neuen Forderungen. Förderlich wirkten sich Gewerbefreiheit, Reichspressegesetz, Urheberschutz sowie technische Neuerungen (Zellstoff, Maschinen) aus (Jäger 1991: 473). Mitte des 19. Jahrhunderts begannen Zeitungen nach französischem Vorbild, Romane in Fortsetzung abzudrucken (Koszyk 1966: 216). In Zeitschriften geschah das schon früher, Schillers größter Erfolg zu Lebzeiten war „Der Geisterseher“, den er selbst weder mochte noch vollendete (Safranski 2004: 239 – 251). Journalismus und Literatur waren damals enger verknüpft als heute, Dumas, Heine und Fontane sind prominente Beispiele. Sie mussten für ein breites Publikum schreiben, wie der Schriftsteller Klaus Groth selbst beklagte: „Flüchtiger noch, oberflächlicher als der Schreiber wird der Leser. Schwierige Stellen überschlägt er, schwierige Bücher nimmt er gar nicht zur Hand“ (Groth 1967 [1891]: 215). So war der Fortsetzungsroman ein Versuch der Zeitung, „selbst das Buch entbehrlich zu machen“ (Schottenloher 1922: 457). Der Zeitungsabdruck schuf einen eigenen Stil, der das abschnittsweise Publizieren und Rezipieren vereinfachte (Traub 1928: 147). Otto Groth widmet dem Zeitungsroman einen eigenen Abschnitt (1928 I: 848 – 856). Vom Niveau der meisten Texte hält er wenig: Schriftsteller und Schriftstellerinnen fabrizieren mit bewährten Themen, Figuren, Verwicklungen und Lösungen Jahr für Jahr Romane und liefern das Erzeugnis zu Spottpreisen […] Der übliche Zeitungsroman ist zweckbestimmt und daher unkünstlerisch. (851 f.)
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Die Leser waren meist weiblich. Sozialdemokratische Versuche, bessere Romane, gern (aus Kostengründen) urheberrechtlich freie, zu veröffentlichen, waren hingegen selten erfolgreich. So hieß es 1914 in der SPD: Ein Parteiredakteur mußte auf dem Parteitag feststellen, daß der Parteipresse ihr Unterhaltungsteil Leser und besonders Leserinnen kostet. Das Feuilleton unserer Parteipresse steht in seiner heutigen Zusammensetzung dem Gefühlsleben und der jetzigen Auffassungsfähigkeit der meisten Leser der Arbeiterpresse und besonders derer, die es werden sollen, fern […] Den Abdruck in Fortsetzungen ertragen nur Sachen, die viel Handlung haben, Erzählungen von straffer, epischer Gestaltung und flott fortschreitender Schreibart. Es genügt nicht, „gute“, das heißt literarisch wertvolle Dinge abzudrucken! […] Besonders die Frauen stellen an die Zeitungsromane die Forderung, daß in ihnen etwas geschieht, was die Teilnahme ihrer fühlenden Herzen erregt. (Franke 1914: 25)
Bemühungen zur Hebung der Volksbildung standen also dem tatsächlichen Leseverhalten im Wege. Wobei je nach Autor oder vielmehr Autorin das Spektrum des Frauenromans von Stabilisierung bis Kritik der bürgerlichen Familie reichen konnte (Jäger 1991: 486). Inhaltlich waren das Ideal romantischer Liebe und Liebeskitsch 29 fortschreitend nicht mehr klar zu trennen, was bis ins Heute gilt (Hilmes 2004: 61). Rückschlüsse vom Fortsetzungs roman auf den Rezipienten aber sind (wie bei journalistischen Produkten auch) unzulässig: Der Unterhaltungs- und Trivialliteratur wird in der Regel eine wichtige sozialpsychologische Funktion für die Gesellschaft wie hohe Repräsentativität für die Mentalität der „Massen“ zugeschrieben. Von den durch sie befriedigten Bedürfnissen und bearbeiteten Problemen wird auf soziale Bedürfnisse und psychische Dispositionen ihrer Rezipienten rückgeschlossen. Dabei werden ihr Kompensation lebensweltlicher Versagungen sowie eine Stabilisierung der Gesellschaft durch Aufbau von Phantasiewelten vorgeworfen, welche sich einerseits zu Wirklichkeitsflucht und Wunscherfüllung anbieten, andererseits aber die Zwänge der Realität perpetuieren. Um diese Annahmen zu verifizieren, fehlt es an theoretischen Modellen wie historischen Kenntnissen psychischer Verarbeitungsmechanismen fiktiver Texte und der Orientierungsleistung von Literatur für das Verhalten der Rezipienten. (Jäger 1991: 485)
Im Stettiner „Volksboten“ findet sich ein Roman schon zu Beginn: „Geopfert“, verfasst von George Simmy, übersetzt von Auguste Scheibe. Es spricht für die Zeitung, den Abdruck, der sich vom Hauptteil sehr abhebt, um der Leserinnen willen gewagt zu haben, hier ein kurzer Auszug: 29 Die „Ästhetischen Grundbegriffe“ setzen die erste Erwähnung von Kitsch 1881 an. Grob zusammengefasst weist Kitsch u. a. die Merkmale Formenverrückung, Überhäufung, Mittelmäßigkeit und Bequemlichkeit, Gefühligkeit auf (vgl. Kliche 2010). Kitsch reduziert Komplexität, phantasiert Lösungen und „fragt, wie es anders sein könnte, als Antwort darauf, wie es ist“ (Grimm 2012: 18).
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Gehe fort von hier und mit der Zeit wirst du mich vergessen lernen. Sieh, ich bin ein schwaches Mädchen und die verzehrende Liebe zu Dir, welche in meinem Herzen glüht, droht mich zu tödten; aber ich will meinen grenzenlosen Kummer ohne Klage tragen, ich werde unter meinem Schmerze vergehen, aber nimmer will ich ihn offenbaren, nimmer sein Ende zu beschleunigen suchen. Bei unserer Liebe beschwöre ich Dich, versprich mir, Dein Leid zu ertragen, das Leben nicht wie eine Last von Dir zu werfen. Versprich mir es, Emerich, mein Geliebter. (Volksbote Nr. 3, 19. 07. 1885: 3)
Im ersten Jahrgang des „Volksboten“ finden sich unterm Strich vor allem kürzere Stücke, also Novellen und Kurzgeschichten (die Autoren sind nicht immer angegeben, mit Maupassant ist auch ein bedeutender Schriftsteller vertreten): Geopfert
George Simmy
Aus den Mysterien des Nihilismus
Ivan Egorov
Der einzige Gast
Quatrelles (Ernest-Louis-Victor-Jules L’Épine)
Verirrt und heimgefunden Ein Sonnenstrahl im Leben
Elise Gr…
Der Meister Dieb Vor dem Gewittersturm
Elise Ch…
Wem galt es? Ein Londoner Detektive
Fr. Müller
Im Zuchthause von Waldheim Ein Jagdabenteuer
Guy de Maupassant
Das Damenkoupee Schicksals-Spiele
Elise Grimpe
Tab.6: Literatur im „Stettiner Volksboten“ 1885.
Im Zuge der Hinwendung der Literaturwissenschaft hin zu Massenphänomenen kam es auch zu einer Umwertung des Trivialromans. Helmut Kreuzer (1975) definiert ihn dahingehend, dass er Gegenstand der Diskriminierung durch den herrschenden Geschmack sei, es sich also um historisch-soziale, nicht überzeitliche ästhetische Begründungen für oder gegen Autoren und Bücher handelt. Damit kommt diese Einschätzung dem anfänglichen sozialdemokratischen Kampf gegen bürgerliche Literatur entgegen, als Kampf um einen Platz in der Gesellschaft, bis es um die Jahrhundertwende zu einer Annäherung kam. Insofern gilt auch Langenbucher (1964), wonach der Erfolgsroman eher der Publizistik als der Germanistik gehöre, als Gegenstand der Alltagskommunikation breiter Schichten. Der Stettiner „Volksbote“ wandte sich bald gegen den populären Geschmack. So kündigte er eine Übersetzung des Schriftstellers Tschirikow (1864 – 1932) so an:
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In der Beilage der heutigen Nummer beginnen wir mit dem Abdruck eines neuen Romans aus der Feder des in seiner Heimat sehr angesehenen russischen Schriftstellers Eugen Tschirikow […] Wir hoffen, daß der neue Roman, der von berufener Seite für den „Volksboten“ aus dem Russischen übersetzt ist und durch seine innere Wahrheit und künstlerische Form sich hoch über die gewöhnliche Unterhaltungslitteratur der bürgerlichen Presse erhebt, den vollen Beifall unserer Leserinnen und Leser finden wird. (Volksbote Nr. 76, 30. 3. 1905: 3)
Er bekannte sich zu einer Literatur, die bildet und belehrt, besonders Frauen (Nr. 291, 13. 12. 1906: 2): Schon oft haben wir uns gegen die Schundliteratur gewandt. Von Zeit zu Zeit werden in den Arbeiterwohnungen „Probehefte“ abgegeben, die von gewinnsüchtigen und skrupellosen Verlegern stammen. Leider machen diese Leute in den Arbeiterkreisen immer noch glänzende Geschäfte, denn sie spekulieren unmittelbar auf die Sensationslust und weisen den Autor an, die Kapitel durch Schilderungen von Mord und Totschlag, von Brandstiftungen, Giftmischereien und geheimnisvollen Entführungen möglichst „spannend“ zu gestalten […] Die Lektüre soll aber nicht nur unterhalten, sondern bilden und belehren; daher ist es durchaus nicht gleichgiltig, was wir lesen. Will die Frauenwelt den in und mit ihr geborenen Menschenrechten Geltung verschaffen, will sie mit an dem Befreiungskampfe ihrer Klasse teilnehmen, so bedarf sie einer gesunderen Geistesnahrung als bisher.
Volkspädagogik und Kulturkritik spielten um 1900 eine große Rolle, Klassiker wurden dagegengehalten, durchaus aber auch aus Kostengründen (Stöber 2000: 184). Problem bei den urheberrechtsfreien Werken war aber, „daß diese Werke nicht für Fortsetzungen geschrieben sind und die Forderung nach beständiger Spannung nur selten erfüllen“ (Groth 1928 I: 854). In der Weimarer Republik änderte sich die Funktion des Zeitungsromans in der sozialdemokratischen Presse. Meunier/Jessen (1931: 187) konstatierten: Die Forderungen, „daß die Leserschaft sich herauflese, gehen von falschen Voraussetzungen aus“. Die SPD strebte eine Anpassung an die bürgerliche Massenpresse an, um neue Leser zu gewinnen (Zerges 1982: 105). Auch wurden durch den Sozialdemokratischen Pressedienst billige bürgerliche Autoren sozialdemokratischen Schriftstellern vorgezogen (Zerges 1982: 117). Die Weimarer Republik gab großen Schriftstellern Raum, aber „an die Trivialliteratur reichten sie freilich alle nicht heran“ (Büttner 2010: 313). Groth (1928 I: 854) bescheinigt der sozialdemokratischen Presse, dass in ihr „die besten deutschen und ausländischen Erzähler“ vertreten waren. Kurt Tucholsky nennt einen Fall, dass ein SPD-Provinzredakteur gezwungen wurde, ihn nie wieder zu drucken (1932: 86). Die Hauptstelle der Stettiner Arbeiterbibliothek hatte 1920 rund 11.200 Leser, die 12.350 Bände Unterhaltungsliteratur, 4.840 Bände Jugendbücher und 2.108 Bände Sachbücher und Klassiker benutzten (Volksbote Nr. 262, 8. 11. 1921: 6).
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V.14.3 Literaturkritik Marx hat zwar keine Ästhetik hinterlassen,30 dennoch waren kulturelle Belange Teil der Arbeiterbewegung, erschien ihr doch der Zugriff auf Bildung als zentral für soziale Emanzipation. Dafür war die Aneignung und Anverwandlung bisher dem Bürgertum vorbehaltener Werke ein Mittel – gehörte es doch zu dessen Vorbehalten dem vierten Stand gegenüber, er sei nicht kunstfähig, also auch politisch fernzuhalten. Wenn Proletarier niveaulos lesen, spielt das Gegnern in die Hände. Schließlich galt es, das gesellschaftliche Gestaltungsrecht der Arbeiterschaft durchzusetzen, dazu eigneten sich ländliche Idyllen usw. nicht; proletarische Literatur gelangte erst in der Weimarer Republik zu Bedeutung. Der erwähnte Robert Prutz bereits wandte sich gegen die Abwertung der Unterhaltungsliteratur, noch vor dem Durchbruch der Massengesellschaft mit ihrem industrialisierten Literaturbetrieb. Als origineller Denker hielt er sie im Gegenteil hoch: Ueberhaupt bildet die Unterhaltungsliteratur die eigentliche Glanzseite unserer gegenwärtigen literarischen Production… Freilich ist es leicht, mit dem ästhetischen Compendium in der Hand, auch dem Roman der Gegenwart noch allerhand Gebrechen und Mängel nachzuweisen… Unsere Unterhaltungsliteratur hat sich ihrem Begriff, die eigentliche Durchschnittsliteratur der Zeit zu sein, mehr und mehr angenähert, jener nivellirende Charakter, den man unserer Epoche übrigens so vielfach nachsagt, hat sich auch an ihr bewährt, wir haben nicht mehr die Höhen, aber auch nicht die Abgründe, unsere guten Schriftsteller sind nicht mehr so gut, aber auch unsere schlechten nicht mehr so schlecht wie früher. (Prutz 1870: 85 f ).
Feddersen (1923: 60) sah im sozialistischen Feuilleton vor allem die „volkspädagogischen Zwecke“. 1905 kam es anlässlich des 100. Todestages zur sozialdemokratischen Schillerdebatte über dessen Rolle für die zu befreienden Klassen, im Kontrast zum bürgerlichen Schillerkult (Noltenius 1984). Der Pommer Franz Mehring bemühte sich um die Popularisierung Schillers: 30 Allerdings befasst er sich in der Einleitung zu den zu Lebzeiten unveröffentlichten „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ mit der beispielhaften Kunst der alten Griechen, die so in der kapitalistischen Welt nicht mehr möglich sei, aber noch verständlich bleibe: „Ist Achilles möglich mit Pulver und Blei? Oder überhaupt die ,Iliade‘ mit der Druckerpresse und gar Druckmaschine? Hört das Singen und Sagen und die Muse mit dem Preßbengel nicht notwendig auf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie? Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin zu verstehen, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten. […] Warum sollte die geschichtliche Kindheit der Menschheit, wo sie am schönsten entfaltet, als eine nie wiederkehrende Stufe nicht ewigen Reiz ausüben?“ (Marx 1983: 45)
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Freilich, um Schiller und Schillers Lebenswerk historisch zu begreifen, dazu bedarf es ernsten Lernens und Nachdenkens. Aber das ist eine genußreiche Arbeit, der moderne Proletarier ihre Mußestunden nicht fruchtlos opfern werden. Denn wenn sie, um über die Bourgeoisie zu siegen, ihr auch geistig überlegen sein müssen, so gibt es für sie kein Bildungsmittel, das sie so reich und schnell fördern kann, wie unsere klassische Literatur. – Für die Bourgeoisie wird das Gedächtnis Schillers nach dem eitlen Klingklang einiger Wochen wieder verrauscht sein, für die Arbeiterklasse aber wird es – so hoffen und wünschen wir – dauern. (1905, zit. n. Vierhaus 1986: 62)
Der Arbeiterbewegung „gelang ein eigenständiges Aneignen und Erinnern Schillers“ in Abwehr der bürgerlichen Nationalisierung (Dann 2003: 173). Diese Eigenständigkeit beanspruchte auch der Stettiner „Volksbote“ gegen die, die Nietzsche „Bildungsphilister“ genannt hatte: Wir glauben, daß wir mehr im Geiste Friedrich Schillers die Gedenkfeier veranstalten werden, als die Kommerzien- und Geheimräte, die nun Feste vorbereiten […] Wie fern unser Bürgertum der Gedankenwelt Schillers ist, den allein zu feiern es sich für berechtigt hält, beweist deutlich eine Durchsicht der meisten bürgerlichen Organe im deutschen Reich. (Volksbote Nr. 51, 1. 3. 1905: 1)
Schiller sei letztlich unverstanden und unerschlossen geblieben, weil den Arbeitern durch ihre Lebensbedingungen der Zugang unmöglich gemacht worden sei. Er gehöre einer Zukunft an: Vor hundert Jahren starb Schiller; der ganze Geistesschatz eines Lebens wurzelt in einer Zeit, die uns fremd geworden ist – selbst seine Sprache ist nicht mehr ganz die unsere. Aber Friedrich Schillers Wahrheit ist in den fünfundvierzig Jahren seines Lebens und in den hundert Jahren seit seinem Tode keinen einzigen Tag das geistige Gemeineigentum der deutschen Nation gewesen: noch ehe sie sich zur Vollkraft entwickelte, alterte sie und schwand stückweise dahin. Freilich, ein leuchtender Stern blieb. Wenn die bürgerliche Gesellschaft die Schillerfeier als eine „Nationalfeier“ zu begehen vorgibt – ja, wer ist die deutsche Nation? Es ist eine heuchlerische gleißende Lüge, wenn man schlechtweg sagt, daß Friedrich Schiller der Dichter des Volkes sei. Das deutsche Volk hat keinen Dichter! Man kann keinen Dichter haben, wenn man, nachdem einem in der Volksschule der Kopf mit Religion und Patriotismus vollgetrichtert worden ist, mit rauher Hand in den Lebenskampf hineingestoßen wird, vom frühen Morgen bis zum späten Abend an der Maschine steht und kärgliche Arbeitspausen mit Schlaf und der Sorge um morgen ausfüllt! Wohl mag es Millionen Deutsche geben, denen der Klingklang einiger Verse Schillers im Ohre hallet – wieviele aber gibt es, denen es vergönnt war, in liebevollem Bemühen zu seinem Wesen vorzudringen und sich ihn geistig ganz zu eigen zu machen? […] Zurück zu Schiller? Nein! Vorwärts zu Schiller, vorwärts mit ihm! (Volksbote Nr. 107, 9. 5. 1905: 1 und 3)
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Rosa Luxemburg hat diesen Artikel Friedrich Stampfers, der in vielen sozialdemokratischen Zeitungen erschien, scharf als „konfuses Wortgebimmel“ einer „Gedanken- und Wissensarmut“ (zit. n. Hagen 1977: 172) verworfen. Eine wirkliche Schillerdebatte sieht Hagen nicht, denn „welchen Ort und welche Funktion dieser Idealismus Schillers innerhalb des Diskurses der sozialdemokratischen Ideologie“ gehabt habe, sei nicht erörtert worden, statt des Werkes sei es um „Halb- und Viertelzitate, Sentenzen, Sinnsprüche und auf Formeln reduzierte Gedanken“ gegangen (Hagen 1977: 180). Er resümiert: Die Schiller-Verehrung produziert also einen „zweiten“ Schiller, der nicht nur kaum etwas mit dem Werk des Dichters selbst zu tun hat, sondern überdies dessen Entstehungsgeschichte ebenso wie seine eigene verdrängen muß. […] Daß die Sozialdemokratie dieses wesentlich vom politisch schwachen, zur kulturalistischen Kompensation tendierenden, liberalen Bürgertum geprägten Schillerbild übernahm, entspricht ihrem schon in der Wahl von 1903 deutlich gewordenen, einhelligem Anspruch, Erbfolgerin des deutschen Liberalismus zu sein. (Hagen 1977: 181)
M. E. unterschätzt Hagen hier die subversive Kraft, die in der Literatur liegen kann, auch und gerade der Klassiker. In Stettin jedenfalls bot die Arbeiterbildungsschule einen Kurs zu Lektüre und Erklärung von Goethes „Faust“ an, trotz der Hürden sei dieser für den Befreiungskampf nützlich: Wer sich jemals in Goethes „Faust“ vertieft, wird sich fortan mit der seichten Lösung religiöser und sittlicher Probleme, wie sie uns der Alltag bietet, nicht mehr zufrieden geben. Freilich, der tiefe Sinn der aufregenden Selbstgespräche Faust’s und seiner Diskussionen erschließt sich nicht ohne weiteres dem Leser. (Volksbote Nr. 14, 17. 1. 1905: 3)
Kurz vor Kriegsausbruch sah Franz Mehring (Volksbote Nr. 118, 23. 5. 1914: 1, Leitartikel „Politisch oder sentimental?“) zwar eine Gefahr darin, dass Goethe und Schiller den Klassen kampf beeinträchtigen könnten, aber dadurch, dass die Obrigkeit den Zugang zur Kultur verbaue, werde auch diese zu einer eminent politischen Frage: Glaubt ihr, die Welt wiese nicht mit Fingern auf euch, wenn ihr Goethe und Schiller für die Arbeiterjugend mit dem großen Banne belegt, aus Angst um eure Geldsäcke? […] Alle jene Bestrebungen, die zwar zum großen Emanzipationskampfe des Proletariats, aber nicht zu dessen politischen Klassenkampfe gehören, führen die Gefahr einer gewissen Verweichlichung und Verzärtelung mit sich, einer gewissen Verdunkelung der eigentlichen Ziele, die uns gesteckt sind. Wenn ihr nun aber mit dem Polizeiknüppel nachweist, daß es auch in diesen Dingen hart auf hart geht, daß auch hier der Kampf geführt werden muß, der den Kämpfer stählt und stärkt, wie kein anderer, nämlich der Kampf gegen gesetzlose Willkür, nun, so seid bedankt, daß ihr uns so wirksam vor allem Bildungsdusel, vor aller Theaterspielerei usw. behütet.
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Die Klassiker hatten, da es zu ihrer Zeit noch keine Arbeiterbewegung gab, mehr Glück als Gegenwartsautoren. In der Bewertung von Literatur erschien die politische Haltung grundsätzlich wichtiger als der Inhalt, der Vorrang der Politik war nicht zu umgehen: Gewohnt, alle Phänomene des gesellschaftlichen Lebens aus einer politischen Perspektive, die parteilich gebunden ist, zu sehen und befangen in der Auffassung der zentralen Bedeutung des politischen Kampfes, kann die sozialdemokratische Literaturkritik ihren politischen Rigorismus auch gegenüber der Literatur nicht ablegen. (Diehl 1980: 333)
Nach der Absetzung des „Festspiels in deutschen Reimen“ in Breslau, die der preußische Kronprinz veranlasst hatte, weil es zu pazifistisch war, unterstützte der „Volksbote“ den Verfasser Gerhart Hauptmann, griff ihn aber auch an, weil er seine gesellschaftskritischen Ursprünge verraten habe. Der Leitartikel hieß „Die Tragödie Gerhart Hauptmann“ (Volksbote Nr. 146, 25. 6. 1913: 1): Der Fall Hauptmann ist keine Angelegenheit Gerhart Hauptmanns oder einer literarischen Clique, die diesen Schriftsteller huldigend umlärmt, sondern eine Angelegenheit der Kultur und des deutschen Volkes. […] Wir fragen: Soll es einem regierenden Clan gestattet sein, aus parteipolitischen Gründen das Werk eines Dichters zu unterdrücken? Und wenn wir uns gegen diesen Terror auflehnen, so geschieht es nicht Hauptmann und den Hauptmann-Verehrern, sondern der Freiheit zuliebe. Aber dieser klare Standpunkt im politischen Streit um Gerhart Hauptmann braucht uns nicht zu hindern, auch die andere Seite der Sache zu sehen. Wie in den modernen Dramen die handelnde Person kein Held im alten Sinne des Wortes ist, so ist leider auch der Mann, um den hier der Kampf geht, nicht so beschaffen, wie sich das Volk einen Helden seines geistigen Lebens vorstellt. Und dadurch wird der Fall Hauptmann zur Tragödie, zur typischen der modernen Literatur. […] Viel Schlimmes ist geschehen, Schlimmeres als das tragikomische Festspielverbot von Breslau – und wie oft haben sich die Blicke jener, die für das Recht kämpften, hilfesuchend nach den Männern gewendet, die heute als die Führenden des literarischen und künstlerischen Lebens gelten. Sie schwiegen. Denn sie lebten ja nur der Kunst und dem Kult der eigenen Persönlichkeit, in der sie die Blüte des künstlerischen Lebens verehrten und pflegten. Sie waren zu fein für den lauten Markt der Meinungen und hielten sich vornehm von dem Getriebe der politischen Parteirichtungen abseits. Unter diesen großen Schweigern war Gerhart Hauptmann der größte. Ist er mit dieser Abwendung vom lebendigen kampferfüllten Leben der Zeit als schaffender Künstler gewachsen? Es gibt nicht viele, die das behaupten werden. In seinen Sturm- und Drangjahren, als er noch von der Kraft einer großen Weltanschauung getragen wurde, war er eine Hoffnung der deutschen Literatur. Später, als er sich auf sein reines Künstlertum besann und sich in die olympischen Höhen einer nichts als ästhetischen Betrachtungsweise zurückzog, erlahmten seine Schwingen. Das beweist nicht, daß ein Dichter Parteimann sein muß, um ein großer Dichter zu sein. Wohl aber darf man daraus die Lehre ziehen, daß die sittlichen Impulse, die von einer großen geistigen Bewegung ausgehen, dem schaffenden
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Künstler ebenso sehr, wenn auch in anderer Weise, zugute kommen, wie dem Geringsten im Volke. […] Wir treten für Gerhart Hauptmann im Kampfe gegen bornierte Unduldsamkeit ein, wie wir für jeden anderen eintreten – aber wäre Gerhart Hauptmann in diesem Kampf ein geistiger Führer geworden, mit welcher Begeisterung würden wir ihm folgen.
Vorbildlich hingegen seien Dichter, die an ihrer fortschrittlichen Gesinnung festhielten. Bernhard Düwell würdigte Karl Henckell 31 als „Dichter der Zuversicht“ in Gegenüberstellung zu Hauptmann so: Von den meisten seiner ehemaligen Kampfkameraden ist er jetzt durch eine breite Kluft geschieden. Nur wenige sind gleich ihm ihrer Jugendlosung: „Wir rufen dem kommenden Jahrhundert!“ treu geblieben. Die meisten von ihnen lenkten beizeiten ihr Schifflein in den großen Strom der offiziell approbierten Dichtkunst ein und verleugnen nun, was sie einstmals anbeteten. Die soziale Dichtung war ihnen nicht viel mehr als ein Sprungbrett auf die Bühne der öffentlichen Geltung. […] Gerhart Hauptmann, der offizielle Festdichter zum Jahrhundertfeierrummel des vergangenen Jahres verleugnete ebenfalls die sozialen und sozialistischen Absichten seines zornsprühenden Jugendwerkes „Die Weber“. Er ist glücklich wieder bei der oberlehrermäßigen Ausmalung der Antike angelangt – siehe sein neuestes Opus: „Der Bogen des Odysseus“ – und steht den Problemen unserer Zeit so gegenüber, als ob sie ihm nichts Neues mehr zu sagen hätten. (Volksbote Nr. 89, 17. 4. 1914: 2)
In einer Würdigung Adalberts von Chamisso erörterte Düwell die „Rassenfrage“: An dem Werdegange Chamissos wird gern von den Rassentheoretikern und Genossen – zumal, wenn sie etwas von der historisch-materialistischen Geschichtsauffassung gehört, vernommen und – falsch verstanden haben – bewiesen, daß es möglich sei, die typischen Eigenschaften einer Rasse zu unterdrücken, durch Erziehung, Umgebung usw., sie durch andere zu ersetzen, gewissermaßen eine Rasse auf die andere zu pfropfen. Der Franzose Chamisso, der durchaus deutsche – soll heißen: gemütstiefe, sehnsuchtsschwere usw. – Gedichte und Erzählungen schrieb, ist doch gewiß ein merkwürdiges Phänomen? O nein, durchaus nicht! Er ist nur ein Beweis mehr für die Anschauung, daß es z wischen den Kulturvölkern der Erde wohl körperliche und geistige Gradunterschiede gebe, aber keine scharf von einander trennenden Wesensklüfte. […] Es ist daher völlig absurd und direkt lächerlich, zu sagen, französische Dichter könnten niemals so gemütstief sein als wie etwa deutsche, die man bekanntlich als Pächter der Gefühlsdomäne in Permanenz anspricht. (Volksbote Nr. 196, 22. 8. 1913: 2) 31 1864 in Hannover geboren, seine Gedichte waren während des Sozialistengesetzes verboten, weshalb er ins schweizerische Exil ging. Durch den E rsten Weltkrieg zutiefst desillusioniert, verstummte er literarisch und starb 1929 in Lindau (Killy, Walther, Literaturlexikon, CD ROM. 2. Ausg. Berlin: directmedia 2005: 8.000 – 8.002).
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Die Herkunft aus einem bürgerlichen Milieu, das dem Untergang geweiht sei, verhindere eine Erneuerung der Literatur (wieder ein Artikel von Bernhard Düwell): Die modernen Dichter und Künstler entstammen zumeist jenem Bürgertum, das nun seinem Untergange entgegensieht. In seinen Anschauungen aufgewachsen, verstehen sie nicht, daß es nun gilt, die sozialen Strömungen, Veränderungen, Neubildungen unserer Tage zu behandeln, wenn sie nicht in ausgetretenen Epigonenpfaden weiter wandeln wollen. Dagegen nun sträubt sich ihr künstlerisches Gewissen, andererseits wiederum lehnt es ihr Klasseninstinkt ab, mit ihrer Kunst in die „Tiefen des Volks“ hinabzusteigen, also den Gedanken und Wünschen des Proletariates, dem die Zukunft gehört, Ausdruck zu geben, künstlerische Propheten der neuen Zeit zu werden! So irren sie denn haltlos umher, suchen Altes mit Neuem zu verbinden, Wasser mit Feuer zu vermählen und täuschen sich mit äußerem Brimbamborium über die innere Gehaltlosigkeit hinweg. (Volksbote Nr. 168, 20. 7. 1913: 2)
Da bei den bürgerlichen Dichtern wenig zu holen war und der Leser des „Kapital“ „der Geduld des unermüdlichen Kämpfers“ bedarf (Kautsky, 2. Beil. zu Volksbote Nr. 97, 26. 4. 1914: 1), wurde Shakespeare als revolutionärer Dichter empfohlen: Erst das 18. Jahrhundert begann, das heroische Genie Shakespeares zu ahnen; Lessing und Wieland bereiteten ihm seine Wege nach Deutschland vor, Goethe pries ihn mit überschwänglicher Begeisterung und die Brüder Schlegel endlich übersetzten seine Werke in ein Deutsch von solcher Vollendung, daß Shakespeare heute mehr ein deutscher als englischer Dichter zu sein scheint, auf alle Fälle aber dem deutschen Theaterleben unvergleichlich viel mehr ist als dem englischen. Unsere Zeit erst vermag die historische Bedeutung Shakespeares voll und ganz zu würdigen. Denn auch sie erlebt die Vorbereitung einer neuen Umwälzung der menschlichen Gesellschaft, eines neuen sozialen und kulturellen Aufschwunges der Menschheit. Stand die Renaissance unter dem Z eichen des Individualismus, so leuchtet über unserm Jahrhundert der Stern der internationalen Völkersolidarität. […] Das Proletariat ist es auch, in welchem Shakespeares Werk sicherste Hut und sicherstes Verständnis finden muß. (Volksbote Nr. 97, 26. 4. 1914: 29)
Der literarische Massengeschmack wurde nach dem Weltkrieg nicht unbedingt besser. Über die populäre Schriftstellerin Courths-Mahler ergoss sich der „Volksbote“ (Beil. zu Nr. 243, 18. 10. 1919: 1) zornig: „Es ist einfach eine Affenschande, wenn ein republikanisches Volk, wenn arbeitende Menschen die antisozialen und unästhetischen Blähungen des fossilen Schwanzgehirnes von Weißenfels mit Wohlbehagen einschnuppern!“ Zum Ende des Stettiner „Volksboten“ fand noch einmal Goethe Beachtung. Das Goethe jahr 1932 war ein mediales Großereignis, „die Selbstaufgabe als Kulturnation war da bereits in vollem Gange“ (Häntzschel o.J: 35). Die zentrale Feier „war die letzte kulturelle Selbstdarstellung der auf den Untergang zusteuernden Weimarer Republik“ (Borchmeyer 2003: 202). Der „Volksbote“ berichtete über die Feiern in Weimar und Berlin (Nr. 70, 23. 3. 1932: 2),
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eine Stettiner Gedenkfeier im Stadttheater „hatte bei der Stettiner Bevölkerung leider nicht das Interesse gefunden, auf das die Feier Anspruch hatte“ (Volksbote Nr. 69, 22. 3. 1932: 3). Allerdings waren die Bezüge Goethes zu Pommern auch überschaubar gewesen (Altenburg 1932). Eine Auseinandersetzung mit dem Werk oder dessen Funktion fand nicht mehr statt. Der „Vorwärts“ (Nr. 137, Morgenausgabe, 22. 3. 1932: 2) immerhin beanspruchte Goethe im Kampf gegen die nationalsozialistische Bedrohung: Auf Goethe kann sich denn, ohne sein Andenken zu schänden, niemand berufen, dessen verkrampfte, grelle und gehässige Doktrin die Menschheit auf eine überholte Stufe blutbesudelter Barbarei zurückzustoßen sucht. Wir aber fühlen uns ihm nicht nur durch den Glauben an die Gültigkeit des Entwicklungsgesetzes verbunden, sondern ehren auch sein Gedächtnis durch den täglichen Kampf für eine gesellschaftliche Ordnung, in der die von ihm verkündete freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie die Erhebung der Humanität zur großen Reglerin des Menschengeschicks erst möglich wird.
V.15 Öffentlichkeit und journalistisches Selbstverständnis Journalismus entsteht in der Frühen Neuzeit, während der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft und des modernen Staates, die sich beide krisenhaft vollzogen und mit europäischer Expansion, Intellektualisierung nach der Kirchenspaltung und Industrialisierung und Finanzwirtschaft einhergingen. Er wurde nötig, indem er die durch Arbeitsteilung getrennten Sphären in Kontakt miteinander bringt, um sie als gemeinsam erachtete Probleme zu erörtern und zu lösen (Pöttker 2004: 315). Da Öffentlichkeit und Gemeinwesen zusammenhängen, wird Pressefreiheit eine liberale Forderung von Verfassungsrang (Hölscher 1978: 458). Das Rotteck-Welckersche Staatslexikon schreibt, zwischen Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung unterscheidend (die erste ist Forum, die zweite Resultat): Nach dem Bisherigen besteht also die vollständige Oeffentlichkeit im Politischen darin, daß alle Staatsangelegenheiten als dem ganzen Staate und allen seinen Bürgern gemeinschaftlich angesehen, mithin durch möglichste Zulassung ihres Zusehens und Zuhörens durch öffentliche Darlegung und durch die Freiheit aller Organe der öffentlichen Meinung allgemein bekannt gemacht, und so wie d ieses ausnahmsweise und vorübergehend unmöglich ist, doch nie dauernd der öffentlichen Kenntnißnahme entzogen werden. […] [Die öffentliche Meinung – H. B.] ist die Tochter, ist die herrlichste Frucht der Oeffentlichkeit. (Welcker 1848: 250 f.)
In der historischen Praxis muss ein solches Ideal zu den gesellschaftlichen Utopien gezählt werden (Schiewe 2004: 266). Schon seinerzeit wies Marx auf die Grenzen liberaler Öffentlichkeit hin, weil sie unter Marktbedingungen Gewalt gebiert (dargelegt u. a. bei Habermas 1999 [1962]: 202 f ).
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Für die Herstellung von Öffentlichkeit braucht es Akteure auf der Produktionsebene, Journalisten. Deren berufliches Selbstverständnis bildete sich im 19. Jahrhundert heraus und beinhaltete Bürgerlichkeit, akademische Bildung, Nachwuchspflege und „unabhängige“ Parteilichkeit (Requate 1995: 398). Eine solche Professionalisierung brauchte als Kernbestand publizistischer Arbeit: Erwartung regelmäßigen Einkommens [Ökonomie], Kampf für Kommunikationsfreiheit [Staat], Grundpflicht zum Publizieren [Funktion und Ethos], Respekt vor der Privatheit [Begrenzung durch Moral] und Respekt vor der Mündigkeit des Publikums [Rezeption] (Pöttker 2004: 319 – 321). Die Arbeiterpresse stand damit vor einer großen Herausforderung. Auf der Produktionsebene hatte sie es mit etablierten Verhältnissen zu tun, die die Pauperisierung als systemimmanent hinzunehmen gedachte; sie stellte dem Widerspruch zwischen liberaler Utopie und Praxis einen ähnlichen Widerspruch entgegen. Auf der Rezeptionsebene waren unterprivilegierte Schichten zu politisieren, verbunden mit der Gefahr, sie durch den erstrebten sozialen Aufstieg gleich wieder zu verlieren. Das gilt bis in die Gegenwart: Minderheitenmedien werden obsolet, wenn die Integration gelungen ist, so z. B. geschehen mit der Heimatvertriebenenpresse, die den Generationensprung notwendig nicht geschafft hat. Mit der Abnahme sozialer Hierarchien stirbt die Interessenvertretung ab, so der SPDPresse in der Bundesrepublik Deutschland widerfahren; die ganz Abgehängten sind meist Nichtleser und unerreichbar. Die SPD-Presse wurde Opfer ihres Erfolges: In dem Maße, wie sie sich einerseits vom marxistischen Erbe entfernte und andererseits linke Positionen in weite Teile der deutschen Zeitungslandschaft hineinwirkten (es kam zu einer Verschiebung des Spektrums, klassisch rechte Titel sind eine Seltenheit), machte sie sich selbst überflüssig. Zur professionellen Mentalität eines modernen Journalismus gehört die „Leidenschaft, ein möglichst großes Publikum erreichen zu wollen“ (Pöttker 2004: 321). Das gilt für die SPD -Zeitungen erst im Modernisierungsschub der Weimarer Republik. Die Verschränkung von Partei und Profession vor dem Weltkrieg beschrieb Kautsky so: Dem Publikum gegenüber besitzt dagegen der sozialdemokratische Redakteur bei weitem nicht jene unverantwortliche Machtstellung wie der bürgerliche. Seine Leser sind auch seine Parteigenossen, großenteils Mitglieder seiner Parteiorganisation. Kann der sozialdemokratische Redakteur im Gegensatz zum bürgerlichen als Parteiangestellter an diese Organisation gegenüber seinen Aufsichtsinstanzen appellieren, so kann er, ebenfalls im Gegensatz zum bürgerlichen Redakteur, auch von seinen organisierten Lesern zur Verantwortung gezogen werden, und diese wachen oft sehr eifersüchtig darüber, daß das, was er als ihre „öffentliche Meinung“ vorbringt, auch wirklich ihre und nicht bloß seine Privatmeinung sei. Durch die Eigenschaft des Parteiredakteurs als Parteigenosse ist aber auch seine berufliche Solidarität durchbrochen. In erster Linie ist er Parteigenosse, ist er solidarisch also mit seinen Lesern; mit seinen Berufsgenossen bleibt er nur insofern solidarisch, als auch sie Parteigenossen sind. Aber als Parteigenosse wird er sich auch am nächsten verwandt mit seinen Genossen fühlen, die seine Richtung teilen, ob es Kollegen seien oder nicht, viel mehr als mit Kollegen, die dieser Richtung ablehnend gegenüberstehen. So wirkt in der verschiedensten Weise die
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Parteiorganisation dahin, die Macht des Parteijournalisten gegenüber seinen Lesern zu vermindern. (Kautsky 1906: 224 f.)
Der Stettiner „Volksbote“ befasste sich schon früh mit Fragen der Presse. Immer wieder bekämpfte er die Gleichgültigkeit der Leser aus der Arbeiterschaft, die bürgerliche Blätter bevorzugten: Immer aufs Neue erwächst daher der Presse die Pflicht, keine Gelegenheit ungenützt vorübergehen zu lassen, um dieser Theilnahmslosigkeit entgegenzutreten, an das, was uns Alle angeht, zu erinnern und das allgemeine Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten zu erhöhen und bezw. da, wo es nöthig ist, immer von Neuem zu wecken. Denn diese Gleichgiltigkeit, mit welcher leider, wie gesagt, noch viele der Gestaltung ihrer eigenen sowohl, wie der allgemeinen politischen und wirthschaftlichen Angelegenheiten zuschauen, sie hat sich gerade in Deutschland schon oft bitter gerächt […] Solche Blätter [Anzeigenblätter und Generalanzeiger – H. B.] haben denn auch wenig Einfluß auf die öffentliche Meinung; einen solchen vermag nur die wirklich unabhängige Presse auszuüben, die unbekümmert um die eigene Gefahr, unerschütterlich und in jedem Fall für Recht und Wahrheit kämpft, und nur sie auch hat ein Recht, sich mit gemeint zu fühlen, wenn man von der Presse als „Großmacht“ spricht. Sie allein auch verdient die nachhaltigste Unterstützung aller rechtschaffenen Leute. (Volksbote Nr. 20, 24. 9. 1885: 1, der „Burgstädter Zeitung“ entnommen)
Ebenfalls schon im Gründungsjahr 1885 stellte er „Zwölf Gebote für Arbeiter“ auf, die auch das Leseverhalten der Arbeiter vorschreiben sollten: 8) Du sollst nicht kapitalistische Zeitungen kaufen, so lange Arbeiterzeitungen um ihre Existenz zu kämpfen haben. 9) Du sollst Dich nicht ein „Gewerkschaftsmitglied“ nennen, wenn Du nicht wenigstens ein Arbeiterblatt hältst und mehr als eins, falls es Dir möglich ist. 10) Du sollst nicht vergessen, daß Arbeiterblätter, nachdem man sie gelesen, weiter gegeben werden sollen, damit auch Andere sie lesen. Arbeiterblätter sind für unsere Sache zu werthvoll, um zum Einwickeln benutzt zu werden, namentlich, bevor man sie gelesen. 11) Du sollst nicht Bücher und Schriften, w elche Dich in Bezug auf die sozialen Verhältnisse aufklären und Dir den Weg zur Besserung Deiner Klassenlage zeigen können, unbeachtet lassen, um dafür erfundene Geschichten – oft recht dumm erfundene! – zu lesen. Die soziale Wissenschaft, von den Arbeitern verstanden, wird die sozialen Verhältnisse um ein Bedeutendes besser gestalten. (Volksbote Nr. 28, 22. 10. 1885: 3)
Über die Konkurrenz in Stettin schrieb der „Volksbote“ selten Gutes – „Es ist nichts zu dumm, um von dem ,Stettiner Tageblatt‘ gedruckt zu werden […] Und ein solches Blatt wird von Arbeitern noch durch Abonnements und Annoncen unterstützt!“ (Volksbote Nr. 52. 10. 7. 1887: 4). Das „Tageblatt“ wurde erneut 1889 scharf angegriffen (Volksbote Nr. 56, 25. 7. 1889: 1):
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Es macht sich immer mehr in den Kreisen der Bourgeoisie das Bestreben geltend, die Arbeiter unter ihre gänzliche Botmäßigkeit zu bringen. Eine alle Zeit feile und bestechliche Presse hat sich in den Dienst derselben gestellt, um die Wahrheit zu verdrehen und Diejenigen mit Schmähungen zu überhäufen, die den Muth haben, ihre eigene Ueberzeugung auch gegen den Willen der Mächtigen zu vertheidigen. Eines der verworfensten Sudelblätter, das im Schimpfen noch die Reptilienpresse [von der Regierung aus dem sog. „Reptilienfonds“ finanziert – H. B.] übertrifft, ist das „Stettiner Tageblatt“.
Die sozialdemokratische Zeitung sah auch schon vor dem Ende des Sozialistengesetzes die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft im Schwinden begriffen. Früh wurde erkannt, dass für die Gewinnung der Arbeiter mehr Lokales in der Presse nötig sei: Nichts wird indessen im Stande sein, uns von dem bisher gegangenen Wege abzubringen. Die zahlreichen Verfolgungen unserer Tage sind die letzten Zuckungen einer im Untergange begriffenen Gesellschaftsform. Wir werden uns auch ferner bemühen, durch für die Arbeiter verständliche Leitartikel belehrend und aufklärend zu wirken und der Emanzipation der Arbeiterklasse vorarbeiten. Besondere Sorgfalt werden wir den lokalen Ereignissen widmen und der Niedertracht der feilen Bourgeois-Presse mit aller Entschiedenheit entgegentreten […] Nimmt jedoch die Vermehrung der Abonnenten so stark wie in letzter Zeit zu, so werden wir sehr bald in der Lage sein, ein größeres, reichhaltiger ausgestattetes Blatt zu dem bisherigen Preise unseren Lesern bieten zu können. (Volksbote Nr 50, 4. 7. 1889: 1)
Diesem Vorhaben waren jedoch ökonomische Grenzen gesetzt, u. a. wegen der Zahlungsmoral der Abonnenten (Volksbote Nr. 68, 3. 8. 1889: 4). Die erwarteten Leser blieben aus, weil sie mehr Inhalte verlangten, die aber erst durch mehr Abonnenten hätten erreicht werden können: Man sollte es kaum für möglich halten, daß es noch immer Arbeiter giebt, welche Blätter lesen, in denen sie beschimpft, verhöhnt, belogen und betrogen werden, wie dies in Stettin noch vielfach der Fall ist […] Wohl ist in letzter Zeit viel zur Verbreitung unseres Blattes gethan worden, was wir dankbar anerkennen, aber das genügt noch nicht. In Stettin und nächster Umgebung wohnen ca. 20 000 Arbeiter, unser Blatt müßte demnach mindestens eine Auflage von 5000 haben. Man wendet so oft ein, das Blatt sei zu klein; mögen die Arbeiter doch erst zahlreicher abonniren, dann wird das Format sofort größer werden, bei dem jetzigen Stande können wir kein größeres Blatt liefern. (Volksbote Nr. 74, 26. 9. 1889: 1)
Der „Volksbote“ hatte erklärtermaßen das Ziel, die öffentliche Meinung „zu gewinnen und für die Forderungen der Arbeiter günstig zu stimmen“ (Volksbote Nr. 86, 13. 4. 1896: 1). Vorbild der Pressefreiheit sei Großbritannien, nach den Jahren der Unterdrückung sei dieses Menschenrecht unverzichtbar:
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Seit nahezu dreißig Jahren befindet sich die unabhängige deutsche Presse in der Abwehr, sie hat unter dem „strammen“ Regiment Bismarck’s sich keine neuen Freiheiten erobern können; sie hatte genug zu thun, um sich zu behaupten. Die sozialdemokratische Presse stand zwölf Jahre unter dem Damoklesschwert des Sozialistengesetzes. Wie wenig weiß man das große Beispiel Englands zu würdigen! Uns könnte es schließlich zur Genugthuung gereichen, daß alle Verfolgungen der Presse unsere Bewegung nur gefördert haben. Aber wir fordern die freie Meinungsäußerung als ein Stück jener Menschenrechte, auf die zu verzichten wir niemals gesonnen sein werden. (Volksbote Nr. 133, 10. 6. 1896: 2)
Die Sprache wird dabei zuweilen militärisch – die Presse als wichtigste Waffe der Arbeiter bewegung: Die beste Waffe im Wahlkampfe war unsere Presse. Sie war die schneidige Kavallerie, die den Aufklärungsdienst besorgte und die Gegner aus ihren hinterhältigen Schlupfwinkeln aufstöberte. Sie war die schwere Artillerie, die Bresche in die Stellung des Feindes legte und den Sturm der Arbeiterbataillone wirksam vorbereitete. Sie war das Pionierkorps, das über Sümpfe und Abgründe die Brücken schlug. Sie war das gemeinsame Signal, dessen helle Stimme im Gewühl der Wahlschlacht unsere Reihen zum Sturm auf die feindlichen Bollwerke rief, die jetzt in unseren Händen sind. Die Massen haben die Schlacht gewonnen; aber ihre wichtigste Waffe, ihre Spezialwaffe, war die Presse. (Volksbote Nr. 153, 4. 7. 1903: 1)
Insbesondere in Pommern sah der Stettiner „Volksbote“ eine Verzerrung der Öffentlichkeit durch den behördlichen Einfluss auf die kleineren bürgerlichen Zeitungen: Es ist ja kein Geheimnis, in welcher Weise auf „Wunsch der Regierung“ das öffentliche Leben durch die Kreisblätter gefälscht wird […] Auch in Pommern haben die Redakteure gewisser konservativer und Kreisblätter einen solchen geistigen Harrakiri [!] an sich vornehmen müssen. (Volksbote Nr. 213, 10. 9. 1904: 1)
Bereits in der Kaiserzeit griff der „Volksbote“ das unehrliche Label der „Unparteilichkeit“ bürgerlicher Blätter an, das nur der Verwirrung der Arbeiter diene. Trotz größeren Umfangs sei das sozialdemokratische Organ der Konkurrenz journalistisch gewachsen: Mit Recht sagen sich die kapitalistischen Verleger der bürgerlichen Zeitungen: Wenn unsere Leser im Arbeiterstande erst anfangen, nachzudenken, werden wir bald unsere ArbeiterAbonnenten verlieren. Denn den Arbeiter über seine Klassenlage aufklären, können und wollen wir nicht. Darum müssen wir uns bemühen, ihm eine möglichst politisch verblödende geistige Kost vorzusetzen, damit er nach Möglichkeit das politische Denken verlernt und das erreichen wir am sichersten, wenn wir unter der falschen Flagge der Unparteilichkeit einhersegeln. (Volksbote Nr. 196, 22. 8. 1904: 1)
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Den Grundbesitzern, Fabrikanten, Großhändlern und Börsianern fällt es nicht im Traume ein, Blätter zu unterstützen, die nicht ihre Interessen verfechten. Nur der Arbeiterstand läßt sich nach wie vor von der unparteiischen Presse nasführen, die mit den Arbeiterinteressen liebäugelt, um sie im entscheidenden Moment zu verraten. […] Wenn der „Volksbote“ auch nicht in der Lage ist, seinen Abonnenten eine solche Fülle von Papier zu bieten, wie die unparteiische Inseratenpresse, so steht er doch in allen anderen Punkten journalistischer Leistungsfähigkeit diesen Organen in nichts nach. (Volksbote Nr. 303, 27. 12. 1904: 1)
Der „Volksbote“ sah sich in einer doppelten Pflicht als Informations- und Erziehungsmittel und als Podium der innerparteilichen Diskussionen der Sozialdemokratie. Er habe „nicht nur die Aufgabe, allgemeine Aufklärung und Belehrung zu verbreiten, um neue Anhänger für die Sozialdemokratie zu gewinnen, sondern er muß als Parteiorgan auch alle die Partei genossen als solche interessierenden Fragen erörtern“ (Volksbote Nr. 13, 16. 1. 1905: 1). Unterdessen bringe die bürgerliche, vom „Reichsverband gegen die Sozialdemokratie“ gestützte „Lügenpresse“ falsche Berichte, die auch von Arbeitern gelesen würden: Wie die Presse in unseren Händen die beste Waffe zur Befreiung der Arbeiterbevölkerung aus Unwissenheit und Knechtseligkeit ist, so ist sie in den Händen der Gegner das gefährlichste Mittel zur Erhaltung der Arbeiter in Dummheit und Abhängigkeit. Wie raffiniert die Kreisblätter und die sogen. unparteiischen Blätter die Schädigung der Arbeiterinteressen betreiben, haben wir schon an unzähligen Beispielen dargetan und werden es auch in Zukunft tun. Gerade die Verleumderarbeit der Reichsverbandspresse, zu der fast die gesamte bürgerliche Presse unserer Provinz gehört, sollte allein schon bewirkt haben, daß sich nicht allein die Arbeiterschaft, gegen die sie in der Hauptsache ihre Gemeinheiten richtet, sondern jeder anständige Mensch mit Abscheu von dieser vergifteten Lügenpresse abgewandt hätte. Das ist leider nicht der Fall. Schämt sich doch diese Presse nicht einmal – trotzdem ihr fast immer nachgewiesen wird, daß sie entweder gelogen, verleumdet oder entstellt hat – stillschweigend ihr elendes Handwerk weiter zu treiben, ohne je eine Berichtigung zu bringen. (Volksbote Nr. 213, 12. 9. 1907: 2)
Wird hier eine Berichtigung falscher Angaben angemahnt, sieht sich der „Volksbote“ auch in den eigenen Zeilen gefordert, für Qualität zu sorgen. So s eien Kürzungen eingesandter Artikel nötig, ebenso müsse sehr auf die Genauigkeit der Angaben geachtet werden, um Presseprozesse zu vermeiden. Anhand eines Beispiels einer Gerichtsverhandlung in Halle/ Saale warnte der „Volksbote“: Dieser Prozeß bildet eine erneute Mahnung auch an unsre Berichterstatter, sich bei Abfassung ihrer Berichte der Pflicht peinlichster Sorgfalt bewußt zu sein. Ist der Einfluß unserer Parteigenossen auf ihr Blatt naturgemäß ungleich größer als der Einfluß bürgerlicher Leser auf die Redaktionen ihrer Organe, so muß anderseits von unsern Freunden gefordert werden, daß
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sie die höchste Gewissenhaftigkeit bei ihren Einsendungen beobachten. Wie leicht werden unsre Parteigenossen ungeduldig und schelten auf die Redaktion, wenn ein uns zugesandter Bericht nicht oder wesentlich verkürzt erscheint. Weil sie von der Richtigkeit ihrer Einsendungen überzeugt sind, glauben sie, auch wir müßten alle Bedenken fallen lassen. […] Unsre Blätter werden eben mit ganz anderm Maße gemessen als die bürgerlichen. Diese können über die Arbeiter die wüstesten Verunglimpfungen und Verleumdungen ungestraft verbreiten. Deckt dagegen ein sozialdemokratisches Blatt Mißstände auf und irrt der Bericht auch nur in einer kleinen Nebensächlichkeit, so erfolgt sicher Anzeige und Bestrafung. […] Wer darum in seinen Berichten nicht die äußerste Vorsicht beobachtet, vergeht sich schwer am Rufe des Blattes und an dessen Redakteuren, die für die Fehler anderer büßen müssen. (Volksbote Nr. 215, 14. 9. 1907: 2)
Vor allem die Arbeiterfrauen sollten sich von den bürgerlichen Zeitungen lösen, da diese nicht nur „verdummend“ wirkten, sondern auch Aufstiegsillusionen nährten: Die bürgerlichen „unparteiischen“ Blätter spekulieren auf die niedrigsten Instinkte der unaufgeklärten Volksmassen, indem sie ihre Spalten mit dem ödesten Klatsch, den blutigsten Schauergeschichten, den intimsten Familienangelegenheiten einzelner Personen füllen und so mit auf die Hirne der Leser verdummend wirken. Ab und zu bringt man auch mit schmatzendem Behagen die Nachricht, daß dieser oder jener Kommerzienrat und Millionär es vom armen Schlucker durch „Fleiß und Sparsamkeit“ zu seiner jetzigen Größe gebracht habe, und schließt daraus die Folgerung, daß es jeder Arbeiter, wenn er nur wolle, ebensoweit bringen könne. Besonders die bekannten Familienblättchen arbeiten mit sentimentalen Erzählungen auf die Verschleierung der Gegensätze hin […] Arbeiterfrauen, abonniert auf den Volksboten, der den Kampf gegen jegliche Unterdrückung und Ausbeutung führt. (Volksbote Nr. 89, 14. 4. 1908: 2)
Die Kritik an den Frauen, die Schädliches läsen, wurde zuweilen scharf ausgeführt: Die Presse muß die Wegweiserin sein, die uns führt und leitet, uns stützt und anfeuert, uns vorwärts treibt, dem Ziele entgegen. Diese Aufgaben kann die Presse aber nur erfüllen, wenn sie auf dem Klassenstandpunkte ihrer Leserschaft steht. Trotzdem sind heute noch viele Tausende von Angehörigen der arbeitenden Schichten Leser und Förderer der bürgerlichen Presse, die natürlich auf dem Boden der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung steht und weiter nichts ist, als der Reflex demagogischer, frömmelnder und mordspatriotischer Tendenzen, die nur den Zweck haben, die allmählich erwachende arbeitende Klasse vom Klassenkampfe abzuhalten, ihnen Demut, Unterwürfigkeit und andere zweifelhafte Tendenzen predigen. Ihre stärkste Stütze findet die Klatsch- und Reptilienpresse leider bei der Frau, die sie mit allerlei Mätzchen und allerlei sentimentalem und läppischem Krimskrams ködert, auf welch raffinierten Trick leider auch nur allzu viele Frauen aus den unteren Schichten hineinfallen. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 305, 31. 12. 1911: 1)
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Zudem würde die bürgerliche Presse eine politische Agenda verfolgen, die den Arbeiterinteressen zuwiderlaufe – sie schreibe gegen Gewerkschaften, die Arbeiterbewegung, für Rüstung. Nur die sozialdemokratischen Zeitungen verträten die Ziele der Proletarier: Die Großindustriellen wünschen im Interesse ihres Profits eine Einschränkung des Koalitionsrechtes; was tun sie? Sie füllen die bürgerliche Presse mit Schauergeschichten über den „Terrorismus“ der Gewerkschaften. Die Scharfmacher wollen ein neues Sozialistengesetz; was tun sie? Sie schlagen in der Presse wilden Lärm über irgendwelche von der Polizei verschuldete Krawalle, die sie „Vorübungen der Revolution“ nennen. Die Lieferanten von Kriegsmaterial brauchen neue Aufträge an Kanonen und Panzerplatten; wie stellen sie das an? Sie machen in der bürgerlichen Presse Stimmung für neue Militär- und Flottenvorlagen und zetteln gemeingefährliche internationale Konflikte a la Marokko an. Und so fort bis ins Unendliche! Wer aber ists, der in allen diesen Fällen die Zeche bezahlen muß? Derselbe Arbeiter, der durch seine ständige Unterstützung dieser bürgerlichen Pressen den ganzen arbeiterfeindlichen Unfug überhaupt erst möglich macht! Er wetzt selbst die Axt, die an die Wurzel seiner Kraft gelegt wird! Sollten wir nun erst noch ausführlich von der Abhängigkeit zahlloser bürger licher Zeitungen von Banken und von der Börse, von ihrer Abhängigkeit von der Regierung reden und von dem elenden Kuliverhältnis, in dem die große Masse der bürgerlichen Zeitungsschreiber zu den Geldschränken ihrer Verleger steht? Alle diese Giftblüten entspringen der gleichen faulen Wurzel: dem Charakter der bürgerlichen Presse als eines kapitalistischen Geschäftsunternehmens. Die sozialdemokratische Presse dagegen, gegründet und beaufsichtigt von den Arbeiterorganisationen selbst, dient ausschließlich dem Zwecke des proletarischen Befreiungskampfes. (Leitartikel „Der Arbeiter und die Zeitung“, Volksbote Nr. 184, 9. 8. 1911: 1)
Zur „faulen Wurzel“ gehörte in Pommern auch die inhaltliche Abhängigkeit der Heimatzeitungen vom gelieferten Stoff, der gegen die SPD gerichtet war: Die armseligen Provinzkläffer vom Schlage der „Fürstentumer Zeitung“ [Köslin – H. B.], der „Belgarder Zeitung“ und vielen anderen sind eigentlich recht bedauernswerte Produkte. Von vornherein vollständig unfähig, ihrem Bäckerdutzend Abonnenten irgend etwas in Bezug auf geistige Aufklärung aus eigenem heraus zu bieten, sind sie ausschließlich auf die Sudelküche des Reichsverbandes zur Bekämpfung der Sozialdemokratie angewiesen. (Volksbote Nr. 173, 27. 7. 1911: 1)
Die Aufrufe des „Volksboten“ erzielten nicht das erwünschte Echo, sozialdemokratische Wähler ließen sich nicht in Abonnenten ummünzen, „leider aber muß man die tieftraurige Beobachtung machen, daß die Energielosigkeit unter der Arbeiterschaft auch heute noch sehr weite Kreise zieht“ (Volksbote Nr. 278, 28. 11. 1911: 1). Nach dem sozialdemokratischen Wahlerfolg von 1912 wurde mehrfach geschrieben, dass Stimmenzuwachs Leserzuwachs bedeuten müsste (Volksbote Nr. 26, 1. 2. 1912: 1, Volksbote Nr. 72, 26. 3. 1912: 1). Partei und Zeitung hätten eine Erziehungsfunktion:
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Groß ist auch das Heer der sogenannten Mitläufer. Sie vor allem müssen zu zielbewußten Klassenkämpfern, zu wirklichen Sozialdemokraten erzogen werden. Das kann auch wieder nur dadurch geschehen, daß man sie zu Lesern des sozialdemokratischen Blattes macht. (Volksbote Nr. 25, 31. 1. 1912: 1) Es muß unser Ziel sein, die Zahl unserer Parteimitglieder und Abonnenten des „Volksboten“ mit der Zahl der sozialdemokratischen Wähler in Einklang zu bringen. Des weiteren müssen unsere Anhänger zu wahren Sozialdemokraten erzogen werden. (Volksbote Nr. 40, 17. 2. 1912: 1)
Scharfe Worte fand der „Volksbote“ für die konservative Presse. Die „Kreuzzeitung“ (Berlin) sei zu einem „obskuren hurrapatriotischen Radaublättchen geworden“ (Volksbote Nr. 189, 15. 8. 1912: 1), die Stettiner „Tagespost“ erscheine „nahezu unter Ausschluß der Oeffentlichkeit“ (Nr. 167, 20. 7. 1912: 3). Über eine Stellenanzeige für die „Tagespost“, die in der „Ostsee-Zeitung“ erschien, hieß es empört: Die „Pommersche Tagespost“ sucht einen Lokalberichterstatter, der den Mut hat, seine Existenz ihrem Sargschiff anzuvertrauen. Weil’s gleich ist, inseriert sie nicht nur in den eigenen Spalten, sondern auch in der „Ostseezeitung“. Wer für sie rechts schreiben soll, darf vordem links geschrieben haben. Das Pressehandwerk ist für diese Leute nur Geschäfts-, nie Ueberzeugungssache. Und diese Gesellschaft hatte erst vor wenigen Tagen die Dreistigkeit, zu schreiben, die Redakteure der sozialdemokratischen Presse könnten den „Mut der Ueberzeugung“ „nur aus der Erfahrung an anderen“ kennen. Allerdings den Mut der Ueberzeugung, die gegen gute Bezahlung von heut auf morgen zum Wechsel bereit ist, den kennen wir allerdings nur aus der Erfahrung an anderen. Und wo diese anderen zu finden sind, das zeigt das Inserat, das konservative Zeitungsschreiber im liberalen Lager sucht! Zur reaktionären Masse gehören zwar die einen wie die anderen und insofern mags gleich sein, aber uns dünkt, daß die einen wie die anderen ihre nahe Verwandtschaft sonst nicht gelten lassen wollen! (Volksbote Nr. 174, 28. 7. 1912: 3)
„Das Volk muß von dem moralischen u. geistigen Gift der kapitalistischen Presse befreit werden“ (Beil. zu Volksbote Nr. 224, 25. 9. 1912: 1), dies war das publizistische Ziel, dessen „schlimmste[r] Feind die „politische Gleichgültigkeit“ sei, Der indifferente Arbeiter, der Angestellte, der Kleingewerbetreibende, der abseits steht und teilnahmslos den schweren Kämpfen zuschaut, die auch ihm Licht, Erlösung, Freiheit und Gerechtigkeit bringen sollen, schädigt sich selber, seine Familie, seine Klassengenossen, er versündigt sich schwer gegen seine staatsbürgerlichen Pflichten, er ist ein totes Glied am gesellschaftlichen Organismus. (Beil. zu Volksbote Nr. 199, 27. 8. 1912: 2)
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte im Kaiserreich
1912 sah sich die pommersche Sozialdemokratie im verschärften Klassenkampf, gerade jetzt sei es nötig, weiter für den „Volksboten“ zu werben, denn die Stettiner bürgerliche Presse sei eben nicht, wie behauptet, „unparteiisch“ oder unpolitisch. Schon deren Nachrichtenauswahl sei tendenziös: Obwohl ein moderner Mensch ohne am politischen Leben Anteil zu nehmen, heute eigentlich gar nicht mehr auskommen sollte, gibt es doch noch eine ganze Reihe, die immer und immer wieder erklären, daß sie sich mit der Politik nicht befassen, dies vielmehr den Berufspolitikern überlassen wollen. Zum Beweise dieser politischen Neutralität abonnieren sie dann die sogenannte unparteiische, die Lokal- und General-Anzeiger-Presse, zu der in Pommern hauptsächlich die in Stettin erscheinenden Blätter: Stettiner Abendpost, Stettiner Neueste Nachrichten und General-Anzeiger gehören. […] Mag diese Sorte von Presse auch noch so oft betonen, daß sie unparteiisch sei, bewiesen hat sie es damit noch lange nicht. Politisch unparteiisch ist kein einziges dieser Blätter; sie alle vertreten bestimmte politische Auffassungen und Richtungen. Sie unterscheiden sich von den Blättern mit bestimmter politischer Tendenz nur dadurch, daß sie sich nicht an bestimmte Parteimeinungen binden, sondern, wenn ihnen das für den Abonnenten- oder Inseratenfang nützlicher erscheint, gelegentlich nach links oder nach rechts abschwenken, daß sie also, wie Lassalle einmal sagte, verkappt auftreten und so noch weit skrupelloser verfahren, als die bürgerliche politische Presse. Wirklich „unparteiisch“ können diese Blätter schon deshalb nicht sein, weil sie dann auf alle politischen Nachrichten verzichten müssen. Das tun sie aber nicht; in der Auswahl der politischen Nachrichten, d. h. in dem, was sie bringen und fortlassen, schon in der Form, wie sie die Notizen veröffentlichen, steckt eine Tendenz. Auch noch aus einem anderen Grunde versteht es sich von selbst, daß die obengenannten Blätter Partei nehmen müssen. Der Zweck der bürgerlichen Presse und in erster Linie der General-Anzeiger- usw.-Presse, ist die Profit macherei des Besitzers. Nicht zum Wohle der Menschheit, sondern um einen möglichst großen materiellen Vorteil aus dem Blatt herauszuwirtschaften, werden solche Zeitungen ins Leben gerufen. […] Durch das weitere Umsichgreifen der sogenannten „unparteiischen“ Blätter ist die bürgerliche Presse aus einem Hebel der Kulturentwicklung zu einem Werkzeug der geistigen Verdummung, der sittlichen Verderbnis und der sozialen Unterdrückung geworden. Allein die sozialistische Presse will die Leser auf ein höheres Niveau bringen, sie allein will sie nicht zu gläubigen Heloten, sondern zu denkenden Menschen erziehen. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 274 vom 23. 11. 1912: 1)
Fricke (1987 I: 541) meint zwar insgesamt, „der überwiegende Teil der Mitglieder las demnach eine Parteizeitung, wobei es sich zumeist um das lokale Organ handelte. Relativ selten wurden bürgerliche Zeitungen abonniert.“ Das erklärte Ziel der Parteipresse war jedoch, nicht nur die Mitglieder zu erreichen, sondern alle Wähler und Sympathisanten. Auch waren nicht alle Gewerkschafts- und Parteimitglieder auch Abonnenten des „Volksboten“, sonst wären die vielen Artikel und Anzeigen sowie Gremienbeschlüsse für mehr Abonnements nicht nötig gewesen.
Öffentlichkeit und journalistisches Selbstverständnis
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Die bürgerliche Presse sei „eifrigst beflissen, in die internationalen Brände Oel zu gießen und in den sozialen Kämpfen die Partei des toten Besitzes gegen die lebendige Arbeit zu nehmen“ (Volksbote Nr. 304, 31. 12. 1912: 1), „je mehr Verstand das werktätige Volk bekommt, um so mehr muß es sich von der lauen, faulen und feigen bürgerlichen Presse abwenden“, das machten gerade die Presseurteile deutlich (Beil. zu Volksbote Nr. 36, 12. 2. 1913: 1). Auch die bürgerlichen Abonnentenversicherungen würden nur die „meist erbärmliche Aufmachung“ bemänteln (Volksbote Nr. 73, 29. 3. 1913: 1). Als die liberale „Stettiner Abendpost“ eine Anzeige des Fabrikarbeiterverbands ablehnte, kommentierte der „Volksbote“, „die ,Unparteilichkeit‘ ist also nur der Deckmantel, der den Augen der dummen blöden Masse das Eintreten für das kapitalistische Ausbeutertum verbergen soll“ (Volksbote Nr. 90, 18. 4. 1913: 3). Der tonangebende Liberalismus sei gegen die Arbeiter gerichtet Und so sehen wir auch hier wieder deutlich, was der Liberalismus unter dem „Gesamtwohl“ versteht, nämlich den Vorteil aller derjenigen, die nicht Arbeiter sind. Die Arbeiter aber sollten doch endlich den wahren Charakter des Liberalismus durchschauen. Ihnen müßte schon längst zum Bewußtsein gekommen sein, daß es heißt, Selbstmord begehen, wollte man die Liberalen noch weiter unterstützen. Vor allem darf kein Arbeiter seine geistige Kost aus den Spalten der Blätter dieser Parteirichtung oder der sogenannten unpartei ischen, mehr oder weniger auch in Liberalismus machenden Presse nehmen. (Volksbote Nr. 89, 17. 4. 1914: 1)
Die Pressepolitik des Staates sei eine Lenkung der öffentlichen Meinung: Die amtlichen Nachrichtenstellen sind eben nicht nur dazu da, wahrheitsgetreue Mitteilungen zu liefern, sondern geben sich alle erdenkliche Mühe, die öffentliche Meinung im Sinne der Regierung zu beeinflussen. Man weiß doch, wie es in der Preßabteilung des Auswärtigen Amtes mittags zwischen 12 und 1 Uhr zugeht. Die Zeitungsvertreter, die dort erscheinen, um Nachrichten zu schnorren, werden benutzt, um für die Regierungspolitik – und zwar nicht nur in auswärtigen Angelegenheiten – Stimmung zu machen. Schließlich wäscht eine Hand die andere, und wem es um Informationen zu tun ist, der hütet sich nach Möglichkeit, den anzugreifen, von dem er die Informationen bezieht.
Der „Volksbote“, einer scharfen Konkurrenz durch umfangreichere, sich als „unparteiisch“ gebende Blätter ausgesetzt, verstand sich als Medium der Erziehung zum sozialistischen Bewusstsein mit dem Ziel einer neuen Gesellschaftsordnung. Als Hemmschuh dabei betrachtete er Gleichgültigkeit und publizistisch leichte Kost, zu der vor allem Frauen neigen würden.
VI. Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik
Erster Weltkrieg und Novemberrevolution bedeuteten eine Zäsur für die deutsche Presse. Die Sozialdemokratie fand sich in der neuen Rolle wieder, die deutsche Republik gegen die Feinde von links und rechts zu verteidigen. Wegen des zunehmenden Seitenumfangs und der publizistischen Modernisierung, weg von Ideologie hin zur ereignisbezogenen Berichterstattung, habe ich die Artikel zu bestimmten Ereignissen während der Weimarer Republik ausgewählt. Während der Revolution selbst war der „Volksbote“ nachrichtlich gehalten (VI.1). Der Versailler Vertrag sei die Folge verfehlter deutscher Politik (VI.2). Der Kapp-Lüttwitz-Putsch mache die Stärke der Reaktion deutlich (VI.3). Im Krisenjahr 1923 wurde besonders vor der Gefahr von Putschen von rechts gewarnt (VI.4). Hindenburg sei als Reichspräsident ungeeignet (VI.5). Hitler und die NS-Bewegung, zunächst unterschätzt, wurden publizistisch bekämpft (VI.6). Die Berichterstattung über Stettin und Pommern wurde ausgebaut (VI.7). Karikaturen stützten die politische Botschaft (VI.8). Die Anzeigen nahmen zu, ohne an die bürgerliche Konkurrenz anschließen zu können (VI.9). Inhaltlich aber war der „Volksbote“ wettbewerbsfähig (VI.10). Die Sozialdemokratie hat mit der Weimarer Republik große Hoffnungen verbunden. Für den „Volksboten“ war die Novemberrevolution nicht weit genug gegangen. Noch immer wirkten die alten Mächte weiter. Das Wahlverhalten der Bevölkerung war rückschrittlich, in Verwaltung und Rechtsprechung wirkte das Kaiserreich nach. Eine ökonomische Befreiung fand nicht statt. Der „Volksbote“ setzte sich weiter für den Sozialismus ein, lehnte den russisch-sowjetischen Weg aber ab.
VI.1 Novemberrevolution Die Novemberrevolution 1918 „fällt aus dem Narrativ der Demokratiegeschichte Deutschlands heraus und verkümmert zum Auftakt der herannahenden Diktaturgeschichte“ (Gallus 2010: 8). Die Mehrheits-SPD bemühte sich, die Revolution in geordnete Bahnen zu lenken und dafür mit den alten Eliten zusammenzuarbeiten, und das bei geringem Handlungsspielraum (Schildt 2010: 231 – 233). Politisch und organisatorisch war die pommersche SPD seit Anfang 1917 gespalten (Lamprecht 1999: 92). Nach dem Frieden von Brest-Litowsk mit Russland herrschte in Stettin noch Euphorie über die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten im Osten (Stępiński/Ciżek 1999: 102). Der „Volksbote“ vom 9. November 1918 meldete die Abdankung des Kaisers (Nr. 264: 1). Am 10. November 1918 traf ein Kieler Marinekommando ein, das wichtige Gebäude besetzte; Generalstreik und Großdemonstration folgten am 11. November, ein Arbeiter- und Soldatenrat stellte Forderungen auf, u. a. die nach einer sozialistischen Republik (Volksbote
Novemberrevolution
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Nr. 265, 11. 11. 1918: 3). 1919 kam es mehrfach zu blutigen Auseinandersetzungen bis hin zur Verhängung des Ausnahmezustands (Stępiński/Ciżek 1999: 107). Die pommersche USPD hatte im August 1920 19.180 Mitglieder, bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 erreichte sie aber keinen Sitz (Lamprecht 1999: 97). Den „verspätete[n] Höhepunkt der revolutionären Bewegung in Pommern“ sieht Nereé (1991: 21) erst im Kampf gegen den Kapp-Putsch 1920. Die Abdankung des „Schattenkaisers“ Wilhelm II. hatte der „Volksbote“ bereits am 5. November 1918 gefordert (Nr. 260: 1). Dieselbe Nummer enthielt einen Aufruf des Parteivorstands der SPD, Ruhe zu bewahren, um die anstehende Demokratisierung des Reiches nicht zu gefährden (3). Am 8. November meldet der „Volksbote“, dass Zug- und Postverkehr nach Berlin unterbrochen sind, weil es in der Reichshauptstadt zu Besetzungen gekommen ist (Nr. 263: 3). Am 9. November schließlich macht die pommersche SPD-Zeitung auf mit: „Die deutsche Revolution von 1918. Abdankung des Kaisers“ (Nr. 264: 1). Seite 3 brachte einen Bericht von der Volkskundgebung in Stettin am Vortag, Genosse Hoffmann forderte „eine neue Ordnung auf der Grundlage der Demokratie. Wir wollen keine Anarchie und keinen Bolschewismus“. Fritz Herbert forderte u. a. das Ende der Gesindeordnung und die Demokratisierung auf dem Lande. Die etwa 3.000 Teilnehmer verabschiedeten eine Resolution, in der auch die Besserung der Ernährungsverhältnisse gefordert wurde. Die Stettiner beteiligten sich nur schwach an den Stadtverordnetenwahlen, es siegte die Sozialdemokratie (Volksbote Nr. 266, 12. 11. 1918: 3). Nr. 269 (15. 11. 1918: 3) bemerkte den Meinungsumschwung zugunsten der Ebert-Regierung, aber schrieb auch: „Wir wollen nur hoffen, daß dieser Gesinnungswechsel von Dauer ist“. Der Leitartikel vom 16. November 1918 (Volksbote Nr. 270: 1) feierte die ersten Erfolge der Revolution: Es läßt sich aber nicht leugnen, daß die gewaltige Revolution, in der wir uns jetzt befinden, von den Meisten von uns kaum für möglich gehalten wurde, weil wir – obwohl wir mit Sehnsucht auf sie warteten – die Zeit dafür noch nicht reif wähnten. Es hat sich aber gezeigt, daß die sozialistische Idee so tief in den Massen wurzelte, daß es nur eines Anstoßes bedurfte, um sie zur hellen Flamme emporschlagen zu lassen, die alles vernichtete, was sich ihr entgegenstellte. […] Kommen wir glücklich durch die erste Phase der Uebergangswirtschaft durch, dann ist die Bahn frei, und wir können mit voller Kraft auf unser Ziel: die Errichtung der sozialistischen Gesellschaftsordnung, lossteuern.
Am selben Ort wird gedruckt, daß der Arbeiter- und Soldatenrat (der Stettiner Regierungspräsident Kurt von Schmeling arbeitete gut mit ihm zusammen, Becker 1999: 49 sowie Dehnert 2020) den „Volksboten“ als sein Publikationsorgan bestimmt, gleiches tat der Magistrat der Stadt. Die nächsten Wochen standen im Zeichen des Wahlkampfs zur Nationalversammlung, der „Volksbote“ machte dabei das Bürgertum als Gegner aus und forderte, dass die Unabhängigen zur SPD zurückkehren (Nr. 273, 21. 11. 1918: 1): Aber wir wissen auch, daß es Republiken gibt, in denen die Entrechtung und Ausbeutung der Arbeiterklasse nicht geringer ist, als in manchen Monarchien. Die vollständige Befreiung der
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik
Arbeiterklasse von politischer und wirtschaftlicher Unterdrückung kann nur durchgeführt werden in einer Republik, die von dem Geiste des Sozialismus erfüllt ist. Das zu erreichen, muß die nächste und wichtigste Aufgabe der Arbeiterschaft sein. Das wird uns sicher nicht leicht werden, sondern schwere Kämpfe kosten. In diesen Kämpfen werden wir mit einer geschlossenen Phalanx des ganzen Bürgertums zu rechnen haben. […] Es ist deshalb unser dringender Wunsch, daß in allen Orten Einigungsverhandlungen eingeleitet und der ernste Versuch gemacht wird, die Streitaxt zu begraben und eine geschlossene Einheitsfront gegen Rechts herzustellen.
Die umbenannten bürgerlichen Parteien (DDP, DVP, DNVP) würden nur eine „Geldsackrepublik“ verwirklichen (Volksbote Nr. 284, 4. 12. 1918: 1). Die Anhänger der USPD „ziehen lieber gegen ihre eigenen Klassengenossen, gegen die Arbeiter, zu Felde und stärken dadurch die Kräfte der Reaktion“ (Volksbote Nr. 290, 11. 12. 1918: 1). Auf einer Sitzung des Parteivereins am 9. Dezember wurde die der Sozialdemokratie günstige Stimmung in der Provinz hervorgehoben, besonders notwendig sei die Agitation der nun wahlberechtigten Frauen (Volksbote Nr. 290, 11. 12. 1918: 2). Die Zahl der Parteiversammlungen war so hoch, dass wegen Platzmangels nicht von allen berichtet werden konnte (Volksbote Nr. 294, 16. 12. 1918: 2 – allein am 29. 12. 1918 fanden in Stettin zehn Parteiveranstaltungen mit jeweils hunderten Teilnehmern statt, Volksbote Nr. 304, 30. 12. 1918: 2). Vor dem „Frontwechsel der bürgerlichen Presse“, die seit der Revolution verstärkt und wohlwollend über die Arbeiterbewegung berichtete, wurde gewarnt, das seien „Täuschungsmanöver“ und „Gesinnungslumperei“ (Volksbote, Beilage zu Nr. 300, 24. 12. 1918: 1). Die Silvesterausgabe 1918 erhoffte einen „Frieden der Mäßigung“ durch den Einfluss des US-Präsidenten Wilson und „die Umwandlung der Wirtschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus“ (Volksbote Nr. 305, 31. 12. 1918: 1). In Anlehnung an das Vaterunser wurde vom neuen Jahr gewünscht: „Sorge bei den Wahlen für einen Sieg der Sozialdemokraten, damit auch unsere Gegner vor Aerger rot werden. Errichte uns einen Staat der Demokratie und Freiheit, dann wollen wir dich preisen in alle Ewigkeit. Amen!“ (Volksbote Nr. 305, 31. 12. 1918: 2). Der Berliner Spartakusaufstand nahm großen Raum ein (Volksbote Nr. 4, 6. 1. 1919 ff). Im Leitartikel „Demokratie oder Diktatur“ (Volksbote Nr. 9, 11. 1. 1919: 1) wendet sich die Zeitung scharf gegen die Vorgänge in der Hauptstadt: „Aber wir haben diese Diktatur [das Kaiserreich – H. B.] nicht abgeschüttelt, um eine andere an ihre Stelle zu setzen. Die ,Diktatur des Proletariats‘, die uns die Spartakusgruppe als Regierungsform aufzwingen möchte, ist nicht weniger verwerflich.“ Am 10. Januar fand in Stettin eine große Kundgebung statt, die sich mit der Regierung solidarisierte, Fritz Herbert berichtete aus eigener Anschauung aus Berlin (Volksbote Nr. 9, 11. 1. 1919: 2). Zur Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg hieß es: „Man kann von Liebknecht und Luxemburg sagen, was man will, zu den gemeinsten Verbrechern können und dürfen sie nicht gerechnet werden […] Für eine Lynchjustiz, wie sie speziell an Frau Dr. Luxemburg geübt wurde, lag auch nicht die geringste Veranlassung vor.“ (Volksbote Nr. 15, 18. 1. 1919: 1). Stettiner Werftarbeiter streikten wegen der Ermordung Liebknechts und Luxemburgs und zogen vor die Redaktion des
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Abb. 19: Stettiner Wahlergebnis zur deutschen Nationalversammlung 1919 (links, Volksbote Nr. 17, 21. 1. 1919: 1) sowie zur preußischen Landesversammlung (rechts, Volksbote Nr. 22, 27. 1. 1919: 1). MSPD = Mehrheitssozialdemokratie; USPD = Unabhängige Sozialdemokratie; DDP = Deutsche Demokratische Partei; DVP = Deutsche Volkspartei; DNVP = Deutschnationale Volkspartei; CVP = Christliche Volkspartei = Zentrum. Quelle: Darstellung des Autors.
„ Volksboten“, „um die Einigkeit der Arbeiter wieder herzustellen“ – Genosse S chumann sprach zu den Versammelten, dass auch die Zeitung die Berliner Morde verurteile und für die Einigkeit arbeite (Volksbote Nr. 15, 18. 1. 1919: 3). In vielen Wahlaufrufen zur Nationalversammlung wurde für den MSPD -Kandidaten Alwin Körsten geworben, für die preußische Landesversammlung trat Fritz Herbert an. Neben Körsten zogen vier MSPDGenossen in die Nationalversammlung ein. Den für die Sozialdemokratie günstigen Wahlausgang verband der „Volksbote“ wieder mit Abonnentenwerbung: „Hinaus mit den bürgerlichen Blättern aus den Familien der arbeitenden Klassen!“ (Volksbote Nr. 22, 27. 1. 1919: 2). Ebenso wandte sich die Redaktion gegen das „Weitertreiben der Revolution“ durch die langen Streiks und die Agitation der äußersten Linken (z. B. Nr. 28, 3. 2. 1919: 1). Zum Zusammentreten der deutschen Nationalversammlung forderte der „Volksbote“, dass diese „überall als höchste souveräne Instanz anerkannt wird“ sowie einen milden Frieden unter Respektierung des Volkswillens der deutschsprachigen Gebiete außerhalb des Deutschen Reiches im klassischen Geist von Weimar (Nr. 29, 4. 2. 1919: 1). Zur Wahl Friedrich Eberts zum Reichspräsidenten sprach der „Volksbote“ Ebert „das größte Vertrauen“ aus (Nr. 36, 12. 2. 1919: 1). Allerdings warnte der „Volksbote“ vor der starken Stellung des Präsidenten: „Ein Recht, das man dem gegenwärtigen Reichspräsidenten in Rücksicht auf seine Persönlichkeit ohne Bedenken einräumt, könnte in der Hand eines seiner Nachfolger gefährlich werden“ (Nr. 226, 28. 9. 1919: 1). Über die neue Reichsverfassung hieß es, sie sei als Provisorium zwar mit Mängeln behaftet, lasse aber den „absolut demokratischen Charakter des neuen Staatswesens“ hervortreten, bedauert wurde die verfehlte absolute Mehrheit der Sozialdemokratie, die nun koalieren musste (Nr. 37, 13. 2. 1919: 1). Das Stettiner Blatt sprach sich für einen Einheitsstaat mit einer Zergliederung Preußens aus (Nr. 296, 20. 12. 1919: 1). Wie hart die politische Arbeit werden würde, gerade im Vergleich zu den Hoffnungen der Vorkriegszeit, war der Redaktion klar (im selben Artikel wurde auch vor dem Kommunismus gewarnt):
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So gewiß wir Sozialdemokraten früher die Schwierigkeiten der Uebernahme politischer Macht nicht unterschätzt haben, so sicher ist es doch, daß wir uns die Sache etwas angenehmer vorgestellt hatten. Wir hatten auch keinen Grund, pessimistisch zu sein, denn die Widrigkeiten, mit denen wir heute zu kämpfen haben, waren nicht voraus zu sehen. Wir mußten annehmen, daß die Leitung eines Staates, ausgeübt von geschulten Volksführern, gestützt auf ein in langer Zeit vorbereitetes Proletariat, auf ein arbeitendes Volk von anerkannter Tüchtigkeit, eine ernste Freude sein müsse. Aber der Krieg hat vieles verdorben, und das Schlimmste ist, wir mußten die politische Herrschaft in einem geschichtlichen Momente antreten, wie er ungünstiger nicht gedacht werden kann. (Volksbote Nr. 154, 6. 7. 1919: 1)
Gegen ein Weitertreiben der Revolution sprach sich der „Volksbote“ fundiert aus. Heinrich Cunow wies die russische Interpretation von Revolution zurück: „Marx geht von ganz anderen Entwicklungsanschauungen aus, als Lenin, Trotzky und Genossen. Was diese bolschewistischen Führer lehren, ist nicht Marxismus, sondern russifizierter Blanquismus“ [Blanqui: französischer radikaler Revolutionär {1805 – 1881} – H. B.] (Beil. zu Volksbote Nr. 257, 4. 11. 1919: 1). P. Haupt stellte in Aussicht, „daß die Weltrevolution aus einer Reihe jahrzehntelang, vielleicht sogar durch Jahrhunderte hinziehender Einzelrevolutionen bestehen wird“, darum solle man von ihr nicht „schwärmen wie holde Backfische von ihrem ersten Liebsten“ (Beil. zu Volksbote Nr. 233, 7. 10. 1919: 1). Denn mit der Annahme der Weimarer Reichsverfassung sei bereits „ein gewaltiger Schritt zum Sozialismus getan worden“, das „politische Ziel der Sozialdemokratie erreicht“, wodurch sich die Diktatur des Proletariats erübrige (Volksbote Nr. 178, 3. 8. 1919: 1). Die SPD sei imstande gewesen, „aus der Novemberrevolution dasjenige herauszuholen, was zu schöpferischer Neugestaltung reif war, sich aber vor unklaren Experimenten zu hüten“ (Volksbote Nr. 265, 13. 11. 1919: 1). In Pommern treffe USPD und KPD die Hauptschuld daran, dass die Umwälzung nicht weiter fortschritt und die Reaktion wieder erstarke (1. Beil. zu Nr. Volksbote Nr. 262, 9. 11. 1919: 1).
VI.2 Versailler Vertrag Der Versailler Vertrag kam ohne deutsche Beteiligung zustande, unterzeichnen mussten ihn republikanische Politiker, die den Krieg nicht zu verantworten hatten. Die Friedensbedingungen wurden in der Öffentlichkeit als drückend empfunden. Ihre Milderung wurde Ziel aller Parteien: Damit wurde die Revision von Versailles für jeden deutschen Politiker, von ganz rechts bis zur äußersten Linken, zum politischen Imperativ. Hier lag die einzige wirkliche Gemeinsamkeit aller politischen Kräfte der Republik, das einzige wirkungsmächtige Symbol von Weimar, und das war durch und durch destruktiv. Nicht die politische Gegenwart war
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es daher, auf die sich allgemeines politisches Handeln richtete, sondern ihre Überwindung, nicht die Zukunft eines demokratischen deutschen Staatswesens in einer freien Völkergemeinschaft, sondern die Wiederherstellung einer in der kollektiven Erinnerung der Deutschen glanzvoll vergoldeten Vergangenheit: eine negative, rückwärtsgewandte Utopie. (Schulze 2003: 417)
Der erhoffte Verständigungsfrieden ohne Gebietsverluste oder wenigstens die 14 Punkte Wilsons blieben aus. Der Stettiner „Volksbote“ hob zwar als positive Kriegsfolge die Weimarer Republik hervor, befürchtete aber schlimme Konsequenzen, auch für die Siegermächte: Welch’ ein großer Tag sollte es sein, an dem die feindlichen Mächte sich wieder die Hände reichen zur Versöhnung. Wie hatten wir uns diesen Augenblick ausgemalt, als wir noch im Felde waren. Und nichts von alledem, auch nicht das Geringste hat sich verwirklicht. Mit düsterem Blick und den Kopf voller Gedanken stehen wir in Deutschland dem großen Ereignis teilnahmslos gegenüber. […] Wir haben nicht nur die riesigen Opfer und Leiden der Kriegsjahre in großem Maße erdulden müssen, auf uns lasten auch noch die brutalen Friedensbedingungen. Durch die Unterzeichnung sind wir buchstäblich zum Sklaven der Entente geworden. Und doch sehen wir in der Anerkennung der Bedingungen immer noch das kleinere Uebel gegenüber der Fortsetzung des Krieges. Sie wäre uns nicht erspart geblieben und hätte mit ganz bestimmter Sicherheit unser Elend noch bedeutend vergrößert und unsere traurige Lage noch gewaltig verschlimmert. […] Ein Friede auf dieser Grundlage kann nur ein kurzer Traum mit nachfolgendem schrecklichen Erwachen sein, denn er bedeutet nicht nur die vollständige Erdrosselung Deutschlands, sondern auch der Ententeländer. […] Deutschland ist durch den Krieg ein demokratischer Volksstaat geworden. Die Arbeiter haben eine außerordentliche Machtposition erlangt. Sie werden sie behalten und noch gewaltig erweitern, wenn sie sich weder von rechts noch von links von ihrem graden Wege abdrängen lassen. (Volksbote Nr. 149, 1. 7. 1919: 1).
Der Versailler Vertrag wurde als Verbrechen betrachtet, bestraft werden müssten die Verantwortlichen des Kaiserreichs: Und wenn jemals ein ungeheuerliches Verbrechen an einem großen Kulturvolk begangen wurde, das seinesgleichen in der Geschichte nicht findet, so ist es der Friedensvertrag von Versailles. Ihn haben nicht die Deutschen, sondern nur die Entente auf dem Gewissen. Es werden sich mit der Zeit auch hier Richter finden, die d ieses Verbrechen sühnen. Herr v. Bethmann Hollweg trägt die staatsrechtliche Verantwortung für all das Gräßliche, das der Krieg über Deutschland gebracht hat, mag auch die tatsächliche Verantwortung auf einer anderen Stelle lasten. […] Ihn, wie auch dem [!] Kaiser, der in der folgenschwersten Zeit treulos seinen Posten verließ und sich auf die vergnügliche Nordlandreise [während der Julikrise 1914 – H. B.] begab, sowie vielen [!] anderen trifft die volle Schuld. Ihr namenloses Verbrechen erheischt unnachsichtige Sühne. (Volksbote Nr. 149, 1. 7. 1919: 1)
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik
Die SPD lehnte eine Mitverantwortung für den Kriegsausbruch ab, der Parteivorstand nannte den Sieg der Entente auch einen Sieg über den Sozialismus: Leider bestimmten aber bis zum 9. November 1918 nicht die Sozialdemokratie, sondern die Alldeutschen die Politik unserer Heimat. Deshalb ist der traurige [!] Frieden, den je die Weltgeschichte gesehen hat, für uns das Endergebnis dieses Krieges geworden, ein Frieden, der die Völker dauernd zu verfeinden droht, der den interalliierten Kapitalismus und Imperialismus über den deutschen Sozialismus siegen ließ […] Die Niederwerfung des Sozialismus in Deutschland, in seinem Ursprungs- und Zukunftsland, ist das Streben der Entente. (Der Parteivorstand, Beilage zu Volksbote Nr. 149, 1. 7. 1919: 1).
Tatsächlich hat der Erste Weltkrieg die internationale Arbeiterbewegung zerrissen und durch die Errichtung der kommunistischen Diktatur in der Sowjetunion beschädigt. Die Zeitgenossen standen durch den Versailler Vertrag unter Schock.1 Eben im Osten gewonnen, im Westen standen deutsche Truppen tief in Frankreich, der Kaiser war gestürzt. Dass im Falle eines deutschen Sieges die Unterlegenen auch ihren Tribut zu zollen gehabt hätten (wofür Brest-Litowsk ein Beispiel gab) und die Gebietsverluste Österreichs, Ungarns und der Türkei viel größer waren, wurde nicht reflektiert. Ob 1919 ein Friedensschluss wie 1815 – der Wiener Kongress hatte Frankreich kaum beeinträchtigt – die folgenden Katastrophen verhindert hätte, kann nicht entschieden werden. Viel spricht für die Einschätzung eines Zeitgenossen, dass der Versailler Vertrag gleichzeitig zu hart und zu milde war: Als ein Vertrag mit einem Deutschland, das Belgien angegriffen, Nordfrankreich verwüstet, die Greuel des U-Boot-Krieges begangen, erbittert um die Beherrschung der Welt mit brutaler Gewalt gekämpft und über alle Vermittlungsangebote so lange gespottet hatte, wie es auf dem Schlachtfeld ungeschlagen war, war er zu nachsichtig. Als ein Vertrag mit einem Deutschland, das all das zurückwies, ganz entschieden dem Militarismus und Imperialismus abschwor, sich an seine frühere geistige Größe erinnerte und ein manierliches Mitglied der
1 Die 440 Vertragsartikel beinhalteten u. a. die Völkerbundsatzung (Deutschland durfte erst 1926 eintreten), den Verlust Elsass-Lothringens (an Frankreich), den größten Teil Westpreußens und Posens (an Polen), kleinerer Gebiete an Dänemark, Belgien und die Tschechoslowakei; Danzig wurde Freie Stadt, das Memelland kam an die Alliierten (1923 zu Litauen), das Saarland wurde befristet dem Völkerbund unterstellt, die deutschen Kolonien wurden Mandatsgebiete. In mehreren Gebieten sollten Volksabstimmungen stattfinden (z. B. Oberschlesien). Das linke Rheinufer wurde besetzt und entmilitarisiert, die Ströme wurden internationalisiert (darunter die Oder), das Heer auf 100.000 Mann begrenzt bei Verbot von U-Booten und Luftwaffe. Durch die Festlegung der deutschen Kriegsschuld wurde das Reich zu Reparationen verpflichtet. Die deutsche Handelsflotte und deutsches Privateigentum im feindlichen Ausland wurden enteignet. Für die Rechte bildete der „Diktatfrieden“ die Grundlage für die Parolen „Kriegsschuldlüge“, „Dolchstoß“ und „Erfüllungspolitik“ (Wörterbuch Geschichte, von Fuchs, Konrad, und Heribert Raab, CD-ROM, Digitale Bibliothek, Bd. 71, Berlin: Directmedia 2002, Artikel „Versailler Vertrag“: 5.890 – 5.895).
Kapp-Putsch
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europäischen Völkerfamilie sein wollte, war er zu rigide. Das Unglück bestand darin, daß die Weimarer Republik nicht deutlich machte, welches der beiden Deutschland sie tatsächlich repräsentierte. Wahrscheinlich wußte sie es selbst nicht. Sie war eine demokratische Republik, die sich noch immer Deutsches Reich nannte; sie war zur Versöhnung bereit, aber erst nach der Niederlage; sie war über ihre militaristischen und imperialistischen Verführer erbost, weigerte sich aber, sie auszuliefern; sie war voller Reue, protestierte aber gegen die „Kriegsschuldlüge“; sie war pazifistisch, während sie heimlich wiederaufrüstete. (Haffner 1996: 246)
VI.3 Kapp-Putsch Pommern gehörte zu den Gebieten, in denen der Kapp-Lüttwitz-Putsch gegen die Republik im März 1920 vorbereitet wurde. In der Generalversammlung des rechten „Pommerschen Landbundes“ sagte MdR Georg Schultz (DNVP): Der Redner schließt mit der Frage, ob denn kein Mann da wäre, der uns aus der jetzigen Not herausführt. Wir müßten abwarten, bis die Wasser sich verlaufen hätten, einzelne Inseln seien schon zu sehen. Bis dahin müßte ein jeder arbeiten im Hinblick auf den Mann, der kommen muß, auf den nationalen Messias. („Pommersche Tagespost“, Nr. 63, 4. 3. 1920: 3)
Schaubs (2008: 57) sieht u. a. darin den Beweis, dass die konservativen Kreise der Provinz in die Putschpläne eingeweiht waren bzw. in Pommern der Umsturzversuch mitgeplant wurde. Der „Volksbote“ brachte am 14. März 1920 die Proklamation von Kapp und von Lüttwitz und rief gleichzeitig zum Generalstreik auf. Nr. 63 (16. 3. 1920: 1) teilt das Verbot des Putschreichswehrministers Kapp mit, sich gegen die neue Regierung zu äußern, schrieb aber trotzdem in derselben Ausgabe: Der gegenrevolutionäre Putsch in Berlin richtet sich gegen die Republik und damit gegen eine Staatseinrichtung, für die alle freiheitsliebenden Männer und Frauen jahrzehntelange ungeheure Opfer gebracht haben. […] Die ganze Aktion richtet sich gegen den Sozialismus. Diesen Schlag gilt es unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu parieren. Es handelt sich um Sein oder Nichtsein des Proletariats.
Bereits am 14. März hatte eine große Demonstration in Stettin stattgefunden, sie war von Sozialdemokraten, Unabhängigen und Kommunisten gemeinsam vorbereitet worden (Volksbote Nr. 63, 16. 3. 1920: 1). In Stettin schlossen die Betriebe, die großen Geschäfte und die Gasthäuser, die bürgerlichen Zeitungen erschienen nicht. Eisenbahn, Post, Licht- und Wasser versorgung funktionierten aber weiter; die örtliche Garnison wurde verstärkt. Es kam zu einer weiteren Demonstration (Volksbote Nr. 64, 17. 3. 1920: 3). Bei dieser Kundgebung fielen Schüsse, denen mehrere Menschen zum Opfer fielen (Volksbote Nr. 65, 18. 3. 1920: 1; diese Nummer meldete auch den Rücktritt Kapps). Während des Putsches war es zu verstärkter
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik
antisemitischer Agitation gekommen, der Deutsche Schutz- und Trutzbund hatte Juden beschuldigt, für das Leid der Arbeiter verantwortlich zu sein, der Volksbote forderte Gefängnisstrafen für Verfasser und Verbreiter der Flugblätter (Volksbote Nr. 66, 19. 3. 1920: 3). Der Stettiner Aktionsausschuss beschloss die Fortsetzung des Generalstreiks in Stettin: Eine Arbeiterschaft, die auf das bloße Versprechen dieser Leute hin, sich auf den Boden der Verfassung zu stellen, die Waffen strecken würde, verdiente, mit Ruten gezüchtigt zu werden. Solange diese Hochverräter nicht völlig unschädlich gemacht sind, solange die Reaktion nicht zerschmettert ist, kann es für die klassenbewußte Arbeiterschaft Stettins kein Zurück in dem ihr aufgezwungenen Kampfe geben, sondern es ist ihre heilige Pflicht, auszuhalten bis zum endgültigen Siege des Proletariats. (Volksbote Nr. 67, 20. 3. 1920: 1)
Wegen der unruhigen Lage in Stettin wurde am 20. März der verschärfte Ausnahmezustand verhängt (Extra-Ausgabe des Volksboten, Nr. 69, 21. 3. 1920: 1). Am 25. März (Nr. 71) wurde der Abbruch des Generalstreiks gemeldet, auf den sich die SPD- und USPD-Vertreter im Aktionsausschuss geeinigt hatten (die Kommunisten stimmten dagegen und verließen den Aktionsausschuss). Von der Niederschlagung des Kapp-Putsches erhoffte sich der Volksbote eine „Neugestaltung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse“ (Nr. 72, 26. 3. 1920: 2). An Aktionen und Opfern übertraf die Abwehr des Kapp-Putsches in Pommern die Novemberrevolution. Nerée (1991: 210) bezeichnet die Streikwelle als „verspätete[n] Höhepunkt der revolutionären Bewegung in Pommern“.
VI.4 Das Krisenjahr 1923 1923 war ein Jahr schwerer Krisen der Weimarer Republik. Es gab die Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen, die Hyperinflation sorgte für wirtschaftliche Schwäche, politisch war der Staat durch rechte und linke Umsturzversuche bedroht. Die Berichterstattung darüber kann im Stettiner „Volksboten“ nur bis zum 30. September 1923 verfolgt werden. Verantwortlich für den redaktionellen Teil war in d iesem Jahr laut Titelseite Willy Lanzke. Der „Volksbote“ bemühte sich, in einem giftigen gesellschaftlichen Klima die Sache der Sozialdemokratie zu verteidigen, gerade in Auseinandersetzungen vor Ort, also mit der „Pommerschen Tagespost“ der Rechten, dem „unparteiischen“ „General-Anzeiger“, den bürgerlichen Titeln „Ostsee-Zeitung“ und „Stettiner Abendpost“ sowie der „Volkswacht“ der Kommunisten. Nach dem Scheitern der Pariser Reparationskonferenz und teilweise ausgebliebenen deutschen Ablieferungen sah der „Volksbote“ die französische Reaktion kommen: Wir Deutschen müssen uns überhaupt von allen Illusionen frei halten. Die Welt der Sieger will von Deutschland keine Redensarten hören und auch keine Versprechungen und seien sie noch so schön und so gut gemeint. Der Verlierer hat eben zu zahlen und wenn er auch
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ein noch so armer Schlucker ist. […] Der Staat muß sich von den Besitzenden das verschaffen, was er gebraucht, um den Widerstand Frankreichs zu brechen und sein Ansehen in den übrigen Ländern noch mehr zu heben. (Volksbote Nr. 5, 7. 1. 1923: 1) Es gibt Leute, die meinen, der jahrelang gezeigte Erfüllungswillen Deutschlands sei sinnlos gewesen, es komme ja doch zur Besetzung des Ruhrgebietes. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist wirklich ziemlich groß. […] Kommt jetzt der französische Einmarsch, dann wird die ganze Welt das als ein an Deutschland begangenes Unrecht ansehen. (Volksbote Nr. 7, 10. 1. 1923: 1)
Die Nr. 8 (11. 1. 1923: 1) meldet den Einmarsch ins Ruhrgebiet mit einem Aufruf des Reichspräsidenten Ebert und einem Artikel gegen den französischen Ministerpräsidenten Poincaré von Rudolf Hilferding. Zunächst warnte der „Volksbote“ vor einem Generalstreik, weil dieser den Kommunisten nutzen würde, zog den passiven Widerstand aber in Betracht (Volksbote Nr. 9, 12. 1. 1923: 1). Entschieden warnte er vor den rechten Gedankenspielen eines neuen Krieges: Wir wären heute schon längst wieder mitten im blutigen Würgen, Hauen und Stechen, wenn Deutschland nicht aller militärischen Machtmittel entblößt wäre. Die deutschen Chauvinisten hetzen wieder wie in den Zeiten ihres größten Glanzes. Nur die deutsche Arbeiterschaft ist nicht im geringsten geneigt, sich jetzt ebenso vor den Karren der Säbelraßler spannen zu lassen wie 1914. Das mag die Presse der Schwerindustriellen bedauerlich finden oder nicht. (Volksbote Nr. 11, 14. 1. 1923: 2)
Die Erinnerung an die Kriegsgewinnler von 1914 war noch nicht verblasst, entschieden wandte sich das Blatt gegen Forderungen einer „Einheitsfront“ von Arbeitern und Bürgern: Die gesamte Stettiner bürgerliche Presse nimmt die Ruhrbesetzung zum Anlaß einer mehr oder minder nationalistisch angehauchten Schreiberei und Schreierei. […] Alle malen in schönen Farben die „Einheitsfront des ganzen deutschen Volkes“ aus und können sich sogar für einen halbstündigen Demonstrationsstreik begeistern. […] Indes steigt der Preis aller Lebensmittel weiter und der Preis für die Butter klettert sogar noch schneller als der Dollar, trotz Not des Vaterlandes und Einheitsfrontblökerei. (Volksbote Nr. 11, 14. 1. 1923: 3)
In einer Versammlung der Stettiner Arbeiterschaft sagte Genosse Schumann: Die Arbeiterschaft hat aus den Erfahrungen im Jahre 1914 gelernt, als sie durch ein gemeines Lügengewebe für die imperialistischen und annexionistischen Pläne eingefangen wurde. Die Arbeiterschaft muß auf der Hut sein, um kein zweites 1914 zu erleben, sie darf sich nicht wieder vor den nationalistischen Karren spannen lassen. Die Einheitsfront soll den Kapitalisten und Militaristen nur dazu dienen die Reparationsverpflichtungen von sich abzuwälzen und das Wachstum der faszistischen Banden zu fördern. (Volksbote Nr. 12, 16. 1. 1923: 3)
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Entsprechend lehnte die Versammlung eine Einheitsfront mit den bürgerlichen Parteien ab. In derselben Nummer hieß es: „O nein, liebe ,Ostsee-Zeitung‘, die pommerschen Arbeiter sind glücklicherweise nicht mehr dumm genug, um auf jeden nationalen Schwindel hineinzufallen“ (Volksbote Nr. 12, 16. 1. 1923: 3). Anlässlich des pommerschen Parteitages der Deutschnationalen warnte man davor, „daß die nationalistische Welt uns nicht wieder Abenteuer beschert, die nicht die Herren Agrarier und Industriellen sondern die Lohn- und Gehaltsempfänger ausbaden müssen“ (Volksbote Nr. 14, 18. 1. 1923: 3). Eine SPD-Funktionärsversammlung wandte sich gegen das Reichskabinett Cuno: „Sie erwartet, daß die Reichstagsfraktion in Zukunft in unzweideutiger Weise eine klare ablehnende Stellung gegenüber der Regierung Cuno einnimmt“ (Beil. zu Volksbote Nr. 18, 23. 1. 1923: 1). Nr. 43, 21. 2. 1923 enthielt einen Artikel Arthur Crispiens, der in der Frage der Ruhr die Aufnahme von Verhandlungen forderte. Letztlich liege die Gewaltpolitik im Wesen des Kapitalismus, „bis einst der völkerverderbende Kapitalismus vom menschheitserlösenden Sozialismus abgelöst sein wird“ (Volksbote Nr. 43, 21. 2. 1923: 2). Eine Stettiner Funktionärssitzung fasste eine Resolution, die die Berichterstattung des „Volksboten“ unterstützte, weil er „anläßlich des Ruhrkrieges einen scharfen Trennungsstrich zieht z wischen dem Nationalismus und der Arbeiterschaft“ (Beil. zu Volksbote Nr. 47, 25. 2. 1923: 1). Falsch sei die Politik der Regierung Cuno „mit der rasend schnell laufenden Notendruckpresse“, es „muß der falschen Taktik der heutigen Regierung ein Ende bereitet werden“ (Volksbote Nr. 90, 19. 4. 1923: 1 f ). Es handle sich um ein „Kabinett der Verlegenheit“ (Volksbote Nr. 105, 8. 5. 1923: 1). Der „Volksbote“ sah, dass die Ruhrbesetzung die politischen Ränder stärkte: Wir brauchen, wenn wir in der Geschichte weiterkommen wollen, endlich neue Methoden. Als der passive Widerstand begann, war er ein großes Ereignis für eine Weiterentwicklung der Politik gegenüber dem Militarismus, einer Widerstandspolitik, deren Grundlagen in der Arbeiterschaft ruhen. Heute ist der Ruhrkrieg infolge der – wie man im Ruhrgebiet auch schon sagen hört – „Berliner Leitung“ mit allen Ludendorff-Methoden belastet, und dazu gehört auch die Kriegslüge. (Volksbote Nr. 113, 18. 5. 1923: 2)
Das „Ruhrabenteuer“ der Regierung Cuno (Volksbote Nr. 125, 2. 6. 1923: 1) müsse beendet werden und die Sabotageakte enden: Die nationalistischen Attentate auf Eisenbahnen, die Sprengungen von Brücken und Kanälen und vor allem die schweren Kämpfe und Streiks, die das abgeschnittene Wirtschaftsgebiet durchzittern, zeigen uns mit furchtbarer Deutlichkeit, daß die seit fünf Monaten währende Abwehraktion ihren ursprünglichen Sinn verloren hat. (Volksbote Nr. 136, 15. 6. 1923: 1)
In Stettin wurde ein Cuno-kritisches Plakat vom stellvertretenden Polizeipräsidenten verboten. „Gibt es ein Recht der öffentlichen Meinung nur für rechtsradikale Kreise?“, fragte daraufhin der „Volksbote“ (Beil. zu Nr. 171, 26. 7. 1923: 1). Der Bezirksvorstand der pommerschen Sozialdemokratie forderte vom Parteivorstand und der Reichstagsfraktion,
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„daß sie die schleunige Einberufung des Reichstags fordern und die Reichsregierung nachdrücklich zwingen, mit ihrer Politik des Abwartens Schluß zu machen“ (Volksbote Nr. 175, 31. 7. 1923: 2). Eine mögliche große Koalition mit der DVP lehnte das Blatt ab, denn „wir könnten auch nicht die kleinste wirtschaftliche Forderung von Bedeutung durchsetzen, es sei denn gerade auf Kosten der Arbeiter“ (Volksbote Nr. 178, 3. 8. 1923: 2). Eine Stettiner Funktionärsversammlung kritisierte das Stillhalten der Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion: Deshalb wäre es Pflicht der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, alle Kräfte darauf zu verwenden, um der jetzigen Regierung schnellstens das Lebenslicht auszulöschen. Leider hat die Fraktionsmehrheit das Gegenteil getan. Die Groß-Stettiner Funktionäre verurteilen auf das entschiedenste die Haltung der Fraktionsmehrheit und fordern, daß der Fraktionsbeschluß einer Aenderung unterzogen und der Cuno-Regierung schärfster Kampf angesagt wird. Die Funktionäre erklären heute schon, daß sie auch einer großen Koalition nicht zustimmen können. Sie verlangen vielmehr von der Reichstagsfraktion, daß sie endlich führend ist im schärfsten Kampf des Proletariats gegen die besitzenden Klassen. (Beil. zu Volksbote Nr. 183, 9. 8. 1923: 1)
Nach dem Rücktritt der Regierung Cuno trat die SPD in eine Koalition unter Stresemann (DVP) ein, was der „Volksbote“ ablehnte: Wir erklären aber ausdrücklich: wir betrachten uns als in der Opposition stehend und werden die Taten der einzelnen Minister wie des gesamten Ministeriums mit Argusaugen verfolgen und die Arbeiterschaft, deren Interessen wir vertreten, aufrufen zum Kampf, wenn die Versprechungen nicht eingelöst werden. Wir werden keinerlei Rücksichtnahme üben, weder gegenüber den Bürgerlichen noch gegenüber von [!] Parteigenossen. (Volksbote Nr. 188, 15. 8. 1923: 1)
Zum angekündigten Ende des Ruhrkampfes schrieb die Arbeiterzeitung: Es ist ein Riesenberg von Schuld, der sich im Laufe der acht Monate auf die Schultern eines geschlagenen und zusammengebrochenen Volkes gelegt hat. Der Gesamtbetrag ist höher als die Reparationskosten eines ganzen Jahres. Was sind angesichts dieser nutzlos verpulverten Goldmilliarden die paar Tonnen Kohlen und Telegraphenstangen, um die gefeilscht wurde? Das deutsche Volk hatte unter Cunos Regie auf den eisernen Planken der Weltgeschichte wieder einmal die Heldenrolle agieren wollen und ist, genau wie nach dem nationalistischen Rausch von 1914, mit einem entsetzlichen Katzenjammer erwacht. (Volksbote Nr. 224, 27. 9. 1923: 1)
Nr. 225 (28. 9. 1923: 1) meldet die Verhängung des militärischen Ausnahmezustands und den Abbruch des Ruhrkampfs.
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Besonderes Augenmerk richtete der „Volksbote“ auf die Vorgänge in den rechtsextre mistischen Kreisen, die im Hitler-Ludendorff-Putschversuch vom 9. November 1923 gipfeln sollten. Die Zeitung verfolgte die Vorgänge insbesondere in Bayern, aber auch in Pommern, wo ebenfalls rechte Umtriebe zu verzeichnen waren. Das Jahr 1923 begann der „Volksbote“ unter der Überschrift „Der Feind steht rechts!“ (Volksbote Nr. 1, 3. 1. 1923: 1). Gegen die sich ausbreitenden Nationalsozialisten in München hieß es: Die große Mehrheit des deutschen Volkes lehnt es mit aller Entschiedenheit ab, mit den deutschen Faszisten, den Nationalsozialisten in ein neues Reich deutscher Herrlichkeit einzugehen. Dieses Reich wäre doch nur ein Reich der Knüppelgarden und des Militarismus. Dagegen wäre Herrn Hitler und seinen Getreuen sehr zu empfehlen, sich in eine Irrenanstalt zu begeben. Hier wären sie am allerbesten aufgehoben. (Volksbote Nr. 12, 16. 1. 1923: 2)
Im Wahlkampf zu den pommerschen Kommunalwahlen wurde deutlich, wie stark die politische Rechte war. Bezirkssekretär Hartwig warnte: Die bürgerlichen Parteien, besonders die Reaktionäre in Pommern, werden alles anwenden, um den Einfluß, den die Sozialdemokratie bei den ersten Wahlen in den Städten und Gemeinden erobert hat, zu brechen. Der Reaktion wird dabei jedes Mittel recht sein. Kleinliche Fehler, die irgendwo in der Kommunalpolitik gemacht worden sind, werden als „sozialistische Mißwirtschaft“ ausgeschrien werden. Verdächtigungen und Verleumdungen werden gegen die Sozialdemokratie, wie immer, herhalten müssen. (Beil. zu Volksbote Nr. 16, 20. 1. 1923: 1)
Über den „Pommerschen Landbund“, der der DNVP nahestand, hieß es, „die arbeitende Bevölkerung wäre verraten und verkauft, wenn sie den nationalistischen Rufen Folge leisten würde, sie wäre an Leib und Seele der Einheitswucherfront der Schwerindustrie und Agrarier ausgeliefert“ (Volksbote Nr. 17, 21. 1. 1923: 3). Nach dem bayerischen Vorbild sollte auch in Pommern eine nationalsozialistische Bewegung entstehen. Der „Volksbote“ sah die Gefahr, dass sie damit erfolgreich sein könnte. Selbst die Arbeiterschaft sei davon bedroht: Auch in Pommern suchen seit einigen Wochen die Nationalisten unter Aufbietung aller Kräfte eine faszistische Bewegung ähnlich der in Bayern ins Leben zu rufen. Die „Deutschpolitische Freiheitspartei“, „Großdeutsche Arbeiterpartei“ und „Pommersche Arbeiterpartei“ sind nur die größenwahnsinnigen Namen für ein und dieselbe Sache, nämlich für die Faszistenbewegung, die der Arbeiterschaft alle bisher erkämpften Rechte zunichte machen will. Für die gesamte Arbeiterschaft heißt es jetzt: Augen auf! Die Faszisten sind nicht so dumm, daß sie ihre wahren reaktionären Bestrebungen und Ziele offen verkünden. Sie hüten sich, davon zu sprechen und zu schreiben, daß sie lediglich eine Schutzgarde des übelsten Nationalismus, Antisemitismus und selbstverständlich auch Monarchismus gründen wollen, die die früheren Herrenrechte wieder erringen soll. Unter dem hochtrabenden Namen „Freiheitspartei“ und mit möglichst rrradikalen [!] Phrasen glauben sie die Köpfe der Arbeiter
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benebeln zu können. […] Aber es gibt noch immer zahlreiche Arbeiter, Angestellte und Beamte, die über die wirtschaftlichen und politischen Bestrebungen dieser Dunkelmänner so wenig unterrichtet sind, daß sie auf die Phrasen der Knüppelkunze-2 und Hitler-Leute hereinfallen. Hierin besteht die Gefahr dieser Agitation der reaktionären Meute, die ja nur darauf wartet, um der sozialistischen Bewegung den Garaus zu machen, zur Freude der Agrarier, Industrieritter und ihrer Verbände. (Beil. zu Volksbote Nr. 21, 26. 1. 1923: 1)
Der „Volksbote“ rechnete mit einem baldigen gewaltsamen Umsturzversuch in Bayern, „Adolf Hitler will jetzt offenbar diese Stimmung ausnutzen und den Kampf wagen“ (Volksbote Nr. 23, 28. 1. 1923:1). In Stettin traten die Faschisten in Kneipen brutal in Erscheinung, die „Fälle mehren sich bedenklich, da anständige Gäste in den Gasthäusern verschiedenster Art vom alkoholisierten und nationalistisch verseuchten Pöbel angefallen werden, weil sie sich weigern, als Nacheiferer dieser Trottel aufzutreten“. Es handle sich dabei um „Rauf-, Sauf- und Brüllpatrioten, die Deutschland zu einem nationalistischen Idiotenstaat herabwürdigen wollen“ (Beil. zu Volksbote Nr. 28, 3. 2. 1923: 1). Die rechtsextremistische Ideologie breitete sich aus, der „Volksbote“ sah von der „monarchistisch-nationalistische[n] Verseuchung der Reichswehr“ auch das Wehrkreiskommando Stettin betroffen (Nr. 35, 11. 2. 1923: 3). Der Staat wehre sich nicht ausreichend gegen die Gefahr, das Republikschutzgesetz werde nur ungenügend umgesetzt: So geht Stück um Stück des einst so energisch verkündeten Schutzes der Republik verloren, und die reaktionären Geheimbünde bekommen wieder Oberwasser. Um so mehr ist es Aufgabe der Arbeiterschaft, der bisher einzigen wirklichen Stütze der Republik, über die Vorgänge im reaktionären Lager zu wachen. (Volksbote Nr. 41, 18. 2. 1923: 2)
Gegen die „Pommersche Tagespost“ gerichtet warnte der „Volksbote“ vor einer Entwicklung wie in Italien, wo sich kürzlich Mussolini durchgesetzt hatte: Die Haltung der nationalistischen Presse beweist aber, ebenso wie die Tagung der „Vaterländischen“ Verbände, daß die Nationalisten bestrebt sind, den Ruhr-Konflikt dazu auszunützen, endlich einmal nach italienischem Muster ganze Arbeit zu machen. Mögen das deutsche Volk und das deutsche Wirtschaftsleben darüber zugrunde gehen, es soll, wie während des Krieges, durchgehalten werden bis zum völligen Zusammenbruch. Bis dahin glaubt sich der deutsche Faszismus stark genug zu fühlen, sein Schäfchen ins Trockene zu bringen. (Volksbote Nr. 44, 22. 2. 1923: 1)
Der „Volksbote“ unterstützte den preußischen Innenminister Carl Severing (SPD), der gegen den Rechtsextremismus kämpfte. Als er in Stettin sprach, waren die „Amorsäle“ überfüllt. Zu den Angriffen der links- und rechtsextremen Presse sagte er: „Wenn ich mal 2 Richard Kunze (1872 – 1925), Deutschsoziale Partei, ab 1929 NSDAP.
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finde – so sprach er weiter – , daß ich von diesen Blättern eine Zeit lang nicht angepöbelt werde, dann bin ich in dem Glauben, eine Dummheit gemacht zu haben“ (Beil. zu Volksbote Nr. 48, 27. 2. 1923: 1). In Bayern ließ man die illegalen Organisationen gewähren. Darum fragte der „Volksbote“, „wie lange man noch den wahnsinnigen Amokläufer [Hitler – H. B.] gegen sein eigenes Volk wüten lassen werde“ (Volksbote Nr. 57, 9. 3. 1923: 2). Aber auch in Stettin entwickelte sich die Rechte ungestört, „wir erlauben uns die Anfrage an den Herrn Polizeipräsidenten, was er angesichts dieser faszistischen Wühlereien zu tun gedenkt“ (Beil. zu Volksbote Nr. 67, 21. 3. 1923: 1); „[H]eute steht es um die Sicherheit der Republik schlimmer als vor dem Rathenaumord, und mindestens ebenso schlimm als unmittelbar vor dem Kapp-Putsch“, doch „die Arbeiter können sich nicht schutzlos ,abkehlen‘ lassen, und sie wollen mit dabei sein, wenn um das Schicksal der deutschen Republik gerungen wird“ (Volksbote Nr. 70, 24. 3. 1923: 1). Angesichts der Fülle der Aufgaben räumte der „Volksbote“ eine gewisse Unübersichtlichkeit ein: Der notwendige Kampf um eine bessere auswärtige Lage Deutschlands und die Pflicht, die noch nicht entwickelte Republik gegen reaktionäre Angriffe zu verteidigen, bringt die Arbeiterschaft zeitweilig an die Seite des Bürgertums, während die innerpolitische Seite der Reparationspolitik und die meisten staatlichen Aufgaben – Demokratisierung von Verwaltung, Heer und Justiz, Arbeitsrechtspflege und Gesetzgebung auf allen Gebieten – den Klassenkampf immer neu verstärken. So ist die Lage der deutschen Arbeiterklasse besonders schwierig, ihre Politik nicht einfach, selbst für die geschulteren Schichten ist es manchmal fast unmöglich, sie klar zu übersehen. (Volksbote Nr. 71, 25. 3. 1923: 2)
Der um sich greifende Nationalismus bedrohe den Bestand der Heimat: Nationalismus heißt die kindliche reine Freude an der Heimat steigern wollen in blindem, polterndem schnapsduftendem Rausch, heißt das gesunde Kraftgefühl, das in der Vaterlandsliebe webt, überspannen zu wildem Kraftmeiertum, zu sinnlosem Toben, das die Brand fackel wirft in die Nachbarschaft. Aber der fressende Brand schlägt zurück in das eigene Land, züngelt zurück in das eigene Nest und kennt kein Halten, bis es zu Trümmer und Asche vernichtet. (Volksbote Nr. 80, 7. 4. 1923: 1)
Der „Volksbote“ berichtete kontinuierlich über „die bayerische Eiterbeule“, wo Hitler seine Organisation ungehindert ausbauen konnte: Was heute einem bayerischen Faszisten erlaubt ist, kann morgen jedem anderen Verbrecher nicht verboten werden. Ein Staat aber, der mit Verbrechern verhandelt, statt sie unschädlich zu machen, nähert sich seiner politischen Struktur nach den mittelalterlichen Räuberstaaten, wo derlei, was jetzt in Bayern fast tagtäglich geschieht, in vollster Blüte stand. (Volksbote Nr. 90, 19. 4. 1923: 2)
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Doch auch im Reich fehle es am Willen, energisch gegen rechts vorzugehen: Vom Genossen Severing wissen wir, daß er den guten Willen hat, energisch durchzugreifen; von der Gesamtheit des preußischen Staatsministeriums haben wir, abgesehen von dem letzten Fall, diese Ueberzeugung leider nicht. Und wie ist die Haltung der Reichsregierung in diesen Dingen? Und was tut der Staatsgerichtshof?? [!] Bevor nicht die volle Gewißheit besteht, daß die Mörderorganisationen und die Roßbach-3 und Hitlerverbände für immer unschädlich gemacht sind, solange muß die Arbeiterschaft als sicherste Stütze der Republik jedenfalls alarmbereit sein. (Volksbote Nr. 92, 21. 4. 1923: 2)
Noch immer seien beispielsweise nicht alle monarchistischen Hoheitszeichen in Behörden entfernt, was zeige, „wie wenig die Demokratisierung und Republikanisierung der Verwaltung bisher vorgeschritten ist“ (Beil. zu Volksbote Nr. 98, 28. 4. 1923: 1). In Stettin sahen Schulkinder während der Schulzeit Fridericus-Rex-Filme (Beil. zu Volksbote Nr. 98, 28. 4. 1923: 1). Die Stellenbesetzungen in Preußen ergeben, daß, abgesehen von den politisch wichtigsten Posten der Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten, deren Besetzung mit Republikanern unumgänglich war, in der inneren Verwaltung Preußens auch hinsichtlich der eminent politischen Beamtenschaft erst ein bescheidener Anfang zur Demokratisierung gemacht ist. Selbst von den politisch so wichtigen Posten der Landräte, die vor der Revolution mit verschwindenden Ausnahmen ausschließlich den konservativ Gesinnten vorbehalten waren, wurden unter 426 Stellen nur 151 mit Mitgliedern der republikanischen Parteien besetzt. (Volksbote Nr. 106, 9. 5. 1923: 3)
In Stettin gebe sich „das Blatt der ,unpolitischen‘ Spießer, die ,Abendpost‘“, als „eine Freundin der hochverräterischen Hitlergarden aus“ (Volksbote Nr. 106, 9. 5. 1923: 3). In Pommern, Mecklenburg und Schleswig gebe es Putschpläne, in die auch das Wehrkreiskommando II Stettin verwickelt sei (Volksbote Nr. 112, 17. 5. 1923: 1; Nr. 150, 1. 7. 1923: 1). Dennoch wollte die Zeitung ihren sozialistischen Optimismus nicht aufgeben. Gegen Oswald Spenglers kulturpessimistisches Buch „Untergang des Abendlandes“ hieß es: Der Staat ist entmannt, entwaffnet: die Wirtschaft bemannt, bewaffnet sich. Sie gründet und unterhält ihre eigenen Schutzgarden, ihre Hitler- und Faszistenbanden, ihre gelben Organisationen, ihre „vaterländischen Verbände“, die mit Gesang, Kegelschieben und Fußball beginnen, mit militärischen Paraden, Bombenwürfen, Attentaten, Versammlungsund Brückensprengungen, mit Mord und Arbeiterjagd enden. […] Die kapitalistische Gesellschaftsordnung eilt ihrem Untergang entgegen; ihre Krisen sind der Verfall und die 3 Gerhard Roßbach (1893 – 1967), Freikorps, Teilnehmer am Hitler-Ludendorff-Putsch.
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äulnis der bürgerlichen Gesellschaft; das Weh der Zeit sind die Wehen einer neuen Zeit F und einer neuen Ordnung, die sich ankündigt: der sozialistischen. […] „Untergang des Abendlandes“ ist für alle, die keine Geschichte kennen, die die Geschichte von Klassenkämpfen ist; für alle, die nur leben und nichts sehen, solange die bürgerliche Gesellschaft lebt und leuchtet. […] Lassen wir Spengler, lassen wir die Toten ihre Toten begraben. (Volksbote Nr. 126, 3. 6. 1923: 2)
Zum Jahrestag der Ermordung Walther Rathenaus hieß es jedoch resigniert: In Preußen führt Severing unter großen Schwierigkeiten einen zähen Kampf gegen die Feinde der Republik. Auch hier sind vom Reiche her die Gegenspieler am Werke, um seine Arbeit für die Republik zu durchkreuzen. In der Verwaltung, der Justiz, in großen Teilen der Polizei ist die Reaktion unerschüttert geblieben, und die Reichswehr, der eigentliche Brennpunkt des Gefahrenherdes, ist selbst von Reformmaßnahmen verschont worden, geschweige denn, daß eine grundlegende Aenderung erfolgt wäre. Hier hat sich nichts zum Besseren, aber alles zum Schlimmeren gewandelt. […] So ist das Blut Rathenaus umsonst geflossen. (Volksbote Nr. 144, 24. 6. 1923: 3)
Der „Volksbote“ forderte eine kämpferische Haltung angesichts der Bedrohungen: Politische Demokratie in Ehren. Wenn sie aber nicht Hand in Hand geht mit der wirtschaftlichen Gleichberechtigung, wenn die politische Freiheit ausschließlich ein Machtinstrument des Kapitals und des Besitzes geworden ist, wodurch Staat und Volk zugrundegerichtet werden sollen, dann muß der Kampf gewagt werden. (Nr. 146, 27. 6. 1923: 2)
Eine SPD -Versammlung in Stettin forderte sogar eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten: Die Anwesenden sind nicht gewillt, sich wehrlos abschlachten zu lassen. Die Versammelten erkennen, daß die einzige Rettung, die Vorstöße der bewaffneten Faszisten abzuwehren, nur die proletarischen Abwehrorganisationen sein können. Die Versammlung fordert die VSPD. und die KPD. auf, sofort die Schaffung proletarischer Abwehrorganisationen einzuleiten. Desgleichen fordert sie von dem Innenminister Severing die Aufhebung des Verbots proletarischer Hundertschaften. (Volksbote Nr. 146, 27. 6. 1923: 3)
Allerdings sagte Genosse Horn auf einer Mitgliederversammlung der VSPD Groß-Stettin: Wir kennen die Faszisten aus ihrer Vergangenheit, und wir kennen auch die Wirkungen einer bolschewistischen Herrschaft; um so mehr haben wir heute die Pflicht, alles zu tun, um die Geschlossenheit der Partei zu bewahren, damit unser Volk vor jedem Gewaltregiment von rechts oder links geschützt wird. (Beil. zu Volksbote Nr. 198, 26. 8. 1923: 1)
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Nachdem der „Volksbote“-Redakteur Willy Lanzke damit bedroht wurde, er „sollte an die Wand gestellt werden“, entschied ein Amtsrichter, das sei „eine im politischen Leben gebräuchliche und oft angewendete Redewendung“, woraufhin die Zeitung fragte: „Können wir unseren Staat noch als einen Rechtsstaat ansehen?“ (Beil. zu Volksbote Nr. 190, 17. 8. 1923: 1). In einer gemeinsamen Erklärung warnten die pommersche Sozialdemokratie, Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund, Allgemeiner freier Angestelltenbund und Allgemeiner Deutscher Beamtenbund vor einem Rechtsputsch in Pommern (Volksbote Nr. 201, 31. 8. 1923: 1). Später wurde die „antisemitische Verblödungsspritze“ der „Pommerschen Tagespost“ zurückgewiesen (Beil. zu Volksbote Nr. 209, 9. 9. 1923: 2). Gegen die rechtsextreme Mordhetze werde man sich künftig wehren: Sollte die fortgesetzte Attentatshetze dazu führen, daß irgend ein Wirrkopf wieder einmal zum Revolver greift, dann entsteht dem niedergestreckten Opfer in dem Proletariat ein furchtbarer Rächer. Dann wird es nicht mehr so harmlos zugehen, wie in den Tagen nach der Ermordung Erzbergers, Rathenaus und anderer, dann wird auch die andere Seite ihre Opfer bringen müssen. Dafür werden die Arbeiter sorgen. (Volksbote Nr. 213, 14. 9. 1923: 2)
Seit der Novemberrevolution war der Sozialdemokratie in der Kommunistischen Partei ein Konkurrent entstanden. Diese KPD orientierte sich an Moskau. Ein Vorbild Sowjetrussland lehnte der „Volksbote“ entschieden ab: Die Diktatur des Proletariats artete in die Selbstherrschaft von fünf bis zehn Personen aus. Das Sowjetsystem ist völlig abgestorben; jede Rede-, jede Preßfreiheit ist erdrosselt und die Gefängnisse sind mit sozialistischen Proletariern überfüllt. (Volksbote Nr. 31, 7. 2. 1923: 2)
Auch von den deutschen Kommunisten hielt die Zeitung nicht viel, diese „Rowdies“ und „Hetzer“ seien „kein Jota besser als jenes nationalistische Gesindel“ (Beil. zu Volksbote Nr. 8. 2. 1923: 1); „es ist doch wahrhaftig bekannt genug, daß mit den Kommunisten praktische Politik nicht gemacht werden kann“ (Volksbote Nr. 55, 7. 3. 1923: 1). „Ob sie es wollen oder nicht: die Kommunisten sind die besten Wegbereiter der Faszisten“ (Volksbote Nr. 70, 24. 3. 1923: 2). Dennoch musste der „Volksbote“ den Kommunisten durchaus Erfolge zugestehen, so hätten sie eine Anhängerschaft bei den Arbeitslosen erworben (Volksbote Nr. 77, 4. 4. 1923: 3). Die Kommunisten störten auch mehrfach SPD- und Gewerkschaftsversammlungen (so Beil. zu Volksbote Nr. 83, 11. 4. 1923: 1; Nr. 133, 12. 6. 1923: 3). Die Zeitung sah Ähnlichkeiten von links und rechts: Hakenkreuz und Sowjetstern sind die Symbole für ein und dieselbe Geisteseinstellung: die rücksichtslose Anbetung der Gewalt und der Macht im politischen Leben. Kein Wunder also, wenn diese beiden Pole, die aus den entgegengesetzten Extremen kommen, immer mehr zueinander hinstreben. (Volksbote Nr. 99, 29. 4. 1923: 2)
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik
Große Hoffnungen setzte der „Volksbote“ in die Gründung der Sozialistischen Arbeiterinternationale in Hamburg, die eine demokratische Alternative zur Kommunistischen Internationale sein sollte (Volksbote Nr. 115, 20. 5. 1923: 1 f.; Nr. 116, 23. 5. 1923. 1 f ), denn „so trost- und hoffnungslos wie die Lage der Arbeiterschaft in Sowjetrußland ist, ist sie in keinem der kapitalistischen Staaten“ (Beil. zu Volksbote Nr. 116, 23. 5. 1923: 2): Das sozialistisch denkende Proletariat hat sich zu einer neuen und hoffentlich festen Aktionsgemeinschaft zusammengeschlossen, gegenüber Kapitalismus und Imperialismus. Den bürgerlichen Knechten des Kapitals ist dadurch ein Damm aufgerichtet worden, den sie so leicht nicht werden niederreißen können. (Volksbote Nr. 119, 26. 5. 1923: 1)
Das Konzept einer „Einheitsfront“ der Arbeiter, wie sie die Moskauer Internationale forderte, wurde zurückgewiesen. Wie bereits der USPD geschehen, solle auch die SPD letztlich zerstört werden: Die Spaltung der Sozialdemokratie soll das Ergebnis der Einheitsfront werden. Deutlicher kann wohl nicht ausgesprochen werden, daß die „Einheits“-Taktik der Kommunisten nur den Zweck verfolgt, die Sozialdemokratie von innen zu zermürben, ihrer Führer zu berauben und die Arbeiter zur willenlosen Gefolgschaft der kommunistischen Drahtzieher zu machen. Daß die Folge die völlige Ohnmacht der deutschen Arbeiter gegen politische Reaktion und wirtschaftliche Ausbeutung wäre, das wird natürlich verschwiegen. Wie würden die deutschen Faszisten und Kapitalgewaltigen sich ins Fäustchen lachen, wenn es den verblendeten Kommunisten gelänge, ihre rein parteiagitatorischen Pläne zu verwirklichen. (Volksbote Nr. 160, 13. 7. 1923: 2) Die Kommunisten wissen die Indifferenten in ihr Garn zu locken. Sie denken nicht daran, in sachlicher Weise die wahren Ursachen unserer traurigen Wirtschaftszustände in den Versammlungen zu diskutieren. Es kommt ihnen lediglich darauf an, diejenigen Sozialdemokraten, die im Vordergrunde des öffentlichen Lebens stehen und deshalb selbstverständlich eng mit zahlreichen politischen Faktoren verknüpft sind, in den Kot zu zerren. (Beil. zu Volksbote Nr. 178, 3. 8. 1923: 1)
Nach einem erfolglosen Generalstreik der Kommunisten schrieb der „Volksbote“: Das Gemeinste an der ganzen kommunistischen Aktion aber war, daß sie gegen die eigenen Klassengenossen durchgeführt wurde nach dem Grundsatz: „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlage ich dir den Schädel ein!“ Mit dem schlimmsten Terrorismus ging man gegen andersdenkende Arbeiter in den Betrieben vor. Die Macher begnügten sich nicht nur mit Drohungen und Anpöbeleien, sondern gingen auch vielfach zu Tätlichkeiten über. (Volksbote Nr. 193, 21. 8. 1923: 2
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Zwei Mitglieder der SPD wurden wegen Zusammenarbeit mit der KPD ausgeschlossen (Beil. zu Volksbote Nr. 223, 26. 9. 1923: 1). Der Herbst 1923 sah dann den Hamburger Aufstand der KPD und die Reichsexekutionen gegen Sachsen und Thüringen, wo die KPD an den Landesregierungen beteiligt war. Im Jahresrückblick zeigte sich der „Volksbote“ ernüchtert und forderte größeren politischen Kampf: Das Jahr 1923 ist sehr reich an Ereignissen gewesen. Betrachtet man die Vorgänge im einzelnen, so muß leider festgestellt werden, daß sie sämtlich das Zeichen des politischen Rückschritts an der Stirn tragen. […] Die bürgerlichen Parteien haben es ausgezeichnet verstanden, die Gutgläubigkeit der Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion sich zunutze zu machen. Dadurch, daß sich das deutsche Parlament selbst ausgeschaltet hat, wurde den Besitzenden die Möglichkeit gegeben, an Stelle der demokratischen Volksregierung eine Diktatur des Kapitals aufzurichten. […] Wir dürfen vor allem nicht vergessen, daß die durch den verheerenden Krieg hervorgerufene Revolution noch längst nicht abgeschlossen ist. […] Deshalb muß die Arbeiterklasse mehr auf dem Posten sein. Sie muß wieder aktiver als im letzten Jahre an den politischen Geschehnissen im Staatsleben Anteil und damit am Klassenkampf selbst interessierter teilnehmen. (Volksbote Nr. 1, 1. 1. 1924: 1)
VI.5 Reichspräsidentenwahl 1925 Nach dem frühen Tod des Reichspräsidenten Friedrich Ebert 1925 stand die junge Republik mit der Neuwahl vor einer Richtungsentscheidung. Durch die starke Stellung des Staatsoberhaupts in der Weimarer Reichsverfassung hing viel von der Person ab, die d ieses Amt bekleidete. Die Linke befürchtete die Wiederherstellung der Monarchie, wenn ein Kandi dat der Rechten siegen würde. Gegen den bürgerlichen Anwärter Karl Jarres (1874 – 1951, DVP ) brachte der „Volksbote“ vor: Für einen Kaiser an der Spitze des Staates ist in Deutschland kein Platz mehr. Ja selbst ein parteiamtlich abgestempelter Deutschnationaler darf es nicht einmal wagen, sich um das Amt des Reichspräsidenten zu bewerben. Das wissen die Kreise ganz genau von denen die Schlammflut der Verleumdungen und aller Niedertracht ausgeht. Und so versuchen sie denn ihr Ziel zu erreichen mit Herrn Jarres, dem nachgewiesen ist, daß gerade ihm die wertvollsten Eigenschaften des bisherigen Reichspräsidenten vollständig fehlen. Die große Masse des deutschen Volkes, die Friedrich Ebert persönlich und im Geist das letzte Geleit gegeben hat, kann unmöglich wollen, daß die Republik in Hände hineinkommt, die mit diesem kostbaren Gut nichts anderes machen wollen, wie ein verwahrloster Sohn mit dem Vermögen seines verstorbenen Vaters. (Volksbote Nr. 70, 24. 3. 1925: 1)
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik
Weiter hieß es: Wenn die Rechte in diesen Tagen so eifrig bestrebt ist, einen der ihrigen an die Spitze der Deutschen Republik zu bringen, so geschieht das vor allem, weil sie so eine Machtposition mehr zu erringen hofft zur Bekämpfung der Deutschen Republik. Von innen heraus soll unsere Verfassung unterhöhlt werden. Der Präsident der Rechtsparteien soll die höchste Stelle im Reich einnehmen, als Statthalter einer Monarchie, die kommen wird, wenn sich die Rechten stark genug dazu fühlen. (Beil. zu Volksbote Nr. 70, 24. 3. 1925: 1)
Für die Sozialdemokratie trat Otto Braun an. Wer soll an die Spitze der deutschen Republik? Ein Jarres oder ein Otto Braun? Soll die deutsche Republik ihren eigenen Totengräber wählen oder den Mann, der schon im preußischen Dreiklassenhaus, in der Zitadelle der Knechtschaft, für die Volksrechte, für ein freies Deutschland kämpfte? […] Und Otto Braun? Er ist der getreue Eckardt der kleinen Leute, die das wilde Heer der großen Geier und Werwölfe drangsaliert und peinigt. Der Mann der Arbeiter, Angestellten und Beamten, der Arbeitnehmer aller Art, der Freund der kleinen Bauern, der geborene Volksmann. […] Wer ist Dr. Jarres? Er ist die Maske für die Habsucht der Besitzenden, er ist der schwarz-weiß-rote Deckmantel für die organisierte Korruption, für die Korruption en masse, für die systematische, methodische, traditionelle Vettern- und Basenwirtschaft z wischen Plutokraten und hohen Bureaukraten. (Volksbote Nr. 75, 29. 3. 1925: 1)
Im ersten Wahlgang lag in Pommern dennoch Jarres vorn. Er bekam in der Provinz 528.883 Stimmen, Otto Braun 214.393, der Kandidat der Kommunisten, Ernst Thälmann 33.416 (Hellpach [DDP] 26.753, Marx [Zentrum] 10.924). Etwas besser sah es in Stettin aus: Hier stimmten für Braun 45.020 Wählerinnen und Wähler, auch hier siegte jedoch Jarres mit 62.131 Stimmen (Thälmann 9.132, Hellpach 5.820, Marx 2.505) (Volksbote Nr. 76, 31. 3. 1925: 1). Der Wahlkampf wurde mit aller Härte geführt. Publizistischer Gegner des „Volksboten“ waren vor allem die Deutschnationalen und ihre örtliche Zeitung: Und wie haben die Gegner von rechts und links gearbeitet? Es gab einfach keine Gemeinheit mehr gegen die Sozialdemokratie, die durch eine größere noch hätte überboten werden können. Das ordinärste Papier bei uns in Pommern ist die „Pommersche Tagespost“. […] Hätten wir gegen die Rinnsteinprodukte aus der Elisabethstraße auch nur annähernd Gleichartiges unternehmen wollen, dann wäre nur das Mittel geblieben, dem Schmock die dampfenden Exkremente eines Tieres mit zwei Hörnern in das Gesicht zu werfen. (Volksbote Nr. 76, 31. 3. 1925: 1)
Im zweiten Wahlgang gelang der Rechten der Coup, den Feldmarschall Paul von Hindenburg (1847 – 1934) aufzustellen, der in bürgerlichen Kreisen wegen seiner Rolle im E rsten Weltkrieg beliebt war. Gegen Hindenburg machte der „Volksbote“ das hohe Alter und die militaristische Prägung geltend:
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Großpapa Hindenburg, ein Greis von 78 Jahren wird von dem sogenannten Rechtsblock zum Kandidaten für den Posten des Reichspräsidenten erkoren, und wenn es nach den Wünschen seiner Hintermänner geht, Nachfolger eines Friedrich Ebert werden. […] H indenburg ist ein alter Kriegsmann, d. h. er selbst ist ja kein Krieger mehr, denn er ist längst abgekämpft. Aber er vertritt mit seiner Person die alten Kriegsparteien mit ihrem Geschrei nach neuem Kriege; Hindenburg vertritt das militaristische Deutschland. […] Die einzige „politische“ Ader des alten Soldaten besteht in dem von der Kadettenanstalt anerzogenen Subordinationsgeist, der vor drei Tagen den Feldmarschall gehorsamst in Doorn anfragen ließ, ob sein Kaiser ihm die Kandidatur zur republikanischen Präsidentschaft gestatte. Ein republikanischer Präsident, der sich als Untergebener des ehemaligen Kaisers fühlt! Tollere Ironie würde die Weltgeschichte niemals getrieben haben. (Volksbote Nr. 85, 10. 4. 1925: 1)
Die SPD zog Otto Braun als Kandidaten zurück und unterstützte Wilhelm Marx vom Zentrum. Der „Volksbote“ kritisierte das, entschied sich aber letztlich für die Parteidisziplin: Wir sind nicht der Meinung, daß unsere Parteiinstanzen gut beraten waren, als sie unseren Kandidaten zurückgezogen haben; wir bleiben bei unserer Ansicht, daß Otto Braun der geeignetste republikanische Kandidat für den Reichspräsidentenposten gewesen wäre. Ein Hindenburg darf am 26. April aber nie und nimmer siegen! Das wird verhindert, wenn alle Parteigenossen sich der alten und bewährten Parteidisziplin fügen und das durchführen, was die Mehrheit beschlossen hat. Die Mitteilungen aus zahlreichen Betrieben und die Zuschriften aus der Provinz zeugen davon, daß es den Parteigenossen gewiß nicht leicht werden wird, das Opfer an Ueberzeugung zu bringen, das jetzt von ihnen verlangt wird. Wir haben volles Verständnis dafür, weil wir uns in der gleichen Lage befinden wie sie. Jetzt handelt es sich aber darum die größte drohende Gefahr von uns abzuwenden. Ist das geschehen, dann kommt für uns die Zeit, wo wir unsere Rechnung zu präsentieren haben. Und die Zeit erfordert nicht Zersplitterung der Kräfte, sondern allergrößte Geschlossenheit. (Volksbote Nr. 86, 12. 4. 1925: 2)
Wilhelm Marx sprach im Wahlkampf in Stettin vor Tausenden Interessenten, begrüßt vom Reichsbanner und in Anwesenheit des Oberpräsidenten Lippmann, der sich am Schluss für die Rede bedankte. Marx positionierte sich entschieden für die Republik und ihre Freiheiten und sprach in der Turnhalle in der Grünstraße über die Religion – als Katholik im evangelischen Pommern in einer Zeit, wo die konfessionellen Gegensätze und Milieus stark ausgeprägt waren: Wir haben einen Weltkrieg verloren. Nicht die Revolution, sondern eben der verlorene Krieg ist schuld am Niedergange unseres Volkes. Für unsern Wiederaufstieg ist Reife im Innern das erste Erfordernis. […] Wir müssen uns aber auch peinlich hüten, diese Ordnung in den Augen des deutschen Volkes und des Auslandes als minderwertig herabzusetzen. Demokratie und Verfassung werden wir uns niemals nehmen lassen. […] Die Lockerung der Moral im privaten wie im öffentlichen Leben ist tief zu beklagen, sie ist eine der traurigen Folgen des
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik
unglückseligen Krieges, an deren Beseitigung wir alle, ohne Unterschied der Klasse oder des Standes ebenso mitarbeiten müssen, wie an dem wirtschaftlichen Wiederaufbau dessen, was durch den Krieg zerstört wurde. […] Wie sich der einzelne auch zu diesen letzten und tiefsten Fragen stellen mag, in dem einen Wunsch sollten wir uns alle finden: Daß die positiven religiösen Kräfte in unserem Volke auch nutzbar gemacht werden für den Wiederaufbau unseres Vaterlandes. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 89, 17. 4. 1925: 1)
Im Zuge des Wahlkampfs befasste sich der „Volksbote“ auch mit der Bedeutung Hindenburgs im Weltkrieg, der ein schlechter Militär gewesen sei und sich vor seiner Verantwortung drückte: Entweder ist der Marschall des großen Zusammenbruchs verantwortlich für den Berg voller Führersünden im Jahre des Unheils 1918 und mit seinem Kollegen Ludendorff für alle Zeiten gerichtet – oder er attestiert sich selber die „ehrwürdige Null“, zu der ihn seine Handlanger gestempelt haben! Ein Drittes gibt es nicht. […] Darum weg mit der Maske der Pietät und der Beräucherung vor dem Marschall Hindenburg! (Volksbote Nr. 90, 18. 4. 1925: 2) Als die großen Massen des Volkes vorn an der Front Leben und Gesundheit opferten, sprach er von der „Badekur“, die ihm so gut „bekommt“. Die Sicherung der Souveränität unseres Volkes nach außen bestand für ihn darin, „daß der Krieg hoffentlich so lange dauern wird, bis sich alles unserem Willen fügt“. […] Was hat er uns gebracht? Die große Niederlage: Waffenstillstand unter allen Umständen, telegraphierte er 1918 an die Reichsregierung. (Volksbote Nr. 92, 21. 4. 1925: 1)
Von Hindenburg gehe eine große Gefahr für den deutschen Staat aus: An die Spitze einer Republik werden aber nur die einen ausgesprochenen Monarchisten stellen wollen, die sie nicht retten, sondern zugrunde richten wollen. Wer die deutsche Republik zugrunde richtet, der richtet die deutsche Wirtschaft zugrunde, der zerstört die Einheit des deutschen Volkes, also gerade das, was die drei Verfassungsparteien [SPD, Zentrum, DDP – H. B.] seit 1918 von dem Bismarckschen Reiche noch gerettet haben. (1. Beil. zu Volksbote Nr. 93, 22. 4. 1925: 1)
Auch mit Gedichten wurde Hindenburg bekämpft, indem er als Marionette dargestellt wurde: Dich wird das Geschäft nicht weiter plagen, / Wenns zum Schein auch deinen Namen trägt. / Du hast nur zu allem „Ja“ zu sagen / Und zu zeichnen, was wir vorgelegt. (Mich. von Lindenhecken in 2. Beil. zu Volksbote Nr. 93, 22. 4. 1925: 1)
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Erich Weinert, der später Kommunist und Moskau-Exilant wurde, nahm den Umstand aufs Korn, dass Hindenburg damit kokettierte, nur Militaria zu lesen („Der Feld-, Waldund Wiesenwebel“): Wir machen die Sache mit Hindenburg. / Der Mann verstand noch, Kriege zu führen. / Der wird, als gelernter Staatschirurg, / Uns alle Beschwerden wegamputieren. / Das ist der Vertreter vom deutschen Wesen! / Der ist immun gegen geistiges Gift: / Der hat außer der Exerziervorschrift / Kein Buch gelesen. (Beil. zu Volksbote Nr. 94, 23. 4. 1925: 2)
Die Diskussion innerhalb der SPD, ob die Unterstützung des bürgerlichen Kandidaten Marx richtig sei, begleitete den Wahlkampf, wurde aber vom „Volksboten“ dahingehend geführt, dass es sich nun einmal um einen Parteibeschluss handele und um das Bekenntnis zur deutschen Republik: Nachdem die Mehrheit der dazu berufenen Parteifunktionäre in diesem Sinne ihre Entscheidung gefällt, gab es für die Gesamtpartei nur die eine Parole, den Beschluß im v ollsten Umfange durchzuführen. Denn wenn in außergewöhnlichen Situationen auch die Gewissens pflicht über der Parteidisziplin stehen kann, so gilt das doch nur für ganz exzeptionelle Fälle, wo es um Sein oder Nichtsein der Partei und des Sozialismus geht. In der Frage der Reichspräsidentschaft handelte es sich nur um eine taktische Meinungsverschiedenheit, wo der überstimmte Teil sich dem Willen der Mehrheit loyal zu fügen hatte. (Volksbote Nr. 96, 25. 4. 1925: 1) Dieses Wahlbündnis bedeutet für uns nicht die Aufgabe unserer Grundsätze oder des politischen Programms. Die Stimmabgabe für Marx bei der Reichspräsidentenwahl ist für die Sozialdemokratie lediglich Willensausdruck, die republikanische Staatsform, die Grundlage des Volksstaates, mit aller Macht zu schützen gegen die Angriffe der Monarchisten und Nationalisten. (Volksbote Nr. 97, 26. 4. 1925: 1)
Über den kommunistischen Kandidaten hieß es in einem Aufruf an Arbeiter: „Wer älmann wählt, wählt Hindenburg!“ (Volksbote Nr. 92, 21. 4. 1925: 3). So kam es auch. Th Im zweiten Wahlgang erhielt in Pommern Hindenburg 658.415, Marx 225.872, Thälmann 42.383 Stimmen (Stettin: Hindenburg 81.517, Marx 43.690, Thälmann 10.329). Hätten reichsweit die kommunistischen Wähler für Marx gestimmt, wäre ein Präsident Hindenburg verhindert worden.4 Der „Volksbote“ nahm das Ergebnis zum Anlass, Kritik an der Partei führung zu üben, und äußerte die Hoffnung, dass künftige Wahlen besser ausgehen: 4 Selbst die offizielle Geschichtsschreibung der DDR sah das Verhalten der KPD in d iesem Wahlkampf kritisch: „Trotz der Empfehlungen des Präsidiums des EKKI [Exekutivkomitee der Komintern – H. B.] weigerten sich die Ultralinken an die Führung der SPD und des ADGB mit dem Angebot heranzutreten, einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen, obwohl sich
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Abb. 20: Nach den Wahlen zum Reichspräsidenten 1925. Volksbote Nr. 98, 28. 4. 1925: 3. Quelle: Haus Stettin, Lübeck. Verleumdung und Dummheit haben nun doch erreicht, was sie sich zum Ziel gesetzt hatten: Der olle klapperige Opapa Hindenburg wird auf den Reichspräsidentenstuhl geschleift. […] Jetzt zeigt es sich doch mit aller Klarheit, daß die Sonderkandidatur Thälmann nur Hindenburg den Sieg gesichert hat. Wäre nur die Hälfte der kommunistischen Stimmen auf Marx entfallen, dann hätte Hindenburg nicht sein zweites Tannenberg, wohl aber seine zweite Marne schlacht erlebt. Schließlich wollen wir uns auch eingestehen, daß der Kandidat Marx wie auch die Bündnispolitik mit Zentrum und Demokraten für uns als Partei eine sehr starke Belastung gewesen ist. In dem protestantischen Pommern z. B. ist es unmöglich, den Sieg eines ausgesprochenen Katholiken zu bewerkstelligen. […] Dann aber haben viele brave und tüchtige Parteigenossen den Beschluß unserer Partei einfach nicht überwinden können. Was zu viel ist, ist zu viel, und das muß nunmehr endlich auch unsere Parteileitung einsehen. […] Das deutsche Volk hat seine Reifeprüfung diesmal nicht bestanden. Das zweite Mal wird das deutsche Volk seine politische Reifeprüfung bestehen. (Volksbote Nr. 98, 28. 4. 1925: 1)
Die Befürchtungen Hindenburg betreffend, den man noch 1932 gegen Hitler unterstützte, traten 1933 ein. Theodor Lessing schrieb hellsichtig 1925 (23): „Man kann sagen: ,Besser ein
ein solcher Vorschlag auf die starke antimonarchistische und republikanische Bewegung in der Arbeiterklasse hätte stützen können“ (Ulbricht 1966, Bd. 4: 76).
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Zero als ein Nero‘. Leider zeigt die Geschichte, daß hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht.“ Grafisch brachte der „Volksbote“ die antirepublikanische Fronde zum Ausdruck, indem er Hindenburg und Thälmann als zusammengehörend darstellte. Allerdings war der Stettiner „Volksbote“ im Krieg ehrfürchtig mit Hindenburg umgegangen. Im Stadt- und Provinzteil war ein Artikel zum 70. Geburtstag erschienen. Was „der deutsche Nationalheld“ Hindenburg „geleistet hat, das wird man erst nach dem Kriege voll würdigen können“; Freilich hätte Hindenburg seine Erfolge nicht erzielen können, wenn das deutsche Volk nicht so überaus tüchtig wäre, wenn die Masse des Volks, geistig gehoben durch die Sozialdemokratie, nicht das Soldatenmaterial geliefert hätte, durch w elche auch die Uebermacht bezwungen werden konnte. (Volksbote Nr. 229, 2. 10. 1917: 2)
Dies aber unter den Bedingungen der Militärzensur, die für den „Volksboten“ scharf ausgefallen war. Den Geburtstag 1927 mochte das Blatt nicht feiern: Der Reichspräsident werde von einseitigen Interessen beeinflusst, „die alte wilhelminische Maskerade“ ziehe wieder auf, „alle republikfeindlichen Organisationen bilden vor Herrn Hindenburg Spalier“, man müsse stattdessen aufklären, um die republikanische Staatsform zu sichern und auszubauen (Volksbote Nr. 231, 2. 10. 1927: 1).
VI.6 Gegen Hitler Die politische Isolierung der SPD abwägend, sah die sozialdemokratische Parteiführung in der Extremsituation der beginnenden dreißiger Jahre keine Handlungsalternative zur Tolerierung. Ihre Lageanalyse ging davon aus, daß die SPD weder im Bürgertum, wo antisozialistische Ressentiments vorherrschten, noch beim Kommunismus, der die SPD als sozialfaschistische Hilfstruppe des Kapitals bekämpfte, Bundesgenossen für die Verteidigung der Demokratie finden werde. (Schönhoven 1989: 149)
Die Sozialdemokraten waren 1930 in einer unbequemen Lage, sie mussten Realpolitik zugunsten der Republik betreiben, ohne dafür genügend Verbündete gewinnen zu können. Zur Tolerierungspolitik der SPD gegenüber der Reichsregierung Heinrich Brüning (Zentrum, nach dem Bruch der Großen Koalition), die sich als Präsidialkabinett zunehmend auf Notverordnungen des Reichspräsidenten stützte, schreibt Pyta (1989: 214): Als Oppositionspartei bewies sie ein geradezu beispielhaftes Maß an Verantwortungsbewußtsein für die Erhaltung des demokratischen Verfassungsstaates. Die Tragik ihres Verhaltens lag darin, daß sie mit ihrer Politik zwar den Angriff der radikalen Systemgegner einige Zeit abwehren konnte, aber dabei eine Regierung unterstützte, die immer stärker auf Distanz zur
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parlamentarisch-demokratischen Form des Verfassungsstaates ging. Insofern war die Sozialdemokratie als Opposition wesentlich systemloyaler als die Regierung.
Die Republik war zwar nicht das Marx’sche „Reich der Freiheit“ ohne Arbeit aus Not und Zwang, aber doch ein humaner Fortschritt. Für Sozialdemokraten heiligt nicht der Zweck die Mittel, das vermeintliche sowjetische Vorbild schied bei Kenntnis der dortigen Zustände aus: Aber die bolschewistischen Diktatoren vertragen nicht einmal die mindeste Selbständigkeit in den Reihen dieser Elite. […] Die völlige Versklavung und Korrumpierung des Proletariats und seiner Freunde und die unumschränkte Alleinherrschaft der politischen Polizei im Sowjetstaat, das ist das Endziel des Kommunismus. Und das sollen wir mit ihm gemein haben? (Kautsky 1981 [1928]: 135 f.)
Für die sozialdemokratische Presse bedeutete die wachsende Gefahr von links und rechts, dass die inhaltlichen und gestalterischen Modernisierungen zugunsten einer (sachlich begründeten) Dauerkampagne zurücktraten. Auch für den Stettiner „Volksboten“ trifft diese Einschätzung zu: Der Kampf gegen den Nationalsozialismus, den die SPD seit den Septemberwahlen von 1930 mit ständig zunehmender Schärfe zu führen gezwungen war, verwandelte das Gesicht aller Blätter oft so sehr, daß die nach dem Weltkrieg einsetzende Entwicklung praktisch rückgängig gemacht wurde. Die Presse der Sozialdemokratie hatte in den letzten beiden Jahren der Republik vornehmlich eine Aufgabe: Vorbereiterin der zahllosen Wahlschlachten zu sein. Aufrufe und Parolen bestimmten das Bild der Zeitungen. Berichte von Überfällen und blutigen Schlägereien überwogen. (Koszyk 1972: 314)
Hitler war seit 1923 politisch bekannt. Sein erster Versuch, an die Macht zu gelangen, wurde auch an der Oder wahrgenommen. Über den Prozess gegen Hitler und Ludendorff wegen des Putschversuches vom 9. November 1923 in München wurde im „Volksboten“ groß berichtet (so bspw. ganzseitig in Beil. zu Nr. 50, 28. 2. 1924: 2 f., Beil. zu Nr. 51, 29. 2. 1924: 3 f., 2. Beil. zu Nr. 52, 1. 3. 1924: 1; Aufmacher in Nr. 53, 2. 3. 1924: 1 „Ludendorff will es wieder nicht gewesen sein“). Über Hitler hieß es: Mag der Architekturzeichner Hitler, dessen politischer Bau ein Kartenhaus war, noch so sehr Psychopath sein, mag er lügenhaft und aufschneiderisch im Theaterton reden, daß er die Wahrheit spricht, wenn er die Kahr, Lossow und wie sie alle heißen, als seine getreuen Brüder im Hochverrat bezeichnet, das bestätigen alle Tatsachen. Und er hat jedenfalls das noch für sich, wie er auch sonst sein mag, daß er ehrlicher gehandelt hat, wenn auch dümmer, als die anderen Rebellen, die etwas vorsichtiger als er selbst, sich Rückversicherungen schafften. Das Satirspiel wird sich in München abwickeln, sicher zum Teil hinter v erschlossenen
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Türen, und wird – das ist zu erwarten – seine Krönung finden in dem Urteilsspruch, der zu gegebener Zeit zur Debatte stehen wird. (Volksbote Nr. 51, 29. 2. 1924: 1)
Große Hoffnungen verband der „Volksbote“ mit dem Prozess also nicht. Wie die Persönlichkeit journalistisch eingeschätzt wurde, ist hier vorgezeichnet. In den 1920er Jahren betonte die SPD „die Lächerlichkeit dieser komischen Polit-Größe“ (Pyta 1989: 33). Der Nationalsozialismus würde sich wegen seiner Heterogenität von selbst erledigen (Pyta 1989: 140 f.), seine Vertreter seien Kriminelle und Gesindel (Pyta 1989: 146 f ). Zur „deutschvölkischen Bewegung“ schrieb der Stettiner „Volksbote“ (Nr. 49, 27. 2. 1924: 1 f.), sie und ihr Vorbild Mussolini nicht besonders ernst nehmend: Die völkische Bewegung hat auch in Deutschland ihren Siegeszug begonnen. Gestern noch nichts, heute viel, und morgen? Wird das deutsche Bürgertum das Beispiel nachahmen und sich mit Haut und Haaren dem Faszismus verschreiben? Ganz so merkwürdig wäre es nicht. Das deutsche Bürgertum hat bisher noch alle seine geistigen und ungeistigen Strömungen vom Ausland geborgt. Es sparte damit eigenes Nachdenken; etwas Alkoholdunst taufte die Geschichte einfach um zu edelstem deutschen Gewächs. Betrachtet die Geschichte des italie nischen Faszismus: Sein Aufspringen, sein Ueberschäumen und sein eigenartiges Verebben. Und ihr habt die völlige Naturgeschichte der deutschvölkischen Bewegung; und auch seine nähere Zukunft ist damit vorgezeichnet.
Im selben Artikel wird der Niedergang des italienischen Faschismus beschrieben, in Deutschland werde der Verlauf ähnlich sein. Das leichtgläubige Bürgertum werde durch das Scheitern seiner völkischen Versuchung der Arbeiterschaft den Weg bahnen: Also, der Faszismus lebt. Denn noch sind seine Hauptmerkmale für halbblinde Augen vorhanden: Lyrik, Gewalt und geistige Verwirrung! Im übrigen aber ist der Faszismus tot, er ist eines natürlichen Todes gestorben. […] Geschichte und Schicksal der völkischen Bewegung in Deutschland liegen im italienischen Beispiel vor aller Augen offen. Eine durch Krieg, Orden, Schlagworte, Offiziersabzeichen in Besitz oder Hoffnung völlig verwirrte und jeder Geistigkeit verschlossene Jugend ist der Mutterboden. Aufgewachsen ist diese Jugend auch nach dem Kriege noch im entnervenden Klima des machtpolitischen Größenwahns der Mehrzahl unserer Professoren und Oberlehrer. Sie bringt deshalb die geistige Energie nicht auf, die Tatsache des deutschen Niederbruchs anzuerkennen und geistig zu verarbeiten. Es ist ja so schön und giftig-süß, mit geschlossenen Augen an den Tatsachen vorbeizugehen und weiterzuträumen von der Weltmacht Deutschland, von dem herrlichen Kaisertum, von deutscher Ueberlegenheit. […] Die Militaristen wollen sich wieder Anhang im Volke schaffen, um ihre alten Pläne wieder aufzunehmen. Sie versprechen deshalb diesem Volk alles was es gerne hört. Und die unpolitische Jugend, besonders aus dem Stehkragenproletariat, und das unpolitische Alter, besonders von der Biertischuniversität, sind gläubig. Das deutsche Volk war ja immer gläubig. Es glaubte Wilhelm, es glaubte
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik
Ludendorff und Helfferich 5, und heute glaubt es Hitler und Graefe 6. […] Denn wie haben die bürgerlichen Parteien der völkischen Geistesverwirrung vorgearbeitet! Hetze und Lüge in Schlagwortform: Gegen den Marxismus, gegen die sozialdemokratische Mißwirtschaft, gegen die Juden! Dazu ein ganz sinnloser Illusionsnationalismus! Gegen den Parlamentarismus! Die Völkischen nahmen diese Schlagworte auf, übertrieben sie, und die Stimmung des Bürgertums flog naturgemäß ihnen zu. […] Die bürgerliche Politik wird voraussichtlich am völkischen Schlagwort scheitern. Die Arbeiterschaft aber wird über kurz oder lang diesem Schlagwort das Ende bereiten.
Gegen die nationalsozialistische Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas versuchte der „Volksbote“, polemisch aufzuklären. Zahlreich sind die Artikel, die die Missstände innerhalb der NSDAP aufdecken und verurteilen und das braune Weltanschauungsamalgam entlarven. So waren die Zustände der „Bewegung“ in Pommern besonders chaotisch, sodass die Zeitung schrieb: „Zur Zeit ist der Stettiner Nazihaufen ohne Führung und man sucht nach einem geeigneten Häuptling, der den Nazis etwas weniger Geld kostet, als der größte Teil seiner Vorgänger“ (Volksbote Nr. 1, 1. 1. 1931: 2). Wenn der kleine Hitlermann glaube, die NSDAP werde einen nationalen Sozialismus einführen, so würden ihm vor Enttäuschung die Augen übergehen, denn „nach dem bisherigen Verhalten der Nazis dürfte kaum ein Zweifel daran bestehen, daß sie sich mit Haut und Haaren dem Großkapitalismus verschreiben, soweit es noch nicht geschehen ist“ (Volksbote Nr. 1, 1. 1. 1931: 2). Angesichts der heraufziehenden Diktatur wurde die SPD von allen Seiten bekämpft. Das Bürgertum derweil rückte nach rechts. Zeitgenosse Theodor Geiger konstatierte eine „Zone der ideologischen Verwirrung“, eine „Panik im Mittelstand“ (Geiger 1930). Hitler konnte für seine Auftritte Eintritt nehmen. Am 2. März 1932 besuchte er Stettin (dazu Bader 2007c). Die bürgerliche „Stettiner Abendpost“, eigentlich eher Hindenburg zugeneigt, schrieb (Nr. 53, 3. 3. 1932: 3): Die Hitler-Kundgebung der NSDAP. hatte gestern viele Tausende zu den Messehallen hinausgelockt, Tausende, die nicht nur aus Stettin, sondern von weither aus den entlegensten Gebieten der Provinz herbeigeströmt waren. Schon am frühen Nachmittag setzte mit Auto und Straßenbahn die Massenwanderung nach Nemitz ein und schon um 18 Uhr, zwei Stunden vor der als Beginn der Versammlung festgesetzten Zeit waren die Messehallen fast voll besetzt; nur noch einzelne Nachzügler trafen zur festgesetzten Zeit um 20 Uhr ein. Aber auch sie mußten noch lange warten. […] Mit Marschmusik wurde der Menge die Wartezeit in den kalten Hallen verkürzt.
5 Karl Helfferich (1872 – 1924) verantwortete im Weltkrieg die Anleihen, eine der Ursachen der Inflation von 1923, in der Weimarer Republik gehörte er zum rechten Flügel der Deutsch nationalen. 6 Albrecht von Graefe (1868 – 1933), im Kaiserreich deutschkonservativ, später DNVP, dann Vorsitzender der Deutschvölkischen Freiheitspartei, am Putschversuch vom 9. 11. 1923 beteiligt.
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Der „Volksbote“ bemühte sich, die Sogwirkung zu bestreiten, und machte sich über Ablauf und Inhalt der Veranstaltung lustig („Eisbeine mit Blumenkohl“, Nr. 54, 4. 3. 1932, 1. Beil.: 1): Eines steht fest: mit dem Hitlerrummel, den die Nazis gestern in Stettin inszenierten, haben sie ein glänzendes Geschäft gemacht. Und das war wohl der Zweck der Uebung. Man hatte auf die Sensationslust der Bourgeoisie spekuliert und sich nicht verrechnet: um den obersten Naziführer einmal persönlich in Augenschein nehmen zu können, ließen sich die, die nicht alle werden und es sich leisten können, 3, 5 und sogar 10 M. abknöpfen. […] So ziemlich alles, was Hitler sagte, war ein wüstes zusammenhangloses Geschimpf auf – die Republik, auf die selbe Republik, der er dieser Tage erst als braunschweigischer „Regierungsrat“ feierlich einen heiligen Eid geleistet hat!7
Aus heutiger Sicht erreichte dieser Artikel wohl nur Überzeugte. „Hitler gelang es, an die Macht zu kommen, weil seine demokratischen Gegner bis zuletzt das Wesen seiner Bewegung verkannten“ (Koszyk 1972: 347). Das Bürgertum ließ sich davon kaum beeindrucken, sich Wohlstand und Freizeitverhalten vorwerfen zu lassen, Vernunft und Logik zudem waren längst durch Effekte und Stimmungen abgelöst. Den Eindruck der Besucher wird die rechte „Pommersche Tagespost“ besser wiedergegeben haben (Nr. 53, 3. 3. 1932: 1): Ein besonderes Ereignis für Stettin war die gestrige Hitlerversammlung. Die Plätze für die Messehallen waren schon seit Tagen ausverkauft. Natürlich waren Nationalsozialisten aus der ganzen Provinz aus diesem Anlaß nach Stettin geströmt. […] Als aber Hitler auf dem Podium erschien, tönten von allen Seiten die Heilrufe, die zu einer minutenlangen Ovation wurden, als Hitler am Rednertisch erschien.
Die SPD, die aus einer rationalen Philosophie und Gesellschaftstheorie hervorgegangen war und seit 1918 in der politischen Mitverantwortung stand, konnte das Phänomen einer absichtlich irrationalen Partei nicht recht fassen. Zudem verhinderte die sozialistische Vision eine Einbindung des Mittelstands, weil dieser aus ökomischen Gründen notwendig zugrunde gehen müsste. Die Sozialdemokratie war bis zu ihrem Untergang 1933 nicht in der Lage, die gewaltige Integrationsfähigkeit der populistischen NSDAP richtig einzuschätzen. […] Als die Sozialdemokratie ihrer wichtigsten Waffe im Kampf gegen die NSDAP – des Rückhalts im Staatsapparat – von den Protagonisten des Obrigkeitsstaates beraubt worden war, konnte sie nur noch hilflos mit ansehen, wie diese ein Zweckbündnis mit Hitler eingingen und ihm damit
7 Der seit 1924 staatenlose Hitler war von der NSDAP-Regierung des Freistaats Braunschweig verbeamtet worden, wodurch er eingebürgert wurde, was ihm die Kandidatur gegen Reichspräsident Hindenburg ermöglichte.
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an die Macht verhalfen. (Pyta 1989: 519; er hat für seine Untersuchung u. a. auch den Stettiner „Volksboten“ 1932/33 ausgewertet)
Die Niederlage der NSDAP bei der Reichspräsidentenwahl 1932 und der Stimmenrückgang bei den Reichstagswahlen vom 6. November 1932 weckte bei der SPD die Hoffnung „auf den schon längst fälligen psychologischen Einbruch bei der NS-Wählerschaft“ (Pyta 1989: 185). Ein Zusammengehen der alten Reaktion mit der Hitlerbewegung in einer Regierung wurde von der Sozialdemokratie als unwahrscheinlich gesehen, „denn mit der Bereitschaft zum politischen Selbstmord konnte sie bei der autoritären Rechten nun wirklich nicht rechnen“ (Pyta 1989: 191). Das Klassendenken der SPD in marxistischer Tradition, das Bekenntnis zur parlamentarischen Arbeit und „das Vertrauen darauf, daß das Vernünftige im Menschen vorherrsche“ führten zu einer Bagatellisierung des Nationalsozialismus insbesondere bei dessen Rassismus und Ostexpansionsgelüsten (Pyta 1989: 197). 1932 wurden die Pommern fünfmal an die Wahlurnen gerufen. Es fanden statt: Zwei Wahlgänge für das Amt des Reichspräsidenten, die Wahl zum preußischen Landtag und zwei Wahlen zum Reichstag. In Stettin erhielt Hindenburg, den die SPD mittrug, mehr Stimmen als Hitler, in ganz Pommern lag Hitler vorn (in beiden Wahlgängen). Mit der Niederlage Hitlers, der sich bereits als neuen Reichspräsidenten gesehen hatte, keimte im „Volksboten“ neue Hoffnung: Gemessen an der Großmäuligkeit, mit der die Nazis aufgetreten sind, bedeutet der Ausgang dieser Wahl eine eklatante Niederlage. Diese Wahl hat gezeigt, daß sie nicht das deutsche Volk repräsentieren, daß vielmehr das Volk klar und bewußt gegen sie entschieden hat. […] Eine erste Schlacht gegen den Faschismus ist geschlagen. (Volksbote Nr. 63, 15. 3. 1932: 1)
Die SPD-Zeitung warf vor allem den kommunistischen Wählern vor, aufgrund der Moskauer Vorgaben den Nationalsozialisten zu helfen, weil diese als ein Übergangsstadium vor dem Kommunismus betrachtet würden: Der irrsinnige Glaube, daß nach der Machtergreifung des Faschismus die Stunde des Bolschewismus gekommen sei, hat dazu geführt, daß in den Kreisen der kommunistischen Arbeiter, in die man diese Gedanken hineingetragen hat, der wahnsinnige Gedanke entstehen konnte, daß es am besten sei, gleich für Hitler zu stimmen, um ihn desto sicherer gegen die demokratischen Kräfte in Deutschland an die Macht zu bringen. (Volksbote Nr. 85, 12. 4. 1932: 1)
Über das vermeintliche „Arbeiter- und Bauernparadies“ im Osten war die sozialdemokratische Presse gut informiert. Sie lehnte daher sowohl eine rechte als auch eine linke Diktatur ab: Kein erfahrener Arbeiter glaubt den Nazis, daß eine faschistische Diktatur bessere Zeiten bringen würde, jeder weiß, daß dann die Not und das Elend erst recht angehen würde. Aber
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wie ist es mit den kommunistischen Rezepten? Die Kommunisten empfehlen die Rezepte Stalins. Wir danken für diese Rezepte! Die Not in Rußland ist noch größer als in Deutschland. (Volksbote Nr. 58, 8. 3. 1932: 3)
Auch die kommunistischen Verbrechen waren bekannt: Es folgten die Bauernverfolgungen durch Stalin, die physische Ausrottung der sogenannten Kulaken, die Massenverbannungen, das Wüten des roten Terrors im Dorfe. Viele Millionen hat der nicht endende Bürgerkrieg seitdem aufs neue gefordert! […] Der Bolschewismus ist ebenso mörderischer Wahnwitz wie der Faschismus! Es gilt, beide zu schlagen! (Volksbote Nr. 92, 20. 4. 1932: 2)
Dass, wie Teile des deutschen Bürgertums und reaktionäre Politiker glaubten, die Nationalsozialisten durch Einbindung gemäßigt werden würden, hielt die Zeitung für eine Illusion. Einmal an der Macht, würden diese kriminellen Elemente ihre Brutalität in die Tat umsetzen. So deckte der „Volksbote“ (Nr. 59, 10. 3. 1932: 1) „Das Röhmische System“ auf. Die SA, von einem übergriffigen Homosexuellen geführt, bereite sich auf eine Gewaltorgie vor: „Wir würden uns mit Röhms Neigungen nicht mit einem Worte befassen, wenn er ein Privatmann wäre. Aber Herr Röhm ist der Chef einer Bürgerkriegsarmee, die im Namen Hitlers das ,Köpferollen‘ und Aufhängen besorgen soll.“ Die Wahlen zum preußischen Landtag entzogen der sozialdemokratischen Regierung Braun (der mit Zentrum und DDP regiert hatte) die parlamentarische Mehrheit. Dem Ausgang in Pommern gewann der „Volksbote“ etwas ab: Bei der neuen Verschiebung des Kräfteverhältnisses in Preußen, bei der katastrophalen Zerschlagung der Mittelparteien, dem dadurch bedingen Anschwellen der faschistischen Welle und dem leichten Verlust der Sozialdemokraten bedarf es einer besonderen Würdigung, daß die Sozialdemokratische Partei sich gerade im reaktionären Pommern hervorragend geschlagen hat. […] Damit hat Pommern also in dem aufreibenden, mit ungleichen Kräften gegen eine Uebermacht von Feinden geführten Kampfe seine Pflicht erfüllt. (2. Beil. zu Volksbote Nr. 97, 26. 4. 1932: 1)
Braun blieb, während NSDAP und KPD eine negative Mehrheit hatten, geschäftsführend im Amt. Er wurde vom neuen autoritären Reichskanzler Franz von Papen, „ein ausgesprochener Reaktionär, ein Feind der Gewerkschaften und insbesondere der Sozialdemokratie“ (Volksbote Nr. 127, 2. 6. 1932: 18) abgesetzt, wogegen sich die SPD aus Sorge vor einem Bürgerkrieg nur juristisch wehrte. „Der Putsch in Preußen läutete das Ende der Weimarer 8 Dem Pariser „Populaire“ entnahm der „Volksbote“ eine Charakterisierung d ieses Kabinetts als Steigbügelhalter Hitlers: „Zwei Militärs und einige Aristokraten bilden ein Kabinett nach dem Muster des alten Regimes, das die laufenden Geschäfte erledigen wird, bis der frühere Maler
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Abb. 21: Volksbote Nr. 62, 13. 3. 1932: 1. Quelle: Haus Stettin, Lübeck.
Republik ein“ (Clark 2007: 735). Die SPD stand nun „ohne wirklichen Einfluß auf den staatlichen Machtapparat da. […] Die Sozialdemokratie war damit nahezu auf den Stand von vor 1914 zurückverwiesen worden“ (Pyta 1989: 221). Bei den Reichstagswahlen vom November 1932 kam es zu einem Stimmenrückgang für die Nationalsozialisten. Dies machte auch den pommerschen Genossen Mut, die Partei bleibe „der festeste und geschlossenste Block im deutschen politischen Leben. […] Das Kabinett der Barone muß die Hoffnung endgültig begraben, daß deutsche Verfassungspläne auf legalem Wege durchzuführen wären“ (Volksbote Nr. 263, 8. 11. 1932: 1). Der Kurs der Gesamtpartei, stärker auf die sozialistische Karte zu setzen, wird der in der Weimarer Republik eher linken pommerschen SPD entgegengekommen sein. Nach den Stimmenverlusten der NSDAP bei der Novemberwahl schien die NS-Gefahr vorerst gebannt zu sein. Damit biete sich für die Sozialdemokratie die Chance, die Mehrzahl der von der Hitler-Partei enttäuschten Antikapitalisten zur SPD hinüberzuziehen – aber nur, wenn sich die Sozialdemokratische Partei zu einer konsequent sozialistischen Politik bekenne und allen Kompromissen mit der kapitalistischen Ordnung eine klare Absage erteile. Durch diesen neuen Wählerzulauf hoffte man, erstmals seit 1919 wieder in die Nähe einer eigenen Mehrheit zu gelangen. (Pyta 1989: 223) Hitler an die Macht kommt. Denn um die Macht wiederzuerobern, brauchen die Generäle und Aristokraten einen Parvenu“ (Nr. 127, 2. 6. 1932: 1).
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Kanzler Kurt von Schleicher, der Papen folgte, nahm der „Volksbote“ nicht recht ernst, zeichnete ihn aber zutreffend als Strippenzieher: „Verschlagen und vorsichtig, die Fäden nach allen Seiten spinnend und überall horchend, ob nicht ein Echo der Unterstützung für ihn und seine Pläne zu erhoffen sei“ (Nr. 296, 17. 12. 1932: 1). Zum Jahreswechsel gab die Zeitung den Vorsitzenden Otto Wels wieder, der sich gegen „langatmige Zeitungsartikel über taktische und organisatorische Fragen“ aussprach und Geschlossenheit forderte, „angesichts der Feinde ringsum sind jedem einzelnen von uns in seinen öffentlichen Meinungsäußerungen Grenzen gesetzt“ (Volksbote Nr. 1, 1. 1. 1933: 1). Rückblickend meinte das Blatt, 1932 habe deutlich gemacht, „daß die Entscheidung endgültig gegen die NSDAP gefallen ist“ (Volksbote Nr. 1, 1. 1. 1933: 2). Publizistischer Gegner in Stettin war nun auch die „kommunistische ,Volkswacht‘, die tagtäglich uns Sozialdemokraten als Schlappschwänze, ja als Verräter beschimpft. (Um auf diese Weise die rote Einheitsfront herbeizuführen…)“ (1. Beil. zu Volksbote 1. 1. 1933: 1). Nach der Machtübergabe an Adolf Hitler durch den Reichspräsidenten Hindenburg (wodurch sich die Befürchtungen von 1925 bewahrheiteten) setzte die Partei auf den Kurs der Legalität und wollte zunächst die Entwicklungen abwarten. Halten werde sich die neue Reichsregierung nicht: Diese Regierung wartet auf die Gelegenheit, auf den Vorwand, um die Grenzen der Verfassung zu sprengen. Wir werden ihr diesen Vorwand nicht geben! Jetzt ist es die Pflicht der gesamten Arbeiterbewegung, ein äußerstes Maß von Kaltblütigkeit und Disziplin zu zeigen! Es gilt, die Kampfkraft der gesamten Arbeiterbewegung geschlossen zu erhalten, es gilt sie zu sammeln für den Fall, daß diese Regierung den äußersten Konfliktfall schafft! […] Sie [diese Regierung – H. B.] muß in sich zugrunde gehen, weil eine s olche Regierung im Widerspruch steht zu den Interessen eines politisch denkenden Volkes! (Volksbote Nr. 27, 1. 2. 1933: 1)
Die SPD hoffte, „nach dem Abklingen der ersten Euphorie werde Hitler das Gros seiner Wähler bis zur Neuwahl des Reichstags am 5. 3. 33 enttäuscht haben“ (Pyta 1989: 255), weshalb im Vordergrund der publizistischen Tätigkeit wieder der Wahlkampf stand, denn „siegt der Faschismus, so ist es mit den elementarsten Rechten des Volkes auf unabsehbare Zeit hinaus zu Ende. Wird er am 5. März geschlagen, so ist er für immer geschlagen“ (Volksbote Nr. 29, 3. 2. 1933: 1). Inhaltlich habe der Nationalsozialismus nichts Originäres zu bieten: Das scheinbar neue Schlagwort, das Hitler erfunden hat oder von seinem Pressechef erfinden ließ, der „Vierjahresplan“ ist nichts anderes als ein Plagiat an dem bolschewistischen Diktator Stalin. Aus derartigen und ähnlichen geistigen „Anleihen“ hat die Nazibewegung seit jeher bestanden. Ihr Name „nationalsozialistisch“ ist ein Diebstahl am wahren Sozialismus, ihre Fahne ist die rote Fahne der Sozialdemokratie mit dem orientalischen Sonnenzeichen des Swastika, das als Hakenkreuz umgetauft wurde, die Bezeichnung Pg. ist der Ehrenname der Arbeiterbewegung „Parteigenosse“, ihre Rassentheorie stammt von dem Franzosen Gobineau und von dem Engländer Houston Stuart Chamberlain. (Volksbote Nr. 30, 4. 2. 1933: 1)
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Hier greift aber die Kritik Klenkes (1987: 304 f.): Das Bedürfnis, sich in der Konfrontation mit dem Nationalsozialismus aus Gründen der Unsicherheitsvermeidung an alten, vermeintlich bewährten Interpretationsmustern festzuklammern, führte dazu, daß die Erklärungsansätze zum Faschismusphänomen die klassentheoretische Enge nicht zu überwinden vermochten und daher in der funktionalen Reduktion schablonenhaft und blutleer anmuteten, und dies vor allem deshalb, weil man das Problem des Faschismus nicht nach seiner organisationssoziologischen und sozialpsychologischen Seite hin differenziert genug ausleuchtete.
Schon die Wahlen von 1930 waren „Wahlen eines Volkes, das den Kopf verloren hat“, „nur eine Partei ohne rationales Programm konnte mit solchem Erfolg Stimmenfang betreiben“ (Geiger 1930: 649). Es gab allerdings auch von sozialdemokratischen Theoretikern wegweisende Einschätzungen der neuen politischen Bewegung, die „im Gegensatz nicht nur zur Demokratie, sondern auch zu jeder liberalen Staatsauffassung“ stehe und die besonders durch „Massenaktivität“ geprägt sei (Decker 1931: 486). Die Berichterstattung des „Volksboten“ wurde durch die Notverordnung „zum Schutz des deutschen Volkes“ 9 vom 4. Februar 1933 vorsichtiger. Die Zeitung schrieb über diese Verordnung: Sie enthält Einschränkungen der Versammlungs- und Pressefreiheit, die alle früheren Maßnahmen ähnlicher Art in den Schatten stellen und bei kleinlicher Handhabung, insbesondere der Bestimmungen über die Presse, auf die sich vor allem die sozialdemokratischen Zeitungen gefaßt machen müssen, der Willkür Tür und Tor öffnen. Der Wortlaut der Verordnung
9 Periodika drohte Verbot, „1. wenn durch ihren Inhalt die Strafbarkeit einer der in den §§ 81 bis 86, 92 Nr. 1 des Strafgesetzbuchs oder in den §§ 1 bis 4 des Gesetzes gegen den Verrat militärischer Geheimnisse bezeichneten Handlungen begründet wird; 2. wenn in ihnen zum Ungehorsam gegen Gesetze oder rechtsgültige Verordnungen oder die innerhalb ihrer Zuständigkeit getroffenen Anordnungen der verfassungsmäßigen Regierung oder der Behörden aufgefordert oder angereizt wird; 3. wenn in ihnen zu Gewalttätigkeiten aufgefordert oder angereizt wird oder wenn in ihnen Gewalttätigkeiten, nachdem sie begangen worden sind, verherrlicht werden; 4. wenn in ihnen zu einem Generalstreik oder zu einem Streik in einem lebenswichtigen Betriebe aufgefordert oder angereizt wird; 5. wenn in ihnen Organe, Einrichtungen, Behörden oder leitende Beamte des Staates beschimpft oder böswillig verächtlich gemacht werden; 6. wenn in ihnen eine Religionsgesellschaft des öffentlichen Rechts, ihre Einrichtungen, Gebräuche oder Gegenstände ihrer religiösen Verehrung beschimpft oder böswillig verächtlich gemacht werden; 7. wenn in ihnen offensichtlich unrichtige Nachrichten enthalten sind, deren Verbreitung geeignet ist, lebenswichtige Interessen des Staates zu gefährden; 8. wenn als verantwortlicher Schriftleiter dem Verbote des Reichsgesetzes vom 4. März 1931 zuwider jemand bestellt oder benannt ist, der nicht oder nur mit besonderer Zustimmung oder Genehmigung strafrechtlich verfolgt werden kann.“ (www.documentarchiv.de/ns/schutzdt-vlk.html [30. 07. 2020])
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ist so dehnbar, daß sich mit ihm schließlich jedes Verbot rechtfertigen und begründen läßt. (Volksbote Nr. 33, 8. 2. 1933: 1)
Daher schrieb die Zeitung über „14 Tage Hitler“, eine erste Herrschaftsbilanz, nicht mehr offen: Der Chronist, der dies verzeichnet, muß vorsichtig sein. Er muß sich darauf beschränken, Tatsachen sprechen zu lassen, wenn er nicht ein Presseverbot riskieren will. Aber wo das Wort des Kritikers eingeengt ist, da sprechen die Tatsachen selber […] Eine gebührende Kritik an den angeführten Tatsachen zu üben, verbietet uns die „Notverordnung zum Schutze des deutschen Volkes“. Wir müssen daher die Kritik unseren Lesern selbst überlassen. (Volksbote Nr. 42, 18. 2. 1933: 1)
Die beginnende geistige Unterdrückung schätzte der „Volksbote“ ein wie während der Restauration im 19. Jahrhundert, als die Karlsbader Beschlüsse (1819) die freie Meinungsäußerung abschafften: Alles dies deutet darauf hin, daß das Dritte Reich kein System der Erneuerung Deutschlands ist, sondern ein Rückfall in die Zeit der sogenannten „Demagogen-Verfolgungen“ vor hundert Jahren. (Volksbote Nr. 49, 26. 2. 1933: 1)
Der „Volksbote“ setzte auf die Wahlen vom 5. März und hoffte, dass die Einheitsfront der Werktätigen komme, aber nicht zu den kommunistischen Bedingungen (Artikel Friedrich Stampfers, aus dem „Vorwärts“ entnommen, 1. Beil. zu Volksbote Nr. 38, 14. 2. 1933: 6). Mit begeisterter Zustimmung wurde die Klage des pommerschen Provinzialausschusses gegen die Regierung wegen Auflösung des Provinziallandtages kommentiert, „und das geschieht in Pommern, der Hochburg der Reaktion, in Hitlers allergetreuester, allerbraunster Provinz! So etwas von Dickköpfigkeit, sogar in Pommern, ist noch nicht vorgekommen“ (Volksbote Nr. 39, 15. 2. 1933: 1). Besonders der Osthilfeskandal 10 schien agitatorisch für den Wahlkampf geeignet, eine Mater „Frage den Bauern“ erschien in allen SPD -Zeitungen (Pyta 1989: 256, Volksbote 2. Beil. zur Nr. 47, 24. 2. 1933: 2). Vogt (1998: 156) konstatiert zwar politische Handlungsspielräume noch nach den Landtagswahlen in Lippe 11, Bayern und den preußischen Provinzen, in denen die Nationalsozialisten an ihre Stimmengrenzen stießen. Aber: 10 Subventionen für ostelbische Landwirtschaftsbetriebe waren zweckentfremdet worden. 11 Ciolek-Kümper (1976) weist nach, dass die NSDAP dort nur unter enormem Aufwand ihr Ergebnis erreichen konnte. Den „Volksboten“ ermutigte die Lipper Wahl sogar: „Das Ergebnis der lippischen Landtagswahlen wird deshalb den Verfall der NSDAP . in keiner Weise aufhalten können und im Reich wird auch niemand das Ergebnis des nationalsozialistischen Trommelfeuers überschätzen“ (Nr. 14, 17. 1. 1933: 1).
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Es blieb bei der prinzipiellen Bereitschaft zum Einsatz der Streikwaffe, der keine entsprechenden Taten folgten, weil sich im Laufe des Februars innerhalb der Sozialdemokratie die bittere Einsicht durchsetzte, daß die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Gegenwehr nicht vorhanden waren. […] Da die neuen Machthaber keineswegs das Vertrauen ihrer Anhänger verspielten, war die Sache des Sozialismus und der freiheitlichen Demokratie in Deutschland verloren. (Pyta 1989: 264)
Abgedruckt wurde die Botschaft Thomas Manns an den Sozialistischen Kulturbund (als Aufmacher), „das Bekenntnis zur sozialen Republik und zu der Ueberzeugung, daß der geistige Mensch bürgerlicher Herkunft heute auf die Seite des Arbeiters und der sozialen Demokratie gehört“ (Volksbote Nr. 44, 21. 2. 1933: 1). Auf derselben Seite verkündete die Eiserne Front: „Nach Hitler kommen wir!“ Wie allein der „Volksbote“ Anfang der 1930er Jahre dastand, mag ein Blick in die bürgerliche Presse Stettins verdeutlichen. Der „General-Anzeiger für Stettin und die Provinz Pommern“ begriff Adolf Hitler als „Mann der Stunde“ (Bader 2007c: 75). Das vermeintlich unparteiliche Blatt begrüßte den „Preußenschlag“ als Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, die wichtiger sei als das Recht: Die blutigen Vorfälle der letzten Wochen aber verlangten eine ganz andere Festigkeit der Einstellung, als man sie in der preußischen Regierung noch aufbringen konnte. Severings Versuch, energisch zu werden, war zweifellos ernst gemeint, aber er überzeugte die nicht mehr, die auf der Straße über andere herfallen – und er kam zu spät. So fühlte sich denn die Reichsregierung, von den Oppositionsparteien mehrfach angerufen, zum Eingreifen veranlaßt und angesichts der Ungeheuerlichkeit der Altonaer Vorfälle 12 wird man in der preußischen Öffentlichkeit weniger auf die letzten Einzelheiten dessen sehen, was geschehen ist, sondern mehr auf die Tatsache, daß etwas geschieht, was – hoffentlich – den Unerträglichkeiten der Straßenkämpfe und Überfälle ein Ende macht. (General-Anzeiger, Nr. 201, 21. 7. 1932: 1)
Nach der ersten Reichstagswahl des Jahres 1932 forderte er die Beteiligung der NSDAP an der Macht: Mit dieser Wahl des 31. Juli 1932 stellt sich die Schicksalsfrage an die NSDAP: ob sie nun weiter auf ihrem von einem erheblichen Teil ihrer Führer verkündeten Prinzip des „alles oder nichts“ verharren oder sich in der richtigen Erkenntnis dieses Augenblicks ihren Anteil an der Mitarbeit im Parlament sichern will. […] Die Zeit, in der sie aus dieser Mitarbeit ausgeschaltet werden konnte, ist vorbei, ein für allemal, die neue Reichsregierung hat längst den Weg für diese Mitarbeit freigemacht, indem sie dem Begehren der NSDAP. auf neuerliche Befragung des deutschen Volkes nachkam. Die Antwort des Volkes ist da. (General-Anzeiger Nr. 212, 1. 8. 1932: 1) 12 Am „Altonaer Blutsonntag“ (17. Juli 1932) marschierte die SA durch die holsteinische (preußische) Stadt, 18 Menschen kamen dabei ums Leben, den Vorfall nutzte Reichskanzler Papen für die Reichsaufsicht über Preußen.
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Zum Stimmenrückgang der Hitlerbewegung im November schrieb das Blatt verständnisvoll: Die NSDAP., deren Verdienste in rein nationaler Hinsicht niemand verkennen darf, wird nach wie vor die stärkste Partei im deutschen Parlament bleiben. Die Tatsache aber, daß sie einen Verlust von etwa vier Prozent ihres Besitzes erleidet, unterbricht den bisherigen Siegeslauf der NSDAP., das ist psychologisch von äußerst schwerer Bedeutung und stellt die Leitung der Partei vor schicksalsschwere Entscheidungen. (General-Anzeiger Nr. 310, 7. 11. 1932: 1)
Bei der Reichspräsidentenwahl 1932 stand die „Stettiner Abendpost“ auf Seiten Hindenburgs: Wir haben uns hier stets für die ruhige Entwickelung, für die Stärkung der deutschen Volkskraft und für eine gescheite und geschickte Politik mit den übrigen Bewohnern d ieses Erdballs ausgesprochen und glauben heute noch, daß es keine politischen Wunderwerke gibt, kein Gewaltstreich uns vorwärtsbringen kann und daß das Volk schlecht beraten ist, wenn man ihm vorzureden versucht, nur ein Mann brauche aufzustehen, um mit „diesem ganzen Schwindel ein für allemal Schluß zu machen“. Dieser Mann lebt nicht und solcher Versuch müßte für unser Volk verhängnisvoll sein. Weil uns unser Verantwortungsgefühl Vaterland und Volk gegenüber gebietet, von solchem gefährlichen Tun abzurücken, deswegen haben wir uns von Anfang an auf die Seite des bisherigen Reichspräsidenten gestellt, der uns trotz seines hohen Alters Gewähr dafür gibt, daß bei allen politischen Handlungen das Wohl und Wehe dieses notleidenden Volkes entscheidet, daß für jugendliche Husarenritte nicht Raum und Platz ist. (Stettiner Abendpost Nr. 61, 12./13. März 1932: 1)
Die „Stettiner Abendpost“ äußerte Verständnis für das Wahlverhalten im deutschen Osten. Zwar zweifelte sie an Verbesserungen durch eine Herrschaft der Nationalsozialisten, forderte aber deren Eintreten für Hindenburg im zweiten Wahlgang, unter Ausschluss der Kommunisten: Der nationalsozialistische Stimmenzuwachs ist zu erklären: Es steckt tatsächlich im Landvolk des Ostens eine verzweifelte Stimmung. Daß diese Verzweiflung viele Wähler in die Reihen jener trieb, die dem „System“ unbedingten Kampf ansagen, ist durchaus zu verstehen, wobei die Frage offen bleibt, ob diese Opposition, ans Ruder gekommen, die Lage des Landvolks verbessern würde. Aber bis dahin gingen die politischen Gedanken nicht, sondern man wollte der Regierung zu verstehen geben, daß die Not im Osten durch die bisherigen Maßnahmen nicht beseitigt worden ist. […] Alle politischen Parteien, die gestern gegen Hindenburg standen – mit Ausnahme der unbelehrbaren Kommunisten natürlich – mögen sich für den 10. April die eine große Mahnung zurufen lassen: Sammeln! Sammeln auf der Hindenburg-Linie! (Stettiner Abendpost Nr. 62, 14. 3. 1932: 1 f.)
Der Marxismus insgesamt (also auch die SPD) sei von der politischen Beteiligung auszuschließen, um „nationale Politik“ treiben zu können, Hindenburg gewähre das:
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Wir begrüßen diesen Erfolg auch des deutschen Volkes wegen, das unter der Präsidentschaft des greisen Feldmarschalls die sicherste Gewähr für eine konsequente und zielsichere Politik hat. […] Die Aufgabe des deutschen Volkes besteht heute darin, d iesem Reichspräsidenten ein Parlament an die Hand zu geben, das ohne Paktieren mit dem Marxismus eine nationale Politik treiben kann. (Stettiner Abendpost Nr. 84, 11. 4. 1932: 1 f.)
Nach der Preußenwahl wurde eine Koalition von Zentrum und NSDAP gewünscht. Die Möglichkeit einer Reichsaufsicht über das größte Land der Republik wurde erwogen, wobei eine Beteiligung von Braun und Severing eine „Verfälschung des Volkswillens“ wäre. Die Parteien der bürgerlichen Mitte hätten „durch die Verkennung der Notwendigkeit der Sammlung Selbstmord begangen“ (Stettiner Abendpost Nr. 96, 25. 4. 1932: 1). Wenig später rechtfertigte die „Stettiner Abendpost“ (Nr. 169, 21. 7. 1932: 1 f.) den „Preußenschlag“ damit, dass die Änderung der Geschäftsordnung des preußischen Landtags „wider den Geist einer gesunden Demokratie“ sei, durch diese „parteipolitische Pfiffigkeit“ „muß es eines Tages zur Gewalt kommen“. Das Kabinett Papen habe gegen den „Notstand“ in Preußen durchgreifen müssen. Die SPD könne nicht auf einen Generalstreik oder den Staatsgerichtshof hoffen, die Zeitung begrüßt gar den Schaden, den die Sozialdemokratie erlitten hatte: Nur um den augenblicklich ergebnislosen Versuch zu machen, einer Partei die Macht zu erhalten, deren Verdienste um die deutsche Wirtschaft und um die deutsche Arbeiterschaft sehr zweifelhafter Natur sind, dazu wird die Arbeiterschaft sich heute nicht mehr hergeben. Die Frage, was nun werden soll, liegt in aller Munde. Ruhe soll werden! Wer sich diesem Bemühen widersetzt, hat die Folgen seines Tuns zu tragen. Das Volk hat keinen Grund, nervös zu werden. Die Reichstagswahl wird in aller Ruhe und aller Freiheit vor sich gehen. Bleiben wird die Ausschaltung der Sozialdemokratie aus der praktischen Regierungsarbeit. (Stettiner Abendpost, Nr. 169, 21. 7. 1932: 2)
Stattdessen befürwortete die „Stettiner Abendpost“ nach den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 (Nr. 178, 1. 8. 1932: 1 f.) „eine Einigung der Parteien von Hitler bis Brüning mit Papen als Reichskanzler“, denn „irgendwie muß der Nationalsozialismus seine Macht zur Geltung bringen im Wirken für Volk und Staat“. Wie der „General-Anzeiger“ will sie eine Einbindung der Nationalsozialisten, denn „eine alleinige Machtübernahme auf legalem Wege erscheint uns für die nächsten Jahre ausgeschlossen zu sein“. Sie verabschiedet sich auch vom Parlamentarismus: „Geht es nicht mit den Parteien, so muß es ohne sie gehen, wenn überhaupt etwas werden soll.“ Im November bedauerte die Zeitung, „daß die große, vom nationalen Deutschland und so großen Hoffnungen verfolgte Bewegung auf das falsche Gleis geschoben wurde.“ Erneuert wurde die Schmähung des Parlaments: Eins aber müssen sich die Parteien gesagt sein lassen: Nie wieder Kabinette mit parlamentarischen Hemmschuhen. […] Deutschland braucht Ruhe, kein Parteigezänk und keine zwecklosen Reichstagsdebatten, keine Wahlen und Auflösungen. (Stettiner Abendpost, Nr. 262, 7. 11. 1932: 1 f.)
Lokales und Provinz
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Während sich der „Volksbote“ nach Hitlers Machtübernahme noch wehrte, knickten die beiden bürgerlichen Zeitungen, die vor dem Nationalsozialismus nicht gewarnt hatten, schnell ein. Zur Beurlaubung des sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Stettins schrieb die SPD-Zeitung über die anderen großen Zeitungen Stettins enttäuscht und voller Verachtung: Völlig verständnislos stehen wir dagegen dem Verhalten der sogenannten unpolitischen Bürgerpresse gegenüber. Es ist bezeichnend für ihre Charakterlosigkeit, daß sie vor dem Machtanspruch des Herrn Göring widerspruchslos in die Knie sinkt. Kein Wort der Anerkennung, der Verdienste Maiers fließt aus ihrem verkniffenen Munde. Sie schweigt. „Generalanzeiger“ und „Abendpost“ – sie bringen lediglich die amtliche Meldung. Sonst nichts. Kroppzeug! (1. Beil. zu Volksbote Nr. 39, 15. 2. 1933: 1)
„Stettiner Abendpost“ und „General-Anzeiger“ mussten 1933 bzw. 1935 vom Verleger Huck, der der Deutschen Staatspartei nahegestanden hatte, an die Vera GmbH abgetreten werden.13
VI.7 Lokales und Provinz Die zunächst umstrittene Unterteilung der sozialdemokratischen Presse in Zentralorgan und Lokalzeitungen setzte sich durch, denn die Verbreitung der Parteigrundsätze konnte „in den größeren Städten, die ein reges Lokalleben haben, durch Lokalblätter viel gründlicher geschehen als durch das Zentralorgan, welches unmöglich den lokalen Verhältnissen volle Rechnung tragen kann“ (Wilhelm Liebknecht, zit. n. Ressmann 1991: 48). Die Ausdifferenzierung auch der pommerschen SPD-Presse in der Weimarer Republik belegt, wie groß das Bedürfnis nach Journalismus vor Ort war, was bis heute gilt, „noch immer ist der Lokalteil das am meisten gelesene Buch der Zeitung“ (Pöttker 2013: 9). Leser der 13 Der Verleger August Huck hatte die „Stettiner Abendpost“ 1902 gegründet, die er 1918 mit den 1902 von ihm gekauften „Stettiner Neuesten Nachrichten“ fusionierte und 1928 mit der „Ostsee-Zeitung“ vereinigte, die Wolfgang Huck erworben hatte. Der Verlag musste sie 1933 an die Vera GmbH abgeben (Graf 2015: 52, 55). Die Vera, einst Hugenberg, gehörte ab 1935 dem nationalsozialistischen Eher-Verlag. Die Mehrheit am „General-Anzeiger“ besaß das Unternehmen Huck seit 1925, Huck musste sie 1935 mit anderen Titeln an die Vera verkaufen (Koszyk 1972: 395 f ). – Die Reichstagswahl am 5. 3. 1933 kommentierte die „Stettiner Abendpost“ u. a. so: „Das nationale Deutschland hat gestern einen eindrucksvollen Sieg errungen. […] Zum ersten Male ist ein klarer Einbruch in die marxistische Front gelungen, viele Millionen von Arbeitern sind diesmal vom Marxismus zur nationalen Front übergetreten. […] Da diese Mehrheit auf verfassungsmäßigem Wege erreicht werden konnte, müssen sich auch diejenigen oder gerade diejenigen diesem Volksurteil fügen, die das Regiment der Volksmehrheit als obersten Grundsatz wahrer Demokratie betrachten. Im Rahmen der Weimarer Verfassung ist eine Mehrheit zustandegekommen, die sich klar gegen diese Verfassung ausgesprochen hat. Weimar ist im Volke überwunden. Ein vernichtendes Urteil ist über das System von gestern gesprochen worden“ (Nr. 55, 6. 3. 1933: 1).
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik
Arbeiterpresse wünschten sich früh lokale Artikel und Familienanzeigen (Danker/Oddey/ Roth/Schwabe 2003: 7 f ). Hier war die bürgerliche Presse der sozialdemokratischen Vorbild: Wie zu Neuerungen in der Anordnung und Aufmachung des Stoffs sowie in den geschäftlichen Methoden, so zwang der Generalanzeiger, die „moderne Zeitung“, die älteren politischen Blätter auch zur Berücksichtigung der örtlichen Berichterstattung, zum Ausbau des lokalen Teils. (Groth 1928 I: 926)
Im Kaiserreich sind lokaler und provinzieller Teil recht dünn; Leser außerhalb der Provinzhauptstadt beklagten die Stettinlastigkeit im „Volksboten“. Genosse Knappe, Vorsitzender der Gesellschafter, ging auf dem pommerschen Parteitag 1906 darauf ein. Erst müsse für eine angemessene Verbreitung der Zeitung gesorgt werden, ehe man von außerhalb Stettins umfangreicher berichten könne: Was die Berichterstattung aus der Provinz betreffe, so scheitere auch da der Wunsch, die Berichte zu honorieren, an der Unzulänglichkeit der dafür zur Verfügung stehenden Mittel. Der Verlag sei gewillt, den Genossen in der Provinz soweit wie möglich entgegenkommen. Die Genossen, welche ständig Rechte beanspruchen, hätten aber auch Pflichten, vor allem müßten sie mehr für die Verbreitung tun. Wenn dann in den Städten etc. der Provinz der „Volksbote“ einen größeren Leserkreis, eine angemessene Verbreitung habe, könne man auch mehr für die Ausgestaltung des provinziellen Teiles tun, erst müsse man aber dazu die Vorbedingungen schaffen, dann werde der Verlag alles tun, um die Wünsche zu befriedigen. (Protokoll SPD Pommern 1906: 22)
Die lokale Berichterstattung war „eindeutig kritisch eingestellt gegenüber fast allen Maßnahmen des Stadtrates“ (Włodarczyk 2005: 38), dem man vorwarf, die Angelegenheiten der ärmeren Schichten zu vernachlässigen. Letztlich gehe es auch in der Gemeindevertretung um den Sozialismus (anders als heute [Kretzschmar/Möhring/Timmermann 2009: 154 – die gewünschte Neutralität resultiert auch aus den lokalen Monopolen] sahen sich sozialdemokratische Lokaljournalisten auf einer Mission): So handelt es sich für die Sozialdemokratie im Gegensatz zu der Bourgeoisie bei dem Kampf zu den Stadtverordnetenwahlen nicht um kleinliche Kirchturmsinteressen, sondern um die Lösung großer Kulturprobleme, um die Erfüllung aller Gebiete der Gemeindeverwaltung mit sozialem Geiste, um die Demokratisierung der Gemeindeverwaltung, um die Ausgestaltung ihres Wirkungskreises in der Richtung des Sozialismus. (Volksbote Nr. 251, 26. 10. 1912: 1)
Im Kaiserreich war die sozialdemokratische Rolle in der Stettiner Stadtverwaltung marginal: Die Stadtdeputierten von der SPD überzeugten sich, dass sie mit der Umsetzung ihrer Pläne und ihrer Wahlversprechungen wegen des geringen Stadtbudgets nicht rechnen konnten.
Lokales und Provinz
355
Sie waren in Kommissionen und Stadtdeputationen tätig, die keine größere Bedeutung für die räumliche und kommunale Entwicklung der Stadt hatten. (Włodarczyk 2007: 153)
So haben die lokalen und Provinzberichte im Kaiserreich nur wenige Spalten Umfang. Der „Volksbote“ mit seinen nur drei Redakteuren war auf Mitarbeit der Leser angewiesen (auch darin waren die bürgerlichen Zeitungen vorangegangen, vgl. Schönhagen 1995). Dies war aber nicht einfach, weil die eingereichten Texte oft nicht den Vorstellungen der Redaktion entsprachen. Ihre Wünsche legte sie 1908 im Artikel „Der Leser als Mitarbeiter seiner Zeitung“ dar: Immer schwieriger wird es, eine Zeitung stets reichhaltig und interessant zu gestalten. Denn erstens passiert auch in größeren Orten nicht alle Tage etwas für die Zeitung Bemerkenswertes, und zweitens kommen wichtige Vorkommnisse nicht rechtzeitig oder gar nicht zur Kenntnis der Redaktion. Mancher glaubt, die in der Redaktion sehen, wie man sozusagen pflegt, das Gras wachsen, sie wissen alles, was Wichtiges am Orte vorgeht. […] Jeder kann mithelfen, seine Zeitung interessant und aktuell zu gestalten, wenn er der Redaktion wichtige Vorkommnisse rasch und wahrheitsgemäß entweder persönlich oder telephonisch oder schriftlich mitteilt. Für die aufgewendete Mühe und die entstehenden Kosten wird er stets entschädigt werden. […] Vereins- und Versammlungsberichte soll man so kurz wie möglich fassen. Dadurch spart sich der Schriftführer des Vereins Zeit und er spart auch dem Redakteur die Zeit, die er zum Streichen verwenden muß. […] Schließlich ist auch die strafrechtliche Seite zu erwähnen. Viele Berichterstatter gefallen sich in Ausdrücken und Wendungen, die zwar sehr hübsch und auch sehr wahr klingen, die aber den Verantwortlichen mit dem Strafrichter in Konflikt brächten, blieben sie stehen. Es kommt nicht selten vor, daß lediglich aus d iesem Grunde ganze Partien eines Berichts fortbleiben müssen; der Schreiber sieht dann sein schönes Werk zertrümmert. (Volksbote Nr. 78, 1. 4. 1908: 2)
Die Leserrubrik „Eingesandt“ bzw. „Briefkasten der Redaktion“ ist für heutige Leser oft schwer zu entschlüsseln, weil die Hintergründe des Gedruckten unbekannt sind. Auch waren Genossen – nach den Erfahrungen des Sozialistengesetzes verständlich – nicht immer bereit, alles öffentlich auszutragen: „Maurer hier. Aus taktischen Gründen bringt man derartiges nicht in die Presse. Die Sache läßt sich doch viel einfacher in einer Vereinsversammlung regeln“ (Volksbote Nr. 210, 8. 9. 1896: 3). Es gibt aber auch Briefe, die lokale Missstände benennen und mit Initialen gezeichnet sind. (z. B. Volksbote Nr. 3, 19. 7. 1885: 4). Diese Rubrik diente auch der Kommunikation der Redaktion mit Lesern, z. B. an „F. W. in B. Derartige Berichte bringen wir später. Senden Sie uns das Erforderliche“ (Volksbote Nr. 5, 2. 8. 1885: 4), oder es gaben Leser praktische Hinweise zur Alltagsbewältigung an andere Leser. Diese Rubrik scheint für die Leser-Blatt-Bindung in sozialdemokratischen Zeitungen eine große Rolle gespielt zu haben (so für Chemnitz Nickelsen 1966: 32 f.), „die Einsendungen stellen, aus dem Publikum kommend, eine unmittelbare Verbindung zwischen diesem und der Redaktion her, die manches aus ihnen lernen kann“ (Groth 1928
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik
I: 412). Die Redaktion des „Volksboten“ beantwortete auch Leserfragen, verlangte bei der Einsendung aber eine Abonnementsquittung (z. B. Beil. zu Nr. 77, 1. 4. 1914: 3). Ein Spezifikum sind die „Partei-Nachrichten“, die aus dem SPD-Geschehen im Reich und aus der internationalen Arbeiterbewegung berichteten. Die Nachrichten aus Pommern haben oft vermischten Inhalt. Was Traub (1928: 142) über die Metropolen schrieb: „In der Großstadt dagegen ist der Nachbarbegriff aufgelöst. Der lokale Teil sagt ihren Bewohnern nur etwas, wenn er Sensation, Einbruch, Diebstahl, Mord und Unfall bringt und beinahe als Unterhaltungsteil gelesen werden kann“, galt auch für Berichte vom Land. In der Weimarer Republik wurden aber ebenso lokalpolitische Themen wichtiger, Gemeinderats- und Stadtverordnetenversammlungen wurden zusammenfassend wiedergegeben, Schwerpunkte der Berichterstattung waren Finanzen und Soziales. Ab 1928/29 fasste der „Volksbote“ die Berichte aus Stettin und „aus der Provinz“ in eigenen Beilagen zusammen. Ein Beispiel für die pommerschen und Stettiner Themen gibt hier die Liste der Überschriften von zwei Nummern (Nr. 1, 1. 1. 1928 und Nr. 2–3. 1. 1928): Stettins Kommunalpolitik um die Jahreswende Pommern im Reichshaushaltsplan für 1928 Die städtische Sparkasse im Jahre 1927 – 1928 Theater, Konzerte usw. Stadttheater Film-Schau. Atlantik-Lichtspiele Der geheimnisvolle Doppelselbstmord bei Saßnitz Gerichtssaal. Bruder und Schwester Stettiner Gewerkschaften im Jahre 1927 Zum Wiederaufbau der Gartzer Brücke Finkenwalder Gemeindevertretersitzung Schiffahrt und Schiffbau in Stettin 1927 Die Hausbrand-Versorgung Stettins Ein Tag der Verkehrsunfälle Streik in der Heizungsindustrie Verlauf der Silvesternacht in Stettin Nächtliche Schießerei Ein Kampf mit Scheintodpistole und Messer Blutige Schlägerei Weiteres Anwachsen der Erwerbslosenziffer Wie steht es mit der Wartezeit? Schwerbeschädigte und Lohnsteuerermäßigung Silvester im Stadttheater Bleichholm und Schlächterwiese während der Eisblockade Bevölkerungsbewegung in Pommern Eine vergebliche Ehrenerklärung des Torgelower Gemeindevorstehers Großfeuer in der Silvesternacht
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Lokales und Provinz
Hier finden sich also Th emen, die für die politische Information wichtig sind, ebenso wie für die Freizeitgestaltung, praktische Lebenshilfe und das Sensationsbedürfnis. Die Überschriften sind eher sachlich gehalten. Die enorme Steigerung des Inhalts des „Volksboten“, dessen Dürftigkeit in seinen ersten Jahren auch auf pommerschen Parteitagen beklagt worden war, verdeutlicht die Auszählung des Stoffes im diachronen Vergleich, wobei die jeweilige Fläche noch nicht berücksichtigt worden ist. Die Artikel verdreifachen sich, die Anzeigen sind fast sechsmal häufiger: Nr. 117, 21. Mai 1896
Nr. 116, 21. Mai 1926 12 (größeres Format)
Seitenumfang
4
Artikel/Meldungen
32
101
Titelseite
Prozess gegen den Stolper Bernsteinfabrikanten Westphal; Reichstagssitzung; Roman
Regierungserklärung im Reichstag, Reichstagssitzung
Anzeigen
10 (davon 3 Arbeiterbewegung)
58 (darunter 4 Anzeigen Veranstaltungen von Gewerkschaften und Reichsbanner sowie 7 amtliche Bekanntmachungen), 1 eigene
Abbildungen
0
4
Beilagen
0
3
Berichte Reich/Preußen
13
30
Berichte Ausland
3
31
Berichte Stettin
13 (mit Briefkasten)
8
Berichte Pommern
3
35
Berichte Politik
8
17
Berichte Gericht
10
3
Berichte Wirtschaft
2
10 (auch Produkten- und Viehmarkt)
Berichte Arbeiterbewegung
7
10
Berichte Vermischtes (Unglücke, Verbrechen)
5
22
Berichte Kultur
1
6
Berichte Service
1 (Briefkasten)
4 (z. B. Rundfunk, Wetter, Briefkasten)
Berichte Sport
0
14
358
Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik Genannte Nachrichtenquellen
„Deutsche Tageszeitung“, „Die Nation“, „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“, „Kreuzzeitung“, „Weserzeitung“, „Hamburger Echo“, „Königshütter Zeitung“, „Johannesburg Times“, „Der Gewerkverein“
Eigener Drahtbericht, „Petit Parisien“, „Daily Express“, „Petit Journal“, „Amtlicher Preußischer Pressedienst“, „eine Berliner Korrespondenz“, „B. T.“ [Berliner Tageblatt], „Sozialdemokratischer Pressedienst“, „Bednota“, „WTB“ [Wolffs Telegraphisches Bureau], „Chicago Tribune“
Fortsetzungsroman
Ludwig Isenheim: Streik. Roman aus dem gegenwärtigen Klassenkampfe
Clara Viebig: Die Passion. Roman
Tab. 7: Zwei Nummern des Stettiner „Volksboten“ im Vergleich (21. Mai 1896 und 1926). Mehrfachzuordnungen möglich. Besonders groß ist die Zunahme bei pommerschen, Auslandsund vermischten Themen.
Zur Steigerung der Attraktivität trugen auch die Beilagen bei, die anfangs pädagogische Ziele hatten („Für unsere Frauen“, 1911 – 1914, „Das proletarische Kind“, 1912 – 1915) und später informieren („Juristische und volkswirtschaftliche Rundschau“, 1919/20, „Die freie Gewerkschaft“, 1924/25, „Allgemeine Zeitung für Landwirtschaft, Gartenbau und Hauswirtschaft“) wollten. „Volk und Zeit“ steuerte der „Vorwärts“ bei (1919 – 1933, vorher „Die neue Welt“), „Der Spatz“ (1927 – 1932) brachte Karikaturen zum Zeitgeschehen. Zeitweise lagen „Nach Feierabend“ und der „Erwerbslosen-Volksbote“ bei. Zudem gab es Seiten mit festen Rubriken (z. B. „Unterhaltung und Wissen“).
VI.8 Karikaturen Karikaturen kommentieren Zeitgeschehen (Hoppe 2007: 30 f ). Der Frage, ob sie damit Kunst, Journalismus oder beides seien, ging Päge (2007) historisch und empirisch nach, ohne zu einem klaren Urteil kommen zu können. Groth (1928 I: 1028) beklagte den Mangel an satirischen und humoristischen Bildern, die in der deutschen Tagespresse hauptsächlich der SPD- und KPD-Blätter aufträten, wobei es an guten Karikaturisten wie bereitwilligen Zeitungen mangele. So verortet der Brockhaus von 1931 (Karikatur 1931, mit Tafel) Karikaturen weiter in bildsatirischen Zeitschriften. Die meisten bürgerlichen Witzblätter waren staatstragend im Kaiserreich, reserviert in der Weimarer Republik und später schnell hitlerfreundlich (vgl. Schulz 1975: 196 f ). Auch ein antiwilhelminischer Titel wie der „Simplicissimus“ tat sich mit den Verhältnissen der Zwischenkriegszeit schwer (Rösch 2002). Blüte der Karikatur ist Indiz für schlechte Zeiten, wie (anhand der Dichtkunst, doch übertragbar) Friedrich Theodor Vischer (1857: 1462) schrieb:
Karikaturen
359
Abb. 22: Karikatur im „Volksboten“ Nr. 125 (31. 5. 1927), die seine Haltung zu den bürgerlichen Parteien der Weimarer Republik ausdrückt. Quelle: Haus Stettin, Lübeck.
Abb. 23: Volksbote, Nr. 6, 7. 1. 1933, 2. Beil. Quelle: Haus Stettin, Lübeck. Das Wesentliche aber ist, daß das nächste Object immer nur der Punct sein soll, an welchem ein allgemeines Uebel angefaßt wird, und wir werden den Satyriker um so mehr achten, wenn dieses Uebel zugleich mit Macht bekleidet ist, wenn es Muth fordert, es zu bekämpfen. – Die Satyre fällt im Ganzen und Großen naturgemäß in Zeiten der Auflösung.
360
Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik
Abb. 24: Volksbote, Nr. 22, 26. 1. 1933, Titelseite. Quelle: Haus Stettin, Lübeck.
Anzeigen
361
Die Karikaturen des „Volksboten“ lösen bitteres Lachen aus. Ihre Hintergründe müssen teilweise erläutert werden. Die Beispiele zeigen den Militarismus der NS -Unterstützer und die snobistische Haltung der alten Eliten. Karikaturen setzen sich etwa seit 1924 in der sozialdemokratischen Presse durch, die Zeichnungen von Abeking, Koester, Rüsch und Wilke „gingen durch die gesamte Parteipresse“ (Koszyk 1958: 166). Karikaturen zeigt auch zuweilen die Titelseite des „Volksboten“ (z. B. Nr. 7, 9. 1. 1927: 1). Unter dem Titel „Politischer Bilderbogen“ gab es ganze Seiten mit politischen Karikaturen, s päter (ab 1927) die humoristisch-satirische Beilage „Der Spatz“, die besonders die Besitzenden und die Deutschnationalen aufs Korn nahm.
VI.9 Anzeigen Lassalle hatte gefordert, dass Zeitungen keine Anzeigen bringen, damit die Presse kein Spekulationsobjekt mehr ist (Koszyk 1989: 173).14 Diese Rigidität lockerte sich mit den Jahren, so sollte ab 1887 (noch im Exil) nur auf Schmutz- und Schwindelanzeigen verzichtet werden (Koszyk 1966: 203). August Bebel schrieb schon 1895 zugunsten der Annoncen: „Andererseits können wir nicht umhin, da wir nun einmal in der bürgerlichen Welt leben, auch gewissermaßen mit den bürgerlichen Wölfen zu heulen“ (zit. n. Loreck 1977: 70). Der Stettiner „Volksbote“ warb bereits in seiner 21. Nummer um mehr Anzeigen, die eingeschickt werden sollten: Wenn wir auch mit Befriedigung auf das erste Vierteljahr des Bestehens zurückblicken können, so muß doch noch mehr geschehen, namentlich bitten wir um Zusendung von Inseraten, die bei der stets steigenden Auflage unseres Blattes von bestem Erfolge sind. (Volksbote Nr. 21, 27. 9. 1885: 1)
Anfänglich fanden sich vor allem Ankündigungen und Bekanntmachungen in der Zeitung sowie Werbung für Produkte mit politischen Bezügen sowie Eigenwerbung. Welche Anzeigen aufgenommen wurden, war umstritten. Eine Annonce einer Versammlung in der Philharmonie sorgte für Ärger in der Partei, weil das Haus von der SPD boykottiert wurde. Fritz Herbert hielt dagegen: „Viele Arbeiter lesen nur den ,Volksboten‘ und wir müssen auch bestrebt sein, die bürgerliche Presse aus den Arbeiterwohnungen ganz zu verbannen; um dies zu erreichen, müssen s olche Versammlungen bekannt gemacht w erden“ 14 Karl Marx hatte erkannt, wie wichtig Anzeigen für die Leser waren. Spöttisch schrieb er über die „Kölnische Zeitung“: „Wir betrachteten vorzugsweise ihre ,leitenden politischen Artikel‘ als ein ebenso weises wie gewähltes Mittel, dem Leser die Politik zu verleiden, damit er desto sehnsüchtiger in das lebensfrische, industriewogende und oft schöngeistig pikante Reich der Anzeigen hinübersetze, damit es auch hier heiße: per aspera ad astra [auf steinigen Wegen zu den Sternen – H. B.], durch die Politik zu den Austern.“ (Marx 2004 [1842b]: 10.019).
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik
(Volksbote Nr. 163, 15. 7. 1896: 3). Allerdings nahmen die Genossen eine Resolution an, wonach „Anzeigen von Vergnügungen, die in boykottirten Lokalen stattfinden“, nicht abgedruckt werden sollten (Volksbote Nr. 170, 23. 7. 1896: 3). Die Boykottfrage (einige Lokale stellten ihre Räume nicht für sozialdemokratische Veranstaltungen zur Verfügung) wurde schließlich so beantwortet, dass die Boykotte aufgehoben wurden: Wir sind keinen Augenblick im Zweifel, daß unsere Genossen heute so weit sind, ganz allein zu wissen, welchen Weg sie einschlagen müssen, ohne daß ihnen dies durch besondere Beschlüsse vorgeschrieben werden muß […] Lokale, bei welchen die Arbeiter einen wirthschaftlichen Einfluß nicht besitzen, haben sie bisher nicht erobern können – trotz des schärfsten Boykotts. Daß die Partei aber soviel Lokale besitzen wird, als sie braucht, ist bei dem wirthschaftlichen Schwergewicht, das die Arbeiter in die Waagschale werfen können, wohl kaum zweifelhaft. Die Aufhebung des Lokal-Boykotts kann also zu einem großen Segen für die Sozialdemokratie in Stettin werden. (Volksbote Nr. 173, 27. 7. 1896: 1)
Die pragmatische Haltung des Zeitungsgründers Fritz Herbert setzte sich durch, 1904 distanzierte sich der „Volksbote“ von den Mitteln der bürgerlichen Presse, an Anzeigen zu gelangen, rief aber die Leserinnen und Leser dazu auf, in Geschäften darauf zu drängen, dass diese auch im „Volksboten“ inserieren: Für die gegnerische Presse und insbesondere für die unparteiische Inseratenpresse ist die Weihnachtszeit die Zeit wilder Annoncenjagd. […] Die sozialdemokratische Presse verschmäht natürlich solche Mittel, um Inserate zu erhalten, denn ihre Aufgabe ist nicht die Plusmacherei, sondern die Vertretung der gegenwärtigen und zukünftigen Interessen der arbeitenden Bevölkerung. Deshalb ist aber die sozialdemokratische Presse nicht etwa eine Feindin der Reklame überhaupt. […] Darum ihr Abonnenten in Stadt und Land, soweit ihr eure Bedarfsartikel von Geschäftsleuten bezieht, die wohl in der unparteiischen Inseratenpresse ihre Ware feilbieten, den „Volksboten“ aber links liegen lassen, so laßt sie nicht darüber in Zweifel, daß sie auch ihre Kunden damit vor den Kopf stoßen. (Volksbote Nr. 296, 17. 12. 1904: 1)
Dennoch diskutierte die Partei über die Inseratenfrage. Auf dem pommerschen Parteitag 1910 begründete Genosse Kuntze, warum auf Anzeigen nicht verzichtet werden könne: Es wurde von vielen Genossen gewünscht, daß nicht soviel Inserate aufgenommen werden. Aber wir können nicht den Ast absägen, auf dem wir sitzen müssen. Uns wäre es auch lieber, wenn wir uns auf die reinen Abonnementseinnahmen stützen könnten, zumal die Inserateneinnahme eine unsichere Einnahmequelle ist, die mit der wechselnden Konjunktur schwankt. (Protokoll SPD Pommern 1910: 78)
Anzeigen
Abb. 25: Anzeigenseite des „Volksboten“ vom 29. 05. 1896 (Nr. 123). Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.
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Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik
Abb. 26: Anzeigenseite des „Volksboten“ vom 12. 01. 1928 (Nr. 10). Quelle: Haus Stettin, Lübeck.
Vergleich des „Volksboten“ mit „General-Anzeiger“ und „Stettiner Abendpost“
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In der Weimarer Republik wurden die ideologischen Beschränkungen des Anzeigenteils aufgehoben (Knilli 1974: 356). Es sind sogar Wahlanzeigen der Deutschnationalen („für Deutschtum, Christentum, soziale[n] Fortschritt“, Volksbote Nr. 1, 2. 1. 1919: 4) aufgenommen worden. Im Wahlkampf führte diese Offenheit für politische Gegner im Anzeigenteil dazu, dass sich auf derselben Seite, die einen Aufruf der SPD enthielt, wo es über die Deutsche Demokratische Partei hieß: „Volksrechte setzt die Partei nicht durch, da das den großen Kapitalisten und Bankiers in ihren Reihen nicht zusagt“, eine Anzeige ebendieser DDP findet (Volksbote Nr. 15, 18. 1. 1919: 4). Zeitungsannoncen sind eine Möglichkeit, mehr über das Blatt zu erfahren: Erstens: Eine Anzeige steht nicht um ihrer selbst willen in der Zeitung, sie wendet sich an einen bestimmten Leser. Zweitens: Wer sich für „seine“ Zeitung entschieden hat, wird seine Kleinanzeige nur in Ausnahmefällen beim Konkurrenzblatt aufgeben. Folglich sind Qualität und Herkunftsort der Anzeigen Indizien für die soziale Zusammensetzung des Leserkreises. (Meyen 1996: 20).
Viele Anzeigen im „Volksboten“ bewerben Schlussverkäufe bei Textilien. Auch Werbung für Tabakwaren findet sich, ebenso Stellenanzeigen und Wohnungsgesuche sowie Familienanzeigen, die in der Vorkriegszeit selten waren. Häufig sind Angebote für Möbel sowie für Veranstaltungen der parteinahen Organisationen. Anhand der Fülle an Anzeigenseiten zeigt sich, dass sich der „Volksbote“ seinen Anteil am Stettiner Werbemarkt erarbeiten konnte, auch wenn die Inserate arbeiterspezifisch blieben. An den Umfang des in Pommern führenden „General-Anzeigers“ kam die SPD-Zeitung nicht heran (dort wurden auch Autos und Pelze beworben, ebenso sind Kleinanzeigen häufiger).
VI.10 Vergleich des „Volksboten“ mit „General-Anzeiger“ und „Stettiner Abendpost“, Mai 1929 Der „Volksbote“ positionierte sich von Anfang an gegen die bürgerlichen Blätter vor Ort. Eine Aktion wie die Vereinbarung der pommerschen und Stettiner Zeitungsverleger für eine gemeinsame Preiserhöhung ab 1920 blieb die Ausnahme (Volksbote Nr. 297, 21. 12. 1919: 1). Eine Auszählung der Nummern vom 3. bis 8. Mai 192915 ergibt für den „Volksboten“, den „General-Anzeiger“ und die „Stettiner Abendpost“ folgendes Bild:
15 Die Auswahl hat sich danach gerichtet, dass alle drei Zeitungen mit den entsprechenden Ausgaben vorhanden sind, zudem sollte ein Zeitraum aus den relativ stabilen Jahren der Weimarer Republik gewählt werden, vor dem Börsenkrach im November 1929, der zur Weltwirtschaftskrise und zum politischen Niedergang Deutschlands führte, was auf die Zeitungsgestaltung zurückschlug.
366
Der „Volksbote“ – Themen und Inhalte in der Weimarer Republik
3.5. – 8.5. 1929
Volksbote
General-Anzeiger
Stettiner Abendpost
Gesamtumfang Seiten
84
122
100
Einzelpreis
10 Pfennig
10 Pfennig
10 Pfennig
Redaktionelle Seiten
60
53
68
Anzeigenseiten
24
69
32
Abbildungen (Anzahl)
83
39
53
Politik/Wirtschaft in Seiten (mit Börse/Handel)
13
21
28
Unterhaltung, Vermischtes, Wissen, 28 Beilagen, Sport in Seiten
17
25
Stettin/Pommern in Seiten (mit Briefkasten)
15
15
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Tab. 8: Daten zu „Volksbote“, „General-Anzeiger“ und „Stettiner Abendpost“, 3.5. – 8. 5. 1929 (gerundet). Der „General-Anzeiger“ mit Sonntagsausgabe.
Für einen identischen Preis (vermutlich auf die Wettbewerbssituation zurückgehend) bekamen Leserinnen und Leser unterschiedliche Zeitungsumfänge, den geringsten hat der „Volksbote“, zurückzuführen auf den geringsten Anteil an Anzeigen. Der höhere Anteil von „General-Anzeiger“ und „Stettiner Abendpost“ in der Kategorie Politik/Wirtschaft erklärt sich aus den Börsen- und Handelsberichten, die im „Volksboten“ fehlen. Dafür hat er die umfangreichste Berichterstattung zu Stettiner und pommerschen Th emen, durch seine Beilagen hat er auch einen größeren Anteil an „bunten“ Th emen (und die größere Zahl an Abbildungen, vor allem Fotografien). Im „General-Anzeiger“ hatte der Anzeigenteil das Übergewicht, insofern ist das Urteil des „Volksboten“ von 1919 zutreffend gewesen (auch in der politischen Schlussfolgerung): Die Stettiner Inseratenplantage, die angeblich politisch neutral sein will, entwickelt sich unter der jetzigen Redaktion immer mehr zu einem reaktionären Organ schlimmster Sorte. […] Allerdings zu der vom „Generalanzeiger“ erlangten Grundsatzlosigkeit, durch die uns von der früheren Regierung der Weltkrieg beschert wurde, hat sich die jetzige Regierung nicht bekannt und wird sie sich auch nicht bekennen, denn das wäre das Schlimmste, was uns widerfahren könnte. (Volksbote Nr. 263, 11. 11. 1919: 3)
Eine mittlere Stellung nimmt die „Stettiner Abendpost“ ein, die nur wenig umfangreicher als der „Volksbote“ war. Ihr Liberalismus war nicht mehr der emanzipatorische der „Börsen- Nachrichten der Ostsee/Ostsee-Zeitung“ des 19. Jahrhunderts. Stettins Oberbürgermeister Ackermann hatte 1927 gratuliert: Die Stettiner Abendpost hat den Standpunkt des soliden Bürgertums gewählt; sie wollte sein und wurde in großem Umfange das Hausblatt der ehrenwerten mittleren Schicht, die
Vergleich des „Volksboten“ mit „General-Anzeiger“ und „Stettiner Abendpost“
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in Gewerbe und Handel, im Dienste des Gemeinwesens und im Lehramt tätig ist oder war, die die Familie und die Staats- und Rechtsordnung ehrt, an Sitte und Herkommen festhält und sich durch die getreuliche Kleinarbeit des Alltags Ruhe und Stimmung für den Feiertag verdient. Als ihre Marschrichtung aber hat sie den friedlichen Fortschritt des bürgerlichen Gemeinwesens unbeirrt von allen politischen Parteiungen gewählt. So war denn gut mit ihr auszukommen für die Stadtverwaltung, die ja auch kein höheres Ziel hat, als trotz politischer und sonstiger Parteigegensätze alle Kräfte der Bürgerschaft von rechts und links und aus der Mitte zu fruchtbarer Arbeit für das gemeinsame menschliche Wohl zu vereinigen. (Stettins Oberbürgermeister Ackermann in: Stettiner Abendpost 1902 – 1927. Jubiläumsausgabe Nr. 255, 30. 10. 1927: 1)
Es ist kein Lob für eine Zeitung, gut mit der Stadtverwaltung auszukommen.
VII. Schluss VII.1 Zur journalistischen Qualität des Stettiner „Volksboten“ Diese Arbeit zeichnet die Entwicklung einer Parteizeitung von den Anfängen bis zum gewaltsamen Ende nach. Dies in einem Zeitraum, der für Geschichtswissenschaft wie Medienhistoriographie weiterhin bedeutsam bleibt, weil die Entwicklungslinien der Gegenwart bis in jene Jahrzehnte zurückreichen, und sei es durch Negation. Für die historische preußische Provinz Pommern mangelt es an Zeitungsmonographien, die quellenorientiert die publizistische Landschaft darstellen. Am Beispiel der wichtigsten sozialdemokratischen Zeitung des „Landes am Meer“ sollte diese Lücke wenigstens für einen Titel geschlossen werden. Der Aufschwung der Forschung zu Pommern nach der deutschen Einheit von 1990 hat die Arbeiterbewegung eher randständig in den Blick genommen, während die Beiträge aus der DDR-Forschung zu tendenziösen Schlussfolgerungen führten, dem erzwungenen marxistisch-leninistischen Geschichtsbild geschuldet. Polnischsprachige Darstellungen sind wertvoll, haben aber oft nur Überblickscharakter. Die Überlieferung des Stettiner „Volksboten“ ist vergleichsweise gut, er liegt mikroverfilmt und als Bilddigitalisat vor. Ebenso war es möglich, Kurzbiographien der Redakteure zu erstellen. Deren Lebensläufe waren von den Brüchen der politischen Entwicklung gezeichnet. Wichtig für das Verständnis des „Volksboten“ ist die politische Th eorie der deutschen Arbeiterbewegung, die sich aus den Quellen Lassalle und Marx/Engels speiste. Die Vorstellung einer materialistischen Entwicklung der Geschichte, in der die kapitalistische Ökonomie den Keim des Untergangs in sich trage und einer humanen Gesellschaft weiche, in der es kein Privateigentum an Produktionsmitteln und mithin keine Ausbeutung mehr gäbe, war zugleich Antrieb und Begrenzung der Sozialdemokratie und ihrer Presse. Diese Begrenzung bestand beim „Volksboten“ zur Zeit des Kaiserreichs darin, dass durch die Überzeugungstiefe der Redakteure die Rezipienten aus dem Blick gerieten. Die Kritik beispielsweise an den Landarbeitern, die die Zeitung schlicht nicht verstanden (und von Pfarrern und Gutsherren an sozialistischer Betätigung gehindert wurden), und den Frauen, die eher Interesse an Unterhaltung und Anzeigen hatten, nahm Züge einer Publikumsbeschimpfung an. Auf den pommerschen Parteitagen, die diese Arbeit erstmalig zusammenfassend referiert, wurde immer wieder über den „Volksboten“ diskutiert. Insbesondere wurde auf das Missverhältnis von Wählerstimmen für die SPD und Abonnenten hingewiesen, auf den Gedanken, dass es da keinen fixen Zusammenhang geben muss, sondern Journalismus eine eigene Logik haben kann, kam man nicht. Dies war aber keine pommersche Besonderheit, auch im Reich zeigen die sozialdemokratischen Pressedebatten (z. B. über die „Nur-Journalisten“), dass durch die Sicherheit des eigenen Standpunkts Faktoren wie familiäre oder kulturelle Prägung der Leserinnen und Leser lange ignoriert wurden. Dies lag aber auch an den ökonomischen Beschränkungen, so war der „Volksbote“
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lange auf Mitgliedsbeiträge und Zuschüsse angewiesen. Insofern kann sich die journalistische Qualität des „Volksboten“ womöglich eher dem heutigen als dem damaligen Leser erschließen. Er analysierte und argumentierte stringent, und die Entwicklung Deutschlands in die Abgründe von 1914 und 1933 hat ihn bestätigt. Die Lektüre und Präsentation einschlägiger Artikel zeigen dies anhand relevanter Themen auf: Das Deutsche Reich nach den Wahlen von 1912 (V.1.) Nach dem Wahlerfolg von 1912 schien die Zeit gekommen, die politische Konkurrenz abzulösen. Die Liberalen seien ideologisch ermattet, das Zentrum viel zu widersprüchlich, die Konservativen eine absolutistische Kriegs- und Kolonialpartei. Insgesamt sei die Verfassungswirklichkeit ein Anachronismus und diene nur der Bourgeoisie und dem Adel. Preußen (V.2.) In Preußen wurde vor allem das Dreiklassenwahlrecht bekämpft, das die Sozialdemokratie enorm behinderte. Nötig sei eine preußische Nation statt der bisherigen Untertanen. Überhaupt leide das Reich an seinen gewaltsamen Geburtsfehlern der Einigungskriege und der Annexionen. Hier zeichnete sich die Entwicklung Preußens in der Weimarer Republik ab, als es deren Rückhalt wurde. Polen (V.3.) Der „Volksbote“ bekämpfte die amtliche Polenpolitik, die vor allem seine korrupten Prota gonisten bereichere. Das polnische Volk müsse Kultur und Sprache behalten dürfen. Feind sei aber die polnische Bourgeoisie. Da die Zukunft sozialistisch sei, sollten sich die polnischen Arbeiter ihrer Klassenlage bewusst werden. Eine neue Grenzziehung im Osten befürwortete der „Volksbote“ nicht. Die Partei zwischen Dresdner Parteitag (1903) und Kriegsausbruch (V.4.) In den Debatten um Revisionismus und Massenstreik betonte der „Volksbote“ immer wieder die nötige Geschlossenheit der Partei, erfolgreich sei ein mittlerer Kurs. Die Schärfe der innerparteilichen Debatte nutze vor allem ihren Gegnern, denn das Proletariat habe keine Verbündeten. Die Zeitung verehrte August Bebel. Anarchismus und Revisionismus wurden zurückgewiesen. Geschichte und Erinnerung: 1848 und 1813 (V.5.) Aus der Geschichte von Märzrevolution und Befreiungskriegen sei zu lernen, dass sich Kompromisse mit den Hohenzollern nicht auszahlen. Das Bürgertum, einst revolutionär, werde von der Arbeiterbewegung beerbt, die allein das Recht habe, sich auf die freiheitlichen Traditionen zu berufen. Die herrschende Geschichtswissenschaft biege sich ihren Gegenstand borussophil zurecht.
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Eulenburgaffäre 1907 – 1909 (V.6.) Die Affäre um die (strafbaren) homosexuellen Affären am Berliner Hof nutzte der „Volksbote“ für Kritik am „persönlichen Regiment“ des Kaisers. Durch die Prozesse wurden Angriffe auf den Kaiser möglich, die sonst durch das Strafrecht (Majestätsbeleidigung) erschwert waren. Die Kreise um Eulenburg zeigten, wie verkommen der Adel war. Der § 175 müsse abgeschafft werden. Antisemitismus (V.7.) Der „Volksbote“ hat sich so umfangreich mit antisemitischen Veranstaltungen in Stettin befasst, dass die Partei mehr Zurückhaltung forderte. Der Antisemitismus sei ein Ulk, seine Vertreter lächerlich. Eine völlige Trennung von Staat und Kirche würde eine Assimilation der Juden erleichtern, im Sozialismus gäbe es überhaupt keine „Judenfrage“ mehr. Der Kampf gegen den Alkoholismus (V.8.) In der Alkoholfrage nahm der „Volksbote“ eine mittlere Position ein. Schnaps sollte nicht getrunken werden. Allerdings habe das Trinken seine Gründe in der prekären Lage der Arbeiter, zudem würden Bürger und Studenten auch trinken. Der Kampf gegen den Alkoholismus sei kein Glaubensbekenntnis der Arbeiterbewegung, denn durch Hebung der sozialen Lage würde er verschwinden. Religion, Kirche und Atheismus (V.9.) Der „Volksbote“ vertrat eine Art Substitutionstheologie. Die Heilslehre Sozialismus sei die eigentliche Verwirklichung der christlichen Botschaft. Die Kirche selbst habe sich durch das Bündnis mit den Herrschenden von Christus entfernt, zudem habe die Wissenschaft den Glauben widerlegt. Es wurde die Verquickung von Staat und Kirche bekämpft, diese werde im Sozialismus absterben. Frauen (V.10.) Die Lage der Frauen im Kapitalismus stellte der „Volksbote“ als prekär dar. Erst der Sozialismus könne sie befreien. Dazu müssten sie sich aber selbst der Arbeiterbewegung anschließen oder wenigstens ihre Männer politisch unterstützen. Als Rezipientinnen seien Frauen rückständig, da sie das Abonnement der Arbeiterpresse torpedierten und überwiegend Seichtes läsen. Landarbeiter (V.11.) Mit der sozialen Lage der Landarbeiter setzte sich die Zeitung oft auseinander. Die drückenden Verhältnisse in den Dörfern könne nur beschönigen, wer dort nicht lebe. Die Landagitation leide an Personalmangel und geringer Bildung der Landarbeiter. Mit speziellen Schriften (z. B. „Der Pommer“) versuchte die Partei, in der Fläche Einfluss zu gewinnen.
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Gegen Imperialismus und Kriegsgefahr (V.12.) Der „Volksbote“ stellte sich Nationalismus und Imperialismus entgegen. Die politische Isolation Deutschlands dürfe nicht militärisch gelöst werden, Österreich-Ungarn sei der falsche Bündnispartner. Die Vorstellung, man könne es mit England aufnehmen, sei eine Illusion. Einen Krieg könnte Deutschland verlieren. Der Militarismus verdecke die inneren ungelösten Probleme. Kriegsberichterstattung (V.13.) Vor Kriegsausbruch fanden in Stettin Friedensdemonstrationen statt. Der „Volksbote“ stand unter drückender Militärzensur (sichtbar auch in Zensurlücken, also vor dem Druck entfernten Artikeln), die auch in Berlin thematisiert wurde. Die alldeutschen Eroberungsgelüste lehnte er ab. Der Friede von Brest-Litowsk sei ein Pyrrhussieg. Feuilleton (V.14.) Im Feuilleton finden sich u. a. Fortsetzungsromane, die auch erzieherische Zwecke verfolgten, und politische Zeitungsgedichte, die programmatisch eine leuchtende Zukunft beschwören. In der Literaturkritik war der politische Standpunkt der Künstler wichtiger als die Qualität. Eingefordert wird die Aneignung der Klassik, das Bürgertum habe sich ihrer als unwürdig erwiesen. Öffentlichkeit und journalistisches Selbstverständnis (V.15.) Aufgabe der Arbeiterpresse als schärfster Waffe im Kampf für den Sozialismus sei neben der Information vor allem die Aktivierung der Proletarier zum politischen Engagement. Arbeiter dürften keine kapitalistischen Zeitungen kaufen. Die Stettiner Konkurrenz berichte sinnentstellend, verfolge nur die Interessen des Kapitals, ihre „Unparteilichkeit“ sei Etikettenschwindel. Novemberrevolution (VI.1.) Da sich die Ereignisse überschlugen, waren die Artikel zur Novemberrevolution 1918 überwiegend nachrichtlich. Man wollte weder Anarchie noch Bolschewismus, sondern erhoffte die Errichtung einer sozialistischen Ordnung. Der „Volksbote“ war Publikationsorgan des Arbeiter- und Soldatenrats. In Pommern seien USPD und KPD daran schuld, dass die Umwälzung nicht weiter gehen konnte. Versailler Vertrag (VI.2.) Die Friedensbedingungen 1919 wurden als brutal interpretiert, sie würden die Besiegten versklaven und auch die Entente schwächen, dennoch gebe es zur Unterzeichnung keine Alternative. Die deutschen politisch Verantwortlichen am Kriegsausbruch 1914 müssten bestraft werden. Der Sieg der Entente sei auch ein Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus und die internationale Arbeiterbewegung.
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Kapp-Putsch (VI.3.) Der „Volksbote“ rief zum Widerstand gegen die Putschisten um Kapp und Lüttwitz auf, beim Generalstreik handele es sich um Sein oder Nichtsein des Proletariats. Es war deutlich geworden, wie stark die reaktionären Kräfte in Pommern noch/wieder waren. Von der Niederschlagung des Putsches versprachen sich die pommerschen Genossen die Gelegenheit zur Vollendung der Revolution. Das Krisenjahr 1923 (VI.4.) Der „Volksbote“ sah früher als die Konkurrenz, dass der passive Widerstand gegen die Ruhrbesetzung sinnlos geworden war. Er forderte eine Währungsreform. Intensiv beobachtete er Bayern, wo die Nationalsozialisten zum Putsch rüsteten. Eine Zusammenarbeit mit den sowjetrusslandhörigen Kommunisten kam für die Zeitung nicht infrage. Reichspräsidentenwahl 1925 (VI.5.) Vor der zu starken Stellung des Reichspräsidenten hatte der „Volksbote“ schon 1919 gewarnt. Vor dem ersten Wahlgang wurde dem DVP-Kandidaten Jarres die Eignung abgesprochen. Dass die SPD im zweiten Wahlgang Marx (Zentrum) unterstützte, wurde kritisiert. Völlig unmöglich sei der Kandidat Hindenburg, der den Staat gefährde und dessen Sieg die Kommunisten ermöglicht hätten. Gegen Hitler (VI.6.) Über den Hitler-Ludendorff-Putschversuch von 1923 hat der „Volksbote“ groß berichtet. Hitler wurde als Psychopath bezeichnet. Das deutsche Bürgertum äffe den italienischen Faschismus nach. Die Zeitung deckte die zahlreichen Skandale der pommerschen NSDAP auf. Zu Hitlers Besuch in Stettin hieß es, es sei zusammenhangloses Schimpfen gewesen. Der „Volksbote“ warnte vor der Diktatur. Lokales und Provinz (VI.7.) In der Anfangszeit des „Volksboten“ finden sich nur wenige Stettin- und Pommernartikel. Die bürgerliche Lokalpolitik wurde kritisiert. Servicefunktion hatte die Rubrik „Eingesandt“. In der Weimarer Republik differenziert sich die Lokal- und Provinzberichterstattung aus und nimmt enorm zu, auch mit Abbildungen. Die Überschriften sind sachlich gehalten. Karikaturen (VI.8.) Die Karikaturen im „Volksboten“ (einige Beispiele in dieser Arbeit) wenden sich gegen die bürgerlichen und adeligen Reaktionäre und Besitzenden, den Nationalsozialismus und die Kommunisten. Zudem gab es eine humoristisch-satirische Beilage „Der Spatz“, die auch anderen pommerschen sozialdemokratischen Zeitungen hinzugefügt wurde.
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Anzeigen (VI.9.) Der „Volksbote“ war stets um Inserate bemüht und nahm auch Werbung für Alkohol und Tabak auf. Anfangs gab er vor allem Eigenwerbung und Veranstaltungshinweise wieder, Klein- und Familienanzeigen waren zunächst selten. Die Zeitung rief ihre Leserinnen und Leser dazu auf, bei den Inserenten verstärkt einzukaufen oder in Geschäften Anzeigen einzufordern. Vergleich des „Volksboten“ mit „General-Anzeiger“ und „Stettiner Abendpost“, Mai 1929 (VI.10.) Die Auszählung von Umfang und Ressorts einer Woche von drei Stettiner Zeitungen aus dem Zeitraum relativer Stabilität der Weimarer Republik ergab, dass der „Volksbote“ weniger Gesamtumfang und Anzeigen aufwies, aber mehr unterhaltende und Stettin-/Pommernartikel hatte als „General-Anzeiger“ und „Stettiner Abendpost“. Die vorliegende Untersuchung des Stettiner „Volksboten“ zeigt, dass er durchgängig mit einer Oppositionshaltung gegenüber den herrschenden Zuständen und der liberal-konservativen Mainstreampresse schrieb. Das ist für eine sozialdemokratische Zeitung des Erscheinungszeitraums nicht untypisch. Dabei hat der „Volksbote“ seine Argumentation transparent dargelegt und aus einem sozialistischen Verständnis der Geschehnisse hergeleitet. Der Stettiner „Volksbote“ ist ohne seinen Gründer Fritz Herbert nicht zu denken. Herbert war die prägende Gestalt der Sozialdemokratie in Pommern und wirkte ausgleichend. Die vor dem Sozialistengesetz gegründete „Stettiner Freie Zeitung“ hatte sich nicht halten können, sodass der „Volksbote“ in einer Zeit entstand, als der Zenit der Parteipresse bereits überschritten war: So hatte die verspätete Lockerung des politischen Diskurses in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Parteipresse von Bedeutung entstehen lassen. Dabei kam es, wie so oft, wenn Nachholbedarf angezeigt ist, zu einer Überkompensation, so dass in den 1870ern beinahe allein die Parteipresse als zukunftsträchtig erscheinen musste. Doch schon um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert steckte die Parteipresse in einer tiefen Krise, und bis in die Weimarer Zeit nahm der Anteil der Parteizeitungen langsam ab. (Stöber 2005: 329 f.)
Auch war die soziale Lage um 1900 nicht mehr die der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die marxsche Th eorie unter dem Eindruck des Pauperismus der Industrialisierung entstand (auch Engels 2004 [1884, 1892]). In Deutschland kam die bismarcksche Politik von „Zuckerbrot und Peitsche“ hinzu: Bismarcks unmittelbares Ziel, durch die Sozialversicherungsgesetze die Arbeiter von ihren Führern zu trennen, ist so zweifellos gescheitert. Langfristig haben aber die durch Gesetze mitbewirkte Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter sowie die in den Selbstverwaltungsorganen der Sozialversicherung gegebenen Mitwirkungsmöglichkeiten zum Abbau
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von Klassenspannungen und zum Vordringen reformistischer Tendenzen in der Arbeiterbewegung beigetragen. (Ritter 1989: 12)
Die pommersche Sozialdemokratie war linker als die Gesamtpartei, sodass manchmal die Perspektive des politisch Machbaren aus dem Blick geriet. Da die Provinz außer Stettin keine Großstädte aufwies, hatte die SPD immer eine geringe Basis. Auf dem Land konnte sie nicht durchdringen, die Landarbeiter blieben stärker von anderen Faktoren als der sozialdemokratischen Agitation geprägt. Der Landbevölkerung und dem Mittelstand, die laut der sozialistischen Theorie transformiert werden sollten, hatte der Marxismus wenig zu bieten. Die Frauen engagierten sich nicht in dem Umfang für den Sozialismus, wie es dem „Volksboten“ wünschenswert erschien. Das weibliche Leseverhalten hat er in der wilhelminischen Zeit oft und heftig kritisiert, er blieb eine Zeitung von klassenbewussten Männern. Diese waren gebildeter als weite Teile ihrer Leserschaft. Insbesondere die langen Artikel auf den Titelseiten in der Kaiserzeit, die Theorie und Taktik der Arbeiterbewegung darlegten (und oft ohne regionalen Bezug auf Korrespondenzen zurückgingen) stießen z. T. auf Verständnisprobleme beim Publikum (diese Verständnisprobleme wurden auch bei der Landagitation und deren Medium „Der Pommer“ debattiert). Innerhalb Pommerns blieb der „Volksbote“ in der Opposition. Sozialdemokratische Partei und ihre Zeitung bildeten eine Einheit. Scharfe Auseinandersetzungen führte der „Volksbote“ mit den anderen politischen Kräften. Er sah sich (wie die Partei) einer Fronde von Reaktionären, Kapitalisten, Kommunisten und Nationalsozialisten ausgesetzt, gegen die er anschrieb, solange das möglich war. Dabei war er analytisch klar und beschönigte nicht den Ernst der Lage. Die Gefahr eines Weltkrieges hat der Stettiner „Volksbote“ früh gesehen. Pommersche Arbeiter nahmen an Friedensdemonstrationen teil, ein „Augusterlebnis“ hat es so nicht allgemein gegeben: Die Kriegsbegeisterung, die sich in Straßendemonstrationen und in Freiwilligmeldungen zum Kriegsdienst kundtat, war ein Trugbild, das schlichtweg die Kriegsfurcht jener Deutschen ausblendete, die zu Hause blieben. (Kühne 2010: 34)
Dies hatte auch Gründe in der Klassengesellschaft. Ein Dekadenzgefühl hatten die Proletarier nicht, während Teile des Bürgertums dem nationalen Rausch verfielen: Die Kriegsdemonstrationen im August 1914 in vielen Hauptstädten Europas können in gewissem Umfang als Rebellion gegen die Mittelstandskultur gedeutet werden, gegen ihre Sicherheit, ihren Wohlstand und ihren Mangel an Herausforderungen. Die wachsende Isothymia 16 des täglichen Lebens schien nicht mehr zu genügen, und es kam zu einem Rückfall in die Megalothymia. (Fukuyama 1992: 437) 16 Aus dem Griechischen. Isothymia: Bedürfnis, als gleich anerkannt zu werden. Megalothymia: Bedürfnis, als überlegen anerkannt zu werden.
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Anhand der Artikel über die Befreiungskriege hatte der „Volksbote“ 1913 die Vorstellung zurückgewiesen, dass die preußische Obrigkeit aus Dankbarkeit für den Massentod gewähren würde, was den Arbeitern im Frieden verwehrt geblieben war. Mit dieser Einschätzung hatte er recht. Selbst das preußische Dreiklassenwahlrecht blieb in Kraft. Der „Volksbote“, der unter dem Druck der Militärzensur gestanden hatte, lehnte die Annexionspolitik, wie sie im Frieden mit Sowjetrussland zutage trat, ab, und wies nach Kriegsende auf die Schuldigen in Berlin, also den Kaiser, die Regierung, das Militär und die Alldeutschen hin. Eine Kriegsfolge war die parlamentarische Demokratie in Deutschland, von der der „Volksbote“ hoffte, dass sie in eine sozialistische Zukunft führen würde. Nun geriet er in eine Verteidigungshaltung, weil die revolutionären Errungenschaften von links (die Kommunisten, die die bolschewistische Diktatur wollten) wie rechts („Dolchstoßlegende“) bekämpft wurden. Das geistige Klima Deutschlands aber driftete ins völkische Geraune: Der Kulturpessimismus war in Deutschland weiter verbreitet, auch akuter als irgendwo sonst in Europa. Seine Manifestationen in Deutschland zeigen an, dass im bedeutendsten und fortgeschrittensten Land Mitteleuropas selbst während der „Goldenen Zwanziger“ Ideen artikuliert wurden, die in einem drastisch veränderten politischen und ideologischen Klima eine mächtige Wirkung entfalten konnten. (Kershaw 2016: 254)
Die Zeitung der pommerschen Sozialdemokratie versuchte dagegenzuhalten, doch drangen ihre Argumente nicht so durch, dass der konservativ-nationalistische Mainstream der Provinz hätte durchbrochen werden können. Dies galt seit der Weltwirtschaftskrise, die nicht dem entfesselten Kapital und falscher Politik angelastet wurde, sondern der Partei, allgemein: Schmerzlich aber ist die Feststellung der Tatsache, daß die Millionen Enterbten nicht den wirklich Schuldigen an ihrem Elend erkennen, daß ihre Empörung sich nicht so sehr richtet gegen den Alleinschuldigen, gegen den Kapitalismus, sondern gegen die – Sozialdemokratie. […] Das hat den überaus betrüblichen Zustand geschaffen, daß in dieser Zeit auch die dümmsten und unwahrscheinlichsten Lügen und Verleumdungen gegen die Sozialdemokratie ihr Publikum finden und die Sozialdemokratische Partei und Presse unendlich viel Kraft verwenden muß, um diese unglaublichsten Lügen zu widerlegen. (Seydewitz u. a. 1930: 108, 112)
Anfangs hatte der „Stettiner Volksbote“ rund 400 Abonnenten (Herbert 1893: 8), er m auserte sich zur viertgrößten Zeitung Pommerns, die in der späten Weimarer Republik wirtschaftlich litt und eine politische Dauerkampagne führen musste. Es gelang dem „Volksboten“, Arbeiter für die Presse zu gewinnen, auch wenn er stets die bürgerliche Konkurrenz bekämpfen musste. Wie die anderen sozialdemokratischen Zeitungen erbrachte er eine Kulturleistung: Die Arbeiterbewegung schuf unter unsäglichen Komplikationen eine ihr gemäße literarische Gegenkraft zur herrschenden Presselandschaft, Fremdkörper in ihr und zugleich Ergänzung,
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Schluss
die zum Aufgreifen politischer Konzeptionen und sozialer Themen zwang. Eine Voraussetzung dafür war, daß sie den „einfachen Mann“ an die Lektüre von Zeitungen und anderen Druckerzeugnissen heranführte. Der – wie die Auflagenzahlen belegen – wachsende Stamm von Arbeiterlesern bedeutete einen wichtigen Durchbruch. Die proletarische Emanzipationsbewegung bewies sich insofern als Kulturbewegung, als sie nicht nur den politisch interessierten und engagierten, sondern auch den lesenden Arbeiter erzog. (Schröder 1999: 46)
Die journalistische Professionalisierung schlug sich u. a. in den Korrespondenzen und Pressediensten sowie der Nutzung neuer Techniken nieder. Das Selbstbewusstsein der Redakteure wuchs, sodass sich die Partei u. a. mit der Frage befassen musste, inwieweit sozialdemokratische Journalisten auch für andere Titel schreiben durften (Abdruck bei Grohall 1961: 193 – 208). Der Stettiner „Volksbote“ nahm in der Weimarer Republik zunehmend ein größeres Publikum als die Parteimitglieder und bereits Überzeugten in den Blick. Die Titelseiten wurden nachrichtlicher, der Abdruck von Protokollen von Reichstag und Parteitagen nahm kleineren Raum ein, die Lokal- und Provinzberichterstattung wurden ausgebaut, Zeichnungen, Fotos und Karikaturen lockerten den Inhalt auf, die Überschriften wurden prägnanter. Er brauchte nun keine Zuschüsse mehr. Zwar enthielt er weniger Anzeigen als die bürgerlichen Blätter, musste aber in thematischer Vielfalt (auch durch die Beilagen) den Vergleich nicht scheuen. Was Hans Mommsen über die pragmatische Politik der Weimarer SPD schrieb, galt auch für ihre Presse: Trotz der immanenten Schwächen der sozialdemokratischen Politik in der Weimarer Zeit, die in vieler Hinsicht die Nachwirkung ihrer Außenseiterrolle im Bismarckschen und Wilhelminischen Reich gewesen sind, hat die SPD wichtige Schritte auf dem Weg zur Umwandlung in eine demokratische Volkspartei bereits damals vollzogen. Die historischen Umstände, zugleich die zu kurze Zeitspanne bis zur Wirtschaftskrise, haben verhindert, daß diese Tendenz sich voll durchsetzen konnte. (Mommsen 1979: 365).
Der „Volksbote“ gab seine Vorliebe für Grundsatzbeiträge auf und widmete sich ganz dem Tagesgeschehen, ohne seine politische Haltung zu verwässern. Die Wirtschaftskrise hat ihn beschädigt, untergegangen ist er aber erst durch das NS -Regime. Für das benachbarte Mecklenburg-Schwerin schreibt Kasten (2011: 385), dass zum Ende der Weimarer Republik die SPD die Kraft verließ, sie sei „energie- und tatenlos“, „ausgelaugt und ermattet“ gewesen. Ob dies auch für Stettin galt, ist anhand des „Volksboten“ nicht festzustellen (wäre es so gewesen, hätte dieser Umstand nicht den Weg in die Zeitung gefunden). Meyen (2008: 446) kommt anhand der „Neuen Leipziger Zeitung“ zu dem Schluss, trotz aller Bemühungen sei der „Einfluss der Tageszeitungen auf das Meinungsklima in zentralen politischen Fragen nicht allzu hoch zu veranschlagen“. Es gibt Phasen der politischen Kultur, die sich von Fakten, Handlungsbegrenzungen und Humanität abkoppeln, wo das Argument nicht mehr zählt und der Konsens des sinnvoll M achbaren aufgekündigt wird:
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In der Tat ist die Massenwirksamkeit des Faschismus als Mobilisierung überlieferter und unaufgeklärter Ressentiments und Statusängste gegen die volle Durchsetzung der Industriegesellschaft und gegen deren nivellierende und rationalisierende Wirkungen zu begreifen. […] Die Arbeiterbewegung, an der industriellen Wirklichkeit orientiert, unterschätzte die Bedeutung der residualen Sektoren und rückständiger Mentalitäten; als, um eine Formulierung Blochs aufzugreifen, „Kehrseite des gewordenen Liberalismus“ stand sie dem Einbruch des politischen Irrationalismus hilflos gegenüber. […] Es wäre jedoch verfehlt, von einer radikaleren, revolutionären Propaganda gegenüber dem reformistischen Kurs nachträglich einen grundlegend anderen Verlauf der Dinge abzuleiten. (Mommsen 1979: 363)
Wie das Grauen des Ersten Weltkrieges nicht zu einer pazifistischen Grundstimmung führte, gelang es auch der Republik nicht, allgemein wertgeschätzt zu werden. Sie musste der Unvernunft weichen. (1918/19 hatte sich das Phänomen wiederholt, das zum Scheitern der Märzrevolution 1848/49 geführt hatte: Vor dem Erreichen einer gänzlich neuen Ordnung spalteten sich die Revolutionäre [Liberale/Demokraten bzw. Sozialdemokraten/ Unabhängige/Kommunisten], sodass ein Kompromiss mit den alten Gewalten gefunden werden musste.) Bereits 1852, lange vor den Totalitarismen, wurde darauf hingewiesen, dass es in der Geschichte Zeiten gibt, in denen der kollektive Wahn überwiegt: In reading the history of nations, we find that, like individuals, they have their whims and their peculiarities; their seasons of excitement and recklessness, when they care not what they do. We find that whole communities suddenly fix their minds upon one object, and go mad in its pursuit; that millions of people become simultaneously impressed with one delusion, and run after it, till their attention is caught by some new folly more captivating than the first. We see one nation suddenly seized, from its highest to its lowest members, with a fierce desire of military glory; another as suddenly becoming crazed upon a religious scruple; and neither of them recovering its senses until it has shed rivers of blood and sowed a harvest of groans and tears, to be reaped by its posterity. (Mackay 1852: VII)
So ergibt sich der tragische Befund, dass der „Volksbote“ recht hatte, dies aber nichts nützte. Er wies dabei ein großes inhaltliches Kontinuum auf, das mit der Diasporasituation zu erklären ist. – Die Frage nach der Qualität sozialdemokratischer Zeitungen wurde schon von Zeitgenossen aufgeworfen. Im Kaiserreich war ein Kritikpunkt die mangelnde Originalität: Der politische Teil ist oft nichts weiter als ein nicht einmal geschickt zusammengestelltes Sammelsurium von Artikeln und Notizen aus den wenigen Tageszeitungen, die selbständige Artikel bringen. Selbst die Leitartikel sind vielfach anderen Zeitungen entnommen. In keiner Parteipresse ist der Nachdruck ohne Quellenangabe so verbreitet, wie in der socialdemokratischen Presse. […] Fast noch schlimmer, als mit dem politischen Teil, ist es mit den Spalten der Tagespresse bestellt, die locale Angelegenheiten behandeln. […] Vielfach sind hier unsere Blätter darauf angewiesen, ihre Nachrichten sogar der bürgerlichen Presse
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Schluss
zu entnehmen; nicht einmal über Arbeiterangelegenheiten sind sie so unterrichtet, wie es nach dem Stand der Arbeiterorganisation sein könnte und müsste. (Calwer 1901: 700 f.)
In der Weimarer Republik erschien manchen der Marxismus überholt: Es ist klar: in der Werbetätigkeit kann nicht die letzten Tiefen durchdringende Theorie, kann nicht Originalität verlangt werden; es geht nicht ohne „predigendes“ Wiederholen, ohne unablässiges Einhämmern. Aber ebenso klar ist: beim Neuproletar [!] von 1930 können die als Routine durch ganze Geschlechter von Funktionären vererbten Lehren des marxistischen Volksbekenntnisses nicht mehr so wirken, wie sie 1890 beim Industrieproletariat gewirkt haben. […] Die Entscheidung für die Auflockerung der Partei und ihre ideologische Aufschliessung gegenüber dem Neuproletariat bedeutet nicht einmal ein Aufgeben der marxistischen Volkslehre überhaupt. Die Arbeiterschaft, in diese Gedankengänge seit Jahrzehnten eingewöhnt, mag dabei bleiben. Was zu fordern ist, heisst: Freistellung der marxistischen Weltanschauung, Verzicht auf sie als offizielle und verbindliche Lehre der Bewegung. (Geiger 1931: 635)
Nun sind Qualitäten „keine Eigenschaften der Gegenstände, denen sie zugesprochen werden, sondern Beobachterkonstrukte“ (Bucher 2003: 12). Hinzu kommt, dass die Einhaltung von Qualitätsindikatoren, sofern man sich auf sie einigen kann, nicht zwangsläufig vom Markt goutiert wird: „Zu allem Überfluss fehlt bisher der empirische Nachweis, dass die Qualitätssteigerung einer Zeitung durch Leser- oder Reichweitengewinn belohnt wird“ (Hassemer/Rager 2006: 19). Hier spielt auch eine Rolle, dass etwa ein größerer Anzeigenteil als entscheidendes Kaufkriterium gelten kann. Die von Arnold referierten Kriterien für die Qualität von Lokalzeitungen (Arnold 2009: 43) treffen mit historisch bedingten Abstrichen auf den „Volksboten“ zu. Arnold fasst Studien zur Pressekonzentration und zu Lokalzeitungen so zusammen, dass folgende Leistungskriterien entstehen: • Autonomie als kritische, unabhängige Haltung gegenüber Politik, Interessengruppen, Anzeigenkunden; als Anteil an selbstrecherchiertem Material gegenüber PR-Material • Sachlich-soziale und temporale Relevanz • Vielfalt bei Themen, Meinungen, Argumenten, Quellen • Hintergrundinformationen (Ursachen, Folgen, Interessenlagen, Betroffenheit) • Quantität der redaktionellen Inhalte • Layout-Merkmale (Übersichtlichkeit) • Offenlegung der Quellen • Kommunikationsmöglichkeiten für die Rezipienten Diese Punkte erfüllte der „Volksbote“ spätestens in der Weimarer Republik. Autonom kann eine Parteizeitung nicht sein, wenn sie aber aus einer Oppositionshaltung heraus publiziert, erfüllt sie die journalistisch notwendige Kritikfunktion gegenüber den politischen Zuständen.
Zur journalistischen Qualität des Stettiner „Volksboten“
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Insbesondere im Kampf gegen den aufkommenden Nationalsozialismus hat sich das Blatt um Hintergrundinformationen bemüht. Die Menge der redaktionellen Inhalte nahm ständig zu. Leser konnten sich an die Zeitung wenden, schon in der wilhelminischen Zeit. Wichtig für die Frage nach der Qualität ist die Orientierungsleistung (Arnold 2009: 162). Dabei galt: „Aber nicht nur Informationen waren von Bedeutung, sondern auch die kritische Meinungspublizistik, also ein Journalismus, der die Interessen bestimmter Publika gegen den Obrigkeitsstaat vertrat und politische Teilhabe einforderte“ (Arnold 2009: 157). Der „Volksbote“ hat sich stets mit den Mächtigen angelegt, davon zeugen Presseprozesse, Zensur und Verbot. Zudem ist „der Bezug zur Lebenswelt des Publikums wichtig“ (Arnold 2009: 130). Trotz der engen Bindung an die Partei waren die Artikel im Stettiner „Volksboten“ vielfältig, richtig und relevant, wenn eben auch nicht unabhängig (welche Zeitung war oder ist das schon?). Die Verständlichkeit nahm im Laufe der Zeit zu, ebenso die Aktualität durch verbesserte technische Möglichkeiten (mehrmals täglich erscheinen konnte die Zeitung aber nicht, anders als Berliner Blätter). Włodarczyk (2005: 44) schließt mit der Auffassung, wonach der Stettiner „Volksbote“ eine der „interessantesten Tageszeitungen, nicht nur in Stettin und Pommern, sondern in ganz Deutschland“ gewesen sei. Dass im heute polnischen Stettin eine Zeitung mit dem Namen „Kurier Szczeciński“ erscheint, also „Stettiner Bote“, ist vielleicht eine Reminiszenz an die alte deutsche Zeitung. In der politischen Analyse war der „Volksbote“ seiner Konkurrenz an Weitsicht überlegen. Diese konkurrierenden Zeitungen waren weit weniger auf Kritik und Kontrolle des wilhelminischen Staates aus, s päter hielten sie unheilvolle Distanz zur Republik. In Stettin waren m. E. nur die „Börsen-Nachrichten der Ostsee/Ostsee-Zeitung“ von ähnlicher publizistischer Qualität, und dies auch nur in ihren frühen Jahrzehnten, als sich der Liberalismus noch nicht mit dem Hohenzollernstaat arrangiert hatte. Eine vergleichende Untersuchung von „Ostsee-Zeitung“ und „Volksbote“ in Bezug auf ihre Oppositionshaltung wäre sicher reizvoll. Die deutsche Parteipresse ist untergegangen. Durch den Medienumbruch des Internets versuchen Parteien inzwischen, auch außerhalb der Presse Publikum und potentielle Wähler zu erreichen, zumal sich besonders die SPD sehr starker massenmedialer Kritik ausgesetzt sieht. Die Zeitungen selbst befinden sich in einer Krise, sogar vom Journalismus insgesamt kann gesagt werden: „Sein großes Jahrhundert scheint vorbei zu sein“ (Weischenberg 2010: 35). Die regionalen Tageszeitungen durchdringen nicht mehr die Gesellschaft (Vogel 2010: 102). In Zeiten der Verunsicherung lohnt sich ein Blick zurück. Auf die medialen Umwälzungen ab 1900 reagierte die Presse so, dass sie ihren Platz bei den Rezipienten behielt. Was der Stettiner „Volksbote“ heutige Journalisten wie Leser lehren kann, sind Klarheit, Haltung und Hoffnung. Klarheit in der Argumentation, Haltung in der Verteidigung der sozialen Demokratie, Hoffnung auf die Gestaltung menschenwürdiger Verhältnisse, sogar im Weltmaßstab. Diese Ziele können auch heutige Journalisten verfolgen, gerade in einer politischen Situation, in der die ideologischen Ränder erstarken, das „Selbstgespräch der Zeit“ sich polarisiert.17 Dabei sollte an den 17 Die mediale Polarisierung der Weimarer Republik sollte ein warnendes Beispiel sein.
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Qualitätsdimensionen Aktualität, Relevanz, Richtigkeit und Vermittlung festgehalten werden, auch unter dem Druck der Schnelligkeit, Aufmerksamkeitsökonomie und der sozialen Medien mit ihren Algorithmen. Schicha (2003) führt „die normativen Aufgaben der Massenmedien“ zurück auf: • die Informationsfunktion (Nachrichtenvermittlung), • die Bereitstellung relevanter Themen für den öffentlichen Diskurs (Agenda-Setting), • die Bildungs- und Sozialisationsfunktion (Vermittlung von Werten), • die Integrationsfunktion (Suchen gemeinsamer Ziele), • die Korrelationsfunktion (Meinungsbildung), • die Artikulationsfunktion (aller gesellschaftlichen Kräfte) sowie die Kritik- und Kontrollfunktion. Der Stettiner „Volksbote“ hat diese Aufgaben erfüllt, obwohl es den staatlichen Rahmen dafür zu seiner Zeit noch gar nicht gegeben hat. (Eine) Aufgabe des heutigen Journalismus ist es, diesen in Deutschland seit 1949/1990 bestehenden Rahmen, die freiheitlichdemokratische Grundordnung, zu erhalten. Dabei sind auch die Rezipientinnen und Rezipienten als Bürger gefordert.
VII.2 Anregungen Vor den Abgründen nationalistischer Politik, in die Deutschland zweimal stürzte, hatte der französische Wissenschaftler Ernest Renan schon 1882 gewarnt: Jenseits der anthropologischen Merkmale gibt es die Vernunft, die Gerechtigkeit, das Wahre und das Schöne, die für alle dieselben sind. Bedenken Sie, diese ethnographische Politik ist nicht verlässlich. Heute setzt ihr sie gegen die anderen ein; s päter werdet ihr erleben, wie sie sich gegen euch selbst kehrt. Ist es sicher, dass die Deutschen, die die Flagge der Ethnographie so hoch gehisst haben, nicht eines Tages erleben werden, wie die Slawen ihrerseits die Dorfnamen Sachsens und der Lausitz erforschen, die Spuren der Wilzen und der Obodriten [westslawische Stammesverbände auf dem Gebiet des heutigen Mecklenburg-Vorpommern, Nordbrandenburg und Holstein – H. B.] erkunden und Rechenschaft für die Gemetzel und massenhaften Verkäufe fordern, die ihren Ahnen von den Ottonen angetan wurden? Es ist für alle gut, vergessen zu können. (Ernest Renan 1993: 302)
Der nationalsozialistischen Germanisierungspolitik im Osten folgte die Vertreibung der Deutschen aus ihren Siedlungsgebieten inner- und außerhalb der Reichsgrenzen. Mit der Erinnerung an das kollektive Leid tut sich die Bundesrepublik bis heute schwer, denn sie war Folge der nationalsozialistischen Gewaltorgie in Polen, dessen Westverschiebung anzuerkennen zugleich lange tabu gewesen war. Man kann auch weitergehen und die Geschichtspolitik als gescheitert ansehen:
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Die in der Bundesrepublik mit so vielen Mitteln geförderte Konstruktion eines Erinnerungsortes „Flucht und Vertreibung“ war ein Mißerfolg. […] Die Welt der Heimatvertriebenen wurde als Medium des nationalen Gedächtnisses musealisiert, und die Vertriebenen zur Vergegenständlichung der Erinnerung an den „verlorenen deutschen Osten“ mißbraucht. (Hahn/Hahn 2003: 351)
Matulls Erinnerungsbuch zur ostdeutschen Arbeiterbewegung blieb eine Ausnahme, was Pommern und die anderen Ostgebiete betraf, teilte sich die Erinnerung in einen offiziösen, zunehmend konservativ dominierten, und einen eher privaten Teil: Der von diesen „Vertriebenen“ gepflegten kollektiven Erinnerung bemächtigten sich bald die politisch Erfahrenen unter ihnen, mit denen jedoch die zum Nationalsozialismus in Opposition stehenden Kreise kaum Verbindungen hatten. (Hahn/Hahn 2003: 339)
In der DDR gab es nur vereinzelt Forschung, die über die „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ hinausreichte, den „Umsiedlern“ machte die SED-Diktatur lediglich das Angebot einer schnellen Integration in die sozialistische Tristesse um den Preis des Gedächtnisverlusts. Dies wirkt bis heute nach, weil in vielen Darstellungen das Gebiet des heutigen Bundeslands Mecklenburg-Vorpommern den Rahmen der Forschung begrenzt und somit Stettin und Hinterpommern ausgeblendet werden. Natürlich wirkt auch die Sprachbarriere, sodass polnische Veröffentlichungen nicht immer gewürdigt werden können. Diese Barriere war lange auch wissenschaftspolitisch gewollt: Die Ausschließung des anderen beginnt mit der Verweigerung, seine Literatur zur Kenntnis zu nehmen, und endet mit der nationalen Stereotyp-Bildung. Heinrich von Treitschke beschied im 19. Jahrhundert: „Polonica non leguntur“, polnische Literatur wird nicht gelesen. (Koslowski 1992: 12)
Ein Ahnherr des Sozialismus, Friedrich Engels, riet davon ab, wehmütig auf die Geschichte zu blicken, vielmehr solle man sie kühl in ihren Nachwirkungen analysieren: Über geschichtliche Ereignisse beklagt man sich nicht, man bemüht sich im Gegenteil, ihre Ursachen zu verstehen und damit auch ihre Folgen, die noch lange nicht erschöpft sind. (Engels 2004 [1885]: 13.681)
Doch ist die Geschichte des 19. Jahrhunderts eine gänzlich andere als die des 20., auch wenn diese in Teilen der ideologische Vollstrecker der Vorgängerin war. Es sind u. a. moralische Aspekte, die interessieren, weil sie die Möglichkeit von Handlungsspielräumen betonen: Die zeitgeschichtliche Forschung hat beispielsweise immer wieder auf die schon von den Zeitgenossen bemerkte Tatsache hingewiesen, daß in den Vorgängen um Hitlers Ernennung
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zum Reichskanzler das Verhalten einzelner Persönlichkeiten von beinahe ausschlaggebender Bedeutung gewesen ist. Dem steht nicht entgegen, daß Hitlers „Machtergreifung“ auf einer komplizierten Konstellation, auf einer Vielzahl verwickelter Ursachen und einander bedingender Faktoren beruhte. Diese bestimmten aber den historischen Prozeß keineswegs zwangsläufig, von einer „Überdetermination“ ganz zu schweigen, die jeden Versuch vereitelt hätte, das Verhängnis noch in letzter Stunde abzuwehren. Eine solche Zwangsläufigkeit zu behaupten, hieße, jene bedeutsamen moralischen Aspekte im historischen Prozeß zu ignorieren, die das Interesse an großen Teilen der Geschichte unseres Jahrhunderts, nicht nur der deutschen Geschichte, bestimmen. (Hömig 2000: 14)
So ist es etwa zulässig, den Untergang des demokratischen Preußen zu bedauern: Es bricht einem nachträglich noch das Herz, wenn man an die Gewalt der braunen Flut denkt, die d ieses letzte Stück Verfassungsstaat schon lange umspült und schließlich verschlungen hat. (Manthey 2005: 553)
Ebenso zulässig ist Mitgefühl mit den noch lebenden deutschen Vertriebenen, von denen Kossert sagt, „was immer sie taten, sie blieben Eindringlinge in der Welt, die nur noch nach Westen schaute“ (2008: 354; zu den problematischen Aspekten der institutionalisierten Erinnerung an Flucht und Vertreibung Lange 2015). Eine Erinnerung an das alte Pommern muss die ab 1933 entrechteten, vertriebenen und ermordeten Juden und politisch Verfolgten einschließen. Im heutigen Vorpommern, dessen Wahlverhalten extremer ist als im deutschen Durchschnitt und auch als in Mecklenburg, sind Geschichtsunterricht und politische Bildung, die auch die sozialdemokratischen Traditionslinien der Landesgeschichte vermitteln (und dabei nicht an Stettin vorbeikommen), dringend nötig. Leichtfertig gaben viele pommersche Wähler Anfang der 1930er Jahre ihre Stimmen den Nationalsozialisten und Kommunisten. Auf die verbalen Entgleisungen folgten Diktatur und Mordbrennerei, Eroberungs- und Vernichtungskrieg in nationaler Hybris und Verlust der Heimat. Vieles darf vergessen werden. Das nicht. Die vorliegende Arbeit ist ein Ansatz zur Beschreibung des Stettiner „Volksboten“. Die Ergebnisse beanspruchen Gültigkeit, sind aber trotzdem vorläufig, denn: In der Historiographie steht jeder Beweis auf Abruf. Die Widerlegung kann sich durch Neubewertung bereits bekannter Quellen oder durch Entdeckung bislang unbekannter Zeugnisse ergeben. (Bohrmann: 1987: 44)
Andere historische Ansätze und Erweiterungen inhaltlicher oder methodischer Art sind denkbar. Möglich wäre beispielsweise eine (dann sicher forschungspragmatisch technisch unterstützte) Synopse sozialdemokratischer Zeitungen zu bestimmten Themenfeldern, wie sie Kurt Koszyk anregte:
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Die Zeitungen der Arbeiterbewegung sind Ausdruck der verschiedenen Strömungen in der Sozialdemokratie und in den Gewerkschaften. Bevor man sie als Quelle verwenden kann, wären eigentlich jeweils Spezialuntersuchungen notwendig, die im einzelnen Aufschluß gäben über die Tendenz jedes Organs in den verschiedenen politischen Situationen. (Koszyk 1973: 187)
Dadurch ließe sich auch feststellen, inwieweit diejenigen Artikel, die auf Korrespondenzen und Pressedienste zurückgingen, gekürzt oder den lokalen Gegebenheiten oder der Richtung der Zeitung angepasst wurden. Der Vergleichshorizont könnten alle sozialdemokratischen Zeitungen sein, die vom „Volksboten“ abhängigen Zeitungen Pommerns oder die ostelbischen Blätter (um festzustellen, inwieweit ihnen eine besondere Rolle in der Arbeiterpresse zukam 18). Der Schwerpunkt meiner Arbeit ist das politische Geschehen. Denkbar wäre, sich eingehender dem Feuilleton als Fundort, als Form und zu seiner Rolle in Bezug auf die anderen Ressorts zu widmen (vgl. Jäger 1988: 67). Um die Stadt Stettin als Kommunikationsraum darzustellen, wäre es nötig, alle dort erschienenen Zeitungen in den Blick zu nehmen, ebenso die hier verbreiteten auswärtigen Zeitungen, insbesondere Berlins. Beispielsweise die lokale Berichterstattung (was bringen die Zeitungen [nicht], inwieweit wird als Quelle oder kritisch auf andere Blätter zurückgegriffen) könnte dabei im Fokus stehen. Soll auch die Unterhaltung in den Blick genommen werden, müssten Kinozeitschriften und Radioprogramme mit ausgewertet werden. Forschungsethisch gilt auch für Verstorbene, was für Lebende einzufordern ist: „Sie sind als Subjekte zu betrachten und nicht als Objekte mit rein instrumentellem Wert“ (Schlütz/Möhring 2013: 11). Vergleiche mit größerem Corpus kann ein Einzelner nicht gut bearbeiten. Vielleicht bringt die Zukunft technische Möglichkeiten einer schnellen Erschließung. Zeitungsdigitalisierungen nehmen zu, auf die Bilddigitalisierung folgt für ausgewählte Titel die Texterkennung (OCR), die dann „Text Mining“ ermöglicht, „z. B. die automatische Verschlagwortung von Literatur, die Anfertigung von Registern und Inhaltsverzeichnissen und die automatisierte Herstellung von Zusammenfassungen sowie von Abstracts“ (Wettlaufer/ Westphal 2014: 273). Computer ermöglichen dann Auswertungen, unter denen die Lektüre der Zeitungen leiden kann. Problematisch wird es, wenn wegen der Benutzererwartung eines Onlinezugriffs Analoges ignoriert wird – denn aufgrund begrenzter Ressourcen wird es dauern, bis alle Presseerzeugnisse (oder auch die Sekundärliteratur) verfügbar sind: In der Geschichtswissenschaft beginnt bereits jetzt, die „digitale Verfügbarkeit“ über Forschungsprojekte zu entscheiden. Negativ gewendet bedeutet dies: Was nicht digital und im Zweifel online verfügbar ist, droht trotz oder gerade wegen des Unikatcharakters von Archiv-
18 Es gab im ehemaligen deutschen Nordosten ein Bewusstsein für die Zusammengehörigkeit. So fand 1929 eine Konferenz in Danzig statt, auf der etwa 40 Vertreter der sozialdemokratischen Presse aus Stettin, Stralsund, Köslin, Stargard, Danzig, Elbing und Königsberg über Pressefragen sprachen, es ging u. a. um die Werbung und die Modernisierung der Tageszeitungen (Vorwärts Nr. 281, 19. 6. 1929: 2).
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gut ins Abseits der Nutzung zu geraten, weil mittelfristig die Mehrheit der potentiellen Nutzer es als Zumutung empfinden wird, einen Lesesaal aufsuchen zu müssen. (Plassmann 2016: 220)
Diese digitale Beschränktheit kann zu der irrigen Annahme führen, mittels Webrecherche „alles einschlägige Material gefunden zu haben“ (Plassmann 2016: 221). Aufgabe von Archivaren, Bibliothekaren und Wissenschaftlern wird es sein, zum einen auf Lücken der Verfügbarkeit hinzuweisen, zum zweiten „digital humanities“ nicht als non plus ultra oder gar Leseersatz zu verstehen und zum dritten analoge Bestände zu pflegen, da diese länger halten als Bytes. Wünschenswert für die historische Landschaft Pommern wäre eine systematische, auf Autopsie beruhende Pressebibliographie, die Wehrmann (1936) und Gittig (1994) aktualisiert und auch bisher nicht erfasste Bestände sowie das noch verfügbare Aktenmaterial und die Beiträge polnischer Wissenschaftler berücksichtigt. Darauf aufbauend sind weitere Zeitungsmonographien zu pommerschen Titeln denkbar, um schließlich eine pommersche Pressegeschichte zu erarbeiten, die diese Detailuntersuchungen zusammenführt. Für das Fach Journalistik bleibt es wichtig, auf das Gewordensein seines Gegenstandes hinzuweisen, also in Forschung und Lehre auch historische Bezüge herzustellen. Die Welt von heute hat Ähnlichkeiten mit der des 19. und 20. Jahrhunderts, bei politischen, ökonomischen oder gesellschaftlichen Th emen etwa wäre es denkbar, Studierende mit den Antworten von gestern zu konfrontieren, um heute analysieren und einordnen zu können. Es ist noch nicht abzuschätzen, wohin die technische Entwicklung führen wird, aber auch eine durchdigitalisierte Revolutionierung der Gesellschaft wird auf Rückbezüge nicht verzichten können. Politische Systeme und Kulturen, die sich zu Bilderstürmen, Vergesslichkeit und Nihilismus berechtigt fühlten, waren selten von Dauer. Nur dem Revolutionär gelingt es, eine der Existenz fähige neue geschichtliche Welt zu erschaffen, der es fertigbringt, die geschichtliche Überlieferung aufrecht zu erhalten oder wiederherzustellen, indem er die gegebene Gegenwart, die er selbst durch seine Negation in die Vergangenheit verwiesen hat, in positiver Erinnerung bewahrt. (Kojève 2000 [1947]: 321)
VII.3 Sozialismus? Der Stettiner „Volksbote“ kämpfte für den demokratischen Sozialismus, von dem er sich allgemeines Glück versprach und an dessen Wünsch- und Durchführbarkeit er noch 1933 glaubte. Die Verwerfungen des Kapitalismus würden naturwüchsig in die neue Gesellschaft hinüberleiten. Man wartete also auf immer mehr Elend und auf immer mehr Krisen, bis aus dieser Misere im endgültigen Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft in der großen Endkrise schließlich wie Phönix aus der Asche der ideale Zukunftsstaat der Sozialdemokratie entstehen
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würde. Es lagen dieser Auffassung ein extremer wirtschaftlicher Determinismus und eine völlige Unterschätzung des Eigengewichts der Politik, soweit sie nicht Organisation oder Propaganda war, aber auch der besonderen historischen, verfassungsrechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen Deutschlands zugrunde. (Ritter 1989: 17)
Insofern deutete die Zeitung die Erscheinungen ihrer Zeit als Vorboten des Zukunftsstaats, auch der dafür ungeeignete Nietzsche wurde zum Gewährsmann des Sozialismus: Und der neueste Philosoph, Fr. Nietzsche schreibt: „Unsere gesellschaftliche Ordnung wird langsam wegschmelzen, wie es alle früheren Ordnungen gethan haben, sobald die Sonnen neuer Meinungen mit neuer Gluth über die Menschen hinleuchteten.“ Die Sonne der sozialistischen Idee leuchtet längst über die Menschen.19 (Volksbote Nr. 120, 26. 5. 1896: 1)
In der Weltwirtschaftskrise erschien der Sozialismus vielen als Ausweg aus dem sozialen Elend: Mehr als je weist die gegenwärtige europäische Lage die führenden grossen Nationen darauf hin, zum Behufe der Heilung des unermesslichen Schadens, den der Kapitalismus, ungeachtet aller technischen Fortschritte, die an ihn sich knüpften, angerichtet hat, endlich den Sozialismus frei walten zu lassen. (Tönnies 1931: 785)
Der Ökonom Ludwig Mises versuchte, die Konzepte des Gemeineigentums zu widerlegen, musste aber ihre Attraktivität eingestehen: Man muß zugeben, daß der Gedanke des Sozialismus, wie auch immer man über die Zweckmäßigkeit und Möglichkeit seiner Durchführung denken mag, großartig und einfach zugleich ist. […] Das Beginnen, unter Bruch mit allen überlieferten Formen der gesellschaftlichen Organisation die Wirtschaft auf neuer Grundlage aufzubauen, aus dem Geiste heraus einen neuen Weltplan zu entwerfen und im Geiste die künftige Gestaltung, die die menschlichen Dinge annehmen müssen, zu erschauen, ist so großartig und kühn, daß es mit Recht die höchste Bewunderung gefunden hat. Man kann die Idee des Sozialismus vielleicht überwinden, man muß sie vielleicht überwinden, man kann sie aber nicht achtlos beiseite schieben. (Mises 1922: 30)
19 Allerdings heißt es bei Nietzsche skeptisch weiter: „Wünschen kann man dies Wegschmelzen nur, indem man hofft: und hoffen darf man vernünftigerweise nur, wenn man sich und seinesgleichen mehr Kraft in Kopf und Herz zutraut als den Vertretern des Bestehenden. Gewöhnlich also wird diese Hoffnung eine Anmaßung, eine Überschätzung sein.“ (Nietzsche 2000 [1878]: 4.675 f ). Nietzsches Rezeption durch völkische und nationalsozialistische Ideologie war da noch nicht absehbar, aber durch seine Radikalität wurde er für sie zum „geistigen Idol“ (Petzold 1982: 7 – 13).
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Ein sozialdemokratischer Sozialismus 20 wäre ein anderer geworden als der, der dann u. a. in Volkspolen und der DDR (wo sich die SED wie behauptet an der Sozialdemokratie vor 1914 orientierte, jedoch deren Debattenreichtum doktrinärer Erstarrung unterwarf ) nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte und über den der Dichter Johannes R. Becher resigniert notierte: Der Grundirrtum meines Lebens bestand in der Annahme, daß der Sozialismus die menschlichen Tragödien beende und das Ende der menschlichen Tragik selber bedeute. […] Es ist so, als habe mit dem Sozialismus die menschliche Tragödie in einer neuen Form ihren Anfang genommen, in einer neuen, ganz und gar bisher ungeahnten und von uns noch nicht übersehbaren. Der Sozialismus hat erst die menschliche Tragik in Freiheit gesetzt. […] Wer vom Sozialismus träumt und schwärmt als von einem Erdenparadies und einem Glück für alle, der wird furchtbar belehrt werden in dem Sinne, daß die sozialistische Ordnung ganze Menschen hervorbringt, die aufs Ganze gehen, wenn auch nicht unter Anwendung der barbarischen Mittel der Vorzeit, aber auch diese bleiben noch eine Zeitlang im Gebrauch, wie es gerade in letzter Zeit bewiesen wurde, und dadurch, daß sich ihrer Sozialisten bedienten, übertreffen sie in ihrer Barbarei noch die vordem gebräuchlichen. (Becher 1988: 550 f. – Becher strich diese Absätze aus der Druckfahne seines „Poetischen Prinzips“ [1957])
Nach dem Ende der Sowjetunion und ihrer kommunistischen Satelliten sowie der wirtschaftlichen Öffnung Chinas schien sich die kapitalistische Demokratie durchgesetzt zu haben, nur vereinzelt gab es Nostalgie,21 so vom Dramatiker Heiner Müller, der schrieb: Ich bin nicht mehr sicher, daß der Kommunismus, wie mein Vater mir Achtjährigem aus dem Buch eines indischen Philosophen vorlas, das Schicksal der Menschheit ist, aber er bleibt ein Menschheitstraum, an dessen Erfüllung eine Generation nach der anderen arbeiten wird bis zum Untergang unserer Welt. (Müller 1993: 8)
Der Kapitalismus hat in seinem Siegeszug nicht innehalten können, die Politik beugte sich den Forderungen, die volkswirtschaftlich schadeten. Es zeigte sich in der weltweiten Finanzkrise ab 2008 (Krisensymptom war schon vorher die Massenarbeitslosigkeit ab den 1970er Jahren), dass sich die Entfesselung der Marktkräfte durch Aufgabe von Bankenaufsicht und Kartellrecht nicht bewährt hat:
20 Er hätte vor der Herausforderung gestanden, den Moskauer Sirenenrufen zu widerstehen. Zugleich war die westliche Arbeiterbewegung im Weltkrieg so beschädigt worden, dass ein sozialistisches Zusammengehen auch nur innerhalb Europas schwer möglich schien. 21 Oder Warnungen vor „dem Maß an Unterwerfung, die der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt“, denn „wer die Buntheit des Westens will, wird die Verzweiflung des Westens kriegen“ (Schernikau 2009 [1990]: 226).
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Die Produktivkraftentwicklung unter Bedingungen der Globalisierung und die ihr durch privatkapitalistische Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums angelegten Fesseln lassen heute die strukturelle Grenze des Kapitalismus sichtbar werden. (Henicke 2009: 295)
Zwar erlaubt es der Kapitalismus „uns nicht, uns eine nicht-kapitalistische Alternative vorzustellen“ (Harari 2017: 53522), doch muss er nicht die letzte Antwort der Geschichte sein, solange Geschichte von Menschen gestaltet wird. Das Unbehagen wächst dort, wo der Resonanzverlust einer Steigerungslogik noch bemerkt wird (Rosa 2016). Zudem stellen Digitalisierung und Automatisierung das klassische Verständnis von Erwerbsarbeit und ein revolutionäres Potential infrage, wie Marcuse bereits 1967 konstatierte: „Die neue technische Arbeitswelt erzwingt so eine Schwächung der negativen Position der arbeitenden Klasse: letztere erscheint nicht mehr als der lebendige Widerspruch zur bestehenden Gesellschaft“ (Marcuse 1998: 52). Marcuse verband mit dem Überflüssigwerden von Lohnarbeit die Verheißung eines kulturellen Aufbruchs:23 Vollständige Automation im Reich der Notwendigkeit würde die Dimension freier Zeit als diejenige eröffnen, in der das private und gesellschaftliche Dasein sich ausbilden würde. Das wäre die geschichtliche Transzendenz zu einer neuen Zivilisation. (Marcuse 1998: 57)
Eine Welt ohne menschliche Arbeit kann sich durchaus als Horror erweisen. Ob der Sozialismus eine Verheißung sein kann? Vor den Problemen der Produktionsplanung, Produktdistribution, Arbeitsteilung, Innovation, Preise und Schattenwirtschaft sowie des Umweltschutzes und des Ressourcenverbrauchs würde auch eine Variante stehen, die die Grundrechte anders als der „real existierende Sozialismus“ nicht aufhebt. Vermutlich ist der Marxismus nur als Korrektiv weiter brauchbar.24 Auch materielle Gleichheit bedeutet noch lange nicht das Glück für alle, das sich Sozialisten gern paradiesisch vorstellen (auch der „Volksbote“ neigte dazu). Denn:
22 Schon Max Weber wies darauf hin, dass sich der Kapitalismus die Wirtschaftssubjekte erzieht und erschafft, derer er bedarf (Weber 2001 [1920] {1904/1905}: 5.340 f ). 23 Diese Möglichkeit hatte schon Marx in Betracht gezogen: „Sobald die Arbeit in u nmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören, die Arbeitszeit sein Maß zu sein […] Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein“, wodurch sich die Individuen künstlerisch und wissenschaftlich ausbilden würden (Marx 1983 [1857/1858]: 601). 24 Fuchs (2017) bemüht sich um die Fruchtbarmachung marxscher Theoreme für die Kommunikationswissenschaft und ein Bewusstsein für die Dialektik gesellschaftlicher Prozesse. „Mit den vorgestellten Lösungen muss man jedoch etwas kritischer umgehen“ (Scholl 2017: 389), schärfer kritisiert Lobigs (2017: 396) eine marxistische wissenschaftstheoretische Position, „die die (unfalsifizierbare) Philosophie von einer (vermeintlich) objektiv erkannten gesamtgesellschaftlichen Totalität zum Dreh- und Angelpunkt all ihrer Erkenntnis- und Problemlösungsmöglichkeiten machte“ (Lobigs 2017: 396).
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Der Mensch kann alles in sich zügeln, was Zügelung verdient. Er muss in der Schöpfung alles in Ordnung bringen, was in Ordnung gebracht werden kann. Und darauf werden die Kinder immer zu Unrecht sterben, selbst in der vollkommenen Gesellschaft. Auch bei seiner größten Anstrengung kann der Mensch sich nur vornehmen, den Schmerz der Welt mengenmäßig zu vermindern. Aber Leiden und Ungerechtigkeit werden bleiben und, wie begrenzt auch immer, nie aufhören, der Skandal zu sein. Dimitri Karamasows „Warum“ wird weiterhin ertönen; die Kunst und die Revolte werden erst mit dem letzten Menschen sterben. (Camus 2013 [1951]: 395)
Einer Gesellschaft steht es gut zu Gesicht, über ihren Zustand nachzudenken und an der Offenheit von Geschichte festzuhalten. Der damalige SPD-Vorsitzende Martin Schulz regte 2017 an, die „Systemfrage“ zu stellen (Die Zeit, Nr. 43, 19. 10. 2017: 7). Die SPDKovorsitzende Saskia Esken hält am demokratischen Sozialismus fest (Der Spiegel, Nr. 3, 11. 1. 2020: 35 f ). Für eine Diskussion darüber braucht es Medien und Rezipienten, die sich auf diese Diskussion einlassen und ihr gewachsen sind.
Literatur und Quellen Übergreifend Adorno, Theodor W. (2004) [1958]: Rezension: Otto Büsch und Peter Furth, Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland. Studien über die „Sozialistische Reichspartei“ (SRP). In: Adorno, Theodor: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Tiedemann, Rolf. CD-ROM (Digitale Bibliothek, Bd. 97). Berlin: directmedia: 17.662 – 17.667. Adorno, Theodor W. (2004) [1961]: Leserbrief in „Der Monat“, Februar. In: Adorno, Theodor: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Tiedemann, Rolf. CD -ROM (Digitale Bibliothek, Bd. 97). Berlin: directmedia: 18.286 – 18.288. Adrians, Frauke (1999): Journalismus im 30jährigen Krieg. Kommentierung und „Partey lichkeit“ in Zeitungen des 17. Jahrhunderts (Journalismus und Geschichte, Bd. 2). Konstanz: UVK. Aldenhoff-Hübinger (2002): Agrarpolitik und Protektionismus. Deutschland und Frankreich im Vergleich 1879 – 1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 155). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Altmeppen, Klaus-Dieter, Janika Weigel und Franziska Gebhard (2011): Forschungslandschaft Kommunikations- und Medienwissenschaft. Ergebnisse der ersten Befragung zu den Forschungsleistungen des Faches. In: Publizistik. Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, H. 4, Dezember: 373 – 421. Andrzejewski, Marek (2004): Die Presse in der Freien Stadt Danzig. In: Gornig, Gilbert H. (Hrsg.): Deutsch-polnische Begegnung zu Wissenschaft und Kultur. Societas Physicae Experimentalis (Schriftenreihe der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, Bd. 6). Lübeck: 32 – 44. Arnold, Klaus (2008): Qualität im Journalismus – ein integratives Konzept. In: Publizistik. Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung, H. 4, Dezember: 488 – 508. Arnold, Klaus (2009): Qualitätsjournalismus. Die Zeitung und ihr Publikum (Forschungsfeld Kommunikation, Bd. 28). Konstanz: UVK. Ascher, Saul (1815): Die Germanomanie. Skizze zu einem Zeitgemälde. Berlin: Achenwall und Comp. Asmuss, Burkhard (1994): Republik ohne Chance? Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik in der deutschen Tagespresse zwischen 1918 und 1923. Berlin u.a: de Gruyter. Averbeck, Stefanie (2006): Mediengeschichte. In: Bentele, Günter, Hans-Bernd Brosius und Otfried Jarren (Hrsg.): Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wiesbaden: VS: 168 – 170. Baader, Ottilie (2004) [1921]: Ein steiniger Weg: Lebenserinnerungen einer Sozialistin. In: Deutsche Autobiographien 1690 – 1930. Arbeiter, Gelehrte, Ingenieure, Künstler, Politiker, Schriftsteller. Hrsg. von Simons, Oliver (Digitale Bibliothek, Bd. 102). CD-ROM. Berlin: directmedia (zuerst Stuttgart: Dietz): 3.119 – 3.302.
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Literatur und Quellen
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Register Personenregister A Abeking, Hermann 361 Ackermann, Friedrich 53, 366 – 367 Adenauer, Konrad 14 Adorno, Theodor W. 217 Ahlwardt, Hermann 237 Andreas, Karl 137 Appel, Albert 102 Arnold, Klaus 378 Ascher, Saul 232 B Baader, Ottilie 261 – 262 Baake, Kurt 139 Babeuf, François Noël 66 Bakunin, Michail 200 Bartel, Horst 19, 220 Bebel, August 61, 69, 82 – 83, 86, 97 – 99, 101, 167, 196, 204 – 205, 207, 218 – 219, 233, 256, 280, 361, 369 Becher, Johannes R. 386 Bernheim, Ernst 34 Bernstein, Eduard 196, 216 – 217, 233, 237, 239 Bethmann Hollweg, Theobald von 186, 275, 319 Bisky, Lothar 95 Bismarck, Otto Fürst von 31, 60, 73, 97, 189 – 190, 192 – 193, 224, 257, 307, 336, 373, 376 Blanckenburg, Christian Friedrich von 292 Blanqui, Louis-Auguste 318 Böckel, Otto 235 Böckler, Otto 236 – 237 Bohrmann, Hans 11 Bollack, Ewald 103 Böning, Holger 34 Borchardt, Julian 79 – 80, 206 Böttcher, Karl 108 Brandt, Willy 14, 76 Braun, Adolf 140 Braun, Otto 117, 145, 283 – 284, 334 – 335, 345, 352
Breitscheid, Rudolf 119 Bröger, Karl 285 Brost, Erich 77, 93 Brüning, Heinrich 74, 135, 143, 339, 352 Büchelt, Berta 102 Bülow, Albert 103 Bülow, Bernhard von 197, 229, 231 Burckhardt, Jakob 223 Buschmann, Roland 240 Butmaloiu, Ulrike 44 C Chamberlain, Houston Stuart 347 Chamisso, Adalbert von 301 Ch..., Elise 295 Cieślak, Tadeusz 19 Ciolek-Kümper, Jutta 349 Cobden, Richard 125 Courths-Mahler, Hedwig 302 Cremer, Hermann 243 Crispien, Arthur 174 – 175, 324 Cunow, Heinrich 318 Cuno, Wilhelm 324 – 325 D David, Eduard 167, 272 Decker, Adolf 113 Dehl, Erich 89, 92 – 93 Deu, Fred Hermann 179 Dohm, Heinrich 197 Dollen, Hans von der 52 Dopierała, Bogdan 51 Drachholtz, Herbert 157 Drewniak, Bogusław 20 Drews, Wilhelm Arnold 284 Dumas, Alexandre 293 Düwell, Bernhard 171, 301 – 302
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Register
E Ebert, Friedrich 30, 86, 135, 167, 315, 317, 323, 333, 335 Egorov, Ivan 295 Eher, Franz 353 Engels, Friedrich 66, 68, 117, 202, 207, 209, 216 – 217, 222, 258, 284, 368, 381 Ernst 175, 236 Ernst, Ludwig 102 Erzberger, Matthias 331 Esken, Saskia 388 Eulenburg und Hertefeld Graf von Sandels, Philip Friedrich Alexander Fürst zu 9, 28, 229, 231, 370 F Faber, Hermann 141, 217 Fallada, Hans 264 Fank, Max 94 – 95 Fichte, Johann Gottlieb 232 Fontane, Theodor 293 Forel, Auguste-Henri 242 Förster, Paul 237 Franz Ferdinand, Erzherzog von ÖsterreichEste 279 Franz, Rudolf 292 Fricke, Dieter 139 Friedrich II., König von Preußen 329 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 225 Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg, genannt der Große Kurfürst 52 Fuchs, Christian 387 Fukuyama, Francis 32, 92 G Geffke, Herta 172 Geiger, Theodor 342 Genzen, Adolf 157 Gittig, Heinz 17, 384 Glander, Hermann 139, 141 – 142 Göbel, Paul 157 Gobineau, Arthur de 347 Goebel, Wilhelm 102, 156 Goethe, Johann Wolfgang von 116, 226, 299, 302 – 303 Göhre, Paul 198 Goltz, Colmar Freiherr von der 276, 279
Göring, Hermann 353 Graefe, Albrecht von 342 Gr..., Elise 295 Grimm 288 Grimpe, Elise 295 Großjohann 247 Groth, Klaus 293 Groth, Otto 13, 40, 293, 296, 358 Gustav Adolf II., König von Schweden 55 H Haase, Hugo 77, 86 Habsburger, Dynastie 270 – 271, 276, 279 Hagen, Wolfgang 299 Haken, Hermann 53 Hanisch, Alois 99, 102 – 103, 108, 205 Hansemann, Ferdinand von 193 Harden, Maximilian 229 – 231 Harnack, Adolf von 34 Hartwig, Theodor 89, 103, 114, 116 – 117, 326 Hauptmann, Gerhart 300 – 301 Haupt, P. 318 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 32, 67, 226, 232, 293 Heidke, Wilhelm 102 Heine, Heinrich 293 Heine, Wolfgang 167, 283 Heise, Stephan 108, 141, 160, 163, 166 – 167, 169, 171, 259, 280 Helfferich, Karl 342 Hellpach, Willy 334 Henckell, Karl 301 Henning, Emil 128, 141 Herbert, Fritz 19, 21, 82 – 84, 96 – 100, 102 – 105, 107, 110 – 111, 115, 118, 124, 127 – 129, 132, 141 – 142, 149, 152 – 154, 157, 167, 197, 218 – 219, 236 – 237, 263, 315 – 317, 361 – 362, 373 Herbert, Willi Hans 143 Hertling, Georg von 287 Hess, Moses 232 Hilferding, Rudolf 119, 175, 323 Hilliger, Karl 151 Hindenburg, Paul von 10, 30, 74, 117, 121, 314, 334 – 339, 342 – 344, 347, 351, 372 Hitler, Adolf 10, 30 – 31, 59 – 60, 72, 115 – 116, 121 – 122, 136, 159 – 160, 264, 314, 326 – 329, 338 – 340, 342 – 347, 349 – 353, 372, 381 – 382 Hoch, Gustav 90
Personenregister Hoffmann, Otto 132, 167, 315 Höfs, Else 103 Höfs, Paul 98, 102 Hohenzollern, Dynastie 9, 56, 114, 227, 230, 369, 379 Holz, Arno 291 Holze, Max 160 Horn, August 86, 88, 98 – 99, 102 – 103, 108 – 109, 115, 132, 154, 171, 175, 177, 199, 262, 330 Huck, August 60, 353 Huck, Wolfgang 353 Hugenberg, Alfred 118, 151, 353 Hus, Jan 123
Krause, Hans 11 Krause, Richard 102 Kraus, Karl 231 Krenz, Egon 95 Kreuzer, Helmut 295 Kröger, Wilhelm 109 Krupp, Friedrich Alfred 262 Krupp von Bohlen und Halbach, Gustav 272 Kruse und Sohn 137 Kruse, Wolfgang 20, 281, 283 Kuntze, Alexander 102 – 103, 105, 107 – 111, 116 – 117, 120, 130, 132, 158, 362 Kunze, Richard 327
I Inachin, Kyra T. 19, 46, 82, 93 – 94 Isenheim, Ludwig 358
L Lamm, Fritz 143 Lamprecht 137 Lamprecht, Werner 21, 86, 93, 103, 122 Landgraf 113 Landsberg 167 Langenbucher, Wolfgang 295 Lanzke, Willy 141, 322, 331 Lassalle, Ferdinand 61, 67 – 68, 82, 114, 202, 216, 231, 233, 257, 290, 312, 361, 368 Last 88 Leber, Julius 76 Ledebour, Georg 98 – 99, 175, 272 Lenin, Wladimir Iljitsch 68, 121, 217, 284, 318 L’Épine, Ernest-Louis-Victor-Jules 295 Lessing, Gotthold Ephraim 237, 302 Lessing, Theodor 338 Liebermann von Sonnenberg, Max 235 Liebknecht, Karl 20, 42, 316 Liebknecht, Wilhelm 61, 97, 248, 290, 353 Lippmann, Julius 234 – 235, 335 Löbe, Paul 135 Lobigs, Frank 387 Loewe, Carl 52 Lohrenscheidt 247 Lossow, Otto von 340 Ludendorff, Erich 115, 324, 326, 329, 336, 340, 342, 372 Luise, Königin von Preußen, geb. Herzogin von Mecklenburg-Strelitz 225 Luther, Hans 91 Luther, Martin 216 Lüttwitz, Walther von 112, 314, 321, 372 Luxemburg, Rosa 20, 131, 203, 217, 299, 316
J Jancke, Karl 59 Jankowiak, Piotr 11 Jarres, Karl 333 – 334, 372 John, Matthias 11 Juul, Robert 102 K Kaden, Ursula 95 Kahr, Gustav von 340 Kant, Immanuel 67, 232 Kapell, Otto 82 Kapp, Wolfgang 20, 30, 47, 82, 88, 112, 121, 158, 169, 314 – 315, 321 – 322, 328, 372 Karpenstein, Wilhelm 48 Katzenstein, Simon 113 Kautsky, Karl 217 – 218, 238, 246, 282, 304 Kennemann, Hermann 193 Kerenski, Alexander Fjodorowitsch 284 Klenke, Dietmar 20, 64 Klostermann, Gisela 95 Klotzbach, Kurt 99 Klütz, Franz 103, 116 Knappe, Gustav 98, 102, 236, 354 Koester, Otto 361 Kojève, Alexandre 32 Körsten, Alwin 98 – 99, 197, 317 Kortüm, Otto 156 – 157 Koszyk, Kurt 16, 19, 34, 69, 217, 233, 283, 382 Krahn, Karl 94, 120, 139, 141
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Register
M Maier, Georg 353 Manike, Otto 102 Mann, Thomas 350 Marchlewski, Julian 20 Marcuse, Herbert 387 Marx, Karl 32, 60 – 61, 63 – 68, 91, 100, 117, 121 – 122, 137, 143, 146, 160, 166, 187, 189 – 190, 202, 207, 209 – 210, 214, 216 – 219, 222, 233, 256, 265, 280, 284, 297, 303, 318, 340, 342, 351 – 353, 361, 368, 374, 378, 387 Marx, Wilhelm 91, 121, 334 – 335, 337 – 338, 372 Matern, Hermann 139 Matull, Wilhelm 19 Matz 154 Maupassant, Guy de 295 Mehlich, Ernst 100, 102, 108, 141, 144 Mehring, Franz 80, 131, 202, 218, 222, 225, 291, 297, 299 Melanchthon, Philipp 246 Mergenthaler 137 Michaelis, Georg 53 Milenz, Richard 102 Mises, Ludwig 385 Modrow, Hans 95 Möhring, Wiebke 11 Moltke, Kuno von 229 – 231 Mosch, Hans von 237 Mosse, Rudolf 59 Müller 175 Müller, August 102, 132 Müller, Fr. 295 Müller, Heiner 386 Müller, Hermann 92 Müller, Julius 247 Mussolini, Benito 327, 341 Myk, Władysław 59 N Napoleon III., Kaiser der Franzosen (CharlesLouis-Napoléon Bonaparte) 189 – 190, 222 Napoleon I., Kaiser der Franzosen (Napoleon Bonaparte) 28, 47, 192, 202, 224 – 226, 228, 280, 293 Nathusius, Carl 128, 141 Neumann 132 Nietzsche, Friedrich 189, 229, 298, 385 Noack, Arndt 95
O Ohlhof, Fritz 175 Ohl, Otto 128, 141, 236 Ollenhauer, Erich 143 Ott, Erich 141, 144 P Pankowski, Paul 141, 144, 161, 174 Papen, Franz von 135, 345, 347, 350, 352 Pargmann, Wilhelm 111, 113 – 114, 132, 134, 136, 144 – 146, 158 Passehl, Otto 103, 107, 120, 146 – 147, 217 – 219 Petrich, Franz 192 Poincaré, Raymond 323 Poupar 107, 158 Prause, Bruno 179 Proudhon, Pierre-Joseph 200 Prutz, Robert Eduard 13, 293, 297 Puttkamer, Familie von 97 Pyta, Wolfram 20, 339 Q Quessel, Ludwig 102, 107, 141, 146 – 147, 154, 217 – 220, 247 R Rathenau, Walther 328, 330 – 331 Rector, Martin 289 Renan, Ernest 380 Rhete der Jüngere, Georg 55 Richter, Carola 38 Richter, Johannes 141, 147 Röhm, Ernst 345 Röllinger, Albert 145 Roßbach, Gerhard 329 Rüsch 361 S Sack, Johann August 45 Salomon, Ludwig 12, 56 Saul, Klaus 264 Schabowski, Günter 95 Scharping, Max 100, 102, 247 Schaubs, Martin 20, 321 Scheffler, Robert 102 Scheibe, Auguste 294 Scheidemann, Philipp 70, 136, 167, 233 – 234, 285, 287
Personenregister Schiller, Friedrich von 293, 297 – 299 Schippel, Max 148 Schlegel, August Wilhelm 302 Schlegel, Friedrich 302 Schleicher, Kurt von 347 Schmeling, Kurt von 315 Schmidt 153 Schmidt, Heinrich 102 Schmidt, Wilhelm 102 Schottenloher, Karl 12 Schröder, Wilhelm 139 Schultz, Georg 321 Schulz 92 Schulz, Albert 95 Schulz, Heinrich 221 Schulz, Karl 121 Schulz, Martin 388 Schulz, Robert 103 Schumacher, Kurt 50, 64 Schumann, Elisabeth 103 Schumann, Gustav 100, 103, 108, 112 – 115, 117 – 118, 141, 147, 158, 169, 205, 217, 317, 323 Schwabenthal 141 Schwarzkopf, Joachim von 78 Schwede-Coburg, Franz 48, 239 Seeckt, Hans von 133 Sepke 237 Severing, Carl 117, 327, 329 – 330, 350, 352 Shakespeare, William 302 Simmy, George 294 – 295 Singer, Paul 235 Sinowjew, Grigori Jewsejewitsch 121 Smith, Adam 211 Sombart, Werner 148 Sommer, Bruno 107 – 108, 141, 217 Spengler, Oswald 329 – 330 Stalin, Josef 54, 94, 121, 345, 347 Stampfer, Friedrich 139, 281, 285, 299, 349 Steinaecker, Fritz von 197 Steinweg, August 102 Sternberg, Fritz 143 Stern, Kurt (auch Bols-Stern oder Stern-Bols genannt) 147 – 148 Stieler, Kaspar 22 Stöber, Rudolf 12, 16, 283 Stoecker, Adolf 232 Stoewer, Bernhard (Junior) 52, 141 Stoewer, Emil 52, 141
Storch, Franz 97, 99, 102 Stresemann, Gustav 325 Ströbel, Heinrich 140 Südekum, Albert 280 Suttner, Bertha von 279 T Tesch, Karl 137 Thälmann, Ernst 121, 123, 181, 334, 337 – 339 Tiedemann, Heinrich von 193 Traub, Hans 22, 287, 356 Treitschke, Heinrich von 223, 232, 381 Trotzki, Leo 165, 318 Tschirikow, Jewgeni Nikolajewitsch 295 – 296 Tschischwitz, Erich von 133 Tucholsky, Kurt 296 Twellmeier 247 V Vandervelde, Émile 242 Viebig, Clara 358 Vischer, Friedrich Theodor 358 Vogtherr, Ewald 86, 171, 174 Vollmar, Georg von 97 W Walter, Franz 89 Warmann, Hans-Gerd 11 Waschkau 236 Weber, Max 387 Wehrmann, Martin 15, 17, 33, 45, 51 – 53, 56, 58, 123, 137, 151, 154, 160, 384 Weinert, Erich 337 Welskopp, Thomas 61 Wels, Otto 77, 134, 347 Wieland, Christoph Martin 302 Wilhelm II., deutscher Kaiser und König von Preußen 9, 28, 35, 47, 52, 114, 156, 182 – 183, 187, 190 – 191, 196, 202, 226, 229, 231, 243, 315, 319 – 320, 333, 335, 339, 358, 370, 374 – 375, 379 Wilke 361 Wilke, Hermann 101, 103 Wilke, Jürgen 12, 40 Wilson, Woodrow 111, 287, 316, 319 Winter, August 71, 141, 148 – 150 Wischmann, Georg 179 Wissmann 132
439
440
Register
Witschke, August 292 Witt, Robert 178 Włodarczyk, Edward 20, 215, 217, 379
Z Zöllner 141 Zyliegen, Fritz 102
Ortsregister A Aachen 11, 124, 157 Abessinien 267 Adria 271 Afrika 188, 227, 265 Ägypten 255 Ahlbeck 57 Albanien 271 Altdamm 53, 57, 99 Altona 147, 350 Amerika, Vereinigte Staaten von (USA) 46, 262, 273, 278 Anklam 57, 62, 95, 137, 142 Armenien 189 Artern 142 Asien 227, 265, 271, 284 Augsburg 103 B Bad Ems 120 Bad Polzin 58 Bad Sachsa 147 Bad Wiessee 147 Bahn 57, 153 Balkan 254, 269 – 272, 278 Baltikum 285 Bamberg 12 Bant 76 Bärwalde 57 Basel 145, 161, 271 Bayern, Freistaat 326 – 328, 349, 372 Belgard 57, 76, 179 Belgard-Dramburg-Schivelbein, Wahlkreis 86 Belgien 30, 242, 278, 286, 320, 322 Bergen auf Rügen 57 Bergstraße 75 Berlin 12 – 13, 15, 17, 21, 35, 45, 52 – 53, 55, 58, 68, 75, 78, 81 – 82, 84, 86, 88 – 90, 96 – 99, 102 – 103, 115, 119 – 120, 124, 126, 130 – 131, 137, 139 – 141, 144, 147, 167, 169 – 170, 181 – 182, 186, 197, 219, 223, 229, 232, 246, 271, 274,
279, 302, 311, 315 – 317, 321, 324, 358, 370 – 371, 375, 379, 383 Berlin-Kreuzberg 169 Berlin-Stettin, Autobahn 49, 53 Bonn 11, 18, 43, 92, 103, 148, 151, 158, 161, 180 – 181, 268, 363 Brandenburg, Kurfürstentum 52, 55 – 56, 240 Braunschweig, Freistaat 343 Bredow 52, 205 Bremen 20, 46, 49, 52, 83, 98 – 99, 102, 106 Breslau 13, 75, 89, 102, 104, 148, 300 Brest-Litowsk 163, 284, 286 – 287, 314, 320, 371 Briey 286 Bublitz 57 Budapest 271 Bukarest 163 Bulgarien 163, 239, 274 Bütow 57 Bütow, Kreis 179 Bütow-Schlawe, Wahlkreis 86 C Cammin 57 Chemnitz 102, 355 Chicago 358 China 92, 278, 386 D Daber 57 Damgarten 57 Dänemark 192, 195, 223, 320 Danzig 48, 50 – 51, 77, 93, 129, 320, 383 Darmstadt 75, 107, 141, 146 Demmin 57, 62 Demmin, Kreis 156 Deutsche Demokratische Republik (DDR) 14 – 15, 34, 42, 45, 49 – 50, 54, 65, 76, 80 – 82, 93, 95, 120, 151, 220, 292, 337, 368, 381, 386 Deutscher Bund 189
Ortsregister Deutsches Reich (Kaiserreich, Weimarer Republik, „Drittes Reich“) 9 – 10, 14, 19, 23 – 27, 30, 33, 35, 45, 47 – 48, 50, 53 – 54, 60, 62, 64, 67, 69 – 77, 81 – 83, 86 – 87, 89 – 93, 96, 98, 100 – 104, 106, 108, 111 – 118, 121, 125, 135 – 137, 139, 141 – 143, 146 – 147, 149, 151 – 152, 155 – 156, 158 – 160, 177, 182, 185 – 187, 189 – 193, 196 – 198, 204, 206 – 207, 210, 215, 221, 223 – 226, 229, 231 – 235, 239, 262, 264 – 267, 270, 272, 274 – 275, 279 – 280, 283 – 287, 292 – 293, 298, 308, 310, 314 – 318, 320 – 321, 323 – 325, 327, 329 – 330, 333 – 339, 342 – 358, 368 – 369, 372, 376 – 377, 380, 382, 387 Deutschland 11, 17, 19, 24, 27, 33, 49 – 50, 54, 61, 68, 74, 82, 87 – 88, 92, 96, 102, 112, 114, 119, 122, 125, 130, 144 – 146, 148, 152, 159 – 165, 170 – 172, 179, 184, 186 – 190, 193, 197, 202 – 204, 206, 223 – 224, 226, 229, 231 – 232, 237, 239 – 240, 249, 264 – 268, 270 – 273, 275, 278 – 279, 283, 285 – 287, 291, 302, 304 – 305, 314, 319 – 323, 327 – 328, 333 – 335, 341, 344 – 345, 349 – 350, 352 – 353, 365, 369, 371, 373, 375, 379 – 380, 385 Deutsch-Ostafrika 188 Deutsch-Südwestafrika 197, 278 Dievenow 57 Dobrudscha 163 Dortmund 11, 75, 108, 144, 155, 157 Dortmund-Hörde 144 Dramburg 57 Dresden 28, 75, 80, 102, 196 – 197, 218, 369 Ducherow 57 E Eichstätt 12 Eisenach 64, 68, 75, 290 Elberfeld 12 Elbing 383 Eldena 57 Ellswig 144 Elsass 13, 76, 144 – 145 Elsass-Lothringen 189, 265, 285, 287, 320 Emden 75 England 47, 125, 156, 228, 239, 252, 267, 269, 275, 277 – 279, 302, 307, 371 Erfurt 19, 64 – 65, 91, 97, 102, 105, 131, 183, 217, 221, 243 Essen 100, 102, 240, 262, 280
441
Europa 11, 14, 42, 65, 81, 92, 147, 159, 161, 164, 189 – 190, 223, 228, 231, 237, 255, 265 – 266, 269 – 274, 278 – 279, 283, 291, 293, 303, 321, 374 – 375, 385 – 386 F Falkenburg 57 Fiddichow 57 Finkenwalde 54, 57, 112 Finnland 285 Franken 264 Frankfurt am Main, Freie Stadt (später zur preußischen Provinz Hessen-Nassau) 89, 102, 160, 192 Frankreich 30, 52, 65, 120, 143 – 146, 188 – 190, 192, 202, 223 – 224, 226, 239, 246, 265 – 268, 274 – 275, 277 – 279, 281, 286, 293, 301, 318, 320, 322 – 323, 347, 380 Franzburg 57, 156 – 157 Freienwalde 57 Fuhlsbüttel 147 G Galizien 46 Gartz an der Oder 57, 356 Garz auf Rügen 57 Gdańsk, siehe auch Danzig 50 Gdingen 48, 93 Genf 171 Germanen (Germanisierung) 19, 51, 194 – 195, 239, 250, 275, 380 Godesberg 63 Goldap 12 Gollnow 57, 94, 280 Gorden 12 Görlitz 65, 89 – 90, 103 Gotha 88, 102, 177 Göttingen 12, 57 Grabow 52, 57, 84, 102 – 104, 106 Greifenberg 15, 57 Greifenberg-Cammin, Wahlkreis 86 Greifenhagen 57, 97, 100, 108, 127, 146, 237, 247 Greifenhagen, Kreis 146, 153 Greifswald 11, 15, 17, 21, 34, 50 – 53, 56 – 58, 62, 89, 94 – 95, 104, 122, 142 – 143, 151, 154, 234, 243, 264 Greifswald-Grimmen, Wahlkreis 110 Grimmen 57
442
Register
Grimmen-Greifswald, Wahlkreis 86 Großbritannien, siehe auch England 77, 81, 125, 267, 279, 306 Großpolen 49 Groß-Stettin, SPD-Parteibezirk 119, 325, 330 Grüssau 148 Gülzow 57 Gützkow 57, 146 H Hagen 89 Halle an der Saale 13, 15, 78, 86, 96, 102, 147, 174, 178, 308 Hamburg 17, 46, 52, 55, 63, 95, 102, 104, 147, 157, 332 – 333, 358 Hannover 98, 102, 192, 301 Harz 147 Heidelberg 58, 65, 90, 103, 119 Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 14, 52, 55 Hessen-Darmstadt, Großherzogtum, später Volksstaat Hessen 75 Hessen, Kurfürstentum (Hessen-Kassel) 192 Hindenburg, bis 1915 Zabrze 75 Hinterpommern 14 – 15, 48 – 50, 56, 76, 86, 98 – 99, 109, 127, 151, 178 – 181, 234, 256, 264, 381 Holstein, siehe auch Schleswig-Holstein 192, 264, 350, 380 I Indien 386 Italien 21, 65, 269 – 270, 327, 341, 372 J Jakobshagen 57 Jarmen 57 Jena 70 – 71, 102, 206, 221, 226 Johannesburg 358 Jüterbog 147 K Kaliningrad, siehe auch Königsberg 77 Kallies 57 Kamerun 188 Karlsbad 349 Kaschuben 45 Kassel 103
Kiel 91, 101, 103, 119, 314 Kleinasien 189, 250 Kolberg 46, 57, 62, 95, 106, 120, 280 Kolberg-Köslin, Wahlkreis 110 Köln 102, 104, 134, 233, 361 Kongo 188 Königsberg in Preußen 51, 77, 129, 131, 146, 383 Königshütte 358 Körlin 57 Köslin 20, 49, 53, 57, 62, 84, 102, 107, 151, 178, 180, 310, 383 Köslin, Regierungsbezirk 45, 106, 116, 179 Koszalin, siehe auch Köslin 151 Koszalin, Woiwodschaft 49 Kroatien 271 Kuba 143 Kurland 286 Küstrin 156 L Labes 57 Landsberg an der Warthe 167 Lassan 57 Lauenburg 57, 62 Lauenburg, Kreis 179 Leer 75 Leipzig 11, 20, 55, 76, 86, 98, 102 – 103, 110, 120, 123, 144, 172, 175, 197, 218, 224, 227, 376 Lemberg 49 Leobschütz, Kreis 99 Libyen 269 Lindau 301 Lippe, Freistaat 349 Litauen 286, 320 Löcknitz 57 Loitz 57 London 69, 72, 295 Longwy 286 Lübeck 11, 17, 75 – 76, 102, 138, 150, 217, 282, 338, 346, 359 – 360, 364 Lüneburger Heide 264 M Magdeburg 51, 78, 92, 102 – 103, 281 Mainz 12, 102 Mannheim 102 Marokko 188, 267, 278, 310 Massow 57
Ortsregister Mecklenburg 45, 50 – 51, 54 – 55, 76, 81 – 82, 93 – 96, 109, 121, 124, 144, 151, 329, 376, 380 – 382 Mecklenburg-Schwerin 45, 76, 376 Mecklenburg-Strelitz 45, 76 Mecklenburg-Vorpommern, Land 50, 81, 94 – 96, 380 – 381 Memel, Kreis 177 Memelland 320 Misdroy 57 Mittelpommern, siehe auch Regierungsbezirk Stettin 45, 83 Moskau 121 – 122, 170 – 176, 178, 331 – 332, 337, 344, 386 Mülhausen im Elsass 144 – 145 München 12 – 13, 21, 102, 197, 243, 326, 340 Münster 12 N Namibia 278 Nassau, Herzogtum 192 Naugard 57, 143 Naugard-Regenwalde, Wahlkreis 110 Neiße 49 – 50, 81, 381 Nemitz 52, 170, 342 Neubrandenburg 151 Neubrandenburg, Bezirk 95 Neumark 167 Neustettin 57, 179 Neuvorpommern, siehe auch Regierungsbezirk Stralsund 151, 159 Neuwarp 57 Niedersachsen, Land 50 Nordhausen 108 Nord, KPD-Oberbezirk 121 Nordrhein-Westfalen, Land 17, 50 Nordschleswig, siehe auch Schleswig 195 Nörenberg 57 Nürnberg 50, 71, 102 – 103, 178 O Oberbayern, siehe auch Bayern 147 Obersächsischer Reichskreis 240 Oberschlesien, Provinz, Industrierevier 75, 99, 114, 148 – 150, 192, 320 Odenwald 75 Oder 23, 35, 49 – 50, 52 – 53, 57, 81, 99, 119, 158, 223, 266, 320, 340, 381
443
Oder-Donau-Kanal 53 Oder-Dunzig-Kanal 53 Oder-Havel-Kanal 52 Offenbach 131 Oldenburg, Freistaat 264 Oppeln 75 Osmanisches Reich, siehe auch Türkei 269 Ostelbien 27, 152, 264, 349, 383 Osterode, Landkreis 147 Österreich, Teil der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, später Republik 46, 143, 148, 192, 223, 231, 270 – 272, 275 – 277, 279 Österreich-Ungarn, Doppelmonarchie 269 – 270, 272, 274, 276, 279, 371 Ostfriesland 75 Ostpommern, siehe auch Regierungsbezirk Köslin 45, 82 Ostpreußen, Provinz 50, 53, 77, 82, 93, 146, 189, 262, 264 – 265 Ostsee 17, 52, 54, 56, 58, 60, 78, 81, 123, 137, 151, 238, 311, 322, 324, 353, 366, 379 P Palästina 146, 238 Papenburg 75 Paris 20, 72, 146, 166, 267, 287, 322, 345, 358 Pasewalk 57 Peene 55 Penkun 57 Pfalz 264 Philippinen 278 Plathe 57 Plau am See 144 Podejuch 57 Polen, Königreich (innerhalb des Russischen Zarenreiches), später Republik, Volksrepublik und wieder Republik 9, 11, 19 – 20, 28, 34, 45 – 46, 48 – 51, 54 – 57, 77, 82, 94, 147, 149, 151, 182, 192 – 195, 223, 235, 256, 262, 271, 285, 287, 320, 369, 379 – 381, 384, 386 Pölitz 57 Pollnow 57 Pommern, Bezirk der KPD 160 Pommern, Bezirk der SPD 91, 103, 117, 143, 147, 154, 177, 324 Pommern, Bezirk der USP 170 – 171
444
Register
Pommern, Gau der NSDAP 137 Pommern, Gau des ADAV 82 Pommern, Herzogtum 47, 55, 240 Pommern, Kirchenprovinz 243 Pommern, Provinz 9, 11, 14 – 17, 19, 21, 25 – 27, 30, 33 – 34, 39, 45 – 50, 52 – 62, 76 – 78, 81 – 82, 84 – 86, 88 – 89, 92 – 93, 95 – 113, 115 – 118, 120, 123 – 124, 126 – 127, 130 – 132, 134 – 137, 142 – 149, 151 – 156, 166, 168 – 170, 176 – 178, 182, 184, 192, 197 – 198, 205, 215, 218, 220, 222, 234, 240, 243, 261 – 262, 264 – 265, 271, 280 – 281, 283, 288, 292, 297, 303, 307, 310 – 312, 314 – 315, 318, 321 – 322, 324, 326 – 327, 329, 331, 334 – 335, 337 – 338, 342 – 346, 349 – 350, 353 – 354, 356 – 358, 362, 365 – 366, 368, 370 – 375, 379, 381 – 384 Pommern, Wahlkreis 147 Pommersche Bucht 50 Pommersche Evangelische Kirche 50 Pomorze Zachodnie, siehe auch Westpommern 50 – 51 Pompeji 13 Posen, Provinz 19, 148, 189, 192, 262, 265, 320 Posen-Westpreußen, Provinz Grenzmark 49 Potsdam 49 Prag 72 Preußen, Königreich, später Freistaat 9, 11, 14 – 15, 17, 19, 27, 45 – 47, 49, 52, 55 – 56, 73 – 74, 76 – 78, 86, 88, 93, 97 – 98, 100, 104, 113, 116 – 117, 120, 135, 142, 144, 148, 152, 158, 182, 185 – 186, 190 – 196, 202, 209, 222 – 223, 225 – 226, 230 – 231, 238 – 239, 243, 245, 253, 255, 262, 265, 283 – 284, 286, 300, 317, 327, 329 – 330, 334, 344 – 345, 349 – 350, 352, 357 – 358, 368 – 369, 375, 382 Preußen, Provinz (siehe auch Ost- und Westpreußen) 189 Putbus 58 Pyritz 58, 62, 151 R Randow-Greifenhagen, Wahlkreis 86, 98 – 99, 103, 105 – 106, 108 – 109, 153, 197, 205, 237, 247, 280 Randow, Kreis 95, 97, 102 – 103, 108, 205, 237, 247 Ratzebuhr 58 Regensburg, Kreis 12
Regenwalde 58 Rhein 320 rheinisch-westfälisches Industrierevier 96, 144 Rheinprovinz, Rheinland 13, 45, 75, 119 Rom 250 Romanen 266 Rosenheim 97 Rostock 54, 76, 95, 109, 151 Rostock, Bezirk 95 Rügendamm 49 Rügen, Kreis 46, 57, 156 – 157 Rügenwalde 58 Ruhrgebiet, Industriegebiet, siehe auch rheinisch-westfälisches Industrierevier 30, 323 – 324 Rumänien 92, 163, 276 Rummelsburg 58 Rummelsburg, Kreis 95 Russland 47, 64, 77, 87, 121 – 122, 152, 163, 165 – 166, 171 – 174, 176 – 178, 181, 189, 192, 225, 265 – 266, 274 – 275, 278, 280, 283 – 287, 296, 314, 318, 345 Rybnik 150 S Saarland 320 Sachsen, Herzogtum, siehe auch Thüringen 240 Sachsen, Kurfürstentum, Königreich, später Freistaat 12, 81, 89, 96, 119, 240, 254, 333 Sachsen, Provinz 142 Sachsen-Weimar-Eisenach, Großherzogtum 13 Samoa 188 Sarajewo 279 Saßnitz 58, 356 Schivelbein 58 Schlawe 58 Schlesien, siehe auch Oberschlesien 45, 50, 96, 148 Schleswig 192, 329 Schleswig-Holstein, Provinz, später Land 50, 120 Schlettstadt 13 Schweden 46, 55 – 56, 144, 147, 285 Schwedisch-Pommern (Herzogtum Pommern Königlich Schwedischen Anteils) 45, 52, 55 Schweiz 143 – 144, 301 Schwerin 94, 142
Ortsregister Schwerin, Bezirk 95 Sedan 189 Serbien 239, 274, 276, 279 Slawen 51, 266, 271, 275, 380 Słupsk, siehe auch Stolp 151 Sondershausen 76 Sonnenburg 156 Sowjetische Besatzungszone (SBZ) 45, 50, 56, 94, 156, 158 Sowjetrussland, Sowjetunion, siehe auch Russland 121 – 122, 158, 314, 331, 375, 386 Stargard 15, 20, 58, 62, 84, 127, 137, 142, 151, 235, 383 Stepenitz 58 Stettin 9 – 11, 13 – 21, 23 – 24, 26 – 28, 31, 34 – 35, 37, 39, 44 – 60, 62, 75 – 76, 78, 81 – 84, 86 – 91, 93 – 94, 96 – 99, 102 – 110, 114, 116 – 129, 131 – 132, 134 – 137, 139, 141 – 144, 146 – 153, 156 – 158, 160, 166 – 169, 172, 175, 177 – 178, 182, 190, 193, 196 – 197, 199, 210, 217, 219, 223, 229, 234 – 239, 244, 246, 252, 256, 259, 261, 263 – 265, 267, 273, 278, 280 – 281, 283 – 284, 288, 290, 294 – 296, 298 – 299, 302 – 303, 305 – 307, 311 – 317, 319, 321 – 325, 327 – 330, 334 – 335, 337, 339 – 344, 347, 350 – 354, 356 – 358, 361 – 362, 365 – 368, 370 – 376, 379 – 384 Stettin, Regierungsbezirk 20 – 21, 45, 83, 106, 116, 135 Stettin, Unterbezirk der SPD 89 Stettin, Wahlkreis 105 – 106, 109, 197, 205 Stettin, Wehrkreiskommando 133, 327, 329 St. Gallen 102 Stockholm 144, 148 Stolp 58, 62, 151, 179, 357 Stolp, Kreis 179 Stolp-Lauenburg, Wahlkreis 155, 265 Stralsund 51, 55 – 56, 58, 62, 84, 86, 94 – 95, 109 – 110, 115, 120, 151, 156 – 159, 280, 383 Stralsund-Franzburg-Rügen-Stettin, Wahlkreis 157 Stralsund, Regierungsbezirk 45, 106, 116 Stuttgart 13, 102, 143 Swinemünde 49, 52, 58, 62, 137 Szczecin, siehe auch Stettin 9, 11, 16, 49 – 51, 151 Szczecin, Woiwodschaft 49
T Tannenberg 280, 338 Tauroggen 225 Tempelburg 58 Thüringen 75–76, 89, 96, 142, 240, 333 Togo 188 Tonkin 278 Torgelow 58, 356 Treptow an der Rega 58, 62 Treptow an der Tollense 58 Tribsees 58, 62 Tschechoslowakei (ČSR) 93, 143–144, 147, 320 Tübingen 13 Türkei 269, 271, 287, 320 U Ueckermünde 58, 288 Ueckermünde-Usedom-Wollin, Wahlkreis 155 Ukraine 285 Ulm 13 Ungarn, Königreich, siehe auch ÖsterreichUngarn 114, 270, 274, 276, 279 Unna 243 Usedom 46, 55, 58 V Versailles 30, 47–48, 65, 111, 158, 163, 314, 318–320, 371 Vietnam 278 Vorderasien 271 Vorpommern 46, 50–51, 81–83, 93–96, 101, 109, 121, 146, 151, 156, 158–160, 380–382 Vorpommern-Greifswald, Landkreis 50 Vorpommern-Rügen, Landkreis 50 W Waldheim 295 Wangerin 58 Warschauer Vertragsstaaten 49 Warschau, Herzogtum 192 Wattenscheid 95 Weimar 23, 64, 103, 302, 317–318 Weimarer Republik, siehe auch Deutsches Reich 9, 20, 23–26, 30–31, 35, 47–50, 53, 58–62, 64, 72, 76–77, 85, 88–89, 93, 118, 120, 132, 134, 151, 159, 192, 197, 234, 261, 264, 287–288, 296–297, 302, 304, 314, 318–319,
445
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Register
321–322, 333, 342, 345–346, 353, 356, 358–359, 365, 369, 372–373, 375–376, 378–379 Weißrussland 285 Weser 358 Westdeutschland 51, 77, 122, 217 Westfalen 17, 45, 75, 93, 119 Westpommern 50, 151 Westpreußen, Provinz 50, 77, 189, 262, 265, 320 Wien 45, 279, 320 Wiesbaden 76, 142 Wilhelmshaven 76 Wilna 49
Wismar 54 Włocławek (Leslau) 20 Wolgast 58, 62, 106, 154, 218–219, 262 Wollin 46, 58 Württemberg, Königreich 13 Würzburg 103 Z Zeitz 76 Zinnowitz 46, 58 Züllchow 58 Zürich 20, 69, 146, 218 Zwickau 119